198 83 9MB
German Pages 280 [288] Year 1962
ULRICH W E I S S T E I N I H E I N R I C H
MANN
ULRICH W E I S S T E I N
H E I N R I C H MANN
Eine historisch-kritische Einführung in sein dichterisches Werk
Mit einer Bibliographie der von ihm veröffentlichten Schriften
MAX N I E M E Y E R V E R L A G / T Ü B I N G E N
1962
Alle Rechte vorbehalten Copyright 1962 by Max Niemeyer Verlag Tübingen Printed in Germany Druck: Ferdinand Oechelhausen Druck- u. Verlags-GmbH., Kempten (Allgäu)
Diese Studie ist meinen Eltern in Dankbarkeit zugeeignet.
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
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Biographie
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I. Von In einer Familie zu Im Schlaraffenland II. Die Göttinnen
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III. Die Jagd nach Liebe
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IV. Professor Unrat oder Der blaue Engel
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V. Zwischen den Rassen VI. Die kleine Stadt VII. Die Kaiserreich-Trilogie VIII. Von Mutter Marie zu Ein ernstes Leben IX. Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre. . . X. Von Lidice bis zum Empfang bei der Welt XI. Die Novellen XII. Die Dramen Bibliographie der Werke Heinrich Manns
79 96 111 142 160 188 201 231 256
EINLEITUNG Mehr als ein Jahrzehnt ist verstrichen, seit Heinrich Mann im Alter von neunundsiebzig Jahren im amerikanischen Exil verstarb, und noch immer fehlt es an einer umfassenden kritischen und historischen Darstellung seines Werkes, während die schöpferische Leistung seines erst vor sechs Jahren verstorbenen, aber den Zeitgenossen weitaus besser bekannten Bruders bereits Gegenstand ungezählter kürzerer oder längerer Untersuchungen geworden ist. Dies ist umso erstaunlicher, als seit 1951 sechzehn Bände der Ausgewählten Werke dieses „Bildes und Bildners seiner Zeit" - wie ihn Hermann Sinsheimer nannte - im Ostberliner Aufbau-Verlag erschienen und seit 1958 durch Vermittlung des Claassen-Verlags in Hamburg dem westdeutschen Publikum teilweise zugänglich gemacht worden sind. Auch ist von zwei verschiedenen Seiten das Erscheinen einer historischkritischen Gesamtausgabe angekündigt. Freilich bleibt abzuwarten, ob eine solche in absehbarer Zeit verwirklicht werden kann. Will sich der heutige Leser eines Romans oder einer Novelle von Heinrich Mann über deren Verfasser und sein Werk näher informieren, so stehen ihm nur wenige zuverlässige Quellen und Hilfsmittel zur Verfügung. Er kann sich entweder an einen der drei kurzen biographisch-kritischen Abrisse (Hermann Sinsheimer, 1921; Walter Schröder, 1931 und Herbert Ihering, 1952) halten oder Alfred Kantorowicz' verdienstvolle Einführungen zu den ersten dreizehn Bänden der Aufbau-Ausgabe zu Rate ziehen. Dazu kommen noch Pieter Boonstras Studie über Heinrich Mann als politischen Schriftsteller, zwei Sonderstudien Kantorowicz' und eine Handvoll in Sammelbänden verstreuter Essays. Die Dissertationen über Heinrich Mann, die - zumeist seit 1950 - vereinzelt in Amerika, Deutschland und Frankreich erschienen sind, werden nur für den Spezialisten von Interesse sein. Albert Soergels Ausführungen über den Dichter sind kürzlich in der von Curt Hohoff überarbeiteten Neuauflage von Dichtung und Dichter der Zeit (Düsseldorf: Bagel, 1961) wieder zugänglich gemacht worden. Edgar Lohners Essay im Rahmen der von Hermann Friedmann und Otto Mann herausgegebenen Folge Deutsche 1 Weitttein, Heinrich Mann
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Literatur im 20.Jahrhundert (Heidelberg: Rothe, 1961), der als Einführung in das Werk Heinrich Manns gedacht ist, artet in eine rein subjektive Auseinandersetzung mit diesem aus und ist schon wegen der Flüchtigkeit und Ungenauigkeit der Darstellung nicht als wissenschaftliche Arbeit zu werten. An kritischen Analysen einzelner Werke fehlt es im deutschsprachigen Räume bisher völlig. Sie sind nur in amerikanischen Fachzeitschriften zu finden. So füllt die vorliegende Studie eine Lücke, die immer schmerzlicher fühlbar wird, indem sie danach trachtet, dem Leser der Mannschen Romane, Dramen und Novellen das Verständnis derselben durch explications de texte zu erleichtern, ohne dabei auf einen ästhetisch-kritischen Standpunkt zu verzichten. Sie, die aus der mehr oder weniger zufälligen Lektüre der beiden Teile des Henri Quatre vor etwa zehn Jahren erwuchs, aber nur langsam zur Niederschrift heranreifte, möge als Grundlage weiterer, detaillierterer Einzelstudien dienen. Mit Bedauern wurde davon abgesehen, auch das essayistische Werk Heinrich Manns in die Darstellung einzubeziehen. Es schien aber angebracht, desselben nur dann Erwähnung zu tun, wenn die Betrachtung der schöngeistigen Schriften dies rätlich erscheinen ließ. Zudem hat Professor Richard Exner sich, wenn auch kaum in endgültiger Form, des längeren über dieses Thema geäußert. Sein in der Zeitschrift Symposium (Herbst 1959 und Frühjahr 1960) abgedruckter Aufsatz sei allen Lesern dieses Buches zur Lektüre empfohlen. Auf die Autobiographie Ein Zeitalter wird besichtigt wird im zehnten Kapitel kurz eingegangen und auch sonst wiederholt hingewiesen. Eine Sonderstudie dieser hochinteressanten Selbstdarstellung hoffen wir späterhin vorlegen zu können. Heinrich Manns Übersetzungen aus dem Französischen sind von Walter Widmer {Fug und Unfug des Übersetzens; Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1959) anhand der Verdeutschung der Liaisons Dangereuses unter die Lupe genommen worden. Seinem vernichtenden Urteil habe ich hier nichts hinzuzufügen. Briefe Heinrich Manns sind nur verwendet worden, soweit sie bekannt und zugänglich sind. Hoffentlich kommt die Zeit, da ein Auswahlband derselben dem deutschen Publikum vorgelegt werden kann. Der unserer Studie vorangestellte Lebensabriß soll dem Leser lediglich zur Orientierung dienen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das gleiche gilt, wenn auch in geringerem Maße, von der im Anhang mitgeteilten Bibliographie der Werke Heinrich Manns. Besonders zur Erfassung aller frühen Publikationen des Dichters
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wäre eine gründliche Durchkämmung der deutschsprachigen literarischen Zeitschriften aus dem Zeitraum zwischen 1890 und 1930 erforderlich, die nur in Deutschland selbst geleistet werden kann. Auf eine systematische Aufführung der Sekundärliteratur konnte ich umso eher verzichten, als 1) die einschlägigen Stücke ohnehin an passender Stelle erwähnt sind und 2) die nicht erwähnten Beiträge entweder zu allgemein gehalten sind, um hier von Interesse zu sein, oder als Rezensionen und Theaterkritiken nichts wesentlich Neues bringen. Ohne die finanzielle Unterstützung der American Philosophical Society, der Modern Language Association of America und der Universität von Indiana wäre die Vollendung dieser Studie um vieles verzögert worden. Die reichen Buchbestände der Widener Library an der Universität von Harvard, der New York Public Library und der Library of Congress in Washington sowie der Bayrischen Staatsbibliothek in München und des Schiller-Nationalarchivs in Marbach ermöglichten es mir, Einsicht in weniger leicht zugängliche Publikationen zu nehmen. Das Heinrich-Mann-Archiv der Ostberliner Akademie der Künste war mir im Anfangsstadium meiner Arbeit durch Übersendung von Photokopien und Aufstellungen sehr behilflich, ließ es aber späterhin an esprit de corps fehlen. Meine Frau opferte einen ganzen Sommer, um die erste Fassung des Manuskripts in lesbare Form zu bringen. Teile des ersten, sechsten, neunten und zwölften Kapitels sind in den Zeitschriften Modern Language Quarterly, German Life & Letters, Monatshefte, Romance Notes, Weimarer Beiträge und in der Revue de Littirature Comparie erschienen, deren Herausgebern ich für die Erlaubnis zur Wiederbenützung des Materials zu Dank verpflichtet bin. Bloomington, Indiana, im März 1962
1*
Ulrich Weisstein
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BIOGRAPHIE Luiz Heinrich Mann (der seine frühesten Rezensionen L. H. Mann zeichnete) erblickte am 27. März 1871 als ältester Sohn des Getreidekaufmanns und Reeders Senator Thomas Heinrich Mann und seiner Gattin Julia, geborener da Silva-Bruhns, in Lübeck an der Trave das Licht der Welt. Der Vater entstammte einer seit 1790 in der Hansestadt ansässigen und dort hochangesehenen Familie, während die Mutter das Kind eines nach Südamerika ausgewanderten Deutschen und seiner kreolisch-brasilianischen Lebensgefährtin war1. Dem seit 1869 verheirateten Paar wurden im Laufe der Jahre vier weitere Sprößlinge geboren: Thomas (1873), Julia (1877), Carla (1881) und der Benjamin Viktor, der sich erst 1890 als Nachzügler zur Familie gesellte2. In seiner erstaunlich unpersönlichen Lebensdarstellung, die mit Recht Ein Zeitalter wird besichtigt heißt, tut Heinrich Mann seiner Kindheit nur gelegentlich Erwähnung, sodaß der Biograph vielfach auf Rückschlüsse aus dem Werk, wie sie sich etwa aus der „Das Kind" überschriebenen autobiographischen Skizze ziehen lassen, angewiesen ist*. Auch die Lübecker Romane Professor Unrat und Eugenie enthalten manchen literarisch verbrämten Hinweis auf das Leben des jungen Eleven, der einst selbst „in die Klasse eines Oberlehrers gelangte, der an [ihn] schon längst nicht glaubte und keinen lieberen Wunsch hatte, als festzustellen, es sei doch nichts mit [ihm]. Was ihm denn auch spielend gelang"1. Auch die nachfolgende Stelle aus dem Zeitalter weist auf die schon früh zum Durchbruch kommende, dem konservativen Lübecker Bürgergeist verdächtige, geistig-künstlerische Veranlagung Luiz Heinrichs hin: Sein [des Vaters] Geschäft war, Getreide zu kaufen, es zu lagern und es zu verschiffen. Als Knaben nahm er mich auf die Dörfer mit. Damals hoffte er noch, ich könnte ihm nachfolgen. Er ließ mich ein Schiff taufen, er stellte mich seinen Leuten vor. Das alles schlief ein, als ich zu viel las und die Häuser der Straße nicht hersagen konnte*.
Heinrichs erster Ausflug in die Welt (von den sommerlichen Badeaufenthalten an der Ostsee abgesehen) fand im Jahre 1884 statt, als 4
er einen Onkel nach St. Petersburg begleiten durfte. Zwar behielt er diese Reise - die einzige, die ihn je nach dem Osten führte - in guter Erinnerung; doch beeindruckte ihn das zaristische Rußland kaum in dem Maße, wie dies später bei Rilke oder Ernst Barlach der Fall war·. Heinrich Mann orientierte sich, besonders schriftstellerisch, sein Leben lang nach dem Westen (Frankreich) und Süden (Italien), während Thomas sich von Anfang an intensiv mit der russischen und skandinavischen Literatur beschäftigte7. Kurz nach denl im Jahre 1889 absolvierten Abitur begab sich Heinrich, der schon seit geraumer Zeit schriftstellerte, nach Dresden, dem Schauplatz seines ersten Romans, um dort den Buchhandel zu erlernen8. Schon 1890 ging er aber nach Berlin, wo er vorübergehend für den kurz zuvor von Samuel Fischer gegründeten und dem Naturalismus zutiefst verpflichteten Verlag gleichen Namens tätig war. Anschließend besuchte er philosophische und philologische Vorlesungen an der Berliner Universität, ohne jedoch auf ein Examen hinzuarbeiten. Der Schriftsteller in ihm aber sammelte Erfahrungen, die ihm später bei der Abfassung von Im Schlaraffenland sehr zustatten kommen sollten. Das Berliner Zwischenspiel endete unversehens, als der Senator erst einundfünfzigjährig am 13. Oktober 1891 an einer Blutvergiftung starb. Seine Witwe zog bald darauf mit ihren Kindern nach München, das ihr, die romanischen Blutes war, temperamentsmäßig besser zusagte. Thomas blieb noch bis zum Schulabschluß in Lübeck. Der Älteste aber stieß in Bayern zur Familie. Er sollte, im Gegensatz zu seinem Bruder, seine Heimatstadt nicht mehr wiedersehen®. Auch in München hielt es Heinrich Mann aber nicht sehr lange; und im Anschluß an eine erste kurze Fahrt nach Frankreich zog er nach Italien, das ihm bis zur Jahrhundertwende als hauptsächlichster Wohnsitz dienen sollte. Da er durch den Tod des Vaters finanziell unabhängig geworden war („Unsere Väter hinterließen uns meistens an Geld das Nötigste. Ich habe mein ererbtes Einkommen erhalten genau bis zur deutschen Inflation"10), konnte er sich endlich ganz seinen künstlerischen Neigungen widmen. Er machte Florenz zu seinem Hauptquartier, pendelte aber so ruhelos zwischen Italien und Deutschland hin und her, daß das Nesthäkchen Viktor von ihm sagen konnte: „Ich sah ihn zwar viel seltener [als Thomas], weil er immer wieder auf Reisen ging, hing aber nicht weniger an ihm, wohl weil ich unbewußt auch seine Zuneigung zum Nachgeborenen empfand11." Im Jahre 1895 folgte Thomas Mann seinem Bruder nach Italien
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und verlebte entscheidende Monate mit ihm in R o m und Palestrina, wo er den Grundstock zu seinen Buddenbrooks legte. Auch Heinrich, der ursprünglich Maler hatte werden wollen, beschäftigte sich nun ernsthafter und ausschließlicher mit der Literatur. Gemeinsam verfertigten die Brüder das „Bilderbuch für artige Kinder", in dem sie die „literarische Karikaturistik" und den „pessimistisch-phantastischen H u m o r " des Simplicissimus antizipierten 18 und das bei den jüngeren Geschwistern, wie überhaupt der ganzen Familie, helle Begeisterung auslöste 13 . Auch als Thomas im Frühjahr 1898 nach Deutschland zurückkehrte 14 , blieb der Bruder in Italien. In Florenz begegnete er seiner „geistigen Liebe" (Puccinis Musik, die ihn zur Kleinen Stadt inspirierte) und stieß auf die Zeitungsnotiz, die sich dank seiner Einbildungskraft zum Professor Unrat auswachsen sollte. D a Heinrich Manns Gesundheitszustand viele Jahre lang prekär war, verbrachte er beträchtliche Zeit in Sanatorien, zuerst in Lausanne, dann in Bad Brunnthal in Bayern und schließlich wiederholt bei Dr. von Härtungen in Riva am Gardasee 15 . Im Jahre 1900, ehe ihn Thomas erneut in Italien besuchte, fuhr er nach R o m und Neapel, um Material für seine Göttinnen zu sammeln. In München, wo er die Niederschrift dieses Hauptwerks der ersten Periode abschloß, lernte er um 1902 Frank Wedekind, einen der wenigen Zeitgenossen, die er im Rückblick mit dem Ehrentitel Gefährten auszeichnete, persönlich kennen, nachdem er dessen Werke schon lange vorher mit größter Anteilnahme gelesen hatte 1 *. Wedekinds Einfluß wuchs ständig in den folgenden Jahren und wird, wenn man Heinrich Manns Gesamtwerk in Betracht zieht, von dem keines anderen Dichters übertroffen. Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, in dem Manns Schöpfergeist rastlos tätig war, sah ihn auch mit der Dokumentierung von Ereignissen und Zuständen beschäftigt, die später im Untertan ihren Niederschlag fanden. Den Sommer des Jahres 1907 verbrachte der Dichter, der inzwischen auch die Bekanntschaft Arthur Schnitzlers, eines weiteren Gefährten, gemacht hatte, am Fuße des Monte Grappo, wo die Novelle „ D e r Tyrann" zur Vollendung reifte. Von 1907 bis 1909 widmete er sich dann fast ausschließlich der Arbeit an der Kleinen Stadt. Ende 1909 und Anfang 1910 hielt er sich (zum ersten Male?) in Nizza auf, von wo er einen offenen Brief an Lucia Dora Frost, die seinen Roman in der Zukunft besprochen hatte, schrieb. Das Jahr 1910, eines der produktivsten in Heinrich Manns künstlerischer Laufbahn, beraubte ihn der innigst geliebten Schwester Carla, der Schauspielerin, die am Wohnsitz ihrer Mutter in Polling
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bei München Selbstmord beging. (Mit der älteren Schwester Julia hatte er schon vorher fürs Leben gebrochen 1 '). Dieses traurige Ereignis grub sich dem Dichter für immer ins Gedächtnis, beschuldigte er sich doch, seine Pflicht ihr gegenüber vernachlässigt, das heißt ihr während der Krise nicht mit Rat und Tat zur Seite gestanden zu haben (er war den Sommer über in Meran zur Kur gewesen). Er war aber vor der Gefahr, die ihr drohte, auf übersinnliche Weise gewarnt worden: Als ich bald vierzig war, starb, fern von mir, das geliebteste Wesen. Überall hin hätte mein Gedanke sie eher begleitet als in ihr Ende. Ich mußte wissen und ahnte nicht einmal. Gegen Mittag erging ich mich in einem kahlen Garten, dem einzigen auf diesem Südtiroler Berg. Es war still, da wurde ich gerufen: ich meinte aus dem Haus. Ich war so wenig vorbereitet, daß mir im ersten Augenblick nicht einfiel: hier ruft niemand mich bei meinem Vornamen. Später am Tage kam das Telegramm mit der Nachricht [Zeitalter, S.220).
Aber so widerspruchsvoll ist das Leben, daß die Tragik von Carlas Tod das Dasein ihres Bruders zwar überschattete, aber beruflich auf ihn alles andere als hemmend wirkte. Das Jahr 1910 war für ihn künstlerisch ein Jahr der Wende, in dem er sich zudem erstmals als aktivistischer Essayist betätigte 18 . Und im folgenden Jahr begann er mit der Abfassung des ersten Bandes der Kaiserreich-Trilogie. In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg wandte sich Heinrich Mann - zum Zeitvertreib und der Abwechslung halber - auch zusehends dem Theater zu. Schon 1910 hatte in Berlin die Premiere dreier Einakter stattgefunden, deren einer sich mit der schauspielerischen Existenz parodistisch auseinandersetzte. Während der Proben zu seinem Stück Die große Liebe lernte Heinrich Mann im Jahre 1912 die tschechische Schauspielerin Maria Kanova kennen, mit der er sich kurz nach Ausbruch des Krieges (am 12. August 1914) vermählte. (Thomas hatte schon 1904 geheiratet.) Der Ehe entsprang zwei Jahre später eine Tochter, Henriette Maria Leonie, die heute in Prag lebt und dort den Nachlaß des Dichters, soweit er sich nicht im Ostberliner Archiv befindet, betreut. Als es um 1930 zur Scheidung kam, kehrte die Jüdin nach der Tschechei zurück, verbrachte nach der Besetzung des Landes fünf Jahre im Ghetto von Theresienstadt und starb kurz nach der Befreiung1®. Die moralischen und politischen Probleme, in die Europa ein Jahrzehnt lang unentwegt verwickelt gewesen war, führten endlich im Sommer 1914 zum Kriege; und die europäische Intelligenz spaltete
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sich sogleich in zwei weltanschaulich radikal entgegengesetzte Lager. Der latente Konflikt zwischen Thomas und Heinrich Mann mußte also jetzt oder nie offen zum Ausbruch kommen. Heinrichs pazifistische Haltung und sein brennender Wunsch, Europa vereinigt zu sehen, inspirierten ihn zu dem berühmten Essay über Zola, den Rene Schickele in den Weißen Blättern abdruckte, der bei den national gesinnten Deutschen erwartungsgemäß einen Sturm der Entrüstung hervorrief und für Thomas, den Verfasser des Essays „Friedrich und die große Koalition", zum Anlaß wurde, dem Zivilisationsliteraten in den Betrachtungen eines Unpolitischen die Spitze zu bieten20. Obwohl Heinrich Mann leugnete, daß der Passus, es sei „Sache derer, die früh vertrocknen sollen, schon zu Anfang ihrer zwanzig Jahre bewußt und weltgerecht hinzutreten", auf seinen Bruder gemünzt gewesen sei, war der Bruderzwist unvermeidlich geworden. Aber schon Ende 1917 versuchte Heinrich, die Versöhnung anzubahnen, was ihm freilich nicht gelang; denn für Thomas war ihre ideologische Feindschaft damals schon zum Symbol der deutschen Zwietracht geworden21. Wie Viktor Mann treffend bemerkt, bedurfte es einer besonderen Gelegenheit, um die Brüder wieder zu vereinigen. Diese ergab sich, als Heinrich schwer erkrankte und auf Leben und Tod operiert werden mußte. Als er aus der Narkose erwachte, stand Thomas an seinem Bett. Die Öffentlichkeit war von dieser Entwicklung freilich nicht unterrichtet und war fälschlich der Meinung, die Versöhnung habe erst anläßlich von Thomas Manns fünfzigstem Geburtstag stattgefunden22. Je weiter der Krieg voranschritt, desto offensichtlicher wurde es, daß der Zivilisationsliterat recht daran tat, die deutsche Niederlage zu prophezeien. So nimmt es nicht wunder, daß er nun bei seinen Landsleuten populär zu werden begann und bald nach Ende des Krieges auch im übrigen Europa allgemein bekannt wurde: Stofflich, stilistisch, besonders in meiner Anschauung der Zeitgenossen griff ich um einiges vor. Daher war von 1900 bis 1916 mein Erfolg immer nur .literarisch'. Wie Wedekind, der es mir sagte, habe ich fünfzehn Jahre gebraucht, um populär zu werden. Georg Heinrich Meyer, der Direktor des Kurt Wolf [sie]-Verlages, erkannte 1916 den Zeitpunkt. Plötzlich verkaufte er von den sechs Romanen meiner .ersten Periode' dreiviertel Millionen. Solange hatten alle zusammen wenige tausend gehabt".
Besonders seit dem Erscheinen des Untertan im Spätherbst 1918 begann der Dichter das Geld „haufenweise mit denselben Romanen, 8
die vorher nichts abwarfen", zu verdienen. Das mußte er auch, wenn er die Inflationszeit wirtschaftlich überleben wollte. In der unmittelbar auf den Waffenstillstand folgenden Zeit war Heinrich Mann führend als Kulturpolitiker tätig; denn sein Wort hatte nun mehr Gewicht als das der meisten anderen deutschen Künstler und Schriftsteller. Er sympathisierte mit Eisners revolutionärer bayrischer Regierung, unterzeichnete die am 15. November 1918 in den Münchener Neuesten Nachrichten veröffentlichte Erklärung des sogenannten Rates geistiger Arbeiter und setzte „Sinn und Idee der Revolution" auseinander. Im März 1919 feierte er den ermordeten Eisner in einer Trauerrede als den Prototyp des Zivilisationsliteraten. Obgleich Heinrich Mann im Anfangsstadium der Republik auch weiterhin als Mahner und Wegweiser diente, betätigte er sich in den Jahren 1920 bis 1925 nur indirekt politisch. In seinem Münchner Hause, das eher einem Pariser Salon glich, trafen sich regelmäßig führende Künstler und Intellektuelle, deren Namen zum Teil von Viktor Mann festgehalten wurden84. In diesen Jahren entstand der Schlußband der Trilogie sowie der bedeutende Essay „Kaiserreich und Republik" (1919), dem vier Jahre danach die unter dem Titel Diktatur der Vernunft zusammengefaßten Reden und Aufsätze folgten. Im Sommer des Jahres 1923 wurde der Dichter eingeladen, an den „Entretiens de Pontigny", die der Initiative Paul Desjardins' entsprangen und auf Andri Gide als Hauptperson ausgerichtet waren, teilzunehmen, eine Ehre, die er nach Gebühr zu würdigen wußte. Daß seine Rolle als ein, wenn auch nur offiziöser, Vertreter der geschlagenen und geächteten Nation keine leichte war, blieb ihm nicht verborgen. Umso beglückter empfand er die Freundschaft des französischen Germanisten Felix Bertaux, der während seines Aufenthaltes unermüdlich um ihn besorgt war. Nachdem Heinrich Mann 1923 bei der Verfassungsfeier in der Dresdner Staatsoper gesprochen hatte, fuhr er 1924 in die C.S.R., um dort mit dem Präsidenten Thomas Masaryk ein Gespräch zu führen, wie er dies sieben Jahre später auch mit Aristide Briand, dem Vater des Locarno-Paktes, tun sollte. 1925 überquerte er erneut den Rhein und stieß diesmal bis in die Pyrenäen und die heimatliche Provinz des Königs Henri Quatre, dessen Charakter und Schicksal ihn von 1933 bis 1937 vordringlich beschäftigen sollten, vor. Ehe er seinen Wohnsitz Ende 1925 endgültig nach der Reichshauptstadt verlegte, veranstaltete er in seinem Münchner Heim eine Lesung der Novelle „Kobes", eines seiner künstlerisch durchgefeiltesten und
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stilistisch gewagtesten Werke. 1926 kehrte er vorübergehend nach München zurück, um die kulturelle Mission dieser Stadt zu verteidigen. Heinrich Manns kulturpolitischer Einfluß war niemals größer als in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Diese Tatsache fand symbolischen Ausdruck in seiner Wahl zum Präsidenten der wenige Jahre zuvor gegründeten literarischen Sektion der Preußischen Akademie der Künste am Anfang des Jahres 1931. Von nun an galt er offiziell als Sprecher der deutschen Kulturschaffenden, und die großen Tageszeitungen rissen sich um seine Beiträge. Aber auch damit war, wie er später einsah, der Sache der Republik auf die Dauer wenig gedient: In der Republik machte ich meine Warnungen dringend und stark. Das freie Wort war nunmehr von der Verfassung gewährleistet; Grenzen setzten ihm die Inserenten der Zeitungen. Aber wie viel gerade mir erlaubt war, der Beweis dafür ist auf das Furchtbarste erbracht, daß es nichts helfen konnte. In Ländern mit willkürlicher Machtverteilung ist die Presse eine Scheinmacht. Sie blendet die Augen, ohne sie wüßte man mehr. So las man Artikel wie meine. Unerschütterlich dahinter stand der Börsenbericht - und das Drohendste blieb ungedruckt, die geheimen Machenschaften der Wirtschafts-Talleyrands (Zeitalter, S.202).
Er, der „von jeher in Vortragsreisen gewilligt [hatte], sooft sie ihm angeboten [wurden]", sprach mehr denn je in Versammlungen (so etwa beim Treffen der Deutschen Demokratischen Partei im Jahre 1927), an Gedenktagen und bei anderen festlichen Anlässen (der Tagung des Volks verbandes für Filmkunst, der Verleihung des Nobelpreises an seinen Bruder, den Trauerfeiern für Arthur Schnitzler, Anna Pawlowa und Albert Steinrück). Auch setzte er sich, wo es ging, für die von Coudenhove-Kalergi propagierten Vereinigten Staaten von Europa ein. Als Vorkämpfer der deutsch-französischen Verständigung kehrte er erneut und wiederholt nach Frankreich zurück, wo er unter anderem an der Sorbonne das Bild eines geistigen Locarnos entwarf und im Trocaddro den 125. Geburtstag Victor Hugos feiern half. Im Namen der Akademie verwahrte er sich öffentlich gegen die literarische Zensur, gegen die finanzielle Ausbeutung der Schriftsteller auf Grund ungenau formulierter Urheberrechte und gegen die staatliche Einmischung in Fragen, die mit der Freiheit der Meinungsäußerung zusammenhängen. 1931 wurde Heinrich Manns 60. Geburtstag „with pomp and
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circumstance" auf einem Bankett gefeiert, bei dem Gottfried Benn seine auch neuerdings wieder vielbesprochene Rede über den von ihm so hochverehrten Dichter hielt, was Werner Hegemann dazu veranlaßte, in einem „Heinrich Mann ? Hitler ? Gottfried Benn ? Oder Goethe ?" betitelten Aufsatz zu erklären: „An Heinrich Manns Schöpferakt wird heute so allgemein geglaubt, daß Zweifel an der Berechtigung dieses Glaubens auch nach beendetem Geburtstagsfeste kaum mehr statthaft sind 25 ." Im Jahre vor der Machtergreifung der braunen Horden veröffentlichte die Neue Rundschau Heinrich Manns „Bekenntnis zum Übernationalen", seine letzte und vergebliche Warnung vor dem einseitigen und für Europa als Gesamtheit verhängnisvollen Chauvinismus; und Carl von Ossietzky druckte in seiner Weltbühne einen Aufsatz des Aktivisten Kurt Hiller ab, in welchem dieser den Dichter als Präsidentschaftskandidaten für die bevorstehenden gesamtdeutschen Wahlen in Vorschlag brachte: Aber Deutschland hat Heinrich Mann. Ich weiß, was ich sage, wenn ich diesen Namen nenne; und daß bei unseren Abderiten ein Gelächter ausbricht, wenn jemand wagt, fur ein hohes nationales Amt einen Großherrn des Geistes vorzuschlagen. Sie unterscheiden nicht zwischen Dichtern in Wolken und jenen schaffenden Geistern, die von Anfang an unter die Pflicht getreten sind, dem Gesamtbestand des sozialen Seins und der Forderung, die ihm entsprüht, in ihrem Werke Gestalt zu geben. Heinrich Mann weiß vom Wesen der Politik und von der Aufgabe eines republikanischen Staatsmannes und sogar von den ökonomischen Hintergründen und vom Sozialismus mehr als jeder verstockte, in Quisquilien verhockte und verbockte Parteisekretär".
Heinrich Mann lehnte die ihm zugedachte Ehre höflich aber bestimmt ab und erklärte sich für Hindenburg 87 , ein Entschluß, den Johannes R. Becher, der Sprecher der Kommunisten, mit den Worten quittierte: „Der Untertan verlangt von seinem Untertan, daß er ihm eine neue, erträgliche Form seiner Untertänigkeit schaffe38." Drei Wochen nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler floh Heinrich Mann, der schon lange aufs Äußerste gefaßt gewesen war2*, obwohl er noch wenige Tage vorher erklärt hatte, daß er Demokrat sei, aber keiner Partei, am wenigsten der kommunistischen, angehöre (Berliner Tageblatt vom 16. Februar 1933), nach Frankreich, nachdem man ihn kurz zuvor aus der Preußischen Akademie der
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Künste ausgestoßen hatte. In seinem ersten Exil fühlte er sich wie zu Hause, war doch Gallien schon immer seine eigentliche geistige Heimat gewesen. Von 1933 bis 1937 befaßte er sich mit dem König von Navarra, dessen Leben im Mittelpunkt des reifsten seiner Romane steht, schrieb aber gleichzeitig Leitartikel für die Dipeche de Toulouse und nahm regen Anteil an der Front Populaire, die Gide, Aragon, Barbusse und Bloch im Anschluß an eine 1935 inszenierte internationale antifaschistische Schriftstellertagung zu organisieren im Begriffe waren. Zwei Jahre später half er beim Aufbau der Deutschen Volksfront, die freilich bald in ein kommunistisches und ein demokratischfreiheitliches Lager auseinanderfiel. Im Zeitalter gab Heinrich Mann, der „aussichtsreichste Kandidat für den Posten des Präsidenten des vierten deutschen Reiches"80, seiner Enttäuschung über diese Entwicklung in den Worten Ausdruck: Die deutsche Volksfront wurde unternommen. Ich kam in den persönlichen „Untergrund"-Verkehr mit den antifaschistischen deutschen Arbeitern. Ihre Berichte waren gemeinsam gezeichnet von den Funktionären beider Parteien [Sozialdemokraten und Kommunisten ?]. Sie gaben mir viel Hoffnung; noch jetzt dauert mein Eindruck, daß die Revolution kam, wenn nicht der Krieg kam; daß Hitler nur die Wahl hatte'1.
Hitlers Einbruch in Frankreich zwang Heinrich Mann im August 1940 bei Besetzung der bisher nicht okkupierten Zone, sein Heil in der Flucht über die Pyrenäen zu suchen. Er, der bisher ruhig in Nizza und Sanary gelebt hatte, gelangte, wenn auch nicht ohne Anstrengung und Gefahr, nach Lissabon, von wo die Nea Hellas ihn und seine zweite Frau, Nelly Kroeger, nach Amerika brachte. Bald nach der Ankunft in New York am 13. Oktober 1940 begaben sich die Manns nach Kalifornien, wo sie bei Los Angeles, wohin auch Thomas Mann inzwischen verzogen war, ihren letzten Wohnsitz nahmen. Da Heinrich Manns Werke, im Gegensatz zu denen seines Bruders, in den Vereinigten Staaten so gut wie unbekannt geblieben waren, gelang es ihm nicht, zum amerikanischen Publikum durchzudringen oder sich seinen Lebensunterhalt in der ihm gemäßen Weise zu verdienen. In einem Brief an Alfred Kantorowicz nennt der Autor, dessen Romane in Deutschland, Frankreich und Rußland Millionen von Lesern gefunden hatten, seine Eindrücke von Amerika „belanglos". Und Viktor Mann berichtet, sein ältester Bruder habe ihm mitgeteilt, daß in Los Angeles „nur Autofahrer Aussicht haben, [die Stadt] kennen zu lernen, aber auch nicht viel" {Wir waren f ü n f , S. 573). 12
So lebte Heinrich Mann als Alternder ganz in die Vergangenheit eingesponnen und begann dieser Stimmung entsprechend mit der Abfassung seiner bisher noch viel zu wenig beachteten, politisch ausgerichteten Autobiographie. Seine Enttäuschung wuchs, als Deutschland (sowohl dessen staatliche und städtische Behörden als auch dessen künstlerische Organisationen und Verbände) ihn nicht gleich nach Kriegsende zur Heimkehr aufforderte. Erst nach dem Tode Nelly Kroegers lud ihn der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands ein, in die DDR zu kommen und auf der Wartburg Wohnung zu nehment 82 . Der Dichter zögerte, dieser Einladung Folge zu leisten, zumal ihm wirtschaftlich keinerlei Zusagen gemacht worden waren". In den folgenden Jahren wurde er zum Ehrendoktor der Humboldt-Universität ernannt, mit dem Nationalpreis erster Klasse ausgezeichnet und zum Präsidenten der Ostdeutschen Akademie der Künste berufen, konnte sich aber immer noch nicht entschließen, den Sprung übers große Wasser zu wagen. Als er am 12. März 1950 kurz vor Erreichung seines achtzigsten Lebensjahres, starb, war er zwar bereit zur Abfahrt, aber noch immer gefeit gegen den Vorwurf der Nachwelt, er habe durch seine körperliche Anwesenheit dem Ulbricht-Regime aktiv Vorschub geleistet. Hätte er seinen Geburtstag um ein weniges überlebt, so wäre ihm wenigstens der Trost zuteil geworden, den ersten Band seiner Ausgewählten Werke in Einzelausgaben in Händen halten zu können und sich so dem Vergessen entrissen zu sehen. Denn seit 1950 - und besonders seit dem Erscheinen des westdeutschen Äquivalents der Ausgewählten Werke - steigt die Kurve seines Ruhms unaufhaltsam aufwärts, wenn auch bis heute immer noch nicht steil genug, um ihm den ihm gebührenden Platz in der neueren deutschen Literaturund Geistesgeschichte zu sichern.
ANMERKUNGEN
Biographie 1
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Ein Stammbaum der Familie Mann findet sich am Ende von Viktor Manns informativer, wenn auch sachlich nicht unbedingt zuverlässiger Lebensbeschreibung Wir waren fünf (Konstanz: Südverlag, 1949). Viktor Manns Buch enthält das faksimilierte Glückwunschschreiben, das der neunzehnjährige Heinrich anläßlich der Geburt des jüngsten Bruders aus Dresden nach Hause sandte.
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* Der dritte Abschnitt der Skizze erschien unter dem Titel „Zwei gute Lehren" im Berliner Tageblatt vom 4. März 1928. 4 Antwort auf eine Umfrage der Literarischen Welt „Was ein Häkchen werden will - Berühmte Deutsche über ihre Schulzensuren" in 1/1 (1925), S.2 dieser Zeitschrift. * Ein Zeitalter wird besichtigt (Stockholm: Neuer Verlag, o. J. [1945]), S.234. • „Mehr als die Rembrandt interessierten mich damals der Schlitten Peters des Großen und der goldene, radschlagende Pfau, den Mentschikoff seiner Zarin gewidmet hat" (ebd., S.229). 7 „Anfangs seiner zwanziger Jahre war mein Bruder den russischen Meistern ergeben, mein halbes Dasein bestand aus französischen Sätzen" (ebd., S.231). Im „Lebensabriß" (art-AttiVt\ri aus dem Jahre 1895 befaßt sich Heinrich Mann mit der Verfallskunst und proponiert die Rückkehr zur Volkstümlichkeit (vgl. Das Zwanzigste Jahrhundert, V/2, S.79ff. und S.528ff.).
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A W I , S.332. A W I , S.349. Koppel S. Pinson, Modern Germany, Its History and Civilization (New Y o r k , 1954), S.460. A W I, S.341. Walter Schröder, a . a . O . , S.39, bezieht diese Stelle auf die schwarzen Messen, „ w i e sie Huysmans und sein Anhang literarisch feierten". In ihrem George-Buch beschreibt und verteidigt Sabine Lepsius die theatralische Aufmachung der literarischen Soireen, bei denen der Meister im intimen Zirkel seiner Freunde und Bewunderer auftrat. Sie widerlegt die Gerüchte, denen zufolge „ i m Hause Lepsius die Wände violett ausgeschlagen [gewesen] seien und Jungfrauen mit Lilien in der Hand den Worten eines Dichters lauschten" (Stefan George: Geschichte einer Freundschaft; Berlin: Die Runde, 1933, S.22f.). Viktor Mann ( a . a . O . , S.147f.) erwähnt seine Anwesenheit bei einem der von den um Karl Wolfskehl gruppierten „Päpsten von Schwabing" gefeierten Riten.
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Die Einleitung zur ersten Nummer der Blätter für die Kunst enthält den bezeichnenden Hinweis: „ Z w a r werden wir auch belehrend und urteilend die neuen Strömungen der Literatur im In- und Ausland einführen, uns aber dabei so sehr wie möglich aller Schlagworte begeben." Diese Schlagworte erweisen sich, gemäß einer Fußnote, als „Symbolismus, Dekadentismus, Okkultismus u s w . " Zur parodistischen Behandlung des Salome-Themas vgl. A W I, S.297.
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·* Selbstironie liegt vor, wenn Mann einen seiner Charaktere ausrufen läßt, „daß die ganze Szene gestohlen sei" (AW I, S.136). Am Beginn des Handlungsabrisses heißt es: „Die Szene war im preußischen Osten, in einem kleinen Industrieort, den ein Fabrikdirektor und seine Gattin beherrschten." Mit dem Naturalismus im allgemeinen und den Webern im besonderen setzt sich Mann in zwei unsignierten Aufsätzen im Zwanzigsten Jahrhundert (V/2, S.91ff. und S. 396 ff.) auseinander. In einem Interview mit den Nouvelles Littiraires (24. Dezember 1927) bestätigt Heinrich Mann seine Anwesenheit bei den Brahmschen HauptmannPremieren, insbesondere bei der Uraufführung der Weber: „Le hasard fit cependant que je connus d£s 1890 Brahm, le directeur de thdätre qui a tant fait pour les Lettres et k qui nous sommes redevables entre autres choses de la r0velation d'Hauptmann. J'ai assistd alors aux premiers reprisentations de ses pieces . . . J'ai bien vu cela au fremissement de la salle quand j'assistai k la premiire reprisentation des Tisserands." Heinrich Manns Abkehr vom Naturalismus erfolgte spätestens im Jahre 1892. «' Ward, S.168. ·· „Und der Alte?" „Er scheint sich mit den Gummirädern ausgesöhnt zu haben." „Und er war doch ein gefährlicher Revolutionär." Jetzt tritt er offenbar für das Bestehende ein. Türkheimer wird ihn dafür gewonnen haben." „Wenn selbst die Genossen sich jetzt im Schlaraffenland ansiedeln" (AW I, S.286f.). ·· Tatsächlich vereinigt Wennichen Züge in sich, die wir bei Gustav Freytag (1816-1895) und Friedrich Spielhagen (1828-1911), den zwei führenden Romanciers der Zeit, finden. Heinrich Mann scheint sich auf den Autor von Soll und Haben zu beziehen, wenn er Wennichen einen Mann nennt, „der nichts von den Veränderungen der Zeit seit achtundvierzig, als er sein erstes Buch schrieb von dem braven jungen Kaufmann, der sich Eintritt in die gänzlich verrottete Adelsfamilie erzwingt", sah (AW I, S.47). - Vgl. auch Schröder, a.a.O., S.37. - Soll und Haben wurde jedoch erst 1855 veröffentlicht; auch heiratet sein Held nicht in die Adelsgesellschaft ein, wie der Schluß des Zitats insinuiert. Zudem war es Spielhagen (Freytag verbrachte seinen Lebensabend in Wiesbaden), der regelmäßig in der Berliner Gesellschaft verkehrte.
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ZWEITES KAPITEL
,DIE G Ö T T I N N E N "
Schon bald nach Abschluß der Arbeit an Im Schlaraffenland und der Übersetzung v o n Alfred Capus' Roman Qui perd gagne (München, 1901), den ein Rezensent in der Schönen Literatur, IV (1903), S. 23, als „einen vergröberten Bei-Ami" bezeichnete, machte sich Heinrich Mann an die Niederschrift der Trilogie Die Göttinnen - ursprünglich wohl als Einzelwerk gedacht - , für die er seit 1898 Material gesammelt hatte, die aber erst 1903 im Druck erscheinen sollte 1 . Thomas Mann erwähnt das Projekt in einem Brief an seinen Bruder v o m 25. November 1900 2 , und am 2. Dezember des gleichen Jahres lieferte dieser in einem Schreiben an seinen Verleger den folgenden Aufriß des im Entstehen begriffenen Romanes: Gleich nach Beendigung von Capus habe ich einen neuen Roman entworfen, den ich jetzt ausarbeite. Es wird wohl 15 oder 18 Monate dauern. Es sind die Abenteuer einer großen Dame aus Dalmatien. Im ersten Teil glüht sie vor Freiheitssehnen, im zweiten vor Kunstempfinden, im dritten vor Brunst. Sie ist bemerkenswerter Weise ein Mensch und wird ernst genommen; die meisten übrigen Figuren sind lustige Tiere wie im Schlaraffenland. Die Handlung ist bewegt, sie erstreckt sich auf Zara, Paris, Wien, Rom, Venedig, Neapel. Wenn alles gelingt, wird der erste Teil exotisch bunt, der zweite kunsttrunken, der dritte obszön und bitter*. Und am 24. Februar 1901 fügte er ergänzend hinzu: Was ich jetzt mache, kommt mir manchmal vor wie ein modernes Märchen. Erschrecken Sie bitte nicht. Ich setze lauter Figuren in Bewegung, die Sie trotz ihrer Fremdartigkeit hoffentlich nicht weniger lebensvoll finden werden als die meines ersten Romans. Zu Anfang mißlingt eine romantische Revolution in einem Reiche, das es gar nicht gibt, und am Schluß beabsichtige ich einen Wirbel von Heldentum, modernen Gaunereien, antiker Mysterie usw. Dabei liegen vielfach tatsächliche Geschichten zugrunde 4 . 37
Der Ton dieser Briefe weist auf die ironische Distanz hin, die Heinrich Mann von Anfang an zwischen sich und jene Gestalten (mit Ausnahme der Heldin, Violante von Assy) zu legen suchte. Auch die häufige Wiederkehr des Wortes grotesk im Text beweist, daß das Werk zum Teil bewußte Parodie auf dasfin-de-sifecleist5. Es ist ferner beachtenswert, daß Mann den Roman in Nietzsches Todesjahr zu schreiben begann, des gleichen Nietzsche, der die Dekadenz unter die Lupe genommen hatte6. In einer Studie über den Renaissancekult in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende präzisiert Walter Rehm den philosophisch-ästhetischen Standpunkt des Romans, indem er feststellt: Heinrich Mann selbst weiß schon um die Hysterie und Perversität dieser Lebenshaltung, er weiß, daß nur die Herzogin das große Leben lebt und verkörpert, und daß die anderen Menschen seines Romans sich wie er selbst in ohnmächtiger Sehnsucht nach Kraft verzehren, daß ihre zur Schau getragene Stärke und renaissancehafte Gebärde eben Gebärde, Schauspiel, Maskerade ist7.
Thomas Mann, dessen Novelle „Tonio Kröger" aus dem Jahre 1903 eine Kritik des bellezza-YLultts („Die ganze bellezza macht mich nervös"8) und der literarischen Verherrlichung des Cinquecento („Ich liebe das Leben. Aber ich beschwöre Sie, halten Sie nicht für Literatur, was ich da sage. Denken Sie nicht an Cesare Borgia oder an irgendeine trunkene Philosophie, die ihn aufs Schild erhebt"») liefert, übersah diesen ironischen Unterton, den bei Nietzsche übersehen zu haben er seinen Bruder beschuldigte; denn sein späterer Hinweis auf Romane „voll aphrodisischer Pennälerphantasie, Kataloge des Lasters, in denen keine Nummer vergessen war"10 bezieht sich zweifellos auf Die Göttinnen. Eine kritische Durchleuchtung von Heinrich Manns Roman ist ohne Hinweis auf Nietzsches Schriften und deren Wirkung auf die Literatur der 90er Jahre unmöglich. Während Thomas Mann seiner persönlichen Meinung Ausdruck gibt, wenn er Nietzsche einen Moralbesessenen und Bruder Pascals nennt und „das romantische Element der Ironie in seinem Eros" 11 betont, spricht sein Bruder für eine ganze Generation, wenn er in der Einleitung zu seiner NietzscheAnthologie aus dem Jahr 1939 rückblickend bemerkt: Sein Werk ist furchtbar, es ist bedrohlich geworden, anstatt daß es uns hinrisse wie vor Zeiten. Damals schien es uns selbst zu rechtfertigen, wir verstanden es nach den Neigungen unseres Geistes, mit
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eingeschlossen seine Ausschweifungen. Wir vertrauten mit Freuden dem Individualisten, der es bis auf das Äußerste war . . . 1890 und die nächsten Jahre war dies eine Haltung der persönlichen Unabhängigkeit. Derart bereitete man sich auf die eignen Leistungen vor, und höchst willkommen war dieser Philosoph. Er stellte an die Spitze seiner geforderten Gesellschaft den stolzen Geist — warum nicht uns selbst ? . . . Das Selbstbewußtsein kommt vor aller Leistung; überspannt ist es gemeinhin, solange es unbewiesen ist; im Lauf der Arbeiten bescheidet es sich, um gründlicher zu werden1*. Die leichte Verstimmung, die eine Lektüre der Göttinnen hinterläßt, erklärt sich wohl zum Teil daraus, daß der Verfasser der blinden Verehrung Nietzsches noch nicht völlig entsagt hat. Das ergibt sich allein schon aus den vielen Parallelen, die zwischen diesem Roman und zwei der Schriften des Meisters, Zur Genealogie der Moral und Jenseits von Gut und Böse, bestehen. In Violante d'Assy artet der Persönlichkeitskult zur Selbstüberhebung aus, die man als Egoismus bezeichnen könnte, hätte Nietzsche diese Haltung nicht außermoralisch gewertet wissen wollen. Violantes Selbstvertrauen ist ihre Stärke, wie immer wir auch ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Mitmenschen und der Gesellschaft beurteilen mögen. Ihr politisches Ideal ist abstrakt („Wofür ich mich erwärmen könnte, das wäre der Gedanke, in diesem Lande die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Aufklärung, den Wohlstand einzuführen"18) bis zur Grausamkeit („Daß ein Bauer gespießt wird, ist ein belangloser Zufall. Aber meine Sache verlangte, daß Sie ihn retteten"14). Nur in Gegenwart ihres jungen Liebhabers Nino überwindet sie diese Einsamkeit, die sie selbst in Momenten äußerster sinnlicher Befriedigung beschleicht („In allen Spiegeln, hundertfältig bis in die gläserne Tiefe, tanze ich - immer ich - ganz, ganz allein" "). Für Violante wird der Segen des Individualismus schließlich zum Fluch, und die Sterbende wird den Gedanken nicht los: „Nur wer kein Erbe an Liebe hinterläßt, den freut nicht seine Urne18." Gleich Violante suchen auch die anderen Gestalten des Romans vor allem ihre eigenen Begierden zu befriedigen. Sie alle verwerfen mit Nietzsche das christliche Ideal der Askese. Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildet die Comtessa Blä, deren karitative Natur nur den Wunsch kennt, „für jemand zu sorgen und zu dulden" Doch kompensiert sie für diesen Drang, indem sie aus ihren Leiden Gedichte macht. Der Ruhm, den sie mit der Veröffentlichung des Bandes Schwarze Rosen erwirbt, übt jedoch keinen Einfluß auf ihren Charakter 39
aus. Während Jean Guignols Kunst ihn für die Wunden, die das Leben schlägt, wenigstens teilweise entschädigt, erwächst die Kunst der Comtessa aus Resignation18. Deren Wurzeln legte Nietzsche im Abschnitt „Was bedeuten asketische Ideale?" seiner Genealogie der Moral bloß: Ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch. Hier herrscht ein Ressentiment sondergleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte über das Leben selbst. Hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen; hier richtet sich der Blick grün und hämisch gegen das physiologische Gedeihen selbst, insonderheit gegen dessen Ausdruck, die Schönheit, die Freude; während am Mißraten, Verkümmern, am Schmerz, am Unfall, am Häßlichen, an der willkürlichen Einbuße, an der Entselbstung, Selbstgeißelung, Selbstopferung ein Wohlgefallen empfunden und gesucht wird1·.
In der Gestalt der Comtessa Blä erreicht die Verneinung des Willens, besonders des Nietzscheschen Willens zur Macht, den Punkt, den Schopenhauer und Wagner anstrebten, den Punkt nämlich, an dem Leben und Bewußtsein sich selbst auslöschen: „Sieh, es ist so leicht, sich fallen, nein, sich gleiten zu lassen in den Tod hinein, so wie wir eben auf dem polierten Marmor einander zugeglitten sind 80 ." Ein weiteres Beispiel von Selbstaufopferung gibt Bettina Halm, die Frau des Malers, die getrennt von ihm lebt, da sie weiß, daß es ihr an der Schönheit gebricht, wie ihr Mann sie als Quelle der Inspiration benötigt. Bettina versteht sich sogar dazu, Violante um williges Gehör für Jakobus' Werbung zu bitten 21 . Der Altruismus aber ist die größte Sünde, die man in einer Gesellschaft, die der Persönlichkeit huldigt und nur solche Tugenden kennt, die Frömmigkeit, Demut und Nächstenliebe ausschließen, begehen kann22. Eines der Nebenprodukte des Individualismus in der politischsozialen Sphäre ist der eingewurzelte Haß gegen demokratische Einrichtungen und Ideale, besonders aber gegen den Sozialismus. In diesem frühen Werk ist Heinrich Mann weit davon entfernt, der hysterischen Demokratie das Wort zu reden, wie ihm später vorgeworfen wurde 23 . Ninos umstürzlerische Tätigkeit am Ende des Romans („Wir sind entschlossen, der Freiheit und dem Rechte der Persönlichkeit unser Leben darzubringen, und rufen zum Kampfe auf gegen den Sozialismus, der sie beide vergewaltigt" 24 ) spiegelt nur Violantes jugendliche Gefühle wider25. Die gereifte Violante jedoch zeigt sich gleichgültig gegen „die zu Ende gedachte Herdentiermoral" 2e . 40
Nietzsches Verherrlichung des Individuums, die in der Heldin des Romans verkörpert ist, gipfelt in der Erkenntnis, je ausgeprägter die Persönlichkeit sei, desto größer sei ihr Recht, sich der Moral zu entschlagen. Nach dieser Auffassung ist alles, was der Starke tut, gut, solange es seinen Willen zur Macht bestärkt und die Lust am Leben erhöht. Violantes Tun im Schlußteil der Göttinnen zeigt, daß dieser Hang zur Selbstbefriedigung die Zerstörung des Einzelwesens zur Folge haben kann. Mit anderen Worten: der Selbsterhaltungstrieb ist dem Willen zur Macht so sklavisch unterworfen, daß dieser ihn unter Umständen vernichtet 87 . Der Teiresias des Romans, Gottfried von Siebelind - dessen perverser Geschmack sich aus seiner Impotenz erklärt - , legt den Maßstab fest, mit dem Heinrich Mann Violante gemessen wissen will. Ihr Immoralismus (ein Nietzschescher Begriff, der unserem Amoralismus entspricht 28 ) wird von ihm wie folgt gekennzeichnet: Lastet! Das Unerträgliche ist, daß es für jene Frau kein Laster gibt. Ihr fehlt der Begriff. Sie heißt zum voraus alles gut, was aus ihr herauswill. Sie glaubt an sich! Wie viele sind schon an ihr gestorben, klein oder zu Verrätern geworden: jene Pavic, della Pergola, tausend Opfer ihrer idealistischen Umtriebe, zuletzt Jakobus und ich glaube bald auch dieser Jean Guignoll Wieviel hat sie selbst gelitten: wenn ein Traum ihr entglitt, eine neue Sehnsucht sie umherwarf!... Denn auch das Leiden ruft sie und empfängt es gern . . . Alles ist ihr recht, was hohes Lebensgefühl schafft. Alles ist ihr Spiel, zum Zwecke einer schönen Geste und eines starken Schauers. Kein Rausch raubt sie für immer, keinem Unglück kann sie je erliegen, keine von allen Enttäuschungen wird sie in Zweifel stürzen am Leben oder an der eigenen Wünschens Würdigkeit". Doch ist Violante kaum der schönen Ruchlosigkeit fähig, die Nietzsche an Cesare Borgia lobt und die sowohl Thomas Mann als auch Walter Rehm zum Kennzeichen der fin-de-siicle-Ksthe.ük machen 80 . Keine ihrer Handlungen ist, rechtlich gesehen, ein Verbrechen. Dabei ist zu beachten, daß das einfache Volk in Dalmatien in ihr eine Art von Hexe oder Morra sieht. Das kleine Mädchen, das in einem Schloß an der Adria aufwächst, ist für sie „die Hexe, die an den Scoglien in Höhlen wohnte und Schuhe aus Menschenadern trug. Der Teufel flog, anzusehen wie ein Schmetterling, aus ihr heraus und fraß Herzen aus Brüsten 3 1 ." Die gleichen Eigenschaften werden der Astarte-ähnlichen Gestalt nachgesagt, die den Neapolitanischen Bacchanalen vorsteht 82 .
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D a Die Göttinnen ein Roman der Dekadenz ist, müssen wir uns um das Verständnis dieses Phänomens und seiner Auswirkung auf das Individuum und die Gesellschaft bemühen. Nietzsche zufolge hat die Dekadenz in der Moral ihren Ursprung 3 3 . Die Moral, die die Unterdrückung aller gesunden Instinkte im Namen des Konformismus voraussetzt, hat die Daseinslust, das eigentliche Handlungsprinzip in der individualistischen Gesellschaft, untergraben und durch ein Gefühl der Unlust und des Pessimismus ersetzt 34 . Nietzsche macht den Hang zur Reflexion und die Unfähigkeit, Erlebnisse zu verdauen, für diese zeittypische malaise verantwortlich 35 . Violante d'Assy ist die einzige Figur in Die Göttinnen, die weiß, daß Denken ein Luxus ist 3 ·. Nietzsche bezeichnete Laster, Verbrechen, Zölibat und Hysterie als Symptome der Krankheit, von der er sein Jahrhundert befallen glaubte 3 7 . In seinem Roman bezieht sich Heinrich Mann vor allem auf letzteres Phänomen. Als Motto hätte ihm die Maxime „ D e r moderne Künstler ist in seiner Physiologie dem Hysterismus nächstverwandt" 3 8 dienen können. Verschiedene Erscheinungsweisen der Hysterie sind in Die Göttinnen behandelt, wobei der Kernbegriff der hysterischen Renaissance von Jakobus Halm im Rahmen eines Gesprächs mit Violante entwickelt wird: Zwischen den alten Meisterwerken hängen meine eigenen Bilder, und wenn Sie gutwillig sind, finden Sie sie kaum heraus. Und mich selbst, wie ich hier stehe, können Sie nach Belieben mit dem Denkmal des Moretto in Brescia verwechseln oder mit dem des großen Paolo in seiner Heimat. Hahal Und diese Maskerade gibt mir meinen bewunderten Stil! Ich habe ein eigenes Genre entdeckt, ich nenne es heimlich: die hysterische RenaissanceI Moderne Ärmlichkeiten und Perversitäten verkleide und schminke ich mit so überlegener Geschicklichkeit, daß sie an dem vollen Menschentume des goldenen Zeitalters teilzuhaben scheinen. Ihr Elend erregt keinen Widerwillen, sondern Kitzel. Das ist meine Kunst* Kurz darauf verurteilt Halm Ninos Bemühen, ein Leben der Tat in einem Zeitalter zu führen, „ d a dies alles duech die Kunst geschieht, ja, fast nur noch durch die Kunst geschieht" 4 0 . Halm ist der einzige Künstler unter den Gestalten des Romans, der sich dieser Maxime entsprechend verhält. Jean Guignol andrerseits hegt keinen Zweifel an der Echtheit seiner Gefühle oder der Kunstwerke, in denen er sie ausdrückt. Violante gegenüber brüstet er sich stolz seines Heidentumes:
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Aber betrachten Sie meine Verse I Es ist nicht nur das ganz unschuldige Fehlen des Schamgefühls, das ihr Heidentum ausmacht. Sie sind heidnisch auch darum, weil sie das Leben, das große Leben und alle seiner Götter in fromme Metalle graben . . . weil sie uns und die mächtige Erde f e i e r n . . . Ich bin sehr groß, Herzogin - ich, der ich dieses Heidentum ausgesprochen habe; denn aus mir sprach die Zeit, die wunderbare, noch sehr unruhige, erst gesunden wollende Frührenaissance, der wir gehören41.
Guignol-d'Annunzio bildet sich ein, einer der Verkünder der neuen Renaissance des zwanzigsten Jahrhunderts in Leben und Kunst zu sein. Diese Illusion wird von Siebelind zerstört, wenn er die Dekadenz - die ihn selbst einbegreift - als „einen ausschweifenden Willen, Begierden, die die Welt umarmen, in einem unzulänglichen Körper" definiert und behauptet, daß alle, „die heute dem Leben recht geben und seiner Gewalt"48 Verfallende seien. Ohne Namen zu nennen, zählt Siebelind anschließend die prominentesten zeitgenössischen Dekadenten auf: Ein Monarch voll zehrender Sucht, Länder zu zerstampfen und Meere zu peitschen: er reibt sich in tiefem Frieden seine skrofulösen Gliedmaßen, die leicht kalt werden. Der Soldatensänger des neuen Imperiums: Blut, Lorbeer, Tropensonne glühen und rauschen, wo er die Leier schlägt, und entfesseln Raubtierschreie; er aber ist ein Männchen, das die Hitze im weiten Kaiserreiche seiner Ideen nicht aushält. Der großartige Dichter der großartigsten Rasse: er preist auch unermüdlich die Schönheit an, die große, lebensstrotzende Schönheit, die auf seinem Bette liegt; - aber seine Väter haben sie gezeugt, und seine Kunst ist ein einziger Inzest . . . Und der erhabene Philosoph, die Vollendung von Jahrtausenden: er lebt dreiundzwanzig und eine halbe Stunde seiner Gesundheit, um in den letzten dreißig Minuten einen Hymnus niederzuschreiben - an das Leben".
In Die Göttinnen wird die künstlerische, politische und philosophische Hysterie sinnvoll ergänzt durch ihr biologisches Urbild, wie es bei Frauen im kritischen Alter zur Erscheinung kommt44. Violantes letzte Lebensphase, die unter dem Zeichen der Venus steht, ist entschieden hysterischer Natur und kennzeichnet den beginnenden Verfall eines Körpers, der nie geboren hat und so seinem eigenen Geschlecht entfremdet ist. Violantes Hysterie ist ein letztes, und vielleicht das krasseste, Symptom ihrer Einsamkeit. Da sich die Handlung des Romans in einem, wenn auch lose gefügten, historischen Rahmen abspielt, scheint es angebracht, die Chronologie der geschilderten Ereignisse wenigstens ungefähr fest-
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2ulegen. D i e Erzählung beginnt mit einem Kurzbericht der gegen den K ö n i g v o n Dalmatien, Nikolaus v o n K o b u r g (der angeblich Bismarck keinen größeren Dienst erweisen kann, als mit seinem L a n d aus der Weltgeschichte zu verschwinden), angezettelten Verschwörung 4 5 . Der Höhepunkt dieser Verschwörung ist auf das J a h r 1876 angesetzt (S.7). D i e folgenden Seiten vermitteln rückblendend ein Bild v o n Violantes Kindheit und J u g e n d . A u s verschiedenen A n gaben läßt sich auf das J a h r 1850 (vielleicht auch 1851 oder 1852) als ihrem Geburtsjahr schließen. Ihre Ankunft in Paris und der Beginn ihrer gesellschaftlichen L a u f b a h n in den Salons der französischen Hauptstadt ist für 1867 bezeugt (S.22). Sie kehrt Paris beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges den Rücken (S. 26); und auf S. 61 erfahren wir, daß die dalmatinische Verschwörung u m 1872 im vollen G a n g e ist. D i e Reihe der Rückblenden wird auf S . 9 2 abgeschlossen, w o der Verfasser zur Schilderung v o n Violantes Flucht nach mißglücktem C o u p schreitet. A u f S. 180 wird ein erneutes Aufflammen der Insurrektion im Jahre 1880 berichtet, was die Einführung des Garibaldianers della Pergola, der der Herzogin seine Hilfe anbietet, ermöglicht. N a c h Abschluß ihrer politischen Karriere nimmt diese in Venedig ihren Wohnsitz, w o sie im Mai 1882 (S.267) ihren ersten E m p f a n g gibt. Zwischen S.267 und S.351 ist höchstens ein J a h r verstrichen, da Violante an beiden Stellen als dreißigjährig beschrieben wird. A m A n f a n g des vierten Abschnitts v o n Minerva wird bemerkt, daß „Violante ihr Leben in Händen [hielt], die nicht zitterten, sieben Jahre l a n g " (S. 357). A u f S.366 wird ihr Alter auf 39 Jahre geschätzt, auf S. 515 auf vierzig. D e r dritte Teil des R o m a n s hat Violantes Aufenthalt in Sizilien und Neapel zum Gegenstand. Sie ist nun (gemäß S. 632) 45 J a h r e alt. D o c h muß man in Betracht ziehen, daß die A b f o l g e des Geschehens u m s o lockerer wird, je mehr wir uns der Schlußphase ihres dreigeteilten Lebenslaufes nähern. Immerhin besteht G r u n d dafür anzunehmen, daß ihr T o d im Alter v o n 50 Jahren erfolgt. Der einzige historisch verifizierbare Hinweis im letzten Abschnitt ist Halms Bericht v o n der Wiederentdeckung des Botticellischen Gemäldes Pallas und der Zentaur i m Jahre 1895, die J a k o b u s ' künstlerischen Bankerott bestätigt 4 8 . I m übrigen setzt aber die Handlung v o n Venus die mythische Entrückung voraus, die dionysischen Riten zukommt. D a s chronologisch deutbare Geschehen wiegt aber leicht i m Verhältnis zur strukturellen Bedeutung der drei Phasen v o n V i o -
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lantes Leben, die das eigentliche Rückgrat des Mannschen Romanes bilden. Jeder dieser Hauptabschnitte steht unter dem Patronat einer römischen Göttin (oder deren griechischer Schwester). Diana wird von Minerva-Pallas und letztere von Venus-Aphrodite abgelöst. Gegen Ende des Romansfindetmit der Einführung der Astarte sogar ein Rückgriff ins Orientalische statt47. An diesem Punkt wird Violante vollends zur Heidin, die von allen Transzendenzen allein die des Fleisches kennt. Überhaupt lebt sie nur dem Kult des Körpers - als organischer Wesenheit oder als einem Modell für den Künstler. Plastische Werte verheißen Unsterblichkeit, da durch sie dem Organismus Dauer verliehen wird. In der Gesellschaft, in der sich die Herzogin bewegt, sind die Herzen verkümmert, und die Vertreter der Kirche sind so wenig mit seelischen Werten befaßt wie die Laien. Besonders Tamburini zeichnet sich dadurch aus, daß ihm finanzielle Fragen näher am Herzen liegen als religiöse48. Noch an Violantes Totenbett sorgt er sich um das Geld, das sie der Kirche vermachen soll4·. Welches Ordnungsschema bestimmt die Reihenfolge des Erscheinens der drei Göttinnen ? Und läßt sich deren Leben in irgendeinem Sinne als progressiv bezeichnen? Gewiß, wenn man den Schritt von den abstrakten politischen zu den konkreten künstlerischen und den noch konkreterenfleischlichenDingen als Fortschritt betrachtet. (Freilich tut das der Verfasser selbst nicht ohne Ironie.) Räumlich gesehen geht es von Paris (im Vorspiel) nach Zara und Rom, und von da nach Venedig, Sizilien und Neapel. Die Umkehrung des normalen Verlaufs - denn Liebe gehört eigentlich an den Anfang, Politik an den Schluß der Folge - wird erst dann verständlich, wenn man ins Auge faßt, daß Violante eine Frau ist, deren Lebenshunger und Willen zur Macht im Liebesbereich am reinsten zum Ausdruck kommt, während Cesare Borgia - den Nietzsche als das gesündeste aller Raubtiere bezeichnet50 - diesen Willen am besten auf militärisch-politischem und Michelangelo auf künstlerischem Gebiet einsetzt. Violante ergibt sich in ihr Schicksal, indem sie ihr Leben als ein Kunstwerk, „das schon vor [ihrer] .Geburt vollendet war", ansieht: „Ich habe es nur durchzuspielen bis zu Ende. Kein Zufall wird mich unterbrechen81." In ihrer Entschlossenheit, die Rolle, die sie spielen zu müssen glaubt, durchzuführen, nähert sie sich dem Typus des Renaissancemenschen, wie sich ihn Heinrich Manns Zeitgenossen vorstellten. Die Ironie, die die Dreiteilung der Göttinnen beinhaltet, entstammt dem Wissen Heinrich Manns um die Fragmentierung und Speziali-
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sierung der Kräfte in der Dekadenz, während virtü im uomo universale der Renaissance noch ganzheitlich vorhanden war. San Bacco ist nur Freiheitskämpfer, Jakobus Halm nur Maler und Rustschuk nur Bankier. Nur bei Violante dürfen Kunst, Politik und Liebe - wenn auch nie zur gleichen Zeit und im gleichen Maße - einen gewissen Grad von Vollkommenheit erreichen. Am Anfang seines Romans weist der Verfasser kurz auf diejenigen von Violantes Vorfahren hin, die als Krieger und Soldaten jene barbarische Stärke bewiesen, die der Moderne abgeht. Er ruft die Unterwerfung Süditaliens durch die normannischen Eroberer, deren „lachende Grausamkeit" und „harte, fremde Verachtung" Furcht und Schrecken unter den verweichlichten Völkern der Halbinsel verbreitete, ins Gedächtnis62. Die ersten Seiten der Göttinnen bilden einen historischen Auftakt zur Trilogie im Zeichen des Kriegsgottes Mars, der im Hauptteil des Werkes nicht zu Ehren kommt, denn das Zeitalter dieses Gottes ging dem der „ruchlosen Schönheit" um etliche Jahrhunderte und dem des Renaissancekults um beinahe tausend Jahre voraus. Diana vermittelt uns ein Bild der verschiedenen Aspekte des politischen Lebens. Die Herzogin zum Beispiel verzichtet schon früh auf das abstrakte Ideal einer in Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand lebenden, aufgeklärten Gemeinschaft zu Gunsten einer weitaus romantischeren und rein persönlichen Überzeugung, die „einige Dutzend Hirten, Bauern, Banditen, Schiffer und hagere feine Leiber, die zwischen den Steinen [ihrer] Heimaterde vor [ihren] Blicken aufwuchsen" einschließt, dunkle, starre Gestalten, deren Schweigen wild ist und deren „Glieder eine einzige Linie aus Bronze" bilden5®. Dieser Gesinnungswechsel leitet sich von der Erkenntnis (S. 75) her, daß das Volk, das sie zu befreien suchte, jeder Änderung seiner Lebensgewohnheiten widerstrebt. San Bacco seinerseits ist ein echter Condottiere, der sein Leben ganz in den Dienst des Kampfes gegen die tyrannis stellt, wo und in welcher Form auch immer sie erscheinen mag. Aber auch sein Ideal bleibt abstrakt, da er aus Prinzip jeden Umsturz, sei es im Duell oder als Freischärler, unterstützt. Violante merkt sehr bald, daß er kein zweiter Garibaldi ist, sondern nur ein „mutiger Phantast"64, dem es an Wirklichkeitssinn gebricht. Und obgleich San Bacco Nino als die Verkörperung seines Wunschtraums verehrt, kann ihn der Leser seiner Naivität wegen nicht recht ernst nehmen. Pavics wildromantischer Patriotismus, dem eine tüchtige Dosis 46
Panslavismus beigemischt ist, ist im Grunde wenig mehr als Selbst bespiegelung. Er versucht, seinen moralisch zweideutigen Charakter hinter der Maske des Volksbeglückers zu verbergen: „In seiner Stimme schmolz Liebe, die Liebe zu seinem Volk, wie eine köstliche Dragee. Ein Duft, fade und berauschend, entströmte seinen leersten Worten 65 ." Umso schmerzlicher berührt es uns, Violantes Unschuld von ihm geraubt zu sehen. Was Pavic-Pavese tut, ist weder originell noch kommt es von Herzen. Als Held und Märtyrer äfft er Jesus Christus nach, dessen Rolle er in den römischen Katakomben nachvollzieht: „Pavic frönte den Ausschweifungen des Gefühls und starb zum hundertsten Male, mit ausgebreiteten Armen, röchelnd an einem nichtvorhandenen Kreuz, das alle sahen 54 ." Dabei lebt er völlig unbekannt als Exilierter, der seine Tage in müßigem Geschwätz verbringt. Pavic, der letzte der Tribunen - ein Spottbild Rienzis57 - besitzt Größe nur im Beisein der Menge, die er aufpeitschen kann. Deila Pergola, Garibaldianer wie er, ist ein Erpresser, der dafür bezahlt sein will, daß er Violantes Sache in der Öffentlichkeit vertritt; und der Preis ist Violante selbst58. Als sich diese weigert, ihn zu zahlen, gibt er sie dem Gespötte der Öffentlichkeit preis, und Pavic, der zu feige ist, ihn selbst zu töten, läßt ihn durch einen Handlanger ermorden. Die Sinnlosigkeit des Versuchs, Dalmatien zu befreien, wird durch die geographische Lage dieses Staates unterstrichen. Auf halbem Wege zwischen Wien und dem Orient gelegen, erscheint uns dieses Gebilde als ein Märchenland, wie sie nur in der Operette zu finden sind. Die spaßhaften Ungelenkigkeiten des Kronprinzen Phili wären im Lande Franz Lehars oder Herzmanovsky-Orlandos wohl am Platze. Dazu kommt, daß die Vorbereitungen zum Coup so unzulänglich sind, daß sie vier Jahre in Anspruch nehmen und der rechte Augenblick zum Handeln doch verpaßt wird. Nach ihrer Flucht ins Ausland bekennt die Herzogin freimütig: „Ich weiß nicht einmal, ob ich Feste gab, um eine Revolution anzuzetteln, oder ob ich durch Verschwörung und Umsturz meine Geselligkeit beleben wollte5®." Der Ball, bei dem die Revolutionäre Revue passieren sollen, findet im Beisein vieler ihrer Wiener und Pariser Freunde statt, die nach Zara kommen, „als führen sie zu einem Derby oder zu einer Premiere" 60 . Kurz und gut: Violante hat kein politisches Fingerspitzengefühl und ist so wenig bei der Sache, daß diese von vorneherein verloren ist. Ihr eigentliches Wesen wird demnach erst im zweiten Teil enthüllt.
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Dieser zweite Teil, Minerva, zu dem Gabriele d'Annunzios Roman II Fuoco Modell gestanden zu haben scheint81, führt uns von Rom nach Venedig, der Stadt, deren Antlitz von Künstlern und Sammlern geprägt wird. Dort begegnen wir dem mit Steinschultern und einer wahren Schaffenswut begabten weiblichen Michelangelo Propertia Ponti, deren Verfallensein an den dekadenten Dichter Mortoeil ihren Tod beschleunigt. Propertia sehnt sich nach dem einfachen Leben und den wilden, schnell gestillten Begierden ihrer Jugend. Indem er die dreidimensionale Kunst der Skulptur als vornehmstes Ziel des schöpferischen Dranges bezeichnet, schließt sich Heinrich Mann dem Vorgang der Renaissance an. Die Plastik ist langlebiger als die Malerei, die Dichtung oder die Musik, welch letztere umso verdächtiger ist, als ihr eigentliches Wesen im Schwinden besteht, wie Kierkegaard in EntwederjOder des längeren ausführt. In der Tat kennt die Musik, wenn sie vorgetragen wird, kein Sein, sondern nur ein Werden. Dies erklärt das Fehlen von Komponisten und Musikern in Die Göttinnen. Zwar ist der Stoff der Malerei nicht in gleichem Maße vergänglich; doch fehlt es dieser Kunst an der Rundheit und Festheit, die der Plastik Dauer - wenn auch nicht Unsterblichkeit - verleiht. Zudem ist das Werk des Bildhauers ein viel getreueres Abbild des Lebens. (Paradoxerweise spielt Minerva in Venedig, der Stadt der Maler und nicht der Plastiker. Von Malern werden in den Göttinnen die Venezianer Bellini, Giorgione, Tizian, Tintoretto und Veronese und die Florentiner Botticelli und Pollaiuolo erwähnt, oder es wird auf sie angespielt62.) Unter Hinweis auf eine Theorie, die Heinrich Mann ausführlicher in der Novelle „Mnais" entwickelt, äußert sich Violante wie folgt über den Tod Propertias: Deine Seele gleicht der Büste, die die Stadt überdauert, worin sie aufgestellt war. Eine Medaille ist jedes Deiner Worte; es wird mancher seine Zeit überleben, den du gekannt hast - wie jener Kaiser, der verschollen wäre ohne die Münze, die ein Bauer aus dem Acker wühlt. Deine Gefühle fügen sich wie Verse, stärker als Erz und langlebiger als Götter. Der widerspenstige Fels spürt auf ewig das Siegel deines Traums*8.
Violantes Hinweis erinnert an eine Bemerkung Daniele Glaueos, des „glühenden, unfruchtbaren Asketen der Schönheit" aus II Fuoco, die ich hier in der englischen Übersetzung wiedergebe: „In the life of a people like ourselves, great manifestations of art weigh much
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more than a treaty of alliance or a tributary law. That which is undying is worth more than that which passes away64." D'Annunzio war durchaus nicht der einzige Dichter des 19. Jahrhunderts, der solche Anschauungen hegte, wie Platens Venezianische Sonette und Henri de Regniers Parnassien-Gedichte beweisen, aus denen Heinrich Mann die Mottos für den zweiten und dritten Band der Erstauflage seiner Göttinnen entnahm45. Violante verehrt die Skulpturen als Denkmäler unzerstörbaren Ruhms®6 und weil sie den Schönheitsdurst stillen, ohne auf Gegenleistung zu bestehen: Sie werden mich nie beleidigen durch Gier und Niedrigkeit. Sie verlangen nichts, als daß ich sie liebe, um mir alles zu geben, was sie sind. Sie vergreifen sich nicht an mir. So schwer ihre bronzenen Arme sind, ich werde sie nie zu fühlen bekommen. Ich werde frei bleiben und den Zentauren fremd am Hörne führen 67 .
Wir sprachen schon von Jakobus Halm, auf dessen Versuch, das verschollene Bild Botticellis zu rekonstruieren, der Schluß des Zitates hinzuweisen scheint. Auch Halm sieht schließlich ein, daß es vergeblich ist, die Zeichen der Zeit verleugnen zu wollen („Ich dünkte mich zu gut für die hysterische Renaissance, nicht wahr? Nun, ich hatte kein Recht dazu. Die verführerischen Krankhaftigkeiten waren genau das, was ich zu machen hatte. Hätte ich sie sonst machen können? Wir sollen nie glauben, etwas anderes zu können als das, was wir machen68."), und zieht sich als Weinbauer an die Ufer des Gardasees zurück. Aber sein Künstlertum reift im freiwilligen Exil, und der Blick der sterbenden Violante ruht auf einem Bild, das sie „im Glänze einer anderen, unangreifbaren Reinheit" darstellt68. Zu der Bildhauerin und dem Maler gesellen sich zwei Dichter, die wie sie von der Dekadenz angekränkelt sind. Mortoeil, Propertias Idol, zeugt für die Wahrheit von Nietzsches Ausspruch, daß die Dichter gegen ihre Erlebnisse schamlos sind und sie ausbeuten70. Er geht sogar noch weiter, indem er Situationen heraufbeschwört, nur um sie in seinen Werken schildern zu können, selbst wenn diese Werke niemals Gestalt annehmen sollten. Die Störung einer Hochzeit erfolgt nur, „um ihre Wirkung auf eine feierliche Traugesellschaft" studieren zu können71. Wie viel weniger als Violante hat Mortoeil das Recht, das Privileg des Amoralismus für sich in Anspruch zu nehmen7*. Sein Fachgenosse Jean Guignol trägt offensichtlich Züge Gabriele d'Annunzios7®, der wie er mehrere Jahre in Neapel lebte, wo er zu4
WciMtcin, Heinrich Mann
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sammen mit Matilda Serao und Edoardo Scarfoglio den Corriere di Napoli herausgab. Auch sein Ruf verbreitete sich um 1892 in Europa, und zwar aufgrund der französischen Übersetzung des Romans UInnocente. In Die Göttinnen ist entsprechend davon die Rede, daß Vinon ihrer Schwester Lilian „Jean Guignol fortgenommen [habe], der anfing berühmt zu werden" Guignols Ritualdrama von Venus Anadyomene eignet sich vorzüglich zur Parodie auf die von d'Annunzio angestrebte Reform des Bühnenweihspiels: The drama . ·. can only be a rite or a message. The performance should be once more solemn as a ceremony, including as it does two elements that make up all worship - the living person in whom, as before the altar, the word of the revealer is made incarnate, and the presence of the multitude silent as in its temples". Ein komisches Element fließt der Parodie durch die Umstände zu, unter denen diese „Wiedergeburt" erfolgt. Der Impresario Raphael Kalender hat nämlich Violante mit der Aufführung eines Stückes gedroht, das ihr Liebesleben zum Gegenstand hat. Statt sich erpressen zu lassen, beauftragt aber die Herzogin Guignol, eine mythologische Szene zu verfassen, in der sie selbst, und zwar als Aphrodite, auftritt. Großzügig ernennt sie Kalender zu ihrem Manager. Es ist schwer zu sagen, bis zu welchem Grade das Stück, dessen Aufführung ausführlich beschrieben wird, parodistisch ist. Der überhöhte Stil, in dem es gehalten ist, entspricht jedenfalls d'Annunzios Absicht, die Literatur von allen realistischen und dokumentarischen Einsprengseln zu befreien und ein Buch zu schreiben „essendo vario di suoni e di ritmi come un poema, riunendo nel suo stile le piü diverse virtu della parola scritta"7e. Einer der beiden in Die Göttinnen auftauchenden Sammler - Siebelind, der Mann mit „konträrem Kunstempfinden" - ist bereits kurz als Teiresias-Gestalt gekennzeichnet worden. Er befaßt sich einzig mit plastischen Nuditäten, von denen er eine große Anzahl zusammengekauft hat. Der venezianische Adlige Graf Dolan andrerseits häuft Kunstwerke an wie der Geizhals Geld. Seine Habgier ist so groß, daß er Künstler wie Propertia Ponti zwingt, für ihn zu schuften. Nach ihrem Tod bemächtigt er sich dann prompt des Inhaltes ihres Studios. Dolan versteckt die Schätze in seinem Palast, wo niemand sie sehen kann, verkauft aber wertlose Kopien an Amateure. Beim Nahen seines Todes versucht er, alles zu zerstören, um seinen Erben die Freude am Besitz zu vergällen.
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Der Schlußteil des Romans beschreibt den raschen Verfall der Lust zur Orgiastik. In diesem Stadium ist es dem Einzelnen nicht mehr erlaubt, seinen Partner zu wählen, sondern es kommt nur noch darauf an, dem Fleische nachzugeben77. So werden die lebenserhaltenden Triebe zu Werkzeugen der Zerstörung. Die weitaus interessanteste der im Schlußteil eingeführten Figuren ist Don Saverio Cucuru, ein auch finanziell so erfolgreicher Verführer, daß selbst seine Opfer Violante unter ihnen - ihn bewundern müssen. In seinem Nachwort zu den Göttinnen zieht Kantorowicz den folgenden Vergleich mit Wedekind: Don Saverio Cucuru, der am Besitz neapolitanischer Freudenhäuser noch kein Genüge findet und aus der Herzogin die teuerste Kurtisane des Zeitalters machen wollte, aber am Ende, da er sie nicht den anderen zu verkaufen vermochte, sein Geschäft dabei findet, andere an sie zu verkaufen, hat einige Wesensmerkmale des Wedekindschen Mädchenhändlers Marquis Casti Piani. Auch die Herzogin selber in den Rasereien ihrer Venuszeit hat Zeichen manischer Frauenfiguren aus dem Repertoire der Wedekindschen Dramen'8.
Wie Kantorowicz richtig bemerkt, erstreckt sich die Ähnlichkeit bis auf die Sprache Don Saverios, dessen grandiose Pläne („Ich würde Banken gründen, Feenpaläste bauen, ungeheure Vergnügungslokale errichten und noch andere Häuser, die ich nicht nennen will und die sehr viel einbringen"79) an diejenigen anklingen, die der Marquis von Keith den bayrischen Karyatiden des Feenpalastes unterbreitet80. Gleich dem Marquis übernimmt sich auch der Mannsche Don und scheitert an Violante, die ihn der Lächerlichkeit preisgibt81. Die Herzogin ist die einzige Gestalt des Romans, die trotz der unerhörten geistigen und körperlichen Exzesse, die sie im Namen des Willens zur Macht begeht, im Moment ihres Todes einen Ruhepunkt findet und die Möglichkeit einer Transzendenz, die unter dem Stern der drei Göttinnen ausgeschlossen war, wenigstens zu ahnen beginnt. Walter Schröder mag an die Reinigung gedacht haben, die Goethes Held zwischen dem ersten und zweiten Teil der Tragödie zuteil wird, wenn er Violante als weiblichen Faust bezeichnet. Während sie ihr Leben aushaucht, lächelt Violante „hinüber in den Schatten" im Gefühl, „es lächele im Schatten".
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ANMERKUNGEN Zweites Kapitel 1
Alfred Kantorowicz beschreibt die Entstehung der Göttinnen in seinem Nachwort zur Auf bau-Verlags-Ausgabe des Werkes (Berlin, 1957; S. 757 ff.)· Er hatte Einblick in die Notizen, Briefe und Zeitungsausschnitte im Heinrich-Mann-Archiv, besonders in die Korrespondenz mit Dr. von Härtungen, dem Vorbild für Dr. von Männigen. Der Roman erschien anfangs in drei Bänden, und zwar im Dezember 1902 (München: Albert Langen), obwohl die Erstausgabe auf 1903 datiert ist. * Der Brief ist auf S.56f. von Alfred Kantorowicz' Studie Heinrich und Thomas Mann: Die persönlichen, literarischen und weltanschaulichen Beziehungen der Brüder wiedergegeben. Leider war es mir nicht möglich festzustellen, ob sich eine abschätzige Bemerkung, die Thomas Mann in einem Brief an Kurt Martens vom 30. Dezember 1903 macht („Dann kam eine sehr ernste und tief gehende Korrespondenz mit meinem Bruder über sein neuestes Buch. Kennen Sie es ? Was sagen Sie ? Ich bin rathlos") auf die Göttinnen oder die Jagd nach Liebe bezieht. In den Anmerkungen zu den Briefen (S.448) wird ersteres behauptet. ' Die Göttinnen, S.757 (Nachwort). Eine der Figuren aus dem Schlaraffenland - Ciaire Pimbusch - wird auf S.373 des Romans erwähnt. Auch ähneln sich Rustschuk und Türkheimer in mancher Hinsicht. 4 A.a.O., S.757. Die „modernen Gaunereien" beziehen sich auf Wedekind, die „antiken Mysterien" auf Petronius. Kantorowicz weist auf die folgenden Zeitungsausschnitte aus dem Archiv hin: „II Romanzo della Principessa" (La Tribuna vom 10. Juli 1899), „Madame Ratazzi" (aus einem nicht näher beschriebenen Wiener Blatt unbestimmten Datums), „Zwei berühmte Frauen in der Fäulnisenquete von Neapel" (Münchner Neueste Nachrichten vom 28. Oktober 1901) und „Die Jungmonarchisten Italiens" (ebd., 24. März 1902). Der Roman wurde in Riva begonnen, in Rom fortgesetzt und in München vollendet. * Das Wort findet sich u.a. auf den Seiten 60, 95, 112, 129, 146 und 457. * Manns Verhältnis zu Nietzsche, besonders im Hinblick auf Die Göttinnen, ist von Roger A. Nicholls („Heinrich Mann and Nietzsche", Modern Language Quarterly, XXI [1960], S. 165-178) untersucht worden. Heinrich Manns zwiespältige Auffassung des Philosophen (etwa seine mit dem Nietzsche-Enthusiasmus schwer vereinbare Ablehnung des AntiWagnerianers) erhellt aus verschiedenen Aufsätzen und Besprechungen im Zwanzigsten Jahrhundert. - Nietzsche starb am 25. August 1900, und Gabriele d'Annunzio betrauerte ihn in seiner Ode „Per la morte di un Distruttore". ' „Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung", Zeitschrift für deutsche Philologie, LIV (1929), S. 296-328. Auf Seite 80 seines Buches Dichter und Dichtung der Zeit; Neue Folge: Im Banne des Expressionismus (Leipzig, 1925) sieht Albert Soergel in den Göttinnen einen „spürbaren Hinweis darauf, daß es mit der Zeit des schrankenlosen Individualismus zu Ende ist".
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• Thomas Mann, Gesammelte Werke (Berlin, 1925). Novellen, Bd. II, S.47. • Ebd., S.42f. 10 Betrachtungen eines Unpolitischen (Berlin, 1919), S.556. « Ebd. " „Nietzsche", Maß und Wert, II/3 (Januar/Februar 1939), S.277. " Die Göttinnen, S.57. " Ebd., S.79. » Ebd., S. 598. " Ebd., S.755. " Ebd., S.122. 11 „Sie wissen wohl nicht", sagt Jean Guignol (ebd., S.634), „daß wir Künstler eigentlich immer Rache nehmen durch unsere Werke an allem, was unseren Sinnen Wunden geschlagen, uns Sehnsucht abgenötigt hat: an der ganzen Welt." " Nietzsche, Werke, hrsg. von Karl Schlechta (München, 1955), II, S.859. 10 Göttinnen, S.205. 11 Ebd., S.493f. " In Der Wille zur Macht nennt Nietzsche den Altruismus „die verlogenste Form des Egoismus" und spricht vom „Übergewicht einer altruistischen Wertungsweise" als der „Folge eines Instinktes für Mißratensein" (Seite 52 und 253 der Krönerschen Ausgabe). " „Wahrlich, es stand moralisch besser um die hysterische Renaissance als es steht um die hysterische Demokratie." Thomas Mann auf S.586 der Betrachtungen eines Unpolitischen. " Göttinnen, S.662. Später dachte Heinrich Mann anders über Nietzsches Kritik des Sozialismus (siehe S.286 seines Nietzsche-Essays in Maß und Wert). " Vergleiche S.58 und S.662 des Romans. " Die Unschuld des Werdens (Kröner), S.252. 17 „Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen - Leben ist selbst Wille zur Macht: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon" (Jenseits von Gut und Böse in Werke, hsgb. von Schlechta, Π, S.578.) " „Sich seiner Unmoralität zu schämen: das ist eine Stufe auf der Treppe, an deren Ende man sich auch seiner Moralität schämt" (a.a.O., S.629). Gides Roman UImmoraliste erschien im Jahre 1902. " Göttinnen, S.646. 10 Betrachtungen eines\Unpolitischen, S. 554ff. und „Der Renaissancekult...", passim. » Göttinnen, S.9. " Ebd., S.703f. 53
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„Wir sehen ein furchtbares Werkzeug der ddcadence vor uns arbeiten: die M o r a l " {Der Wille zur Macht, S.401).
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„ D i e Instinkte bekämpfen müssen, das ist die Formel der ddcadence"; „Übergewicht der Unlustgefühle über die Lustgefühle: . . . Formel der ddcadence." (Siehe Bd. 77 der Kröner-Ausgabe, S.93 und S.205). „ M i t einem Erlebnis nicht fertig werden, ist ein Zeichen von d6cadence" {Der Wille zur Macht, S.165). „ E s ist zwecklos zu deuten. E s gibt s o viel zu erleben." Göttinnen, S. 596.
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' „ F o l g e n der ddcadence: Laster, Krankheit, Verbrechen, Zölibat, Hysterismus u s w . " {Der Wille zur Macht, S.32). 88 E b d . , S.548. 8» Göttinnen, S.368. A u f S.317 seines Aufsatzes bemerkt Walter Rehm, „daß Heinrich Mann in seinem Werk selbst nirgends eine stofflichhistorische Schilderung der Renaissance gibt, sondern gleichsam nur eine überzeitliche, v o m geschichtlich Wirklichen gelöste". 8
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Göttinnen, S.421. E b d . , S. 591.
" E b d . , S.465. E b d . Die dritte Gestalt ist wohl d'Annunzio, die vierte gewiß Nietzsche, die zweite Kipling (?).
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Hysterie leitet sich ab v o m griechischen hystera (Schoß). Webster definiert Hysteria als eine „psychoneurosis characterized by emotional excitability and various vasomotor derangements".
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Bismarck soll zu ihm gesagt haben: „Reisen Sie mit Gott, und sehen Sie zu, daß wir von Ihrem Lande nichts mehr hören" (Göttinnen, S.26).
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Siehe Bernard Berensons Artikel „La Pallas de Botticelli" in der Gazette des Beaux Arts (1895), S.469, und Ε . Ridolfis Aufsatz „Ritrovamento della Pallade di Sandro Botticelli" in La Nazione, X X X V I I (1895), N o . 67.
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Göttinnen, S.684. Heinrich F . Bachmayr {„Die Leidenschaften der Herzogin von Assy: Zur Entstehungsgeschichte von Heinrich Manns Roman Die Göttinnen", Philobiblon III [1959], S. 142-148) teilt mit, daß das Werk ursprünglich als ein Roman in drei Teilen gedacht war, in dem J u n o die Rolle der Diana spielte.
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Der N a m e Tamburini stammt vermutlich von Flaubert, der einen Tenor T . im Zusammenhang mit dem Opernbesuch der Bovarys in Rouen erwähnt.
Göttinnen, S.756. Jenseits von Gut und Böse in Werke, hsgb. von Schlechta, II, S. 653. 51 Göttinnen, S.512. Siehe auch Nicholls' Erklärung der Stelle (a.a.O.). " E b d . , S.13. 58 E b d . , S. 149. Violantes Definition der Freiheit wird von Comtessa B l ä , auch im Namen von Orfeo Piselli und Pavic, variiert. 84 E b d . , S.179. 48
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" Ebd., S.36. ·· Ebd., S. 157. Der Ausdruck „Ausschweifung der Gefühle" stammt wohl von Nietzsche, der ihn im Abschnitt „Was bedeuten asketische Ideale?" der Genealogie der Moral verwendet {Werke, hsgb. von Schlechta, II, S.877). " Die Parallele zwischen Tribun und Tribüne wird auf S.156, die zwischen Pavic und Rienzi auf S.161 gezogen. " Deila Pergola ist ein Zerrbild Maximilian Hardens, des langjährigen und einflußreichen Herausgebers der Zukunft. Seine Methode wird auf S.183 erläutert. Kantorowicz (a.a.O.) ist der Ansicht, daß Heinrich Mann „bei dieser Brandmarkung von keinem persönlichen Motiv bewegt war", sondern „eine zeittypische Erscheinung, die zum Revolverjournalismus ausarten konnte, unter Kritik gestellt" habe. Siehe auch S.2 des Buches Maximilian Harden von Harry F. Young (Den Haag, 1959). Heinrich Mann veröffentlichte in der Zukunft unter anderem eine Studie über Choderlos de Laclos und den Essay über Flaubert und George Sand. Auf die Dauer scheint es Heinrich Mann mit Harden nicht verdorben zu haben. Denn in einem an seinen Bruder gerichteten Brief Thomas Manns vom 17. November 1912 ( B r i e f e , S.97) heißt es: „Harden richtete ich Deine Grüße aus. Er sagte, er hätte Dich gern gesehen." " Göttinnen, S.95. ·· Ebd., S.89. " D'Annunzios Roman, der auch in Venedig spielt, verdankt dem Verhältnis mit der Duse sein Dasein. Wie die Göttinnen will er zeigen, wie „in order to obtain victory over man and circumstance, there is no other way but that of constantly feeding one's own exaltation and magnifying one's own dreams of beauty or power". Das Werk wurde im Jahre 1900 in der Übersetzung von M. Gagliardi von Langen/Müller in München veröffentlicht und in der Zukunft vom 28. Juli des gleichen Jahres von Karl Federn besprochen. Die Hinweise auf Giorgione, Pollaiuolo und Tintoretto sind indirekt: die malerische Vision, die auf S.356 beschrieben ist, mag von einem Giorgionesken Gemälde ausgehen, das auf S.209 beschriebene Bild erinnert an Pollaiuolos Herkules und Antäus, und die Namen Paliojoulai und Tintinovitsch sind durchaus parodistisch. ·» Göttinnen, S.346. 14 The Flame of Life, tr. Kassandra Vivaria (Pseudonym), London, 1900, S.126. " Siehe Kantorowicz' Nachwort zu Die Göttinnen, S. 759. M
·· In seinem Nietzsche-Essay (a.a.O., S.302) bemerkt Heinrich Mann: „Nietzsche hat den Ruhm ernst, hat ihn heilig genommen. Jeder von beiden [Nietzsche und Flaubert] hielt von den Menschen wenig, von der Geltung bei ihnen das Höchste. Anzunehmen ist: nicht um der Menschen willen, sondern aus Eifersucht auf den Ruhm der Vorgänger verlangte es auch sie, aufgenommen zu werden unter die Büsten, die .länger leben als die Stadt' (Gautier: „Le buste survit έ la cit6")."
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Göttinnen, S.245. " Ebd., S.727. " Ebd., S. 752. 70 Jenseits von Gut und Böse. Werke, hsgb. von Schlechta, II, S.638. 71 Göttinnen, S. 394. Vielleicht hat Wedekinds frühe Hauptmann-Parodie hier Modell gestanden. " Ebd., S.592. '* Guignol bezieht sich natürlich aufs Kasperletheater. Das Münchner Gegenstück zum Grand Guignol war Der große Wurstl, wo 1911 Heinrich Manns Variete erstaufgeführt wurde. Sowohl Schröder als auch Kantorowicz bringen Guignol mit d'Annunzio in Verbindung. 74 Göttinnen, S.574. Guglielmo Gatti (Vita di Gabriele d'Annunzio; Florenz, o.J., S.122) stellt fest, daß das Erscheinen von L'Innocente „aveva rinovato il chiasso della critica intorno al suo autore. La traduzione francese dello stesso romanzo era stato le spinta a far conoscere ed a far discutare, al di I i delle Alpi, e quindi nel mondo, il giovane scrittore." 78 The Flame of Life, S.110. 7 ' Dizionario Enciclopedico Italiano (Rom, 1956), Bd.III, S.744f. 77 Dieser Zustand ist im Verhalten der Lady Ragg (S. 277 ff. und passim) vorausgenommen. 7 · Göttinnen, S.770. Der Erdgeist wurde 1893/94 geschrieben. Siehe auch Heinrich Manns Erinnerungen an Wedekind im Zeitalter, S. 224 ff. 7 · Göttinnen, S.627. Das Wort „Feenpalast" erscheint in beiden Zitaten. ,0 Siehe S.614f. in Prosa, Dramen, Verse. 81 Siehe Walter Schröder, a.a.O., S.44.
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DRITTES KAPITEL
„DIE JAGD NACH LIEBE" Der kurz nach den Göttinnen veröffentlichte Roman Die Jagd nach Liebe, als dessen Schauplatz ursprünglich Paris vorgesehen war1, spielt im München der Jahrhundertwende, das die entsprechende Lokalfarbe hergibt. Wie bei der Trilogie der Herzogin von Assy handelt es sich auch hier um einen Dekadenzroman - freilich keinen renaissanceistischen - , in dem es um die Verquickung von Kunst (Minerva) und Liebe (Venus), doch unter Ausschluß der Politik (Diana), geht. Während Violante von echter Leidenschaft bewegt und von unersättlicher Lebenslust getrieben wird, sind die Figuren der Jagd nach Liebe künstlich aufgeputscht und bewußt verschroben gezeichnet. Nach dem Ausspruch eines Rezensenten gibt es zu denken, „daß unter allen Gestalten nicht eine einzige ist, die eines reinen Enthusiasmus fähig wäre, eines ehrfürchtig religiösen Weltgefühls, nicht eine harmonische reiche Natur" 2 . Die mangelnde Vitalität ist das eigentliche Thema des Werkes, das, wie Ihering feststellt, „die Grundhaltung Heinrich Manns festigt und einen weiteren Schritt auf die bewußten zeitkritischen Romane hin tut". Und weiterhin: In der Jagd nach Liebe sind es noch die modischen Auswüchse, die geschildert werden . . . Aber die Kritik der ästhetischen Geschmacklosigkeiten beantwortet zugleich die Frage, warum es dazu kam. Nur sybaritische Nichtstuer und Nutznießer konnten im Müßiggang auf solche Spielereien geraten'. Tatsächlich stellt Heinrich Mann im Schlußkapitel eine auffällige, wenn auch unorganische Verbindung zum Schlaraffenland her, als dessen bajuwarisches Gegenstück Die Jagd nach Liebe zu gelten hat: die Heldin geht nämlich nach Berlin, um mit Verda Bieratz, Lizzi Laff6 und anderen Türkheimer-Protegös in Konkurrenz zu treten4. In der Überschau läßt sich Manns vierter Roman als Persiflage des Münchener Kunstbetriebes der Jugendstil-Zeit bezeichnen. Die bourgeoisen Orgien einer Gesellschaft, die von Kunst nichts versteht, werden ins rechte Licht gerückt, ebenso wie die Machen-
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Schäften einer verantwortungslosen Künstlerclique, die diese Kleinbürger um ihr Geld bringt. Die Dichter und Maler, aus denen die Clique besteht, fabrizieren bizarre, verlogene und zusammengestoppelte Werke, deren Stil sich, wie bei Ute Endes Vater, dem wechselnden Zeitgeschmack anpaßt. Am Anfang des Romans malt der „junge" Ende venezianische Blumenmädchen (er selbst war natürlich nie in der Lagunenstadt), und später ahmt er das blutlose Nazarenertum der Sezessionisten nach6. Der Dichter Pömmerl (das spaßig verkleinernde I am Ausgang des Namens, das er mit seinem Kollegen Spiessl gemein hat, verrät, wes Geistes Kind er ist) zum Beispiel spezialisiert sich auf einen „umständlichen und süßen Biedermeierton"8 und kultiviert die künstlich aufgepropfte Wehmut, die es ihm (in ironischer Verzerrung von Heines Diktum) ermöglicht, aus seinen kleinen Schmerzen kleine Lieder zu machen7. Claude Marehn, der Held des Romans, gibt mit ihm zusammen die Zeitschrift Der Rosenbusch heraus (ein komisches Pendant zur Insel), wo „belangloser Übermut" in großer Aufmachung geboten wird8. Der Unsinn überschlägt sich, wenn eine Theaterreform mit der Premiere von Pömmerls neuromantischem Stück Die rosaseidenen Höschen in die Wege geleitet wird®. Auch die Kunstkenner- und gönnerschaft, soweit sie in der Jagd nach Liebe zur Darstellung kommt, schlägt ins Perverse um. Der saftlose Ästhetizismus des Weichlings Köhmboldt, eines Individuums, „das nur noch auf ästhetischem Wege sein Dasein fristet"10, erinnert an die Haltung von Des Esseintes in Huysmans' Λ Rebours. Auch Des Esseintes sieht im Künstlichen und Gekünstelten das eigentliche Merkmal des menschlichen Genius und gewöhnt sich daran, selbst in der Natur das Mißgestaltete und Mißgeborene aufzusuchen. Das Mobiliar von Köhmboldts Wohnung besteht unter anderem aus Kissen, die Frauenbrüsten, und Stuhllehnen, die Frauenhälsen nachgeformt sind. Daran findet Marehn so großen Gefallen, daß er Utes Haus mit der gleichen Inneneinrichtung beglückt. Und doch besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Dekadenten. Köhmboldt ist nämlich impotent, sodaß die Schönheit ihm triebfremd bleibt, während Claude Marehn zur Liebe fähig ist und nur bei Ute Ende kein Glück hat. Dafür entschädigt er sich aber reichlich bei anderen Frauen11. Und wie die Künstler in Die Jagd nach Liebe unfähig sind, ihren Werken Dauer zu verleihen, so vermögen auch die anderen Gestalten des Romans es nicht, nützliche oder sinnvolle Arbeit zu leisten. Matt-
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hackers und Killichs Experimente (der eine ist angeblich mit der Entwicklung eines Schlangenbiß-Serums befaßt, der andere mit der Vervollkommnung einer neuen Drucktechnik) sind nur Vorwand. Und obgleich Marehn ihren Trug durchschaut, unterstützt er die „Erfinder" freigebig12. Als Arzt verschreibt Matthacker überdies Wunderkuren für die kinderlosen Gattinnen reicher Bankiers und Nabobs. Keine dieser Figuren denkt an eine Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber. Sie alle sind so sehr mit ihrem eigenen Wohlergehen und Fortkommen beschäftigt, daß sie keine Zeit haben, sich über ihre Haltung Gedanken zu machen. Viele von ihnen (besonders von Eisenmann18 und Claude Marehns kürzlich verwitwete Mutter) sind reine Genußmenschen. Der Rest lebt vom freiwilligen oder erzwungenen Verzicht wie Köhmboldt und Ute Ende, während der eigentliche Held nach etwas jagt, das ihm unerreichbar bleibt, obwohl er einsieht, „daß es nur eine Art gibt, nicht niedrig zu handeln: gar nicht handeln"". Der hervorstechendste unter den wenigen Tatmenschen des Romans ist Panier, der nicht durch Börsenspekulation hochgekommen ist (wie Türkheimer), sondern durch unermüdliche harte Arbeit. Daher auch die rauhe Schale, wie sie für derartige Menschen charakteristisch ist. Obwohl auch er zum Genußmenschen geworden ist, hat er genügend Kraft, trotz mehrerer Schlaganfälle den um vieles jüngeren Claude Marehn zu überleben. Bei aller Rücksichtslosigkeit ist er aber irgendwie sympathisch, da er Mensch bleibt und nicht wie die anderen Charaktere zur Marionette entartet15. Erwähnung verdient auch der proletarische Bruder einer der Marehnschen Maitressen (die dieser übrigens mit Panier teilen muß), ein echtes Münchner Kindl, dessen Handlungs- und Ausdrucksweise ein Erlebnis widerspiegelt, das Heinrich Manns „kleinem" Bruder Viktor zuteil wurde1®. Der dritte Mann der Tat in der Jagd nach Liebe ist der Florentiner Polizeikommissar und Geliebte der Schauspielerin Gilda Franchini, mit der Marehn während seines Italien-Aufenthaltes ein Verhältnis hat. Als ein treuer Diener des Staates lebt und stirbt derselbe in Ausübung seiner Pflicht. Dem Kenner der Münchener Verhältnisse um 1900 wird es nicht entgehen, daß der Held des Mannschen Werkes in Alfred Walter Heymel, dem bekannten Kunstsammler, Mäzen und Verleger, sein Vorbild hat, demselben Heymel, der auch in Otto Julius Bierbaums Prinz Kuckuck und Jakob Wassermanns Christian Wahnschaffe ver59
schlüsselt eingeführt ist17. Im Gegensatz zu Bierbaum verzichtet Heinrich Mann freilich darauf, auf die geheimnisvolle Herkunft Heymels anzuspielen, der, im Jahre 1878 geboren, selbst eine Art Dichter war (Rudolf Borchardt sagte von ihm, er sei zur Dichtung gekommen „wie einer, der die unrechte Braut heimführt, nachdem die rechte nein gesagt hat" 18 ). Zusammen mit Bierbaum (Pömmerl ?) w und Rudolf Alexander Schröder gab er seit 1898 die Insel heraus, aus der sich später der Insel-Verlag entwickelte. Marehn wird denn auch als Jüngling bezeichnet, der zur Majorennität heranreift und bald das Erbe seines Vaters antreten kann. Außer in einer Reihe von biographischen Einzelzügen (wie ihrem gemeinsamen Interesse am Pferdesport) ähneln sich Marehn und Heymel auch charakterlich. Rudolf Alexander Schröder schrieb in einem Gedenkartikel, daß Heymel „ein Meister in Keinem, ein Strebender in unendlich Vielem" gewesen sei40, und Rudolf Borchardt bemerkt, „daß er nur auf der rollenden Kugel zu leben ertrug" 21 . Claude Marehn ist auch so ein Rastloser, der nie ans Ziel kommt, was ihm sein Freund Spiessl vorhält: Du möchtest dich fahren lassen, dich hingeben können, mitjagen. Es wird aber nie was draus werden, weil du ein viel zu hochstehendes Individuum bist. So wirst du immerfort nach Erlebnissen und Zuständen gieren, die dir dein gebildeter Geschmack verbietet - und bist im Grunde, weil Vater und Mutter so schlecht assortiert waren, 'ne ganz verfehlte Existenz*1.
Die biographische Parallele zu dieser Analyse liefert R. A. Schröder, demzufolge „soviel glühendes Bestreben, soviel drängende Inbrunst bei aller Fülle des Erfolges nicht immer den fanden, den sie heimlichst und innerlichst ersehnen mochten". Dies „war die von Fall zu Fall, von Scheinglück zu Scheinglück immer wieder erneuerte Tragödie seiner äußerlich so hellen und heiteren Laufbahn" 2i . In der Jagd nach Liebe entsteht der Konflikt aus Marehns verzweifelter und nie befriedigter Liebe zu Ute Ende, einer Liebe, die Heinrich Mann mit der des Chevalier Des Grieux in Manon Lescaut in Bezug setzt24. Der Gegenstand seiner sklavischen Hingabe freilich hat nichts gemein mit der Heldin von Prevosts Roman, die daran zugrunde geht, daß sie ohne Liebe und Luxus nicht leben kann, während Ute Ende gänzlich liebeleer ist. Ute ist zu sehr Willensmensch, um sich von ihren Gefühlen leiten oder gar verleiten zu lassen. Statt in Claudes Armen zu vergehen, erscheint sie an seinem Sterbebett, um ihn zu beerben.
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Marehns Selbstlosigkeit, seine Liebessehnsucht und sein Liebesleiden stehen im krassen Gegensatz zum Egoismus der anderen Figuren des Romans. Auch in diesem „Zynismus der Güte" ähnelt er Heymel, der „die Selbstentäußerung, die die Freundschaft fordert, verschwenderisch bei fast wertlosen Anlässen" zur Schau gestellt haben soll25. Im Gegensatz zu Arnold Acton, dem Partner Lolas in Zwischen den Rassen, versteht sich der Held derJagd nach Liebe nicht dazu, sich durch eine mutige Tat zu befreien. Er geht zugrunde, weil er sich weder an die dekadente Gesellschaft anpassen noch sich über sie hinwegsetzen kann. Die Schauspielerin Ute Ende, das Ziel von Marehns rastloser Jagd nach Liebe, zeichnet sich nicht nur durch außergewöhnliche Herzenskälte aus, sondern besitzt auch die Fähigkeit, „viel zu erreichen und nichts dafür zu g e b e n " A u f ihre Art nimmt sie das Zeitalter der Fische - wie es Ödön von Horvath später nennen sollte - voraus, da ihr aus Kälte Schuld erwächst. Gewisse Züge an ihr, dem weiblichen Doktor Faustus, der findet, daß es „mit der Wärme [seines] Blutes glücklicherweise eher faul [ist]27, sind fast unmenschlich zu nennen. Ihre Gefühle, soweit überhaupt vorhanden, sind stets forciert oder gar „erarbeitet"; und selbst ihr Liebesversprechen kleidet sie in die Worte: „Du weißt nicht, wie ich lieben kann. Was für Leidenschaft ich mir erspielt habe 28 ." Claude ist weder zu blind, um dies zu bemerken, noch zu feige, um Utes Haltung in deren Beisein zur Sprache zu bringen: Das heißt, daß du bloß noch Kunstwerk sein willst und gar kein Mensch mehr. Tragt ihr eure Kunstwerke nicht immer mit euch herum ? Sieht man sie euch nicht immer an ? Ihr seid selbst euer Werk. Ihr macht aus euch selbst, aus eurem Körper und eurer Seele, ein Kunstwerk, zusammengesetzt aus Brusttönen und Gekreisch, aus Schminke, Atlas auf Pappe gefüttert, aus tragisch wankenden Schritten, aus - ich weiß nicht*·.
Aber er liebt sie trotz allem, und sei es nur mit dem verzweifelten Wunsche, ihre Kälte zu teilen30. Als Zeuge des Scheiterns der theatralischen Laufbahn seiner Schwester Carla hatte Heinrich Mann schon früh Einblick in die gespaltene Seele des Schauspielers gewonnen. Wie Carla ist auch Ute Ende entschlossen, sich um jeden Preis durchzusetzen oder in den Tod zu gehen: „Ich werde eine große und berühmte Schauspielerin - oder ich ende übel 81 ." Und wie die Branzilla in der Novelle gleichen Namens verzichtet auch sie auf die Moral. Die 61
Jagd nach Liebe endet scheinbar mit Utes Triumph. Aber als die Heldin merkt, daß sie ihre sorgfältig einstudierte Leidenschaft an einen Sterbenden verschwendet hat, bleibt ihr das Wort Liebe im Halse stecken: „Nun sag ich dir's ja, was du nie gehört hast. Claude, ich 82 ." Hat sie endlich die Nutzlosigkeit ihres Bemühens und die . Falschheit ihres Glaubens an die Herrschaft der Kunst über das Leben erkannt ? Das zu bezweifeln wird wohl kaum ein Leser des Romans umhin können. ANMERKUNGEN Drittes Kapitel 1
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In einem von Alfred Kantorowicz in dem vom Aufbau-Verlag unterdrückten Nachwort zur Jagd nach Liebe (Die Zeit, 17. April 1958, S.5) zitierten Briefe vom 2. Dezember 1900 schreibt Heinrich Mann an seinen Münchener Verleger: „ . . . für fernere Tage nehme ich mir wieder einen Millionärsroman in Aussicht, nämlich den Roman der zweiten Generation, derer [sic], die's durchbringt. Ich wüßte gerne, ob die Geschichte des Max Lebaudy schon bearbeitet ist. Eventuell würde ich mir die Prozeßberichte und anderes Material verschaffen." Lebaudy war ein französischer Abenteurer, der damals in Paris viel von sich reden machte. Daher riet Albert Langen seinem Autor, an Ort und Stelle Nachforschungen zu treiben. In einem vom 3. Dezember 1906 datierten Brief an Hans Brandenburg erwähnt Thomas Mann Die Jagd nach Liebe als ein Werk, „das in sechs Monaten hingelegt wurde" und fügt warnend hinzu: dies hindere nicht, „daß wir Anderen Grund haben, bedachtsamer vorzugehen". Briefe I, S. 68. Julie Speyer in Die Zukunft, LII/53 (30. September 1905), S.319. Heinrich Mann, S.32. Die Jagd nach Liebe (Berlin, 1957), S.443. „Meine Gabe ist es, mit glücklichem Genie einem gefälligen Publikum was Hübsches vorzumachen. Das ist die Kunst, glauben Sie mir. Ob Blumenmädchen oder Flos paludis, es ist so leicht, was Hübsches zu machen, so leicht." Ebd., S.203. Ebd., S.136. Pömmerl weigert sich, seine Frau aus Italien zurückkommen zu lassen, mit der Begründung: „Das kann ich nicht. Wie sollt ich denn die Verse da machen? Die sind ja an eine, die verlassen im Gärtlein sitzt." Ebd., S.137. Ebd., S.214. Pömmerls Poetik erschöpft sich in der Erkenntnis, daß „das Theater in Deutschland gerade eine Anregung braucht. Über den Naturalismus, der zu nichts mehr führt, kommt man sichtlich nicht hinweg. Wenn wir
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nun cine Romantische Bühne errichteten I Mit Leben und Tod der heiligen Genoveva von Tieck oder mit Die Liebe der drei Orangen von Gozzi fangt es an, und dann sammelt sich das herum, was es heute von Romantik wieder gibt. Denn ich glaube, es gibt was. Anstatt der Trübsal auf den anderen gebildeten Bühnen muß bei uns eitel Übermut herrschen. Gut ausgehen muß es immer, das ist erste Bedingung." Ebd., S.328. 10 Ebd., S. 76. 11 „Und weil ich die nicht haben kann - das ist eine Art Talisman, drum fallen mir alle andern zu." Ebd., S.222. 11 Auf S. 280 behauptet Marehn, daß „Langeweile die Sitten freier [mache]". 18 Von Eisenmann, „dieser Junker im letzten Stadium, der das Besiegtsein nicht aushielt, der die Sieger nicht verachtete, sondern gegen sie wütete, niemals verzichtete, sondern im Veitstanz vom Leben an sich riß, was er noch kriegen konnte" (S. 125), ist ein echt Sternheimscher Charakter. " Ebd., S.76. u Nach Kantorowicz (a.a.O.) enthält das Exemplar der Erstausgabe des Romans aus Heinrich Manns Bibliothek den handschriftlichen Hinweis, daß es sich bei Panier um „einen Greis aus kräftigeren Zeiten" handele. " „Am meisten amüsierte sich Heinrich über den königstreuen Umstürzler, und er wollte gleich eine Menge Details genauer erklärt haben . . . Geraume Zeit später kam Heini auf die Geschichte zurück, schrieb sich nach meinem Diktat den Vers von den tapferen Bayern [S.166 des Romans] ab und legte mir dann viele Fragen vor, die mir zunächst keinen Zusammenhang mit meinem Erlebnis zu haben schienen. Wie sich ein junger Münchner Proletarier wohl benehme und ausdrücke, wollte er wissen, wenn seine Schwester von einem .besseren Herren' beleidigt oder gar geschlagen worden sei. Was der gleiche junge Mann tun und sagen würde, wenn ihn zwei .Kapitalisten' ausgefallenerweise in das elegante Cafd Luitpold mitgenommen hätten und ihn dort mit Sekt traktierten . . . Das Ergebnis dieser Konsultation kam bald darauf in der Jagd nach Liebe an den Tag. Was der Arbeiter Xaver im Kapitel „Der Herr Panier" sagt und tut, habe ich als zehnjähriger Experte begutachtet. Und der Betrunkene auf der Kaminkehrerleiter mitsamt dem treubayrischen Soldatenlied ist dort ebenfalls literarisch ausgewertet" (IVir waren f ü n f , S.132). Zur Kritik an dieser Darstellung durch Thomas Mann siehe Kantorowicz' Nachwort (a.a.O.). 17 Siehe auch die Rezension der Neuauflage des Prinz Kuckuck von Ernst Stein {Die Zeit, 23. Oktober 1959, S.9). w Rudolf Alexander Schröder, „Zum Gedächtnis Alfred Walter Heymels" in Das Inselschiff, VI (1925), S.5. In einem Brief an seinen Bruder vom 30. Dezember 1909 stellt Thomas Mann fest: „[Heymel] redete von Dir, wie man in seiner Sphäre eigentlich nur von George redet." u In einer Besprechung von Bierbaums Lobetanz nennt Heinrich Mann (?) den Dichter einen „feinen, sehr modern benervten Lyriker" (Das zwanzigste Jahrhundert, VI/2, S.392). " A.a.O., S.2.
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Rudolf Borchardt, „In Memoriam Alfred Heymel" (1917) in Gesammelte Werke in Einzelbänden, Prosa I (Stuttgart, 1957), S.71. " Jagd nach Liebe, S.80. 18 A.a.O., S.2. 11 Das zwölfte Kapitel des Romans ist „Manon" überschrieben. Ein weiterer Hinweis auf Prevosts Roman (in Puccinis Veroperung) erfolgt auf S.196. " Der Ausdruck „Zynismus der Güte" findet sich auf S. 10 des Romans. Das Zitat stammt aus Schröders Aufsatz. *· Jagd nach Liebe, S.38. " Ebd., S. 17. Siehe auch die Szene mit ihrem Lehrer Archibald auf S.37. In der 1904 bei Langen in München erschienenen, von Heinrich Mann besorgten Übersetzung von Anatole Frances Komödiantengeschicbte heißt es: „Ach, seufzte die große Doulce, welch' schreckliche Knechtschaft. Jede Frau, die ihre Sinne nicht in der Gewalt hat, ist für die Kunst verloren." Später zitiert France aus Diderots Paradoxe du Comedien: „Die Schauspielkunst ist eine Kunst der Nachahmung, und eine Empfindung kann man umso besser nachahmen, je weniger man sie selbst hat." " Ebd., S.52. „Solange ihre [der Hutnadel] Kälte ihn durchdrang, kam er sich beglückt vor." Ebd., S.102. 51 Ebd., S.7. Merkwürdig ist auch die Übereinstimmung der folgenden Episoden: Auf S.200 seiner Autobiographie berichtet Viktor Mann, daß sein Bruder „in Florenz die Glastür eines Papierladens mit Dutzenden von Bildern Carlas dekoriert" fand, „die von frischen Blumen umrahmt waren." Auf S. 376 des Romans heißt es: „Hinter den Fenstern eines kleinen Ladens hingen illustrierte Karten an einer Schnur. Die in der Mitte trugen Utes Bild." - In seinem kurzen Lebensabriß weist Thomas Mann auf Carlas makabren Geschmack hin, der sie veranlaßte, ihr Zimmer mit einem Totenkopf zu schmücken, dem sie einen skurrilen Namen gab. Ute Ende besitzt solch ein memento mori, das sie Nathanael nennt. 32 Jagd nach Liebe, S.460.
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VIERTES KAPITEL
.PROFESSOR UNRAT" ODER „DER BLAUE E N G E L "
Heinrich Mann, der gewiß kein volkstümlicher Autor war, sah sich wenigstens einmal in seinem Leben von der Masse bewundert, allerdings auch dann nicht auf Grund einer schriftstellerischen Leistung, sondern auf dem Umweg über den Film. Als der Roman Professor Unrat im Jahre 1905 erschien, war nicht vorauszusehen, welches Aufsehen die auf Carl Zuckmayers Bearbeitung beruhende cinematographische Fassung des Werkes ein Viertel] ahrhundert später erregen würde. Unter der Regie Joseph von Sternbergs und mit Emil Jannings und Marlene Dietrich in den Hauptrollen ging Der blaue Engel in die Filmgeschichte ein, wie allein schon die kürzlich in Amerika vorgenommene Neubearbeitung des Stoffs beweist1. Im Hinblick auf diesen Welterfolg seines Geisteskindes ließ sich Mann nach dem zweiten Weltkrieg sogar dazu überreden, den Titel des Romans dem des Filmes anzupassen; so kann man Professor Unrat im Buchhandel als Blauen Engel erwerben 2 . So sehr man Heinrich Mann den Erfolg seines Werkes gönnt, kann man doch nicht umhin zu bemerken, daß der Siegeszug des Films das Verständnis seiner Vorlage eher erschwerte als erleichterte3. Es ist daher noch immer keineswegs überflüssig, sich literarkritisch mit diesem Buche zu befassen. Was des Verfassers Absicht bei der Abfassung des Romans angeht, so sind wir zum Glück in der Lage, dessen Genese wenigstens im Anfangsstadium verfolgen zu können. Vom Einfall, dem Professor Unrat sein Entstehen verdankt, unterrichtet uns Heinrich Mann in seiner Autobiographie, wo es (S. 196 f.) heißt, daß der Keim zu der sensationellen Handlung während einer Vorstellung des Goldonischen Lustspiels La Bottega del Caffe im Teatro Alfieri zu Florenz gelegt wurde: In der Pause wurde eine Zeitung verkauft, darin las ich die Geschichte, die einstmals der Blaue Engel heißen sollte. In Wahrheit stand auf dem Blatt etwas ganz anderes, war nur mißverständlich 5 Weisstein, Heinrich Mann
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berichtet und datiert aus Berlin. Gleichviel, in meinem Kopf lief der Roman ab, so schnell, daß ich nicht einmal in das Theater-Cafd gelangt wäre. Ich blieb versteinert sitzen und bemerkte dann, daß der Vorhang wieder offen war, und so viel Beifall aus dankbarem Herzen hat nicht oft ein Schauspiel von einem einzelnen Gast erhalten. In einem Brief an Walter Kiewert (abgedruckt in dessen Vorwort zur Neuauflage des Romans) ergänzte der Verfasser diese Mitteilung dahingehend, daß es sich um „eine Nachricht aus Berlin, von einem Professor, den seine Beziehungen zu einer Dame vom Kabarett auf strafbare Abwege gebracht hatten" gehandelt habe. „Wenige Tage später", so fährt Heinrich Mann fort, „ergänzte übrigens die italienische Zeitung ihre Meldung. Der Freund der Diwa war in Wirklichkeit ein Börsenredakteur mit dem Titel Professor; daher wahrscheinlich in allem das Gegenteil meiner erfundenen Gestalt4." Als weitere Quelle des Romans (soweit dessen Titel und die Anlage der Hauptgestalt in Frage kommt) ist das Kapitel „Ein Schultag im Leben Hannos" aus den Buddenbrooks zu erwägen, das von Hannos Erlebnissen in der diktatorisch geleiteten Schule handelt. Gleich Unrat sieht auch Direktor Wulicke den Zweck seines Lebens darin, die Zukunftspläne seiner Schüler zu durchkreuzen6. Und es ist wohl kein bloßer Zufall, daß das ominöse Wort Unrat zweimal an entscheidender Stelle im genannten Abschnitt des Thomas Mannschen Erstlingsromans erscheint·. Es versteht sich von selbst, daß der ältere Bruder Heinrich mit dem Inhalt der Buddenbrooks, die Thomas während des gemeinsamen römischen Aufenthaltes zu schreiben begonnen hatte, bestens vertraut war. Als kritische Spiegelung des kulturellen und sozialen Lebens hat die Schulsatire in Deutschland seit jeher ihren festen Platz, während dies in Frankreich und den angelsächsischen Ländern nicht der Fall ist. Deutsche Schriftsteller haben sich wiederholt mit dem Dilemma des Schulmannes, das aus dem Gegensatz zwischen seiner beruflichen Tätigkeit und den Forderungen des Privatlebens erwächst, auseinandergesetzt. Als Ziel des Spottes erscheint der Lehrer (im allgemeinen: der Gymnasiallehrer) in Grabbes Groteskkomödie Scherz> Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, in Ludwig Thomas kauzig-kaustischen Lausbubengeschichten und dem einst vielgelesenen, von Reclam verlegten Besuch im Karzer. Die tragische Seite des Erziehertums wird betont in Werken wie Arno Holzens Traumulus (auch eine von Emil Jannings' Paraderollen) und Gerhart Hauptmanns Kollege Crampton. Hingegen führt in Lenz' Der Hofmeister - den Brecht für 66
das Berliner Ensemble bearbeitete - die zugrunde liegende soziale Spannung zur Verschärfung des Lehrer-Schüler-Konfliktes. Im Professor Unrat wird die Tragikomödie des Lehrers („eine komische Handlung tragisch bestimmt; die lustige Fratze, darunter die harte Wahrheit" 7 ) in Verbindung mit dem Pubertätsproblem behandelt, wie das auch in Wedekinds Frühlings Erwachen geschieht, wo die eigentliche Satire auf die Konferenzszene zu Beginn des dritten Aktes beschränkt bleibt. Wäre Professor Unrat nur eine detaillierte Darstellung der psychologischen Probleme, vor die ein alternder Schulmeister gestellt wird, so würde der Roman weiter keine große Beachtung verdienen. Das Werk ist ein Meisterstück gerade deshalb, weil es über diese enge Problemstellung hinausweist, und zwar in Richtung auf das allgemein Menschliche. Ihering kennzeichnet Professor Unrat als „das erste Werk Heinrich Manns, das an einem Machtpfeiler des wilhelminischen Deutschlands rüttelt: an der Schule"®. In der Tat: Hier setzt der Verfasser seine Kritik der Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland, die mit Im Schlaraffenland einsetzte, kräftiger fort. Zwar handelt es sich bei Unrat noch um einen Sonderfall; aber schon ein Jahrzehnt nach Erscheinen des Romans sollte das deutsche Volk in Heinrich Manns Sicht nur noch aus Tyrannen und Untertanen bestehen. Aus der Art, wie in Professor Unrat das dialektische Verhältnis der beiden Haltungen demonstriert wird, geht hervor, daß Tyrann wie Untertan antihumanistisch gesinnt sind. Im Pseudo-Konservativismus des Herrschers, der bemüht ist, den status quo mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln und durch Unterdrückung aller nonkonformistischen Tendenzen zu bewahren, und dem Nihilismus des Anarchisten, der das Chaos wiederherstellen will, les extrimes se touchent·. Unrat widerspricht sich selbst, indem er, obwohl er schon jenseits von Gut und Böse zu stehen glaubt, noch zwischen Herrenund Knechtsmoral unterscheidet. Ehe er Rosa Fröhlich begegnet, ist sein Leben eine einzige Lüge; doch dann entledigt er sich der Maske und spottet der Gesellschaft, der er seine bürgerliche Existenz verdankt: „Aus dem Tyrannen war endgültig der Anarchist herausgebrochen" (AWI, S. 597). Im künstlerischen Bereich macht Thomas Manns Gustav Aschenbach eine ähnliche, wenn auch gesellschaftlich folgenlose Entwicklung durch. Er, dessen zunehmende Betonung der Zucht im dichterischen Schaffen seine künstlerische Substanz unterhöhlte, sieht plötzlich die Ordnung des eigenen Lebens auseinanderbrechen. Die 5»
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künstlich unterdrückte Natur macht sich mit unwiderstehlichem Triebe Luft und sprengt ihre Fesseln10. Der Held des Tod in Venedig verfällt dem Chaos im Glauben, die Schönheit nicht nur mit Augen angeschaut, sondern sie bereits für sich erobert zu haben: Das Bild der heimgesuchten und verwahrlosten Stadt, wüst seinem Geiste vorschwebend, entzündete in ihm Hoffnungen, unfaßbar, die Vernunft überschreitend und von ungeheuerlicher Süßigkeit. Was war ihm das zarte Glück, von dem er vorhin einen Augenblick geträumt, verglichen mit diesen Erwartungen ? Was galt ihm noch Kunst und Tugend gegenüber den Vorteilen des Chaos11 ? Bei Unrat sind es nur Pedanterie, Gewohnheit und Mangel an Gelegenheit, die ihn davor bewahren, sich dem Chaos anheimzugeben". Sobald sich aber die Gelegenheit bietet, macht er das Chaos zu seinem Element. Es ist ein Glück, daß sein Tätigkeitsfeld auf die kleine Stadt, deren Tyrann zu sein er sich vorgaukelt, beschränkt ist. Ein provinzieller Anarchist muß, wenn ihm das Pflaster zu heiß wird, in die Großstadt abwandern (sonst blüht ihm wie Unrat das Gefängnis). Wäre des Letzteren Wirkungskreis größer oder gelänge es ihm, wahre Gesinnungsgenossen zu finden, so möchte er dem Staate übel mitspielen. Die Handlung des Mannschen Romans (die wir als bekannt voraussetzen) erstreckt sich auf siebzehn Kapitel, die sich nach der jeweiligen Grundeinstellung Unrats in drei Gruppen unterteilen lassen. In den ersten sechs Kapiteln fungiert Rath als eine Säule des Rechts und der bürgerlichen Moral. Die folgenden sechs entsprechen dem Übergangsstadium, während dessen der Held des Romans als Mann auftritt, der die Liebe entdeckt und noch keinen Feldzugsplan gegen die Gesellschaft entworfen hat. Aber die Liebeskur, die noch am Ende des zwölften Kapitels Erfolg zu versprechen schien, schlägt nicht an, da weder Unrat noch Rosa Fröhlich die moralische Stärke besitzen, die zu ihrer Reinigung nötig ist. Für Unrat ist Liebe Besitzergreifung, die vom Willen zur Macht erzwungen wird; und Rosas Liebe erwächst aus Mitleid. So ist Gegenseitigkeit ausgeschlossen. Die Bösartigkeit des einen und die Frivolität des anderen Partners triumphieren über den schwachen Impuls zu dauernder Bindung und Versöhnung. Während in der epischen Fassung die tragischen Möglichkeiten von Unrats Geschick nicht ausgeschöpft sind, endet der Film mit dem Tode des desillusionierten Helden. Heinrich Mann gab seine Zu-
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Stimmung zu dieser Lösung, die vom Verfasser einer vom New Yorker Museum of Modern Art herausgegebenen Synopsis wie folgt umrissen wird: Eventually [Unrat] becomes a stupid clown in the troupe, speaking no lines but getting the laughs by taking all the whacks from the other players' slap-sticks. The manager of the troupe decides to go to the very town where [Unrat] was once a respected teacher. He thinks the professor-turnedclown will attract customers. [Unrat] ist stupefied by the tremendous ignominy of the event. He goes on for his act. The curtain-man cracks an egg on his head. The audience yells in glee. [Unrat], half crazed, runs from the stage to the dressing rooms. He finds [Rosa] in the arms of a former lover. He tries to strangle her and is forcibly thrown out of the building. Into the deep night he wanders, his mind weighted with the woes of an impossible love. He finds the old school house, stumbles crazily up the steps to the old familiar class-room, sits down ponderously in the teacher's chair and succumbs of a broken heart.
Hier wird die tragische Ironie von Unrats Geschick durch die Konfrontierung des alten mit dem neuen Selbst, die zur Einsicht in die Vergeblichkeit des Bemühens und schließlich zur Katastrophe führt, vor Augen gestellt. Der Film ermöglicht somit die Katharsis, von der beim grotesken Ende des Romans bewußt Abstand genommen wird 13 . Abgesehen von der sorgfältig gearbeiteten Einleitung ist das Gefüge dieses Mannschen Werkes ungewöhnlich locker, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß viele der Charaktere bloß anekdotisch behandelt sind. Die zweite, antisoziale Phase von Unrats Laufbahn wird allzu flüchtig durchlaufen; und das denouement ist beinahe ein Knalleffekt. Es drängt sich die Vermutung auf, der Verfasser sei am Ende seiner Kreaturen überdrüssig geworden und habe gewünscht, sie so schnell loszuwerden, wie dies ohne Hintanstellung der moralischen Nutznießung möglich war. Daß Ungeduld im Schaffensprozeß eine von Heinrich Mann selbst erkannte und nur selten überwundene Schwäche war, ergibt sich aus der folgenden Stelle des Zeitalters (S. 197): „Ich habe, um oft vollkommen zu sein, oft improvisiert; ich widerstand dem Abenteuer nicht genug, im Leben oder Schreiben, die eines sind." Das typische Beispiel einer solchen Improvisation findet sich im elften Kapitel des Romans, das den gegen drei von Unrats Studenten angestrengten Prozeß wegen Denkmals-
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Schändung behandelt. Denn statt die kritische Grundhaltung des Romans zu verstärken, wird diese Episode zur Farce, die die Satire herabwürdigt. Insofern als Professor Unrat moralische und erzieherische Probleme, die aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis erwachsen, aufgreift, ist die allmähliche Aufsaugung von Unrats Privatleben durch seine berufliche Tätigkeit für den Leser von besonderem Interesse. Heinrich Mann spiegelt diesen Vorgang besonders deutlich im Phänomen der Sprache. Unrats Sprachgewohnheiten innerhalb und außerhalb der Schule zeigen, wie gründlich er es verlernt hat, das Wohn- vom Klassenzimmer-Milieu zu unterscheiden. Das ihm zur zweiten Natur gewordene Pennälertum wird anschaulich gemacht durch die Aussage: Da [Unrat] sein Leben ganz in Schulen verbracht hatte, war es ihm versagt geblieben, die Knaben und ihre Dinge in die Perspektive des Erfahrenen zu schieben. Er sah sie so nah wie einer aus ihrer Mitte, der unversehens mit Machtbefugnissen ausgestattet und aufs Katheder erhoben wäre. Er redete und dachte in ihrer Sprache, gebrauchte ihr Rotwelsch (AW I, S.410).
Derart stellt Heinrich Mann eine Verbindung her zwischen dem sadistisch-masochistischen Helden seiner Novelle „Abdankung" und dem tyrannisch-anarchistischen des Romans. Aber die Unratsche Sprachunart wird erklärt nicht nur als ständiger Rückgriff auf das Pennälerdeutsch, sondern auch als ungewollt komisches Kauderwelsch des eingefleischten Schulmannes, der seine Schützlinge für unwürdig hält, „an der erhabenen Jungfrauengestalt (der Schillerschen Jungfrau von Orleans') ihre Feder zu wetzen" (AW I, S.406). Als Altphilologe besteht er zudem auf die wörtliche Übersetzung jener „leichten Umständlichkeiten", die für die Homerische Epik charakteristisch sind14. Was die neueren Sprachen betrifft, so ist Unrat viel weniger penibel, um nicht zu sagen gleichgültig, weiß er doch zum Beispiel mit dem Wort chateau nichts Rechtes anzufangen (AW I, S. 493). Bei dieser Sachlage überrascht es nicht, daß Rath, der schon seit zwei Jahrzehnten in der norddeutschen Hafenstadt, in der die Handlung des Romans sich abspielt, ansässig ist, das dort geläufige Platt noch immer nicht recht verstehen, geschweige denn sprechen kann1®. Wieviel Bedeutung dem Sprachlichen in Professor Unrat zukommt, geht ferner auch daraus hervor, daß der Verfasser Rosa Fröhlich, die ihm nicht unsympathisch ist, ein kesses Berlinerisch zu sprechen
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erlaubt, während ihr Unratchen auch in dieser Hinsicht unverwurzelt ist. Bei ihm hat sich nämlich der Organismus der Sprache zu einem Mechanismus verhärtet, der alle Erscheinungen des Lebens auf eine starre Formel bringt. Unrats Sprachsünden wären an sich harmlos, wenn sie nicht entscheidende Rückschlüsse auf seinen Charakter nötig machten. Bei näherem Hinsehen erweist sich nämlich der psychologische Defekt, der es Unrat verbietet, seine Gedanken und deren sprachliche Formulierung in eins zu bringen, als Symptom seiner schiefen und unrealistischen Einstellung zum Leben. Wenn jemand es sich zur Aufgabe macht, seine ehemaligen Schüler (die inzwischen als wohlbestallte Geschäftsleute fungieren) zu „fangen" und sie - so ironisch das klingt - ins „Kabuff" zu sperren, so läßt das gewisse Schlüsse zu. Unrats Mitbürger finden diese Einstellung amüsant, ohne im geringsten zu ahnen, daß er imstande ist, sie praktisch in Anwendung zu bringen. Heinrich Mann läßt uns nicht im Zweifel darüber, daß, könnte Unrat seinen Gefühlen freien Lauf lassen, er das Kabuff durch das Konzentrationslager oder gar die Gaskammer ersetzen würde, sorgt er doch unter anderem für Kirchhofsstille in seiner Klasse (AW I, S.414). In der Art, wie er über seine Schüler und deren Familien denkt (er wiederholt unermüdlich, daß der Apfel nie weit vom Stamme falle), haben wir einen Vorgeschmack der Sippenhaftung, die Hitler als angemessene Strafe für die von ihm aus Anlaß des Attentats vom 20. Juli fabrizierte Kollektivschuld ansah. Nur einmal im Laufe der Handlung läßt die Sprache Unrats jede Spur eines Hinweises auf das Ritual der Strafe vermissen. Als Rosa ihm nämlich die Geschichte ihrer traurigen Jugend erzählt, ist er so gerührt, daß er verspricht, sie „durchzubringen" (AW I, S.497). Doch sobald er mit Rosa intim ist, wird ihm bewußt, daß solche Formeln nur im Klassenzimmer magisch wirken. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als die so ganz andere Welt der Artisten schweigend zu akzeptieren. Obwohl Heinrich Mann die Zweideutigkeit der Unratschen Existenz und den Bruch in seinem Charakter am überzeugendsten im Bereich der Sprache zum Ausdruck bringt (es wäre also verfehlt, den Roman auf Sprachreinheit hin zu untersuchen1"), wird die - gewiß rudimentäre - menschliche Seite des Helden auf andere Weise veranschaulicht. Unrats Sprache ist die zwischen dem eigentlichen Selbst und der persona errichtete Schranke. Die Angst der verhinderten Persönlichkeit war also in Handlung umzusetzen. Da Unrat das Leben 71
mit den Augen des Schulmannes betrachtet, ist er sich des Unterschiedes zwischen dem Kampf der Geschlechter und dem Autoritätsverhältnis von Lehrer zu Schüler nicht klar bewußt. Daher die ungewöhnlich lange Lehrzeit, die er benötigt, um einzusehen, daß Liebe dialektischer ist und sich die Gefühle des Liebenden nicht kommandieren lassen. Nur in dem Maße, in dem er in das Geheimnis der Frauenseele eingeweiht wird, überkommt er seine Schüchternheit. Als Neophyt ist er rührend naiv. Die Abstoßung des alten Adam ist für ihn ein tragikomisches Ereignis: tragisch insofern, als er in seiner Unschuld Rosa des Betruges für unfähig hält, und komisch in dem Maße, in dem in Rosa die Erkenntnis reift, daß Unrat „auf nichts kommt" (AW I, S. 493 und 496), ein Ausdruck, der wie ein Leitmotiv durch die in der Artistengarderobe spielenden Szenen geistert. Was für Dienste auch von Unrat gefordert werden - ob er eine Flasche Champagner spendieren oder Rosa Liebesgunst erweisen soll -, er muß mit der Nase auf seine Pflicht gestoßen werden. Und mit welch künstlichem Eifer er das „Künstlertum" seiner Geliebten verteidigt1'! Wie aus dem soeben Gesagten hervorgeht, wäre es falsch, von Manns Roman ausschließlich als einer Studie über den Willen zur Macht zu sprechen, denn das hieße dem Seitenthema des Werks, der Liebe in allen ihren Schattierungen von Eros zu Sexus, nicht gerecht werden. Auch in diesem Bereich scheint den Gestalten des Professor Unrat der Weg in höhere Sphären verlegt zu sein. Sowohl Unrat und Rosa als auch ihre Feinde sind wie Fische in einem engmaschigen Netz, durch das sie nicht zu schlüpfen vermögen. In Rosa Fröhlichs Welt wird das Geschlechtliche als ein unvermeidliches Übel, fast als ein Bestandteil des täglichen Lebens hingenommen. Rosa hat früh lernen müssen, daß in ihrem Beruf eine Frau sich nur durch männliche Protektion über Wasser halten kann. Und man weiß ja, was Protektion bei den Jüngern der leichten Muse bedeutet. (Frau Kieperts treuherziger Bericht läßt über Rosas Lehrjahre keinen Zweifel.) Die Künstlerin Fröhlich hat sich so sehr an die Anforderungen, die ausnahmslos an sie gestellt werden, gewöhnt, daß sie mit einem Mann, der nichts von ihr will, nichts anzufangen weiß. Schließlich machen die Geschenke ihrer Gönner einen guten Teil ihres Unterhalts aus, weshalb der Eros in ihrem Leben zwangsläufig zu kurz kommt. Von Zeit zu Zeit aber wird Rosas Geschlechtstrieb plötzlich geweckt durch das Vergnügen, Eifersucht zu erregen oder zu bestrafen.
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Im Falle Unrats erwächst ihre Untreue unmittelbar aus dessen Verbot, sich mit Lohmann einzulassen. Rosa verwundet Unrat, dem sie ihre „respektable" Stellung in der demi-monde verdankt, nicht aus Bosheit, sondern weil sie wie Eva die verbotene Frucht begehrt. Selbst da, wo sich echte Liebe bei ihr regt, ist diese mitleidig herablassend gestimmt und mit Nebenabsichten verbunden: Schwer genug fand sie's ja, ihr altes Unratchen zu lieben. Griechisch war auch nicht schwerer. Sie strich immer, als wollte sie sich ihn recht zu eigen machen, mit den Fingern um den Umriß seiner hölzernen Maske, um die klappenden Kiefer, die eckigen Höhlen, aus deren Winkeln seine Augen hervorschielten, giftig nach allen andern und nach ihr voll kindlicher Dienstfertigkeit. Das gab ihr Mitleid ein und leichte Zärtlichkeit. Seine Gebärden und seine Worte, die hilflose Komik der einen und die umständliche Geistigkeit der andern: alles rührte sie. Auch an die Hochachtung, die er verdiente, erinnerte sie sich oft. Aber weiter kam sie nun einmal nicht (AW I, S.568f.).
Rosas Liebe ist Bezahlung für geleistete Dienste. Zudem kommt der Augenblick, da sie von Unrats böser Leidenschaft, einer Leidenschaft, die sie unlöslich mit ihm verbindet, angesteckt wird 18 . Unrat selbst, der sich schon lange mit dem Verzicht auf Liebe abgefunden hatte, macht eine ähnliche Entwicklung durch. Die Wirkung, die das nie empfundene elementare Gefühl auf ihn ausübt, ist umso größer, da dieses ihn in einem Alter überkommt, in dem der Abbau der physischen Kräfte beginnt. Die Begegnung mit Rosa macht Unrat zum Schwimmer in einem Strom, dessen Stärke und Richtung er nicht kennt. Da er weder gelernt hat, ehrlich mit sich zu sein, noch über sich nachzudenken (er hat zum Beispiel nicht den geringsten Sinn für Humor, welch letzterer vielleicht das sicherste Zeichen von seelischer Gesundheit ist), kann er auch die Veränderung, die in ihm vorgegangen ist, nicht erklären. Seiner geistigen Krücke der Routine, die seinen Tages- und Lebenslauf bestimmte - beraubt, stürzt er sich Hals über Kopf in die neu erworbene Freiheit des Denkens und Handelns. Von seinem Vorgesetzten zur Rede gestellt, scheut er nicht davor zurück, seine Liebe als eine vom griechischen Beispiel inspirierte zu bezeichnen18. Doch wird sein Selbstvertrauen auf eine harte Probe gestellt, als er entdeckt, daß er Nebenbuhler hat, hängt er doch an Rosa mit der gleichen Inbrunst, mit der er die ihm anvertraute Jugend quält. Nicht willens, sich seines, wie er glaubt, verbrieften Rechtes auf Rosa zu begeben, verrennt er sich in blinde und zerstörerische Eifer73
sucht, die bald zum Verfolgungswahn ausartet. Am Ende zieht Unrats faunische Liebe im Kampf mit seinem Timonischen Haß den kürzeren: [Unrat] wäre glücklich gewesen, wenn er noch stärker gewesen wäre; wenn er nicht in einer Krise seines Geschicks, das der Menschenhaß war, sich der Künstlerin Fröhlich ausgeliefert hätte. Sie war die Kehrseite seiner Leidenschaft: sie mußte alles bekommen in dem Maße, wie die andern alles verloren... Er sagte sich, daß [sie] nichts hätte sein dürfen als ein Instrument, die Schüler „zu fassen" und hineinzulegen. Statt dessen stand sie nun gleich neben Unrat selbst, hoch und heilig im Angesicht der Menschheit, und er war genötigt, sie zu lieben und zu leiden unter seiner Liebe, die sich auflehnte gegen den Dienst seines Hasses (AW I, S.600).
Mitleid auf Frivolität gepfropft und Liebe auf Haß, das sind die Gefühle, die die Hauptgestalten des Romans, deren keine das Wesen des Eros begreift, im Busen hegen. Auch Unrats Schüler Lohman, von Ertzum und Kieselack, seine ärgsten Widersacher im Autoritätskampf, sind in Liebe verstrickt. Kieselack hat als einziger „das Ziel der Klasse erreicht", d.h. Rosas Gunst genossen. Sie war ihm zu Willen, weil sie ihn sich ähnlich fand: ein Junge ohne Komplexe, dem moralische Skrupel fremd sind und der nur seinen Instinkten lebt. Ihm, dem ironisch gesehenen Naturkind, sagt die Zivilisation nicht zu. Leider aber ist es um Kieselacks Zukunft nicht rosiger bestellt als um die Unrats und seiner Rosa. Denn im Schlußkapitel des Romans begegnen wir ihm als Bierkutscher, dem es auf einen Diebstahl mehr oder weniger nicht ankommt. Sein Konpennäler von Ertzum wird als Individuum geschildert, das nicht imstande ist, sein unendlich dummes Streben nach dem Ideal mit den sehr materiellen Forderungen seines robusten Körpers zu vereinbaren. Er weiß instinktiv, daß er auf den Bauernhof und nicht in die Puder- und Schminkenwelt der Fröhlichschen Garderobe gehört 20 . Natürlich läßt Ertzums Liebesgestammel, das Heinrich Mann durch das Wort anhimmeln charakterisiert, Rosa völlig kalt. Lohmann, der dritte im Bunde, ist ein frühreifer Dekadenzler, der seine „geistige Überlegenheit" so offen zur Schau stellt, daß Unrat annimmt, er wolle seine Autorität untergraben. Lohmanns Freude am Verzicht und sein, wenn auch nur gespielter, Weltschmerz („Er liebte die Dinge vor allem um ihres Nachklangs willen, die Liebe der Frauen nur wegen der ihr nachfolgenden bitteren Einsamkeit...")
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erklären seine Indifferenz gegenüber Sexus und Eros. Trotz seiner poetischen Begabung bleibt ihm aber am Ende nichts anderes übrig als in den Kaufmannsstand zu treten. So ist auch er, wie fast alle Figuren des Romans, ein Verfehlter. Es erhebt sich die Frage, ob und auf welche Art Heinrich Mann die Denk- und Handlungsweise seiner Gestalten psychologisch gedeutet wissen will. Sollen wir glauben, daß Unrat ohne die Seele, den Regulator der Menschlichkeit, zur Welt kam ? Oder wie sonst erklärt sich seine Haltung ? Der Versuch einer Deutung wird im zweiten Kapitel unternommen, wo es heißt: Vorher wollte Unrat dem Direktor keine Anzeige erstatten darüber» daß man ihn bei seinem Namen genannt hatte. Es würde sich von selbst zeigen, daß solche, die das taten, auch jeder anderen Unsittlichkeit fähig waren. Unrat wußte es; er hatte es an seinem eigenen Sohn erfahren. Diesen hatte Unrat von einer Witwe, die ihn einst als Jüngling mit den Mitteln zu fernerem Studium versehen hatte, die er dafür vertragsmäßig, sobald er im Amt war, geheiratet hatte, die knochig und streng war, und nun tot war. Sein Sohn sah nicht schöner aus als er selbst und war überdies noch einäugig. Trotzdem hatte er sich als Student bei Besuchen in der Stadt auf offenerii Markt mit zweideutigen Frauenzimmern blicken lassen. Und wenn er einerseits in schlechter Gesellschaft viel Geld vertat, so war er andrerseits nicht weniger als viermal durch das Examen gefallen . . . Ein peinlicher Abstand schied ihn von dem höheren Menschen, der das Staatsexamen bestanden hatte. Unrat, der sich entschlossen von dem Sohn getrennt hatte, begriff alles Geschehene; ja, er hatte es fast vorausgesehen, seit er einst den Sohn belauscht hatte, wie er im Gespräch mit Kameraden den eigenen Vater bei seinem Namen genannt hatte (AW I, S.418f.).
Trotz aller Details vermittelt der obige Passus keinen zureichenden Grund für die Verhärtung von Unrats Seele und die Pervertierung seines Intellekts. Denn die angeführten Tatsachen können sowohl als Ursache wie als Wirkung gelten. Wollte Heinrich Mann andeuten, ein Wechsel habe gar nicht stattgefunden und Unrat sei von Natur aus Immoralist gewesen? Man darf vermuten, der Verfasser habe den moralischen Verfall seines Helden aus ihm innewohnenden Eigenschaften erklären wollen, die nach zeitweiliger Kaschierung zur vollen Entfaltung kamen. Das Milieu spielt bei Unrats Schicksal nur eine geringe Rolle, während bei Rosa gerade das Gegenteil der Fall ist, da sie nahezu charakterlos ist und fast völlig von ihrer Umgebung gemodelt wird. Wie Unrats Leben am übermäßigen Hange 75
zur Disziplin scheitert, so Rosas an der völligen Prinzipienlosigkeit. Es geht ihr fast wie Goethes Philine, die, „wenn sie sich etwas vornimmt oder jemandem etwas verspricht", dies nur unter der stillschweigenden Bedingung tut, „daß es ihr auch bequem sein werde, den Vorsatz auszuführen oder ihr Versprechen zu halten22." Professor Unrat, der Lehrer, und Rosa Fröhlich, die „Künstlerin", begegnen sich als zwei Fremde, die sich gerade wegen ihrer Verschiedenheit wie magnetische Pole anziehen. Vorübergehend scheint sich eine Brücke von Pol zu Pol zu schlagen. Doch zeigt es sich bald, daß Wunder im menschlichen Bereich auch hier nicht geschehen. Unrat wird zum Opfer seines Ehrgeizes, noch ehe er sein herostatisches Ziel erreicht, und Rosa, von seiner ins Groteske verzerrten Manie angesteckt, teilt sein Schicksal.
ANMERKUNGEN Viertes Kapitel Das amerikanische remake, von der Twentieth Century Fox produziert, stand unter der Regie von Edward Dmytryk. Als Verfilmung des Romans läßt sich dieses Machwerk allerdings kaum bezeichnen. Von einer Aufführung des durch Mann und S. Geyer dramatisierten Romans am Wiener Burgtheater ist in der Schönen Literatur, XI (1910), S.327, die Rede. * Der blaue Engel (Berlin: Weichert und Stuttgart: Rowohlt, 1947). Siehe T. W. Adornos Aufsatz in Die Zeit vom 25. Januar 1952. 3 Eine als neu bezeichnete Übersetzung des Romans von Wirt Williams (in Wirklichkeit ein Plagiat der englischen Standard-Übersetzung) erschien kürzlich, durch Einblenden aus dem Twentieth Century Fox Film verunstaltet, als Taschenbuch der New American Library (siehe meine Rezension in Bd.IX des Yearbook of Comparative and General Literature). * Zu Heinrich Manns Auffassung der Konzeption seiner Werke siehe den dem vorliegenden Roman nicht eben zuträglichen Ausspruch: „Glauben Sie denn, daß es gerade Erlebnisse anekdotischer Art sind, die zu Werken führen? Nach meiner Erfahrung werden aus ihnen nur kleine Werke. Die großen entstehen im Grunde durch die Schwankungen des Lebensgefühls" (Antwort auf eine Rundfrage). Siehe die Einleitung zur Weichertschen Ausgabe. * Wulickes Drohung „Ich will euch eure Karriere schon verderben" (Thomas Mann, Gesammelte Werke; Berlin, 1956, Bd. IX, S.765) entspricht Unrats Absicht, seinen Schülern ihr „Fortkommen, wenn nicht gar unmöglich [zu] machen, so doch . . . wesentlich [zu] erschweren" (AW I, S.406). 1
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• „Die Lehrer duldeten [Hannos und Kais] Freundschaft mit Übelwollen, weil sie Unrat und Opposition dahinter vermuteten" (a.a.O., S.743) und „Dr. Mantelsack . . . zog den Schlüssel hervor und betrachtete ihn mit einem Gesicht, als hätte er stinkenden Unrat in der Hand" (ebd., S.756). ' Zeitalter, S.197. 8 A.a.O., S.33. In den Buddenbrooks (a.a.O., S.745) heißt es, daß „die Schule ein Staat im Staate geworden [war], in dem preußische Dienststrammheit herrschte". • „Er ereiferte sich für alle Autoritäten . . . Er wollte sie stark: eine einflußreiche Kirche, einen handfesten Säbel, strikten Gehorsam und starre Sitten. Dabei war er durchaus ungläubig und vor sich selbst des weitesten Freisinns fähig" (AW I, S.437f.). 10 Unrats Wunsch „von der Widersetzlichkeit der Welt einmal abzusehen, in seiner gewöhnlichen Gespanntheit nachzulassen - abzurüsten, sei es nur auf ein Viertelstündchen" (AW I, S.454) entspricht Aschenbachs „Sehnsucht ins Ferne und Neue, diese Begierde nach Befreiung, Entbürdung und Vergessen, - den Drang hinweg vom Werke, von der Alltagsstätte eines starren, kalten und leidenschaftlichen Dienstes" (Thomas Mann, Ausgewählte Erzählungen; Stockholm, 1948, S.444). 11 Ebd., S.520. 11 „Ich selbst habe mich persönlich stets an den Gepflogenheiten des Philisters beteiligt. Nicht, weil ich ihnen Wert beigemessen oder mich an sie gebunden erachtet hätte, sondern weil ich . . . keinen Anlaß traf, mich von ihnen zu trennen" (AW I, S. 565). 18 Eine ziemlich oberflächliche und politisch gefärbte Kritik der Zuckmayerschen Bearbeitung findet sich bei Wilfried Adling, Die Entwicklung des Dramatikers Carl Zuckmayer (Berlin, 1959), S. 146ff. 14 Als Beispiele solcher „leichter Umständlichkeiten" seien nur die Phrasen „gewiß nun freilich", „doch nun immerhin" und „aufgemerkt nun also" genannt. 15 Auf S.442 grübelt Unrat über die Bedeutung von „dun supen" nach; „denn er hatte in sechsundzwanzig Jahren die Mundart nicht verstehen gelernt". 18 Selbst Lohmanns dichterische Ergüsse werden ironisch behandelt. Dagegen schildert Heinrich Mann auf S.409 mit Abscheu, wie die poetischen Schönheiten der Schillerschen Jungfrau von Orleans durch Unrats Darstellung zunichte gemacht werden. 17
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Aber selbst dieses Lob ist mit der Drohung verbunden, er wolle die Schädel derer, die Rosas Kunst nicht anerkennen, öffnen „und den Schönheitssinn darin mit krummen Fingern zurechtrücken" (AW I, S.492). „Sie verlor ihren Kummer aus dem Sinn, sah ihrem Mann starr nach, undeutlich erschrocken über diese Leidenschaft, als sei sie ein auf Unrats Grunde immer sprungbereiter Wahnsinn, und dabei bezwungen und ihrem alten Unrat mit einem süßen Schaudern fester verbunden grade
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durch sie, durch diese Leidenschaft, durch diese gewalttätige und gefährliche Sache" (AWI, S.583). M „Herr Direktor, der Athenienser Perikles hatte - traun fürwahr - die Aspasia zur Geliebten" (ebd., S. 541). " „Unrat bekam heraus . . . , daß Puder und Stoffe schon nicht viel weniger seien als die Seele" (ebd., S. 501). » Ebd., S. 610. " Wilhelm Meisters Lehrjahre, Buch II, Kapitel 4.
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FÜNFTES KAPITEL
„ZWISCHEN D E N RASSEN"
Der im Jahre 1907 von Albert Langen in München veröffentlichte Roman Zwischen den Rassen (Heinrich Manns sechster Beitrag zu dieser Gattung) ist inhaltlich halben Weges zwischen der nördlich spröden Tragikomödie Professor Unrat und der südlich durchpulsten Commedia Die kleine Stadt, in der das auf den letzten Seiten des vorangehenden Werkes beschriebene demokratische Ideal verwirklicht wird 1 , angesiedelt. Gewisse Abschnitte von Zwischen den Rassen, besonders das bayrische Zwischenspiel, werfen auch schon ihren Schatten auf die grimmig-teutonische Handlung des Untertan voraus®. Zu diesen Reminiszenzen und Ahnungen fügt sich schließlich noch das autobiographische Element, das aus der Mannschen Familiengeschichte gespeist wird. Schon der Titel des vorliegenden Romans weist auf die Bewußtseinsspaltung des Autors hin, die sein Leben als ein zwischen Geist und Tat in der Schwebe gehaltenes durchzieht. Teils romanischen und teils germanischen Blutes, versteifte sich Heinrich Mann in mehreren seiner Werke auf diese Dialektik, gerade so wie sein Bruder Thomas das prekäre Verhältnis von Bürger und Künstler von immer neuen Blickwinkeln her gestaltete. Der jüngere Bruder Viktor äußert sich wie folgt zu dieser Sachlage: Hinter Heinrichs Ernst standen wohl vor allem Probleme ähnlicher Art wie die vor Thomas' Anfang gestellten es waren. Wenn ich in reifen Jahren versuchte, sie zu analysieren, so sah ich als erstes Dilemma immer das Zwischen den Rassen auftauchen, und es erschien mir ebenso schwer wie der Zwiespalt zwischen Tradition und Künstlertum, den der früher von der engeren Heimat gelöste Heinrich sicher auch eher überwunden hatte als Thomas*.
Dies Problem war es also, das Heinrich Mann auf der Seele brannte, als er sich daran machte, den Roman Zwischen den Rassen zu schreiben. Und gerade so wie es möglich war, das Ereignis zu benennen, das den Anstoß zur Niederschrift von Professor Unrat gab, so läßt sich auch das
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Vorbild für den ersten Teil des nächsten Werkes mit Sicherheit bestimmen, und zwar in Gestalt eines von Julia Mann über ihre in Südamerika und Lübeck verbrachte Jugend gelieferten Berichtes. Die frühen Rezensenten des Romans, die zweifellos von Julias Herkunft unterrichtet waren, sahen sich allerdings nicht veranlaßt, das Werk ihres Sohnes damit in Verbindung zu bringen. Und erst mit dem Erscheinen von Viktor Manns Memoiren kam der Stein ins Rollen4. Denn nun war kein Zweifel mehr darüber möglich, daß sowohl Sesemi Weichbrodt in den Buddenbrooks als auch Erneste in Zwischen den Rassen auf Julia Manns Erzieherin Therese Bousset basieren8. Die Veröffentlichung von Julia Manns Erinnerungen (das Manuskript, 1903 geschrieben, hatte sich in Viktors Besitz befunden und erschien erst nach seinem Tode im Druck) machte es zur Gewissheit, daß Heinrich Mann sich einer schriftlichen Vorlage - und nicht nur der mündlichen Erzählung seiner Mutter - bedient hatte*. Die Abhängigkeit der Anfangskapitel des Romans von Aus Dodos Kindheit ist auch statistisch über allem Zweifel erhaben, läßt sich doch zeigen, daß Heinrich Mann mehr als sechzig Wendungen dem reizend naiven und dabei hochpoetischen Lebensbericht seiner Mutter entnahm. Freilich hat er dieselben nicht einfach reproduziert, sondern hat wiederholt ihren Stimmungswert erhöht - ganz abgesehen davon, daß er auch die Reihenfolge der Ereignisse nach seinem Gutdünken veränderte 7 . Zudem ist der Hauptteil des Romans, wie das anders gar nicht möglich ist, von Julia Manns Memoiren völlig unabhängig, obwohl auch hier sich noch gelegentlich Anklänge an letztere finden. Die Kenntnis der Memoiren, die mit einem Hinweis auf Julias Heirat mit dem Senator enden, ist also keineswegs Garantie für ein volles Verständnis von Zwischen den Rassen. Gleich nach Erscheinen des Romans wiesen mehrere Kritiker darauf hin, daß die beiden Hauptabschnitte von Lolas Leben nicht organisch zusammenhingen und der abrupte Übergang vom ersten zum zweiten Teil einen Konstruktionsfehler darstelle8. Selbst die Heldin, Lola, ist erstaunt über die Veränderung, die in ihr vorgegangen ist; denn es kommt ihr zum Bewußtsein, daß mit dem Tode ihres Vaters sie und ihre Mutter plötzlich allen Halt in der bürgerlichen Gesellschaft verloren haben®. Man fragt sich wirklich, warum, soweit die Ökonomie der Handlung in Frage kommt, Heinrich Mann die Szene unvermittelt von Südamerika nach Bayern und Italien verlegt. Gewiß gibt es eine biographische Erklärung für diesen Schauplatzwechsel, da ja der Roman in mancher Hinsicht die
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florentinischen Erlebnisse des Verfassers wiederspiegelt. Doch ist nicht einzusehen, warum, um der Vertrautheit mit dem Milieu willen, die iberische mit der appenninischen Mentalität gleichgesetzt wird. Wohl sind die Italiener wie die Spanier Romanen; doch sind beide Völker temperamentlich grundverschieden. Daher auch die mangelnde Überzeugungskraft der Synthese. Das eigentliche Anliegen des Romans wird nur demjenigen Leser verständlich, der mit Alfred Kantorowicz erkennt, daß Heinrich Mann das Wort Rasse nicht in dem heute geläufigen Sinne verwendet. In Zwischen den Rassen dient nämlich dieser Begriff zur Bezeichnung unterschiedlicher Phänomene. Kantorowicz stellt fest: Heinrich Mann gebraucht das Wort Rasse wie im französischen Sprachgebrauch, als ein Synonym für Nation (bisweilen aber sogar auch für Geschlecht; es gibt in seinen Werken Stellen, wo er von der männlichen Rasse spricht). Im Zusammenhang des Romans sind bei ihm gemeint die Eigentümlichkeiten der Nationen, ohne daß er sich zu jenem frühen Zeitpunkt Rechenschaft über die ungemeine Wichtigkeit der Begriffsklärung dieser Frage gab10. E s versteht sich von selbst, daß Heinrich Mann damals nicht den Unterschied zwischen Ariern und Semiten im Auge hatte (wie das, anthropologisch gesehen, in seinen Beiträgen zum Zwanzigsten Jahrhundert der Fall war). Kantorowicz übersieht aber, daß sich im vorliegenden Werk das Wort Rasse hauptsächlich auf die körperliche und seelische Verfassung der Germanen und Romanen, und zwar grundsätzlich ohne Hinweis auf spezifische Staaten oder Völker bezieht 11 . Zuweilen setzt der Verfasser auch Blut mit Rasse gleich, ohne dabei auf die gebräuchliche Bedeutung des ersteren Wortes zu verzichten 12 . Des weiteren bezeichnet Rasse, wie Kantorowicz bemerkt, auch Männlichkeit. So wird Pardi als „äußerster Vertreter der Rasse" (AW II, S. 167), also als ein Rassemensch, beschrieben, obwohl auch diese Formulierung zweideutig bleibt. Die terminologische Ambiguität macht zwar das Verständnis des Werkes nicht unmöglich, erschwert aber das Eingehen auf die Intentionen des Dichters im Bezug auf manche Einzelstelle. U m die Einheit der Handlung in seinem Roman zu gewährleisten, entschloß sich Heinrich Mann dazu, Teile des von ihm in den Anfangskapiteln eingeführten Materials als Traum, Träumerei oder Erinnerung in den Hauptteil einzumontieren und so einen geschlossenen Rahmen für das Geschick seiner Figuren zu schaffen. Die beiden 6
Weitstem, Heinrich Mann
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Teile sind auch dadurch verschweißt, daß Lolas Rückkehr nach Europa anders motiviert wird als in den Erinnerungen der Mutter: Bis zu seinem dreißigsten Jahr berührte ihn [Lolas Vater] niemals Sehnsucht nach seinem Vaterland. Er dachte seiner wie an etwas Kleinliches und Bedrücktes, machte ihm auf einer Europareise einen spöttischen Besuch, fühlte sich mit Stolz als Brasilianer. Eines Tages bekam er zu spüren, daß er's nicht sei. Er hatte geschäftliche Einbußen erlitten, was zu Demütigungen führte von selten seiner Freunde und der Familie seiner Frau. Er sah sich plötzlich allein und ihm gegenüber eine ganze Rasse, deren für immer unzugängliche Fremdheit er auf einmal begriff. Nun fing er an, auf das Land seiner Herkunft als auf eine Macht zu pochen, sich selbst als Erzeugnis einer Kultur zu fühlen, von deren Höhe seine Umgebung nichts ahnte. Bei der Umschau nach Bundesgenossen begegnete er den Blicken seiner Kinder. Auch diese sollten in Sitten und Sprache eines niedrigeren Volkes erwachsen? Seine Feinde werden? . . . Seine Tochter sollte ihn verstehen lernen, sollte in solcher Reinheit und Gediegenheit leben, wie man nur zu Hause lebte. Sie sollte nach Haus (AW II, S.10)".
Es handelt sich demnach hier um einen krassen Fall von aus Ressentiment erwachsenem rassischem Vorurteil; ist es doch, als sagte Lolas Vater, am deutschen Wesen solle die Welt genesen. Derselbe ist ein Chauvinist von der Art, wie sie Heinrich Mann im Untertan satirisch anprangerte. Lolas Mutter hingegen wird als große Sinnliche dargestellt14. Auffallend an Zwischen den Rassen ist auch die strukturelle Verwendung von Ahnung und Vorschau. Gewisse von Julia Mann erwähnte biographische Einzelheiten sind hier nämlich ins Schicksalhafte abgewandelt. Der einfache und eindrucksvolle Bericht über den Besuch des Kindes bei seinen Großeltern auf der Ilha Grande („das Meer brandete stark und überflutete und machte noch schlüpfriger die Blöcke, über die man Dodo trug; und es peitschte das canoa hin und her. Dann ruderten die Schwarzen mit ihr fort bis an Pais Haus auf dem Festlande. Daß diese Begebenheit immer wieder in Dodos Erinnerung auftauchte wie ein nächtliches Traumbild, kommt wohl daher, daß alles so ernst und schweigend vor sich ging, daß Dodo sich allein und ohne Mai, Pai oder die Großeltern befand, und daß der Vollmond und glänzende Sternbilder märchenhaftes Licht über das Erlebnis des Kindes gössen") wird ersetzt durch die zukunftsträchtige Beschreibung von Lolas Abschied von Brasilien und ihrer unbeschwerten Kindheit (Hervorhebungen vom Verfasser. U.W.):
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Aber schon am Abend wartete auf die kleine Lola ein großes Kanu. Die schöne Mai lag in einer Ohnmacht; Nene hing schreiend an Lolas Kleid - aber ein Schwarzer machte sie los, trug sie, und die Armchen der Geängsteten würgten ihn, ans Wasser, setzte vorsichtig seinen nackten Fuß von einem der großen überfluteten Steine auf den nächsten . . . Das Meer brandete wütend; zerrissene Finsternis flatterte umher, und manchmal warf ein Stern ein böses Auge herein. Nun ward das Kind ins Boot gelegt; es hatte nicht geschrien, es weinte unhörbar im Finstern. Die Schwarzen ruderten schweigend, und das Kielwasser leuchtete fahl, als sei es die Spur eines Verbreebens (AW II, S.9). Mit Verbrechen ist natürlich Lolas Trennung von der Umgebung, in der sie aufwuchs, und ihr künftiges Leben „zwischen den Rassen" gemeint. Ähnliche Schicksalszeichen, die sogar noch unmittelbarer mit dem erwachenden Bewußtsein des Kindes zusammenhängen, weisen auf die bevorstehende Abreise des Vaters (ein Traumbild)16 und auf dessen Ende (der Tod ihres Lieblingsvogels) hin1'. Die Heldin des Romans fühlt sich verwaist und heimatlos und steht unter dem Fluch, von dem Nietzsche in seinem Gedicht „Vereinsamt" spricht1'. Wie ihr Schöpfer, der begeistert der Idee der Vereinigten Staaten von Europa anhing18, versucht auch sie zunächst, ihrer Wurzellosigkeit Vorteil abzugewinnen. Vorübergehend gelingt es ihr sogar, im Bereiche der Kunst eine geistige Wahlheimat zu finden. Denn solange sie Schülerin der berühmten Branzilla ist, die uns aus Manns gleichnamiger Novelle bekannt ist1·, glaubt sie über statt zwischen den Rassen zu stehen. Das hat sie mit Arnold Acton, der sich von seinem Schicksal über die Rassen gestellt sieht, gemeinsam20. Geist und Kunst sind also anscheinend in der Lage, die biologischen Gegebenheiten der Rasse aufzuheben. Als aber die Branzilla ins Irrenhaus eingeliefert wird, verliert Lola wieder jeden Halt; und es bleibt ihr nichts übrig, als sich nach einer idealen Welt jenseits der Sterne zu sehnen, wo es keine Bindung an die Wirklichkeit mehr gibt. Diese Welt wird der Heranwachsenden durch Lamartines Poetische Meditationen enthüllt81. Und von diesem Zeitpunkt an ist Lola die große Einsame, für die es keine Erfüllung im Diesseits gibt. Als Kind wird Lola des Abgrundes noch nicht gewahr, der sie von ihren Mitmenschen trennt. Denn zu Beginn ihres Lübecker Aufenthaltes schiebt sie der Schwierigkeit sprachlicher Verständigung die Schuld zuM. Aber diese Illusion wird bald zerstört, und Lola bleibt eine Außenseiterin, wieviele Sprachen sie auch beherrschen mag. 6·
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Das beiläufig behandelte politische Thema des Romans, das zunächst von den Rezensenten wenig beachtet wurde, ward aktuell durch den Staatsstreich Benito Mussolinis im Jahre 1923. Als Heinrich Mann Ein Zeitalter schrieb, versuchte er die erotische Grundlage des Faschismus aufzuzeigen: Den italienischen Faschisten abzustreiten hätte ich kein Recht; ich habe ihn entdeckt und dargestellt, als er sich selbst noch lange nicht begriff, viel weniger die politische Macht wollte. Sein Faschismus ist nicht Weltanschauung, nicht ausgebrütet aus fremden Eiern. Es ist die einfache Herrschsucht des Blutes, ist erotischer Herkunft: erotisch bleiben sie dort, was immer sie taten. Dasselbe herrschsüchtige Blut arbeitet roh im Faschisten und in den Meistern der schönen Dinge sublim".
Diese kühn konzipierte Genese, vom alternden Heinrich Mann entwickelt, wurde vom Verfasser des Romans Zwischen den Rassen freilich nur intuitiv empfunden. Auf keinen Fall aber darf man vom Politischen in diesem Werke absehen. Besondere Beachtung verdient dabei der Kontrast zwischen dem Renaissance-Hinteigrund der Handlung und der zeitgenössischen Gesellschaft, die von Leuten wie Pardi beherrscht wird. Zwar hat Pardi das künstlerische Feingefühl, das seine Vorfahren auszeichnete, geerbt (Lola bewundert die Schnelligkeit und Geschicklichkeit, mit der er den Grundriß des Florentiner Doms in den Sand zeichnet*4); doch seine Landsleute sind sittlich verroht: Für mehr als eine Familie waren Gastgeschenke der sicherste Teil ihres Einkommens; die Unehre der Frauen ergänzte das Glück im S p i e l . . . Kein Mensch fühlte hier die Nötigung, vor sich selbst ohne Flecken zu sein . . . Sie machten, bei ihrer animalischen Tüchtigkeit, den Eindruck moralisch unendlich Ermatteter (AW II, S.308).
Pardis präfaschistische Haltung zeigt sich in der Art, wie er seine diktatorische Art den ihm verfallenen Frauen gegenüber konservativ bemäntelt. Denn nach außen gibt er sich als eingefleischter Puritaner, bezeichnet die Ehe als eine unauflösliche Gemeinschaft und versucht, die Ratifizierung des Scheidungsgesetzes im Parlament zu verhindern; er selbst aber läßt sich nicht davon abhalten, Ehebruch zu treiben. Wie Unrat glaubt er also an zweierlei Moral: eine, die für ihn selbst, und eine, die für die anderen gilt. Pardis Auffassung der Bürgerrechte wird dadurch gekennzeichnet, daß er die völlige Unterwerfung des Einzelnen unter das Gemeinwesen fordert: „Sie [die Bürger] haben sich zu opfern. Nicht ihr
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Glück ist das Wesentliche. Das Wohl der Kinder geht ihm vor, der Bestand der Gesellschaft. Wer mit seinem freien Willen gewisse Pflichten eingegangen ist, hat, was nachkommt, nur sich zuzuschreiben und kein Recht, sich zu beklagen" (AW II, S.234). Dies ist eine nur allzu vertraute totalitäre Doktrin, welche darauf hinzielt, die Demokratie zu unterhöhlen. Der „reine Tatmensch" (AW II, S.166) hat verständlicherweise ein Interesse daran zu erklären, daß der Bürger für den Staat da ist (vorausgesetzt, daß er, der Tatmensch, die Macht hat) und nicht der Staat für den Bürger. Immerhin sind nicht alle der in Zwischen den Rassen erwähnten Italiener in gleicher Weise moralisch und politisch dekadent. Der alte Emigrant, der in heimatlicher Erde begraben sein will (AW II, S. 102 ff.), und der tapfere, wenn auch ein wenig lächerliche Priester Guidacci (der manches vom Rechtsanwalt Belotti in der Kleinen Stadt vorausnimmt) sind Nebenfiguren, die unsere Sympathie verdienen. Ihr Verhalten berechtigt den Leser wie den Verfasser, an die Verwirklichung des demokratischen Ideals in diesem Lande zu glauben. Von einem Mann mit geschrumpfter Seele unterworfen, ist Lola gezwungen, die Herrschaft des Körpers über ihr eigentliches Selbst anzuerkennen. Doch im Gegensatz zu Mai und Claudia, bei denen auch der Geist geschlechtlich bestimmt ist, wehrt sie sich tapfer gegen die Versuchungen des Fleisches. Sie lebt fast nur von Krise zu Krise25, und ihre Ohnmacht kommt im ständigen Wechsel von Menschenliebe und -haß, dem sie unterworfen ist, treffend zum Ausdruck. Selbst in der Beglückung des Zusammenseins mit Acton bedient sie sich des verfremdenden Sie, das ihre seelische Abkapselung beinhaltet. Auch weiß sie um einzelne männliche Züge8· in ihrem Wesen, woraus sich erklärt, warum Frauen wie Tini in sie verliebt sind. Hier wird erneut die Fragwürdigkeit und Unfruchtbarkeit ihres Lebens unter Beweis gestellt. Sie selbst gesteht: Ich habe doch so viel Liebe erträumt für so viele. Als Kind war ich bereit, für Mai, für Erneste zu sterben. Ich ersehnte der Menschheit einen besseren Stern. Nur mir ? Wer sagt das ? Nicht auch jenem die Heimat suchenden Auswanderer, dessen Schicksal meinem glich, und allen, allen? Ich litt, noch voriges Jahr, mit jenen Bauern, denen mein Mann ihr Geld nahm. Auch Tini habe ich lieb gehabt, lieber als sie meint . . . Wen aber habe ich's je fühlen lassen ? Wem ist wohler geworden durch mich? Ich bin eine Unfruchtbare (AW II, S.332).
Nun will aber Heinrich Mann, daß der Leser seines Romans die Welt mit Lolas Augen sehen soll. Diese Perspektive ergibt sich von 85
selbst im ersten Teil der Handlung, wo alles subjektiv unter dem Blickwinkel des kleinen Mädchens erscheint. Der unregelmäßige Zeitablauf (die ständige Kontraktion und Ausdehnung des Normalmaßes) erklärt sich daraus, daß das Kind noch nicht gelernt hat, die objektiv gültige mit der subjektiven Zeit zu vereinbaren. Der Verfasser beschwört die Welt des Kindes, dessen Gedanken frei von einem Objekt zum anderen schweifen, eine Welt, die ganz anders organisiert ist als die der Erwachsenen27. Die Grimasse, die Lolas Onkel schneidet, ist ein Kern, um den herum sich die anderen Phänomene kristallisieren28. Später verliert sich Lolas Unbefangenheit, und sie verlernt, aus ihren Erfahrungen Nutzen zu ziehen. Ihre Unstätheit und Labilität sind Ausdruck des Widerspruchs von Geist und Tat, von Körper und Seele, die rassisch bedingt ist. Als Vertreter des Romanentums ist Pardi (dessen Adel, wie der der Medici, übrigens auch bürgerlicher Herkunft ist28) nur die Erfüllung des Typs, den schon Lolas spanischer Anbeter da Silva - sein Name von Julia da Silva Bruhns her geläufig - vertritt: Was gab es Persönliches an Pardi zu lieben? Mit diesem Typus bin ich doch wohl glücklich fertig. Alle waren so, da Silva und die früheren . . . In manchen Augenblicken und besonders einmal, als Pardi gelaufen kam - gierig wie ein Tier, ganz auf das Ziel zusammengezogen war er dahergelaufen - da hatte sie geglaubt, da Silva zu sehen. Sie führte absichtlich dieselben Gespräche mit Pardi wie mit da Silva und wußte seine Antworten voraus . . . Nur stand hier der Typus auf der Höhe des Lebens, war gereift und vollendet: aber nicht gesättigt (AW II, S.178).
Lolas Auffassung des Typs als eines animalischen wird durch Pardis Namen bestätigt. Pardi wird nämlich als „sprungbereit" (S. 193) bezeichnet, stößt „katzenhafte Drohungen" (S. 180) aus und nennt ein „Tigergesicht" (S.234) und einen „Tigerrachen" (S.222) sein eigen. Das gleiche Bild ins Künstlerische übertragend, vergleicht Lola den einen trunkenen Bauern nach Hause Schleppenden mit einem „Tiger, der den Bacchus trägt" (S.198), wobei sie wohl auf eines der Tizianschen Bacchanale anspielt. In seinen Lebenserinnerungen spricht Viktor Mann versehentlich von Pardi als Leopardi, „dessen Name alles sagt"30. Dies ist ein verzeihlicher, wenn auch aufschlußreicher lapsus linguae. War es Heinrich Manns jüngerem Bruder bekannt, daß der italienische Romantiker in Leib und Seele das gerade Gegenteil des Romanhelden war, so daß der Spruch nomitta sunt omina auf ihn keine Anwendung findet ? 86
Die andere Seite von Pardis Charakter - seine Naivität und tierische Unschuld - erhellt aus folgendem Passus: Für alles, was süßlich und veraltet war, für jeden Kitsch war er zu haben. Er mußte als Held in älteren Romanen vorkommen. Sein Abenteuer, sein Ehrbegriff, seine Ideen, seine Lebensanschauung und sein Urteil über Menschen rührten von solchem Helden her. Für ihn gab es natürlich nur Gute und Böse, nur Ehrenmänner und Schufte . . . Eine Welt, so einfach in ihrer Wildheit, daß es nicht zu glauben war. Eine Naivität, die manchmal rührte, manchmal empörte. Nur Achtung konnte sie nicht eingeben (AW II, S.238).
Der anachronistische Ehrbegriff, dem Pardis Kreis huldigt, wird durch eine Boccaccios würdige Anekdote beleuchtet, der es aber an Humor gebricht; denn Leutnant Cavas Verfehlung führt zu seiner Verbannung nach Sizilien. Dabei wird ihm nicht etwa zur Last gelegt, daß er Ehebruch getrieben, sondern nur, daß er den Schein nicht zu wahren gewußt habe. Lolas Bruder im Geiste, der Träumer Arnold Acton, ist weit komplexer als sein nervigerer Rivale. Lolas Lehrer Dietrich, in dem sein Typ vorausgeahnt ist, gleicht ihm nur insofern, als beide schüchtern und ironisch sind und ihr Leben zeitweilig „liebreich dahinfließen mußte, voll sanfter, gütiger, edler Gedanken" (AW II, S. 174). Seiner Mentalität nach ist Acton deutsch insofern er wie der ekzentrische Graf Utting - wenn auch nicht wie dieser im wörtlichen Sinne - die Sucht hat, „niemals den Boden zu berühren" (ebd., S. 137). Er verdächtigt also die Wirklichkeit. Im ganzen gesehen ist freilich Acton eher Germane als Deutscher 81 ; trägt er doch einen englischen Namen. Heinrich Mann bezeichnet ihn als einen Dichter, über dessen Schöpfungen der Leser aber nichts erfährt. Ihn, als Einzelgänger, widert die Gesellschaft an. In dieser Hinsicht hat er manches mit Lola gemein, die gleich ihm melancholisch veranlagt ist"2. Am Ende überwindet Acton seine Scheu und vertauscht das Reich der Gedanken mit dem der Tat, da Lola, in Leib und Seele uneins, nur dem Manne gehören will, der eine heldische Tat zu vollbringen vermag. Im Gegensatz zu Mario Malvolto in der Novelle „Pippo Spano" überbrückt er den Abgrund zwischen Leben und Kunst, zwischen Geist und Tat, während Pardi an seinen Körper gefesselt bleibt und nicht zum Geiste findet. Der Name von Lolas Partner im Roman ist so auffällig, daß man sich versucht fühlt, nach einem Vorbild in der geschichtlichen Wirk-
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lichkeit zu fahnden. In der Gestalt des im Zeitalter der Königin Victoria lebenden prominenten Politikers und Historikers Lord Dalberg-Acton (1834-1902), der ein geschworener Feind des Nationalismus war und eine Geschichte des Freiheitsbegriffes schrieb, scheint der rechte Mann gefunden. Lord Actons Mutter war eine Deutsche; er selbst studierte in München, heiratete eine bayrische Gräfin und starb in Tegernsee (wobei zu erinnern ist, daß der Arnold Acton des Romans zuerst im bayrischen Kapitel auftritt). Da Lolas Bruder im Geiste mit dem Verfasser von Zwischen den Rassen fast gleichaltrig ist, möchte man annehmen, daß sich der letztere gewisser Züge des historischen Acton zu eigen machte, um seine eigene Problematik fiktiv zu gestalten. Auf die autobiographische Natur des Romans hinweisend bemerkt Kantorowicz, daß der mit den Worten „Sobald ich frei war, schon mit zwanzig Jahren, zog ich mich in die Einsamkeit des Reiselebens zurück" (S.152) beginnende Abschnitt eine Art Bekenntnis darstellt, zumal sich die meisten der darin erwähnten Umstände und Tatsachen mit Heinrich Manns Italien-Aufenthalt in Verbindung bringen lassen 83 . Letzterer hätte sehr wohl von sich sagen können: „Ich fand nach Italien-und da war mir's, als hätte ich nach Haus gefunden" (AW II, S. 153). Und auch er wurde „plötzlich vom Talent ergriffen" (ebd.). Die siebenjährige Dauer von Actons furor poeticus entspricht so ziemlich der vom Dichter in Florenz, Rom und Palestrina verbrachten Periode. Actons Bericht über einen auf ihn verübten Anschlag auf S.156 des Romanes („Auf einem Wege, den ich täglich ging, wurde ich eines Nachts angefallen und entkam durch einen Zufall") entspricht einem im „Drei-Minuten-Roman" geschilderten Erlebnis 84 . Beiden Episoden liegt eine persönliche Erfahrung zugrunde 85 . - Auch Actons politische Ansichten (besonders sein Urteil über die französische Revolution) sind mit den von Heinrich Mann gehegten nahezu identisch. Ich darf hinzufügen, daß von einer strengen Parallele zwischen Acton und seinem Schöpfer nicht die Rede sein kann. Heinrich Manns problematische Natur spiegelt sich vielmehr sowohl in Actons als auch in Lolas Charakter, eine Tatsache, die dazu beiträgt, Zwischen den Rassen zu einem der für Manns Persönlichkeit aufschlußreichsten Werke zu machen. Da Heinrich Manns Werke in besonders engem Zusammenhang miteinander stehen und sich oft gegenseitig erläutern, ist es aufschlußreich, den Wechselbeziehungen zu den etwa gleichzeitig mit Zwischen den Rassen entstandenen Novellen nachzugehen. Auf „Pippo 88
Spano" und den „Drei-Minuten-Roman" haben wir bereits kurz hingewiesen. Aber eine Reihe weiterer Fäden knüpfen sich. Die im Jahre 1906 verfaßte „Branzilla" zum Beispiel handelt von Lolas Lehrerin, der Sängerin, die ihrer Kunst mit manischer Ausschließlichkeit lebt. Gerade so wie Pardi seine diktatorische Haltung im Politischen und Moralischen unter Beweis stellt, unterwirft die Branzilla sich selbst und ihre Schüler einer fast unmenschlichen Disziplin, sodaß jeder künstlerische Triumph auf Kosten des Lebens gefeiert wird. Als Lolas Lehrerin - im Schlußstadium ihrer Laufbahn, die in der Novelle ganz beschrieben wird - bricht sie deren Willenskraft, indem sie die sklavische Befolgung ihrer Anweisungen verlangt. Lola verlernt so gründlich, auf eigenen Füßen zu stehen, daß ihr Künstlertum in Frage steht, sobald sie dem Einfluß der Branzilla entzogen ist: Und dann war die Branzilla verschwunden . . . [Sie] mochte verrückt sein, wie sie wollte: sie blieb die einzige, die Lolas Stimme beherrschte, die ihre Stimme sah. Dazu taugte sie noch, dazu sammelte sich noch ihre Vernunft . . . Die Methode der Branzilla ließ einen unselbständig bis zuletzt. Lola war ohnmächtig ohne ihre Führerin. Der Weg zur Kunst, in diese neue Heimat, war verloren*·.
Einen Tyrannen mit dem anderen vertauschend, unterwirft sich Lola dem skrupellosen Pardi, der sie beherrscht, bis Acton sie befreit. „Die Schauspielerin", eine Novelle, die ebenso mit dem Problem der künstlerischen Vollendung und der damit verbundenen Schwächung der menschlichen Substanz befaßt ist, ist gleichfalls nicht ohne Bezug auf Zwischen den Rassen. Zwar ist die Handlung der Erzählung von der des Romans grundsätzlich verschieden; denn Lola verzichtet auf ihr Künstlertum (ihre Neigung war wohl wenig mehr als ein Ausdruck südländischen Temperamentes), während Leonie sich der Kunst mit Haut und Haaren verschreibt. Auch Arnold Acton scheint Lolas confident, dem sephardischen Juden Arnold Rothstein, auf den ersten Blick wenig zu ähneln. Doch zeigt sich, daß beide gleich meditativ veranlagt sind, zum Menschenhaß neigen und das Handeln, die Vita activa, verabscheuen87. Gezwungen, in das Geschäft seines Vaters einzutreten, bleibt Rothstein im Grunde ein Träumer, der sich im Leben nicht zurechtzufinden weiß. Seine Hemmungen sind so stark, daß es ihm, im Gegensatz zu Acton, unmöglich ist, Leonie ihrem Schicksal zu entreißen88. So bleiben die beiden von 89
ihrer Fragwürdigkeit (dies ein Lieblingsausdruck Heinrich Manns) gezeichnet. Enttäuschte Liebe ist das Thema zweier weiterer, zwischen 1906 und 1907 verfaßter Novellen Heinrich Manns. Auf die Legende der „Ginevra degli Amieri" (einer Frau, die „starb", ohne ihre heimliche Liebe bekannt zu haben, und die zurückkehrt, um im Tode die Befriedigung zu finden, die ihr das Leben versagte) wird gegen Ende des Romanes angespielt. Arnold Acton ist Lola nach Florenz gefolgt; doch zweifelt sie, die mit Pardi zu brechen bereit ist, an seinem Willen zur Tat. Von ihm auf die Legende hingewiesen, bemerkt sie traurig: „Sie hatte sich ihm immer versagt ? Auch ihnen fehlte also der Mut ? Aber nach ihrem Tode war er ihre Zuflucht? O, du würdest mich lieben, wenn ich tot wäre"8®. Manoella Römer, die Heldin der „Liebesprobe", steht Lola Gabriel um vieles näher. Ihre brasilianische Herkunft und die Geschichte ihrer Jugend sind uns von Lola-Julias Erzählung her vertraut; dazu kommt noch, daß eine Seite poetischer Prosa aus dem Roman von Heinrich Mann wörtlich in die Novelle übernommen wurde 40 . So groß ist Manoellas Liebe, daß sie den Gedanken an Untreue nicht ertragen kann: Ich liebe zu sehr. Wie solltest du so lieben können? Diese weite und treulose Welt hat solche Liebe nicht. Ich verstehe, daß Frauen meinesgleichen sich Christus verlobten. Nur ihm durften sie trauen. Ich, die ich nicht gläubig bin, müßte mein Herz einem Bilde geben, dem Abbild eines Lebenden, das alles stumm von mir empfangen würde und mich nicht täuschen könnte, weil es kein eigenes Herz hat11.
Als ihr Freund, dessen Treue sie durch Übersendung einer gefälschten Todesnachricht auf die Probe stellt, ihr spöttisch sein hölzernes Ebenbild zuschickt, zieht sie sich vollends auf sich selbst zurück. Im Gegensatz zu ihren Schwestern Leonie, Ginevra und Manoella entkommt Lola dem seelischen Labyrinth, in dem sie sich verlor, während Ginevra sich mit dem Tod, Leonie mit dem künstlichen Abbild des Lebens auf der Bühne und Manoella mit einer Puppe tröstet. Rainer Maria Rilke, der Zwischen den Rassen im vollen Bewußtsein der seiner Meinung nach dem Genre auferlegten Beschränkungen las, lobte Heinrich Manns Roman nicht nur wegen seiner „merveilleuse pldnitude", sondern auch im Hinblick auf die Sättigung „de cette vie
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toute dilude dans le langage, qui n'a probablement jamais existi auparavant dans la langue allemande". Der Dichter schloß seine Bemerkungen mit der Feststellung: Comme cela doit enthousiasmer les jeunes qui veulent se libdrer de la nature, de trouver dans les livres de Heinrich Mann tout ce qui a έίέ vu, vu ddpuis toujours. Quand ce grand artiste a-t-il eu son temps d'apprentissage ? - Lä, il depasse meme Flaubert. Si ce dernier a quelque chose du collectionneur, Heinrich Mann, lui est un prodigue. Qui done aurait si brillament οτέέ des pay sages pour les jeter simplement dans le flot du sang d'une histoire ? Or, ceci est, pour moi, le plus grand 0merveillement: etre i la fois criateur de formes et erdateur du courant qui les entraine loin de lui-meme". Und hat nicht Actons Bekenntnis, das folgt, etwas RilkeischLyrisches ? Ich weiß nicht, ob Sie, gnädiges Fräulein, das kennen: ein kleines Zimmer, allmählich in allen Winkeln voll von Erschautem und Erlittenem, glücklichen und schlimmen Spielen; nächtliche Gänge, einen Buchenhügel oder Terrassen mit Oliven hinan, wenn in den Laubschleiern ein vom Tal heraufgeschwebter merkwürdig stiller Glockenschlag zittert: wie hell und gespannt einen das macht . . . Man wird sich selbst zur Leidenschaft.. . ein Flügelrauschen rührt sich'in einem, wie vom eigenen Schicksal (AW II, S. 115). Das immanent Lyrische gibt diesem Roman, der von Hemmung und Verzicht handelt, ein ungewöhnliches Maß v o n dichterischer Vollendung. Es bringt Licht und Farbe in die Dunkelheit der seelischen und körperlichen Konflikte 48 .
ANMERKUNGEN Fünftes Kapitel 1
„Welche Feier! Ein Volk rief sich, irgendwie dazu eingeladen, die Größe seiner Väter zurück, besann sich, beim Anblick der Größe von Niederen, auf sich selbst. Bis in die ältesten Tage erkannte es an den Wahrzeichen sich selbst, und seine eigene Unendlichkeit erschütterte es. Lola atmete tiefer in dieser bewegten Luft: bewegt von der ungeheuren Güte der Demokratie, ihrer Kraft, Würde zu wecken, Menschlichkeit zu reifen, Frieden zu verbreiten" (AW II, S.430). * „Der Fabrikant wendete sein weißes, dickes, plattnasiges Gesicht dem Monde zu; es war harmlos, und sein Schnurrbart bemühte sich zu
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drohen; und der Fabrikant verlangte den Krieg mit England. Gugigl hatte nichts dagegen, bezweifelte aber die Kriegslust der Massen. Darauf forderte der Fabrikant die Unterdrückung der Sozialdemokratie, also vor allem die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechtes und die Einführung des Klassenwahlsystems" (ebd., S.143). * Wir waren fünf\ S.118f. Vergleiche auch Heinrich Manns kurze Selbstbiographie auf S.36 des Verlagskataloges von Albert Langen für die Jahre 1894 bis 1904. Man vergleiche besonders S.20ff. von Viktor Manns Buch mit den auf die ersten sechzig Seiten des Romans verteilten Details. * Man vergleiche Ernestes Charakterbild auf S.17 und 18 des Romans mit der Schilderung Sesemis im siebten Kapitel des zweiten Teils der Buddenbrooks. Die Geschichte mit der Zuckerdose geht gewiß auf die gemeinsame Quelle zurück. • Aus Dodos Kindheit (Konstanz: Rosgarten-Verlag). 7 Zu ersterem vgl. die Wendungen „feuerrote Krummschnäbel" und „ein roter Mann" (AW II, S.7 und 8) mit der Vorlage, zu letzterem S. 18 der Memoiren (ein Schatten in Gestalt der Jungfrau) mit S.151 des Romans. » Ilse Frapan-Akunian {Das literarische Εώο, X [1907-1908], S. 1025 f.) bemerkt: „Das Schönste waren für mich die ersten sechs oder acht Seiten, die früheste Kindheit der Heldin Lola in ihrer südamerikanischen Heimat. Da ist eine mit Kinderaugen gesehene Tropenpoesie, die man nicht vergißt." • „Wie hätten wir sonst, kaum daß er tot war, den ganzen bürgerlichen Boden unter den Füßen verlieren können" (AW II, S. 77). » AW II, S.451. 11 Auch 0(skar) B(ulle) findet Heinrich Manns Auffassung von Rasse „sehr merkwürdig" (Beilage zur Allgemeinen Zeitung, München, vom 22. Juni 1907, S.49). 11 Vgl. „Aber er [der Priester Guidacci] war nur einer, der sein Blut hatte unterdrücken, seine Rasse hatte verkehren müssen" (AW II, S.352) mit der Wendung „Sie sah sich um, sie hatte Lust, diese Menschen zusammenzurufen, die Pai gekannt hatten, die ihr du sagten, die ein wenig Blut mit ihr gemeinsam hatten" (ebd., S. 108). 11 Auf S. 42 sagt er: „In Dir, meine Tochter, fließt, wie ich hoffe und glaube, ein vorwiegend deutsches Blut, und als deutsches Mädchen gedenke ich Dich dereinst wiederzufinden." Siehe auch Arnolds Bemerkung auf S. 160. 11 Mais Sinnlichkeit und Dummheit („Auch in Brasilien haben wir viele Römersachen") werden auf S. 171 anschaulich geschildert. " Man vergleiche die folgende Stelle in Aus Dodos Kindheit (S.21) mit S.15 des Romans: „In der Nacht träumte ihr etwas Trauriges: sie sah einen Neger . . . von einem Aufseher grausam geprügelt, hörte sein Winseln, brach selbst in Weinen aus und lief, es dem Großvater zu klagen, weinte und lief. Da erwachte sie noch immer schluchzend, und auch das andere Schluchzen ging weiter."
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" Aus Dodos Kindbett, S.58f., und AW II, S.61. „Die Krähen schrein / Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: / Bald wird es schnein, / Weh dem, der keine Heimat hat." " Siehe besonders seinen Aufsatz „VSE" aus dem Jahre 1924. Der Gedanke ist freilich schon in einem Aufsatz aus dem Zwanzigsten Jahrhundert (V/2, S.592) vorgeahnt, wo es heißt, daß Europa, „um seinen Vorrang zu erhalten, seine Interessensphären behaupten und erweitern zu können, sich auf die Dauer wird solidarisch erklären müssen". " „Lola sah ins Wasser und sehnte sich: ,Wer einer Heimat entgegenführe!'. Sie hatte eine gehabt, eine Wahlheimat, die Schritt für Schritt zu erobern gewesen war: ihre Kunst. Und auch aus der war sie verstoßen; denn die Branzilla saß in der Nervenheilanstalt" (AW II, S.97). , 0 „Denn auch mich haben, nicht meine Geburt, aber meine Schicksale zwischen die Rassen gestellt" (ebd., S.161). Vergleiche auch Viktor Mann, a.a.O., S.119: „So sehr Leopardi Nationalist ist, so wenig ist es der Blonde. Sein Künstlertum erhebt ihn über die Rassen, ohne sein gutes Deutschtum zu schmälern." 11 Auf S.48 rezitiert Lola Stellen aus „Le Vallon", „L'Isolement" und „Ä Elvire". 11 Siehe besonders S. 21-28 des Romans. Freilich wird die Sache nicht folgerichtig behandelt; denn die Feststellung „Die Glocke läutete wieder, und Lola ließ sich fortführen, weil das Fräulein ihr sagte, nun würden die Mädchen kommen und sie weinen sehen" (S.21) setzt voraus, daß das Kind Deutsch versteht, was aber im folgenden verneint wird. " S.462. Vergleiche auch Heinrich Manns Äußerung: „Wenn dieser Roman [Der Untertan] die Vorgeschichte des Nazi enthält, dann zeigt ein anderer, Zwischen den Rassen, geschrieben 1905 bis 1907, schon den Fascisten (ohne daß ich es wußte; ich hatte nur Fühlung für die Erscheinungen)" in dem vorerwähnten Brief an Alfred Kantorowicz. " Auf Renaissance-Skulpturen wird im Roman wiederholt hingewiesen. Guidacci amtiert in San Lorenzo, einer Kirche, in der die Kunst der Frührenaissance durch Donatello, die der Hochrenaissance durch Michelangelo exemplarisch vertreten ist. Lola sagt von Pardi: „Er war kein Künstler. Aber er hatte das Blut von Menschen, die mit einem Griff durch die Luft mehr Kunst machten als diese hier, wenn sie malten" (AW II, S.200). " „Erneste sah den Krisen Lolas unschlüssig zu" (ebd., S.45). „Sie hatte Tränenkrisen" (ebd., S.314). " „Lola dachte: ,[Mai] ist so dumm, daß sie keine zwei Worte versteht, die etwas Allgemeines sagen. Gleich darauf aber, wenn es sich um ihren Körper handelt und um die Sinne eines Mannes, wird sie beinahe geistreich. Muß man als Frau so sein? Dann bin ich ein verfehlter Mann" (ebd., S.236). Siehe auch ihre Feststellung auf S.276. " „Solche großen Klatschrosen 1 . . . Ich muß sehen, was dort in der Mauer für ein dunkles, dunkles Loch ist . . . Pai ist gut, auch das Fräulein ist 17
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gut I . . · Eine Eidechse, husch . . . Ob die Mädchen nicht wiederkommen? . . . Der schöne Tag" (ebd., S.19). " „Nun kam ihr eine Fratze in den Sinn, die der lustige Onkel einmal geschnitten hatte, und von da aus fand sie sich in allem wieder zurecht" (ebd., S.24). ' · „Wir sind Florentiner Bürger und durch Fellhandel reich geworden. Glücklicherweise sind es bald hundert Jahre, seit wir das letzte Fell verkauft haben" (ebd., S.274). An anderer Stelle (S.266) spricht Lola von Rastaquouire-Preisen. Wir waren fünf, S. 119. 31 Freilich spricht Acton auf S. 160 von seinem „deutschen Erbe". Ilse Frapan-Akunian (a.a.O.) wirft Heinrich Mann vor, er habe Acton nicht als typischen Vertreter des modernen Deutschtums dargestellt; denn „der moderne Deutsche ist in der überwältigenden Mehrheit eine recht robuste Erscheinung geworden, die im Völkerkonzert durchaus nicht auf die Philosophie und Mondscheinlyrik eingestellt ist". Dieses Urteil beruht auf einem groben Mißverständnis der Absichten des Dichters. M Vergleiche Erwin Panofskys Deutung der Dürerschen Melancolia I {The Life and Art of Albrecht Dürer; Princeton University Press, 1955, S. 156ff.) mit folgenden Stellen aus Heinrich Manns Roman: „Das nasse Laub hing um [Lola] her, es roch herb nach Kräutern, die Quelle rann, Lola saß ohne Regung . . . Im Sommer lag sie oft am Rande eines Heliotropbeetes auf dem Bauch, schob den Kopf zwischen die Blumen und lauschte in die Tiefe dieses Duftes" (S.29) und Arnolds Bemerkung: „Und das Gemurmel der Quelle vorm Tor; ich blieb bei ihr zurück, wenn man über Land zog, und nasses Laub hing mir in die Schläfen" (S.152). ** Siehe Kantorowicz' Einleitung zum Roman (AW II, S.446f.) und vergleiche das dort angeführte Zitat mit der folgenden Stelle aus Ein Zeitalter (S.463): „Die erste, frischeste Erfahrung meines Lebens war dieses Land der Liebe. Mit zwanzig Jahren dort gehört zu haben: ,Anch' io ti voglio molto bene!' tröstet über vieles." 84 Siehe AW IX, S. 132, besonders die Stelle, die mit der für Acton charakteristischen Überlegung „Ich habe das Gefühl, als sei der Verkehr von Menschen immer so ein ratloses und grausames Durcheinander von Irrtümern" schließt. 15 Siehe „Der Mann, den der Ansager nannte", eine Rundfunk-Ansprache, die zuerst in dem Sammelband Das öffentliche Leben (Berlin: Zsolnay. 1932) erschien und die teilweise in AW IX, S.395 wiedergegeben ist, ' · AW II, S.99f. Zum Tode von Branzillas Gatten siehe AW II, S.97, und AW VIII, S.372 und 376. *' Vergleiche Arnolds Feststellung „Das Fest wäre ganz hübsch . . . aber diese Menschen" (AW II, S.114) mit Leonies Bemerkung: „Daß er die Menschen nicht liebt, das kommt daher, weil er nicht eben hochgemut ist" (AW VIII, S.399). „Die Gebärde dessen, der schlägt, kann ich nicht umhin, ein wenig grotesk zu finden. Zuviel Selbstbehauptung" (AW II, S.126) entspricht Rothsteins Geständnis: „Dort, wo ich mit meinem
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Innern stehe, ist es einem nicht mehr natürlich, die Gebärden der Wirkenden mitzumachen" (AW VIII, S.422). " „Wenn irgend Aussicht gewesen wäre, in Sie hätte ich mich verlieben können" (AW II, S. 163) findet ein Echo in „Er hatte mit zwanzig Jahren erfahren, daß er nicht lieben konnte" (AW VIII, S.434). Lola weiß, daß sie Acton „nur wie einen Bruder gern haben" kann (AW II, S. 166), und Leonies „schwesterliche Augen" sind „groß auf Rothstein" gerichtet (AW VIII, S.403). " AW II, S.405f. Die Novelle findet sich in AW VIII, S.217ff. 40 AW II, S.397, und AW IX, S. 150. 41 In Zwischen den Rassen erscheint die Stelle „Ich, die ich nicht gläubig bin, müßte mein Herz einem Bilde geben" als „Ich, die nicht gläubig ist, sollte ein Bild, eine abwesende Seele lieben." 11 Aus einem in Les Nouvelles Litteraires vom 27. April 1950, S.5, abgedruckten Brief. " In einer einfühlsamen Besprechung von Zwischen den Rassen in Die Gegenwart (Juli 1917) bezeichnet Max Brod „kunstvolle Durchdringung von Romantik und Naturalismus" als charakteristisch für Heinrich Manns Kunst und findet, daß „etwas von der Verschränkung der beiden Vorstellungswelten auch in der Heldin des neuen Romans lebt".
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SECHSTES KAPITEL
„ D I E KLEINE STADT" Die kleine Stadt (von 1907 bis 1909 geschrieben und in letzterem Jahr vom Insel-Verlag in Leipzig veröffentlicht) ist Heinrich Manns erster Versuch, statt einzelner Charaktere ein ganzes Volk episch zur Darstellung zu bringen. Das Werk bedeutet also einen Wendepunkt in der künstlerischen Laufbahn seines Verfassers. In den vorhergehenden Romanen, in denen das Hauptaugenmerk auf ästhetische und psychologische Phänomene gerichtet wird, war Mann (selbst in den Göttinnen und Zwischen den Rassen) nur mittelbar an politischen Dingen interessiert. Erst in der Kleinen Stadt wird die Politik genau so wichtig genommen wie die Kunst und die Liebe. Daß dieses Werk wahrhaftig „dem Volke [und] Menschentume erbaut" ist1, folgert schon daraus, daß nach zeitweiliger Verwirrung der drei Sphären (Lucia Dora Frost nannte „Überfall durch fremde Schönheit und Steigerung an fremder Schönheit" das eigentliche Thema des Romans2) die Bevölkerung der Kleinstadt erneut und diesmal endgültig dem Dornröschenschlaf verfällt. In Manns späteren Romanen ist das Idyll als Lösung bereits ausgeschlossen, da gezeigt werden soll, wie Kunst und Liebe brutal politischen Überlegungen geopfert und unterworfen werden. Das Jahr des Erscheinens der Kleinen Stadt ist eine literarhistorische Wasserscheide, die zwei radikal entgegengesetzte Strömungen des deutschen Schrifttums trennt. Sah doch das zu Ende gehende Jahrfünft die Vollendung von Rilkes Stundenbuch und Georges Siebentem Ring, während das neue Lustrum Zeuge des expressionistischen Aufbruchs wurde. Im gleichen Jahre 1909 machten sich Strauß und Hofmannsthal daran, den Geist einer sterbenden Epoche im Rosenkavalier noch einmal heraufzubeschwören, und Thomas Mann stellte Königliche Hoheit, ein politisches Märchen, das ein Pendant zur Kleinen Stadt ist, zur Diskussion. Die mittelmeerisch-sonnige Szenerie der Kleinen Stadt ist ebenso charakteristisch für das künstlerische Temperament ihres Schöpfers wie das nordisch-neblige Milieu der Buddenbrooks und des Zauber96
berges für dasjenige seines Bruders. Der wesenhafte Unterschied im Weltbild der Brüder wird daher besonders in solchen Werken deutlich, die der gewohnten kongenialen Atmosphäre entbehren. Heinrich Manns Deutschland eignet sich vordringlich zur Satire, während d a s Italien des Tod in Venedig u n d des Doktor
Faustus
mit T o d und
Verfall in Zusammenhang steht. Ihr materielles Vorbild hat die kleine Stadt des Romans in Palestrina, dem Geburtsort des gleichnamigen Komponisten in Mittelitalien, in dem Thomas und Heinrich Mann in den neunziger Jahren 2eitweise lebten. (Als literarisches Vorbild käme wohl am ehesten das Yonville und das Rouen der Flaubertschen Madame Bovary in Frage 3 .) In Palestrina arbeitete Thomas an seinem ErstlingsRoman, dem er seinen Ruhm verdankt und dessen Abfassung - wenn wir einer Bemerkung im Zeitalter Glauben schenken dürfen - ursprünglich als Gemeinschaftsarbeit geplant war 4 , während Heinrich mit einigen der später in die Sammlung Das Wunderbare aufgenommenen Erzählungen beschäftigt war. Zehn Jahre danach, als Heinrichs Spürsinn in politicis unvergleichlich feiner geworden war, verdichteten sich die italienischen Erlebnisse mählich zum Stoff der Kleinen Stadt. Thomas Mann aber wartete weitere fünfunddreißig Jahre, bis er sich dazu entschloß, Palestrina zum Treffpunkt Adrian Leverkühns und seines teuflisch-kalten Gastes zu machen. Das 35. Kapitel des Doktor Faustus enhält manche Einzelheiten, die uns aus dem Werk des Bruders schon vertraut sind6. Aber diese Details dienen lediglich dazu, der schicksalhaften Begegnung ein wenig Lokalfarbe zu verleihen. Auf das Hauptanliegen des Romans, ja selbst der Szene, haben sie so gut wie keinen Einfluß. Im Palestrina Thomas Manns dominieren Nietzsche und Kierkegaard zu ausschließlich, um Goldoni und Puccini - die Schutzgeister der Kleinen Stadt neben sich zu dulden. Die turbulente Handlung des Heinrich Mannschen Romans setzt ein mit der Ankunft der Operntruppe, die zu einer stagione, der ersten seit undenkbaren Zeiten, verpflichtet wurde. Dieses künstlerische und gesellschaftliche Ereignis setzt nicht nur die bisher aus Mangel an Gelegenheit unterdrückten Gefühle und Triebe frei, sondern bringt auch den unterirdisch geführten Kampf der beiden Parteien offen zum Ausbruch. Die Fortschrittler unter der Führung des flotten und leicht begeisterten Advokaten Belotti nehmen sich der Kunst und der ihr fröhnenden Individuen an, eine Haltung, der sich die um den Priester Don Taddeo geschalten Konservativen widersetzen. 7
Weisstein, Heinrich Mann
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Zwar wird Don Taddeos Streitmacht in einer Schlacht auf dem Marktplatz in die Flucht geschlagen; doch wird ihr durch ein auf unerklärliche Weise ausgebrochenes Feuer, das nur mit vereinten Kräften am Übergreifen auf benachbarte Häuser gehindert werden kann, eine Atempause vergönnt. Wegen ihrer umstürzlerischen Ansichten werden die Fortschrittler für den Brand verantwortlich gemacht; und es sieht so aus, als ob Belotti und sein Schützling, der Tenor Nello, ein übles Ende nehmen würden. Aber als Don Taddeo sich in das brennende Gasthaus stürzt, um die dort logierende Primadonna zu retten, und die Frau des Wirts in einem kompromittierenden t£te-ä-tSte mit dem Don Juan des Städtchens betroffen wird, wendet sich das Blatt. Haß und Eifersucht verwandeln sich in Mitleid und Spott. Der Friede wird endlich wiederhergestellt, und Don Taddeo ruft von der Kanzel zur Versöhnung auf. Als die Operntruppe nach Beendigung der stagione den Ort verläßt, gibt ihr die Bevölkerung das Geleit, gleichsam als wolle sie ihrer eigenen Narrheit Adieu sagen. Dann kehrt in der kleinen Stadt wieder die gewohnte Ruhe ein; und diejenigen ihrer Bewohner, die sich nicht mehr dareinfindenkönnen, müssen ihr Glück anderswo versuchen. Dieses kurze Zwischenspiel bürgerlicher Größe, das Heinrich Mann in den Mittelpunkt seines Werkes stellt, erweist sich durch die Beschleunigung des Pulsschlags als ein allegro con brio, das das geruhsame moderate cantabile ablöst, aber wieder in es zurückführt. Die allmähliche Steigerung des Tempos kommt in den einzelnen Abschnitten der Handlung markant zum Ausdruck. Dramaturgischer Praxis folgend unterteilt Heinrich Mann den Roman in fünf Kapitel, deren jedes in einem gewichtigen Ereignis zentriert ist. Das erste Kapitel behandelt die Ankunft der Sänger, das zweite die Probe, das dritte die Aufführung der Oper, das vierte die Kampfhandlungen des Bürgerkrieges. Im letzten Kapitel jedoch läßt uns der Autor keine Zeit zum Atemholen; denn hier schildert er der Reihe nach das Feuer, die Predigt, die Versöhnung und den Auszug der Artisten. Auch wird das happy end durch ein ernstes Nachspiel, das im Tod der Liebenden Nello und Alba ausklingt, unsanft gestört. Die ersten zwei Kapitel der Kleinen Stadt umfassen einen Zeitraum von einem Tag, während sich die Handlung der restlichen drei in etwa vier Wochen abspielt. In einem Monat also wird ein voller Kreis von Ereignissen durchlaufen. Wie sich aus einem offenen Schreiben des Verfassers an die Rezensentin Lucia Dora Frost ergibt, war sich Heinrich Mann der Schwierigkeiten, die aus dieser Verdichtung 98
zwangsläufig entstehen, vollauf bewußt, hatte er es doch unternommen, „einen Vorgang von hundert Jahren in wenige Tage zu drängen". Der Vorgang, der hier gemeint ist, ist die Demokratisierung eines Volkes und der damit verbundene Reifeprozeß in den Individuen, aus denen es sich zusammensetzt. Obzwar Heinrich Mann der Ansicht war, daß die Italiener das geeignetste Objekt zur Illustrierung eines solchen Prozesses abgäben, entbrach er sich nicht, an anderer Stelle der Gefahr zu gedenken, die dem „kräftigen Fluidum dieser öffentlichen Meinung, kraft dessen in Italien kein fremder Revolutionär ausgeliefert werden kann und der Verbrecher aus Leidenschaft Nachsicht findet" innewohnt. In zwei mit einem damals in Italien stattfindenden und in ganz Europa Aufsehen erregenden Mordprozeß befaßten Aufsätzen übte er strenge Kritik an der „verführten Menge, die sich einem Taumel stupider Grausamkeit hingibt, dessen Aufhören eine Erleichterung wäre für alle, die auf Menschlichkeit noch hoffen" ·. Bei einer kritischen Auseinandersetzung mit der Kleinen Stadt handelt es sich hauptsächlich darum, der meisterlich durchgeführten Verquickung von Kunst, Liebe und Politik auf den Grund zu kommen. Der Verfasser erleichtert uns diese Aufgabe bedeutend, indem er das dritte Kapitel des Romans so anlegt, daß darin die theatralische Handlung als Spiegel des Lebens dient. Der theaterbegeisterte Heinrich Mann war stets versucht, Schauspieler und Sänger bei der Ausübung ihres Berufs zu belauschen; doch hatte er es vor der Kleinen Stadt noch nie unternommen, das Spiel im Spiel als eigentlich „handlungsbildendes Mittel" 7 zu verwenden, wie das Goethe im Wilhelm Meister tut. Ehe wir uns mit Heinrich Manns Kompositionsweise befassen, ist es angebracht, die kulturhistorische Perspektive anzudeuten, unter der das im Kernstück der Kleinen Stadt zur Aufführung kommende lyrische Drama, das eine Art Kontrastharmonie mit der Handlung des Romanes erzeugt, zu betrachten ist. Nachdem er die Funktion dieser Aufführung und der Proben, die ihr vorausgehen, im Gesamtgefüge seines Werks bestimmt hatte, sah sich der Verfasser vor die Aufgabe gestellt, eine für seine Zwecke geeignete Oper zu finden oder zu erfinden. Im Zeitalter (S. 304ff.) ist davon die Rede, daß Manns „geistige Liebe" vor allem Giacomo Puccini galt, mit dessen Musik er in Florenz bekannt geworden war. In Puccini sah er „den Urheber nicht nur des leidenschaftlichen Gesanges, sondern auch des gehobenen Gefühles seiner Mitwelt" 8 . Anschließend schlägt er eine 7·
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Brücke zwischen dieser Einsicht und der Handlung seines musikalischsten R o m a n e s : Es ist folgenreich, eine einzige „kleine Stadt" singend zu machen: in meinem so benannten Roman tut es der Dirigent Enrico Dorlenghi. Der Maestro Puccini hat es für eine Welt getan, bevor ihr aller Gesang verging. Mein junger Kapellmeister, seine glühende Sehnsucht, Musik für ein ganzes Volk zu machen, ist meine Anschauung des werdenden Puccini: meinen Roman hätte ich sonst nicht geschrieben. I m Hinblick auf dieses musikalische Glaubensbekenntnis stände zu erwarten, daß die Arme Tonietta (so heißt die v o n Heinrich Mann in die Kleine Stadt eingebaute Oper) dem Stil der frühen Meisterwerke Puccinis, Manon Lescaut (1893) oder La Bohime (1896), angepaßt sein werde. D a s ist aber nicht der Fall. Wie ein handschriftlich skizzierter und nun im Berliner Heinrich-Mann-Archiv befindlicher Entwurf zeigt, verband der Dichter die Puccinischen Lyrismen v o n A n f a n g an mit gewissen, ihm durch seine Lektüre vertrauten veristischen E l e menten. Anscheinend widerlegt also seine Praxis die Behauptung (Zeitalter, S. 309), daß Puccinis Haltung und der Stil seiner Personen „ i n das Alltägliche nicht einbezogen werden dürfen". Im folgenden wollen wir den Versuch machen, diesen Widerspruch zu erklären. Historisch gesehen kommt der Verismus vor allem in zwei K u n s t arten zur Erscheinung: in der Literatur, w o er durch Giovanni Vergas sizilianische Geschichten mustergültig vertreten ist, und in der Oper, besonders in Mascagnis Cavalleria Rusticana (1890), die auf einer Vergaschen Erzählung beruht, und Leoncavallos Bajazzo v o m Jahre 1892. D a s Ausmaß veristischer Gestaltung in beiden Genres hängt natürlich v o n den ihnen inhärenten Möglichkeiten ab. Der literarische Verismus verwendet nach G r o u t ( a . a . O . , B d . I I , S.436) „scenes and characters f r o m c o m m o n life in the presentation of a vivid plot designed to arouse sensations by violent contrasts, to paint a crosssection of life without concerning itself with any general significance the action might h a v e " . D i e veristische Oper gibt dem einen lyrischen Impuls „ b y simply and directly expressing intense passion through melodic or declamatory phrases", wodurch bewirkt wird, daß „ t h e moments of excitement follow each other in swift climactic succession" (ebd., S.436). D i e veristische Phase der Operngeschichte war v o n kurzer Dauer, wohl hauptsächlich deswegen, weil der Stil vorschreibt, apodiktisch zu sein (Mascagnis und Leoncavallos oben genannte Werke sind Einakter) und auf die volle Entfaltung des lyrischen
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Gefühls - Stendhals „cristallisation" - zu verzichten. So erklärt sich Puccinis baldige Rückwendung zu einer traditionsgebundeneren Form der Oper. Es bleibt zu zeigen, wie Heinrich Mann den Verismus der Skizze in der endgültigen, in den Roman eingekapselten Fassung abdämpfte und wie er ihn in einer späteren Novelle® verschärfte. Der handschriftliche Entwurf zur Armen Tonietta läßt auf eine Oper in drei Akten von sieben, fünf und zwei Auftritten (nicht Szenen) schließen. Die Einheit der Handlung in jedem Akt ist, wie sich aus den am Rande der Blätter skizzierten Bühnenbildern ergibt, durchaus gewahrt. Die konventionelle Art der Oper erhellt auch aus der orthodoxen Verteilung von Dialog und Gesangsnummern, denen hier mehr Raum gegönnt wird, als es Veristen genehm wäre. Daß Heinrich Mann in der Kleinen Stadt dem Verismus skeptisch gegenüber steht, ergibt sich aus einer Reihe von Bemerkungen, die wohl seine eigene Meinung wiedergeben10. Da die in der Skizze angedeutete Handlung und deren endgültige Gestaltung im Roman nahezu identisch sind (auf Unterschiede im Detail kommt es in diesem Zusammenhang nicht an), mag ein kurzer Aufriß dazu dienen, die eigentliche Analyse vorzubereiten. Der heißblütige Piero glaubt, daß ihn seine junge Frau mit dem Baron Tancredi betrogen habe, und verstößt sie, obwohl sie ihre Unschuld beteuert. Da Toniettas Vater seine Tochter nicht wieder zu sich nehmen will, sieht sich letztere dazu gezwungen, ihr Brot als Dirne zu verdienen. Bald darauf ändert aber Piero seine Meinung, ohne daß die Gründe für seinen Gesinnungswechsel angegeben werden. (Die Oper befaßt sich bekanntlich mehr mit Wirkungen, d.h. Manifestationen von Gefühlen, als mit Ursachen; und der Verismus verabscheut das Fixieren von Schuld und Verantwortung.) Eine Zeitlang leben Piero und Tonietta erneut in Frieden miteinander. Doch am Ende reizt Pieros Eifersucht sein Weib dazu, mit dem Baron zu flirten und zu entlaufen. Piero ertappt die beiden auf der Flucht und tötet die Ungetreue und ihren Entführer. In der Skizze betont Heinrich Mann noch das sprachliche und bildliche Element, gerade so wie er dem Geist des Dramas durch eine rhythmische Folge von Monologen, Dialogen und Chören gerecht wird. Freilich sind nur verhältnismäßig wenige Nummern ausdrücklich als geschlossen bezeichnet11, während bei anderen nur ihre endgültige Fassung im Roman auf solche Eigenart schließen läßt18. Noch sind keine Vorkehrungen für die musikalischen Übergänge, die die melodramatische Kontinuität der Handlung sichern, getroffen, und 101
es läßt sich nicht sagen, wo und in welchem Umfang rein instrumentale Stücke zu Gehör kommen sollen. Ein Hinweis auf derartige Stellen an Punkten, wo die Gefühle zu übermächtig geworden sind, um in Worten Ausdruck zu finden, wird lediglich durch beschreibende Andeutungen wie „engelhaft", „selig wie Engel auf Wolken" und „e proprio divino" gegeben18. Im Roman Die kleine Stadt ist der Verlauf der Opernhandlung mit weitaus größerer Präzision bezeichnet. Dort wird die musikalische Stimmung so geschickt umschrieben, daß man glaubt, einer Aufführung im Theater beizuwohnen. Die einzelnen Abschnitte des Geschehens sind durch ansprechende musikalische Zwischenspiele und Überleitungen miteinander verbunden. Ein lautmalerisches Harfensolo im ersten Akt (AW III, S. 160) beschwört die MondscheinStimmung, die die erste Begegnung von Piero und Tonietta überweht, ein kurzes programmatisches Tongedicht (ebd., S.164) deutet auf die leidenschaftliche Vereinigung der Neuvermählten, und ein Zwischenspiel ersetzt die Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt. An einzelnen Höhepunkten der Armen Tonietta gibt die vom Verfasser vorgefühlte Musik der Handlung eine größere Tragweite, indem widersprechende Gefühle, die im Räume gleichzeitig nebeneinander stehen, auch gleichzeitig (nämlich kontrapunktisch) projeziert werden. Dadurch wird die Handlung der Oper im Roman viel plastischer und gedrängter, als dies in einem Schauspiel oder einer Erzählung möglich wäre. Ein Beispiel dieser Technik findet sich in der Mitte des ersten Aktes, wo Pieros „drohende und schmerzvolle Töne" (Ausdruck seiner Trauer und wilden Enttäuschung) teils intensiviert und teils ironisch gebrochen werden: Der Hochzeitszug kehrte zwischen den Feldern ins Dorf zurück, wo es Abend läutete; ihm voran ward, wenn die Glocken schwiegen, die Flöte der Pifferari laut, die unsichtbar in der Ferne, als sei es Traum und Neckerei, eben die Weise bliesen, in der, groß im Vordergrunde, die Leidenschaft des Liebenden tobte (AW III, S.156).
Diese Schilderung bezeugt zugleich Heinrich Manns intime Vertrautheit mit den Konventionen der Oper und seinen Instinkt für melo-dramaturgische Effekte. Von besonderem Interesse ist die Art, wie Mann die Handlung der Oper mit der des Romanes verknüpft. Das opernhafte Geschehen wird nämlich keineswegs mittels einer fortlaufenden Erzählung geschildert, sondern teils von den Sängern selbst, teils direkt oder in-
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direkt von den Zuschauern referiert. Der damit gegebene Blickpunktwechsel hält den Leser, dem Wunsche des Autors gemäß, davon ab, sich mit der Oper nur um ihrer selbst willen zu beschäftigen. Verschiedene Gesangsnummern lernen wir zum Beispiel auf der Probe kennen14, und Teile des zweiten Akts werden während der Pause von Italia Molesin und dem Cavaliere Giordano auszugsweise zur Darstellung gebracht. Dabei ist Giordanos Vortrag von schmerzlicher Ironie durchtränkt, indem gezeigt wird, daß der alternde Sänger seinen Ruhm überlebt hat und sich nun mit der Rolle eines römischen Bettlers bescheiden muß. Der Rest der Handlung muß aus verstreuten Hinweisen des Publikums mühselig zusammengestückt werden. Bei diesen handelt es sich meistens um spontane, empathische Beifalls- oder Mißfallensäußerungen, wie sie in italienischen Theatern üblich sind. Da die Vorgänge auf der Bühne eine Vielzahl der verschiedenartigsten Grundstimmungen ergeben, ist die Parallele zum wirklichen Leben eine vielfache. So zeigt sich etwa, daß der Baron Tancredi, der „Schurke" des Stücks, mit dem prominentesten Bürger der kleinen Stadt gar manches gemeinsam hat15. Freilich ändert sich die Auffassung Tancredis in der Novelle. „Diese Dinge . . . haben uns tiefer bewegt als eine Liebestragödie in unserm Dorf, unter unsern Fenstern. Was macht diese Dinge groß ?" fragt der blinde Dichter am Ende der Vorstellung. Und seine Frau Beatrice erwidert: „Daß ein Volk sie mitfühlt." Diese Auffassung wird geteilt von Enrico Dorlenghi, dem Sprachrohr des Verfassers, der folgendes Urteil abgibt: Ich habe also ein Volk gesehen! Das Volk, für das der Maestro Viviani seine Oper geschrieben hat. Ich wußte es, wir seien nicht allein; ein Volk höre uns. Wir wecken seine Seele, wir . . . Und es gibt sie uns . . . Es erfindet für uns, dies Volk, es fühlt und tönt in uns. In der Musik der Armen Tonietta hat es seinen eigenen Tonfall wiedererkannt, seine Gesten, sein Tempo . . . Die singenden Gestalten waren stärker und reiner als sie, und doch sie selbst. Da waren sie glücklich, Menschen zu sein. Sie liebten einander (AW III, S.209)14.
Die enge Verzahnung von Wahrheit und Dichtung in der Kleinen Stadt zwingt uns, auf die Haltung Nellos, der seine Liebe zu Alba der Tochter eines Adligen, die gezwungen werden soll, ins Kloster zu gehen - analog zu Pieros Liebe sieht, näher einzugehen. Im Gegensatz zur Primadonna Flora Garlinda vermag Nello die beiden Sphären 103
nämlich nicht zu trennen. Seine lyrisch exaltierte Liebe macht ihn wehrlos gegen die Machenschaften der Frau Camuzzi, die sich für seine Gleichgültigkeit ihr gegenüber rächen will. Das rein MeloDramatische, Immaterielle seiner Liebe erlaubt es dem Verfasser, dieselbe musikalisch auszuwerten. So wird Der arme Nello ein der Wirklichkeit verhaftetes Gegenstück zur Armen Tonietta. Da Heinrich Mann im Roman auf eine Behandlung des sozialen Aspektes, die der Grundstimmung der Kleinen Stadt zuwiderliefe, verzichtete, war er versucht, den gleichen Stoff noch einmal aufzugreifen. Von „Enttäuschung" (1906) bis zur anekdotischen Folge „Vermischtes aus der Zeitung" (1917) zeigt sein erzählerisches Werk eine unverkennbare Neigung zum Theatralischen, sei es in der subtilen Auffassung Guy de Maupassants oder in der wilden, lyrisch intensiven Giovanni Vergas - dessen Name in Heinrich Manns kritischen Schriften kein einziges Mal erwähnt wird, obwohl er bei der Zweitfassung der Armen Tonietta Pate gestanden hat. Der erste Abschnitt der mit der Oper gleichnamigen Novelle deckt sich handlungsmäßig fast völlig mit dem ersten Akt. Allerdings fällt auch hier schon die übermäßige Betonung des Materiellen ins Auge. Matteo - der Piero der Novelle - ist ein Bursche, der, wie das bei Verga wiederholt der Fall ist, nach abgeleisteter Wehrpflicht in sein Heimatdorf zurückkehrt; die an Tonietta vorgenommene Unschuldsprobe ist rein physischer Natur und die Auseinandersetzung zwischen den Liebenden hat nichts romantisches17. Die Abweichung von der Opernhandlung gewinnt erst im zweiten Abschnitt entscheidende Bedeutung, wo Matteo statt Toniettas im Mittelpunkt des Geschehens steht. Das Schicksal des Mädchens wird fast beiläufig erwähnt, während sich das Hauptaugenmerk auf den Konflikt des Barons mit Matteo, auf ihre Sauferei und den viehischen Mord, auf den sie hinausläuft, richtet. Matteos einziges Motiv zur Tat ist Eifersucht. Die Tat selbst hat nichts von Größe; und selbst von einem crime de passion kann bei ihr kaum noch die Rede sein. Musikalisch ließe sich diese Schlußphase der Novelle am besten durch Dissonanzen schildern (wovor freilich auch die Veristen zurückschreckten). Besonders gegen Ende der Erzählung hat sich Heinrich Mann mit Erfolg bemüht, die Sprache der Art des Geschehens anzupassen: Matteo fiel über Tancredi her und rüttelte. - „Auf, Euer Pferd ist fortgelaufen." „Laß es laufen", grunzte der Tancredi und wälzte sich auf die andere Seite. Matteo keuchte. Er hielt sich die Ohren zu, weil
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er wilde Stimmen hörte. Die Augen voll Blut, sah er in den Armen des Tancredi Tonietta. Der Tancredi wälzte sich über sie. Matteo konnte nicht rasch genug in die Hosentasche fahren - und endlich stieß er zu - welche Erlösung - stieß zu, stieß zu (AW VIII, S.166). Dieser Stilvergleich zwischen der Oper im Roman und der selbständig konzipierten Novelle diene als Beweis für das ungewöhnlich entwickelte Stilgefühl des Dichters. Wüßten wir nicht aus anderer Quelle, daß ihm die lyrisch-musikalische Stillage besser zusagte als die veristische, so ließe sich kaum sagen, welche Fassung der Armen Tonietta ihm kongenialer war. Denjenigen Leser der Kleinen Stadt, dem die südländische Mentalität fremd ist, mag es verwundern, daß in diesem Roman die Sphäre des Privat fast völlig ausgeschaltet ist. Der Eingeweihte freilich weiß, daß in Italien jede Handlung Schauspiel ist oder doch zumindest werden kann. Die Heftigkeit des Temperaments der Italiener macht Gefühlsausbrüche zur Regel. Da dieselben aber zumeist spontan sind, bleiben sie im allgemeinen ohne Folgen. Außerdem wechselt auch die Stimmung rasch von einem Extrem zum anderen, sodaß wer heute volkstümlich ist, morgen zum Sündenbock gestempelt wird und umgekehrt: „Die Menschen können nicht lange böse sein, das Leben ist zu gut. Den Advokaten wollten sie auf die Galeere schicken. Jetzt lachen sie, und er lacht mit ihnen" (AW III, S. 332). Politisch ist diese Unbeständigkeit teils nützlich und teils schädlich. Sie ist nützlich insofern, als eine systematische Vergiftung der öffentlichen Meinung schwer möglich ist (daher Savezzos Versagen), schädlich aus dem einfachen Grunde, weil selbst der erklärte Liebling des Volkes unverschuldet zum Opfer dieser Meinung werden kann (daher Belottis Zerreißprobe). Im Italien der Kleinen Stadt ist das Volk im wahrsten Sinn des Wortes mobile; und der Impuls, der die Gefühle des Einzelnen freilegt, untergräbt zugleich die öffentliche Moral. Statt die Sache der Freiheit zu fördern, redet Belotti einem von ihm als freie Menschlichkeit bezeichneten Libertinismus das Wort. Die Schreckensherrschaft des Mobs ist zum Glück nur von kurzer Dauer; denn sobald dieser sich seines Führers beraubt sieht, löst er sich von selbst in seine Bestandteile auf. Und da die Bewohner der kleinen Stadt als Einzelwesen nicht fanatisch sind, geht die Gefahr der Anarchie vorüber. Nur unter Hinweis auf dieses mobile konnte Heinrich Mann es wagen, sein Thema sanft und ironisch anzupacken statt es satirisch 105
zu behandeln. Im Mikrokosmos der Kleinen Stadt (wie in dem des Professor Unrat) wäre eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung nur dann zu befürchten, wenn die chaotischen Zustände zu unwiderruflichen Handlungen führten. Aber dazu kommt es verständlicherweise nicht. Selbst im Taumel der Leidenschaft vergessen die Individuen nie, daß auch die gegnerische Partei sich aus Verwandten und Nachbarn zusammensetzt (in der Kleinstadt sind alle Nachbarn). Wo solche Erkenntnis dämmert, wird vieles verzeihlich, und die menschliche Schwäche darf im milden Lichte erscheinen. Die Hauptfigur des Romans ist ein Tyrann, wenn auch ein gutgelaunter, Ferruccio Belotti, „der lächerliche kleine Advokat, der aus Liebe zu einer lächerlichen kleinen Stadt eine Art Held wird" 18 . Falstaff und Garibaldi, Doktor Bartolo und Napoleon in einem, gefällt er sich in der Tripelrolle des Mäzens, Verführers und öffentlichen Wohltäters. Die sich aus dieser Rolle ergebenden Widersprüche liefern die Erklärung für das Maß an Zweideutigkeit, das diesem Charakter innewohnt. Seine Voreingenommenheit kommt darin zum Ausdruck, daß er um seiner Liebe zu Flora Garlinda willen einer falschen Meinung über die Opernaufführung öffentlich Ausdruck gibt. Aber trotz dieses Schönheitsfehlers bleibt er uns sympathisch, da er im Grunde ein goldenes Herz besitzt, das selbst seine Gegner entwaffnet. Als echter Lokalpatriot, dessen Macht auf persönlichem Charme beruht, wäre er im Parlament, in das ihn seine Freunde (scherzeshalber ?) wählen lassen wollen, fehl am Platze. Der Priester Don Taddeo, Belottis Gegenspieler, hat es nicht leicht, gegen diesen aufzukommen, handelt es sich doch bei Leuten seines Schlages um einen Typus, wie er in der italienischen Literatur von Boccaccio bis Giovanni Guareschi nur zu geläufig ist. Taddeo entwickelt sich eigentlich nie recht zum Charakter. Seine religiöser Fanatismus macht ihn lächerlich und furchtbar zugleich: ein kleiner Savonarola, der seine Wut an Kindern ausläßt. Von Fleischeslust getrieben, legt er Feuer an das Gasthaus, in dem Flora Garlinda wohnt. Die nachher öffentlich von ihm ausgesprochene Reue ist viel zu zweideutig, um ernst genommen zu werden; doch verstärkt sie seinen Ruf der Heiligkeit. Der erbitterte Kampf der beiden Parteien wird von dem politisch neutralen Gemeindesekretär Camuzzi mit Gleichmut verfolgt. Er, der Belottis Idealismus von Anfang an mißtraute („Ich glaube nicht, daß bei uns irgend etwas geschieht oder geschehen kann"), erlebt in der Tat die Rückkehr zum status quo. 106
Während sowohl Belotti als auch Camuzzi und Don Taddeo ausschließlich mit Fragen von örtlichem Interesse befaßt sind, ist dies bei zwei anderen Gestalten der Kleinen Stadt leider nicht der Fall. Deren böser Geist treibt sie dazu, Befriedigung ihres Ehrgeizes fern von den heimischen Gefilden zu suchen. Es handelt sich um Frau Camuzzi und den jungen Savezzo, denen wir in der Novelle „Die Ehrgeizige" wiederbegegnen. Frau Camuzzi ist dem Cavaliere Giordano nach Florenz gefolgt, hat ihn aber bald verlassen, um in Rom ihr Glück zu machen. Dort schließt sie sich an einen einflußreichen Politiker an und erwirbt in kurzer Zeit selbst so viel Macht, „daß man den jungen Leuten, die regelmäßig bei ihr dinierten, die Laufbahn des Abgeordneten, denen, die noch weiter bei ihr vordrangen, einen Ministerposten prophezeite". Am Ziel ihrer Wünsche angelangt, verliebt sie sich in einen Jüngling, der dem Tenor Nello, von dem sie verschmäht ward, in vielem ähnlich ist. Auch er spottet aber ihrer Liebe. So tröstet sie sich mit der Einsicht, daß in „dieser harten Welt jeder allein und gegen alle stehen muß" und daß nur der Enttäuschungen erlebt, der gut ist und ein Herz hat. Nachdem sein Versuch, Belotti zu entthronen, gescheitert ist, entschließt sich Savezzo, Frau Camuzzis Mithelfer, es mit dem Journalismus zu versuchen. Feige wie er ist, wendet er sich mit Hilfe der Revolverpresse gegen die bestehende Gesellschaft. Auch er kommt zum Ergebnis, daß Rücksichtslosigkeit allein zum Siege verhilft. Das Schicksal der Primadonna Flora Garlinda erweist sich als eine Variante des von Heinrich Mann immer wieder aufgegriffenen Themas Bühnenkünstlerin. Wie die Branzilla hängt auch sie fanatisch an ihrem Beruf und glaubt, diesem ihr frauliches Dasein opfern zu müssen. Gerade so wie erstere jedes Hindernis brutal aus dem Wege räumt, beschließt die Garlinda, die Laufbahn des Kapellmeisters Enrico Dorlenghi, der ihr ein Encore verweigerte, zu unterbinden. Indem sie sich häßlich macht und das lieblose und liebeleere Weib spielt, glaubt sie vergessen zu können, daß auch sie ein Mensch ist. Was die Figur des Enrico Dorlenghi betrifft, so war sie es, um derentwillen Heinrich Mann den Roman Die Kleine Stadt verfaßte. Leider aber entspricht seine Haltung durchaus nicht immer den an ihn zu stellenden Erwartungen. Während nämlich die Garlinda ihren persönlichen Ehrgeiz stets ganz in den Dienst des Werkes, das zu interpretieren sie berufen ist, stellt, verstößt Dorlenghi gröblich gegen den Geist der Kunst, die anzubeten er vorgibt. Seines künftigen Ruhmes eingedenk, weigert er sich, bei der Löschung des Brandes 107
mit Hand anzulegen: „Sollte ich, um einen Spritzenwagen herauszuziehen, meine Messe verbrennen lassen und meine Oper ?" Wollte Heinrich Mann wirklich zum Ausdruck bringen, daß ein Genie hier das Ebenbild des jungen Puccini - um seiner gehobenen Gefühle willen seine Pflichten der Gesellschaft gegenüber vernachlässigen darf? Denn daß er Kritik an Dorlenghi üben wollte, ist bei der gegebenen Sachlage nicht wahrscheinlich. So reich an Widersprüchen und Unstimmigkeiten Die Kleine Stadt auch sein mag, sie, die Gottfried Benn einmal „die nächste große Dichtung nach Penthesilea"19 nannte, ist ein wichtiges Glied in der Kette der Mannschen Romane und, wie Professor Unrat, ein Meisterwerk der deutschen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
ANMERKUNGEN Sechstes
Kapitel
Aus den einführenden Worten zu einer Sonderausgabe des Essays Voltaire - Goethe. Siehe A W III, S.414. 1 Die Zukunft vom 22. Januar 1910. Heinrich Manns Antwort erschien in der Ausgabe vom 19. Februar des gleichen Jahres. * Die Zusammenhänge zwischen der Kleinen Stadt und Madame Bovary wären des näheren zu untersuchen. In einem mit M. gezeichneten Beitrag über das Plagiat {Das zwanzigste fahrhundert, VI, 2, S. 371 ff.) sagt Heinrich Mann von Flauberts Roman, er nehme eine Sonderstellung in der europäischen Literatur dieser zweiten Jahrhunderthälfte ein, die es zweifelhaft mache, ob an ihm ein Plagiat zu begehen überhaupt noch möglich sei; denn er stehe „für die heutige Betrachtung gewissermaßen an der Kreuzung, von wo der naturalistische Roman nach einer Seite, der analysierende nach der anderen ablenken". 4 „Wenn ich mir die Ehre beimessen darf, habe ich an dem berühmten Buch meinen Anteil gehabt; einfach als Sohn desselben Hauses, der auch etwas beitragen konnte zu dem gegebenen Stoff" (Zeitalter, S.233). Viktor Mann bezieht sich (Wir waren f ü n f , S.49) auf die „literarische Anekdote, die Buddenbrooks . . . seien eigentlich als Gemeinschaftswerk ä la freres Goncourt geplant gewesen. Heinrich, so hieß es, sollte das Familienhistorische gestalten, den Aufbau und Anstieg also, und Thomas wären die letzten Akte, der Verfall, geblieben." • Siehe besonders die Verwandlung von Ferruccio und Galileo Belotti in die Brüder Ercolano und Alfonso Manardi (Thomas Mann, Gesammelte Werke, Berlin, 1956, Bd. VI, S.289). 1
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Beide Zitate aus dem Essay „Tullio und Linda" {Die neue Gesellschaft, 11/14 [1906], S.164f.). Ein längerer Aufsatz über das gleiche Thema erschien unter dem Titel „Der Fall Murri" in der Zukunft vom 5. Mai 1906. Alfred Kantorowicz in AW III, S.424. Donald Grout (Α Short History of Opera; New York: Oxford University Press, 1947, Bd.II, S.437) charakterisiert Puccinis Musik durch die Formel „intense, concentrated, melting expressiveness in the vocal melodic line". „Die arme Tonietta". Die Novelle wurde zuerst im Band Das Herz (Leipzig: Insel-Verlag, 1908) veröffentlicht. Sie erscheint im achten Band der Ausgewählten Werke. „Aber solche Sachen singt man nicht, zum Teufel" (AW III, S.166); „In diesen neuen Opern ist nun einmal alles schlecht und traurig" (ebd., S.175); „Es ist eine klägliche Geschichte" (ebd., S.176). Pieros Arie „Ich bin betrogen" und das Duett „Wir sind allein" im ersten, Tancredis brindisi und die Wiederholung des Duetts im zweiten Akt. Geronimos Arie „Geht zu Bett, meine Kinder" im ersten, die Arie des Bettlers „Da ich sehe, daß ihr Liebende seid" im zweiten und Tancredis Arie „Ich bin nicht eifersüchtig" im dritten Akt. Der Ausdruck „e proprio divino" erscheint auch auf S.307 der Autobiographie, wo er einem Tosca-Enthusiasten in den Mund gelegt wird, das deutsche Gegenstück („das ist geradezu göttlich") dazu auf S.162 des Romans. Vom „Engel" Garibaldi spricht der blinde Dichter Ortensi auf S.162 und 199 - ein weiterer Hinweis auf die von Heinrich Mann beabsichtigte Politisierung der Kleinen Stadt. „Seid fruchtbar, meine Kinder", „Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus" und mehrere andere Melismen. Vergleiche S. 166 des Romans mit S. 225, wo Torroni behauptet, Tonietta „gehöre ihm, er sei ein Herr". In „Der Fall Murri" {Die Zukunft, LV/31 [1906], S. 61-68) führt Heinrich Mann weiter aus: Die großen Italiener waren selten Genies, nur durch Zeitumstände gesteigerte Talente. Ihr Volk sieht zu ihnen nicht auf . . . es verkehrt mit ihnen auf gleichem Fuß und ohne Phrase . . . Wo die Musik am höchsten reicht, findet sie doch noch auf die Lippen eines Gipsfigurenjungen, spricht noch immer aus, was er für seine Liebste fühlt . . . Nordländer mißverstehen das italienische Theater, wenn sie glauben, wie daheim in einen Kunsttempel zu treten, wenn sie am Klatschen und „Bis"-Geheul sich ärgen wollen und Verachtung fassen für das unfeierliche Gebaren des Volkes, für den Mangel an Selbstentäußerung der Darsteller. Denn dies ist Straße. Noch immer wird hier unter freiem Himmel gespielt. Die vergoldete Decke täuscht, in Wirklichkeit ist dies Straße.
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" Siehe die Stelle: „Er schleifte sie weiter. Auf der Mitte des Hügels klammerte sie sich an eine große Wurzel und war nicht loszubringen... Zuletzt zerschnitt er die Wurzel, und so mußte sie mit" (AW VIII, S.158f.). 11 Aus Heinrich Manns Antwortschreiben an Lucia Dora Frost a.a.O. w Zitiert von Walter Hegemann in seinem Aufsatz „Heinrich Mann? Hitler? Gottfried Benn? Oder Goethe?" in Das Tagebuch, XII (1931), S. 580ff.
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SIEBENTES KAPITEL
D I E KAISERREICH-TRILOGIE
A n einer Stelle seiner Lebensbeschreibung, die sich auf den sensationellen Erfolg des satirischen Romans Der Untertan bezieht, weist Heinrich Mann auf die ideologische Verwandtschaft dieses Werkes mit Zwischen den Rassen hin: Den Roman des bürgerlichen Deutschen unter der Regierung Wilhelms II. dokumentierte ich seit 1906. Beendet habe ich die Handschrift 1914, zwei Monate vor Ausbruch des Krieges, der in dem Buche nahe und unausweichlich erscheint. Auch die deutsche Niederlage. Der Faschismus gleichfalls schon: wenn man die Gestalt des .Untertan' nachträglich betrachtet. Als ich sie aufstellte, fehlte mir von dem ungeborenen Faschismus der Begriff, und nur die Anschauung nicht 1 . Die im obigen Zitat erwähnte Dokumentation setzte ein mit einem Zwischenfall, dessen Zeuge Heinrich Mann während seines Berliner Aufenthaltes war und den er später in die Streikszenen seines Romans einbezog: 1906 in einem Cafd Unter den Linden betrachtete ich die gedrängte Menge bürgerlichen Publikums. Ich fand sie laut ohne Würde, ihre herausfordernden Manieren verrieten mir ihre geheime Feigheit. Sie stürzten massig an die breiten Fensterscheiben, als draußen der Kaiser r i t t . . . Ein Arbeiter wurde aus dem Lokal verwiesen. Ihm war der absonderliche Einfall gekommen, als könnte auch er, für dasselbe billige Geld wie die anders Gekleideten, hier seinen Kaffee genießen . . . Obwohl der Mann keine Gegenwehr leistete, fanden der Geschäftsführer und die Kellner lange ihr Genüge nicht, bis der peinliche Ζ wir schenfall aus der Welt war 1 . Schon im folgenden Jahr verfaßte Heinrich Mann die satirische Novelle „Gretchen", die im ersten Heft des Hyperion zur Veröffentlichung kam. In dieser Erzählung tritt Diederich Hessling als bürgerlich satter Vater eines Mädchens auf, das mit Fausts Liebchen außer dem Namen nichts gemein hat8. Nichts in Hesslings Wesen und
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Stellung deutet an, daß er einst als Fabrikant und Politiker eine Macht darstellte. Im Gegenteil: der Hessling der Novelle ist ein Spießer, wie er im Buche steht, ein mitunter sich tyrannisch gebärdender Familienvater, der leicht hinters Licht zu führen ist. Außer dem des künftigen ,Untertanen' erwähnt die Novelle manche Namen, die im Roman wiederkehren - wie Buck, Zillich, Fritzsche, Harnisch und von Haffke. Auch sind viele der Hesslingschen Ticks und Eigenheiten von einem Werk ins andere übernommen 4 . So war also Heinrich Mann zu einer Zeit, da er Die Kleine Stadt schrieb, schon aktiv mit den Plänen für sein satirisches Hauptwerk befaßt. Zu welchem Zeitpunkt der älteste Sohn des Lübecker Senators sich ernsthaft für Politik zu interessieren begann, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Es geschah jedenfalls schon lange vor 1910, als er sich offen dem Aktivismus zuwandte. Politisch zu denken begann Heinrich Mann spätestens im Berlin der neunziger Jahre, wie das nicht nur aus den weltanschaulichen Aspekten des Schlaraffenlands, sondern deutlicher noch aus seiner publizistischen Tätigkeit im Rahmen der „Deutsch-Nationalen Monatshefte für sociales Leben, Politik, Wissenschaft, Kunst und Litteratur" Das zwanzigste Jahrhundert hervorgeht. Nichts beweist schlagkräftiger den erstaunlichen Gesinnungswandel, den Mann zwischen 1895 und 1910 durchmachte, als die Tatsache, daß ganze Teile der von ihm ein Jahr lang redigierten Zeitschrift ohne Bruchstelle satirisch in den Untertan übernommen werden könnten. Wie schnell Heinrich Mann seines ideologischen Irrtums inne wurde, erhellt daraus, daß selbst die äußerlich schärfsten Artikel des Zwanzigsten Jahrhunderts ein gerütteltes Maß an gesundem Menschenverstand enthalten und daß, besonders im Ästhetischen, manche Erkenntnisse des gereiften Mannes dort vorweggenommen sind. Vielleicht war Manns Hurrapatriotismus überhaupt nur eine Pose; denn schon in der 1897 erstveröffentlichten Novelle „Das gestohlene Dokument", die literarhistorisch auf E. T. A. Hoffmanns phantasmagorische Erzählungen zurückgeht, wird scharfe Kritik an der Sozialistenhetze der wilhelminischen Behörden geübt 6 . Zwei Jahre später war Manns politische Lehrzeit vollends um, berichtet doch Viktor Mann, daß sein Bruder sich damals brieflich über die Palästina-Reise des Kaisers mokiert habe*. Die parodistische Beschreibung dieses Staatsbesuches ist in der Tat ein direkter Vorläufer der Schilderung von Wilhelms und Diederich Hesslings Romfahrt im Untertan. Hinsichtlich des Zusammenhangs dieses Romans mit den vorher112
gehenden Werken des gleichen Verfassers wäre Folgendes zu bemerken : Wie die Handlung des Schlaraffenlands so spielt auch die des Untertan im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts. Freilich beschränkt sich das Geschehen im Schlaraffenland auf die Jahre 1893 und 1894, während die im Untertan geschilderten Ereignisse zwischen 1890 und 1897 stattfinden. Die Schauplätze beider Werke unterscheiden sich dadurch drastisch, daß das Türkheimersche Utopia auf die preußische Hauptstadt beschränkt, die Hesslingsche Welt aber ausgesprochen provinziell ist (freilich ist es nicht weit von Berlin nach Netzig). Die Charaktere des Schlaraffenlands lassen sich in zwei Gruppen einteilen, die der Parvenus und die ihrer Schmarotzer. Da die Parvenus aber naturgemäß an der Erhaltung des Bestehenden interessiert sind und die Schmarotzer sich ihren Wohlstand eher erschmeicheln als ertrotzen, steht ein Umsturz der bestehenden Ordnung nicht zu befürchten, zumal selbst Sozialisten vom Schlage eines Matzke zu Speichelleckern werden. Der Untertan hingegen gibt sich zwar politisch konservativ und scheint entschlossen, den status quo bis aufs Messer zu verteidigen; dabei will er, im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf begriffen, lokal den Sturz der Liberalen herbeiführen. Er ist also ein Revolutionär mit konservativer Maske. Trotz dieses wesentlichen Unterschieds in der in den beiden Romanen zu Tage tretenden Grundhaltung ergeben sich eine Reihe von - oft zugestandenermaßen oberflächlichen - Berührungspunkten zwischen dem Untertan und Im Schlaraffenland. Hier wie dort werden gewisse Methoden des Journalismus angeprangert; und sowohl Türkheimer als auch Hessling streben danach, vom Kaiser dekoriert zu werden. Schließlich besteht auch eine entfernte Familienähnlichkeit zwischen Guste Daimchen und Bienaimie Matzke. Was die schon ins Auge gefaßte Parallele zwischen dem Untertan lind Zwischen den Rassen angeht, so wird dieselbe bestärkt durch die politischen Ansichten der beiden Präfaschisten Pardi und Hessling. Wir zitierten oben Pardis Ausspruch, daß die Menschen sich dem Staat zu opfern hätten und ihr persönliches Glück nicht das Wesentliche sei (AW II, S.234). Hessling stimmt dieser Ansicht zu, wenn er bei der Geburt des ersten Sohnes seiner Gattin erklärt, „daß er, vor die Wahl gestellt, sie glatt hätte sterben lassen". Diesen Entschluß begründet er mit den Worten: „So peinlich es mir gewesen wäre . . . Aber die Rasse ist wichtiger, und für meine Söhne bin ich dem Kaiser verantwortlich" (AW IV, S.424). Der Träumer Arnold Acton sieht voraus, wie zwangsläufig der Untertan sich zum Tyrannen entwickelt: 8
Weisstein, Heinrich Mann
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Denken Sie an die neurasthenischen Könige von jetzt, ihre Rückfälle in blöde Tyrannei, an ihre Sucht, wehrloses Wild niederzuknallen, an ihre Gier nach dem kriegerischen Gepränge der Starken . . . Kein Mensch kann verächtlicher sein als solch ein Schwacher, der den Geist und die Menschlichkeit, für die er ausgestattet und denen er verpflichtet wäre, verleugnet und sich zu den Starken und Rohen schlägt (AW II, S.127).
Auch .Professor Unrat' steht Modell für den teils kriecherischen, teils rebellischen Untertanen. Ähnlich wie der Schul tyrann sucht Hessling nach Material, das geeignet wäre, seine politischen Gegner (besonders Napoleon Fischer) zu inkriminieren7. Und zwingt sich nicht auch Unrat dazu zu glauben, die äußere Ruhe seiner Feinde lasse auf deren heimlichen Widerstand schließen8 ? Heinrich Manns Novelle „Abdankung" behandelt einen Fall, der mit dem Hesslings auffallend harmoniert8. Gewiß haben wir es hier mit einem Knaben, dem kleinen Felix, zu tun, der eine ganze Schulklasse seinem Willen unterwirft. Felix' sadistischer Drang nach absolutem Herrschertum verbindet sich mit der Wollust, auch selbst die Peitsche zu spüren. Dieser Wollust nachgebend ertränkt sich Felix auf Geheiß eines geistig minderwertigen Mitschülers, den er dazu gezwungen hat, ihm den Selbstmord nahezulegen. In Hessling wird der masochistische Zug humoristisch verklärt, wenn der Untertan auf der Höhe seiner Macht sich mit Wonne unter den Pantoffel stellt. Freilich tut er dies nur, solange es ihm behagt. Es kommt nicht oft vor, daß Guste Daimchen sich brüsten darf: „Ich bin die Herrin, du bist mein Untertan10." Im Vorübergehen mag auch auf die Kuchen-Episode aus der autobiographischen Skizze „Das Kind"11 hingewiesen werden, die im Untertan mit umgekehrten Vorzeichen wiederkehrt. In der Novelle verspricht nämlich der Knabe, die Beute mit seinem Komplizen zu teilen, und verspeist die Sahnenrolle erst, als er erfährt, daß letzterer die Stadt verlassen hat. Im Roman hingegen ergattert der junge Hessling die ersehnte Süßigkeit, ohne auch nur einen Augenblick lang daran zu denken, seinem Freunde etwas davon abzugeben. Sowohl Die Kleine Stadt als Der Untertan schildern moeurs de provincey aber mit wie unterschiedlichen Vorzeichen! Zwar hat Don Taddeo eine gewisse Affinität mit Hessling (wie der alte Buck mit Ferruccio Belotti); doch weiß Hessling nichts von den christlichen Tugenden und von Verbrüderung, wie Don Taddeo sie am Ende der Kleinen Stadt befürwortet. Palästrina kehrt wieder in sein gewohntes Dasein 114
zurück, während Netzig vom Ungeist des Untertanen verseucht bleibt. Mit Bucks Tode stirbt der Geist von 1848, Belotti aber bleibt der primus inter pares einer zwar keineswegs sittenreinen, doch immerhin (auch in moralischer Hinsicht) demokratischen Gemeinde. In den Betrachtungen eines Unpolitischen wirft Thomas Mann seinem Bruder vor, im Untertan eine durch und durch politisierte Gesellschaft dargestellt zu haben, während in Wirklichkeit die Deutschen zum gegebenen Zeitpunkt politisch indifferent gewesen seien. Nur in Frankreich und Italien (eben in der „kleinen Stadt") hätten die Voraussetzungen für Heinrich Manns politische Satire bestanden; denn das vollkommene und künstlerisch wünschenswerte Objekt der Satire ist erst die durchpolitisierte, die demokratisierte Gesellschaft - und der Satiriker nimmt sie für Deutschland vorweg. Er satirisiert also nicht ein wirkliches Deutschland, sondern ein ideales, amüsantes, sondern eines, das so ist, wie er möchte, daß es schon wäre, ein Deutschland mit .politischer Atmosphäre'. Er antizipiert die Demokratie, und er ist schöpferisch insofern; seine Satire ,lebt euch vor, was ihr werden sollt'".
Zwar hat dieses Argument manches für sich; doch läßt sich kaum leugnen, daß das wilhelminische Deutschland der Hesslings nicht entbrach, selbst wenn ihre Zeitgenossen ihnen wenig Beachtung schenkten. Obwohl angesichts seines explosiven Inhalts Heinrich Manns Untertan wie eine Bombe unter den Zeitgenossen hätte einschlagen müssen, machte das Werk am Anfang nicht Furore. Der Abdruck einzelner Teile des Romans in den Jahren 1911, 1912 und 1913 war nicht dazu angetan, das naive Selbstvertrauen der Nation, an der die Welt genesen sollte, zu erschüttern. Viele der Leser hielten Heinrich Mann für einen Humoristen, auch schon deshalb, weil die Auszüge im Simplicissimus erschienen, wo anti-klerikale, anti-militaristische und anti-preußische Karikaturen an der Tagesordnung waren18. Besonders für die Bayern war dies ein gewohntes Fressen Wären die Abschnitte von einer Berliner Zeitschrift veröffentlicht worden, so wäre die Wirkung gewiß eine andere gewesen11. Im Jahre 1913 brachte die Münchner Zeitschrift Der März einen Vorabdruck des Kapitels „Der Fall Lück" 15 , und im folgenden Jahr begann die illustrierte Wochenschrift Zeit im Bild mit der Veröffentlichung des Untertans in Fortsetzungen1®. Bei Ausbruch der Feindseligkeiten kam es zu einer Unterbrechung, indem der Herausgeber den Verfasser dahingehend unterrichtete, daß „im gegenwärtigen 8·
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Moment nicht in satirischer Form an den deutschen Verhältnissen Kritik geübt werden könne". Manns Antwort mag als Beispiel dafür dienen, wie dieser Schriftsteller künstlerische Würde mit politischer Voraussicht zu verbinden verstand: „Ich muß nach Sachlage mit der Unterbrechung des Romanabdrucks vorerst einverstanden sein. Die Lage kann sich ändern. Ich behalte mir alle Rechte vor und mache zur besonderen Bedingung, daß beim Abbruch des Romans jede redaktionelle Notiz unterbleibe17." Zwei Jahre später, das heißt mitten im Kriege, hatte der Verleger Kurt Wolff den Mut, zehn Exemplare des Untertan privat zu drucken und an prominente Persönlichkeiten des deutschen Kulturlebens (darunter Karl Kraus und Mechthild von Lichnowsky) zu verteilen18. Erst im November 1918 wurde das Werk dem Publikum, an das es gerichtet war, zugänglich. Aber wie sehr hatte sich die Einstellung dieser Leserschaft verändert 1 Das geschlagene Deutschland erkannte plötzlich in Heinrich Mann den Propheten seines Unglücks. Die 100000 Exemplare des Untertan fanden reißend Absatz.19 Die deutschen Kritiker, deren Elite (Werner Mahrholz, Herbert Ihering, Kurt Pinthus usw.) den Untertan rezensierte, waren sich über den Wert des Romans keineswegs einig, doch hatten seine Widersacher das letzte Wort. Mahrholz' Besprechung ist symptomatisch insofern als aus ihr das Unbehagen eines Volkes spricht, das seine eigene Krankengeschichte lesen muß. So ist es verständlich, daß Heinrich Mann des Ressentiments bezichtigt wurde: Der Untertan ist Satire, ist Pamphlet, und da es mit Talent gemacht ist, so möchte man es gehen lassen, wenn . . . ja wenn Heinrich Mann etwas von dem Ethos eines Swift hätte. Aber das eben fehlt: kein menschlicher Urlaut wird wach; es folgt nur Ressentimentsentladung auf Ressentimentsentladung. Es fehlt dem Buch jedes Pathos, und damit fällt es aus der Sphäre der Satire in die Untersphäre des Pamphlets10.
Kurt Tucholsky kam Heinrich Mann zu Hilfe und nannte den Roman die „Bibel des wilhelminischen Zeitalters" sowie ein „Herbarium des deutschen Mannes"21. Das Fehlen des konstruktiven Elements, das heißt des Verfassers Verzicht darauf, Richtlinien für eine politische, soziale und wirtschaftliche Gesundung zu geben, wurde heftig bemängelt. In einem Aufsatz über die Kaiserreich-Trilogie kleidet Travis Hardaway die gegen den Untertan vorgebrachten Argumente in die Worte: 116
Heinrich Mann's trilogy has thus in a very real sense an impact that must be called negative. It does of course . . . serve the tremendously useful end of clearing away the spiritual rubble standing in the way of a democratic social structure. . . . It does not attempt, however, to go further and aid in the actual building of such a structure, by furnishing an appreciable measure of positive guidance, inspiration and hope". Indem er das negative Element betont, übersieht Hardaway, daß der Untertan fast ein Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg konzipiert worden war und daß, selbst als die ersten Auszüge dem deutschen Publikum zugänglich gemacht wurden, es für die Hesslings keineswegs zu spät war, in sich zu gehen. Unserer bisherigen Praxis folgend lassen wir der kritischen Analyse des Romans die chronologische Fixierung des Geschehens vorausgehen. Wie schon erwähnt, erstreckt sich die Handlung des Untertan auf das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, genauer gesagt vom Zeitpunkt der Entlassung Bismarcks bis zum Jubeljahr Wilhelms I. Heinrich Mann entschloß sich zu einer strukturellen Zweiteilung und fügte dem Hauptteil, der die Jahre 1890-1894 umfaßt, einen auf drei Jahre berechneten Epilog an. Auf S. 14 (AW IV) des Romans wird Bismarck noch als Kanzler erwähnt. Die frühen Abschnitte der Handlung sind also vor März 1890 anzusetzen. Auf S.53ff. findet sich eine Schilderung der im Februar 1892 in Berlin ausgebrochenen Unruhen28. Der Anfang des fünften Kapitels bezieht sich auf die Romreise des Kaisers, die dieser auf Einladung des italienischen Königspaares im April des folgenden Jahres unternahm (S. 347-356). Heinrich Mann nahm diese Gelegenheit wahr, den deutschen Bildungsdünkel zu parodieren; denn während ihres römischen Aufenthaltes zeigen sich weder der Herrscher noch sein Gefolgsmann sonderlich beeindruckt von den Kunstschätzen der ewigen Stadt. Die Rückkehr des Kaisers nach Deutschland, die den Abschluß des Kapitels bildet, wurde durch die Weigerung des Reichstags, die ihm zugeleitete Heeresvorlage zu verabschieden, die am 6. Mai 1893 zu dessen Auflösung durch den Obersten Landesherren führte, beschleunigt". Neuwahlen fanden schon am 15. Juni statt; und das Geschehen des Romans steht mit dem Wahlkampf der Parteien im engsten Zusammenhang. Historisch gesehen bedeutete der Ausgang der Wahl einen nicht unerheblichen Machtgewinn für die Sozialdemokraten, die 300000 Stimmen und neun Sitze im Reichstag 117
hinzueroberten. Die Konservativen dagegen erlitten eine geringe Einbuße, während die radikale Fraktion von 66 auf 37 Sitze zusammenschrumpfte 25 . Hesslings Reaktion auf diese Machtverschiebung wird von Heinrich Mann in die Worte gekleidet: „Fünftausend und mehr Stimmen für Fischer I Heuteufel mit kaum dreitausend war fortgefegt von der nationalen Woge, und in den Reichstag zog der Sozialdemokrat" (AW IV, S.400). Wir werden im folgenden auf die diesem Ausspruch innewohnende Ironie zu sprechen kommen. Auf S. 420 ff. des Untertan spielt der Verfasser auf den KlotzeSkandal der neunziger Jahre an, in den dem Hofe nahestehende Kreise verwickelt waren 28 ; und zu Beginn des Epilogs wird die Geburt von Hesslings Kindern Gretchen (1894), Horst (1895) und Kraft (1896) verzeichnet. Des Kaisers pathologisch anmutendes Interesse an der Flotte wird unter Hinweis auf die Taufe des Kreuzers Aegir im März 1895 ins Spiel gebracht27. Und am Ende des Romans wird der Leser Zeuge der Feier zu Ehren des ersten Wilhelm an dessen hundertstem Geburtstag (dem 22. März 1897), die mit dem Tode Bucks und damit dem Abschluß der demokratischen Ära Netzigs zusammenfällt, und bei welcher Gelegenheit Diederich Hessling zur Zielscheibe des Spottes wird. Von Wilhelm II. abgesehen werden im Untertan nur zwei oder drei historisch bezeugte Gestalten erwähnt, darunter Eugen Richter, das Haupt der Radikalen im Reichstag und Bismarcks Erzfeind 28 , und der berüchtigte Hof- und Domprediger Adolf Stöcker, dem die Gründung der antisemitischen Christlich-Sozialen Arbeiterpartei zu danken ist29. Zu den Netziger Anhängern Richters zählt Heuteufel, zu denen Stökkers von Barnim, während Buck die politischen Anschauungen des 48ers Herwegh teilt 80 . Diederich aber kennt keine Partei als die des Kaisers. Dem unterrichteten Leser des Untertan muß es auffallen, wie sorgfältig die Sprache Hesslings der seines Kaisers nachgebildet ist81. Wilhelm, „dessen Vorstellung von der Macht und der Bedeutung des Herrschers überspannt war und Dispositionen zu absolutistischen Neigungen enthielt" 32 , bediente sich einer Sprache, wie sie sich zur Parodie nicht besser hätte eignen können. In einer Rezension der Sämtlichen Reden umriß Ludwig Thoma, der Autor der Filzer-Briefe, den Stil des hohen Herren wie folgt: Der Stil Kaiser Wilhelms II. ist beherrscht von Superlativen . . . Der Superlativ ist auch als rhetorische Form nicht gut. Er widerstrebt der Simplizität, welche als erste Forderung jeder Kunstform zu gelten
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hat. Der Kaiser liebt ferner das schmückende Beiwort; er fügt es zu jedem Hauptwort, und wo er begeistern will, häuft er die Adjektive".
Um wievieles hohler die gleichen Reden im Munde des Untertanen klingen, zumal sie stets auf triviale Ereignisse bezogen sind! Im Untertan wird das wilhelminische Pathos systematisch auf Lokalangelegenheiten bezogen (schon dieser Wechsel der Höhenlage wirkt satirisch). Der expansionistische Geist der Ära Caprivi zum Beispiel regt Hessling dazu an, den Arbeitern seiner Papierfabrik „herrliche Zeiten" zu versprechen84. Die Verstärkung der Kluft zwischen Vhomme und le stjle war eines der Hauptmittel des von Heinrich Mann bewunderten Satirikers Carl Sternheim in dessen Stücken „aus dem bürgerlichen Heldenleben". (Man beachte die Wahlverwandtschaft der proletarischen Parvenus Fischer und Schippel35.) Im Untertan erhöht sich die Wirkung der Satire automatisch dadurch, daß sich Hessling und Wilhelm auch physisch ähneln36. Indem er diese Ähnlichkeit auf den Charakter ausdehnt, deutet der Verfasser an, daß, wäre der Kaiser als Kind kleinbürgerlicher Eltern in Netzig zur Welt gekommen, er gewiß ein Diederich Hessling geworden wäre. Die Ähnlichkeit wird dadurch ins Absurde (das heißt bis zur völligen Identifizierung) gesteigert, daß der Untertan imstande ist, des Kaisers Gedanken zu antizipieren und selbst deren sprachliche Formulierung vorwegzunehmen. Nach der Erschießung des Arbeitslosen Lück verfaßt Diederich ein Glückwunschtelegramm an den verantwortlichen Wachthabenden und sucht den Herausgeber des Lokalblattes (allerdings im Suff) von dessen Echtheit zu überzeugen. Als er am nächsten Morgen den Berliner Lokalanzeiger aufschlägt,findeter es im Wortlaut als Botschaft Wilhelms an seinen Getreuen abgedruckt: Kein Dementi; eine Bestätigung. Er [der Kaiser] machte Diederichs Worte zu den seinen, und er führte die Handlung aus, die Diederich ihm unterlegt hatte! . . . Diederich breitete das Zeitungsblatt weit aus; er sah sich darin wie in einem Spiegel, und um seine Schultern lag Hermelin (AW IV, S. 164).
Dies ist beileibe nicht das einzige Mal, daß Wilhelm gleichsam zum Sprachrohr des Untertanen wird, was dazu führt, daß letzterer am Ende das eigene vom angemaßten Selbst kaum zu unterscheiden weiß: . . . und als Diederich allen, die ihm zutranken, nachgekommen war, hätte er nicht mehr sagen können, ob es [der Ausspruch: „Wenn die Kerls mir meine Soldaten nicht bewilligen, räume ich die ganze Bude
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aus"] von ihm selbst war oder nicht doch vom Kaiser. Schauer der Macht strömten aus dem Wort auf ihn ein, als wäre es echt gewesen (AW IV, S.235). Um den wirklichen Unterschied zwischen Fürst und Bürger zu demonstrieren, arrangiert Heinrich Mann ein zweimaliges Zusammentreffen der beiden, wobei sich Hessling unsterblich blamiert. Im Zenith der Februar-Unruhen, während derer der Untertan an antisozialistischen Progromen teilnimmt, sieht er sich unerwartet dem hoch zu Rosse thronenden Wilhelm gegenüber, aber in welcher Verfassung I Er lag nämlich soeben noch der Länge nach in einer Pfütze und ist schmutzverkrustet. Dazu kommt, daß der Kaiser seinen treuesten Diener irrtümlich für einen aufsässigen Proletarier hält. Die zweite, ebenso groteske Begegnung findet während der Romreise des Herrschers statt. Diederich hat ein Häufchen Italiener durch seinen sich in wilder Gestikulation äußernden Enthusiasmus dahin gebracht, mit ihm am Bahnhof in Ovationen auszubrechen. Aber Wilhelm, dessen Aufmerksamkeit er erregt, ist mehr amüsiert als geschmeichelt und vergleicht den Untertan im Stillen mit dem, „der immer schon da war und schrie", das heißt also mit dem Swinegel des Märchens (ebd., S. 352). Bei aller Kongenialität sind Wilhelm und Diederich doch in einigen wesentlichen Punkten verschieden, zumindest was ihre Weltanschauung angeht. Man weiß zum Beispiel, daß der sozialistenfeindliche Kaiser anfangs Wert darauf legte, als Arbeiterführer zu gelten, begrüßte er doch kurz nach der Thronbesteigung den Plan einer Gewinnteilung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber®7. Derartige Ansichten bezeichnet Diederich Hessling eo ipso als unmoralisch; denn er, der nur seinen eigensten Interessen lebt, ist des Altruismus konstitutionell nicht fähig. Er maskiert dabei seine wirtschaftlichen Interessen sozialethisch, indem er ausruft: „Was seine Fabrik einbringt, daran beteiligt der Herr Lauer seine Arbeiter. Das ist unmoralisch . . . denn es untergräbt die Ordnung" (ebd., S.119). In einer mit der Schulreform befaßten Rede vom 4. Dezember 1890 schlug Wilhelm II. die radikale Umgestaltung des Lehrplans der deutschen Gymnasien vor; und zwar wollte er das Studium der alten Sprachen durch deutsche Aufsätze und Übungen über Themen von nationalem Interesse ersetzt wissen88. (Er selbst hätte von einem intensiveren Deutschunterricht sprachlich und stilistisch profitieren können.) Hessling seinerseits verdächtigt jeden, der sich so gewählt ausdrückt, wie Wolfgang Buck es tut89: „der deutsche Aufsatz war ihm 120
das Fremdeste, und wer sich darin auszeichnete, gab ihm ein ungeklärtes Mißtrauen ein" (ebd., S. 12). Buck, der Skepsis zuneigend wie sein Schöpfer, ist sich Hesslings Schwäche auf diesem Gebiet nur zu sehr bewußt und spricht unverhüllt aus, daß seiner Meinung nach „mit dem Ästhetischen das Moralische sinkt oder steigt" (ebd., S. 228). Der krasseste Gegensatz zwischen Kaiser und Untertan besteht jedoch zweifellos darin, daß Hessling mit den Netziger Sozialdemokraten zeitweilig gemeinsame Sache macht (wenn auch nur aus machtpolitischen Gründen), während Wilhelm sich von einem bestimmten Zeitpunkt an standhaft weigerte, mit den Erzfeinden des Vaterlandes an einem Tisch zu sitzen40. Schließlich hatte er es nicht nötig, politische Kompromisse zu schließen, da seine Autorität verbrieft war. Hessling andrerseits hat keinen solchen Rückhalt und ihm muß alles, was den Liberalen Abbruch tut, willkommen sein. Ohne die geringste Kenntnis vom Wesen der Sozialdemokratie (er hält dafür, daß ihr einziges Ziel die Gleichmacherei sei41) paktiert er mit Napoleon Fischer, genau wie um 1890 „die Kartellgegner übereinkamen, sich gegenseitig zu unterstützen"4*. Als einem Realpolitiker kommt es Hessling nicht darauf an, gelegentlich seine politischen Ideale zu verraten. So gesellt sich also im Untertan Ungleich zu Ungleich. Es zeigt sich wiederholt im Verlauf der Handlung des Romans, daß das Bild des Untertanen aus der Diskrepanz zwischen Sein und Schein erwächst. In demjenigen Abschnitt seiner Autobiographie, in dem er auf das Schwanken der deutschen Politik in der wilhelminischen Epoche zu sprechen kommt, erklärt Heinrich Mann diesen Zwiespalt aus dem unstäten Charakter eines Souveräns, der immer wieder provoziert, um seine Unsicherheit zu verbergen: Die schaubare Haltung, das Inbetriebsein, die Ubiquität . . . um jeden Preis . . . dies alles bedeutet das Hinschwinden der Legitimität . . . Spielerei mit tödlichen Feindschaften und Furcht vor ihnen. Da er sich und seine Gesten nicht ernst nahm, verlangte er von |anderen dasselbe48.
Wie sein Kaiser sieht sich auch Hessling nicht selten für seine unüberlegten Gesten und Handlungen bestraft. So provoziert er Lauer, die Majestät zu beleidigen, hat aber nicht den Mut, die Konsequenzen daraus zu ziehen44. Jadassohn zwingt ihn schließlich gegen seinen Willen, Anzeige zu erstatten und so den Sensationsprozeß ins 121
Rollen zu bringen. Diederich muß als Belastungszeuge auftreten und entledigt sich dieser Aufgabe nun stilgerecht, indem er den Angeklagten zum Landesverräter stempelt. An keiner Stelle läßt uns Heinrich Mann im Zweifel darüber, daß die politische Auseinandersetzung im •wesentlichen auf wirtschaftlicher Basis beruht. An anderer Stelle äußert er sich dahingehend, daß im Kaiserreich „alles bis ins Babylonische gewachsen war, das Geschäft, die Anreißer, die Bürgerlichkeit, und dazu der ganze Betrieb gespickt mit Drohungen für die Konkurrenz, mit trocken gehaltenem Pulver und schneidigem Schwert" Die politischen Gegensätze auf den künstlerischen Bereich übertragend, spricht Wolfgang Buck gelegentlich vom Kaiser als einem, dem sein Beruf zur Kunst (d.h. zum Schein, zur Maske) wird, wie das die Zeit so mit sich bringe: „Wir alle kennen nichts Höheres. Eben darum sollte es nicht erlaubt sein, daß jeder mittelmäßige Zeitgenosse ihn nachäfft" (ebd., S.227). Die Bemerkung ist natürlich ironisch gemeint. Schon zuvor charakterisierte derselbe Buck den Geist der Zeit folgendermaßen: „Jedenfalls sind wir jungen Leute jetzt alle so wie unser Kaiser, daß wir nämlich unsere Persönlichkeit ausleben möchten und doch ganz gut fühlen, Zukunft hat nur die Masse" (ebd., S. 75). Das Künstlertum ist also hier nur Schein Flucht vor der Masse; denn man gibt sich theatralisch, um bei ihr Eindruck zu schinden. Der historische Wilhelm äußerte einmal, daß das Theater auch eine seiner Waffen sei44; dem entspricht materiell Hans Sedlmayrs These, daß seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Theater (und besonders die Oper) im Mittelpunkt architektonischen Denkens gestanden habe, wie dies am Anfang des Jahrhunderts beim Denkmal der Fall gewesen sei47. Für Heinrich Mann jedenfalls war dies ein fait accompli. Bei Diederich Hessling ist das histrionische Talent des Kaisers ins Großtuerische und lächerlich Demagogische verzerrt, und der lang ersehnte Höhepunkt seiner Karriere - die Rede zur Denkmalsweihe am Kaiser-Jubiläum - artet zur Farce aus. Heinrich Mann gibt deutlich zu verstehen, daß Diederichs Redeschwall nur hohle Rhetorik sei und kein echtes „gehobenes Gefühl" ausdrücke. Daß Diederich kein geborener Redner oder Führer ist, erhellt schon daraus, daß er sich in der Herde am wohlsten fühlt 48 . Sein Masseninstinkt wird von einem seiner ehemaligen Mitschüler, der eine Wahlrede über den „zersetzenden Standpunkt der Persönlichkeit" hält, bestätigt. Hesslings Hemmungen schwinden erst (und nur), wenn er betrunken ist:
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Beim Bier brauchte man nicht zu handeln, nichts zu wollen und zu erreichen, wie bei den Weibern. Alles kam von selbst. Man schluckte: und da hatte man es schon zu etwas gebracht, fühlte sich auf die Höhen des Lebens befördert und war ein freier Mann, innerlich frei (AW IV, S.29).
Er, der einst selbst der Versuchung der Liebe erlag (denn auch der Untertan ist nicht ganz ohne Gemüt), distanziert sich von der sentimentalen Seite des Lebens, die bei den harten Zeiten, die der Kaiser heraufbeschwor, nur hinderlich sein kann. So bleibt sein Ausflug mit Agnes Goppel, ein Fontanesches Idyll, ohne Folgen. Auch als loyaler Vereinsmeier legt der Held des Romans keinen Wert darauf, als Gleicher unter Gleichen zu gelten. Sein Untertanengeist verleitet ihn im Gegenteil dazu, die Macht um ihrer selbst willen anzubeten. Je absoluter dieselbe auftritt, desto ehrwürdiger ist sie ihm (gerade so wie in „Die Abdankung" die anderen Knaben Felix mit solch masochistischem Eifer gehorchen, daß „je derber seine Befehle der Vernunft widerliefen, sie desto fanatischer" befolgt wurden). Der blinde Gehorsam, der in Hesslings Kreisen als höchste Tugend gilt, kommt zum Beispiel darin zum Ausdruck, daß Diederich es über sich bringt, die Begegnung mit Wiebels Vetter zu vergessen4·, und daß der Militärarzt lernt, nicht vorhandene Symptome zu registrieren60. Der echte Untertan ist es zufrieden, passiv an der Ausübung der Macht beteiligt zu sein, das heißt unter der Fuchtel zu stehen. Der Schüler Hessling bringt es sogar fertig, die Rute des Klassenlehrers mit Eichenlaub zu umkränzen. Das hindert ihn aber nicht daran, am Schabernack, den seine Mitschüler dem Professor spielen, seine Freude zu haben. Er sieht die Autorität gerne untergraben, bringt aber den Mut nicht auf, selbst mit Hand anzulegen. Überdies beruhigt er das aus dieser Haltung resultierende schlechte Gewissen, indem er die Schuldigen der verdienten Strafe zuführt: Er spürte, ward irgendwie an den Herrschenden gerüttelt, eine gewisse lasterhafte Befriedigung, etwas ganz unter sich Bewegendes, fast wie ein Haß, der zu seiner Sättigung rasch und verstohlen ein paar Bissen nahm. Durch die Anzeige der anderen sühnte er die eigene sündhafte Regung (AW IV, S.12).
Das wahre Instrument der Macht im Untertan aber ist der Staatsanwalt, der auch öffentlich im Namen des Kaisers spricht. Hesslings Kommilitone Wiebel träumt von dieser Karriere, und Jadassohn, 123
das enfant terrible des Romans, erweist sich als Genie im Verdrehen von Tatsachen ad majori imperatoris gloria. Der Prozeß Lauer kann als Muster des Justizmords gelten; er ist im Grunde ein staatlich geduldeter Pogrom. Statt vom Gesetz geschützt zu werden, wird der Angeklagte von ihm an die Wand gedrückt. Der Treppenwitz der Weltgeschichte ist um so größer, als der Staatsanwalt ein Jude ist. Der Antisemitismus der Gründerzeit, der um 1870 aufflackerte, war vorwiegend wirtschaftlicher und ständischer Art - jedenfalls faßten ihn so die meisten der prominenten Persönlichkeiten auf, die Hermann Bahr um ihre Meinung befragte 61 . Erst später (besonders seit dem Auftreten Stöckers) nahm er eine stärkere religiöse und politische Färbung an82. Das Rassische spielte jedoch auch dann kaum eine Rolle, da die Taufe mit einem Schlage alle Hindernisse beseitigte68. Immerhin ist es eine antisemitische Bemerkung - die Behauptung, daß der Kaiser jüdisch versippt sei64 die Lauer politisch und wirtschaftlich ruiniert. Jadassohn, der ein Interesse daran hat, seinen Patriotismus zu erweisen, besitzt die Frechheit, die Netziger Zeitung ein Judenblatt zu nennen und einem seiner Kollegen vorzuwerfen, er frequentiere die „Judengesellschaft". Daß seine Lage auch so prekär bleibt, beweisen die nachfolgenden Ereignisse66. Indem er der wilhelminischen Ära ein theatralisches Profil gibt, schafft Heinrich Mann die Grundlage für eine Kritik an der für sie typischen Kunstanschauung. Diese Frage wird besonders gegen Ende des Untertans im Zusammenhang mit dem Reiterstandbild Wilhelm I. akut. Wilhelms Enkel lag dieses Projekt ebenso sehr am Herzen wie die monumentale bildhauerische Gestaltung der Berliner Siegesallee6·. Tolstoi bezeichnete Wilhelm II. einst als eine der komischsten Gestalten der Zeit, Redner, Dichter, Musiker, Dramatiker und Künstler67. In seinem Buch über den Kaiser gibt Christian Gauss folgendes Bild von dessen Dilettantismus in künstlerischen Dingen: In the matter of sculpture, the achievement in •which the Emperor takes most pride is undoubtedly the famous Siegesallee in Berlin. In consists of a number of monumental, heroic figures, taken from the history of the house. The avenue, the general scheme, and the arrangement of many of the figures were planned by him in consultation with his historiographer. The style is supposedly classic; there are many incidental animal figures, and a sphinx and the sibyl help to represent Bismarck. The attempt to make heroic and classic certain of the fairly mediocre representatives of his line . . . seems to have
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been too difficult a task even for that Berlin school of sculpture (led by Reinhold Begas) which the Emperor feels would bear comparison with that of the Renaissance".
Der hier angedeutete Mischstil wird von Heinrich Mann in der Beschreibung des Netziger Kaiserdenkmals (AW IV, S.436) parodiert: Die Adlet setzten flügelschlagend ihre Krallen in den noch leeren Sockel, andere Exemplare nisteten wieder auf jenen die Rundbänke symmetrisch unterbrechenden Tempeln; dort holten aber auch Löwen zum Sprung aus nach dem Vordergrund, wo ohnehin Aufregung genug herrschte durch flatternde Fahnen und heftig agierende Menschen. Napoleon der Dritte, in der geknickten Haltung von Wilhelmshöhe die Rückwand des Sockels zierend, als Besiegter hinter dem Triumphwagen, war überdies immer in Gefahr, von einem Löwen angefallen zu werden, der gerade hinter ihm, auf der Treppe des Monuments, seinen schlimmsten Buckel machte - wohingegen Bismarck und die anderen Paladine, mitten im Tierkäfig wie zu Hause, vom Fuß des Sockels mit allen Händen hinauflangten, um mit anzugreifen bei den Taten des noch abwesenden Herrschers.
Es ist auffallend, wie sich Diederich Hesslings Auffassung der Kunst gegen Ende des Romanes ändert. Als Student ist der Untertan noch stolz darauf, seinen Schiller verhökert zu haben (AW IV, S. 80); und sein Verhalten während der Februar-Unruhen läßt darauf schließen, daß er rächt viel von Kunst und Künstlern hält. (Er hat es an dieser Stelle besonders auf die Naturalisten abgesehen.) Er lernt die Kunst erst dann schätzen, als er einsieht, daß auch sie der Macht dienstbar und dem Herrscher genehm sein kann: „Man konnte nicht Zuvorkommenheit genug haben für einen Mann, auf dem ein unmittelbarer Strahl der Gnadensonne lag" (AW IV, S.439). Sobald ihm diese Erkenntnis dämmert, ändert er seine Einstellung so radikal, daß er seinem Sohne anrät, die künstlerische Laufbahn zu ergreifen, da diese nun zeitgemäß geworden sei. Dem Geiste der Zeit huldigend wird Hessling letztlich zum Verehrer der Wagnerischen Kunst als des höchsten Ausdrucks des deutschen (und damit des menschlichen) Wesens59. Für ihn wie für seinen Kaiser stellt der Lohengrin eine absolute Spitzenleistung dar, und zwar weniger seiner musikalisch-dramatischen Substanz als seiner politisch-deutschtümelnden Aura wegen. So muß denn der Leser des Untertan eine Aufführung dieses Werkes, der Diederich und Guste beiwohnen, über sich ergehen lassen. 125
Die Dialektik des Lohengrin, dessen Dichter-Komponist ein paradoxerweise vom Werte der konstitutionellen Monarchie überzeugter Anarchist war, regte Thomas Mann zu einer Bemerkung im Rahmen der Betrachtungen an, die sich direkt auf Heinrich Manns Verwendung dieser Oper bezieht: Lohengrin und das Jahr 48 - das sind zwei Welten, verbunden höchstens durch eines: das nationale Pathos. Und der Zivilisationsliterat wurde von einem richtigen Instinkt geleitet, wenn er im satirischen Gesellschaftsroman den Lohengrin verulkt, indem er ihn ins Politische übersetzt. Wahrscheinlich lag Wagner der schöne Baß seines Königs Heinrich im Sinne, als er im Dresdner Vaterlandsverein sagte, . . . frei sei das Volk nur, wenn einer herrsche, nicht wenn viele herrschten' 0 .
Dadurch, daß er die Wagnersche Sache zu seiner eigenen macht, stellt der Untertan erneut seine Einfalt und sein Unvermögen, die geschichtlichen und moralischen Grundlagen seiner politischen Überzeugung zu verstehen, unter Beweis. Moral, Kunst, Wirtschaft und Politik sind Bereiche, die sich die Leute von Hesslings Schlage Schritt für Schritt erobern, bis sie als Gauleiter dastehen und einen Staat von Untertanen und Häftlingen regieren. Wie Der Untertan so setzen sich auch Die Armen und Der Kopf die restlichen Bände der Kaiserreich-Trilogie - mit dem Versagen der Deutschen in ihrer neueren Geschichte auseinander. Wessen Heinrich Mann in seinem Essay „Das junge Geschlecht" seine Landsleute beschuldigt, das könnte sehr wohl als Leitidee für die drei Romane gelten: Wir ließen geschehen; und manche taten mehr. Als wir anfingen kurz gesagt, wir wollten nur genießen, und weder bessern noch uns bessern. Die geistig Lebenden waren keines anderen Wesens als jene, die wirtschaftlich und politisch obenauf waren, oder als selbst die Unterlegenen und Armen. Für Ideen leben anstatt für Erwerb und Genuß - vom Ende des Jahrhunderts bis 1914 schien es unmöglich, es würde ausgesehen haben wie Selbstbetrug oder wie Spaß. Sogar die Armen samt ihren Führern verloren stückweise ihren Glauben und kämpften bloß noch um Pfennige, um ein Weniges mehr an Wohlleben. Die Lebensgier war bei allen und auch bei uns. Ihre vermessenste Form ist es, aus dem Geist selbst ein Spiel und einen Genuß zu machen, ihn nicht um seiner Sittlichkeit willen zu erstreben, nur weil er blenden und kitzeln kann. Ein verantwortungsloser Unernst der Geister zeitigt das Paradox. Das Paradox ist ein geistreicher Versuch,
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der Wahrheit auszuweichen. Die Wahrheiten galten bei uns für langweilig und iur unbequem. Sie waren zu lange bekannt und schon so vielfach in der Welt verwirklicht, daß es nicht vornehm schien, sie auch diesem Land noch zu erkämpfen. Um so weniger schien es vornehm, je mehr man fühlte, man könne es nicht'1. Wie aus den Titeln der drei Romane direkt oder indirekt hervorgeht, behandelt jeder Band eine bestimmte Bildungsschicht oder Klasse. Der Untertan ist der Bourgeoisie gewidmet, obwohl dies dank der vorherrschenden politischen Stimmung nicht rein zum Ausdruck kommt. Die Armen befaßt sich mit dem Arbeiterstand, mit dessen Ausbeutung durch die Bürger und der wirtschaftlichen Notlage, die daraus resultiert. Karl Balrich, der Held dieses Werks, sucht sich durch ein langes und mühevolles Studium zu bilden. Aber als er sein Ziel erreicht hat, verzichtet er darauf, den geschärften Geist in die Tat umzusetzen, d.h. dem Klassenkampf dienstbar zu machen. Das ist aber vom Standpunkt des Autors aus, der fühlt, daß „das Wissen, das nicht hilft, eitel und schlecht ist" ®2, ein Verbrechen, da „der Geist, der nicht handelt, strafbarer ist als die Tötung keimenden Lebens". Der Kopf schließlich rechnet mit den Intellektuellen ab und mit den Kreisen, in denen das Schicksal Deutschlands politisch und wirtschaftlich entschieden wird. Terra und Mangolf, die Hauptpersonen dieses Romans, vermögen es nicht, ihr Streben (Mangolf dürstet nach Macht, während Terra als Menschenfreund auftritt) mit ihrer Lebensart zu vereinbaren. Hessling kommt an die Macht, während Balrich der Mut fehlt, seiner Überzeugung Nachdruck zu verleihen. Mangolf und Terra aber leiden unter einer Krankheit zum Tode, die aus ihrem seelischen Zwiespalt erwächst. Hesslings Triumph, der am Ende des Untertan zweifelhaft schien und der in den Armen zur Realität wird, geht durchaus auf Kosten Balrichs und des vierten Standes. Mangolfs und Terras Tod kurz vor dem Waffenstillstand endet die Laufbahn zweier Männer, die wie diejenige Hesslings und Heinrich Manns um 1890 begann. Balrich gehört zur schon folgenden Generation, welche die auf sie gesetzten Hoffnungen in noch geringerem Maße erfüllte. Immerhin glaubte Heinrich Mann noch 1917 zeitweilig daran, daß das neue „Junge Geschlecht", das „Volk der Zwanzigjährigen" der Humanität in Deutschland zum Siege verhelfen werde·*. Die Enttäuschung, wie sie in Gestalt von Mangolfs gefühlsroher Tochter lebendig wird, folgte freilich auf dem Fuße. Erst im Henri Quatre, 127
d. h. in der längst vergangenen Geschichte, fand Mann die Verkörperung des Ideals, das er zuvor vergeblich auf die Jetztzeit hatte projizieren wollen. Künstlerisch ist Der Untertan das weitaus gelungenste Teilstück der Trilogie, und dies unbeschadet der gegenteiligen Meinung Thomas Manns und einiger anderer Kritiker 64 . Durch und durch Satire, besitzt dieses Werk genug strukturelle Geschlossenheit und gedanklich-stilistische Einheit, um ein Auseinanderfallen seiner Substanz zu verhindern. In seinem Buch über Heinrich Mann unterscheidet Ihering feinfühlig zwei Grundformen der Satire: den Typus, bei dem ein Zeitalter „nicht durch seine führenden Exponenten, sondern durch typische Durchschnittsmenschen" zur Darstellung kommt (wie im Falle des Untertans), und den, bei dem „die Figuren für sich selbst eintreten, mit eigenen Namen und in einer Fabel, die die wirklichen Ereignisse gestaltet und zusammendrängt, episch übersichtlich macht und künstlerisch motiviert" (wie in Zolas Le Debacle)β5. Ihering übt Kritik am Kopf als einem Roman, in dem beide Typen vermischt auftreten, und der, da er „teils Schlüsselroman, teils Zeitsatire, teils realistisches Epos" ist, eher verwirrend als klärend wirkt. Die prophetische Natur des Untertan ist so offensichtlich, daß sie keines besonderen Kommentars bedarf. Dagegen läßt sich das künstlerische Versagen der Armen und des Kopfs wenigstens teilweise daraus erklären, daß sie eher post rem als ante rem entstanden sind, also keine eigentliche Aktualität besitzen. Der Kritiker Erich Dürr konnte rechtens wünschen, „daß [Der Kopf] für viele schon veraltet sein möge"·*. Bei oberflächlicher Lektüre stellt sich der Roman Die Armen als ein typisches Produkt sozialrealistischer Gestaltung dar, was auch durch die Tatsache unterstrichen wird, daß Käthe Kollwitz damit beauftragt ward, die Erstausgabe zu illustrieren. Doch müßte es verwundern, wenn Heinrich Mann sich mit fünfundvierzig Jahren zu den Ansichten Diedrich Klempners, des Verfassers von Rache, bekannt hätte 67 . Zwar ist das satirische Element in den Armen viel weniger aufdringlich, und wohl appelliert der Verfasser des Werkes nicht selten an das Sozialgefühl seiner Leser; doch fehlt es durchaus nicht an kritischen Äußerungen, die darauf schließen lassen, daß Heinrich Mann der Arbeiterschaft vorwarf, die von den Hesslings heraufbeschworene Gefahr nicht tatkräftig genug bekämpft zu haben68. Jean-Edouard Spenlö schreibt denn auch in richtiger Erkenntnis dieser Sachlage: 128
L e second roman de la sdrie nous prdsente une critique du socialisme allemand autant que du capitalisme . . . Car le proldtariat allemand, lui aussi, a έίέ corrompu par la Macht. II a rompu avec l'iddologie ddmocratique d'antan. Les doctrines du materialisme historique ont developpi en lui un egoisme de classe qui ne parle plus gufere que le langage de la Force.
Mit Ausnahme Balrichs und seines spiritus rector Klinkorum - welch letzterer wie Unrat (allerdings aus anderen Gründen) die bürgerliche Gesellschaft verabscheut'· - sind die Hauptpersonen der Armen mit denen des Untertan identisch. Diederich Hessling, der inzwischen zum Generaldirektor und Geheimen Kommerzienrat avanciert ist, sieht sich im Geiste schon als Industriebonzen und Rüstungsfabrikanten70. Er ist also ein Vorläufer Knacks, des Monopolherrn aus dem Kopf, dessen Konzern das ganze deutsche Reich zu verschlingen droht. - Wolfgang Buck, der Skeptiker des Untertan, der der öffentlichen Meinung trotzte, als er den wegen Majestätsbeleidigung angeklagten Lauer verteidigte, hat sich unterdes durch Einheirat in die Hesslingsche Familie schamlos assimiliert71. Aber sein Sprößling setzt wenigstens vorübergehend die liberale Tradition der Familie fort, indem er für Balrich Partei ergreift. Balrich selbst, der junge Arbeiter, der den Geist in die Tat umsetzen will, hat die zweifelhafte Ehre, Hesslings Feind zu sein. Der Superintendent Zillich spricht im Sinne des letzteren, wenn er sagt, daß „kein Arbeitgeber gleichgültig bleiben könne, überschritten seine Leute eine gewisse Grenze der Bildung" (a.a.O., S.528). Wie zur Bekräftigung dieses Ausspruchs bemüht sich Hessling erfolgreich darum, Balrich in die Irrenanstalt zu bringen, ein Mißbrauch der Macht, dessen Beweggrund dieser richtig einzuschätzen weiß78. Zum Glück stellt ihm ein wohlmeinender Arzt die Entlassungspapiere aus mit der Begründung, sein Zustand sei nur Ausdruck der „Irrtümer des Geistesgesunden" (a. a. O., S. 587). Nachher stellt sich aber heraus, daß in Wirklichkeit die Entlassung von Balrichs Kameraden durch Streikdrohung erzwungen wurde. Anfangs hat Balrichs Wissensdrang einen Anflug von Brechtischer Dialektik78, und man gewinnt den Eindruck, daß der Held der Armen das Zeug zu einem würdigen und im guten Sinne typischen Vertreter seiner Klasse habe. Doch stellt sich heraus, daß dem nicht so ist; denn Balrich ist ein Sonderfall74. Er betreibt seine Studien einzig und allein aus Eigennutz. So lernt er Latein statt sich mit Volksökonomie zu befassen, und statt umstürzlerische Schriften zu lesen, studiert er 9
Weieetein, Heinrich Mann
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Jura in der Hoffnung, seine eigene Sache vor Gericht vertreten zu können. Balrich kommt nie ans Ziel und entfremdet sich überdies zusehends seiner eigenen Klasse75. Am Ende verzichtet er leichten Herzens auf sein Wissen und kehrt an seinen angestammten Arbeitsplatz in der Fabrik zurück. Bei Ausbruch des Krieges überträgt er dann seinen Klassenhaß (denn es war Haß, was ihnbewegte7*)aufden äußeren Feind, d.h. die Engländer, Franzosen und Russen77. Solange das Vaterland in Gefahr ist, kommen die Arbeiter ihm zu Hilfe und verschieben die Lösung des sozialen Problems bis nach dem Siege, am Schluß der Armen nimmt Balrich von seiner Frau mit den Worten: „Alles wird besser, wenn ich wiederkomme" Abschied78. In seiner Besprechung des Kopfes in der Nouvelle Revue Francaise betonte Heinrich Manns Freund und Bewunderer Felix Bertaux „la qualitd cindtique" des Romans und stellte fest, daß „pour passer des moments instantands qui se succedent dans les six cents pages d'un roman de Heinrich Mann ä la continuity du film il n'y aurait presque rien ä faire; les paroles de ses personnages sont verbe, action qui ä tout moment se peut retraduire dans le langage des gestes"7*. Mehrere deutsche Kritiker schlossen sich diesem Urteil an80. In der Tat besteht kein Zweifel an der Strukturschwäche dieses Werks. Nur wenige Charaktere im Kopf sind profiliert genug, um sich unserem Gedächtnis einzuprägen. So fand es Anselma Heine schon im Hinblick auf die Armen merkwürdig, „daß man für die Personen selbst, die [Heinrich Mann] schildert, sich eigentlich kaum interessiert, jedenfalls nichts von ihnen behält"81. Das Verständnis des Kopfes wird dem Uneingeweihten dadurch erschwert, daß es sich um einen Schlüsselroman handelt. Gewisse Abschnitte werden erst dann sinnvoll, wenn man erkennt, daß Lannas eine Nachzeichnung Bülows ist und Fischer in Tirpitz, Tolleben in Bethmann-Hollweg und Gubitz in der „grauen Eminenz" Holstein ihr Vorbild haben8*. Nur der Kaiser tritt ohne Maske auf; und neben ihm agieren eine Reihe fiktiver Gestalten, deren wichtigste Mangolf, Terra und deren Schwestern sind83. Das Hauptthema des Romans ist nach Thomas Mann die Freundschaft zweier Männer, „whose interlocking destinies are infected with the melancholy of contradictory ideas and of human shortcomings"84. Diese Haßliebe findet Erfüllung im Doppeltod, der in der dem Roman als Prolog vorangestellten Novelle „Neunzig Jahre vorher" schon angedeutet ist85. Mangolfs Charakter ist leicht, Terras aber schwer zu durchschauen. Mangolf wird vom Ehrgeiz getrieben, der in ihm 130
„kein Drang, sich 2u versorgen und groß dazustehen" ist, „sondern eine Leidenschaft, dem Gelichter unbekannt, aber wirksam aus geheimer Tiefe, und darum in steter, geheimnisvoller Verbindung mit dunklen Kräften" 8 *. Er kommt zwar schließlich an die Macht, vermag aber auch als Kanzler den Lauf der Dinge, der von den Generälen bestimmt wird, nicht zu ändern. Terra handelt als Humanist, wenn er die Abschaffung der Todesstrafe fordert, die Macht der Monopolkapitalisten zu brechen sucht und durch Tollebens Ermordung den Krieg verhindern will. Aber im ganzen ist seine Haltung so unberechenbar und seine Laufbahn so wenig folgerichtig - er betätigt sich abwechselnd als Jahrmarktsschreier, Spion, Armen-Anwalt und Vertreter der Rüstungsinteressen) - , daß er sich selbst um den Erfolg bringt. J.-E. Spenl6, der dem Wesen dieser beiden Charaktere auf der Spur ist, hält dafür, daß „il a manque au peuple allemand, pendant la pdriode impdriale, d'avoir des ,tfites', c'est-ä-dire de veritable iducateurs" und daß Heinrich Mann selbst nur zwei solcher Führer kannte: nämlich Nietzsche und Wedekind. Nun ist es klar, daß Heinrich Mann in seinem Werke zeigen wollte, was mit einem Volke geschieht, das der geistigen Elite entbehrt und vom Mittelmaß regiert wird 87 . In der fiktiven Welt des Kopfes wird Außerordentliches nicht geduldet, und nur wer sich anpassen kann, hat Aussicht auf Erfolg - aber wer weiß wie lange88. Mangolfs Haltung karikiert den Nietzscheschen Immoralismus, während Terras grotesker Heroismus an die tollkühnen Pläne des Marquis von Keith erinnert: E n face de cet ambitieux sans scrupules [Mangolf] qui a transpos0 le nietzschdisme en un culte mystique et sanguinaire de la Force, Terra, le pacifiste, l'humanitaire, rappeile plutöt ce type curieux et complexe qu'avait mis ä la mode Wedekind - idealiste plus ou moins vireux, sorte de philantrope cynique et aussi de d6voy6 quelque peu escroc et prox6n6te, au demeurant tr£s feru de morale et de dignitd humaine. II y a en lui k la fois du marquis de Posa, du Lassalle, et une ind6niable rdminiscence de ce chevalier d'industrie, moraliste tr£s immoraliste, le Chevalier de Keith, en qui Wedekind avait symbolis6 la destin£e de son 6poque, et qui meurt sur cette parole oü se resume son expirience: „ L a vie est une partie de toboggan 8 *.
Daß Heinrich Mann bei der Gestaltung Terras an Wedekind dachte, geht auch aus der Übereinstimmung hervor, die zwischen einer Stelle seiner „Erinnerungen an Frank Wedekind" und gewissen Aussagen des Romans besteht90. Mit dem Tode der letzten beiden 9»
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Intellektuellen findet die Kaiserreich-Trilogie ihren bewußt unbefriedigend gehaltenen Abschluß. In den auf ihre Vollendung folgenden Jahren diente Heinrich Mann weniger dem reinen Geiste als der Tat und störte so das von ihm selbst befürwortete Gleichgewicht, um es erst im französischen Exil wiederherzustellen.
ANMERKUNGEN Siebentes Kapitel Zeitalter, S.201. Hessling kennt schon den Begriff der Kollektivschuld („Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Schuldbewußtsein, das kollektiv war", AW IV, S . l l ) sowie den der Rassenhygiene („Blödsinnige und Sittlichkeitsverbrecher waren durch einen chirurgischen Eingriff an der Fortpflanzung zu verhindern", ebd., S.369). Der Abschnitt „Der Untertan" der Essay-Serie „Kaiserreich und Republik" (AW XII, S.37-52) aus dem Jahre 1919 behandelt rückblickend den im Untertan angeschnittenen Fragenkomplex. • Zeitalter, S.239. Vergleiche diese Stelle mit der Schilderung des gleichen Zwischenfalls in AW IV, S. 55. In einem in Les Nouvelles Litteraires vom 24. Dezember 1927 veröffentlichten Interview erwähnt Heinrich Mann ein weiteres Erlebnis: La prendre idee (zum Untertan) m'en vint d£s 1906; ce fut d'abord une idde toute corporelle. Je me reposais dans un sanatorium moderne k l'air libre . . . dans un grand pare de nombreux petits pavilions ouverts ä tous les vents. Celui oü je faisais ma eure de repos se trouve dans le nord de l'Allemagne, au flanc de la Montagne de Harz. Les gens se prominent lä tout nus et e'est tout nu que le Sujet m'est d'abord apparu. Hesslings Musterung und die Beschreibung seiner kurzen militärischen Laufbahn beruhen auf Thomas Manns persönlichen Erfahrungen, wie sie dieser in Briefen an den Bruder vom 25. November und 17. Dezember 1900 und rückblickend in einem Schreiben vom 27. April 1912 wiedergibt. Vgl. Alfred Kantorowicz' Heinrich und Thomas Mann . . . , S.56ff. und 97 ff. * Gretchens Geburtsdatum wird im Untertan auf 1894 festgelegt. Freilich muß man für das Gretchen der Novelle ein Mindestalter von siebzehn Jahren annehmen. Eine ausführliche Darstellung der Quellen für „Gretchen" und den Untertan geben Edgar Kirsch und Hildegard Schmidt in ihrem Aufsatz „Zur Entstehung des Romans Der Untertan", Weimarer Beiträge, 1960-1, S. 112-131. Die Verfasser übersehen jedoch, daß Auszüge aus dem Roman schon vor 1914 im Simplicissimus erschienen waren. Uns interessiert besonders ihre Feststellung: „Immerhin ist es 1
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auffallig, daß der endgültige Text an keiner Stelle die politische Aussage verschärft, sondern sie mildert. Wieweit diese Milderungen dem Standpunkt des Dichters entsprechen, wieweit er dabei lediglich Wünschen seines Verlegers Rechnung trug, läßt sich vorläufig nicht entscheiden." Siehe Diederichs Tischmanieren (AW IV, S.424, und AW IX, S.195), seine Indigestionen (AW IV, S.424, und AW IX, S.195), und sein Ankauf einer das kaiserliche Paar und den Trompeter von Säckingen darstellenden Bronzegruppe (AW IV, S.370, und AW IX, S.195). In den Entwürfen zum Roman heißt Hessling noch Hänfling, und es ist davon die Rede, das Werk solle die „Geschichte einer öffentlichen Seele unter Wilhelm II." darstellen. E. T. A. Hoffmann ist der einzige deutsche Romantiker, für den Heinrich Mann etwas übrig hatte und dessen Name wiederholt in seinen Essays auftaucht. Sonst hielt er dafür, daß „das Lebensgefühl der Romantiker das niedrigste gewesen sei, das eine Literatur haben könne" (Zeitalter, S.23). „Der Bruder berichtete von den Familienereignissen und schloß eine Chronik sensationeller Begebenheiten aus aller Welt an, die dem Stmplicissimus Ehre gemacht hätte. Die Kaiserreise zum heiligen Grab und die englisch-französischen Spannungen waren zu einer wild-patriotischen Geschichte verknüpft, die mit der Krönung eines neuen Papstes durch den Kaiser ihren Höhepunkt erreichte" {Wir waren fünf, S.118). Vergleiche AW I, S.404 und passim mit dem Hinweis: „Endlich konnte er [Hessling] ihm [Napoleon Fischer] etwas nachweisen" (AW IV, S. 106). Vergleiche Manns Bemerkung „Unrat haßte Lohmann beinahe mehr als die anderen wegen seiner unnahbaren Widersetzlichkeit; auch deshalb, weil Lohmann ihm nicht seinen Namen gab" (AW I, S. 412) mit Hesslings Ansicht „Diese Ruhe war Aufruhr" (AW IV, S.238). „Abdankung" erschien im Bande Stürmische Morgen. Die Novelle findet sich in AW IX, S.91ff. AW IV, S.427. Im fünften Kapitel seines Buches Escape from Freedom (New York, 1941) beschreibt Erich Fromm vom psycho-analytischen Standpunkt aus das Wesen der sado-masochistischen Persönlichkeit. So heißt es auf S.158: No doubt with regard to its practical consequences the wish to be dependent or to suffer is the opposite of the wish to dominate and to make others suffer. Psychologically, however, both tendencies are the outcomes of one basic need, springing from the inability to bear the isolation and weakness of one's own self. I suggest calling the aim which is at the basis of both sadism and masochism: symbiosis. Symbiosis, in this psychological sense, means the union of one individual self with another self . . . in such a way as to make each lose the integrity of its own self and to make them completely dependent on each other. „Das Kind" erschien zuerst im Bande Sie sind jung (Wien, 1929). Die Skizze findet sich in AW IX, S.7ff. Vergleiche S.53 dieses Bandes mit AW IV, S.10.
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" Thomas Mann, Gesammelte Werke (Berlin: S. Fischer, 1925), Bd.VIII, S.599. 18 Die folgenden Abschnitte wurden im Simplicissimus veröffentlicht: „Lebensfrühling" (S.5-13 des Romans) am 27. November 1911, „Die Neuteutonen" (S. 26-37) am 22. April 1912, „Die Macht" (S.41-50) am 1. Juli 1912, „Der Krawall" (S. 50-59) am 9. September 1912. Ich habe die drei letztgenannten Auszüge mit der endgültigen Fassung verglichen und eine Reihe stilistischer Änderungen festgestellt. Auch inhaltlich stimmen die Abschnitte nicht völlig überein. So fehlen z.B. in der Buchausgabe ein Vorfall, bei dem der betrunkene Held einen Leutnant mit den Worten umarmt „Wenn ich erst verheiratet bin!", der Besuch eines Wanderkünstlers bei Diederichs Burschenschaft, die ihn beauftragt, Delitzsch' Hintern plastisch nachzuformen, und die ihn davonjagt, als er „die gleiche Gegend des männlichen Körpers auch von vom" darstellt, und ein rauher Scherz, den sich die Einjährig-Freiwilligen mit ihrem Vorgesetzten erlauben. Viktor Mann (Wir waren f ü n f , S.339) äußert sich wie folgt über den Eindruck, den das Kapitel „Die Neuteutonen" auf ihn und seine Kneipbrüder machte: Aber das böse Kapitel „Die Neuteutonen" bedrückte weder mein Gemüt noch brachte es mich in die Lage, den Dichter gegen die Empörung meiner Bundesbrüder oder anderer Couleurstudenten in Schutz nehmen zu müssen. Die karikierende Übertreibung hatte mit der .Neuteutonia' das Bild einer lächerlichen Blase geschaffen, einer minderwertigen Verbindung von Minderwertigen also . . . Nur im stillen war ich mir auch damals schon bewußt, daß die Dinge nicht ganz so lagen und daß mit dem übelsten Spießertyp der bürgerliche Untertan Wilhelm II. schlechthin gezeichnet . . . werden sollte. Vergleiche auch Heinrich Manns (?) Feststellung im Zwanzigsten Jahrhundert (VI/1, S.9), daß „dem deutschen Volke das Bild des deutschen Studenten mit seinen Licht- und Schattenseiten, in seiner Erhabenheit wie seiner Thorheit, seinem Glänze und seiner Dürftigkeit gerade wegen dieser Gegensätze, dieses .Helldunkels' ein köstlicher, nicht zu missender Besitz" geworden sei. " Der März, VIII (1913), S. 10-16 (entspricht AW IV, S. 129-137). 14
" Die Veröffentlichung begann am 1. Januar 1914 und wurde mit der Nummer vom 13. August des gleichen Jahres abgeschlossen (entspricht AW IV, S.409). Kirsch/Schmidt erklären, der Roman sei schon 1914 von der russischen Zeitschrift Sowremenny Mir seriatim veröffentlicht worden und 1915 in Rußland als Buch erschienen. Im Marbacher Archiv befindet sich die Vertragsbestätigung des Chefredakteurs Heinrich Michalski, woraus hervorgeht, daß der Abdruck des Romans spätestens am 1. November 1913 zu beginnen habe. Ferner heißt es: „Streichungen von Stellen allzu erotischer Art werden von uns beiden vereinbart." 17
Zitiert nach Viktor Mann (S.364). Der Originalbrief des Herausgebers von Zeit im Bild befindet sich im Schiller-Nationalarchiv in Marbach.
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Kirsch/Schmidt nennen mehrere andere Empfänger dieses Privatdrucks von dem sich ein Exemplar im Heinrich-Mann-Archiv befindet.
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Die englische Übersetzung von Ernest Boyd kursiert unter den Namen The Patrioteer (New York, 1921), Little Superman (New York, 1945) und Man of Straw (London, 1947). In der angloamerikanischen Presse wurde das Werk nicht eben begeistert aufgenommen. In Frankreich dagegen fand Der Untertan ein starkes Echo. Daniel Rops besprach ihn in Les Nouvelles Littiraires vom 8. Juni 1929 („on y appreciera son rdalisme, qui aborde l'homme avec une franchise, une luciditd remarquable") und Jean-Edouard Spenli in Le Mercure de France. Spenld verglich Manns Roman mit La Conquete de Plassans, dem vierten Band von Zolas Rougon-Macquart-Serie. Die Literatur, Bd. XXI (1919), S. 518 ff. Siehe auch Ludwig Marcuses Hinweis anläßlich der Neuauflage des Untertan im Aufbau vom 26. Dezember 1958. Ausgewählte Lyrik und Prosa (Berlin, 1952), S. 000. Die Besprechung erschien ursprünglich in Band XIII, No. 15, der Weltbühne. Sie wurde auf S. 290 der von Walter Victor herausgegebenen Tucholsky-Anthologie Ausgewählte Lyrik und Prosa (Berlin: Bibliothek freier deutscher Schriftsteller, 1952) wiederabgedruckt. Journal of English and Germanic Philology, Bd. XII (1954), S. 319-333. In seinem Buch Germany After Bismarck (Cambridge: Harvard University Press, 1958, S.215) stellt J. Alden Nichols fest: „The business depression which had started in 1890 had continued in a downward spiral through 1891, aggravated by unusually high food prices. The winter 1891/92 had been especially hard, with great unemployment and frequent riots in the cities. In late February, mobs of unemployed workers had rioted for three days in Berlin, smashing and looting shopwindows and clashing with police." „Die Abendblätter verbreiteten sich im Theater, und man erfuhr, der Kaiser werde noch nachts abreisen, und er habe seinen Reichstag aufgelöst" (AW IV, S.356). Die Zahlenangaben bei Nichols und Ludwig Bergsträsser (Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, München, 1952). Siehe Johannes von Kürenbergs Darstellung der Affäre auf S.124ff. seines Buches War alles falsch ? (Bonn, 1951). Auf S.433 wird des Kaisers „Gesang an Aegir" (den der Herausgeber des Zwanzigsten Jahrhunderts „eine herrliche Standarte" nennt, die den Deutschen in die unbekannte altnordische Germanenwelt voranwehen könne) erwähnt. Maximilian Harden griff die Schöpfung des kaiserlichen Dilettanten in einem „Kaiserliche Kunst" betitelten Leitartikel der Zukunft (Bd.IX, 1894, S.296) an. „Weil im Reichstag der alte Landgerichtsrat Kühlemann, ein Freund des berüchtigten Eugen Richter, saß" (AW IV, S.102). „Die Neuteutonen stimmten nach [von Barnims] Besuch alle darin überein, daß der jüdische Liberalismus die Vorfrucht der Sozialdemokratie
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sei, und daß die christlichen Deutschen sich um den Hofprediger Stöcker zu scharen hätten" (ebd., S.51). 30 „Ihr wähnt Euch einig, weil die Pest der Knechtschaft sich verallgemeinert. Das hat Herwegh, ein Uberlebender wie ich, im Frühjahr einundsiebzig den Siegestrunkenen zugerufen" (ebd., S . l l l ) . J l Siehe etwa: „Die Nörgler mögen gefälligst den deutschen Staub von ihren Pantoifeln schütteln" (Rede Wilhelms vor dem Brandenburgischen Landtag am 24. Februar 1892 und AW IV, S.53); „Lieber lassen wir unsere gesamten achtzehn Armeekorps und 42 Millionen Einwohner auf der Strecke" (Rede Wilhelms in Frankfurt an der Oder am 16. August 1889 und AW IV, S.306); „Jetzt habe ich das Steuer selbst in die Hand genommen; mein Kurs ist der richtige" und „Ich kenne nur zwei Parteien, die für mich und die wider mich" (zitiert auf S. 123, 138 und 272 des Untertan). f * Bergsträsser, S.143. " Gesammelte Werke (München, 1924), Bd.II, S. 554ff. 34 Siehe besonders S.100 und 154 des Romans. M Schippeis unglaublich komisches Debut in der bürgerlichen Gesellschaft findet ein Echo in Napoleon Fischers außergewöhnlicher Anpassungsfähigkeit: ,,[Er] nickte, als habe er sich dies schon gedacht. Er schien an solche vertraulichen Unterredungen nunmehr gewöhnt, auf Diederichs ersten Wink griff er sogleich in die Zigarrenkiste, und er schlug sogar das Bein über" (AW IV, S.308). " Das Katermäßige von Hesslings Gesicht wird auf S.95 betont: „Der von Haaren entblößte Mund hatte, besonders wenn man die Lippen herabzog, etwas katerhaft drohendes, und die Spitzen des Bartes starrten bis in die Augen, die Diederich selbst Furcht erregten, als blitzten sie aus dem Gesicht der Macht." Die Ähnlichkeit mit dem Kaiser wird vom Redakteur Nothgroschen auf S.152 bemerkt. Vergleiche die Bemerkung „Er wäre gern selber der erste Arbeiterführer geworden. Sie haben nur nicht gewollt" (AW IV, S.75) mit dem folgenden Auszug aus einer von Wilhelm II. am 16. Mai 1889 vor Grubenbesitzern gehaltenen Rede (Die Reden Wilhelms II.; Leipzig, 1897, Bd. II, S.56): „Die Arbeiter lesen Zeitungen und wissen, wie das Verhältnis des Lohnes zu dem Gewinne der Gesellschaften steht. Daß sie mehr oder weniger daran teilhaben wollen, ist erklärlich." *8 „Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen. . . . Der deutsche Aufsatz muß der Mittelpunkt sein, um den sich alles dreht" (a.a.O., Bd.I, S.156). " Wolfgang Bucks Schwäche besteht unter anderem darin, daß er sich seiner intellektuellen Überlegenheit zu sehr bewußt ist. Durch seine blendende Rhetorik verpatzt er den Freispruch Lauers, der schon so gut wie gesichert schien. Vielleicht kam Heinrich Mann dieser Einfall aufgrund der Lektüre der Tagebücher der Brüder Goncourt, wo es unter dem 20. Dezember 1853 heißt: „[M. Jules Delaborde] nous conseillait 136
de nous abstenir d'un avocat brillant, dont le talent pouvait blesset et irriter les juges." 40 Schon am 14. Mai 1889 stellte Wilhelm in Gegenwart einer Delegation streikender Kumpels fest: „Denn für mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind" (a.a.O., Bd.I, S.54). 41 „Diederich verstand unter Sozialdemokratie nur eine allgemeine Teilerei. Das genügte ihm auch" (AW IV, S. 51). Pieter Boonstra (Heinrieb Mann als politischer Schriftsteller; Utrecht, 1945) weist darauf hin, daß Heinrich Mann selbst nicht sehr gut über die Ziele der Sozialdemokratie unterrichtet war. Er scheint zum Beispiel angenommen zu haben, die Partei könne beim Bau eines Gewerkschaftshauses mit geldlicher Unterstützung von Seiten der städtischen Behörden rechnen. 41 Bergsträsser, a.a.O., S.145. Damals gab selbst Eugen Richter Anweisung, „bei Stichwahlen für das Zentrum, selbst für die sonst bis aufs Messer bekämpfte Sozialdemokratie und gegen die Nationalliberalen zu stimmen". 43 Zeitalter, S.12f. Thomas Mann wehrte sich mit folgendem Argument gegen den Vorwurf, Königliche Hoheit in völliger Unkenntnis des Hoflebens geschrieben zu haben: „Wenn ich zwanzig Minuten lang einem Wittelsbacher zugesehen habe, wie er in einem Ballsaal Cercle hält, oder Wilhelm dem Zweiten, wie er eine Grundsteinlegung vornimmt, so habe ich wesentlichere, intensivere, mitteilenswertere Eindrücke von Fürstentum und Repräsentation gewonnen als irgendein Hofmarschall in zwanzig Dienstjahren gewinnt" (Gesammelte Werke; Berlin, 1956, Bd. XII, S.360). 44 Die Frage der Majestätsbeleidigung war so akut, daß ein Leitartikel der Zukunft (Bd.XXI, 1897, S.449ff.) sich „Über die Zulässigkeit und die Grenzen der Majestätsbeleidigung als eines Strafbegrilfes im modernen Staatsleben" ausließ. 45 Aus dem Essay „Kaiserreich und Republik". Auf S.149 des Untertan verfaßt Jadassohn ein Telegramm an den Kaiser, in dem es heißt: „Wir . . . sehen in der heute . . . erfolgten mutigen Tat . . . die erfreuliche Bestätigung, daß Eure Majestät, nicht weniger als Hammurabi und Kaiser Wilhelm der Große, das Werkzeug Gottes ist." In einem an den Admiral Hollmann gerichteten Brief scheint Wilhelm II. zehn Monarchen (darunter Hammurabi), die er für gottbegnadet hielt, aufgezählt zu haben. Vgl. den „Hammurabi" betitelten Leitartikel der Zukunft (Bd. XLII, 1903, S.449ff.). 4* Es ist bekannt, daß der Kaiser heimlich mit mehreren Dramatikern zusammenarbeitete. 4' Verlust der Mitte (Salzburg, 1948), S. 15 ff. 48 „Es entsprach seinen Trieben, als eingetragenes Mitglied eines Standes, einer Berufsklasse, nicht persönlich, sondern korporativ im Leben Fuß zu fassen" (AW IV, S.51). " „Aber allen stand die Ehre der Neuteutonia hoch genug, um zu schweigen, ja um das Erblickte zu vergessen" (ebd., S.32). 137
" „ D a r a u f zeigte der Vorgesetzte ihm das Papier mit dem Fuß, sprach leise und mit einer Betonung, die ihm befahl, etwas zu sehen, was nicht da war. Der Stabsarzt . . . zog die Absätze zusammen: er hatte das Befohlene gesehen" (ebd., S.48). Siehe auch den schon erwähnten Brief Thomas Manns v o m 27. April 1912. 61
Siehe Bahrs Buch Der Anti-Semitismus: (Berlin, 1894).
Ein
internationales Interview
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Ludwig Bergsträsser, a . a . O . , S.152, bemerkt: „ N a c h d e m schon seit 1875 politische Publizisten die wirtschaftliche Krise antisemitisch ausgebeutet hatten, war eine antisemitische Bewegung zum ersten Male in Nachwirkung der Gründerzeit zu Beginn der 80 er Jahre in Berlin entstanden. Damals war sie von Bismarck wohlwollend behandelt worden."
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Das einzige Hindernis, das Jadassohns Arisierung entgegensteht, sind seine Ohren. E r reist nach Paris, um sich operieren zu lassen.
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Jacob R. Marcus {The Rise and Destiny of the German Jews; Cincinnati, 1934) bemerkt, daß Wilhelm II. entfernt mit seinem Kolonialsekretär Bernhard Dernburg verwandt war. Einer der Hauptstützen der Flotte war der J u d e Albert Ballin.
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In seiner Wut wirft Hessling Jadassohn einmal „jüdischen Radikalism u s " vor, sieht sich aber später gezwungen, diese Anschuldigung zurückzunehmen.
"
Siehe auch Robert Toberentz' Aufsatz „ B e g a s und das Kaiser-Denkmal" {Die Zukunft, II, 1893, S.231). In seinem Essay „ D i e Siegesallee" (ebd., X X I V , 1901, S.492ff.) sagt Karl Scheffler unter anderem: „Hier gibt es nur zur Siegesallee abkommandierte Bildhauer und eine militärisch kontrollierte, im Heroldsamt entstandene K u n s t . "
"
Siehe S.191 von Christian Gauss' Buch The German Emperor as Shown in His Public Utterances (New York, 1913), Fußnote.
" E b d . , S.193. 59
Hesslings politisierende Kunstauffassung erhellt auch aus einem Gespräch mit seiner Gattin auf S . 3 3 9 : Einmal auf so hohem Gedankenflug begriffen, äußerte sich Diederich über die Kunst im allgemeinen. Unter den Künsten gab es eine Rangordnung. „ D i e höchste ist die Musik, daher ist sie die deutsche Kunst. Dann kommt das D r a m a . " „ W a r u m ? " fragte Guste. „Weil man es manchmal in Musik setzen kann, und weil man es nicht zu lesen braucht, und überhaupt - " . „ U n d was kommt d a n n ? " „ D i e Porträtmalerei natürlich, wegen der Kaiserbilder. D a s übrige ist nicht so wichtig." „ U n d der R o m a n ? " „ D e r ist keine Kunst. Wenigstens Gott sei Dank keine deutsche: das sagt schon der N a m e . "
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A.a.O., S.96. Vergleiche auch Heinrich Manns Wagner-Kritik in seinem Essay „Kaiserreich und Republik" (AW XII, S.47). AW XII, S.12f. Der Essay, ursprünglich im Berliner Tageblatt vom 27. Mai 1917 erschienen, wurde später in den Sammelband Macht und Mensch aufgenommen. Der Untertan / Die Armen (Berlin-Wien-Leipzig, 1925), S. 688. Der Ton des zweiten Teils des Essays „Das junge Geschlecht" (1917) ist optimistisch, der des Essays „Die jungen Leute" (1925) pessimistisch. Der Schlußabschnitt des letzteren Essays nimmt Bezug auf den Kopf. Thomas Mann {The Dial, LXXXIX, 1925, S.335) äußerte sich wie folgt: „This new volume is the novel of the leaders, and my judgement is free from personal bias when I say that it marks by far the highest point in this series of social criticisms. Further it belongs among the strongest and most beautiful attainments of this brilliant and, in the best sense of the word, sensational author, ranking in my mind with his masterpieces Die kleine Stadt and Professor Unrat." Siehe auch Erich Dürr, „Der Selbstmord des Kopfes" in Die Literatur, XXVIII (1925/26), S.75-77, und Erich Posselts Kritik in Saturday Review of Literature, II (1925), S.87. In einem Schreiben Thomas Manns an Julius Bab vom 23. April 1925 {Briefe I, S.238) heißt es: „Das Zolaeske ist schwach in mir, und daß ich auf den 8-Stundentag hätte kommen müssen, mutet mich fast wie eine Parodie des sozialen Gesichtspunktes an. Aber da haben wir ja nun den Kopf. Ich gehe erst jetzt daran, vermute aber im Voraus, daß das Prinzip der Arbeitsteilung zwischen uns Brüdern gewahrt ist." Heinrich Mann, S. 75. Im „Discours tenu ä la ligue des Droits de l'Homme et λ l'Union feminine pour la Socidti des Nations" (AW XII, S. 354ff.) weist Heinrich Mann auf den Vorteil hin, den die geschichtliche Lage dem Verfasser der Rougon-Macquart-Serie bot, während er im zweiten und dritten Teil der Trilogie „l'epilogue du regime tombd" schrieb." Gerhart Hauptmann erscheint in Der Kopf unter dem Pseudonym Hummel. Es läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob und bis zu welchem Grade Stellen wie die auf S.495 der Armen ernst gemeint sind. Mann läßt Balrich zum Beispiel behaupten: „Soviel ließe sich wohl sagen, daß die Versicherungen und Fürsorgen ihre zwei guten Seiten hatten, eine für uns [die Arbeiter] und eine für die Reichen, denen sie zu einem besseren Schlaf verhalfen" (ebd., S.497). „Dies war der Zeitpunkt, da Klinkorum sich verschwur zum vorbehaltlosen Verderben Diederich Hesslings . . . Künftig verschlug kein Paktieren mehr, Klinkorum war ein Empörer und hielt es mit den Empörern" (ebd., S.596). „Papier haben wir produziert in Gausenfeid, daß wir die ganze Welt damit zudecken können. Und vielleicht werden wir auch einmal etwas fabrizieren, was unser Reich noch notwendiger braucht" (ebd., S.593). „Hessling nannte seinen Schwager einen Schöngeist und Verteidiger in Majestätsbeleidigungsprozessen, den richtigen Sohn und Erben eines 139
alten Achtundvierzigers. Sein Gesinnungswechsel sei ihm bezahlt worden, als Hessling ihm seine Schwester gab" (ebd., S.516). Ti „Er fühlte: der grauenvollste Mißbrauch der Macht war erst hier verübt worden. Das Ideal, untersucht im Irrenhaus" (ebd., S.585). " „Um so schlimmer, dann konnte er gerecht sein, weil es sein Vorteil war, und die Reichen wurden reicher sogar durch ihre Tugend" (ebd., S.489) und „Alle hier waren gute Leute und handelten infolge ihrer Armut, als seien sie böse Leute, - indes Reiche, die nicht gut waren, sogar gerecht sein durften" (ebd., S.490). Ein ähnliches Argument findet sich schon in Gorkis Nachtasyl. '* „Es bleibt also beim Sonderfall. Es wird kein grundsätzlicher, kein gesetzmäßiger Gegensatz. Es ist keine revolutionäre, sondern eine privatrechtliche Situation." Herbert Ihering, Heinrich Mann, S.68. 78
„War die Schuld bei seiner Beschäftigung? den Büchern, die nicht vom Brot, immer nur von Ideen wußten und ihn langsam abtrennten von seiner Klasse?" (A.a.O., S.628). 78 „Der Haß 1 fühlte der Arbeiter Balrich. Mit ihm gehst du schlafen und stehst wieder auf mit ihm" (ebd., S.488). 77 „An Hessling konnten wir nicht hinan, - mit ihm gegen die, die uns überfallen. Dort winkt der Sieg. Krieg muß sein, damit endlich wir Armen das Glück erraffen, das kein Kampf des Lebens uns bringen wollte . . . Was Proletarier, was Bourgeois, - das Vaterland" (ebd., S.689). 78 Viktor Mann behauptet, sein Bruder sei vorübergehend auch Patriot gewesen. Doch „dieser Glaube vermochte ihm den seinigen nicht zu nehmen. Er konnte als Sinn des furchtbaren Kriegsunglücks nur den Sturz der Macht sehen, den er im Untertan prophezeit hatte. Er ging schmerzlich, aber unbeugsam auf gerader Linie weiter" (a. a. O., S. 413 f.). '» Nouvelle Revue Fran^aise vom 1. Oktober 1925, S.510f. 80 Besonders Ihering. Siehe auch Anselma Heines Rezension der Armen „Heinrich Manns Führerberuf: Eine Betrachtung anläßlich seines Romans Die Armen" in Das literarische Echo, X X (1917/18), S.377fF. 81 Ebd. 81 Siehe Georg Schneider, Die Scblüsselliteratur (Stuttgart, 1952). Auf S.240 des Zeitalters berichtet Heinrich Mann, im ersten Entwurf des Kopfes habe er es für nötig befunden, „die Handlung in ein Land mit ausgedachtem Namen zu verlegen". 88 Ein Erlebnis der Schauspielerin Lea Terra wird in der Novelle „Szene" festgehalten. Vergleiche Der Kopf (Berlin/Wien/Leipzig, 1925), S.290 bis 301 mit AW III, S. 451-456. M The Dial, LXXIX (1925), S.336. 88 Dieser Prolog ist identisch mit der Novelle „Der Mörder". 88 Der KopfS. 59. 87 Terra selbst drückt das so aus: „Wir sind vor allem gescheitert, weil nicht einzusehen ist, warum irgend jemand, der Talent hat und es der
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menschlichen Gesellschaft vorsetzt, nicht scheitern sollte. Sie will Talente nicht - und ausschließlich Zufalle, die ihr selbst am peinlichsten sind, bewegen sie manchmal, eins durchzulassen" (ebd., S.632). Schon der Arzt in den Armen (S.587) hatte Balrich vorgehalten: „Wir wären weit öfter Genies, wenn nur das Leben sie immer brauchen könnte." Kanzler Lannas ist der typische Kompromißler; sagt er doch selbst (S.433): „Ich bin der, der immer rüstet, aber nie kämpfen wird. Mein Feld ist das Ergebnislose." A.a.O., S.258. Anklänge an Wedekind finden sich an vielen Stellen des Romans. Zeitweilig wird Terra z.B. von einer „Generalagentur für das gesamte Leben" (S. 116) beschäftigt. Lili-Lulu ist „das unzerstörbare Geschlecht" (S.414); und auf S.116 erklärt Terra: „Für seine nicht vorhandene Oper habe ich mir die Nägel zerrissen, als hätte ich einen Fahrweg zur Seligkeit eigenhändig anlegen wollen." Vergleiche AW XI, S.407 („Um besser mit der Welt fertig zu werden, riet er, sie anzuerkennen wie sie war. Die Wirklichkeit anerkennen, damit sie anbiß und das Werk annahm, das sie selbst umstürzen sollte. ,Gute Geschäfte lassen sich nur mit der bestehenden Gesellschaftsordnung machen.' Wedekind meinte es anders als es klingt. Die angemaßte Machtvollkommenheit der Welt gab ihm Paradoxe ein, die oftmals reiner Humor waren. Die Welt bestimmt alles, sogar Begabung muß verwendbar sein.") mit Der Kopf, S. 633 („Ich faßte den Entschluß, meine Geschäfte mit der bestehenden Gesellschaftsordnung zu machen. Das Schlimmste, was geschehen konnte, ist eingetreten: ich habe sie gemacht").
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ACHTES KAPITEL
VON „MUTTER MARIE" ZU „EIN ERNSTES LEBEN" Wie Heinrich Mann in einem der Zeitschrift Les Nouvelles Littiraires (24. Dezember 1927, S.l) gewährten Interview betont, eignete sich die Inflations- und Stabilisierungszeit (welch letztere unter dem Zeichen der Neuen Sachlichkeit stand) wenig zur Produktion von Romanen der üblichen Art. Seiner Meinung nach waren die Schriftsteller dieser Epoche zu sehr vom Tagesgeschehen beeinflußt, um die künftige Gestalt einer in sich selbst uneinigen Gesellschaft erahnen zu können. Daher auch der fragmentarische Charakter und die weltanschauliche Unentschlossenheit derjenigen seiner Romane, bei denen die Weimarer Republik Pate stand: II me parait difficile de faire aujourd'hui du roman social et du vrai roman. Le monde est tris chang6 par les 6vfenements. Trop de faits nouveaux embarrassent le regard. Les vues d'ensemble ne s'organisent que plus tard, lorsque nous nous trouverons ä une plus grande distance. Pour le moment, contentions nous d'etablir les details de ce temps-ifi et d'en montrer les caractferes. Aussi, nous romans sont plus courts qu'ils n'dtaient nagufere, ou bien ils occupent une surface sociale plus restreinte. Freilich gab es einen noch gewichtigeren persönlichen Grund für das Versiegen von Heinrich Manns künstlerischer Ader in der Zeit zwischen dem Locarno-Pakt und der Machtergreifung Adolf Hitlers: sein die ganze Person in Anspruch nehmendes Interesse an politischen und kulturpolitischen Fragen. Die unzähligen Reden und Vorträge, die er in diesen bewegten Jahren hielt, behandeln eine Reihe von brennenden Problemen, rein politischen („Die Tragödie von 1923", „VSE", „Der tiefere Sinn der Republik", „Das Bekenntnis zum Übernationalen"), die deutsch-französische Frage betreffenden („Die Literatur und die deutsch-französische Verständigung", „Discours tenu a la Ligue des Droits de l'Homme et ä l'Union feminine pour la Soci6t6 des Nations"), Geist und Tat vereinenden („Dichtkunst und Politik", „Der Schriftsteller und der Staat") und auf Deutschlands 142
„geistige Lage" bezogenen. Die wichtigsten dieser Äußerungen wurden in die Sammelbände Sieben Jahre (1928), Geist und Tat (1931) und Das öffentliche Leben (1932)1, die Heinrich Manns geistige Entwicklung in den Krisenjahren dokumentieren, aufgenommen. Von den vier Romanen, die Mann zwischen 1927 und 1932 veröffentlichte (Mutter Marie, Eugenie oder Die Bärger zeit, Die große Sache und Ein ernstes Leben), ist der zweite am lesenswertesten, zumal er auch künstlerisch am besten strukturiert ist. In diesem Zusammenhang sei auf Lyonel Dunins programmatische Feststellung in der Einleitung zu der von einer Lesegemeinschaft veranstalteten Ausgabe der Mutter Marie verwiesen: Im Gegensatz zu den drei Romanen der Sitten- und Trostlosigkeit, die Heinrich Mann in dem Gemälde Das Kaiserreich geben wollte, soll sich nunmehr eine Romanfolge der Pflichtbegriffe und der Hoffnungsfreude ergeben und dem Werke eingliedern. Den drei die Unmoral aufzeigenden pessimistischen Romanen will der Dichter eine Dreiheit moralischer und optimistischer Romane folgen lassen . . . Leitgedanke und Lehrsatz sollen der Reihe nach sein: Lerne verantworten, lerne erdulden, lerne dich freuen* I
In Mutter Marie wird das Problem der Verantwortung in der Weise berührt, daß der Kampf einer Mutter um ihren Sohn, den sie nach der Geburt aussetzte und der in der Familie eines in der Industrie tätigen ehemaligen Generals aufwächst, geschildert wird. Die Baronin von Hartmann, ihrer eigenen niedrigen Herkunft uneingedenk8, wird bekehrt zur Mutter Marie, die auf alle Ansprüche auf ihren Sohn verzichtet, um seinem Glück nicht im Wege zu stehen. Im Mittelpunkt des Romans steht ihre Beichte in der Berliner Hedwigskirche, die dieser Bekehrung vorausgeht. Überzeugend wirkt jedoch weder diese noch irgendeine andere Szene der Mutter Marie; und keiner der darin vorkommenden Charaktere vermag uns menschlich anzusprechen. Auf diesen in bester Absicht geschriebenen, aber viel zu lose gebauten Roman der Verantwortung folgte ein Werk (es gehört nicht zu der von Dunin erwähnten Trilogie), dem man künstlerische Finesse nicht absprechen kann. Eugenie oder Die Bürgerzeit ist weder ein zeitgeschichtliches Dokument noch kann es schlechthin als Gesellschaftssatire gelten. Man möchte es eher als eine tragisch gestimmte Sozialkomödie bezeichnen. Trotz einschneidender thematischer und stilistischer Unterschiede stellt es eine Art Gegenstück zu den 143
Buddenbrooks dar 4 . Beide Werke sind in Lübeck spielende R o m a n e bürgerlicher Dekadenz. Während aber T h o m a s Mann die Geschichte der Buddenbrooks über vier Generationen hin vor uns abrollen läßt, konzentriert sich sein Bruder auf das Schlußstadium des Prozesses, das durch K o n s u l Wests finanziellen Ruin bezeichnet wird. Der Zeitpunkt des endgültigen Zusammenbruchs ist aber in beiden Fällen der gleiche: T o n y Buddenbrooks H a u s wird im Jahre 1872 versteigert; und das V e r m ö g e n der Wests geht 1873, das heißt kurz nach dem T o d e des französischen Kaisers, dessen Gefährtin dem R o m a n den N a m e n gibt, in Rauch a u f 6 . D i e beiden Verfallsromane unterscheiden sich auch darin voneinander, daß das Schicksal der Buddenbrooks unwiderruflich ist ( „ H a n n o , kleiner H a n n o " , fuhr Frau Permaneder fort, und die Tränen flössen über die flaumige, matte Haut ihrer Wangen . . . „ T o m , Vater, Großvater und die anderen alle. Wo sind sie hin ? Man sieht sie nicht mehr. Ach, es ist so hart und t r a u r i g " e ) , während der Schluß v o n Eugenie wenigstens die Möglichkeit einer Regeneration offen läßt. Was ein amerikanischer Rezensent des Romans Heinrich Manns eingeborenen Konservativismus nannte, spricht sich in der (wie ernsthaft vertretenen ?) Meinung aus, daß die Zeit alle Wunden heile und das Bürgertum gerade dadurch Dauer habe, daß es zusammenhält und Zeit hat, den L a u f der D i n g e abzuwarten 7 . Bürgermeister Reuter, der deus ex machina des R o m a n s , drückt das dem K o n s u l gegenüber so a u s : „Bedenken Sie aber auch, daß die Reuter zweihundert Jahre fortbleiben mußten. Wir rechnen mit langen Fristen und wehe, wenn wir E i l e hätten. D a n n wäre die Bürgerzeit bald v o r b e i 8 . " Der Hauptvertreter bürgerlicher Lebensart in Eugenie ist der K o n sul J ü r g e n West, dessen seelisches Gleichgewicht durch zwei Abenteurer, einem Börsen- und einem Gefühlsspekulanten, empfindlich gestört wird. West ist diesem doppelten Ansturm nicht gewachsen und sieht sich schließlich gezwungen, vor dem Unglück zu kapitulieren". D o c h vermag er durch großzügige Hilfe seitens eines Dritten die Katastrophe abzuwenden. A m E n d e des Romans wird angedeutet, daß er und seine Gattin den Rest des Lebens im L i m b o wirtschaftlichgesellschaftlicher Anonymität verbringen müssen, den N a c h k o m m e n aber vielleicht mehr G l ü c k beschieden sein wird. D o c h ist dem fünfjährigen Söhnchen des Paares, J ü r g e n jr., nicht viel zuzutrauen. Derselbe ist viel zu „ f r a g w ü r d i g " 1 0 veranlagt, u m seinen Eltern ein Augentrost zu sein. Auch hat er keine der musikalischen B e g a b u n g Hanno Buddenbrooks entsprechenden Talente aufzuweisen. S o kann
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sich der Leser des Gefühls nicht erwehren, daß Heinrich Manns Optimismus blind ist. Außer Jürgen West wird die Bourgeoisie in Eugenie durch mehrere Nebenpersonen, darunter Gabrieles ehemalige Rivalin Emmy Nissen und die beiden Leutnants von Kessel und von Kühn vertreten. Sie runden das Bild des Mittelstandes in der Kleinstadt der Gründerjahre ab. Wir können uns eine Analyse ihres Charakters ersparen und wenden uns ohne weiteres den beiden Abenteurern zu, die für die eigentliche Handlung des Romans verantwortlich zeichnen. Gabriele West, Jürgens fremdbürtige Gemahlin, ist nach Kurt Martens „schon aus früheren Romanen der Brüder Mann bekannt und in Einzelzügen hier nuanciert"11. Viktor Mann (a.a.O., S.515) nennt sie schlechthin „eine Lübeckerin, die eine unserer Großmütter hätte sein können". In der Tat hat, was ihre Abstammung betrifft, Gabriele wenigstens soviel mit Julia da Silva Bruhns gemein, daß auch sie dem romanischen Raum entstammt" und sich nur schwer in die ihr ungewohnte Umgebung findet1*. Noch im Alter von zweiundzwanzig Jahren ist sie eine Fremde; denn „die nicht zugelassenen Neigungen, die ihre unbekannte Natur hierher mitgebracht hatte, machten sie zuerst den anderen verdächtig, zuletzt aber auch ihr selbst" (AW V, S. 94). In den Augen der immer noch eifersüchtigen Emmy Nissen ist sie einfach „der Notbehelf derer, die sonst zu vernünftig wären" (ebd., S. 119), das heißt die Verkörperung jener Triebe, die man in der bürgerlichen Gesellschaft gewöhnlich unterdrückt. Emmys Behauptungen sind nicht völlig aus der Luft gegriffen, denn es kommt der Augenblick, da Eugenie versucht ist, Lübeck heimlich als blinder Passagier zu verlassen; und ein andermal verkleidet sie sich als Dienstmädchen, um ungestört durch die anrüchigen Stadtviertel streifen zu können14. Sie hat die rege Einbildungskraft des Kindes bewahrt und versteht sich auf die Kunst des Überredens15. Das Leben ist für sie eine endlose Kette von Rollen, die man lernt, spielt und wieder vergißt. Sie besitzt keine der Eigenschaften, die sich beim Bürgertum der höchsten Wertschätzung erfreuen: Geduld, Beständigkeit und Familiensinn. Sie behandelt ihr Kind mit einer ans Grausame grenzenden Gleichgültigkeit und vergißt es ganz, wenn sie auf Abenteuer auszieht. In ihrer Impulsivität und Unberechenbarkeit erinnert sie an jene andere Gabriele, die „unsterbliche Geliebte" des Königs Henri Quatre im Roman gleichen Namens, eine der unvergeßlichsten Gestalten des Dichters überhaupt1·. 10
Weinteio, Heinrich Mann
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Im Laufe der Handlung gibt Heinrich Mann wiederholt zu verstehen, daß, wäre der zweite Abenteurer ausgeblieben, Gabriele ihre Fremdheit zwar nicht eingebüßt, aber keine Gefahr für die bestehende Gesellschaft dargestellt hätte. Doch bleibt der Eindringling in Gestalt des rätselhaften Spekulanten Pidohn, den der Verfasser der Eugenie nach einem in einen Sensationsprozeß verwickelten Lübecker Kaufmann, dessen Schicksal auch durch die Novellen „Suturp" und „Eine Liebesgeschichte" geistert, zeichnete, nicht aus17. In unserem Roman wird der Name Suturp - ein Pseudonym für Travemünde - zum Symbol der Flucht und des Abenteuers; denn Pidohns Jacht liegt dort ständig segelbereit vor Anker, und zwar, wie Pidohn Gabriele erklärt, aus folgendem Grunde: „Sie werden nicht mit hinaus müssen in den wilden Sturm. Nein, so weit kommt es mit Euresgleichen nie. Ihr seid, sogar für Unglücksfälle, noch immer beieinander versichert. Ich nicht, Madame, Heinrich Pidohn bei niemand" (AW V, S.78). Den Bürgern Lübecks ist Pidohn nicht geheuer; doch können sie nicht umhin, die Gewagtheit seiner geschäftlichen Transaktionen zu bewundem 18 . Während ihr Aberglaube ihnen Furcht vor ihm einflößt, macht ihre Geldgier ihn fast unwiderstehlich. Im Gegensatz zu ihnen verbringt er seine Tage nicht im Büro, sondern hat stets Zeit für Besuche und Ausflüge aller Art. Sein Charakter ähnelt in gewissen Zügen dem des Mephisto, in anderen dem des Ewigen Juden, der sich nach Erlösung und einer Heimat sehnt19. Schon zu Beginn des Romans wächst diese Figur ins Allegorische. Sie kleidet sich schwarz, d. h. in die Farbe des Schicksals, der Trauer und des Teufels: „Dort stand der Schwarze über seinem Stock - die Kleidung schwarz, das Haar von schwarzer Glätte und zwischen schwarzen Backenbärten dies gelbgefärbte, teuflische Gesicht 20 ." Genau wie Bonaparte ist auch er ein Mann des Schicksals, freilich keiner, den das Schicksal zu großen Taten ausersah, sondern ein Mensch, durch den das Schicksal seine Schatten vorauswirft (siehe AW V, S. 86). Mit Pidohns Ankunft in Lübeck - man denkt an Unrat - beginnt das Leben daselbst anders zu pulsieren; und erst nach vielen Irrwegen erkennt Gabriele, der ihre Abenteuer keine Zeit zum Nachdenken ließen, ihre Pflicht: Das Leben schien anfangs so oder so ausfallen zu können. Verlockungen näherten sich, Versprechungen machten sich heran, es sah aus, als hätten wir die Wahl. Wir konnten im Hafen das Schiff besteigen, das in die Vergangenheit fährt, oder die Zukunft mit einem Abenteurer teilen oder den sanftesten der Liebhaber erhören. Zuletzt
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drängt uns doch alles auf einen unausweichlichen Punkt, und er heißt Bescheidung, heißt Ertragen (ebd., S.173). Da Pidohn und Gabriele sich als Charaktere gegenseitig ergänzen, erhebt sich die Frage nach dem Ausmaß ihrer Komplizität. Beiden ist zunächst gemeinsam die Abscheu vor Verpflichtungen den Mitbürgern und der Gemeinde gegenüber. Dessen wird sich schließlich auch Konsul West bewußt, als er den auch auf Gabriele zutreffenden Ausspruch tut: „Verantwortung . . . Er ist ihrer unfähig, sonst hätte er sich längst darauf besonnen, daß wir Kaufleute nicht nur da sind, unbegrenzt Geld zu verdienen. Wir sind Teile eines Ganzen, das in noch höherem Maße unsere Sorge sein muß als das eigene Wohl. Um so sicherer gedeihen auch wir" (ebd., S.27). An einem inneren Zwiespalt leidend, führen Gabriele und Pidohn ein Doppelleben. West weiß darum, tut aber Gabrieles Exzesse mit einem Achselzucken als „romantisch" ab". Pidohns nächtliche Ausflüge sind zwar unwahrscheinlich, deswegen aber nicht weniger wirklich. Das ständige Fluktuieren zwischen Extremen führt bei beiden Abenteurern zur Herausbildung eines nervösen Ticks, der sich in Halluzinationen kund tut. Pidohns Auseinandersetzung mit einem imaginären Partner (seinem ehemaligen Komplizen) im Beisein Gabrieles gibt uns einen Hinweis auf seine zweifelhafte Vergangenheit. Die Trance, in die Gabriele in von Heines Studierzimmer verfällt, ermöglicht es diesem, ihre geheimsten Wünsche zu erlauschen. Erst bei dieser Gelegenheit wird er sich der frappanten Ähnlichkeit zwischen Gabriele und der Kaiserin Eugenie - besonders im Verhältnis zu Pidohn und Napoleon III. - bewußt, die ihn zum Schreiben eines Stückes anregt. Die Kur, die dieses Stück bewirkt, führt zu Gabrieles Wandlung, die derjenigen gleicht, welche während ihres Kasseler Aufenthaltes in Eugenie vorging22. Als Bündnis zweier zum Scheitern verurteilter Abenteurer signalisiert die Ehe des Kaiserpaares die Gefahr, die Gabriele von Seiten Pidohns droht. Doch läßt sich die Parallele nur bedingt auf die Individuen als solche ausdehnen. Zwar ließe sich behaupten, daß Pidohns Spekulationssucht Napoleons politischem Abenteurertum (etwa im Zusammenhang mit dem mexikanischen Unternehmen) entspricht. Doch findet sich von Pidohns schurkischem Wagemut und seiner Zähigkeit beim „zaghaften Nachahmer" des ersten Napoleon, der, wie Heinrich Mann in seiner Lebensbeschreibung sagt, dessen Glanz, aber nicht erst dessen Mühen begehrte, nichts. Napoleon III., so heißt 10»
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es in Ein Zeitalter, „hat die Kriege, zu denen ihn seine Herkunft verpflichtete, mit Vorsicht geführt. Der letzte, über den er stürzte, mußte ihm abgenötigt werden, ebensowohl von seiner Umgebung wie von dem Angreifer" (S. 7). Immerhin findet sich in Pidohns bewegtem Leben manches Echo der kaiserlichen Laufbahn. So entspricht des ersteren, freilich nicht politisch bedingte, Flucht („Man muß nur manchmal nach Chislehurst. O, ich kenne England"2®) der Flucht Napoleons aus der Festung Ham, wo er nach dem Fehlschlagen seines Versuchs, die Regierung Louis Philippes zu stürzen, interniert war. Gabrieles Ähnlichkeit mit Eugenie (ein Gegenstück zum Verhältnis Kaiser-Untertan?) wird zuerst vom Dichter bemerkt, der der Konsulin das folgende Kompliment macht: „Ihr eigener länglicher Gesichtsschnitt, Madame, ja das Blond Ihrer Haare ist das Ihrer früheren Kaiserin - die aber nicht Ihre großen Augen hat" (AW V, S.31). Dieser auch äußerlich nur teilweisen Übereinstimmung entspricht, wie bei Diederich Hessling, eine gewisse seelische Kongenialität. Einer der Biographen Eugenies bezeichnet diese als eine tollkühne Abenteurerin, die, „as she herself says, like the heroines of George Sand's novels, loved danger, lonely rides, exciting hunts"21. Ein zweiter zeigt „how her moods of activity rapidly became excitement, and how this excitement was succeeded by nervous and mental fatigue, and then again by the strength of courage"2S. Politisch wirkten sich bei bestem Willen Eugenies Unstätheit, ihre Disziplinlosigkeit und ihre Eitelkeit verhängnisvoll aus. Was von Heines von der Kaiserin sagt, gilt, mutatis mutandis, auch für Gabriele: [Eugenie], der Sie ähnlich sehen, war keine schlechte Natur. Sie war von Grund aus unschuldig, war nicht ohne Freundlichkeit. Selbst ihre Gefallsucht glich dem Wunsch, zu erfreuen. Freilich verwandelte die mächtige Stellung, die sie einnahm, all dies nur zu bald in Herrschsucht. Das Spiel mit wechselnden Masken begünstigte ihre Launenhaftigkeit. Um sie her verfielen die Sitten (AW V, S.32).
Doch am Ende ist Gabriele, „die sich selbst immer dorthin rechnete, wo das Glück ist" (ebd., S. 32), bereit, das Schicksal ihres Gatten zu teilen. Ihre Einkehr ist das Werk des Dichters, der, indem er sie zwang, sich in die Lage Eugenies zu versetzen und diese in seinem Sinne zu modifizieren, ihren eigenen Charakter modelte. Als Schlüsselszene des Dramoletts, dessen Aufführung den Höhepunkt des Romans bildet, erweist sich das Wiedersehen der kaiser-
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liehen Gatten während Eugenies geheimer Fahrt nach Schloß Wilhelmshöhe im Oktober 1870. Die anwesenden Gäste bezweifeln die Möglichkeit einer solchen Begegnung und halten das Ganze für eine Erfindung von Heines'. Daß sie wirklich stattgefunden hat, bezeugen unter anderem die Aufzeichnungen des Kommandierenden Generals von Kassel, eines Grafen de Monts. Sein (in einem Napoleon I I I . auf Wilhelmshöbe betitelten Buche enthaltener) Augenzeugenbericht wird von E v a Barschak wie folgt zusammengefaßt: [Eugenie and Napoleon] were not long left alone. After the fall of Metz Napoleon had asked that his captive marshals might be imprisoned near him. General de Monts approached to announce that the answer was favorable . . . [Eugenie] spoke for the most part of the Emperor directly, not to the general, and throughout her statements were in a tone of such decision that the German was convinced that not only did she insist upon attention but that hers was habitually the final word (a.a.O., S.303). Zum Inhalt des unter vier Augen geführten Gesprächs zwischen Napoleon und Eugenie läßt die gleiche Biographin die Kaiserin selbst zu Worte kommen: „They say he [Napoleon] is cold, has no feeling, is unapproachable, because he is so cool and reserved in his manner. But they do not really know him. He was in complete control because strangers were present" (ebd., S.254). Was macht aber von Heines aus dieser Begegnung in seinem Schauspiel ? E s war wiederholt davon die Rede, wie sehr es Heinrich Mann lag, Schauspiele oder Opern in seine Romane einzubauen und so den Charakteren eine Art Selbstbespiegelung zu ermöglichen. In denjenigen seiner Werke, in denen Komponisten oder Dichter agieren (wie im Schlaraffenland oder der Kleinen Stadt), ist die Wirkung vielfach sogar eine doppelte. In Eugenie wird der Dichter durch Gabrieles Besuch zum Schaffen angeregt, und seine Schöpfung wirkt auf die Quelle der Inspiration zurück. Auch hier wird die Wand, die die Wirklichkeit von der Dichtung trennt, mitunter so dünn, daß die Handelnden den Boden unter den Füßen verlieren 26 . Die Welt wird zur Bühne, die ihrerseits welthaltig und weltgebärend ist. In von Heines Spiel um Napoleon III. und Eugenie wird die künstlerische Spannung dadurch erhöht, daß eine Begegnung der Fürstin mit dem deutschen Kaiser stattfindet. Doch erweist sich dieser coup de thiätre (es handelt sich um ein deutsches Publikum, und die Rolle Wilhelms wird von einem der Verehrer Gabrieles über-
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nommen) als nebensächlich im Vergleich zur Substitution Pidohns durch von Heines als Napoleon, ein Rollentausch, von dem das Publikum nichts ahnt. Während in den vorhergehenden Szenen Napoleon und Eugenie die figura der „Verschwörung" Pidohns und Gabrieles bezeichneten, verschiebt sich nun der Akzent auf das Problem der Westschen Ehe; denn Napoleons Einstellung zu der von ihm erlittenen Niederlage, wie von Heines sie konstruiert, beinhaltet Wests, nicht Pidohns, Gesinnungswandel: . . . zu hören war, daß er sich seines Unglücks heute so sicher wußte, •wie früher des Glückes. Nichts gab es mehr als Ertragen: das Beschlossene, ja, die Strafe, die gewollt war . . . und ein Verhängnis, das drunten seine Zeitgenossen schaudern machte, sie sahen, wie nur er es mit Hingebung empfing (AW V, S.180f.).
Durch die Übernahme der Pidohn zugedachten Rolle rettet der Dichter nicht nur die Ehe des Konsuls, sondern begibt sich auch des freiwilligen Exils, in das er nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt gegangen war. Resigniert, doch ohne Bitterkeit, bedenkt er die Folgen seines Eingriffs: Habe ich recht gehandelt? Ich weiß nur, daß es notwendig war, ungezwungen kam und daß es gut enden muß . . . Hier denkt niemand daran, mich zu verehren. Das vergessen sie, wenn sie an ihrem Leibe spüren, daß ich da bin. Das ist die Wirklichkeit. Ich bin nicht bloß ein Gegenstand der Verehrung. Der Mann [Jürgen West] haßt mich, noch haßt er mich. Eines Tages wird er mir von selbst die Hand schütteln (ebd., S.151).
Als Vorbild für von Heines, den er mit leichter Herablassung und sanfter Ironie behandelt, diente Heinrich Mann Emanuel Geibel, Lübecks berühmtester Sohn vor Thomas Mann und einer der gläubigsten Propheten der deutschen Einheit 27 . Die Abfassung des Romans Eugenie war also auch ein Akt der Pietät und ein Versuch, dem Phänomen Geibel gerecht zu werden. Ehe er seinen Mitbürgern und damit sich selbst zu Hilfe kommt - eine Tat, zu der Enrico Dorlenghi sich noch nicht aufraffen konnte - , schwanken von Heines' Gefühle zwischen Verachtung und Stolz: „Aufgabe der Menschen war, ihn zu verehren. Es war sogar ihre einzige, wir wollen glauben echte Beziehung zu ihm. Sie hatten nicht nötig, seine Außerordentlichkeit zu begreifen, ihnen ward sie bestätigt durch seinen Titel, den Adel, den Ruhm 28 ." 150
Der so gekennzeichnete Dichter gleicht seinem berühmten Vorbild in mehr als einer Hinsicht. Wie Geibel hatte von Heines die besten Jahre seines Lebens in Hellas verbracht und seinem Schmerz über den T o d der geliebten Frau in „unsterblichen" Versen Ausdruck verliehen® ·. Auch er hatte mit der Feder in der Hand statt mit dem Schwert fürs Vaterland gefochten und sich ein chronisches Leiden zugezogen, das ihn zum Misanthropen machte. Schon am Anfang des Romanes wird gezeigt, daß die lyrische Ader in diesem fiktiven Ebenbild des Verfassers der Lieder „ D e r Mai ist gekommen" und „ E s muß doch Frühling werden" längst versiegt ist 8 0 . E s ist gewiß in ironischer Absicht, daß uns Heinrich Mann von Heines in seiner Eigenschaft als Dramatiker vor Augen führt. Denn wie Geibels Kollege Paul Heyse treffend sagt, gebrach es diesem nur zu sehr an der unentbehrlichen, szenisch-theatralischen Phantasie, die eine sich entwickelnde, anschwellende und in notwendiger Verknüpfung sich gruppierende Handlung in Bewegung s e t z t . . . So wie ihm jedes novellistische Talent fehlte, stand er auch der Aufgabe des Dramatikers, äußere Umstände zum Hebel innerer Vorgänge zu gestalten, unbehilflich und unlustig gegenüber 81 .
Geibels Betonung des Formalen und sein klassisch-plastisches Schönheits-Ideal (er war ein Verehrer Platens) machten ihn höchst ungeeignet zum Gebrauch realistischer Darstellungsweisen 88 . Aber soweit die Handlung unseres Romans in Frage kommt, ist sein K o n servativismus eine Tugend, die es ihm ermöglicht, zwischen Gabriele und Jürgen West zu vermitteln und den status quo ihrer Ehe wiederherzustellen. So sind die Grenzen des Künstlertums im Leben auch einmal von Nutzen. Die letzten Seiten des Romans bestärken uns in der Vermutung, daß derselbe ein verklungenes Zeitalter heraufbeschwören soll. Daher auch die nostalgische Stimmung des Buches, das Ihering (a.a.O., S. 100) einen „Abgesang entstanden aus Erinnerung und Voraussicht, aus der Erinnerung an die eigene Jugend und der Voraussicht auf das kommende Unheil" nennt. Eugenie endet mit der frohen, weil humanitären Botschaft: „Aber vor allem muß man innerlich die Dame und der Herr bleiben - muß aus dem Leben, das man doch unaufhörlich erkämpft, seinen freien Besitz, ja sogar etwas wie ein Gleichnis machen" (AW V , S.210). Die große Sache, der dritte der vier hier zu behandelnden Romane aus der Zeit der Weimarer Republik, ist irrtümlich als eine „riesige Groteske mit stark mystischen Z ü g e n " und als Heinrich Manns
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expressionistischstes Werk bezeichnet worden*9. Auch als Satire läßt sich das Werk nur bedingt ansprechen. Das Thema der Großen Sache ist eher von der Art, wie sie Georg Kaiser in seinen Denkspielen profiliert. In einem von ihm selbst verfaßten Vorwort umschreibt Heinrich Mann das von ihm zur Diskussion gestellte Problem: Ich verfolge mit dem Roman Die große Sache eine einzige kleine Absicht, sie ist ganz unpolitisch. Ich mache den geliebten Zeitgenossen leise und verstohlen darauf aufmerksam, daß er nicht nur seine Existenzangst hat, sondern doch vielleicht in einer tieferen Gegend unbefriedigt ist. Ich versuche, ihn bemerken zu lassen, daß er nicht nur funken und fliegen kann; seine Kräfte gehen noch weiter, und er verfugt über eine andre, zu wenig bekannte Apparatur . . . Wir haben auch Seelenkräfte und wissen noch nicht, wie weit sie gehen'4. Der Ingenieur Birk hat auf der Brücke, deren Bau er überwacht, einen Unfall erlitten. Die Freizeit, die der Aufenthalt im Krankenhaus ihm zum ersten Mal seit Jahren ermöglicht, veranlaßt ihn, über sich selbst, seine Familie und die Gesellschaft im allgemeinen nachzudenken. Im Bewußtsein, daß in diesen schweren Zeiten seine Kinder „eine handgreifliche Lehre brauchten, um ein für allemal das Leben richtig zu erfassen" 3δ , übertreibt er den Ernst seines Zustandes und weiht seine Töchter und Söhne in das Geheimnis der großen Sache ein, einer Erfindung, die er gemacht zu haben vorgibt und von der seine Kinder nach seinem Tode profitieren sollen. Es handelt sich dabei angeblich um einen Sprengstoff von bisher ungeahnter Brisanz. Die Enthüllung erregt ungeheures Aufsehen im Lande. Birk „hatte die junge Welt samt mehreren Alten in Bewegung gesetzt und jeden in seiner Richtung bestärkt, die seine Natur ihm anwies" se . Für ihn ist Die große Sache eine Art roman experimental mit lebenden Puppen. Doch gleicht seine Haltung eher der des Prospero aus Shakespeares Sturm. Wie dieser zerbricht er den Zauberstab, sobald die Prüfung vorbei ist und die jungen Leute sich wieder gefunden haben: „Ihr solltet ein einziges Mal mit voller Kraft nach dem unverdienten Gewinn jagen. Das habe ich ausgedacht und in Szene gesetzt, damit ihr an die Freude, euer Eigentum, wieder gehörig erinnert wurdet. Jetzt habt ihr genug durchgemacht, um euch zu freuen, wie ? Auf einmal wißt ihr unglaublich vieles 87 ." Was aber macht Birk zum „Prospero der Arbeit" (wie ihn Ihering in seinem Buche nennt) ? Er, der sich vor dem ersten Weltkrieg eines bedeutenden Rufes erfreute, hat seitdem so Geld wie Ruhm einge152
büßt. Im Gegensatz zu seinem Freunde Schattich, einem ehemaligen Reichskanzler, der jetzt eine hohe Stellung im Konzern bekleidet, der Birk beschäftigt, hatte dieser „als Kapitalist ausgelitten und erwachte als Proletarier" 38 , und zwar sowohl in wirtschaftlicher als sozialer Hinsicht, Aber die Armut hat ihn klug gemacht, und indem er sich wieder hocharbeitet, erkennt er den Wert der Maxime „Wir sollen arbeiten, Kinder kriegen und sterben". Das aus dieser Spruchweisheit erwachsende Experiment soll zeigen, daß nur eine der drei in der Gegenwart möglichen Existenzweisen (Arbeit, Beziehungen und Verbrechen) 39 Befriedigung schafft. Schattich bedient sich mit großem Geschick seiner unzähligen politischen und geschäftlichen Verbindungen; aber ein einziges Versagen seinerseits führt sofort zu seinem Sturze. (Schattich ist übrigens so machtgierig, daß er einen „Verein zur Rationalisierung Deutschlands gründet, dessen Ziel die „Konzentrierung aller Geschäfte in derselben Hand" ist40.) Das Verbrechertum wird von einem gewissen Mulle vertreten, der sich mit Mordplänen trägt und nahe daran ist, Schattich, den er für sein Elend verantwortlich macht, zu ermorden. Die Jugend, an die die Botschaft der Großen Sache vor allem ergeht, kennt keine höheren Werte als Weltrekorde und technische Höchstleistungen41. Ihre Welt steht im Zeichen von Rennwagen, Flugzeugen, Jazzmusik (Birks Kinder begeistern sich an Songs aus dem Repertoire des „Blauen Engels") und Präzisionsbomben, d. h. sie leben im Zeitalter der Geschwindigkeit, von dem im als Vorwort gedachten Brief zur Neuausgabe des Romans In einer Familie die Rede ist. Gute Sitten, Bildung und berufliches Können stehen bei ihnen niedrig im Kurs 42 . Man wechselt ständig seinen Beruf, da man glaubt, es gelte gleich, was man tue: „Was ich kann, kann jeder. Auch ich kann jeden ersetzen. Daher gibt es immer neue Leute, und man überaltert so schnell" (S.55). Heinrich Mann, dem diese Tatsache nicht verborgen blieb, gab sich wohl kaum der Illusion hin, daß ein neuer Prospero Wunder an dieser Gesellschaft verrichten könne. Schon kurz danach machten Mulles kriminelles und Schattichs organisatorisches Genie dem Humanitätsdusel ein Ende und stellten Männer wie Birk vor die Wahl, zu emigrieren oder ins Gefängnis zu gehen. Wie die anderen Werke dieser Gruppe (mit Ausnahme von Eugenie) ist auch Ein ernstes lieben ein zeitgenössischer Roman, dessen Handlung in die der Veröffentlichung unmittelbar vorausgehende Periode fällt. (Überhaupt ist es charakteristisch für Heinrich Mann, daß seine Werke zumeist historisch fundiert sind, wodurch ihnen ein gewisser 153
dokumentarischer Wert verliehen wird.) Mit Ein ernstes Lehen nahm der Dichter als Romancier vom deutschen Publikum auf fünfzehn Jahre Abschied. Die Geschichte der Heldin, Marie Lehning, stützt sich auf Tatsachen aus dem Leben von Heinrich Manns zweiter Frau Nelly Kroeger, die im Fischerort Niendorf bei Lübeck zur Welt kam und einige Jahre vor ihrem Gatten im amerikanischen Exil verstarb43. In seinen Memoiren gibt Hermann Kesten die folgende auf die Niederschrift und Konzeption des Werkes bezogene Anekdote wieder. Einmal erzählte uns Frau Kroeger die Geschichte von Heinrich Manns Roman Ein ernstes Leben: Da sagt doch der Heini immer: „Nelly, du mußt mir dein ganzes Leben erzählen." „Was ist da zu erzählen", sage ich also und fange richtig an. Und da sagt doch der Heini: „Nelly, du mußt dein ganzes Leben aufschreiben." „Und was ist da aufzuschreiben?" frage ich und fange richtig an. Ich schreibe also das Buch mit meinem ganzen Leben darin. Und da sagt doch der Heini: „Das ist aber eine sonderbare Geschichte, fast ein Roman." „Was ist das für ein Roman", sage ich. „Es ist mein eigenes Leben, und nun werde ich es nochmals verkaufen. Und du kennst doch Verleger, und rufe mal einen an, und ich koche was Feines zum Abend." Da sagt aber der Heini: „Tu's lieber nicht." Und blättert und blättert in meinem Manuskript und steht da, mit seiner Lesebrille auf der Nase, neben dem Kamin in unserem Salon, und nickt mit dem Kopf wie gewöhnlich und lächelt ganz freundlich und wirft mir mein Manuskript ganz sachte ins Feuer. Und da sage ich noch: „Was tust du da, Heinrich ?" und will lachen und weinen. Und da setzt sich doch der Heini hin und schreibt meine ganze Geschichte noch einmal und läßt seinen Verleger kommen und gibt ihm sein Manuskript mit meiner Geschichte, so wie ich sie geschrieben habe, oder nicht einmal so gut. Und da sage ich noch, wie der Verleger mit unserem Manuskript fortgegangen ist: „Was tust du da, Heini?" Und da sagt doch der Heini: „Es ist ein ernstes Leben, und das wird der Titel sein für mein neues Buch." Und so erscheint auch das Buch mit meinem ganzen Leben darin und heißt Ein ernstes Leben, und da hat doch der Heini seinen Namen darunter gesetzt, Ein ernstes Leben von Heinrich Mann. „Frau Kroeger erzählt sehr sonderbare Geschichten", erläuterte kopfschüttelnd Heinrich Mann, „und sonderbar wahre Geschichten". Nelly Kroegers autorenrechtliche Ansprüche auf den Roman sind, gelinde gesagt, übertrieben, denn der Stil desselben, besonders in dem wunderbar ruhigen und klaren Lebensbericht der ersten zwei
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Kapitel, aber auch in der hektischen Art der übrigen Teile, sind echter Heinrich Mann. Als chronologische Fortsetzung der Großen Sache spiegelt Ein ernstes Leben den raschen moralischen Verfall in den Jahren vor der Machtergreifung. Während Birk noch der Ansicht sein konnte, man habe die Wahl zwischen Arbeit, Beziehung und Verbrechen, erweist sich in Ein ernstes Leben das Verbrechen als die einzig mögliche Daseinsform. Der Höhepunkt des Kriminalromans - denn als solcher gibt sich, flüchtig betrachtet, dieses Werk - ist mit der Entführung des Kindes der Marie Lehning und der Suche nach den Kidnappern erreicht. Marie selbst gewinnt nie die Höhe eines „Prospero der Arbeit". Sie ist im Grunde nur ein Spielball feindlicher Kräfte45, kann ihr Geschick von dem der anderen Gestalten nicht trennen4· und richtet wider ihr besseres Wissen Unheil an: In der Morgenkühle des fünfzehnten Mai, während ihr minutenlang niemand begegnete, spürte sie auf einmal die Kraft, die durch sie arbeitete, wenn sie nur fiel und sich nur auffing. Fühlbar wurde ihr aber auch zum erstenmal, was sie anrichtete unter Menschen - nicht, weil sie es wollte, wahrhaftig nicht, weil sie darauf ausging. Sondern sie holten sie: warum ? Sie versündigten sich an ihr und hängten sich dann erst recht an sie: wie kam es47?
Im Alter von siebzehn Jahren sieht sie sich dem Ernst des Lebens zum ersten Mal gegenüber48. Gezwungen, sich ihren Unterhalt auf eine ihr nicht genehme Weise zu verdienen (sie betätigt sich zuerst als Näherin, dann als Landarbeiterin und schließlich als Bardame), verliert sie schrittweise von ihrem Selbst, da jedes Erlebnis seine - körperlichen oder seelischen - Narben zurückläßt4·. Im weiteren Verlauf der Handlung sieht sich Marie ihrer Heimat, ihrer Liebe und schließlich ihres Kindes beraubt. Am Ende entschlüpft sie den Maschen des Gesetzes nur, weil Kommissar Kirsch, ihr Schutzengel, sie so gründlich durchschaut, daß er ihre Unschuld erkennt: „Er bedachte, daß keine Marie unschuldig gewesen wäre, wenn man von dem Geheimnis, das sie alle sind, nur so viel gekannt hätte wie üblich. Zufällig wußte jemand, er selbst, mehr von dieser. Er stieg in sein Polizeiauto, schwerfällig und verdrossen. Gut, daß man nicht von jedem alles weißl Jeder wäre unschuldig50." Mit diesen Worten verabschiedet er sich von uns und der Verfasser von seinen Lesern. Kirsch ist der einzige fühlende Mensch im Roman und sehnt sich nach einer Welt, in der ein Polizist bedauern darf, daß er die Ver155
brechen, die er aufklären soll, nicht hat verhindern können. Marie Lehning ist um diesen Helfer, der ihr immer wieder anonym beisteht, zu beneiden. Aber wieviele Marie Lehnings gab es in dieser Welt, die eines solchen Schutzes bedurften und seiner entbehren mußten I
ANMERKUNGEN
Achtes Kapitel Heinrich Manns Essayistik ist Gegenstand eines größeren Aufsatzes von Richard Exner in der Zeitschrift Symposium (XIII, 1959, S. 216-237, und XIV, I960, S. 26-41). 1 Mutter Marie (Berlin, o.J. 1928), S.14. Dunins These wird durch einen Passus auf S.20 der Großen Sache (Berlin, 1930) erhärtet. ' Zu Maries Jugend siehe die Novelle „Felicitas" aus der Sammlung Sie sindjung (Berlin, 1929). 4 „Eugenie ist auch ein Abgesang an die bürgerliche Kunst der Zeit, denn sie trifft nicht nur in der Gestalt des Dichters Heines die Entartung der Kunst im untergehenden bürgerlichen Zeitalter, sondern auch ihre letzte große schöpferische Leistung, den Impressionismus der französischen Malerei. Sie ist in der Sprache Heinrich Manns neu erstanden. Besonders die Konsulin West und alles, was sie umgibt, ihre Kleidung, ihr Garten, ihre Wohnung, Luft und Blumen, sind mit dem Blick des Malers gesehen." Herbert Ihering, a.a.O., S.101. • „Ja, als Verbannter, verzweifelt, schied er dahin am Anfang dieses Jahres" (AW V, S.30). • Gesammelte Werke (Berlin, 1956), Bd.I, S.783. ' „It is a sign of Heinrich Mann's innate conservatism that in the end not tragedy but happiness awaits the heroine despite her inconstancy." Anon, in Saturday Review of Literature, VII (1930), S.23. β AW V, S.208. Siehe die historische Anekdote, auf die Heinrich Mann im HenriQuatre (AW VII, S.777) zurückkommt. • Auf S.75 wird Pidohn kategorisch als „das Unglück selbst" bezeichnet. Vom Beginn der Handlung an liegt Unglück in der Luft, doch vermeiden die Charaktere des Romans, davon zu sprechen. 10 Gabriele „verdachte ihm fragwürdige Gaben, die von ihr selbst kamen" (AW V, S.81). Von Heines stellt fest, daß das Kind „sinnlichem Überschwang zugeneigt [war], der Verderbnis vielleicht bestimmt" (ebd., S.21). " Die schöne Literatur, XXX (1929), S.64. " Auf S.42ff. träumt sie von ihrer in Bordeaux verlebten Jugend. 1
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Vergleiche Gabrieles Verständigungsschwierigkeiten (AW V, S.7) mit denen Julia Manns (gespiegelt in Aus Dodos Kindheit). " AW V, S. 000. 18 „Der Traum kürzlich, jener Traum von ihrer Kindheit, hatte ihr die vergessenen Tiere nicht zeigen wollen. Hier erschienen sie ihr in Wirklichkeit. Es war, wenn man wollte, dieselbe Kirche. Sie war, wenn sie wollte, dieselbe Gabriele" (ebd., S.60). - An anderer Stelle gelingt es Gabriele beinahe, von Heines zu überzeugen, daß er ihr in Bordeaux begegnet sei. 16 Beide Gestalten sind von der Aura des Impressionismus verklärt und gebrauchen die Anrede „mein lieber Herr" (ein Anklang an Kleists naivvertrauendes Käthchen von Heilbronn?). Pidohn weist in einzelnen Zügen auf Zamet hin; und Emmy Nissen läßt sich (besonders in AW V, S. 121) als Vorstudie zur Marie de' Medicis bezeichnen. 17 Vergleiche Alfred Kantorowicz' Einleitung zum Roman in AW V, S. 473 ff. " „Die Leute verstehen nicht, was er tut. Er ist für sie der Zauberer. Ihre Geldgier und ihr Aberglaube streiten sich, sie kommen in Verlegenheit, was sie ihm alles nachsagen sollen" (ebd., S.65). M „Sie dachten, ich würde mich mit Ihnen unter die Katarakte des Schicksals begeben, während ich endlich auf trockenem Boden gelandet war und bürgerlich dahinlebte. So soll es bleiben, ich bin hier eingewöhnt, so soll es immer bleiben" (ebd., S. 141). " Ebd., S.14. Auf S.106 sieht von Heines Gabriele als „Teufelin". 11 Die Worte Romantik und romantisch finden sich auffallend häufig in Eugenie. " Vergleiche S.255 von Eva Barschaks Buch The Innocent Empress (New York, 1943) mit von Heines' Bemerkung: „Aber hätte ich ohne diese wirkliche Begegnung meinen Napoleon und meine Eugenie in ihrer höchsten Wahrheit erschaut? Mystische Zusammenhänge gibt es im dichtenden Geist" (AW V, S.103). ** Chislehurst ist der Ort, an dem Napoleon etwa zwei Jahre nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft starb. 11 The Innocent Empress, S.38. " Robert Sencourt, The l i f e of the Empress Eugenie (New York, 1931). " Auf S.133 zum Beispiel fragt sich Gabriele, „ob das Wort tatsächlich in der Rolle stand". 17 „Denn seine Augen leuchteten weihevoll, der Ton schwang sich hinan oder grollte. Freilich warf er den Kopf auch wie ein Schwan, sein blütenweißer Knebelbart stieg in die Luft, um seine Glatze tanzten vom Luftzug weiße Büschel" (AW V, S.29). " Ebd., S.99. Stolz und Bescheidenheit sprechen aus einem Geibelschen Brief, den Harry Maine in seinem Buche Deutsche Dichter (Frauenfeld, 1928) abdruckt: „Ich bin anspruchsvoll genug, hinter keinem der lebenden Dichter zurückstehen zu wollen. Ich bin der letzte einer langen Reihe 11
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bedeutender Lyriker, der, wenn auch bei eigentümlich gefärbter Individualität, doch nur die Töne seiner Vorgänger noch einmal in gediegenster und ausgebildetster Form zusammenfaßt." " „Sie wissen, daß ich vermählt war und die einzig Geliebte im Kindbett verlor. Es ist so lange her; aber alle wissen es, denn ich habe mein tragisches Leiden den immer tönenden Klängen des Alls hinzugefügt" (AW V, S. 104). Unzählige von Geibels Gedichten sind unter anderem von Brahms, Robert Franz, Max Reger, Schumann und Hugo Wolf vertont worden. " Zitiert in R. Schachts Einleitung zu Geibels Stücken in dessen Werken (Leipzig, o.J.), S.468. Zu Geibel vergleiche das entsprechende Kapitel bei Maine und Eduard Stemplingers Vorwort zum Bande Der Münchner Dicbterkreis der Sammlung Deutsche Literatur .. .in Entwicklungsreihen. " Die klassisch gebildeten Zuschauer bemerken: „Das ist zweifelsohne vom Geist seiner Elektra. Aber was fiel unserem Heines ein, seine antiken Personen nach Schloß Wilhelmshöhe zu versetzen?" (AW V, S.182). »* Viktor Mann, a.a.O., S.515. " „Mein Roman" in Das öffentliche lieben (Berlin, 1932), S.335. Heinrich Mann stand der Neuen Sachlichkeit genau so ablehnend gegenüber wie früher dem Naturalismus. So stellte er fest, daß „die gerühmte Sachlichkeit schließlich nur als Voraussetzung für das eigentlich Bewegende, das die Empfindung bleibt", diene {Die literarische Welt, V, 1929, No.l, S.3) und riet den „Jungen von 1930" an, eine Fabrik nicht sachkundig zu beschreiben, sondern glaubhaft zu machen, daß sie „anstatt eines Schornsteins eine Pagode" trage (ebd., VI, 1930, No. 14, S.l). " Die große Sache, S.25. " Ebd., S.148. »7 Ebd., S.399. »· Ebd., S.14. " „Man hatte im Leben die Wahl zwischen Arbeit, Beziehungen und Verbrechen" (ebd., S.19) und „Nur Arbeit, sonst gibt es nichts, nur Beziehungen und Mord" (ebd., S.397). 40 Ebd., S.218. 41 „Eine Jugend, für die der Boxkampf das Höchste ist. Die Zuschauer erblicken im Ring das wahre Bild ihres täglichen Lebens . . . denn alles, was bei ihnen selbst vorgeht, ist Kampf" (ebd., S.200). Dies ist zugleich eine Jugend, die, Heinrich Mann zufolge, keine Bücher mehr in die Hand nimmt, „weil die Existenzangst umgeht und weil der Gedanke an die Gewalt jeden anderen verdrängt" {Die literarische Welt, VII, 1931, No. 30, S.5). Auch das ist also für ihn ein Grund, keine langatmigen und anspruchsvollen Romane zu schreiben. " „Wo verfügte die Gesittung jetzt noch über ein gesichertes Gebiet?" (ebd., S.289). Im vorerwähnten Essay spricht Heinrich Mann von Bewegung als dem eigentlichen Thema des Romans.
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Zur Mannschen Ehe im Exil siehe Alfred Kantorowicz' Aufsatz „Heinrich Mann: Das letzte Jahrzehnt des Dichters" in Das Schönste, März I960, S.48ff. 44 Meine Freunde, die Poeten, zweite, erweiterte Fassung (Köln, 1959), S.48. 45 „Ich diente immer nur als Spielball und muß es bleiben" (AW V, S.324). 4e „Sie kommt nicht los aus dem Haß der anderen, ihrem eigenen, nicht fort aus dem Kampf, nicht frei aus dem Gedränge. Sie treibt, und sie wird gestoßen. In einer inneren Ferne hörte sie rollendes Getöse, und Stimmenmassen erhoben sich formlos" (ebd., S.399). Die See wird überhaupt vom Dichter als Symbol der schicksalhaften Mächte, denen der Einzelne hilflos gegenübersteht, verwendet. 47 Ebd., S.375. 48 Sie wird sich freilich dieses Ernstes nur langsam bewußt, denn ihre Naivität hindert sie zunächst daran zu sehen, „daß die anderen sie beneideten. Sie hielt das meiste im täglichen Leben noch für Unterhaltung und Spiel, obwohl es doch schon einige Male in ihrem Dasein äußerst schwer und schreckensvoll zugegangen war" (ebd., S.244). 49 „Da bemerkte er [Mingo] in ihrer Hüfte eine Narbe, aus der Blut sickerte. Der Verband war abgerissen. Er ließ den Blick an ihrem Körper niedergleiten, auch nahe dem Fußknöchel traf er auf eine gezackte rauhe und rote Stelle, sonst verdeckte der Strumpf sie. Das Rad einer Lokomotive hatte sie hinterlassen. Noch eine andere Spur jenes Sprunges auf ein Bahngeleise war sichtbar geworden, da nun die rechte Seite des Schädels von den nassen, verwirrten Haaren unbedeckt blieb. Aber das weiße Mal am linken Unterarm rührte aus dem letzten Tag ihrer Kindheit her, als die See den Katen fortriß, die Geschwister den stürzenden Damm sich hinauf kämpften und die niedersausenden Äste der Tannen ihnen Löcher ins Fleisch rissen. Die Narben ihres Lebens sie konnte alle betrachten, wenn diese ausgelöschten Augen sahen" (ebd., S.435). " Ebd., S.471. 41
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NEUNTES KAPITEL
„ D I E JUGEND UND DIE VOLLENDUNG DES KÖNIGS HENRI QUATRE"
Während der Arbeit an Eugenie äußerte sich Heinrich Mann im Jahre 1927 wie folgt über die Rolle des historischen Romans in der deutschen Literatur der Gegenwart: II y a chez nous une recrudescence du roman historique . . . Je ne nie pas les mirites du roman historique. II s'en fait aujourd'hui des excellentes. En d'autres temps, quand la vie prdsente ne pouvait etre ni jug6e ni meme bien comprise, on s'attache έ reconstruire de toutes pifeces un monde 6vanoui, mais qu'on prdtendait authintique. H0las, peu de romans historiques ont dur6x. Im gleichen Jahr begab sich der Dichter erneut nach Pau, der Hauptstadt Bdarns und dem Geburtsort des volkstümlichsten Königs der Franzosen2. Der Autobiographie zufolge geht die Konzeption des nur langsam zur Vollendung reifenden Werkes sogar bis ins Jahr 1925 zurück: „Sieben Jahre denkt man an den großen Plan, der wartet. Er kann es. Ix hat Zeit. Das Buch zu schreiben nimmt er sich noch einmal sechs3." Die Niederschrift der beiden Teile des Henri Quatre, der eine Huldigung an das „geistige Vaterland" des Verfassers darstellt und in dem sich künstlerische, politische und menschliche Reife zu einer im zeitgenössischen Schrifttum seltenen Synthese verbinden, erfolgte jedoch erst im französischen Exil (das so zu nennen Heinrich Mann nicht einfiel)4. Der erste Band erschien 1935, der zweite 1938, das heißt im siebenundsechzigsten Lebensjahr des Verfassers5. Insoweit die Geschichtsschreibung vordringlich damit befaßt ist, vergangenes Geschehen zu rekonstruieren und im Zusammenhang darzustellen, wird auch der Historiker zum Dichter, da er sich vor die Aufgabe gestellt sieht, das schier unentwirrbare Netz von Motiven und Tatsachen zu entwirren und scheinbar widersprüchliche Fakten zu erklären, wenn nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Der Forscher, dem es an Einfühlungsgabe und Menschenkenntnis
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mangelt, wird freilich zögern, von den Handlungen auf den Charakter der Handelnden zu schließen. Doch Geschichtsschreiber vom Range eines Ranke halten dies für ihre Pflicht. Wo es sich um die Klärung des Schwankens eines Charakterbildes in der Geschichte handelt, sehen sich also Dichtung und Historiographie vor eine ähnliche Aufgabe gestellt. Die sorgfältige Lektüre des Henri Quatre zeigt, daß dessen Autor alle ihm zur Verfügung stehenden Quellen gründlich durchforscht und in sein Werk eingearbeitet hat. Ein paar wahllos herausgegriffene Beispiele mögen dies augenfällig machen®. An einer Stelle des Romans zitiert Heinrich Mann aus einem Brief, in dem sich Henris Mutter, Jeanne d'Albret, über die Korruption des französischen Hofes und die dort herrschenden losen Sitten äußert; dabei wird die Phrase „ C e ne sont pas les hommes ici qui prient les femmes, ce sont les femmes qui prient les hommes" mit den Worten „ D a s geht soweit, daß hier die Frauen die Männer auffordern" wiedergegeben 7 . Die Zauberinsel, von der Henri in einem Brief an Madame de Gramont (seine Corisande) schwärmt, wird auch im Roman erwähnt 8 . Der Ausdruck „ l a racine de mon amour", in dem der König seine Liebe zu Gabrielle d'Estrees zusammenfaßt, wird als Titel des Unterabschnitts „ D i e Wurzel meines Herzens" verwendet*. Die lächerlichen und zugleich atemberaubenden Details einer Reise Gabrielles zu Henri schließlich (von „le carrossier estant descendu pour faire de l'eau" bis „ u n des mulets . . . se mist a braire plus effroyablement que ne fit jamais l'asne de Silene au val de Bathos") sind wörtlich aus Sullys Memoiren entlehnt 10 . Dies ist also das Rohmaterial, auf das sich Heinrich Manns Henri Quatre stützt. V o n Zeit zu Zeit wird, um Fehlschlüsse zu vermeiden, der Historiker gut daran tun, auf ein abschließendes Urteil zu verzichten. Auch Heinrich Mann kennt die Zweideutigkeit der Geschichte und erweist sich so als Schüler Montaignes, dessen Essais wiederholt davor warnen, den Gang derselben rekonstruieren oder vorausbestimmen zu wollen 11 . Montaigne hielt sogar Zufall und Schicksal (fatum, la fortune, le hazard) für die eigentlich geschichtsbildenden Kräfte 1 2 . Kein Wunder, daß die römischen Kleriker, denen er sein Hauptwerk zur Begutachtung vorlegte, an diesen heidnischen „ G ö t t e r n " Anstoß nahmen 18 . In seiner tiefschürfenden Studie über Montaigne bezeichnet H u g o Friedrich dessen Geschichtsauffassung als eine „Kritik an der naiven Meinung, daß alles Geschehen seine Kunde gefunden habe, und 11
Weitstem, Heinrich Mann
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umgekehrt, daß alle Kunde vom Geschehenen auf Wahrheit beruhe" u . Half Montaigne Goethes Ansicht formen, wie sie in der Maxime „Aber nicht alles ist wirklich geschehen, was uns als Geschichte dargeboten wird, und was wirklich geschehen, das ist nicht so geschehen, wie es dargeboten wird, und was so geschehen ist, das ist nur ein Geringes von dem, was überhaupt geschehen ist" 18 ausgesprochen wird? Im HenriQuatre kommt diese Haltung in der Weise zur Geltung, daß die aus der Ungewißheit erwachsende Spannung vom Verfasser bewußt erhöht wird. Statt die Ereignisse gültig zu interpretieren, überläßt es Heinrich Mann mitunter seinen Lesern, sich selbst ein Bild zu formen. Freilich gibt er auch dann noch zu verstehen, wem mehr Glauben zu schenken ist. Zum Beispiel wird nicht zweifelsfrei entschieden, wer oder was für Jeanne d'Albrets plötzlichen Tod verantwortlich ist. Doch hat sich dem Leser das Bild Catherine de Mddicis als einer Hexe und Giftmischerin so fest eingeprägt, daß er ihr den Mord zumindest zutraut. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die fahrige Art, in der die beiden Ärzte in Henris Beisein die Krankengeschichte seiner Mutter referieren (AW VI, S. 144ff.). Ähnliche Ungewißheit herrscht in Bezug auf Henris III. Wahnsinn (AW VII, S.289), läßt sich doch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob der König wirklich geistesgestört ist oder nur den Verrückten spielt, um der Verantwortung für die Greuel der Bartholomäusnacht enthoben zu sein. Dem Leser drängt sich die Vermutung auf, daß Spiel und Ernst in diesem Falle verschmolzen und wie bei Pirandellos Heinrich dem Vierten Henris Maske mit seinem Gesicht verwachsen sei. Die maßgeblichen Stellen im historischen Roman finden sich dort, wo über Verantwortung und Schuld entschieden werden soll und der Verfasser gezwungen ist, seiner innersten Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Da wird sich auch am deutlichsten zeigen, ob er in irgendwelcher Weise voreingenommen ist oder den Rahmen des historisch Möglichen sprengt. Im Henri Quatre als einem humanistischen und politischen Roman ist das polemische Element von großer Wichtigkeit. Die Fiktion des historischen Romans als Roman (die eine „suspension of disbelief" voraussetzt) läßt sich aber nur aufrecht erhalten, wenn die Polemik aus der historischen Lage erwächst. Heinrich Mann versagt es sich leider nicht immer, das Gegenwärtige mit dem Vergangenen zu mischen16. Das ist menschlich verständlich bei einem Künstler, der soeben der Hölle des Totalitarismus entronnen war; ästhetisch bedeutet es aber eine Schwächung. So ist der Held des Romans in mancher Hinsicht ein Abbild 162
seines Schöpfers. Die Mehrzahl der auf dieses Verhältnis bezüglichen Stellen findet sich im ersten Bande, der Jugend des Königs HenriQuatre, wo sich der Prinz seiner geschichtlichen Mission noch nicht recht bewußt ist. Für den aus dem Louvre entkommenen Flüchtling ist La Rochelle „eine Stadt des Wohlwollens und der Sicherheit", genau so wie es Paris im Jahre 1933 für seinen Schöpfer war. Das Französische ist für beide „die Sprache [ihrer] Wahl", wie sich, was Heinrich Mann angeht, aus den den einzelnen Kapiteln angehängten moralitis ergibt. Und wenn der Verfasser von seinem Helden behauptet, daß er „ein um so besserer Schriftsteller wurde, je größer er zu handeln lernte; das eine um des anderen willen, und weil klarer Ausdruck durch dieselbe Seele geschieht wie echte Tat" (AW VI, S. 553), so entspricht das völlig seinem eigenen Ideal. Bedauernswerter vom künstlerischen Standpunkt aus ist die Parallele, die Heinrich Mann zwischen der berüchtigten Liga der Guise und der SA zieht. Wie vertraut klingt dem deutschen Ohr die Ermahnung: „Tu Arbeitsdienst und leist ihm Deine Wehrpflicht! Zahl ihm Abgaben, sei tagelang auf den Beinen trotz Deinen Krampfadern, bei allen Kundgebungen der Partei, sooft er ihre Massen aufruft I" (ebd., S.581). Überdies werden der Herzog von Biron als „kerniger Marschall" und die Führer der Liga als deren „Gau-leiter" bezeichnet. Von diesen falschen und zur Gesamtwirkung des Romans nichts beitragenden Analogien abgesehen, leiden gewisse Partien der Handlung im Henri Quatre auch darunter, daß der Umfang der großen politischen Kontroversen verkleinert und ihre Komplexität mißachtet wird. Doch ist die Schwarz-Weiß-Malerei fast gänzlich auf die Darstellung von Gruppen und Parteien beschränkt und erstreckt sich nur selten auf Individuen. So macht Heinrich Mann keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen die katholische Kirche und ihre weltlichen Arme, den deutschen Kaiser und den König von Spanien. Sein Haß auf die Liga und die Jesuiten, die er für die Verzögerung der Einigung Frankreichs verantwortlich macht, kennt keine Grenzen, ja der Verfasser des Henri Quatre will uns einreden, daß die Societas Jesu bei jedem Mordanschlag auf Henri ihre Hand im Spiele hat. Den „Beweis" führt er dadurch, daß er zeigt, wie das Versprechen der Väter, Gott werde den Mörder des Königs unsichtbar machen, einem Attentäter nach dem anderen zum Verhängnis wird. Doch muß man Heinrich Mann zugute halten, daß seine Ansichten vielfach denen des historischen Henri Quatre, der glaubte, „tous ces empoisonneurs" seien „papistes" 17 , entsprechen. 11·
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Mit gleicher Strenge verurteilt Heinrich Mann auch den Fanatismus Jeanne d'Albrets und Philippe de Mornays, des geistigen Haupts der Hugenotten. Denn alles Extreme, Verbohrte und Ausschließliche reizt ihn zum Widerspruch. Auch übt er strengste Kritik an Henris schwankender Haltung und bedauert seinen mangelnden politischen Instinkt. Doch Henris Menschlichkeit triumphiert trotz alledem, „weil sein Herz einfach war, und nur sein Verstand war's nicht" (AW VT, S.478). Der König von Navarra ist eine tragische Figur sowohl aufgrund dieses inneren Zwiespalts als auch wegen der geschichtlichen Lage, in die er hineingeboren ist. Wie er selbst sich in den Existenzkampf der Guise, Valois und Medici verwickelt sieht und abwechselnd als Katholik und Protestant auftritt, so lebt sein Zeitalter aus der Spannung zwischen der Renaissance und dem Barock. Niemand weiß besser als er, daß seine Leistung eine vorläufige ist: „Er allein hat damals . . . die Unverläßlichkeit seines gesamten Bestandes erfaßt, das Vorläufige, sein eignes Dasein, während er es noch durchbringt - und über ihn hinaus rechnen Narren" (AW VII, S. 695). Trotz Henris Unfähigkeit, den Lauf der Geschichte zu ändern (das heißt die Gegenreformation abzudrosseln), hat er, auf lange Sicht gesehen, seine Mission erfüllt. Denn seine wiederholt praktisch bewiesene Auffassung der Toleranz prägt sich der Nachwelt zutiefst ein. Sie entspringt dem Glauben an die menschliche Vernunft; doch ist ihr eine tüchtige Dosis der Skepsis beigemischt, die in Montaignes Que sais-je? ihren Ausdruck findet18. Als Feind des Fanatismus wendet sich der Skeptiker naturgemäß gegen die politische und religiöse Unduldsamkeit, wo immer sie auftritt. Nur im Zeichen der Toleranz kann der Held des Romans seine Religion wechseln, ohne unsere Sympathie einzubüßen. Der innersten Überzeugung nach ein Hugenotte, weiß Henri, daß, um mit Goethe zu reden, es wichtiger ist zu wissen, d a ß jemand glaubt als w a s er glaubt. In politischer Hinsicht wird sein Patriotismus getragen vom Wissen um das heilige Recht der anderen, ihr eigenes Vaterland zu lieben. Daher die Idee einer überstaatlichen Gemeinschaft - einer Art Völkerbund - , die der Verfasser dem König selbst zuschreibt, obwohl sie in Wirklichkeit von Sully konzipiert wurde. Wenn die Toleranz zum echten Maßstab menschlichen Verhaltens werden soll, muß sie stark genug sein, die Intoleranz aus dem Felde zu schlagen. Mit anderen Worten: die Duldsamkeit muß militant sein, wenn sie alle Krisen durchstehen und allen Verfolgungen ent164
rinnen will. Und obgleich Henri es vorzieht, mit friedlichen Mitteln zu arbeiten, lernt er bald einsehen, daß man auf diesem Wege nichts erreichen kann. Die Masse bekehrt sich zur Duldsamkeit erst, wenn die Unduldsamkeit geschlagen am Boden liegt. Aber selbst dann ist noch der Übergang von einem Zustand zum anderen mit Lebensgefahr verbunden: „Mehrere Wütende verunglückten tödlich an dieser Stelle infolge ihres zu schnellen Übertrittes vom Wahnsinn zur Vernunft" (AW VII, S.270). In dem „Skepsis" überschriebenen Abschnitt seiner Memoiren liefert Heinrich Mann einen kurzen Abriß seiner geistigen Entwicklung vom jugendlichen, aufs Ästhetische ausgerichteten Hedonismus zum Skeptizismus der Reifezeit, einer Haltung, die er als wirksamste Abwehrstellung gegen den Irrationalismus des Zeitalters hielt, das dem tausendjährigen Reich entgegeneilte19. In einer schon zitierten Stelle drückt er seinen Zweifel daran aus, daß die Deutschen der Weimarer Republik wirklich an der Erhaltung der Demokratie interessiert gewesen seien. Aber stand er seiner Rolle als offiziöser Sprecher der Republik auf kulturpolitischem Gebiet wirklich schon damals mit Abstand gegenüber? Oder sah er die Dinge nur anders, als er aus der Emigration auf sie zurückblickte ? Nach seinen öffentlichen Äußerungen in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren zu urteilen, möchte man das letztere annehmen. Schon früher einmal hatte Heinrich Manns politische Enttäuschung ihn veranlaßt, die Gesellschaft, in die er geboren war, kritisch zu beleuchten. So war er um 1910 zum Satiriker geworden, der das wilhelminische Deutschland im Untertan unter die Lupe nahm. Während aber die Satire eine Waffe des wirklichen oder potentiellen Reformators ist, setzt die Skepsis eine Haltung voraus, die zur Sehnsucht nach der vita contemplativa und der damit verbundenen Lossagung vom sozialen und politischen Engagement führt. Heinrich Mann fühlte sich Montaigne seit etwa 1930 näher verbunden, obgleich er schon zuvor mit dem essayistischen Hauptwerk des Franzosen Bekanntschaft machte 20 . Daß er selbst schon früh zum Skeptizismus neigte, beweisen Gestalten wie Arnold Acton in Zwischen den Rassen und Wolfgang Buck im Untertan. Nachmals bezog er sich auf Anatole France und Ernest Renan als Hauptvertretern dieser geistigen Richtung im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts 81 . In einem der Aufsätze aus Das öffentliche Leben macht er zum ersten Mal diese Anschauung rückhaltlos zu seiner eigenen28. Es ist sicher kein Zufall, daß ungefähr gleichzeitig Andri Gide, mit 165
dessen Schriften Heinrich Mann bestens vertraut war, seine eigenen Gedanken über Montaigne zu Papier brachte 88 . Das rapide Anwachsen der faschistischen Gefahr wurde von den europäischen Intellektuellen mit Sorge verfolgt und veranlaßte viele von ihnen, in die innere Emigration zu gehen. Daß Resignation, das heißt ein bewußtes Auf-sich-selbst-Zuriickziehen, nur zu leicht aus der Skepsis erwächst, wußte Heinrich Mann so gut wie keiner 24 . So weit mir bekannt, erscheint Montaignes Name in keiner der vor Henri Quatre und nach dem Zeitalter verfaßten Schriften Heinrich Manns. In der Lebensbeschreibung (wo mehrere Seiten dem Edelmann aus Perigord gewidmet sind) wird jedoch der Franzose nicht als Pyrrhoniker, sondern als Vorbild für die Einwohner des besetzten Frankreichs bezeichnet. Die besiegte Nation wird aufgefordert, sich am Anwalt der Standhaftigkeit im Essai „ D e s cannibales" - nicht am „Vater des Zweifels" - ein Vorbild zu nehmen 25 . Charles de Gaulle und die Führer der Resistance waren aber Männer der Tat, denen der Rat des Philosophen nur indirekt zugute kommen konnte. Auch gibt es kaum Anhaltspunkte für einen Vergleich zwischen ihrer geschichtlichen Sendung und der des Königs Henri, den Heinrich Mann an dieser Stelle zu einer Art Renaissance-Bolschewisten macht 28 . Einer der Vorwürfe, die die politisch eingestellten Kritiker Montaignes gegen ihn erheben, betrifft seine Weigerung, sich der Sache, der er heimlich anhing, öffentlich zu verschreiben. Heinrich Mann selbst bezeichnet den Philosophen als „vornehm, aber nicht stark" (Zeitalter, S.209). Im Henri Quatre unterstreicht er diese Kritik, indem er Montaigne, dessen Gedankenwelt die Handlung des Romans entscheidend beeinflußt, als Persönlichkeit im Hintergrund hält. Montaignes politische Mission wird gar nicht erwähnt; und nichts läßt darauf schließen, daß der Dichter Guy Desgranges' These, die davon ausgeht, daß Montaigne ein Soldat manqui war, der „veut faire de sa retraite une conversion philosophique et le signe d'une sagesse βυρέΓΐε^ε, au lieu qu'elle est ε η fait ε η grandε partie la consequence d'un dclrec personnel" 2 7 , zustimmt. Daß Montaigne im Grunde nicht konservativ, geschwεigε denn reaktionär, war, geht schon daraus hervor, daß er dem Protestantismus aus religiöser Überzeugung anhing, obwohl er sich der schrecklichen Folgen eines Glaubenskriεgεs und dεr damit v e r b u n d 8 ^ n Störung des politischen Gleichgewichts zutiefst bewußt war 28 . Um das Verhältnis von Henri zu Montaigne im Roman recht verstehen zu können, muß man es an d8n geschichtlichen Tatsachen, die 166
ihm zugrunde liegen, messen. Denn nur der kann sich von Heinrich Manns schriftstellerischen Absichten ein Bild machen, der die vielfachen Abweichungen vom Geschichtsbild im Sinne des Dichters erklärt. Dabei darf man nicht vergessen, daß das etwa zu Tage tretende Mißverhältnis von Dichtung und Wahrheit in der Mehrheit der Fälle nicht auf Zufall oder mangelnder Sachkenntnis beruht, sondern Ausdruck des Willens, die Handlung des Romans einheitlicher oder im Sinne des Verfassers überzeugender zu gestalten, ist. So geschieht es im Henri Quatre wiederholt, daß mehrere, über eine längere Zeitspanne verstreute Ereignisse dramatisch zusammengefaßt sind. Was soll es zum Beispiel bedeuten, daß der Verfasser des Henri Quatre den König Henri III. nach Bordeaux fliehen und dort bei Montaigne und dem König von Navarra, seinem Vetter, Zuflucht nehmen läßt? (AW VI, S.593ff.) Eine solche Begegnung fand in Wahrheit niemals statt; und Henris Anrecht auf den Thron wurde unter weit weniger dramatischen Umständen bestätigt29. Zudem deckt sich das Datum dieser Flucht nicht mit dem Zeitpunkt von Montaignes Amtsführung als Bürgermeister der südfranzösischen Stadt30. Da der gleiche Vorfall auch im Zeitalter erwähnt ist, muß man annehmen, daß, als Heinrich Mann seinen Lebensweg nachzeichnete, er die Quellen nicht bei der Hand hatte und übersah, daß er die Episode frei erfunden hatte81. Von anderen im Roman erwähnten Vorfällen, die die Geschichte nicht verzeichnet, erwähne ich nur Montaignes Übersendung eines Widmungsexemplars der Essais an den Prinzen und seinen Bericht über ein Gespräch mit Michelangelo - der in Wirklichkeit schon sechzehn Jahre tot war, als Montaigne italienischen Boden betrat31. Aus den dokumentarischen Quellen ergibt sich folgendes Bild der Beziehungen Henris zum Philosophen: Mehrere Hinweise in den Essais werden von der Forschung allgemein auf Henri von Navarra bezogen, obwohl dessen Name nicht genannt wird83. Es ist verständlich, daß Montaigne zu einer Zeit, da Henri noch als Rebell und Ketzer galt, sich nicht öffentlich zu ihm bekennen wollte. Er mußte für die Verhandlungen, bei denen er als Vermittler eine wichtige Rolle spielte, freie Hand haben. So erklärte er sich erst nach Henris Machtergreifung für den, dessen Sache nun offiziell die Sache Frankreichs geworden war34. Einige der genannten Stellen enthalten ein Lob der Standhaftigkeit und Ausdauer, andere deuten auf den berühmten Brief des Jahres 1590 hin, in dem Mont167
aigne als praeceptor regium auftritt. In „De la vanitd" schließlich werden zwei Besuche erwähnt, die der künftige König von Frankreich dem Philosophen auf seinem Familiengut abstattete85 (von beiden findet sich im Henri Quatre keine Spur). Die Umstände, unter denen diese Besuche stattfanden, zeigen, wie sehr Henri Montaigne, der stolz berichtet, daß seine Leute den König zwei Tage lang ohne Beistand von dessen Kämmerern bedienten und daß der Gast keinerlei Vorsichtsmaßnahmen traf und sogar in des Gastgebers Bette schlief, vertraute 86 . Von zusätzlichen Begegnungen der beiden Großen sind wir durch Briefe des Statthalters der Guyenne unterrichtet, mit dem Henri mit Hilfe Montaignes verhandelte. Die genaue Anzahl dieser Begegnungen läßt sich jedoch nicht mehr feststellen87. Der Beweis für die Achtung, die sich Montaigne und Henri erwiesen, wird erhärtet durch einige Schreiben DuplessisMornays, Henris protestantischem Ratgeber, aus den Jahren 1583 und 158488. Diese sind durchwegs apologetischer Natur und sprechen von Montaigne als einem Manne, dem die wahren Beweggründe für Henris Handlungsweise nicht verborgen sind. Einer dieser Briefe schließt mit der herzlichen, wenn auch steifen, Floskel: „Au restes, faites estat de nostre amitie, comme d'une tres-ancienne & toutes fois toujours recente. Et de mesme foi, je le fai de la vostre, que je pense cognoistre en la mienne, mieux qu'en toute autre chose. Vous en ferds la preuve oü & quand il vous plaira 89 ." Obwohl eine enge persönliche Fühlungnahme zwischen Montaigne und Henri Quatre nur für die Zeit von 1583 bis 1590 bezeugt ist, ist gewiß, daß der Edelmann aus Perigord dem Navarresen schon lange vorher dienstbar war. So berichtet de Thou in seinen Memoiren von einem mit Montaigne geführten Gespräch, in dessen Verlauf sich dieser über die Schwierigkeiten äußerte, die er als Vermittler zwischen den beiden Henris (Henri Navarre und Henri Guise) zu überwinden hatte 40 . Diese Verhandlungen müssen aber zwischen 1572 und 1576, das heißt während Henris Pariser Aufenthaltes, stattgefunden haben. 1577 ernannte der König von Navarra Montaigne dann zu seinem Kammerherrn 41 . Mit der ihm eigenen Bescheidenheit umreißt Montaigne seine politische Rolle in dem Satz: „En ce peu que j'ay eu ä negotier entre nos princes . . . j'ay curieusement evite qu'ils ne me mesprinssent en moy et s'enferrassent en mon masque 42 ." Als gewiegter Diplomat hielt er sich weislich im Hintergrund, um die Verhandlungen zwischen Navarra und dem Marschall de Matignon einerseits und 168
Henri III. und seinem Erben andrerseits ungestört leiten zu können 43 . In beiden Fällen bediente er sich der Vermittlung Madame de Gramonts, deren geistiger Ratgeber er inzwischen geworden war 44 . Wieviel Bedeutung Montaignes diplomatischer Tätigkeit hohen Orts beigemessen wurde, geht auch aus einem Brief hervor, den der spanische Botschafter kurz nach der Ankunft des Philosophen in Paris im Jahre 1588 an seinen König abgehen ließ 45 . In Anbetracht der historischen Wirksamkeit Montaignes in seiner Tripelrolle als Schriftsteller, Diplomat und politischer Ratgeber ist es verständlich, daß Heinrich Mann ihn zur Schlüsselfigur - wenngleich nicht zur Hauptperson - eines Romans machte, in dem die geistige Reife des Helden an seiner Verbundenheit mit der in den Essais zum Ausdruck kommenden Weltanschauung gemessen wird. Und obgleich Henri seiner angeborenen Schwächen nie völlig Herr wird, verkörpert er in der Schlußphase seines Lebens manchen der Werte, die Montaigne hochhielt - und auf die Heinrich Mann seine Zeitgenossen hinweisen wollte. Aber HenriQuatre ist vor allem ein Kunstwerk und nicht ein moralischer Traktat oder ein speculum humanae salvationis. Ästhetisch und psychologisch gesehen befaßt sich der Roman mit dem schier unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Geist und Tat und mit dem Zwiespalt von Gefühl und Verstand, unter dem der Held zu leiden hat. Liebens- und bemitleidenswert in einem, ist dieser aus persönlicher Schwäche nur zu leicht verwundbar, wodurch das Fehlschlagen seiner Mission, das sich aus der geschichtlichen Lage nur zum Teil erklärt, vollends verständlich wird. Montaigne wächst durch Selbsterkenntnis, der Held des Romans durch Leiden im Handeln. Montaigne ist gewitzt, Henri naiv. Montaigne überwindet sich zur hart erkämpften Gleichmut, aber Henri wird zum Opfer seiner Leidenschaft. Auf entgegengesetzten Polen des geistig-seelischen Raumes angesiedelt, finden sich der Prinz und der Philosoph im Menschlichen als Verwalter des humanitären Erbes. Im Roman Henri Quatre findet die erste von drei - vom Verfasser frei erfundenen - Begegnungen der beiden im Abschnitt „Gespräch am Meeresstrand" (AW VI, S. 352 ff.) statt, der einen Wendepunkt in Henris Leben bezeichnet. Als Geisel der Regentin Catherine de Medicis muß Navarra an der Belagerung der protestantischen Festung L a Rochelle teilnehmen und begegnet Montaigne zum ersten Mal außerhalb der Wälle dieser Stadt. Bei diesem Anlaß kommt ihm die Möglichkeit der Skepsis als geistiger Haltung, ausgedrückt in dem Que sais-je, das von hier an leitmotivisch im Roman verwendet wird,
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erstmals zum Bewußtsein 4 ·. Im Verlauf des gleichen Gesprächs, dessen Inhalt aus dem Essai „ D e la diversion" abgeleitet zu sein scheint, wird der philosophischen Maxime eine moralische Verhaltensregel b e i g e g e b e n : Ciceros Nihil
tarn populäre quam bonitas be-
inhaltet eine Einstellung, die im Zeitalter der Religionskriege unerhört ist 47 . Später wird Prinz Henri die Volkstümlichkeit, von der er hier noch weit entfernt ist und die ihm, einem Prinzen, der von Haß umgeben ist, selbst zu hassen gelernt hat und sich nur schwer vom Motto seiner Jugend Aut vincere aut mori lossagen kann, fremd sein muß, wirklich erwerben48. Henri bedarf noch einer dritten Lehre, die ihm kurz nach einer seiner vielen Abschwörungen zuteil wird, und zwar wieder in La Rochelle (AW VI, S. 468 ff.). Da zitiert der nun von einem chronischen Leiden geplagte und merklich gealterte Montaigne den folgenden Satz aus seinem Essai „ D e la moderation": „L'immoderation vers le bien mesme, si eile ne m'offense, eile m'estonne et me met en peine de la baptizer 49 ." Sobald er den vollen Sinn dieses Satzes begriffen hat, wird Henri dem Fanatismus auf immer abschwören. Mäßigung und Zweifel, in Verbindung mit der ihm eigenen Güte, machen das Geheimnis der Persönlichkeit des Prinzen in demjenigen Teile des Romans aus, der unter dem Zeichen von Montaignes Morallehre steht. Der Zweifel erstreckt sich begreiflicherweise auch auf die Aufrichtigkeit des Menschen. Montaigne kommt immer wieder auf die menschliche Verstellung zu sprechen, und Petronius' totus mrndus exercet histrionem ist wohl am Platz in einem Werk, dessen Held gezwungen ist, eine Maske zu tragen 50 . Der Desillusionierung über den Menschen wird so ein Schuß Resignation beigemischt. Montaigne war bekanntlich der Ansicht, es bestehe „autant de difference de nous ä nous memes, que de nous a autruy" 6 1 . Die Maske (die wir manchmal Charakter nennen) ist aber das wirksamste Mittel zur Vorspiegelung einer einheitlichen Persönlichkeit, wo die Schlacht im Innern tobt. Das obige Kleeblatt von Leitmotiven im Henri Quatre wird ergänzt durch eine Vielzahl leichter wiegender, darum aber nicht minder charakteristischer - teilweise apokrypher - Zitate aus den Essais. Statistisch gesehen finden sich im Roman wenigstens drei Zitate aus „ D e la moderation" (I, 30), eines aus der „ A p o l o g i e . . . " (II, 12), eines aus „ Q u e nostre desir s'sccroit par la malaisance" (II, 15), zwei aus „ D e la praesumption" (II, 17), vier aus „ D e la colere" (II, 31) und zwei aus „ D e la vanitd" (III, 10). Sie alle werden mehrfach belegt
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oder abgewandelt und liefern einen augenfälligen Beweis der präzeptoralen Rolle, die dem „Vater der Skepsis" im Henri Quatre zufällt. Der oben berührte geschichtliche Aspekt von Henri Quatre soll im folgenden, wie es sich gebührt, mit dem ästhetischen verglichen werden. Als historischer Roman ist dieses Werk Heinrich Manns insofern realistisch als sein Verfasser unwiderlegliche Fakten aufgreift, um sie im Licht ihrer Ursachen und Wirkungen zu deuten. Darüber hinaus ist die Handlung aber symbolisch, indem diesenFakten eine über sie selbst hinausweisende Bedeutung zugeschrieben wird, die nicht unbedingt geschichtlicher Natur ist. Das soll jedoch nicht heißen, daß die Charaktere zu bloßen Chiffren oder Allegorien herabsinken oder ihre Individualität anderweit einbüßen. Georg Lukacs behandelt diese Dialektik von Dichtung und Wahrheit in dem „Der historische Roman des demokratischen Humanismus" betitelten Kapitel seines Buches über dieses Genre. Von Henri Quatre behauptet er, das Werk enthalte „Stellen, und zwar nicht unwesentliche, in denen sich der konkrete Kampf zwischen konkreten historischen Mächten [zur] Abstraktion verflüchtigt" und in denen „die großen gesellschaftlich-geschichtlichen Gegensätze, die den Inhalt des Kampfes der Menschheit um den Fortschritt bestimmen, zu einer fast anthropologischen Abstraktion [verdunsten]". „Und dadurch", so heißt es weiter in dieser zitierenswerten Stelle, wird gerade ihre historische Konkretheit aufgehoben. Denn wenn diese Gegensätze keinen konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Charakter haben, sondern ewige Gegensätze zweier Typen der Menschheit sind, wie ist dann jener Sieg der Menschlichkeit und Vernunft möglich, deren bester und beredtester Vorkämpfer gerade Heinrich Mann ist. Diese Auffassung bedingt aber bestimmte Grundprinzipien der dichterischen Gestaltung. Denn wenn man von einer solchen Konzeption ausgeht, ist es ganz natürlich, daß Henri IV als ewiger Abgesandter der Vernunft und der Menschlichkeit einen absoluten Mittelpunkt in der dichterischen Gestaltung erfordert. Seine Gestalt, seine Probleme, seine historische Bedeutung und seine politisch-menschliche Physiognomie wachsen nicht konkret aus den bestimmten Gegensätzen einer bestimmten Entwicklungsphase des französischen Volkslebens, sondern erscheinen im Gegenteil als ein bloßes - in einem bestimmten Sinne zufälliges - Feld der Verwirklichung für die ewigen Ideale. Selbstverständlich ist der Henri Quatre Heinrich Manns nicht ausschließlich auf diesem Prinzip aufgebaut. Er könnte ja dann kein
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Kunstwerk sein, das wirkliches Leben atmet. Aber der von uns angedeutete Übergangscharakter zeigt sich auch in diesem bedeutenden Werk darin, daß seine Gestaltung einen Kampf zweier entgegengesetzter Prinzipien aufweist: den Kampf der konkret-historischen Auffassung der Probleme des Volkslebens auf einer bestimmten Stufe der historischen Entwicklung mit den abstrakt-monumentalisierten, „verewigenden" Prinzipien der „überspannten Traditionen der Aufklärung".
Lukacs sieht in dieser Monumentalisierung des Henri Quatre den verderblichen Einfluß Victor Hugos53. Die Charakterzeichnung in unserem Roman beruht auf der Überzeugung, es sei verfehlt, den Menschen als ein Wesen zu betrachten, dessen Gedanken, Gefühle und Handlungen vorherbestimmt werden könnten oder logisch miteinander verknüpft seien. Hier ergeben sich Berührungspunkte mit der Kunst des Expressionismus, die alles Psycho-logische verdächtigt und das Irrationale in der menschlichen Verhaltensweise betont. Am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn machte Brecht diese Erkenntnis gelegentlich dem Klassenkampf dienstbar, während Heinrich Mann sie nur anthropologisch - und im analogen Sinne strukturell - verwendet. Es ist (besonders wenn man Thomas Manns oben zitierten Ausspruch in Betracht zieht) ganz im Sinne des Expressionismus, wenn das Sublime mit dem Lächerlichen gekoppelt und das Tragische mit dem Grotesken vermischt wird. Heinrich Mann liebt es vor allem, auf Momente tragischer Größe ausgesprochen komische Szenen folgen zu lassen oder Intrigue und Hochverrat in der Sprache des Märchens darzustellen. So beschreibt der im Kamin des Saales, in dem Catherine de Medicis mit dem Herzog von Alba verhandelt, verborgene Henri - er ist noch ein Kind - den Abgang der beiden auf folgende anschauliche Weise: „Die alte Königin erhob sich schwer, er [Alba] reichte ihr die Fingerspitzen und führte sie zur Tür; er stelzte, sie watschelte" (AW VI, S. 52). Bei seinem Aufenthalt in Bordeaux unterbricht Henri III. ein Gespräch mit seinem Vetter mit den Worten: „Es ist nicht auszuhalten, daß Sie einmal auf der Tischkante sitzen und gleich darauf am Ende des Zimmers ein Buch aus der Reihe ziehen. Ich hasse die Bewegung, sie stört die Linien" (AW VI, S.595). Und die beklemmende Wirkung einer anderen Szene wird dadurch erhöht, daß es von Catherine de Mέdicis heißt, sie befingere Henri „aus lauter Wohlwollen wie einen künftigen Braten" (AW VI, S.348). Heinrich Manns Flair für Asymmetrie kommt in der Struktur des
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Henri Quatre treffend zum Ausdruck. Die beiden Bände beinhalten ungleiche Lebensabschnitte des Helden (doch wird der Trennungsstrich mit Bedacht gezogen): Der erste schildert Henris Jugend bis zur Thronbesteigung (1553-1589), der zweite die einundzwanzig Regierungsjahre. Die Handlung derJugendXiSrt. sich graphisch als Kurve bezeichnen, deren Schwanken und Unregelmäßigkeit darauf schließen läßt, daß der Held noch nicht er selbst ist und nicht folgerichtig handeln kann, die der Vollendung als oft unterbrochene Aufwärtskurve, die vorzeitig zum Stillstand kommt und unversehens abbricht. So erscheint das Werk als Symphonie mit vielfach verflochtenen und variierten Themen, Höhepunkten, Steigerungen und Wiederholungen. Die Unterteilung eines jeden Bandes in Kapitel und Abschnitte ist besonders dadurch auffallend, daß die Handlung durch Kontrastwirkungen vorangetrieben wird, statt Schritt für Schritt auf Höhepunkte hinzustreben. Auch wird sie wiederholt durch Einschiebung von Anekdoten und historischen Vignetten unterbrochen. Nur ein einziges Mal greift Heinrich Mann zu einem bequemeren, weil logischeren Bindemittel, wenn er nämlich einer klar gruppierten Trias von Abschnitten - „Die Größe von innen", „Die Größe, wie sie umgeht" und „Die Größe, wie sie dasteht" - eine zweite „Gabriele, um ihr Leben", „Gabriele, um ihr armes Leben" und „Gabriele aufgegeben" - folgen läßt und dadurch die Bedeutung, die Gabriele zukommt, unterstreicht. Auch die Abschnitte innerhalb der einzelnen Kapitel bilden durchaus nicht immer eine erzählerische Einheit. Manche von ihnen zerfallen in Unterabschnitte, die stil- und handlungsmäßig miteinander kontrastieren. Der „ E i n Ritterroman" betitelte Abschnitt etwa, der die Schlacht von Ivry behandelt, besteht aus einem ernsten und einem heiteren Teil, wobei der Übergang von ersterem zu letzterem ganz plötzlich vollzogen wird (AW VII, S.35). Der Abschnitt „Lauern" andrerseits erinnert formal an ein Tongedicht von der Art des Berliozschen Harold in Italien, wo das Hauptthema als Leitmotiv zur ewigen Wiederkehr verdammt ist (AW VI, S.257). Wieder andere Abschnitte beginnen auf dem Boden der normalen Erzählhaltung, um unerwartet ins Lyrisch-Dithyrambische abzuschwenken. Selbst im Satzgefüge macht sich des Verfassers Vorliebe für Asymmetrie bemerkbar. So bezweckt der plötzliche Konstruktionswechsel oft eine Schockwirkung. Die Antiklimax als Stilmittel findet sich in Sätzen wie „Madame Catherine saß da . . . als wenn sie niemals ge-
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beten hätte, nach Floren2 abreisen zu dürfen - wo man sie einst hinausgeworfen hatte" (AW VI, S.233) und „Sie [Madame de Gramont] hatte ihn Achtung gelehrt und eine früher unbekannte Veredelung von Gefühlen - die im übrigen sich gleich blieben" (ebd., S.585), der Konstruktionswechsel in dem Satz „ N u n sind Mörderhöhlen spaßig, und sowohl über den Soldaten, der mit dem Bauch redet, und nach vollbrachter Tat hofft er unsichtbar zu werden, wie auch über den Wirt kann man allenfalls lachen" (AW VII, S.234). Beide Mittel sind vereint in der Aussage „ D e n Possen spielen die Herren vor Zuschauern, die lauter verhungertes Volk sind, und wohler wäre ihnen, ihr echter König verteilte unter sie das Brot des Landes, wie gern arbeiteten sie dafür" (ebd., S. 122) 54 . Wenn man derart die groß- und kleinststrukturellen Eigenheiten des HenriQuatre ins Auge faßt, drängt sich einem die Vermutung auf, die Essais Michel de Montaignes, von denen der Philosoph entschuldigend sagt, sie seien „crotesques et corps monstrueux, rappiecez de divers membres, sans certaine figure, n'ayants ordre, suite ny proportion que fortuite" 6 S könnten auch hier Modell gestanden haben. Auch sein Buch nennt Montaigne „le seul livre du monde de son espece, d'un dessein farouche et extravagant" 5 8 . Was die den einzelnen Essais vorangestellten Titel angeht, äußert er: „ L e s noms de mes chapitres n'en embrassent pas tousjours la matiere; souvent ils la denotent seulement par quelque marque, comme ces autres tiltres: ΓAndrie, YEunuche, ou ces autres noms: Sylla, Cicero, T o r q u a t u s " . " Bei näherem Hinsehen freilich erweist sich die Parallele als trügerisch; denn während Montaigne seinen Gedanken wirklich freien Lauf läßt, hält sich Heinrich Mann strikt an die Chronologie des historischen Geschehens, und zwar selbst dann, wenn er sich scheinbar irrelevanten Gegenständen zuwendet. Die Geschichte bleibt also der rote Faden, der sich durch die Handlung seines Romanes zieht. Anders ausgedrückt: Während der Reiz der Essais zum Teil gerade in dem Fehlen der Methodik liegt, ist die unregelmäßige Abfolge der Ereignisse im Henri Quatre ein bewußt angewandtes Mittel der Verfremdung. Ja, es ließe sich sogar behaupten, daß in diesem Roman die Geschichte erst durch solche Verfremdung zum künstlerischen Objekt wird. Die Behandlung von Zeit und Raum in Henri Quatre entspricht dieser Sachlage durchaus. Henris Leben rollt nicht synchronisch mit dem wirklichen Zeitverlauf, sondern mit einer ihm ganz eigenen Logik vor unseren Augen ab; und statt mit dem Tempo der histo-
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tischen Ereignisse Schritt zu halten, wird die Handlung je nach Bedarf beschleunigt oder verlangsamt. Auch liebt es der Verfasser, von Zeit zu Zeit die Zukunft und die Vergangenheit mit der Gegenwart zu konfrontieren und dadurch seinem Werk epische Breite zu geben. Schon frühzeitig im ersten Bande wird Henris politischer und menschlicher Triumph vorausgenommen: „Damals war er achtzehn. Mit vierzig, schon ergrautem Bart, weise und schlau, sollte er [Paris] endlich erkämpft haben" (AW VI, S.136). Und weder sein Versagen der Geschichte gegenüber noch seine äußerliche Charakterschwäche wird dem Leser verhehlt, wenn es in AW VI, S. 191 heißt: „Er sollte im Verlauf der Dinge ungezählte Male ganz allein bleiben trotz Gedräng um ihn her, sollte verraten werden und selbst unsicher aussehn trotz innerer Festigkeit" (AW VI, S. 191). Strukturell wird die Vorwegnahme des Künftigen ausgeglichen durch einzelne Rückblenden im zweiten Teil, wo Stellen aus dem ersten in der Absicht zitiert werden, die Länge des inzwischen zurückgelegten Weges zu messen. Während er noch um die Konsolidierung seiner Macht ringt, begegnet der König von Navarra dem Herzog von Bouillon (ehemals Turenne geheißen) und wird plötzlich an die gemeinsame, Jahre zurückliegende Flucht aus dem Louvre erinnert: Die Schatten des Himmels ordnen sich zeitweilig, so daß sie über die vordere Ansicht fallen und auch den Hintergrund bedecken. In bestrahlter Mitte, breit flutendem Licht winkt Henri einen nach dem anderen zu sich. Mit jedem steht er einmal allein, umhalst ihn oder schüttelt ihm beide Schultern oder drückt seinen Arm. Es sind seine Ersten. Wäre er wissend, dann erkennte er in den einzelnen Gesichtern ihre künftige Bedeutung, sähe im voraus ihren letzten Blick und wäre ebensooft erschüttert als entsetzt (AW VI S. 461).
Stellen wie diese dienen dazu, dem Leser die zeitliche Ausdehnung der Romanhandlung sichtbar zu machen, ohne die historische Perspektive zu trüben. Zugleich stellt aber der Verfasser unter Beweis, wie sehr er seine Materie beherrscht und eine wie vollständige Kontrolle er über den Stoff ausübt. Indem er Kreisbewegungen vollführt und den Pulsschlag seines Helden mit dem der Epoche in Kontrastharmonie bringt, schafft er den verwirrenden und zügigen Rhythmus, durch den sich der Henri Quatre von der Mehrzahl der historischen Romane so wohltuend abhebt. Was die Behandlung räumlicher Gegebenheiten im Roman anbetrifft, so zeigt sich, daß Henris Frankreich Idee und geographische 175
Wirklichkeit in einem ist. Dieses Land ist nicht so sehr die Summe aller Dörfer, Städte, Berge und Flüsse, die der König auf seinen Reisen und Feldzügen berührt, als ein Maß seines Erfolges und symbolischer Ausdruck seines Geistes. Denn wo immer Henri sich befindet, da ist Frankreich. Es ist durchaus charakteristisch, daß die Handlung des Romans die Grenzen der Nation kaum überschreitet. Die wenigen Abschnitte, die diplomatischen Missionen gewidmet sind (wie Philippe de Mornays Reise nach England), sind von untergeordneter Bedeutung und dienen hauptsächlich dazu, die weltpolitische Lage anzudeuten. Nur eine einzige, ausgesprochen sarkastische, Szene spielt im Spanien Philipps II., während Deutschland, Italien und die Niederlande nur schwach am Horizonte sichtbar werden. Stilistisch zeichnet sich Henri Quatre besonders dadurch aus, daß hier die Sprache symbolischer Ausdruck der verschiedenen Ebenen der Erfahrungswelt ist. So ist etwa der zum Maler geborene Heinrich Mann ein Meister in der Kunst, die Landschaft als stimmungsbildendes Mittel zu verwenden, und verwandelt mitunter die härteste Wirklichkeit in zeitlos ätherische Schönheit. (Während der Belagerung der Festung Charbonnieres in den Savoyer Alpen wird der König von Navarra von der lyrischen Zartheit eines Herbstmorgens ergriffen: „Übrigens betrachtete der König das Gebirge klar wie Glas, die kahlen Gipfel, die kalten, flüchtigen Farben, die der frühe Herbst entlang den fernen Schroffen und Zacken legte. Der Himmel schwebte auf den Schneefeldern blau und leer" (AW VII, S.637)). Im stärksten Gegensatz zu dieser einfühlsamen Wiedergabe von Natureindrücken steht die grobrealistische Darstellung solcher Phänomene, an denen Heinrich Mann die Verworfenheit der Welt und den Verfall der Sitten aufzuzeigen sucht. Nicht selten kommt es dabei zu Rabelais'schen Ausfällen. So wird die Tatsache, daß Marie de Mddicis selbst im persönlichsten Erleben noch politisch denkt, durch die karikierende Beschreibung ihrer Liebesekstase erhärtet: Da das Verlangen schön macht, werden hier Schönheiten angeboten, man muß sie nur verstehen. Der Kopf ist nach hinten über das Polster geschoben, was erstens das Opfer der Hingabe vortäuschte: eine keusche Dame will lieber nicht wissen, wie es weiterhin zugeht (AW VII, S.672).
Groteskerien dieser Art finden ihre polare Entsprechung in der Verwendung von understatements zum Zwecke der erhöhten Kon176
trastwirkung. So wird der Terror der Bartholomäusnacht von einem Augenzeugen im Zerrspiegel einer geschäftlichen Transaktion gesehen: Ihr Geschäft war überall das gleiche: töten und sterben; und es geschah mit der höchsten Emsigkeit, dem Schwung der Glocken vergleichbar und angepaßt dem Takt des Mordgeschreis. Pünktliche Arbeit, und dennoch wieviel Abwechslung und Eigenheit. Ein Kriegsknecht schleifte einen alten Mann ordentlich an die Leine gebunden Ein Bürger erschlug einen anderen mit Sorgfalt und Genauigkeit (AW VI, S.301. Hervorhebungen vom Verfasser U. W.). Zur Erzielung gewisser verfremdender Effekte verwendet Heinrich Mann gern Anachronismen oder verpflanzt ein Wort aus dem Vokabular einer Gesellschaftsschicht in das einer zweiten. Auf dem Wege nach England gedenkt de Mornay der Freunde, die ihm „abhanden gekommen" sind. Gewöhnlich bezieht sich aber dieser Ausdruck auf Unbelebtes und nicht auf Wesen aus Fleisch und Blut. Essex, der Günstling der Königin Elisabeth, wird „schlaksig" genannt; und Gabrielle d'Estrdes muß mit anhören, wie ein biederer Fährmann ihre erotischen Abenteuer durch den Vulgarismus „sie soll aber richtig fremd gehen" kennzeichnet. Doch darf man keinesfalls übersehen, daß im Gegensatz zu den Künstlern, die mittels Verfremdung das Gefühl erkälten wollen, Heinrich Mann verfremdet, um die emotionelle Wirkung zu steigern. Es wäre also falsch, den Verfasser des Henri Quatre zum Vorkämpfer der epischen Darstellungsweise machen zu wollen. Wie die Titel der einzelnen Abschnitte des Romans, die eine Art laufenden Kommentars zur Handlung darstellen, so unterstreichen auch die französisch geschriebenen moralitis an den Kapitelenden sowie die abschließende allocution des Dichters Absicht, gleichzeitig auf mehreren Bewußtseins- und Stilebenen zu operieren. Die moralites sind kurze Summierungen der Hauptphasen von Henris bewegtem Leben und üben mitunter offen Kritik an der Handlungsweise des Helden, wo der Text eine solche Kritik nur vermuten läßt. Die allocution hingegen, die vielleicht auf Montaignes Ausspruch „Je ne laisse rien ä desirer et deviner de moy. Si on doibt s'en entretenir, je veus que ce soit veritablement et justement. Je reviendroi volontiers de l'autre monde pour ddmentir celuy qui me formeroit autre que je n'estois, fut-ce pour m'honorer"68 zurückgeht, wird vom verstorbenen König „du haut d'un nuage qui le ddmasque pendant 12
Weitttcin, Hcinrich Mann
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l'espace d'un £clair, puis se refetme sur lui" gehalten. Hier wird die Geschichte zur barocken Vision sub specie aeternitatis, die ein wenig an Claudels Soulier de Satin gemahnt, verklärt. Dies ist der angemessene Abschluß einer Prosa-Epopöe, die, obwohl fest in der geschichtlichen Wirklichkeit verankert, wiederholt Ausblicke in den Bereich des Symbolischen öffnet. Montaignes Praxis folgend, unterläßt es Heinrich Mann, seine Figuren zu typisieren oder ihre Komplexität auf einen Nenner zu bringen. Für Montaigne ist der Mensch bekanntlich ein Wesen „d'une contexture si informe et diverse, que chaque piece, chaque momant, faict son jeu" 5 9 ; und Heinrich Mann betont wie sein Meister die Veränderlichkeit des Individuums. Obwohl er seinen Charakteren gewisse Grundzüge nicht abspricht - Henri ist wesentlich gut, Catherine de Mddicis wesentlich schlecht - , fehlt es selten am Moment der Überraschung. Die Auffassung des Menschen im Henri Quatre beruht auf der Meinung, daß, was man als Charakter bezeichnet, in Wahrheit nur ein prekärer Schwebezustand ist. Heinrich Mann betont die Spontaneität des Handelns und unterhöhlt den Glauben, Ursache und Wirkung, Motiv und Tat seien logisch verknüpft 80 . Er hegt vielmehr die Meinung, das Motiv werde oft erst nachträglich der Rationalisierung halber der Tat unterstellt. Betrachten wir Herrn de Liancourts Reaktion auf das ihm von Gabrielles Vater unterbreitete Heiratsversprechen I In der richtigen Erkenntnis, daß die geplante Heirat nur ein Deckmantel für die Liebesaffäre des Königs sein und nie wirklich vollzogen werden soll, zögert er, auf den Vorschlag einzugehen: Mehr Umstände machte Herrn d'Estries sein Schwiegersohn, der, schüchtern von Natur, nur mit Schrecken daran dachte, dem König eine noch ganz neue Eroberung streitig zu machen. Dies abgerechnet, wäre Fräulein d'Estries ihm auf alle Fälle zu schön gewesen. Er begehrte sie zu heftig, was zusammen mit seiner Schüchternheit auf Enttäuschungen hinauslaufen mußte. Er kannte sich, obwohl andrerseits gerade die schwache Ansicht, die er von sich hatte, ihm ein Gefühl der geistigen Überlegenheit eingab (AW VII, S. 127).
Im Hinblick auf diese Widersprüchlichkeit des Denkens, Fühlens und Handelns überrascht es nicht, daß die Figuren des Romans oft plötzlich ihre Meinung ändern. Zuweilen kommt das bessere, eigentliche Selbst in dem Augenblick zum Durchbruch, in dem der Verstand gelähmt und das Bewußtsein ausgeschaltet ist. So warnt Mar178
guerite de Valois Henris Mutter instinktiv vor der Bartholomäusnacht, sieht aber sofort ein, daß sie damit ihre eigene Partei verraten hat, und schämt sich ihrer Güte. Die Ironie dieser Situation wird dadurch verschärft, daß Jeanne d'Albret Marguerite keinen Glauben schenkt und sie der Falschheit bezichtigt: „Eigensinn und Unglauben waren alles, was Margot in ihrem ehrlichsten Augenblick bei Jeanne fand" (AW VI, S. 100). Und gerade so wie die Wahrheit gelegentlich aus dem Munde des Lügners hervorbricht, äußert der brave Mann mitunter in aller Unschuld eine Lüge. Als der Graf von Nassau sich dazu überreden läßt zu glauben, Elisabeth von England sei willens, Henri zu heiraten, muß ihm Jeanne d'Albret mit List und Gewalt das Geheimnis dieses von Agenten ausgestreuten Gerüchts entreißen (AW VI, S. 82). Um einem Mißverständnis der Mannschen Absichten vorzubeugen, sei erneut darauf hingewiesen, daß Henri Quatre alles andere als eine romantisch-expressionistische Apotheose des Irrationalen ist. Manns und Montaignes Anthropologie ist realistisch insofern sie das Chaotische im Menschen betont, ohne diesen deshalb an das Chaos auszuliefern. Montaignes Que say-je ? ist nicht der Wahlspruch eines Agnostikers, sondern nur das Herzstück einer in sich selbst geschlossenen Philosophie der Skepsis. Montaignes Bemühungen um geistige Disziplin finden künstlerisch ihren Ausdruck in Heinrich Manns Versuch, mit Hilfe des Romans Henri Quatre das seine Welt bedrohende Chaos zu bannen'1. Im dichten Netz der Geschichte, wo jede Handlung schicksalsträchtig und inhaltsschwer ist, wirkt die Vertauschung von Ursache und Wirkung oft verhängnisvoll, so rechtfertigt D'Epernon den Gebrauch zweideutiger Methoden im Wahlkampf mit dem Hinweis: „Ereignisse, die nicht prophezeit wären, blieben fragwürdig. Ihr Eintritt ist aber gesichert, sobald man an sie glaubt" (AW VII, S. 844). Auf diese Art wird Henri um die Früchte seiner Arbeit gebracht. Auch in der Rückschau auf Vergangenes wirkt sich diese verklemmte Logik unheilvoll aus, indem sie dem Individuum die Verantwortung abnimmt. Henris Beichtvater glaubt seine Mitschuld an Gabrielles Tod dadurch verkleinern zu können, daß er die Geschichte fälscht: „Später, nach den Ereignissen, wird er so lange wie möglich sein Gewissen beschwichtigen und sein verhängnisvolles Auftreten für unbeeinflußt ansehen" (AW VII, S.592). Derartige Beispiele ließen sich häufen. Dem Verfasser des Henri Quatre ist es ferner darum zu tun, die 12·
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Verstricktheit von Körper und Seele (Denken und Fühlen), d.h. die psychosomatische Natur der Dinge, anschaulich zu machen. So stellt sich heraus, daß beim Helden des Romans das Denken nicht autonom ist, sondern dem Gefühl entspringt: Bei Henri war der Antrieb zu denken ein Gefühl; es ging aus von der Mitte des Körpers, aber mit äußerster Schnelligkeit erreichte es die Kehle, die sich krampfte, und die Augen, sie wurden feucht. Solange dies Gefühl in ihm aufstieg, begriff der junge Henri das Unendliche und die Vergeblichkeit alles dessen, was enden muß (AW VI, S.357).
Die gleiche „sinnlich-sittliche Wechselwirkung" erhellt auch aus der symbolischen Bedeutung der Krankheit als Signal einer geistigseelischen Krise und „ein Zeugnis, das der Körper dem Geist ausstellt über eine neue Wende und Schicksalsstunde" (AW VII, S.319). Umgekehrt wird der Verrat zur Krankheit, die man heilen kann. Daher auch Henris anfängliche Weigerung, das Todesurteil für Marschall Biron zu unterzeichnen. Da der kranke Mensch der kreatürlichste ist, läßt sein Zustand den Unterschied von Alter, Geschlecht und Stand am ehesten vergessen. Der Kranke ist Mensch, sonst nichts. Deshalb liebt es Heinrich Mann, seine Gestalten im Zustand der Schwäche zu porträtieren: Henri, der eine Frau begehrt oder eine Liebesnacht hinter sich hat; Marguerite de Valois mit dem Blut der Hugenotten, die sie mit ihrem Leib beschützte, bedeckt. Indem er so brutal die Maske abreißt, enthüllt der Verfasser die wahre menschliche Größe oder Schwäche. Größe aber zeigt sich nicht nur in Mut, Geduld und Uneigennützigkeit. Zu ihren Bestandteilen gehören auch das Rührende und das Fragwürdige: Freiheit, Nation, Frieden, diese drei zu erkämpfen ist die Größe, von vorn gesehen. Gabriele hatte von ihrem großen Mann nicht nur die Front und stolze Erscheinung. In seinem Innern entdeckte sie das Rührende, das Fragwürdige - glaubte aber deswegen keineswegs, sie wäre der Größe hinter ihre Schliche gekommen (AW VII, S.497).
Insofern als Henri nicht durch Erfahrung klug wird - er vergißt allzu leicht die Mühen des Aufstiegs und ist seiner Schwäche nicht immer eingedenk - ist Henri Quatre kein Bildungsroman im eigentlichen Sinne. Eine Feder im Winde seiner Stimmungen, ist der Held zum Weinen wie zum Lachen gleich bereit. In einer berühmten, wohl auf den König von Navarra bezogenen, Stelle des Essays „De l'experience" äußert Montaigne die Meinung: 180
Et par dessus tous j'ai veu quelque autre de sa taille a qui cete conclusion s'appliqueroit plus proprement encore, ce croy-je: nulle assiette moyenne, s'emportant tousjours de l'un k l'autre extreme par occasions indivinables, nulle espece de train sans traverse et contrariet6 merveilleuse, nulle facult6 simple; si que, le plus vraysemblablement qu'on pourra feindre un jour, ce sera qu'il affectoit et estudioit de se rendre cogneu par estre mescognoissable". Henri ist abwechselnd frivol, gedankenlos, nachdenklich und verwegen. Von Disziplin (besonders geistiger) kann bei ihm keine Rede sein. Seine Absichten sind oft verworren, seine Handlungen meist unzureichend begründet. Der Liebesaufschwung ist die Hauptquelle seiner Energie: „Für alles, was er tut, ist sein ursprünglicher Antrieb das Geschlecht und die gesteigerte Kraft, die es hervorbringt durch seine Entzückung" (AW VII, S. 42). In seinem Leben ist kein Platz für die stoische Ataraxie. Noch als Alternder verfällt er dem Liebes taumel und macht sich vor aller Welt lächerlich. So erhebt sich abschließend die Frage, warum, bei solcher Sachlage, Heinrich Mann Henri Quatre und nicht Montaigne zum Helden seines Romanes wählte. Die Antwort hierauf fällt nicht schwer. Als Künstler war er gebannt vom bunten Schauspiel der französischen Spätrenaissance, und als Mensch und Moralist wünschte er den Zwiespalt zwischen dem natürlichen Menschen und dem zoort politicon, in das er sich entwickelt, darzustellen. In Montaigne war aber dieser Zwiespalt ironisiert oder aufgehoben. Auch geht es im Henri Quatre nicht so sehr um das Schicksal eines Einzelnen als um die Erziehung des Menschengeschlechts zu Toleranz, Humanität und Skepsis. Henri Quatre ist ein politischer Roman insoweit, als sein Verfasser der Parteien Haß und Gunst verabscheut und durch eine auf demokratischer Grundlage aufgebaute Regierungsform ersetzt wissen will. Daran dachte wohl Heinrich Mann, als er anderwärts von der Literatur als einer „Form des schöpferischen Geistes schlechthin, [die] vom Allgemeinen herkommt und das unzulängliche Besondere im Grunde nur benutzt wie ein Gleichnis und Gegenbeispiel zum unbedingten Allgemeinen" sprach·8.
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ANMERKUNGEN
Neuntes Kapitel Les Nouvelles Littiraires, 24. Dezember 1927. Im sechsten Heft des fünften Jahrgangs des Zwanzigsten Jahrhunderts findet sich auf S. 559-574 ein „Der historische Roman der Gegenwart und Frau Jenny DirnböckSchulz in Wien" betitelter Aufsatz Guido Lists, dessen Kernsätze sich gewiß in Heinrich Manns Bewußtsein gruben. So sagt List unter anderem: „In vorderster Reihe muß die Forderung stehen, daß der Dichter für sich genau dieselben Gesetze anerkenne und befolge, welchen er unterworfen wäre, wenn er als Historiker arbeiten würde; er hat nicht das Recht, Handlungen, Ereignisse zu verschieben, umzuschichten und einer Zeitepoche, einer historischen Persönlichkeit andere, ihr fremde Tendenzen und LeitbegriiFe unterzuschieben." 1 Vergleiche den Aufsatz „Nach einer Reise" (AW XII, S. 335-343), der ursprünglich in der Neuen Bücherschau, VI/1 (1928), S.6-13, erschien. ' Zeitalter, S.491. Nach Edgar Kirsch („Heinrich Manns historischer Roman . . . Henri Quatre - Beiträge zur Analyse des Werkes", Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, V [1955-1956], S.630) „kann kein Zweifel darüber herrschen, daß der Henri Quatre zunächst als Gegenkomposition zur Wilhelminischen Trilogie angelegt war". Das ist, auch im Hinblick auf Lyonel Dunins oben zitierten Ausspruch, unwahrscheinlich. * Während der Arbeit am Roman schrieb Heinrich Mann ungefähr fünfundsiebzig Artikel für die Diptche de Toulouse. * Der zweite Band war schon vor der Buchveröffentlichung als Fortsetzungsroman in der Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur zum Abdruck gekommen. In Ostdeutschland wurde das Werk erst 1951 und 1952, in Westdeutschland sogar erst 1959 bekannt. - Aus der kritischen Literatur über Henri Quatre erwähne ich nur die Aufsätze Georg Lukacs' in Das Wort (Moskau), III (1938), S. 125-132, und im Buch Der historische Roman (Berlin, 1955), S.303-306; Hans Mayers in Deutsche Literatur und Weltliteratur (Berlin, 1957), S. 682-689; Alfred Kantorowicz' in Sinn und Form, III (1951), S.31-42, und in AW VII, S.897-911; Lion Feuchtwangers in Das Neue Tagebuch, IV (1936), S. 65-66, und Die Neue Weltbühne, 1939, Nummer 21; Hermann Kestens in Meine Freunde die Poeten (Wien/München, 1953), S. 21-35; und meinen eigenen Beitrag in Monatshefte, LI (1959), S. 13-24. Auch Thomas Manns Äußerung über Henri Quatre in einem Brief an Rend Schickele vom 31. Oktober 1935 (.Briefe I, S.403) ist zu beachten. β Heinrich Mann benutzte unter anderem den Recueil des Lettres Missives de Henri IV, herausgegeben von Berger de Xivrey (Paris, 1843ff.), die Memoires des sages et royales oeconomies d'estat, domestiques, politiques et militaires de Henry le Grand des Herzogs von Sully, die Memoiren der Marguerite von Valois und Duplessis-Mornays sowie Pierre l'Estoiles 1
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Memoires-Journaux. Ferner hatte Mann Voltaires Henriade, des gleichen Autors Essai sur lei moeurs . . . , Leopold von Rankes Französische Geschichte und Saint-Ren6 Taillandiers Bücher über Henri Quatre zur Hand. Ein ausführlicheres, aber keineswegs vollständiges Verzeichnis findet sich in Hadwig Klemperers Ost-Berliner Dissertation „Heinrich Manns Roman Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre" (1957). Der Brief, vom Jahre 1572 datiert, ist in Bd.I, S.32f. des Recueil wiedergegeben. Vergleiche dazu AW VI, S.95. • Siehe Henris Brief vom 17. Juni 1586 {Recueil, Bd.II, S.224f.) und AW VI, S.586. • Siehe Henris Brief an seine Schwester Catherine vom 15. April 1599 (Recueil, Bd.V, S.llOf.) und AW VII, S.620. 10 Siehe Bd.II, S.421 ff. der Oeconomies, herausgegeben von M. Petitot und erschienen als Teil der Collection des Mdmoires relatifs k l'histoire de France depuis l'av^nement de Henri IV jusqu'ä la paix de Paris, conclue en 1763 (Paris, 1854ff.) und AW VII, S.146. 11 In „La fortune se rencontre souvent au train de la raison" (I, 34) behauptet Montaigne, daß „l'inconstance du bransle divers de la fortune fait qu'elle nous doive presenter toute espece de visages". Siehe die Essais in der Ausgabe von Thibaudet (Pleiade), S.268. Ich zitiere im folgenden nach dieser Ausgabe. " Das Wort fatum findet sich z. B. in „De la vertu" (II, 29), das Wort hazard in „De l'inconstance de nos actions" (II, 1). 11 Siehe die Eintragung vom 20. März 1581 in Montaignes Tagebuch. " Montaigne (Bern, 1949), S.203f. 18 Siehe Goethes Gespräch mit Luden vom 19. August 1806. " Hierzu gehörige Stellen finden sich auf S.164, 208f., 436 und 490f. des Zeitalters. 17 Brief an Madame de Gramont vom 13. März 1588 (Recueil, Bd.II, S.346). 18 Im Essay „Gutgeartete Menschen", der in dem von Heinrich Mann mitherausgegebenen Buch Gegen die Phrase vomjüdischen Schädling (Prag, 1933) enthalten ist, findet sich die folgende Definition geistigen Adels: „Gutgeartete Menschen haben füreinander beides: Skepsis und Bereitschaft zum Wohlwollen. Keiner unterhält vom anderen übertriebene Vorstellungen, weder im Guten noch im Bösen. Besonders sieht man Ähnlichkeiten aller mit sich selbst. Man beruft sich nicht auf seine Herkunft. Im Durchschnitt sind alle, wie sie geboren werden, mehr verwandt als fremd. Die lebenslange Bemühung allein entscheidet" (S.298). Auf S.297 heißt es, daß „das vernünftige Denken selbstverständlich die entscheidende Eroberung ist, die uns zu Menschen macht" und die „ebenso selbstverständlich nicht bei der Mittelmäßigkeit, sondern beim Genie" steht. Diese Sätze - die Heinrich Mann kaum als Demokraten im gleichmacherischen Sinne erscheinen lassen - könnten als Motto des Henri Quatre dienen. 7
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" Zeitalter, S. 200-211. Zu Manns Kritik am Irrationalismus siehe auch den Essay „Bekenntnis zum Übernationalen" in Die neue Rundschau, XLIII (1932), S. 721-746. " Kantorowicz (AW VII, S.908) stellt summarisch fest: „Bekannt ist die beinahe schwärmerische Bewunderung, die Heinrich Mann für den Zeitgenossen und geistigen Berater des Königs Henri Quatre, Michel de Montaigne, hatte, dessen unsterbliches Werk . . . den tiefsten und nachhaltigsten Einfluß auf ihn ausübte, wie er wiederholt in seinen Schriften bekundet hat." Heinrich Manns Exemplar der Essais befindet sich im Ostberliner Archiv. Es handelt sich dabei um die Ausgabe im Rahmen der „Grands Classiques Illustres". Die handschriftlich eingetragenen Randbemerkungen bekunden Manns vordringliches Interesse an den Essais „De la moddration", „De la praesumption" und „De la colfere". n
Siehe den Essay über Anatole France in AW XI, S. 124ff. Der Hinweis auf Renan findet sich auf S.208 des Zeitalters. Daß der junge Heinrich Mann der Skepsis ablehnend gegenüberstand, ergibt sich sowohl aus seinen Beiträgen zum Zwanzigsten Jahrhundert (etwa dem Aufsatz „Das Elend der Kritik") als auch bedingt aus Dora Linters Bemerkung „Sie wissen doch, wie gefahrlich ich den Einfluß Ihres verehrten Meisters Renan finde. Er hat mit seiner Skepsis, mit Allesgeltenlassen und geistiger Seiltänzerei schon genug Unheil in unserer heutigen Generation angerichtet" {In einer Familie, S.107).
" „Der Zweifel macht menschlich; er erlaubt jede Wendung, jeden Glücksfall. Er führt, gering gerechnet, zur Achtung des Gegners, in höheren Fällen zur Menschlichkeit. Zweifel, der die Entschlußkraft nicht lähmt, ist die richtige Verfassung, um gelegentlich einmal dahinterzukommen, daß ein Zeitalter schließlich in allen seinen Teilen dasselbe Ziel hat." Aus dem Essay „Morgen" (AW XI, S.376ff.). " Vergleiche den Essai sur Michel de Montaigne (Paris, 1929). Von Gides Werken liebte Heinrich Mann besonders Les Faux Monnayeurs und Les Caves du Vatican. 24 „Der positive Gehalt der Skepsis ist das Individuum", sagt Max Horkheimer in seinem Aufsatz „Montaigne und die Funktion der Skepsis" in der Zeitschrift für Sozialforschung, VII (1938), S. 17. » Zeitalter, S.209. " „Der Befreier Henri Quatre handelte revolutionär, seither wäre er Bolschewik genannt worden" (ebd., S.165). Der historische Henri Quatre war viel zu individualistisch gesinnt und verachtete die Masse zu sehr, um Kommunist zu sein. Das erhellt besonders deutlich aus Pierre FEstoiles Chronik. Zur marxistischen Kritik an Heinrich Mann siehe Kirsch, a.a.O. Auf S.1196 beschuldigt Kirsch Mann, vergessen zu haben, „worauf der Skeptizismus Montaignes nicht zuletzt beruht: auf der niedrigen Entwicklung der Naturwissenschaften". " „Montaigne, Historien de sa vie publique", Modern Language Quarterly, XII (1951), S. 86-92. Der Verfasser behauptet auch, daß „Montaigne regrette d'autant plus vivement de ne pas appartenir ä la noblesse
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militaire que c'est sans doute sa qualitd de robin qui empeche ce jeune provincial avide de ,se pousser' d'avoir accfes aux grandes charges politiques". *® Ein Essay (I, 23) heißt „De la coustume et de ne changer aisement une loy receue". Max Horkheimer (a.a.O.) sagt: „Nicht religiös, sondern politisch hielt Montaigne die Skepsis für gefahrlich." Hugo Friedrich (a.a.O., S.147) teilt diese Ansicht. " Duplessis-Mornay berichtet, Henri III. habe ihm im Juni 1584 mitgeteilt: „Aujourd'hui... je reconnais le roi de Navarre pour mon seul et unique hdritier," , 0 Der Chronologie der Romanhandlung zufolge wäre das Ereignis auf das Jahr 1587 oder 1588 anzusetzen. Montaigne war aber nur von 1582 bis 1585 Bürgermeister von Bordeaux. 31 „Henri III., in der Furcht vor seinen Feinden, fuhr eilends zu ihm. Henri Quatre war sein Freund" (.Zeitalter, S.208). " AW VI, S.565f. (es handelt sich wohl um die einbändige Ausgabe der Essais von 1582) und AW VII, S.471. Michelangelo starb 1564 im Alter von 86 Jahren, und Montaigne traf am 30. November 1580 in Rom ein. Michelangelos Bemerkung weist auf die Legende seiner Abstammung von den Grafen von Canossa. » Siehe Essais, S.159, 730, 762, 796, 933, 1130 und 1209. 84 Nur zwei Briefe Motaignes an Henri (vom 18. Januar und 2. September 1590) sind erhalten; dagegen keiner der vom König an den Philosophen gerichteten. Im Brief vom 18. Januar 1590 heißt es: „J'ay de tout temps regard6 en vous cette mesme fortune ou vous estes et vous peut souvenir que lors mesme qu'il m'en faloit confesser a mon cur£ je ne laissois de voir aucunement de bon euil vos succez, a prisant avec plus de raison et de libertd je les embrasse de pleine affection." ,s Essais, S.1106. Die Besuche fanden am 19. Dezember 1584 und am 23. November 1587 (drei Tage nach der Schlacht von Coutras) statt. " Siehe Marvin Lowenthals The Autobiography of Michel de Montaigne (Boston, 1935), S.112f. " Siehe Montaignes Brief vom 14. Dezember 1583 und Henris Schreiben vom 24. April und 6. Juni 1585. , e Siehe besonders die Briefe vom 25. November und vom 9. und 31. Dezember 1583, sowie einen undatierten Brief vom folgenden Jahr. ·· Brief vom 25. November 1583. 40 Zitiert in Sullys Memoires, herausgegeben von M. L. D. L. D. L. (London, 1747), Bd.I, S.91 (Fußnote). 41 Siehe Lowenthal, a.a.O., S.195. 42 Essais, S.885. 48 Erstere Verhandlungen fanden zwischen 1583 und 1585, letztere um das Jahr 1588 statt. 44 Der Essay „Vingt et neuf sonnets d'Estienne de La Boetie" (I, 29) ist Madame de Gramont gewidmet. Weitere Einzelheiten zum Verhältnis 185
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Montaignes zu „Corisande" in Raymond Ritters Buch Cette grande Corisande (Paris, 1936). „M. de Montaigne est tenu pour un homme intelligent encore qu'un peu brouillon. On me dit qu'il gouverne la comtesse de Guiche, dame d'une grande beautd qui vit chez le soeur du B6arnais, car celle est la mäitresse de ce dernier et qui est en relation avec ce prince. D'oü l'on deduit qu'il vient accomplir quelque mission et que le roi veut se servir de lui afin qu'il s'efforce de concert avec la dite comtesse de Guiche, de convaincre le Bdarnais d'en venir ä ce que disire Sa Majesti." Der Brief, datiert vom 28. Februar 1588, findet sich in des Herzogs de Levi Mirepoix' Aufsatz „Montaigne et le secret de Coutras" in La Revue . . . des deux Mondes, Oktober 1950, S.461 ff. Vergleiche auch DuplessisMornays Schreiben an seine Gattin vom 24. Januar 1588.
*· Die Belagerung von La Rochelle fand in der ersten Hälfte des Jahres 1573 statt. Montaigne verbrachte einen Teil der Jahre 1574 und 1575 in Paris, wo Henri ihm wohl begegnete. - Das Que sais-je? findet sich achtmal im Henri Quatre. Es stammt aus dem Essai ,,L'Apologie de Raimond Sebond" (II, 12) in der zweiten Fassung von 1588. Siehe Hugo Friedrichs Interpretation der Maxime auf S.163 und 200 seines Buches. 47 Aus Ciceros Pro Ligario. Von Montaigne in „De la praesumption" zitiert, von Heinrich Mann viermal im Roman angezogen. - Das Motto aut vincere aut mori findet sich in AW VI, S.7 und 21. - Henris Gesinnungswandel im Verfolg des Gesprächs mit Montaigne wird in der moraliti am Ende des fünften Kapitels (AW VI, S.378) bestätigt. ** Essais, S. 234. Es erscheint im Urtext in der moralite am Ende des sechsten Kapitels (ebd., S.472), auf Deutsch ebd., S.469. Andere Zitate aus „De la moddration" finden sich ebd., S.357 und auf S.210 des Zeitalters. Der Essai selbst geht auf Horazens Insani sapiens . . . (Epistolae, I, vi, 15) zurück. 10 Im Satiricon heißt es mundus universus exercet histrionam. Montaigne zitiert die geänderte Fassung auf S.1134 der Essais. Vergleiche AW VII, S.71, 118,123,259. 11 Siehe Essais, S.374 („De l'inconstance de nos actions"). " Der historische Roman, " Der dritte Abschnitt von Heinrich Manns Essay über Victor Hugo (AW XI, S.72fF.), der sich mit dessen Roman Quatre- Vingt-Treize befaßt, bestätigt Lukacs' These und erklärt gewisse Züge im Stil des Henri Quatre durch den Hinweis: „Victor Hugo . . . ist der Sohn starker Menschen, sein Werk sucht die Kraft nicht auf, wenn es gewalttätige Zeiten darstellt, es hat sie schon. Es hat sie auch im Alter. Dies zeigt zuerst der Stil. Er ist das Leben selbst, und dabei unrealistisch. Vielleicht eben darum unrealistisch? Vielleicht würde die einfache Wirklichkeit nicht ausreichen, soviel Leben zu tragen. Der Stil hier steigert sie immer. Die Menschen, ihre Taten, ihre Gesichter, haben größere Züge als die allgemein bekannten. Ihre Art aufzutreten, ist merkwürdig unökono186
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misch. Sic sprechen - zweifellos auch, um einander etwas mitzuteilen; aber zuerst, um sich zu entladen." Heinrich Manns Syntax wurde untersucht von Robert Sears in einer „Syntactical Studies in the Work of Heinrich Mann" betitelten, an der Universität von Illinois im Jahre 1954 angefertigten Inaugural-Dissertation. „De l'amitid" (I, 28). Essais, S.218. „De l'affection des peres aux enfans" (II, 8). Essais, S.422. „De la vanitd" (III, 9). Essais, S.1115. Ebd. Essais, S.1101. Kirsch, a.a.O., möchte die allocution mit Voltaires Henriade in Zusammenhang bringen. „De l'inconstance des nos actions" (II, 1). Essais, S.374. Montaignes Anschauung vom Menschen ist erstaunlich modern. Hugo Friedrich, a.a.O., S.209, spricht von ihr als einem „klassischen Thema aller neueren Moralistik und ihrer Demaskierungspsychologie". Siehe besonders S.206 und 208 des Zeitalters. Heinrich Manns negative Einstellung zum Irrationalismus erhellt auch aus seinem Beitrag zu dem von Wilhelm Schneider herausgegebenen Bande Meister des Stils über Sprache und Stillehre (Leipzig: Teubner, 1922), in dem es (auf S.55) heißt: „Meine Meinung ist, daß in den Schulen Logik gelehrt werden solle, und zwar schon frühzeitig. Aussichtslos wäre es, schreiben lernen zu wollen, ohne daß zuerst denken gelernt wird. Die Ungeheuerlichkeiten, die in der Welt geschehen, sind immer noch logische Ungeheuerlichkeiten." „De l'experience" (III, 14). Essais, S.1209. Thibaudet hält nicht dafür, daß sich der Passus auf Henri Quatre bezieht. Donald Frame (The Complete Works of Montaigne, Stanford, 1957) widerspricht ihm. Hugo Friedrich befaßt sich ausführlich mit diesem Problem (a.a.O., S.288). Aus dem Essay „Dichtkunst und Politik" in AW XII, S.319.
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ZEHNTES KAPITEL
VON „LIDICE" BIS ZUM „EMPFANG BEI DER WELT"
Das erste Buch, das Heinrich Mann nach seiner Ankunft in Amerika veröffentlichte, war kein polemisches (wie nach der Flucht aus Deutschland1), sondern ein Lidice betitelter satirisch-humoristischer Roman 2 . Was aber veranlaßte den Dichter, sich mit einer Episode des zweiten Weltkriegs zu befassen, die zum Symbol von Hitlers Gewaltherrschaft über Europa und der von seinen Henkern verübten Grausamkeiten geworden war? Denn Lidice gebührt ideologisch im Krieg der Achsenmächte gegen die freie Welt etwa der gleiche Platz wie Guernica im spanischen Bürgerkrieg. Umso erstaunlicher die Tatsache, daß im Gegensatz zu Picasso (in seinem berühmten Fresko im New Yorker Museum of Modern Art) Heinrich Mann das Thema in einer Art behandelt, die manchem der vom Krieg heimgesuchten Leser anstößig erscheinen mag. Manns Stoffwahl ist zum Teil durch sein in den zwanziger und dreißiger Jahren zusehends wachsendes Interesse an der politischen Entwicklung in der Tschechoslowakei erklärlich. Seine erste Frau, Maria Kanova, war gebürtige Tschechin; sie vermittelte ihm wohl die Bekanntschaft ihrer Landsleute, die, vom Volksmunde als die Franzosen des Ostens bezeichnet, ihm schon aufgrund ihres Wissensdurstes sympathisch waren 8 und sich seiner Meinung nach besonders durch „Unschuld, Witz, Klugheit und geistige Frömmigkeit" 4 auszeichneten. Heinrich Manns Bewunderung für dieses Volk wuchs in den Jahren nach der Besetzung Böhmens und Mährens, als er merkte, es handele sich bei der Tschechoslowakei um einen Staat, „der weit und breit alleingelassen in einer feindlichen Umgebung - darum zuletzt auch ausgeliefert - dennoch nichts aufgegeben hat von seiner sittlichen Reife" 5 . Der Bürger der Weimarer Republik, der sich beiläufig mit Politik befaßte, sah in Thomas Masaryk einen würdigen Vertreter des tschechischen Volkstums. Er fand in Masaryk das seltene Beispiel eines Mannes, der zugleich Philosoph und Staatsmann war und der, wie er 188
selbst, „gedacht und in Worten gebildet . . . bevor er seine Worte wahrzumachen versuchte"·. Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und Manns überstürzter Flucht nach Frankreich erbot sich Masaryk, dessen Bücher und Manuskripte zu verwahren, und unternahm sogar Schritte, dem Exilierten die tschechische Staatsbürgerschaft zu verschaffen. In der C.S.R. konnte aber gesetzlich nur der naturalisiert werden, dem eine Gemeinde zuvor das Heimatrecht verliehen hatte. Die Stadt Reichenberg war dazu nicht willens. Aber schließlich erklärte sich die mährische Gemeinde Proseö bereit, dem Dichter diesen Liebesdienst zu erweisen7. So wurde Heinrich Mann im Jahre 1936 tschechischer Staatsbürger in absentia. Dem Kapitel „Der tschechoslowakische Konsul" der Autobiographie zufolge muß der Roman Lidice als „Huldigung an eine Nation, der [Heinrich Mann seine] Treue versprach*", angesehen werden. Der Held dieses Werkes, ein Student der Medizin namens Pavel Ondradek, ist nicht, wie man annehmen möchte, aktives Mitglied der die deutschen Unterdrücker bekämpfenden Widerstandsbewegung, sondern ein Laienspieler, der dadurch Verwirrung in die Reihen des Feindes trägt, daß er sich die Rolle des schrecklichen Gauleiters Heydrich, dessen Ermordung den Racheakt gegen Lidice auslöste, anmaßt*. Ondraöeks Wagnis gelingt nur allzu gut. Allen spielt er seine Rolle mit solcher Begeisterung, daß er zeitweilig vergißt, was bei dem kühnen Unterfangen dieses Schwejks im zweiten Weltkrieg10 eigentlich auf dem Spiel steht. Sobald Ondraöek im Hauptquartier des Reichsprotektors auf dem Hradschin festen Fuß gefaßt hat, tut er sein bestes, das Los seiner Landsleute in Szenen, denen es an Galgenhumor nicht fehlt, zu erleichtern. Erst am Ende des Romans, nach der Flucht des Helden und seiner Getreuen nach Jugoslawien und ihrem Eintritt in Titos Partisanen-Armee, wirdZi