Heinrich Heines „Romanzero“: Mythisches Denken und resignatives Geschichtsbild 3662666405, 9783662666401

Die Untersuchung des letzten großen Gedichtzyklus von Heinrich Heine, des „Romanzero“, legt mythische Denkstrukturen fre

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Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Der kranke Dichter in einer kranken Welt
Die poetische Ordnung der Welt
1 Stand der Forschung und Methodik
1.1 Stand der Forschung
1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken
1.2.1 Mythos und Mythologie bei Heine
1.2.2 Mythisches Denken bei Heine
1.3 Zur Vorgehensweise
2 Strukturen der Ordnung im Romanzero
2.1 Die Ordnung der Welt – Historien
2.1.1 Die Ordnung der Sukzession
2.1.2 Vom Schlachten der Schlachten – Die Ordnung des Krieges
2.1.3 Die Ordnung des Königtums
2.1.4 Der Verfall des Rittertums
2.1.5 Von der Liebe
2.1.6 Die ‚Neue Welt‘
2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen
2.2.1 Vom Leiden der Dichter
2.2.2 Lazarus – Die Affirmation des leidenden Subjekts
2.3 Die Ordnung des Glaubens und der Tradition – Hebräische Melodien
2.3.1 Die Unordnung des Sabbat
2.3.2 Der Ahnherr der Schlemihle – Jehuda ben Halevy
2.3.3 „[S]ie alle beide stinken.“ – Der Streit um den wahren Gott
2.4 Was von der Ordnung übrig bleibt
3 Die zyklische Struktur des Romanzero
3.1 Die Struktur einzelner Gedichte
3.2 Der Lazarus-Zyklus. Ein Zyklus im Zyklus
3.3 Die Makrostruktur des Romanzero
4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero
4.1 Raum-zeitliches Neben-, Über- und Durcheinander in einzelnen Gedichten
4.2 Die Transzendenz von Raum und Zeit im Motiv des Tanzes
4.3 Von Lebendigen und Toten
Schluss
Literatur
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Heinrich Heines „Romanzero“: Mythisches Denken und resignatives Geschichtsbild
 3662666405, 9783662666401

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HEINE-STUDIEN

Philipp Ritzen

Heinrich Heines „Romanzero“ Mythisches Denken und resignatives Geschichtsbild

Heine-Studien Reihe herausgegeben von Sabine Brenner-Wilczek, Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

Philipp Ritzen

Heinrich Heines „Romanzero“ Mythisches Denken und resignatives Geschichtsbild

Philipp Ritzen Institut für Germanistik II Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Deutschland

ISSN 2945-9478 ISSN 2945-9486 (electronic) Heine-Studien ISBN 978-3-662-66640-1 ISBN 978-3-662-66641-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-66641-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Ludwig Emil Grimm: Heinrich Heine, 1827. Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf Planung/Lektorat: Oliver Schütze J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Das Leben ist gar zu spaßhaft süß; und die Welt ist so lieblich verworren; sie ist der Traum eines weinberauschten Gottes, […] aber es wird nicht lange dauern, und der Gott erwacht, und reibt sich die verschlafenen Augen, und lächelt – und unsre Welt ist zerronnen in Nichts, ja, sie hat nie existiert. […] Gleichviel! ich lebe. Bin ich auch nur das Schattenbild in einem Traum, so ist auch dieser besser als das kalte, schwarze leere Nichtseyn des Todes. Das Leben ist der Güter höchstes, und das schlimmste Übel ist der Tod. Heinrich Heine: Ideen. Das Buch Le Grand

Danksagung

Das vorliegende Buch ist die aktualisierte Fassung der Dissertation, die unter dem Titel „Mythisches Denken in Heinrich Heines Romanzero“ an der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Frühjahr 2017 zur Promotion angenommen wurde. Ich danke sehr herzlich dem Betreuer dieser Arbeit und meinem langjährigen Lehrer Prof. Dr. Volker C. Dörr für seine Unterstützung, sein Vertrauen und seinen Rat. Volker Dörr ließ mir nicht nur alle akademischen Freiheiten, er stattete mich zudem mit einer Ressource aus, die in der akademischen Welt zu einem raren Gut geworden ist: Zeit. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Sybille Schönborn, die das Zweitgutachten übernommen hat. Auch allen Teilnehmer*innen des Kolloquiums von Prof. Dörr und Prof. Schönborn gilt mein Dank für Kritik und gemeinsames Mitdenken. Ein großer Dank gilt Dr. Sabine Brenner-Wilczek, die als Direktorin des HeinrichHeine-Instituts Düsseldorf maßgeblich dafür Sorge getragen hat, dass diese Arbeit in den Heine-Studien erscheinen darf. Einen besseren Ort dafür könnte ich mir nicht wünschen. Vielen Dank zudem an Dr. Oliver Schütze vom J.B. Metzler Verlag für die freundliche und kompetente Unterstützung bei der Drucklegung. Mein Dank gilt auch allen Freund*innen und Kolleg*innen, teils in Personalunion, die mich auf verschiedenen Etappen dieses Weges begleitet haben, mal mit Rat, mal mit Kaffee, mal mit Bier – Ihr wisst, wer gemeint ist. Zuletzt danke ich von Herzen meinen Eltern, ohne deren Vertrauen, stete Unterstützung und Geduld dieses Buch nicht entstanden wäre.

VII

Inhaltsverzeichnis

1 Stand der Forschung und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken . . . . . . . . . 1.2.1 Mythos und Mythologie bei Heine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Mythisches Denken bei Heine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Zur Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 8 8 19 34

2 Strukturen der Ordnung im Romanzero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Ordnung der Welt – Historien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Ordnung der Sukzession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Vom Schlachten der Schlachten – Die Ordnung des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Die Ordnung des Königtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Der Verfall des Rittertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Von der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.6 Die ‚Neue Welt‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Vom Leiden der Dichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Lazarus – Die Affirmation des leidenden Subjekts . . . . . . . . 2.3 Die Ordnung des Glaubens und der Tradition – Hebräische Melodien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die Unordnung des Sabbat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Der Ahnherr der Schlemihle – Jehuda ben Halevy . . . . . . . . 2.3.3 „[S]ie alle beide stinken.“ – Der Streit um den wahren Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Was von der Ordnung übrig bleibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 37 37

3 Die zyklische Struktur des Romanzero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Struktur einzelner Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Lazarus-Zyklus. Ein Zyklus im Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Makrostruktur des Romanzero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 56 63 67 79 92 99 103 122 124 127 138 142 147 149 161 164

IX

X

Inhaltsverzeichnis

4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Raum-zeitliches Neben-, Über- und Durcheinander in einzelnen Gedichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Transzendenz von Raum und Zeit im Motiv des Tanzes . . . . . . . 4.3 Von Lebendigen und Toten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167 168 178 184

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Einleitung

Der kranke Dichter in einer kranken Welt Im September 1850 arbeitet Heinrich Heine bereits seit zwei Jahren an seinem letzten großen Gedichtzyklus, dem Romanzero.1 Seinem Verleger Julius Campe gibt er brieflich Auskunft über sein Vorankommen und ordnet das im Entstehen befindliche Werk gleich selbst in sein Gesamtwerk ein: Sie wissen, ich habe das Buch der Lieder Ihnen nicht angepriesen, ehe es gedruckt war; Sie wissen, dasselbe war der Fall mit den neuen Gedichten und die dritte Säule meines lyrischen Ruhmes wird vielleicht ebenfalls von gutem Marmor, wonichtgar von besserem Stoffe sein.2

Der Romanzero erscheint schließlich ein Jahr später (1851)3 bei Hoffmann und Campe in Hamburg. Worum geht es in der „dritten Säule [s]eines lyrischen Ruhmes“, was ist der vielleicht sogar bessere Stoff als Marmor, aus dem sie besteht? Es ist an dieser Stelle nicht zu viel verraten, wenn man konstatiert: Es geht immer wieder um Leid, Tod und Willkür, um die Herrschaft des Schlechteren über den Besseren, um den Versuch, Ordnung in einer Welt zu schaffen, die keine Stabilität zu bieten scheint. Heine zeichnet das Bild eines Weltlaufs, der geprägt ist von zunächst hoffnungsvollem menschlichen Streben, das an Willkür und Gewalt zerbricht. Scheitern wird so zu einem festen Bestandteil der menschlichen Geschichte.4 1

Die Werke Heines werden, soweit nicht anders angegeben, nach der Historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke (= Düsseldorfer Heine-Ausgabe) zitiert. Der Nachweis erfolgt unter der Sigle DHA mit Band-, Seiten- und ggf. Versangabe im Text. Briefe von und an Heine werden, soweit nicht anders angegeben, nach der Heine Säkularausgabe zitiert. Der Nachweis erfolgt unter der Sigle HSA mit Band- und Seitenangabe. Der Romanzero befindet sich in Band 3.1 der DHA. 2 Brief an Julius Campe von 28. September 1850, HSA 23, 52. 3 Die von Heine angegebene Entstehungszeit gilt lediglich für den größten Teil der Gedichte, wie Frauke Bartelt und Alberto Destro im Kommentar zum Romanzero (DHA 3.2, 440–441) verdeutlichen. Teile des Romanzero sind demnach definitiv vor 1848 entstanden, bei einigen Gedichten lassen sich für eine frühere Entstehung zumindest Indizien finden. Vgl. hierzu auch Höhn 2004, S. 134. 4 Vgl. Singh 2011, S. 54. XI

XII

Einleitung

Betrachtet man Heines Gesundheitszustand zur Zeit der Werkentstehung, verwundert dies nicht. Der in der „Matratzengruft zu Paris“5 , laut Heines eigener Aussage einem Leib, „der so sehr in die Krümpe gegangen, daß schier nichts übrig geblieben als die Stimme“ (DHA 3.1, 177), abgerungene Romanzero stellt nicht allein den Höhepunkt seines lyrischen Schaffens dar, er bildet auch den philosophischen und künstlerischen Reifeprozess ab, den der Dichter durchlebt hat. Beispielhaft für Heines Gesundheitszustand zur Zeit der Abfassung des Romanzero steht ein Bericht von Heines Sekretär Karl Hillebrand (Spätherbst 1849 bis Frühjahr 1850): Er war damals schon an sein Bette […] gefesselt, wenn man anders dies Matratzenlager ein Bett nennen kann. Sein Gehör war schon geschwächt, seine Augen geschlossen und nur mit Mühe konnte der abgemagerte Finger die müden Augenlider hinaufschieben, wenn der Poet etwas zu sehen verlangte. Die Beine gelähmt, der ganze Körper zusammengeschrumpft: so war er alle Morgen von Weiberhand – er konnte keine männliche Bedienung ertragen – auf den Sessel gehoben, während das Bett gemacht wurde. Nicht das geringste Geräusch konnte er erdulden. Seine Leiden waren so heftig, daß er, um nur etwas Ruhe, meist nur vier Stunden Schlafes zu erlangen, Morphium in drei verschiedenen Gestalten einnehmen musste.6

Ebenso deutlich wird Friedrich Engels in einem Brief an Karl Marx vom 14. Januar 1848: Heine ist am Kaputtgehen. Vor 14 Tagen war ich bei ihm, da lag er im Bett und hatte einen Nervenanfall gehabt. Gestern war er auf, aber höchst elend. Er kann keine drei Schritt mehr gehen, er schleicht, an den Mauern sich stützend, vom Fauteil bis ans Bett und vice versa. Dazu Lärm in seinem Haus, der ihn verrückt macht […].7

Heine schreibt also aus dem ‚Grab‘ und versteht es dabei, geschickt die Weltgeschichte mit der eigenen Biografie zu verknüpfen: „In demselben Maße wie die Revolution Rückschritte macht, macht meine Krankheit die ernstlichsten Fortschritte“8 – er schreibt mithin an seiner eigenen Geschichte. Dies ist insofern von Bedeutung, als diese Art der Erhöhung im Untergang, der Spiegelung des Einzelschicksals 5

Nachwort zum Romanzero, DHA 3.1, 177: „Mit wenigen Ausnahmen schrieb ich sie [die Gedichte des Romanzero, PR] während der letzten drey Jahre, unter mancherley körperlichen Qualen.“ Häufig wird dabei ein Zusammenhang zwischen der politischen Großwetterlage Europas und Heines Gesundheitszustand konstruiert, vgl. Höhn 2004, S. 136: „In den Europa erfassenden, gärenden Wochen kulminiert ein Krankheitsprozeß, der Leben und Werk des Dichters schon lange bestimmt und zugleich die Arbeit immer wieder durch Schmerzen und Depressionen behindert hat.“ Während es reizvoll scheint, diesen Zusammenhang herzustellen, darf eine tatsächliche Verbindung der beiden Ereignisse doch zumindest skeptisch betrachtet werden. Festzuhalten ist allerdings, dass Heine diesen Zusammenhang selbst hergestellt hat (vgl. etwa Höhn 2004, S. 138 sowie Hädecke 1985, S. 463–482). Für eine Übersicht über Heines Gesundheitszustand und seine monetären Verhältnisse zur Zeit der Abfassung des Romanzero s. Höhn 2004, S. 136–137, für eine differenzierte Darstellung von Heines Gesundheitszustand s. Montanus 1995. In der Krankheitschronologie Heines (Höhn 2004, S. 243–257) wird deutlich, dass sein Gesundheitszustand sich bereits ab dem Jahr 1844 radikal zu verschlechtern begann. Die neueste Studie zu Heines Krankheit legen Kluxen und Gerste vor, die eine Myasthenie für wahrscheinlich halten (Kluxen/Gerste 2019). 6 Werner 1973, S. 147–148. 7 Werner 1973, S. 99. 8 Brief an Julius Campe, 28.1.1852, zitiert nach: HSA Bd. 23, S. 176.

Einleitung

XIII

im Weltganzen, als Grundthema den Romanzero durchzieht. An dem Faktum seiner Krankheit vermag Heine nichts zu ändern, wohl aber kann er ihr – in diesem Fall geradezu historische – Bedeutung verleihen. Der Romanzero ist dann nicht nur Zeugnis von Heines persönlichem Umgang mit der Erfahrung von Krankheit und drohendem Tod. Er kann in diesem Sinne auch begriffen werden als Möglichkeit des Umgangs mit dem „horror vacui“, der „dem menschlichen Gemüthe angeboren“ ist, der Furcht also vor der Leerstelle, die der Tod hinterlässt. (DHA 3.1, 182) Literatur wird damit zum Vermächtnis, das eine „Fortdauer nach dem Tode“ (DHA 3.1, 179) garantiert. Das so entstandene Testament ist gegliedert in drei Bücher, die Historien, die Lamentazionen9 und die Hebräischen Melodien. Schon die erste Strophe des Gedichts König David aus dem Auftaktzyklus kann dabei stellvertretend für das ganze Werk gelesen werden: Lächelnd scheidet der Despot, Denn er weiß, nach seinem Tod Wechselt Willkür nur die Hände Und die Knechtschaft hat kein Ende. (DHA 3.1, 40)

Die wenigen Verse offenbaren die Grundtendenzen des Romanzero. Es geht um willkürliche Herrschaft, die sich ihrer dauerhaften Perpetuierung gewiss ist, es geht um den Tod, der unterschiedslos und willkürlich alle Menschen ereilt. Stets aber geht es außerdem, eine Konstante in Heines Werk, um die „Autonomie des Individuums, die ein unveräußerliches Gut ist, welches es sowohl vor dem Zugriff der Gesellschaft wie vor der Agonie des eigenen körperlichen Leidens zu bewahren gilt“.10 Dies wird erschwert von einer Welt, in der „Frau Unglück“ den Menschen „liebefest an’s Herz gedrückt“11 hält. Kurz gesagt: Es geht um nichts Geringeres als die Verortung des Menschen in den Grenzen einer Welt, die ihr Möglichstes tut, ihn zu vernichten. Ich möchte den Romanzero deshalb auch als literarischen Versuch verstehen, die Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen innerhalb der Grenzen der Faktizität des Wirklichen auszuloten. Die Grenzen der Welt sind dem Romanzero seine drei Bücher. Die Historien beanspruchen einen welt- und zeitumspannenden Gestus für sich, der vom alten Ägypten (Rhampsenit) über das christliche und spanisch-islamische Mittelalter (etwa König Richard und Carl I. bzw. Der Dichter Firdusi und Der Mohrenkönig) bis zu Heines Gegenwart reicht (z. B. Pomare oder Zwey Ritter). Auch die direkte Bearbeitung alttestamentarischer Geschichten findet sich im Werk, beispielsweise in Das goldne Kalb und König David. Schließlich wird der Bogen mit Vitzliputzli sogar über den Atlantik gespannt, ins aztekische Mexiko zur Zeit der spanischen Eroberung. 9

Ich verwende in dieser Arbeit durchgängig die von Heine selbst benutzte Schreibweise „Lamentazionen“, wenn ich mich auf das zweite Buch des Romanzero beziehe. Wo die Forschungsliteratur die ‚eingedeutschte‘ Form „Lamentationen“ verwendet, wird diese in wörtlichen Zitaten ohne weiteren Hinweis übernommen. Dies gilt ebenso für Titel von einzelnen Gedichten (etwa Enfant perdü oder Disputazion). 10 Werner 1973, S. 55. 11 Wie es im den Lamentazionen vorangestellten Motto heißt, DHA 3.1, 78, V. 5–6.

XIV

Einleitung

Die Lamentazionen ändern den Blickwinkel vom Allgemeinhistorischen zum Privaten, zum persönlichen Schicksal, genauer: Zum leidenden Subjekt, womit sie sich in die Tradition der Klagelieder des Alten Testaments stellen. Die Klagelieder sind also Vorbild für die „Struktur des Nebeneinanders von weiter Perspektivierung – das schlimme Los des Volkes unter einem zürnenden und nicht verstehbaren Gott – und enggeführtem Blick auf das persönliche Schicksal.“12 Später wird sich herausstellen, dass die Perspektivierung sogar noch über ein einzelnes Volk hinausgeht, wenn das menschliche Schicksal als solches betrachtet wird. Die Bewegung ins Private darf dabei nicht als eine Art verspätete biedermeiersche Weltflucht missverstanden werden. Das Private bleibt bei Heine stets überindividuell, stets verallgemeinerbar. Auch wenn das Individuum, das in den Lamentazionen häufig als lyrisches Ich aufritt, in einigen Gedichten unverkennbar in Heines eigener Biografie verwurzelt ist (Plateniden oder In Mathildens Stammbuch), so weist es immer über sich selbst hinaus, steht es für das menschliche Subjekt im Allgemeinen. Das letzte Buch – Hebräische Melodien – scheint hiergegen zunächst einen Kontrapunkt setzen zu wollen, nicht zuletzt durch seine dezidiert religiöse Thematik. Dieser Rekurs auf das Alttestamentarische erfolgt jedoch nicht zwangsläufig in affirmativer Absicht. Schon das Motto berichtet von der Vergänglichkeit des Glückes, stellt es überhaupt nur – und auch dann nur zeitweilig – in Aussicht, wenn der Mensch gar nicht erst versucht, sich in der Welt zu behaupten: „So rath’ ich dir, baue dein Hüttchen im Thal/Und nicht auf dem Gipfel.“ (DHA 3.1, 124, V. 7–8) Leidvermeidung soll also durch eine Verringerung der Angriffsfläche, die man der Welt bietet, erreicht werden. Heine selbst ist dem Rat seiner eigenen Dichtung nicht gefolgt. Er baute sein Hüttchen, zwar erzwungenermaßen durch die drohende Verhaftung im reaktionären Preußen, aber schließlich auch mit Überzeugung, in der Weltstadt Paris. Von dort aus sandte er seine Dichtung aus einem Hinterhofappartement, selbst als ihm „schier nichts übrig geblieben als die Stimme“, in die Welt.

Die poetische Ordnung der Welt Was aber, wenn sich hinter den Bildern, die der Romanzero von der Welt und der Verfasstheit des Menschen entwirft, mehr verbirgt als ein Kaleidoskop des Schreckens, als eine Illustration des Schlechten in der Welt? Was, wenn sich in ihnen mehr ausdrückt als die Resignation des Dichters angesichts des (zumindest so empfundenen) allgemeinhistorischen, persönlichen und metaphysischen Niedergangs und Verfalls? Es geht Heine ja gerade nicht um eine reine Chronologie des Scheiterns; dazu sind die Zeit- und Raumsprünge, mit denen der Romanzero arbeitet, zu groß, zu – wenngleich nur auf den ersten Blick – willkürlich, zu disparat. Es geht ihm ebenfalls nicht um ein bloßes Aufzeigen von Missständen; dazu wirken die einzelnen erzählten

12

Bark 1988, S. 249.

Einleitung

XV

Geschichten zu speziell und vor allem zu artifiziell in einen Gesamtkontext eingebettet. Schließlich geht es vor allem nicht um einen politischen Aufruf zu Veränderung, zur Revolution. Wenn Heine also im Nachwort sein eigenes Leid mit dem Scheitern der Revolution engführt, bedeutet das nicht, dass er im Romanzero die Revolution herbeireden will.13 Er macht sich vielmehr selbst zu einer der Figuren des Scheiterns, von denen es in seinem letzten Zyklus wimmelt. Dabei sollte man jedoch der Versuchung widerstehen, den Erzähler des Romanzero mit Heine gleichzusetzen, so naheliegend dies zunächst zu sein scheint. Ganz abgesehen von Heines persönlicher Biografie, findet der Erzähler im Nachwort zum Romanzero nur vorgeblich zu dem einen geoffenbarten Gott zurück. „Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit bey den Hegelianern die Schweine gehütet. War es die Misère, die mich zurücktrieb?“ (DHA 3.1, 179) wird Heine immer wieder zitiert. Doch schon eine Seite später wird diese Rückkehr mit einer ironischen Erzählung relativiert, ja gebrochen: Ich habe mit keiner Symbolik gespielt und meiner Vernunft nicht ganz entsagt. Ich habe nichts abgeschworen, nicht einmal meine alten Heidengötter, von denen ich mich zwar abgewendet, aber scheidend in Liebe und Freundschaft. Es war im May 1848, an dem Tag, wo ich zum letzten Male ausging, als ich Abschied nahm von den holden Idolen, die ich angebetet in den Zeiten meines Glücks. Nur mit Mühe schleppte ich mich bis zum Louvre, und ich brach fast zusammen, als ich in den erhabenen Saal trat, wo die hochgebenedeite Göttin der Schönheit, Unsere liebe Frau von Milo, auf ihrem Postamente steht. Zu ihren Füßen lag ich lange und ich weinte so heftig, daß sich dessen ein Stein erbarmen mußte. Auch schaute die Göttin mitleidig auf mich herab, doch zugleich so trostlos als wollte sie sagen: siehst du denn nicht, daß ich keine Arme habe und also nicht helfen kann? (DHA 3.1, 180–181)14

Hinter dem Bild des Dichters, der hilflos auf dem Boden des Louvre vor der Venus von Milo liegt, von der kein Beistand zu erwarten ist, schlichtweg weil sie über keine Arme mehr verfügt, verbirgt sich mehr als eine Groteske. Darin offenbart sich ein Grundgedanke des Romanzero: Der Mensch ist auf sich allein gestellt, auf Hilfe, von welcher Seite auch immer, kann er nicht zählen. Zudem reiht sich die armlose Venus in eine Reihe dekonstruierter und ramponierter Göttergestalten ein, die Heines Werk durchziehen, nicht zuletzt den Romanzero. Was kann der Mensch diesem unübersichtlichen Dasein, in das er geworfen ist, entgegenstellen? Die Antwort darauf zu geben ist so einfach, wie ihre Umsetzung schwierig zu etablieren ist: Struktur. Das Chaos der Welt lässt sich mit Emil Angehrn 13

Fraglich ist, ob dies je in Heines (lyrischem) Werk der Fall ist. Unbestreitbar bleibt, dass Texte wie Die schlesischen Weber oder einzelne Gedichte des Romanzero, etwa Enfant perdü, so gedeutet worden sind. Vgl. hierzu exemplarisch Stauf 1995, S. 143–166 und Werner 1995, S. 180–194. 14 Allein die Aussage, er habe nichts abgeschworen, nicht einmal seinen alten Heidengöttern, weckt Zweifel an der Rückkehr zu einem wahren Gott – und das nicht nur auf einer inhaltlichen, sondern auf einer rein logischen Ebene. Wer nichts abgeschworen hat, hat nie eine Entscheidung getroffen, mithin auch nichts affirmiert. Es handelt sich hierbei um eine im logischen Sinne triviale Aussage, die nichts aussagt, die also alles oder nichts bedeuten kann. Aussagen dieser Art sind selbst von modernen parakonsistenten Logiken, die problemlos logische Widersprüche verkraften können, nicht zu erfassen.

XVI

Einleitung

charakterisieren als „Inbegriff der Verunsicherung, eine Urerfahrung von Angst“.15 Dabei ist „das Interesse an der festen Struktur, der geordneten Welt, in welcher der Mensch zu Hause sein kann, […] elementarster Ausdruck des Bedürfnisses nach Sicherheit und Identität“.16 Verloren in der Welt, ohne diese Sicherheit, befindet er sich in einem Zustand der, um das bekannte Wort Georg Lukács’ zu übernehmen, „transzendentalen Obdachlosigkeit“.17 Eines aber kann selbst diese transzendentale Obdachlosigkeit, kann selbst die Sinnlosigkeit der Welt nicht negieren. Es ist das, was Wolfram Hogrebe die „Sinnsehnsüchtigkeit“ des Menschen nennt, die als „Grundzug unserer mentalen Verfassung“ charakterisiert werden kann, der gerade dann „besonders deutlich spürbar wird, wenn Rätselhaftes und Unverständliches geradezu quälende Effekte erzeugt, die uns nicht ruhen lassen“.18 Selbst im Sinnlosen Sinn suchen – und ihn finden19 – zeichnet den Menschen aus. Nur der Mensch vermag etwa in der unbegreiflichen Kontingenz des bestirnten Himmels über sich Muster und Bilder zu erkennen. Auf Hilfe kann der Mensch also nicht zählen. Aber er kann erzählen. Es verwundert deshalb nicht, dass eine bis zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte zurückgehende anthropologische Konstante in einem mythischen Denken besteht, das im Erzählen von Geschichten Ausdruck findet.20 Der Mensch erzählt Mythen, er erzählt sie auf eine bestimmte Art – eben mythisch –, um den ihm widerfahrenden Geschehnissen Sinn zu verleihen und sich seiner selbst zu vergewissern. Der Forschungsgegenstand dieser Arbeit besteht deshalb darin, aufzuzeigen, dass der Romanzero den Versuch einer umfassenden Weltdeutung und einer Bestimmung der conditio humana mittels des mythischen Denkens darstellt. Der Schlüssel zum Verständnis des Romanzero liegt dabei in seiner mythischen Struktur. Das mythische Denken eignet sich wie kaum ein anderes, das Chaos einer kontingenten Wirklichkeit zu ordnen und erträglich zu machen. Wie Angehrn in seiner Studie Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos darlegt: Mythos wie Philosophie sind umfassende Weltdeutungen, die von ersten Anfängen ausgehen und auf abschließende Ganzheiten zielen und die in eins mit der Verständigung über die Wirklichkeit ein bestimmtes Verständnis des Menschen von sich selber erarbeiten. […] [B]eide sind Bemühungen um die menschliche Orientierung in der Welt, beide fungieren als Wirklichkeitsaneignung wie als Daseinsbewältigung […].21

Beim Romanzero handelt es sich nun um keine philosophische Abhandlung. Es handelt sich um einen durch und durch literarischen Text, was ihn durch das dem 15

Angehrn 1996, S. 72. Angehrn 1996, S. 72. 17 Lukács 1920, S. 23–24. 18 Hogrebe 1992, S. 26. 19 Oder zu finden glauben. Maßgeblich sind in diesem Fall das subjektive Empfinden und Anerkennen von Sinn. Die Frage, ob Sinn nicht immer subjektiv ist bzw. immer subjektiv sein muss, d.h. die Frage nach einem außersubjektiven Sinn, soll an dieser Stelle ausgeklammert werden. 20 Siehe hierzu auch Dörr 2004, S. 14: „Mythisches Denken als Form des Weltverstehens kann sogar als anthropologische Konstante erscheinen.“ 21 Angehrn 1996, S. 27–28. 16

Einleitung

XVII

Mythos inhärente Narrative in dessen Nähe rückt. Dadurch wiederum übernimmt er zugleich Aufgaben und wesentliche Aspekte des Mythos. Das mythische Denken stellt, knapp formuliert, ein Mittel zur Kontingenzbewältigung dar, es befriedigt die Sinnsehnsüchtigkeit des Menschen. Anzumerken ist dabei, dass der Mythos nicht weniger vernünftig oder rational ist als der Logos, sondern vielmehr eine andere logische Verfasstheit aufweist.22 Wenn die vorliegende Studie untersucht, inwiefern Heine in seinem letzten großen Gedichtband Strukturen mythischen Denkens nachahmt, dann wird im Zuge dessen auch erkennbar, dass gerade diese mythische Verfasstheit ein Grund ist, aus dem der Romanzero sich allen Bemühungen23 um eine eindeutige Lesart widersetzt. Wie der Mythos selbst zeichnet er sich durch eine hohe Deutungsvielfalt aus, die eine Interpretationspluralität nicht bloß erlaubt, sondern geradezu forciert. Von großer Bedeutung wird in dieser Hinsicht sein, dass Heine nicht einfach mythologisches Personal einsetzt oder Mythen ‚nacherzählt‘ bzw. modifiziert.24 Er spielt mit Grundgedanken des mythischen Denkens und formt diese für seine Zwecke um. Er benutzt Strukturen mythischen Denkens, jedoch ohne zwangsläufig die Bedeutung oder Implikationen dieser Strukturen zu übernehmen. Zu untersuchen wird also sein, inwiefern der Romanzero, wenn er mythische Strukturen zur Weltdeutung benutzt, am Ende auch die Bedeutung, die diese Strukturen gemeinhin transportieren, und den Zweck, den sie verfolgen, übernimmt. Denn außer Frage steht, dass der Romanzero, wie der Mythos, „Geschichten erzählt und die Welt beschreibt, etwas über die Welt zu verstehen gibt, etwas von der Auseinandersetzung des Subjekts mit der Welt und mit sich selber erkennen läßt“.25 In der mythischen Auseinandersetzung des Subjekts mit der Welt lassen sich drei Funktionen des mythischen Denkens ausmachen: die epistemische, die soziale und die anthropologische Funktion. In seiner epistemischen Funktion liefert es eine erkenntnistheoretische Orientierungshilfe für die Welt, das mythische Denken „ist als Weltbeschreibung nicht bloßes Abbild, sondern Gliederung und Systematisierung, e[s] gibt der Welt ein bestimmtes Profil“.26 Als soziale Funktion schließt die mythische Erinnerung „die Gegenwart mit einem Ursprungsgeschehen zusammen, aus dem aktuelle Verteilungen und gesellschaftliche Positionen ihre ontologische Absicherung beziehen“27 – das mythische Denken setzt also Ordnung. Es schafft Strukturen, mit deren Hilfe sich der jetzige Zustand der Welt erklären lässt. In seiner anthropologischen Funktion dient das mythische Denken, in einer Zusammenfassung der Thesen Hans Blumenbergs, „der Depotenzierung archaischer Ängste“, indem „durch Benennung, Gliederung und

22

Vgl. Hübner 1985, S. 287–290. Vgl. Kap. 1. Hier kommen vor allem politische, geschichtstheoretische und religiöse Deutungen in Betracht. 24 Wie z. B. in Elementargeister, das vielfach, etwa von Robert Holub, als Heines mythologisches Hauptwerk gelesen wird. Vgl. Holub 1991, S. 314–326. 25 Angehrn 1996, S. 41–42. 26 Angehrn 1996, S. 37. 27 Angehrn 1996, S. 38. 23

XVIII

Einleitung

Strukturierung die Wirklichkeit überschaubar und beherrschbar“28 gemacht wird. Es nimmt dem Individuum also die Furcht vor einer sich chaotisch präsentierenden Welt. Die Arbeit analysiert unter diesem Gesichtspunkt auch, wie die dem Romanzero innewohnenden mythischen Strukturen mit der sozialen, epistemischen und anthropologischen Funktion des Mythos umgehen. Dazu werden in einem ersten Schritt (Abschn. 1.2) mithilfe einschlägiger Mythostheorien drei Aspekte herausgearbeitet, die sowohl für das mythische Denken im Allgemeinen als auch für den Romanzero im Besonderem charakteristisch sind. Bei den drei Aspekten handelt es sich um die Ordnungstendenz des mythischen Denkens, dessen zyklische Struktur und die Fähigkeit des mythischen Denkens, Raum und Zeit zu transzendieren. Immer wieder zeigt sich zudem ein Phänomen, das mit ‚Affirmation‘ des Subjekts bezeichnet werden kann. Darin äußert sich eine Variation des anthropologischen Aspekts des Mythos, die den Fokus auf die Subjektwerdung des Menschen und seine Selbstvergewisserung als Subjekt legt. Anhand dieser Kriterien werden sodann sowohl einzelne exemplarische Gedichte und größere zusammenhängende Zyklen als auch die Gesamtstruktur des Romanzero auf ihren mythischen Gehalt und ihre Aussage hin untersucht. Da das Phänomen des Ordnungsschaffens als übergreifende Struktur den gesamten Romanzero durchzieht, wird das Werk zunächst (Kap. 2) unter diesem Aspekt ausführlich behandelt. Die Kap. 3 und 4 nehmen auf diese Analyse Bezug und ergänzen sie an einschlägigen Stellen um die Aspekte der zyklischen Struktur von Geschichte respektive der Transzendenz von Raum und Zeit.

28

Angehrn 1996, S. 38.

Kapitel 1

Stand der Forschung und Methodik

1.1 Stand der Forschung Während die Heine-Forschung seit dem 19. Jahrhundert floriert, wurde der Romanzero, wenn nicht stiefmütterlich, so doch weniger ausführlich behandelt als andere Versdichtungen, etwa das Buch der Lieder oder Deutschland. Ein Wintermärchen, Prosaschriften (hier vor allem Die Harzreise, Ideen. Das Buch Le Grand), die Polemik Die Romantische Schule oder die philosophische Abhandlung Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland.1 Einen Zusammenhang hergestellt zwischen Heines Leben in der ‚Matratzengruft‘ und seiner ‚Rückkehr‘ zu einem Gott, wie sie im Nachwort zum Romanzero, mithin durchaus diskussionswürdig, postuliert wird, haben schon früh Manfred Windfuhr (1969)2 und Wilhelm Gössmann (1982)3 , ebenso Joseph A. Kruse (1977), der sich vor allem Heines Verhältnis zum Judentum annimmt, wobei er auf die umfangreichen

1

Dies mag auch damit zu tun haben, dass der Romanzero bereits zu Zeiten seiner Veröffentlichung nicht so breit rezipiert wurde, wie Versepen aus Heines Feder, denn gerade „die aus moralischen Gründen negativ urteilenden Kritiken überwogen.“ (Höhn 2004, S. 150) Erst zu Beginn der 1992er Jahre kam es zu einer Renaissance (vgl. Höhn 2004, S. 151–152) der späten Lyrik Heines und damit auch des Romanzero. Nichtsdestoweniger entstammen die wohl bekanntesten Einzelgedichte Heines, wie etwa Ich weiß nicht, was soll es bedeuten oder Die schlesischen Weber nicht dem Romanzero. Auch eine akademische Verbreitung, wie dies etwa bei Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland geschah, die in verschiedensten Formen von Junghegelianern und Intellektuellen in Deutschland und Frankreich rezipiert wurde, fand in dieser Form nicht statt (vgl. hierzu Höhn 2004, S. 358). 2 Unter Bezugnahme auf die Verbindung von persönlichem Leid und der historischen Entwicklung legt Windfuhr etwa sein Augenmerk vor allem auf den Geschichtspessimismus des Romanzero: „Der körperliche Zusammenbruch, die Skepsis über die Entwicklung der Zeitereignisse färben auf die historische Betrachtungsweise ab.“ (Windfuhr 1976, S. 240). 3 Der Romanzero ist nicht Hauptgegenstand von Gössmanns Untersuchung, dies ist vielmehr Heines Beziehung zur Religion und Religiosität, die geprägt ist von „Lächerlichkeit [, die] bei Heine als das Hauptprinzip der literarischen Religionskritik“ (Gössmann 1982, S. 202) erscheint. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Ritzen, Heinrich Heines „Romanzero“, Heine-Studien, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66641-8_1

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1 Stand der Forschung und Methodik

Untersuchungen Hartmut Kirchers und Ludwig Rosenthals zurückgreifen konnte (beide 1973). Ein kaum zu überschätzender Stellenwert muss der behutsamen und hervorragend gearbeiteten Edition des Romanzero für die Düsseldorfer Heine-Ausgabe von Frauke Bartelt und dem dazugehörigen Kommentar von Alberto Destro zugewiesen werden, der vor allem hinsichtlich der Entstehungszeit einzelner Zyklen und Gedichte mit einigen Unklarheiten aufräumt.4 Zur Forschungsliteratur sei angemerkt, dass diese, bis in die 1980er Jahre hinein, zu einem nicht unerheblichen Teil von biographischen Lesarten geprägt bleibt. Wenn auch gerade im Falle eines Schriftstellerlebens, wie Heine es geführt hat, eine Verschränkung von Biographie und Werk nicht von der Hand zu weisen ist und den Verständnishorizont des Werks durchaus zu erweitern weiß, soll in diesem Forschungsbericht hauptsächlich auf solche Texte eingegangen werden, die keine oder weniger biographische Lesarten anbieten. Literatur, die sich direkt und ausschließlich auf den Romanzero bezieht, bleibt darüber hinaus ohnehin Mangelware. Erst die jüngere Forschung nimmt ab ca. Ende der 1990er Jahre den Romanzero ernsthaft in den Fokus, beschränkt sich dabei allerdings ebenso zumeist auf Analysen einzelner Motive oder Aspekte. Einen wichtigen Impuls zur Romanzero-Forschung lieferte das Kolloquium „Die dritte Säule meines lyrischen Ruhms – Heines Romanzero“, das am 13. April 2002 im Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf stattfand.5 Auffällig oft widmet sich die Forschung der Figur des dem Johannes- bzw. Lukasevangelium entnommenen Lazarus6 aus den Lamentazionen des Romanzero. Die entsprechenden Studien ziehen in der Folge nicht selten den zunächst naheliegenden Vergleich zwischen der Figur des leidenden Lazarus und dem zur Zeit der Werkentstehung in der Matratzengruft darbenden Heine. Hingewiesen werden soll an dieser Stelle auf Helmut Brandt, der die Lazarusfiguration als eine Art Leitmotiv in Heines Spätwerk betrachtet.7 David Constantine liest Heines Lazarus-Gedichte als Versuch des Ausbruchs aus der Gefangenschaft des Körpers. Sind die Themen der Lazarus-Gedichte Krankheit, (körperliche wie geistige) Unbeweglichkeit und Ausgeschlossensein, so gelte dies um so mehr für Heine selbst: „The more obvious is that he is excluded from life and bitterly laments the fact. […] The second aspect […] is that he is laid at the gate of death, longs for release–to be let in–but is denied even that.“8 Schließlich seien Grauen und Schönheit „of one flesh“9 und somit untrennbar miteinander verbunden. Eine Interpretation schließlich, die sich des, dem politischen

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Zur Entstehung des Romanzero s. außerdem ausführlich: Bark 1986, S. 86–103. Die Beiträge des Kolloquiums finden sich im Heine-Jahrbuch 42 (2003) und 43 (2004). 6 Die auch im Verlauf dieser Arbeit einer genaueren Untersuchung unterzogen werden wird. 7 Brandt 1995, S. 227–239. 8 Constantine 2000, S. 206. 9 Constantine 2000, S. 211. 5

1.1 Stand der Forschung

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Heine nicht fremden, Gedanken des Menschenrechts auf (gutes) Leben10 annimmt und dies aus dem Lazarus-Zyklus herausarbeitet, legt Bodo Morawe vor.11 Auch die neuere Forschung untersucht intensiv die jüdischen Bezüge des Romanzero. Zu nennen wäre hier Hartmut Steinecke, der eine detailreiche Deutung des Jehuda ben Halevy in Bezug auf Dichterbilder vornimmt, wobei er u. a. feststellt, dass Heine die Figur des ‚Schlemihl‘ in dieser Form erst neu in die Literatur einführt.12 Markus Hallensleben verweist auf die Ähnlichkeit des Aufbaus des Romanzero mit der jüdischen Memorliteratur und will jenen nicht aus der Perspektive eines teleologischen Geschichtsverstehens betrachtet wissen, sondern als Gedächtniskunst im jüdischen Geschichts- und Überlieferungsverständnis. Bei Heine existiert – und das wird noch an Bedeutung gewinnen, betrachtet man den Romanzero unter dem Blickwinkel des mythischen Denkens – „keine abgeschlossene Position, kein Urteil […] wie schließlich in den Disputationen anhand des Streits der Religionen dargestellt. Die Geschichte erscheint vielmehr als ein sich fortschreibender, unendlicher Erinnerungstext.“13 Norbert Oellers schließlich stellt den einschlägigen Teilzyklus Hebräische Melodien des Romanzero in einen größeren Zusammenhang mit Heines lebenslanger Auseinandersetzung mit dem Judentum.14 Davon abgesehen ist in der neueren Forschung zum Romanzero die Tendenz hin zu einer Betrachtungsweise mithilfe eines Orientalismusdiskurses Said’scher Prägung zu beobachten. Einschlägig ist hier zunächst Gerhart Hoffmeister, der einen Vergleich der Symbolik des islamischen und jüdischen Orients (auch in Bezugnahme auf den Almansor) vornimmt.15 Wenig überraschend wird an dieser Stelle häufig der für Heines zeitgenössisches Publikum ‚exotische‘ Aztekengott Vitzliputzli, der am Ende der Historien seinen Aufritt hat, in den Blick genommen. So bei Susanne Zantop, die mithilfe der Börne-Schrift und des Vitzliputzli eine genuin europäische Identität Heines herausarbeitet, was im Lichte der Okzidentalismus-Debatten des 19. Jahrhunderts durchaus eine Sonderstellung einnimmt.16 Bei Andreas Böhn 10

Vgl. das Fragment Verschiedenartige Geschichtsauffassung von 1833, in dem Heine mit großer Emphase das Recht zu leben betont: „Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht. Das Leben will dieses Recht geltend machen gegen den erstarrenden Tod, gegen die Vergangenheit, und dieses Geltendmachen ist die Revoluzion.“ (DHA 10, 302) Das Fragment wird an verschiedenen Stellen dieser Arbeit noch intensiver in den Blick genommen werden. 11 Morawe 2001/2002, S. 141–192. 12 Hartmut Steineckes Interpretation stellt darauf ab, dass der Schlemihl zuvor als Pechvogel bekannt war, dem stets das größtmögliche Unglück widerfährt. Heine nun reichert die Figur mit einer gehörigen Portion Selbstironie und Galgenhumor an, die gleichzeitig zur Selbsterkenntnis fähig ist: „[D]adurch wird das Pech des notorischen Pechvogels Schlemihl literaturfähig.“ (Steinecke 2000, S. 133) 13 Hallensleben 2001, S. 85. 14 Oellers 2001, S. 36–47. 15 Hoffmeister 1997, S. 159–172. 16 Susanne Zantop zieht eine Parallele zwischen der jeweiligen ‚Obsession‘ Heines und Humboldts mit Europa, was daran deutlich werde, dass beide stets versuchten, die eigene enge Perspektive aufzubrechen und zu erweitern: „For they themselves did not insist on rootedness and a fixed regional or cultural perspective, but on change, global conflict, and creative alliances, in order to further their scientific- or poetic-emancipatory projects.“ (Zantop 1999, S. 128)

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1 Stand der Forschung und Methodik

drücken sich in Heines Vitzliputzli vor allem grundsätzliche Missverständnisse zwischen den Kulturen aus, wobei Heine sich stets um eine gleichmäßige Verteilung von Positivem und Negativem zwischen den Parteien bemühe. Darüber hinaus liest Böhn Kolumbus als Erlöserfigur, die in ihrer Eigenschaft als Erlöser aber bereits versagen müsse, da sie als Figur der zum Scheitern verurteilten ‚alten Welt‘ entstammt. Die Position des Erzählers ist dabei die des modernen, zeitgenössischen Intellektuellen und Dichters, der sich […] durch den imaginären Raum nach Amerika und durch die Zeit zur Eroberung Mexikos tragen lässt, sich also dem sowohl historisch als auch geographisch und kulturell Fernen zuwendet, dabei jedoch seinen Horizont geschichtsphilosophischer, mythologiekritischer und politisch-sozialer Überlegungen und Reflexionen mit sich trägt.17

Ute Gerhard weist auf postkolonialistische Entwürfe im Romanzero hin, da hier kulturelle Räume immer wieder als „von unterschiedlichen und dissonanten Stimmen durchkreuzt und entstellt“18 erscheinen. Gerhard stellt dabei heraus, dass Heines Sicht auf den Orient komplexer ist als die zeitgenössische Orientromantik dies vermuten lassen könnte: Heines eigene, bekanntlich negative Sicht des christlich-abendländischen Spiritualismus im Gegensatz zu dem von ihm favorisierten Sensualismus situiert ihn allerdings gleichzeitig auf Seiten des Orients und könnte so die positive Variante des Orients nahelagen. Solche eindeutigen Verortungen werden allerdings häufig genug wiederum ironisch gebrochen.19

Die bisher umfangreichste Untersuchung zum Vitzliputzli legt Robert Steegers20 vor, der den Zyklus unter sensualistischen, heilsgeschichtlichen und intertextuellen Gesichtspunkten analysiert. Er kommt zu dem Schluss, dass der Vitzliputzli „im Text und als Text den Untergang einer Kultur inszeniert und den Racheschwur des aztekischen Gottes bewahrt“ habe, wodurch er Zeugnis ablege „vom Vertrauen des Dichters auf die Wirkmächtigkeit seiner Gedichte, die gerade in der ästhetischen Qualität dieser Texte begründet“ liege.21 Bevor die Forschungsliteratur zu Heine und dem Mythos genauer untersucht wird, lohnt ein Blick auf die einzige aktuelle Monographie22 , die sich ausschließlich mit dem Romanzero beschäftigt. Helmut Landwehr sucht in seiner Dissertation23 nach dem ‚Schlüssel‘ zu Heines Romanzero. Dabei verzichtet er auf ein „‚klassische[s]‘ Interpretationsverfahren“ mit dem Ziel, „den ‚Romanzero‘ als ganzen Zyklus auf eine neue Basis zu stellen“24 . Er wendet sich gegen die früh, prominent etwa von 17

Böhn 2003, S. 10. Vgl. dazu auch Böhn 1998, S. 367–378. Gerhard 2002, S. 202. 19 Gerhard 2002, S. 205. 20 Steegers 2006. 21 Steegers 2006, S. 257. 22 Zu erwähnen wäre an dieser Stelle noch, neben der 16 Jahre alten Schrift Küppers, die Dissertation Hella Gebhards zu den Historien des Romanzero aus dem Jahr 1956, die über weiter Strecken eine Analyse von Balladen- bzw. Romanzenform der einzelnen Historien vornimmt. Vgl. Gebhard 1956. 23 Landwehr 2001. 24 Landwehr 2001, S. 5. 18

1.1 Stand der Forschung

5

Jean-Pierre Lefebvre, ins Feld geführte Interpretation des Romanzero als eines Syllogismus hegelscher Prägung.25 Demnach wären die Historien das „Moment der äußeren Allgemeinheit; Raum und Zeit“26 , in dem sich die Subjektivität des Dichters aufhebt. Die auftretenden Götter sind auf menschliche Größe mit menschlichen Eigenschaften geschrumpft. In den Lamentazionen käme durch das Auftreten ‚echter‘ Menschen das „Moment der Besonderheit“27 zum Tragen, die Hebräischen Melodien seien das „Moment der Einzelheit“28 . Dies ist in sich durchaus schlüssig. Fraglich erscheint diese Interpretation allerdings schon Gerhard Höhn29 , unter anderem, weil Heine selbst sich im Nachwort zum Romanzero explizit von Hegel distanziert: „Ja, ich bin zurückgekehret zu Gott, wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit bey den Hegelianern die Schweine gehütet.“ (DHA 3.1, 179) Bereits Helmut Koopmann möchte davon absehen, von einem Syllogismus in Heines Geschichtsdenken zu sprechen30 , Hallensleben verabschiedet sich schließlich vollends von der Vorstellung des dreigliedrigen Aufbaus, die eine hegelsche Dialektik mit anschließender Synthese spiegelt; im Romanzero gibt es am Ende „keine abgeschlossene Position, kein Urteil […] wie schließlich in den ‚Disputationen‘ anhand des Streits der Religion dargestellt. Die Geschichte erscheint vielmehr als ein sich fortschreibender, unendlicher Erinnerungstext.“31 Landwehrs Interpretationsverfahren, das „da seinen Anfang [nimmt], wo der Leser innehält, das heißt aktiv Widerstand leistet gegen den Sog des Weiterlesenwollens, zu dem die oft flüssig lesbaren Texte Heines verführen“32 , entpuppt sich als die Allegorese.33 Betrachtet man die Forschungsliteratur zum Themenkomplex ‚Heine und der Mythos‘, fällt auf, dass das Hauptaugenmerk oft auf der bloßen Rezeption von Mythen liegt. So bezieht etwa Robert C. Holub in seiner 1981 erschienenen Studie Heinrich Heine’s Reception of German Grecophilia. The Function and Application of the Hellenic Tradition in the First Half of the Nineteenth Century34 Heines Mythenrezeption mit ein. Ariane Neuhaus-Koch fokussiert sich in ihrer Untersuchung zu Heines Arbeit am Mythos auf den Doktor Faust, wo sie zu dem Schluss kommt, dass „Heines spezifische Arbeit am Mythos […] sich sowohl in der Verwendung des von

25

Vgl. Lefebvre 1979, S. 142–162 (zuerst franz. 1975) sowie Lefebvre 1986. Lefebvre liest den Romanzero als Syllogismus der epischen Poesie, wie Hegel ihn in Kapitel sieben der Phänomenologie des Geistes vorstellt. 26 Lefebvre 1986, S. 129. 27 Lefebvre 1986, S. 129. Der Erzähler (den Lefebvre zumeist mit Heine gleichsetzt) setze sich hier mit ‚besonderen‘, d. h. ‚greifbaren‘ Freunden und Feinden auseinander, teilweise werde sogar der Versuch einer Datierung unternommen (beispielsweise bei Im Oktober 1849). 28 Lefebvre 1986, S. 129. 29 Vgl. Höhn 2004, S. 139. 30 Koopmann 1972, S. 453–476. 31 Hallensleben 2001, S. 85. 32 Landwehr 2001, S. 6. 33 Landwehr 2001, S. 39–89. 34 Holub 1981.

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1 Stand der Forschung und Methodik

ihm vorgefundenen Quellenmaterials als auch in den Ergänzungen und Umgestaltungen, die er, von den Quellen ausgehend, vornimmt“35 zeige. Neuhaus-Koch arbeitet dabei vier Gestaltungsprinzipien von Heines Umgang mit dem Mythos heraus, von denen das letzte, die „poetische[] Transformation“, eine „produktive[] Anverwandlung“ darstellt – eben ‚Arbeit am Mythos‘ im Sinne Blumenbergs.36 Zu einem ähnlichen Schluss kommt Holub in seiner Untersuchung zu Elementargeister, das er als Hauptwerk des mythologischen Denkens Heines betrachtet: „Heine war Mythologe auf zweierlei Weise.“37 Dabei gelinge es Heine, durch Anleihen bei der antiken Mythologie, „eine eigene moderne Mythologie zu erschaffen“38 , was sich aber noch deutlich von der Benutzung mythischen Denkens unterscheidet. Zum Thema Mythos und Moderne bei Heine hat sich in jüngerer Zeit zudem Sabine Bierwirth geäußert, die sich auf Heines Rezeption griechischer und jüdischer Mythen konzentriert.39 Darüber hinaus sind zuletzt mehrere Monografien zum Themenkomplex Mythos bei Heinrich Heine erschienen. In seiner Dissertation Heinrich Heines Arbeit am Mythos weist Markus Küppers darauf hin, dass sich die episodische Textur Heineschen Schreibens zeigt […] als eine säkularisierte Form mythischen Erzählens: Mythen sind die Geschichten, deren erzählerisches Programm die Deutung der vorfindlichen, empirischen Wahrheit der Welt auf unsere eigene, menschliche Existenz hin ist.40

Er spürt allerdings nicht dem mythischen Denken nach, sondern Heines „Suche nach außerweltlichen Instanzen, nach ‚Göttern‘, die den diesseitigen Glücksanspruch des Menschen legitimieren können und zugleich Sinnpotentiale eröffnen, die es ihm erlauben, sein Leben als ein gelingendes und wertvolles zu erfahren“41 , sowie seinem „Versuch, die persönliche Biographie hinter mythischen Masken zu gestalten“42 . Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Eun-Kyoung Parks ausführlich gearbeitete Studie „…meine liebe Freude an dem Göttergesindel“. Die antike Mythologie im Werk Heinrich Heines, die Heine als Mythologe liest, der in der Rezeption der antiken Mythologie den Spiritualismus bekämpft und „alles zu Unrecht Verteufelte[]“43 rehabilitiert. Den Romanzero streift Park dabei am Rande, vornehmlich in einzelnen Gedichten, beispielsweise Pomare oder Vitzliputzli. In beiden Fällen geht es also 35

Neuhaus-Koch 1982, S. 55. Neuhaus-Koch 1982, S. 55. 37 Holub 1991, S. 314. 38 Holub 1991, S. 314. Dies kommt der These, die diese Arbeit vertreten möchte, bereits näher. Allerdings möchte ich darauf abstellen, dass Heine nicht nur eine eigene Mythologie erschafft, sondern mythisch schreibt. 39 Bierwirth 2006, S. 20: „Er bezog sich auf Figuren und Ereignisse der griechischen und jüdischen Geschichte und Mythologie, die sein Interesse und seine Faszination weckten. […] Die Anverwandlung jüdischer und antiker Figuren vollzog sich in witzig intellektueller und sensibler Art und Weise.“ 40 Küppers 1993, S. 5. 41 Küppers 1993, S. 10. 42 Küppers 1993, S. 11. 43 Park 2005, S. 444. 36

1.1 Stand der Forschung

7

hauptsächlich um die Rezeption von Mythologie bzw. mythologischen Figuren und Sujets, nicht um das Aufdecken struktureller Ähnlichkeiten zwischen dem mythischen Denken und der Erzählweise in Heines Werk. Dabei ist gerade dies für den Romanzero von Bedeutung, denn das Mythische erschöpft sich nicht in den tradierten Geschichten oder Figuren. Es ist gerade die Narrativität selbst, die „das zentrale Moment“44 der Mythologie ausmacht. Wenn der Romanzero nun Formen und Mittel dieser Narrativität übernimmt, so ist dies ein ernstzunehmender Hinweis darauf, dass er im starken Sinne mythisch erzählt. Einen in diesem Zusammenhang fruchtbaren Ansatz verfolgt Markus Winklers Studie zum mythischen Denken zwischen Romantik und Realismus mit einem Schwerpunkt auf der „Erfahrung kultureller Fremdheit im Werk Heinrich Heines“.45 Winkler zeichnet den geistesgeschichtlichen Werdegang von Heines Beschäftigung mit dem Mythos und mythischem Denken nach, kommt aber nur stellenweise auf den Romanzero zu sprechen. Dabei wird als Ziel von Heines mythischem Denken zunächst erkennbar die Erneuerung und kulturkritische, ja revolutionäre Umwertung des verachteten Volksglaubens, seine Restitution als gesamtgesellschaftliches Weltbild. Doch indem Heine das Ziel verfolgt, sieht er sich gezwungen, es zu revidieren. Formale Voraussetzung dieser Dynamik seines ‚mythischen‘ Denkens ist ein kompliziertes Ineinander von Mimesis des Mythos und Mythoskritik, mythosartiger Rede und Rede über den Mythos.46

Insgesamt ist Winklers Studie ein reichhaltiger Fundus, der sich kritisch mit Heines mythischem Denken auseinandersetzt und es in Bezug zu zeitgenössischen und modernen Mythentheorien setzt, jedoch auch aufgrund der Zielsetzung der Arbeit den Romanzero nurmehr streift, und vor allem nicht als Gesamtzyklus in den Blick nehmen kann. Neben der hier angesprochenen Forschungsliteratur existiert eine Vielzahl an Einzeluntersuchungen zu Gedichten aus dem Romanzero, zumal zu den meistzitierten Einzelgedichten Carl I.47 und Enfant perdü, auf die an gegebener Stelle ausführlich rekurriert werden wird. Zuletzt ist Willi Goetschel in seiner umfangreichen Studie zu Heine und der Kritischen Theorie auch auf Heines Verständnis von Geschichte eingegangen. Der Romanzero (auf den die Untersuchung nicht ihr Hauptaugenmerk richtet) wird dort zwar nicht unter Aspekten des mythischen Erzählens untersucht, doch kommt auch Goetschel zu dem Schluss, dass sich in ihm Heines Auffassung von historischem Fortschritt manifestiert, der von Stillstand, Wiederholung und der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gekennzeichnet ist.48

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Dörr 2004, S. 34. Winkler 1995. 46 Winkler 1995, S. 60. 47 Vgl. zu Carl I. etwa Bayerdörfer 1972/3 oder Hinck 1972. Zu Enfant perdü einschlägig Windfuhr 1994 und Werner 1995. Neuere Deutungen finden sich bei Stein 2010 und Dümler 2014. 48 Goetschel 2019, S. 190. 45

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1 Stand der Forschung und Methodik

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken Auch in der Mythologie ging es gut. Ich hatte meine liebe Freude an dem Göttergesindel, das so lustig nackt die Welt regierte. Ich glaube nicht, daß jemals ein Schulknabe im alten Rom die Hauptartikel seines Katechismus, z. B. die Liebschaften der Venus, besser auswendig gelernt hat, als ich. Ideen. Das Buch Le Grand (DHA 6, 189)

Schon der junge Ich-Erzähler des Buchs Le Grand 49 , der sich an dieser Stelle ohne weitere Umstände mit Heine identifizieren lässt, sieht sich als bewandert in mythologischen Zusammenhängen. Aber mehr noch als das sticht ins Auge, was dem Schüler Heine so noch nicht bewusst gewesen sein konnte, nämlich das frühe Anklingen der in Heines mythologischen Schriften durchgängig inszenierten sensualistischen Auffassung des ‚alten‘ griechischen Götterglaubens mit seinem Pantheon an bunten Gestalten im Gegensatz zum strengen und freudlosen Christentum. Im folgenden Kapitel soll in einem ersten Schritt (1.2.1) Heines Verhältnis zu Mythos und Mythologie näher beleuchtet werden. In diesem Zusammenhang wird vor allem auf drei einschlägige Schriften Heines eingegangen, die seine Auseinandersetzung mit dem Mythos exemplarisch deutlich werden lassen. In einem zweiten Schritt (1.2.2) wird dann aufgezeigt, dass Heine neben der Übernahme und Verarbeitung mythologischer Figuren und Topoi auch Strukturen und Muster des mythischen Denkens nutzt, um damit über mythologische Inhalte hinaus etwas über die Verfasstheit der Welt auszusagen. Das herausragende Beispiel für diese Art der Verarbeitung, Anwendung und Inkorporation mythischen Denkens bildet dabei der Romanzero.

1.2.1 Mythos und Mythologie bei Heine „Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Falle: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht.“50 Wenn Hans Blumenberg in seinem wegweisenden Werk Arbeit am Mythos von der Funktion von Geschichten spricht, so meint er vor allem solche Geschichten, die der Mythos erzählt. Im Mythos tritt das Mängelwesen Mensch dem Absolutismus der Wirklichkeit entgegen. Die Welterfahrung ist charakterisiert als eine solche, der der Mensch zunächst nicht gewachsen scheint. Er fürchtet sich vor der Welt und muss sie ordnen. Da die Vorstellung des Menschen als eines Mängelwesens in dem Sinne, dass er sich in einer ihm feindlich gesonnen Welt kaum zurechtfindet, auch das Denken Heines durchzieht, lohnt ein Blick auf den Ursprung des Begriffs. Johann Gottfried Herder beschreibt in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) den Menschen 49

Auf Ideen. Das Buch Le Grand wird im Folgenden in Übereinstimmung mit der Forschungskonvention auch unter der Bezeichnung Ideen verwiesen. 50 Blumenberg 1984, S. 40.

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken

9

als Geschöpf, das „den Tieren an Stärke und Sicherheit des Instinkts weit nachstehe, ja […] das, was wir bei so vielen Tiergattungen angeborene Kunstfähigkeit und Kunsttriebe nennen, gar nicht habe“.51 Diesen geradezu als Affront empfundenen Umstand – „Lücken und Mängel können doch nicht der Charakter seiner Gattung sein“52 , heißt es in einem an eine Anklage erinnernden Ton – kann Herder nicht als letztes Wort in der Sache akzeptieren. Vielmehr scheint der vordergründige Mangel auf verborgene Fähigkeiten des Menschen hinzuweisen, Fähigkeiten, die ihn dann wiederum auszeichnen: Mit einer so zerstreuten geschwächten Sinnlichkeit, mit so unbestimmten, schlafenden Fähigkeiten, mit so geteilten und ermatteten Trieben geboren, offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt – […] Nein! ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur. Es müssen statt der Instinkte andre verborgne Kräfte in ihm schlafen.53

Demnach wird die physische Inadäquatheit des Menschen der Natur gegenüber durch seine „verborgenen Kräfte“, seinen Intellekt, ausgeglichen. Mehr noch als ausgeglichen, denn letztendlich erlauben es gerade diese Fähigkeiten dem Menschen, sich die Erde Untertan zu machen.54 Blumenberg orientiert sich bei der Beschreibung des Menschen als Mängelwesen auch an Arnold Gehlen, der die scheinbare Mangelhaftigkeit des Menschen hinsichtlich seiner körperlichen Unangepasstheit („Nackt und bloß, schwach und dürftig“55 ) an seine Umwelt beschreibt, woraus sich zugleich die Sonderstellung des Menschen ableite: Der Grundgedanke ist der, daß die sämtlichen „Mängel“ der menschlichen Konstitution, welche unter natürlichen, sozusagen tierischen Bedingungen eine höchste Belastung seiner Lebensfähigkeit darstellen, vom Menschen selbsttätig und handelnd gerade zu Mitteln seiner Existenz gemacht werden, worin die Bestimmung des Menschen zu Handlung und seine unvergleichliche Sonderstellung zuletzt beruhen.56

Diese Sonderstellung besteht darin, dass der Mensch gezwungen ist, sich seiner Umwelt nicht nur anzupassen, sondern sie zu formen, „d. h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung um[zu]arbeiten“.57 Der zur Anpassung gezwungene Mensch wird so zum Subjekt, das selbst Anpassung erzwingt.58 Mithin wird der Mensch erst durch die existentielle Erfahrung des Mangels zum Kulturschöpfer. Allerdings wäre es verfrüht, infolgedessen von einem 51

Herder 1985, S. 711. Herder 1985, S. 715. 53 Herder 1985, S. 715. 54 Vgl. Gen. 1, 28. 55 Gen. 1, 28. 56 Gehlen 1986, S. 37. 57 Gehlen 1986, S. 36. 58 Dass der Mensch sich im Anthropozän nun auch selbst in die Erdgeschichte eingeschrieben hat, damit gleichsam unauslöschbare Spuren hinterlassen hat, genau dadurch aber letztendlich durch den menschengemachten Klimawandel zur stetigen Lebensfeindlichkeit seiner Umwelt maßgeblich beiträgt, konnte Heine so nicht ahnen, ist aber eine Pointe, die in den Romanzero passen würde. 52

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1 Stand der Forschung und Methodik

Ende des Mangels als Mangel zu sprechen. Der ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘, wie Blumenberg ihn nennt,59 wird nicht aus der Welt geschafft. Der Mensch aber tritt ihm nun ‚bewaffnet‘ entgegen, ihm steht, wieder mit Blumenberg, ein Mittel zur Verfügung, der Angst vor der willkürlichen Realität, der er sich ausgeliefert sieht, zu begegnen – der Mythos: „Der Mythos ist eine Ausdrucksform dafür, daß der Welt und den in ihr waltenden Mächten die reine Willkür doch nicht überlassen ist. […] [Er] ist ein System des Willkürentzugs.“60 Es ist dies der Entzug einer Willkür, die Heine am eigenen Leib erfahren musste61 und im Romanzero dichterisch verarbeitet. Einer Willkür zudem, die das menschliche Leben unerträglich macht. Dies zeigen schon die eingangs zitierten Verse aus König David 62 – nur der Ausgangspunkt der Willkür ändert sich, was aber für den Menschen am anderen Ende der Willkür, für den, der ihr ausgesetzt ist, keinen Unterschied macht. Diesem unbarmherzigen Chaos der Faktizität sagt der Mythos den Kampf an.63 Mehr noch, es ist gerade dieses Chaos, die „klaffende Leere, der gähnende Abgrund“64 , eine Leere, in die starrend der Mensch wahnsinnig zu werden droht, was als Ursprung des Mythos dient. Die Erfahrung einer existentiellen Bedrohung wirkt somit als intellektuelles Stimulans des Menschen und ist erst Kristallisationspunkt des mythischen Denkens. In seiner ursprünglichen Form kann der Mythos aus Göttergeschichten bestehen, wie Friedrich Nietzsche in Die Geburt der Tragödie postuliert: Um leben zu können, mußten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen: welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen.65

Göttergeschichten stellen also einen integralen Bestandteil des Mythos dar. Es sind solche Geschichten, die unablässig wiederholt, variiert und erweitert werden. Die, wenn man so will, einfache Form einer solchen ‚Arbeit am Mythos‘ besteht in einem Sich-Bedienen am mythologischen Fundus. Eine solche Art der Aneignung des Mythos, in der der Mythos als Zitat weiterlebt66 , macht sich auch Heine zu eigen, wobei 59

Vgl. Blumenberg 1984, S. 10: „Was hier Absolutismus der Wirklichkeit genannt wird, ist Inbegriff der Entsprechungen zu diesem Situationssprung, der ohne die Überleistung infolge abrupter Unangepaßtheit nicht denkbar ist.“ 60 Vgl. Blumenberg 1984, S. 50. 61 Man denke nur an Heines mannigfache Erfahrungen der Ausgrenzung, der Zensur, des Exils, an die immer wieder bitteren politischen Enttäuschungen, denen er sich ausgesetzt sah oder zuletzt an die Jahre des Siechtums in Paris. 62 Das Gedicht König David (DHA 3.1, 40–41) wird im späteren Verlauf dieser Arbeit noch einer genaueren Analyse unterzogen. An dieser Stelle soll es nur der Veranschaulichung dienen, dass Heine sich den Willküraspekten der Welt, die auf Bedürfnisse und Nöte des Menschen keinerlei Rücksicht nehmen, sehr wohl bewusst ist. 63 Vgl. Angehrn 1996, S. 177. 64 Angehrn 1996, S. 202. 65 Nietzsche 1872, S. 36. 66 Vgl. Winkler 1995, S. 3.

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken

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die Grenzen zwischen einem bloßen Zitat und einer ‚poetischen Mythenrezeption‘ im Sinne August Wilhelm Schlegels oft fließend verlaufen.67 Auch wenn man Elizabeth M. Butlers These, dass Heine in der anthropomorphisierenden Gestaltung der Götter in Götter im Exil zum ersten Mal seit Winckelmann einen neuen Zugang zur Antike geschaffen habe, nicht in voller Konsequenz zustimmen möchte68 , darf diese Art der heineschen Mythenrezeption nicht unbeachtet bleiben. Dabei zeigt sich zweierlei. Erstens, dass Heine bestens mit mythologischem Personal und mythischen Denkweisen vertraut ist. Und zweitens, dass er, selbst wenn er ‚nur‘ Mythenrezeption im Sinne der Verwendung mythologischer Figuren vornimmt, ein Programm verfolgt, das über eine einfache Wiederverwendung mythologischen Materials hinausgeht. Seinem akademischen Lehrer A.W. Schlegel zufolge richtet sich der Mythos „nach den Bedürfnissen eines Volkes, nicht ist er bloß Produkt der Phantasie“69 . Hervorstechende Beispiele für eine Be- bzw. Umarbeitung mythologischer Stoffe sind Die Götter Griechenlands, Elementargeister sowie Götter im Exil. In Die Götter Griechenlands (1825/26) restituiert Heine zunächst anscheinend die antiken Götter in der Realität. Es handelt sich nicht um Phantome oder Sinnestäuschungen. Die Verwendung des Indikativs lässt darauf schließen, dass das lyrische Ich sie wirklich sieht: Staunend, und seltsam geblendet, betracht’ ich Das luftige Pantheon, Die feierlich stummen, grau’nhaft bewegten Riesengestalten. (DHA 1.1, 413, V. 15–19)

Einer Idealisierung der Antike leistet das lyrische Ich dabei keineswegs Vorschub: „Ich hab’ Euch niemals geliebt, Ihr Götter! / Denn widerwärtig sind mir die Griechen“ (DHA 1.1, V. 64–65). Es wird also nicht einer vermeintlich besseren Zeit nachgetrauert. Das Empfinden ist vielmehr von dem Eindruck vergangener Größe geprägt: 67

Mit den Theorien Schlegels war Heine ebenso vertraut wie mit den Mythologemen der klassischen Antike. Während seines Jurastudiums in Bonn besuchte er mit großer Wahrscheinlichkeit August Wilhelm Schlegels Vorlesung über das akademische Studium. Seine Charakterisierung Schlegels in der Romantischen Schule fällt dabei wenig schmeichelhaft aus: „Da ich einst zu den akademischen Schülern des ältern Schlegel gehört habe, so dürfte man mich vielleicht in Betreff desselben zu einiger Schonung verpflichtet glauben. Aber hat Herr A. W. Schlegel den alten Bürger geschont, seinen literärischen Vater? Nein, und er handelte nach Brauch und Herkommen. Denn in der Literatur, wie in den Wäldern der nordamerikanischen Wilden, werden die Väter von den Söhnen todtgeschlagen, sobald sie alt und schwach geworden.“ (DHA 8.1, 165) Zu Heines Studium vgl. auch: Kanofsky 1975. Für eine Deutung der späteren Abwendung Heines von A.W. Schlegel als ödipalen Vatermord siehe etwa Weinberg 1979, S. 84–95. 68 Vgl. Butler 1948, S. 342: „Und obgleich es Nietzsche vorbehalten blieb, den tragischen Pessimismus der alten Griechen zu enthüllen, die Goethe, Schiller und Hölderlin […] als sonnig, glücklich, naiv und strahlend angesehen hatten, verwandelte Heine das ganze Problem in eine Tragödie, indem er die griechischen Götter nicht als das ansah, was sie in den Tagen ihrer Glorie waren, sondern als das, was sie nach dem Siege Christi wurden: traurige Erscheinungen, melancholische Marmorstatuen, destruktive Dämonen oder verfolgte Flüchtlinge. Er ließ die Bombe der Relativität platzen und rasierte den Olymp bis auf den Grund.“ 69 Schlegel 1971, S. 49.

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1 Stand der Forschung und Methodik Doch heil’ges Erbarmen und schauriges Mitleid Durchströmt mein Herz, Wenn ich Euch jetzt dadroben schaue, Verlassene Götter, Todte, nachtwandelnde Schatten, Nebelschwache, die der Wind vescheucht – (DHA 1.1, 415, V. 67–72)

Warum aber Mitleid, und noch dazu schauriges? Die Götter in Die Götter Griechenlands sind Stellvertreter eines Zeitalters der Sinnlichkeit, das vom aufkommenden Christentum verdrängt wird. Auch wenn das lyrische Ich niemals Liebe zu den alten Göttern empfinden konnte, so konzediert es doch das Verschwinden einer Welt und Weltauffassung, die sich durch Hinwendung zum guten Leben auszeichnete, bis schließlich die Leier schweigt (V. 56): Es fließt kein Nektar mehr (V. 62) „[u]nd längst ist erloschen / Das unauslösliche Göttergelächter.“70 (V. 63–64) Was später zu einem Grundthema des Romanzero wird, zeichnet sich bereits ab, der Sieg des Schlechten über das Bessere: Und wenn ich bedenke, wie feig und windig Die Götter sind, die Euch besiegten, Die neuen, herrschenden, tristen, Götter Die Schadenfrohen im Schafspelz der Demut – (DHA 1.1, 415–416, V. 63–76)

Von Bedeutung ist hierbei allerdings, dass Heine an dieser Stelle mythologische Figuren nicht etwa nur benutzt, um die Verdrängung der antiken Götter durch das Christentum zu beklagen. Die Stoßrichtung ist eine andere, weitaus schärfere: Indem Heine den christlichen Gott in eine Abfolge von Gottesvorstellungen stellt („Doch auch die Götter regieren nicht ewig, / Die jungen verdrängen die alten,“ (V. 28–29)), bricht er mit der Vorstellung des einen geoffenbarten Gottes der Bibel. Götter, und das schließt eben nun den christlichen Gott mit ein, sind immer nur einige unter vielen, sie werden in eine historische Abfolge gestellt. Dessen ungeachtet bleiben sie, wie Urmythen, wenn auch nur als „ungeheure Gespenster“ (V. 13) und „blasse[] Wolkengestalten“ (V. 92), unauslöschlich dem kollektiven und kulturellen Gedächtnis der Menschheit erhalten. Die Götter Griechenlands zeigen insofern „eine geschichtliche Perspektive auf: Sie fordern die Überwindung des asketischen Christentums durch Rehabilitation dessen, was seinem Siegeszug zum Opfer fallen mußte, d.i. sinnlichen Genuß, ‚ambrosisches Recht‘.“71 Die Sympathien liegen eindeutig bei „der Parthei der besiegten Götter“ (V. 90), während der einzige Trost ambivalenten – und für Heine durchaus bezeichnenden – Charakter hat. Die Besiegten werden nicht etwa im weiteren Verlauf der Geschichte wieder ins Recht gesetzt, stattdessen gibt es eine größere Macht, der sich auch die neuen Götter unterzuordnen haben: die historische Notwendigkeit. Trat in Goethes Prometheus die allesübergreifende Macht 70

Es wird Heine selbst sein, der das Göttergelächter zu Beginn des Romanzero, in Rhampsenit, wieder ertönen lässt (s. Abschn. 2.1.1). 71 Höhn 2004, S. 75.

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken

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noch als „die allmächtige Zeit / Und das ewige Schicksal“72 auf, so ist es hier die Natur in Form der Sterne („Und siegreich traten hervor am Himmel / Die ewigen Sterne.“ V. 98–99), der sich niemand, nicht einmal ein Gott, zu entziehen vermag.73 Heine mythologisiert hier also den monotheistischen Gott74 und unterwirft dabei im Handstreich jedweden Gott einer historischen Notwendigkeit. Die Götter Griechenlands kann so auch gelesen werden als der Versuch einer ‚Säkularisierung‘ des Christentums75 mit mythologischen Mitteln. In eine ähnliche Richtung geht die Prosaschrift Elementargeister (1837), in der Heine den „kulturgeschichtlichen Wandel [skizziert], in dessen Verlauf das Christentum über das Heidentum siegte“76 , nur dass es sich hier nicht um das antike griechische Heidentum, sondern um das germanische handelt. Dabei geht Heine flexibel mit seinen Quellen um, benutzt sie mal zitathaft, bearbeitet sie ein andermal fast bis zur Unkenntlichkeit.77 Der Rekurs auf mythologische Figuren hat zusätzlich praktische Gründe, denn: In der politisch stillen zweiten Hälfte der 30er Jahre, in welcher der behördlich verordnete Maulkorb vollends für Friedhofsruhe sorgen sollte, erwies sich das Herumstöbern in Sagen als geeignete Tarnung, um die herrschende Verzichtmoral mit dem zu konfrontieren, was sie verdrängen muss.78

Dieses Element in Heines „Hauptwerk über das mythologische Denken“ (so Holub über Elementargeister)79 ist bereits aus Götter Griechenlands wohl bekannt. Mit dem Heidentum verschwand auch Sinnenfreude und Glück von der irdischen Welt: Der Glaube an das Glück, als an etwas Angeborenes oder durch Zufall Geschenktes, ist urheidnisch, und kontrastirt allerlieblichst mit der kristlichen Ansicht, wo Leiden und Enthaltsamkeit als die beste Bescheerung des Himmels betrachtet wird. Die Aufgabe des Heidentums war die Erkämpfung des Glücks […] Die Aufgabe des Christenthums aber war die Entsagung, und seine Helden suchten die Leiden des Martyrthums […] und ihr größter Kampf galt nur der Eroberung eines Grabes. (DHA 9, 262) 72

Goethe 1888, S. 312–313. Wenn Holub an dieser Stelle davon spricht, Heine trete hier „als ein Freund der schwachen und Heruntergekommenen, als eine Prometheus-Figur, die selbst den unendlichen Kräften der Götter trotzt“ (Holub 1991, S. 318), bleibt fraglich, welcher Natur die prometheischen Kräfte sein sollen. Am ehesten denkbar wäre dann eine Lesart, die das Dichten selbst als prometheischen Kraftakt versteht. Allerdings geht es in dem Gedicht ja gerade geht, den Göttern – jeglichen Göttern – unendliche Kräfte abzusprechen. 74 Was Markus Küppers für Die Stadt Lucca konstatiert, trifft auch hier zu: „[D]er absolute, (laut Dogma) geoffenbarte Gott des Christentums rückt aus seiner dogmatischen Einzigartigkeit wieder in die Reihe der Götter vor ihm (und nach ihm).“ Küppers 1994, S. 39. 75 Bzw. von Religion im Allgemeinen. 76 Winkler 1995, S. 147. 77 Vgl. hierzu überblicksartig Höhn 2004, S. 363, der als wichtigste Quellen u. a. Deutsche Sagen sowie Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, Jacob Grimms Deutsche Mythologie (sowie von diesem übersetzten Altdänischen Heldenlieder, Balladen und Märchen) und Des Knaben Wunderhorn von Arnim und Brentano ausmacht. 78 Höhn 2004, S. 366. 79 Holub 1991, S. 320. 73

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1 Stand der Forschung und Methodik

Diese heidnischen Götter und mit ihnen der Sensualismus lassen sich jedoch nicht vollständig vertreiben, sondern bleiben als eine Art ‚mythisches Sediment‘ im kollektiven Gedächtnis zurück. Für die alten Mythen gilt, was der Beginn der Elementargeister von der alten Frau, die dem siegreichen Karl dem Großen nicht in die Hände fallen wollte und deshalb lebendig begraben wurde, zu berichten weiß: „Man sagt, daß die alte Frau noch lebt. Nicht alles ist todt in Westphalen, was begraben ist.“ (DHA 9, 11)80 Die alten Mythen befinden sich, so gelesen, in einer Zwischenexistenz, einer Art hybridem Raum. Fasst man diesen hybriden Raum im Sinne Homi K. Bhabhas als third space auf, dann befinden sich die Mythen dort in dynamischen Prozessen,81 die es ihnen erlauben, sich ständig und zeitlich unbegrenzt neu zu erfinden. Sie erlauben einen Diskurs über Zeiten und Kulturen hinweg, was sich im Romanzero an verschiedenen Stellen beobachten lässt.82 Die alten Mythen sind nicht lebendig, aber eben auch nicht gänzlich tot und vergessen. Genauso sterben die sinnlichen Leidenschaften, „trotz ihrer Sublimierung ins Spiritualistische, nie ganz aus“83 . Nicht weiter verfolgt, aber doch erwähnt werden, soll an dieser Stelle Heines kaum verdeckte Kritik an der christlichen Kirche. Die Repräsentanten der Leidenschaft, die alten Götter, werden nicht bloß verdrängt, sie werden von ihrer Nachfolgerin ganz buchstäblich dämonisiert, ja verteufelt. Der Teufel tritt in Elementargeister in seiner alten Funktion als ‚Luzifer‘ auf, womit er sensualistische mit aufklärerischen Eigenschaften vereinigt: Der Teufel ist ein Logiker. Er ist nicht bloß der Repräsentant der weltlichen Herrlichkeit, der Sinnenfreude, des Fleisches, er ist auch Repräsentant der menschlichen Vernunft, eben weil diese alle Rechte der Materie vindizirt; und er bildet somit den Gegensatz zu Christus, der nicht bloß den Geist, die ascetische Entsinnlichung, das himmlische Heil, sondern auch den Glauben repräsentirt. Der Teufel glaubt nicht, er stützt sich nicht blindlings auf fremde Autoritäten, er will vielmehr dem eignen Denken vertrauen, er macht Gebrauch von der Vernunft! Dieses ist nun freylich etwas Entsetzliches, und mit Recht hat die römisch katholisch apostolische Kirche das Selbstdenken als Teufeley verdammt und den Teufel, den Repräsentanten der Vernunft, für den Vater der Lüge erklärt. (DHA 9, 40)84

Letztendlich aber bleibt es bei dem Dilemma, vor dem schon die Götter Griechenlands standen. Auch der in den Elementargeistern beschriebene Pantheismus, der „als Volksglaube schlechthin [erscheint], der das Christentum überdauert hat und dessen Stärkung die Möglichkeit bot, das politische Programm der Emanzipation zu 80

In der Natur lässt sich noch eine Ahnung der alten Götter erkennen: „In Westphalen, dem ehemaligen Sachsen, ist nicht alles todt was begraben ist. Wenn man dort durch die alten Eichenhaine wandelt, hört man noch die Stimmen der Vorzeit, da hört man noch den Nachhall jener tiefsinnigen Zaubersprüche, worin mehr Lebensfülle quillt, als in der ganzen Literatur der Mark Brandenburg.“ (DHA 9, 11) Es ist unschwer zu erkennen, dass Heine an dieser Stelle Freuds Begriff des Unheimlichen mit poetischen Mitteln vorwegnimmt. Vgl. hierzu Winkler 1995, S. 148–149. 81 Vgl. Bhabha 1994. 82 Besonderes deutlich bspw. an Vitzliputzli, was an passender Stelle ausführlich diskutiert wird. 83 Holub 1991, S. 323. 84 Zu der hierbei erfolgten Übernahme und Umdeutung der Teufelsfigur aus Dantes Göttlicher Komödie vgl. Trabert 2013, S. 119. Trabert liest die Elementargeister als Heines Entwicklung „einer grundsätzliche[n] Theorie zur Entstehung und Funktion von Mythen“, durchaus auch vor dem Hintergrund einer „versteckte[n] Gesellschaftskritik“. (S. 115)

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken

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verbreiten“85 , vermag keine „progressive[n] revolutionäre[n] Energien“86 freizusetzen. Dennoch lässt sich an Elementargeister eine Verschiebung in Heines Umgang mit mythischem Gedankengut feststellen. Es geht nicht mehr bloß um die Anverwandlung mythologischen Personals oder um eine Rede über den Mythos. Heine beginnt mythisch zu erzählen.87 Zwar zunächst nur insofern, als er bereits existierende mythologische Figuren variiert und in einen neuen Zusammenhang stellt, um so zeitgenössische Fragen und Problemen zu kommentieren. Dennoch lässt sich mit Holub sagen, Heine ist auch in dem Sinne Mythologe, „als er sich sein eigenes Mythensystem schuf, um die Probleme seiner Epoche literarisch gestaltend zu kommentieren. Anleihen an die antike Mythologie ermöglichten es ihm, eine eigene moderne Mythologie zu schaffen.“88 Noch bedient er sich dazu des Rückgriffs auf konkrete mythologische Topoi, wovon er sich spätestens im Romanzero ganz gelöst hat. Zwar tauchen auch dort dem Mythos entlehnte Figuren auf, wichtiger werden aber die dem mythischen Erzählen zugrunde liegenden Strukturen und Narrative selbst. Ein ganz ähnliches Thema, wenn auch unter anderen Vorzeichen, behandelt Heine in dem 1853 erschienen, nur 20 Seiten umfassenden Essay Die Götter im Exil. Darin greift er ein „altes Lieblingsthema“89 wieder auf: Schon in meinen frühesten Schriften besprach ich die Idee, welcher die nachfolgenden Mittheilungen entsprossen. Ich rede nemlich hier wieder von der Umwandlung in Dämonen, welche die griechisch-römischen Gottheiten erlitten haben, als das Christenthum zur Oberherrschaft in der Welt gelangte. (DHA 9, 125)

In einer Weiterentwicklung von Elementargeister 90 beschreibt Die Götter im Exil das Leben von sieben olympischen Göttern im christlichen Abendland, wo sie „unter allerley Vermummungen in abgelegenen Verstecken ein Unterkommen suchen“ (DHA 9, 126).91 Die Situation der Götter hat sich noch weiter verschlechtert, sie sind der Regression und Verzweiflung anheimgefallen. Lediglich Merkur und Bacchus ist es gelungen, eine Nische in der vom Streben nach Geld geprägten christlichen Welt zu finden. Die Götter in Götter Griechenlands waren zumindest würdig anzuschauen, sie befanden sich, wenngleich nur als geisterhafte Schemen, noch am richtigen Ort, im Himmel. Elementargeister unterläuft die Dämonisierung der Götter subversiv, indem der Teufel zur prometheischen Figur der Aufklärung gemacht wurde. Im Exil

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Höhn 2004, S. 367. Winkler 1995, S. 159. 87 Vgl. hierzu Winkler 1995, S. 158. 88 Holub 1991, S. 314. 89 Brief an Gustav Kolb vom 22. März 1850 (HSA 23, 275). 90 Vgl. Holub 1991, S. 322. 91 Diese Art der Verarbeitung bleibt weder auf Heine noch auf seine Zeit beschränkt. Eine zeitgenössische Adaption findet sich etwa in American Gods (2001) des britischen Schriftstellers Neil Gaiman, der das nordisch-germanische Pantheon kurzerhand auf den amerikanischen Kontinent verfrachtet, wo es mit seiner fortschreitenden Bedeutungslosigkeit angesichts neuer ‚Gottheiten‘ wie Fernsehen oder Internet konfrontiert wird. 86

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jedoch vermag der Anblick des ehedem großen Jupiter, der am „Nordpol sein elendes Leben […] fristen“ muss und „mit Kaninchenfellen handeln wie ein schäbiger Savoryade“, lediglich „frömmigstes Mitleid“ zu erwecken. (DHA 9, 145) Die Erkenntnis des Romanzero, dass alles Große vergehen muss, lässt sich bereits erahnen, ein ernstzunehmender Hoffnungsschimmer ist nirgendwo mehr ausmachen. Es ist, diesmal mit Goethe gesprochen, das „ewige Schicksal“92 , das auch vor den Göttern nicht Halt macht: An jeder Größe auf dieser Erde nagen die heimlichen Ratten, und die Götter selbst müssen am Ende schmählich zu Grunde gehen. So will es das eiserne Gesetz des Fatums, und selbst der Höchste der Unsterblichen muß demselben schmachvoll sein Haupt beugen. (Ebd.)

Der sensualistisch orgiastische Ausbruch des Bacchus (DHA 9, 127–132)93 bleibt eine Episode, die darüber hinaus auch erzähltechnisch distanziert aufbereitet wird, nämlich über den Bericht eines Fischers. Heine „weiß, daß er mit dem Bacchus- oder Dionysosfest etwas Unzeitgemäßes erzählt[,] und will nur von dem ‚völligen Vergessenwerden‘ bewahren, was unweigerlich dahingeht“.94 Es liegt nahe, dieses Dahingehen des Unzeitgemäßen auch als Reaktion auf die Erfahrung der gescheiterten Revolution von 1848 zu lesen.95 Diese exemplarisch ausgewählten Beispiele aus allen Schaffensperioden Heines zeigen dreierlei auf. Erstens ist Heine mit dem mythologischen ‚Personal‘ und mythischen Strukturen bestens vertraut. Zweitens begleiten sie ihn ein Leben lang – er kommt immer wieder auf sie zurück, sie sind „riesenhafte[] Stoffbereiche, über die er als Dichter nach Belieben verfügen kann“.96 Sie zeigen aber drittens noch mehr. Sie gestatten bereits einen Blick auf den Kern des Romanzero und damit den Kern von Heines mythischem Denken. Es lassen sich hier (etwa im immer wieder auftretenden 92

Goethe 1888, S. 313. Vgl. hierzu exemplarisch die Beschreibung des Bacchus, der sich als Mönch ausgibt und nur einmal jährlich zu seinen Bacchanalien die Hüllen fallen lässt und seiner beiden Gefolgsleute in DHA 9, 129: „Einer derselben warf jetzt seine Kutte von sich, und zum Vorschein kam ein impertinenter Geselle von gewöhnlichem Mannesalter, der ein widerwärtig lüsternes, ja unzüchtiges Gesicht hatte, mit spitzen Bocksohren begabt war, und eine lächerlich übertriebene Geschlechtlichkeit, eine höchst anstößige Hyperbel, zur Schau trug. Der andre Mönch warf ebenfalls seine Kutte von sich, und man sah einen nicht minder nackten Dickwanst, auf dessen kahlen Glatzkopf die muthwilligen Weiber einen Rosenkranz pflanzten. […] Schneeweiß war auch das Gesicht des dritten Mönchs, der schier lachend die Kapuze vom Haupte streifte. Als er den Gürtelstrick seiner Kutte losband, und das fromme schmutzige Gewand nebst Kreuz und Rosenkranz mit Ekel von sich warf, erblickte man in einer von Diamanten glänzenden Tunika eine wunderschöne Jünglingsgestalt vom edelsten Ebenmaß […] Die Weiber liebkosten ihn mit wilder Begeisterung, setzten ihm einen Epheukranz aufs Haupt, und warfen auf seine Schulter ein prachtvolles Leopardenfell.“ 94 Höhn 2004, S. 465. 95 Vgl. hierzu etwa Reitter 2002, S. 202: „My claim is that Die Götter im Exil registers, and responds to, disruptions in the significance of mythological figures and the discourse of myth, disruptions largely caused, it would seem, by the Revolution of 1848 and its aftermath in a newly modernized Paris.“ Beinahe exemplarisch für die Untersuchungen zu Heines Auseinandersetzung mit dem Mythos streift auch Reitter den Romanzero nur am Rande. 96 Von Wiese 1973, S. 135. 93

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Niedergang der Götter) die Anfänge von Strukturen ausmachen, die Heines Vorstellung vom Mythos weitaus grundlegender prägen – und für sein Denken weitaus wichtiger werden – als bloß dessen Akteure. Erste Ansätze Heines „als Bewahrer und zugleich Zerstörer mythologischen Denkens“97 lassen sich zwar bereits an dieser Stelle ausmachen. Allerdings bleibt Heine bei der Bearbeitung mythologischer Inhalte hier noch immer relativ an der Oberfläche, indem er eben mythologische Figuren, mithin Götter, beschreibt, die im Niedergang begriffen sind. Auch wenn er diesen Niedergang in einen historischen Prozess stellt, bedeutet der Romanzero noch einmal eine grundlegend andere Entwicklung, wenn Muster des mythischen Denkens in die Form und die narrative Struktur eines Gedichtzyklus inkorporiert werden.98 Im Folgenden wird es darum gehen, diesem mythischen Denken Heines nachzuspüren. Es sollen also nicht mythologische Versatzstücke im Romanzero aufgedeckt, es soll das Wesen von Heines mythischem Denken und Schreiben erforscht werden. Dazu bedarf es zunächst eines genaueren Verständnisses davon, was mythisches Denken überhaupt ist, denn dieses wird einen Schlüssel zum Verständnis des Romanzero liefern. Die Heine-Forschung hat sich dabei bisher fast ausschließlich auf ‚mythische Phänomene‘ in Heines Werk konzentriert. Beispielhaft lässt sich dies an Markus Küppers’ Dissertation Heinrich Heines Arbeit am Mythos feststellen, der in Heines Rekurs auf mythische Denkmuster und Figurationen […] stets reflexiv-bewußte Tradition eines tradierten Bestandes, nie ‚mythisches Denken‘, das kollektive Gültigkeit beanspruchen könnte oder wollte – auch nicht im Sinne einer aufgeklärten ‚Neuen Mythologie‘,99

sieht. Dieses Ergebnis überrascht allerdings weniger, zieht man in Betracht, dass Küppers den Mythos beinahe ausschließlich an Blumenberg orientiert und ihn nicht als ‚Denkform‘ begreift.100 Küppers erkennt zwar eine „episodische Struktur“ in Heines Schreiben, „als eine säkularisierte Form mythischen Erzählens: Mythen sind die Geschichten, deren erzählerisches Programm die Deutung der vorfindlichen, empirischen Wahrheit der Welt auf unsere eigene, menschliche Existenz hin ist“.101 In diesem Sinne lassen sich auch die drei oben vorgestellten Schriften deuten. Die relative Verknappung der mythischen Theorie auf Hans Blumenberg und Odo Marquard führt jedoch dazu, dass eben nicht einem mythischen Denken nachgespürt wird, sondern Heines „Suche nach außerweltlichen Instanzen, nach ‚Göttern‘, die den diesseitigen Glücksanspruch des Menschen legitimieren können und zugleich Sinnpotentiale eröffnen, die es ihm erlauben, sein Leben als ein gelingendes und wertvolles zu erfahren“102 , sowie Heines „Versuch, die persönliche Biographie hinter mythischen Masken zu gestalten“.103 Letztendlich möchte Küppers Heines ‚Arbeit 97

Holub 1991, S. 325–326. Für diese Formen und Muster s. ausführlich Abschn. 1.2.2. 99 Küppers 1994, S. 310. 100 Vgl. hierzu auch die Kritik Winklers an Küppers, in: Winkler 1995, S. 3–4. 101 Küppers 1994, S. 5. 102 Küppers 1994, S. 10. 103 Küppers 1994, S. 11. 98

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am Mythos‘ als Möglichkeit verstanden wissen, Heine eine Rückkehr zum „persönlichen Gott“ zu ermöglichen, „die theologische Revision“.104 Heines Arbeit mit dem Mythos oder, genauer, mit mythischen Strukturen, macht aber an dieser Stelle nicht Halt. Wichtige Vorarbeit auf diesem Forschungsfeld hat Markus Winkler geleistet, der aufzeigt, dass Heine sich mythisches Denken zu eigen macht, um das Problemfeld zwischen Mythos und Moderne besser zu verstehen. Dabei entfernt er sich bewusst von der Analyse bloß mythologischer Inhalte in Heines Werk: Der Wandel in Heines Auseinandersetzung mit Mythos und Mythologie ist noch nicht erkannt worden, weil man bislang verkannt hat, daß diese Auseinandersetzung weniger bestimmten mythologischen Inhalten als dem Weltbild gilt, das sich mit dem phänomenologischen Begriff des mythischen Denkens beschreiben lässt.105

Auch Winkler konzentriert sich in weiten Teilen auf Götterfigurationen, wobei er vor allem auf den Aspekt der kulturellen Fremdheit eingeht. In der von Heine dabei vorgenommenen „Verschränkung des Fremden mit dem Vertrauten“ liest Winkler ein „emanzipatorisches Moment, insofern als nicht mehr das eine das andere verdrängt oder beherrscht und beide verschieden bleiben“.106 Wenn nach Küppers Heine die Mythologie letztendlich nur benutzt, um die Göttlichkeit menschlichen Lebens107 zu betonen, dann scheint dies einen maßgeblichen Aspekt in Heines Auseinandersetzung mit dem Mythos nicht in den Blick zu nehmen. Es vernachlässigt Heines Übernahme des mythischen Denkens, die sich im ganz besonderen Maße im Romanzero ausdrückt.108 Allen hier angeführten Beispielen ist nämlich gemein, dass Heine dabei mit mythologischen Topoi und mythologischen Figuren arbeitet, allerdings kaum Strukturen mythischen Denkens nutzt. Das ändert sich im Romanzero. Was unter mythischem Denken zu verstehen ist und welche Aspekte für Heine dabei eine besondere Rolle spielen, gilt es im Folgenden aufzuzeigen.

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Küppers 1994, S. 310. Winkler 1995, S. 18. 106 Winkler 1995, S. 277. 107 Küppers 1994, S. 68: „Seine [Heines, PR] Mythologie ist zuletzt Anthropologie: es geht ihm um die ‚Göttlichkeit‘ menschlichen Lebens.“ 108 Winklers Entgegnung auf Küppers schlägt in eine ähnliche Kerbe, er hebt dazu jedoch noch besonders auf die Erfahrung kultureller Fremdheit in Heines Werk ab, deren Analyse seine Studie gewidmet ist: „Dagegen muß, wie im folgenden zu zeigen ist, zweierlei geltend gemacht werden: erstens der Widerstand, den bei Heine das mythische als fremdes Denken gegen seine Allegorese leistet, und die daraus resultierende Widersprüchlichkeit von Heines Umgang mit Mythos und Mythologie; zweitens Heines Mimesis des mythischen Denkens und die sich darin abzeichnende Affinität zwischen seiner Schreibweise und Denkform.“ (Winkler 1995, S. 99) 105

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken

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1.2.2 Mythisches Denken bei Heine Wenn es also nun nicht darum geht, Variationen von Mythen zu erzählen oder unter Bezugnahme auf bekannte mythologische Inhalte ‚neue‘ Mythen zu schaffen, worum geht es dann? Es geht darum, dass mithilfe eines mythischen Denkens, mithilfe von Tiefenstrukturen, die dem Mythos zugrunde liegen, die Welt, wie sie sich uns darstellt, geordnet und bewertet werden soll. Literatur, die sich also nicht nur mythologischer Topoi bedient, sondern Strukturen und Muster des mythischen Denkens selbst übernimmt, kann in diesem Sinne mythisch genannt werden. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass eine solche Literatur sich nicht zusätzlich bekannter Mythologien bedienen kann (etwa der Griechischen, der Germanischen oder des reichhaltigen Fundus der biblischen Erzählungen)109 – es stellt für sie aber lediglich eine Option dar. Letztendlich geht es um etwas anderes, um nicht zu sagen um mehr: Wer mythische Denkstrukturen auch losgelöst von mythologischen Topoi benutzt, der unterstreicht das Bestreben, Aussagen über die Verfasstheit der Welt als Ganzes und die Stellung des Menschen in der Welt zu treffen. Die Verwendung eines aus den Anfängen der Menschheitsgeschichte stammenden Mittels zur Sinnstiftung geht mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit einher. Nun ist bereits der Begriff des Mythos von einer Vagheit geprägt, der sich jede Auseinandersetzung mit ihm stellen muss.110 Der Mythos, und mit ihm das mythische Denken, entzieht sich einer genauen Definition, er liegt gleichsam auf dem blinden Fleck des Logos, dessen nicht explikativer Ursprung er ist: „Daß der Mythos als Ursprung des Logos verstanden wurde, hat neben dem historischen einen anderen, in der Sache liegenden Grund. Er besteht darin, daß der Mythos selber als Ursprungsdenken par excellence gilt.“111 Den Ursprung, den unbewegten Beweger des Logos, nun ins grelle Licht der begrifflichen Trennschärfe zerren zu wollen, scheint dabei ein geradezu mantisches Unterfangen und als solches höchstens situativ und nicht dauerhaft zu erreichen.112 Für meine Arbeit verwende ich deshalb einen ‚heuristischen‘ Begriff des mythischen Denkens, der mir für die Analyse des Romanzero fruchtbar erscheint. Heuristisch in dem Sinne, als eine vollständige Beschreibung des mythischen Denkens ein 109

Heines Bibelfaszination bezeugt etwa folgende Stelle aus Ludwig Börne. Eine Denkschrift: „Welch ein Buch! groß und weit wie die Welt, wurzelnd in die Abgründe der Schöpfung und hinaufragend in die blauen Geheimnisse des Himmels … Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Verheißung und Erfüllung, Geburt und Tod, das ganze Drama der Menschheit, Alles ist in diesem Buche … Es ist das Buch der Bücher, Biblia.“ (DHA 11, 38) 110 Vgl. hierzu auch den Beitrag „Mythos“ von Aleida und Jan Assmann im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, der unter der Voraussetzung „[f]ruchtbarer als die Definition eines notwendigerweise immer zu engen Mythos-Begriffs erscheint die Unterscheidung mehrerer Mythos-Begriffe“ gleich sieben verschiedene Mythos-Begriffe anbietet – und sich damit gleich in die Anzahl von Mythen einschreibt, in denen die Zahl sieben eine ‚besondere‘ Zahl ist. (Aleida und Jan Assmann 1998, S. 179) 111 Angehrn 1996, S. 26. 112 Der Mensch verspürt eine geradezu romantische Sehnsucht danach, das Nichterklärbare (bzw. im Zeitalter der Naturwissenschaft das Noch-Nichterklärbare) zu deuten. Vgl. Hogrebe 1992, S. 26.

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aussichtsloses Vorhaben darstellt, weshalb aus einer Anzahl von für das Vorhaben geeigneten Mythostheorien und -konzeptionen solche miteinander verbunden werden, die ein tragfähiges Konzept mythostheoretischer Vorüberlegungen zu etablieren imstande sind. Nicht umsonst erinnert dies an den von Claude Lévi-Strauss eingeführten Begriff der ‚bricolage‘.113 Lévi-Strauss entlehnt diesen Begriff einer bestimmten Form des mythischen Denkens, dem ‚wilden Denken‘. Altes mythisches Material, das keinen konkreten Nutzen mehr für das Zusammenleben der Gruppe114 aufweist, wird in dieser Art der „intellektuellen Bastelei“ aus den „ursprünglichen Zusammenhängen“ herausgenommen und „durch einfallsreiche Kombination einer neuen Intention dienstbar“ gemacht.115 Wichtig scheint mir an dieser Stelle, dass es hier nicht um ‚zufälliges‘ Entstehen von Mythen geht, sondern die „einfallsreiche Kombination“ einen intellektuellen Prozess voraussetzt. Die im folgenden vorgestellten Mythostheorien sind also bewusst gewählt. „Myth is an objectification of man’s social experience“116 , so schon Ernst Cassirer in seiner 1946 erschienenen Studie The Myth of the State. Das heißt, auch mythisches Denken und Dichten kann verstanden werden als Objektivierung einer sozialen – und nicht nur individuellen – Erfahrung. Gemeint ist damit im Sinne Hans Blumenbergs die „Erfahrung lastender Unausweichlichkeiten und drückender Zwänge, zumindest aber die aus aktueller Zweckmäßigkeit nicht verstehbarer Handlungen“117 . Wenn diese Studie auch keine neue Definition des Mythos oder des mythischen Denkens anbieten, oder auch nur eine bereits gegebene als die ‚richtige‘ benennen will, so ist doch eines sicher: Der Mythos macht die Welt erfahrbar, er schafft eine „Vertrautheit mit der Welt“, indem er „Namen für das Unbestimmte“ findet.118 Indem er also Namen für das Unbekannte erfindet und mit diesen Namen Geschichten erzählt, schafft er ein Weltvertrauen.119 Das narrative Moment des Mythos vertreibt das namenlose Entsetzen und erlaubt einen produktiven Umgang mit ihm: „Der Schrecken, der zur Sprache zurückgefunden hat, ist schon ausgestanden.“120 Die Gewissheit, mit dem Schrecklichen eine Welt zu teilen, ist dabei ein erster Schritt zu dessen Überwindung. Die Personalisierung des Unbekannten sorgt für die Überführung der numinosen Unbestimmtheit in nominale Bestimmtheit. Als dergestalt Bestimmtes und Personalisiertes ist dem Menschen dieses einst Unbekannte nun wesensverwandt. Dadurch werden schicksalshafte und damit per se erratische Ereignisse in 113

Vgl. überblicksartig: Lévi-Strauss 1977, S. 29–36. In seiner Untersuchung bezieht sich Lévi-Strauss auf schriftlose Kulturen. 115 Stierle 1971, S. 457. 116 Cassirer 1946, S. 47. 117 Blumenberg 1971, S. 14. 118 Blumenberg 1984, S. 41. 119 Blumenberg 1984, S. 41. 120 Blumenberg 1984, S. 41. Dies ist ebenfalls ein konstitutives Moment für den Romanzero. Der Romanzero lädt nicht zum Eskapismus ein: er nennt die Schrecken der Welt beim Namen, setzt sie somit in einen größeren Zusammenhang und verleiht ihnen, wenn schon keine Sinnhaftigkeit, dann doch zumindest eine Struktur. 114

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken

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Handeln überführt. Und auch wenn dieses Handeln sich menschlicher Einflussnahme entzieht, so wird es damit zumindest deutbar und verständlich: „In einer mythischen Existenzform wird von jedem Ding geglaubt, daß es teilhat an derselben Welt wie der Mensch, wodurch die Welt vertraut und transparent wird.“121 Der Mensch macht sich das Unbekannte so zu eigen, überführt es in ein Koordinatensystem, das ihm nicht fremd ist. Sei es nun erschreckendes Geschehen, sei es „lastende[] Unausweichlichkeit“ oder seien es „drückende[] Zwänge“,122 immer ist der Mythos Reaktion auf allgemein, nicht nur individuell, erfahrenes Leid oder erfahrene Furcht. Dem mythisch denkenden Menschen gelingt es, seine Furcht zu organisieren, ihrer habhaft zu werden und das Leben dadurch erträglicher zu machen.123 Wichtig ist dabei, dass die Furcht als menschliches Grundgefühl nicht negiert wird. Der Mensch muss weiterhin mit ihr leben, aber ihm stehen nun Mittel zur Verfügung, seiner Furcht Ausdruck zu verleihen. Dies wiederum ist ein erster Schritt dahin, die Furcht, an deren Existenz der Mensch nichts ändern kann, zumindest zu beherrschen: Fear is a universal biological instinct. It can never be completely overcome or suppressed, but it can change its form. Myth is filled with the most violent emotions and the most frightful visions. But in myth man begins to learn a new and strange art: the art of expressing, and that means of organizing, his most deeply rooted instincts, his hopes and fears.124

Eine große, wenn nicht die größte, Furcht ist dabei die Furcht vor dem Tod. Das Problem des Todes fordert deshalb die ganze Kraft des Mythos: „This power of organization appears in its greatest strength when man is confronted with the greatest problem – that of death.“125 Hier verbindet sich zudem, wie sonst kaum, das Individuelle mit dem Allgemeinen. Der Tod macht die Menschen gleich. Indem er jeden Unterschied negiert und das je individuelle Leben in das immer gleiche Nichtsein überführt, kann der Tod als das eigentliche Skandalon der conditio humana gelten. Seine negierende Kraft ist allumfassend, sie betrifft das Menschenleben und alles in diesem Leben Geschaffene. Nicht umsonst bezeichnet Jan Assmann das Wissen um den Tod als „Urproblem der menschlichen Existenz“126 , das bereits in den frühesten Menschheitsmythen behandelt wird. Kultur, und damit auch Kunst und Literatur, 121

Dörr 2004, S. 14. Blumenberg 1971, S. 14. 123 Cassirer verweist dabei – durchaus im Sinne Lévi-Strauss’ – auf den handwerklichen Charakter des Mythos. Mythen kommen nicht von selbst in die Welt, die ‚bricolage‘ muss erschaffen werden: „Myth has always been described as the result of an unconscious activity and as a free product of imagination. But here we find myth made according to plan. The new political myths do not grow up freely; they are not wild fruits of an exuberant imagination. They are artificial things fabricated by very skilful and cunning artists.“ (Cassirer 1946, S. 282) Zwar spricht Cassirer in diesem Zusammenhang zunächst nur von den politischen Mythen des 20. Jahrhunderts, seine Ergebnisse lassen sich aber ohne Weiteres auf andere Mythen übertragen. 124 Cassirer 1946, S. 47–48. 125 Cassirer 1946, S. 48. 126 Assmann 2000, S. 16. 122

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entspringen diesem Wissen um den Tod, das deshalb als „Kulturgenerator ersten Ranges“127 betrachtet werden kann, an dem sich der menschliche Geist abarbeitet. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass der Tod offensichtlich eines der großen Themen nicht nur des gesamten Heineschen Œuvres, sondern im Besonderen des Romanzero ist. In der Bekämpfung der Furcht gibt das mythische Denken der Welt eine Ordnung. Was Georg Lukács in der Beschreibung des Verlustes der heimatlichen Qualitäten der modernen Welt als „transzendentale[] Obdachlosigkeit“128 des Menschen bezeichnet hat, kann genauso gelesen werden als die Erfahrung einer chaotischen Welt, die sich dem Verständnis des Menschen entzieht: „Das Erlebnis des Chaos ist Inbegriff der Verunsicherung, eine Urerfahrung von Angst; das Interesse an der festen Struktur, der geordneten Welt, in welcher der Mensch zu Hause sein kann, ist elementarster Ausdruck des Bedürfnisses nach Sicherheit und Identität.“129 Im Chaos aber kann der Mensch nicht leben.130 Der Mythos kann somit als „Herausgehen aus dem Chaos“131 verstanden werden. Im Ordnen des Chaos werden mindestens zwei Funktionen des Mythos deutlich. In seiner epistemischen Funktion erklärt der Mythos die Welt, in seiner anthropologischen macht er sie zugleich erträglich: „Der Mythos dient der Depotenzierung archaischer Ängste, indem er durch Benennung, Gliederung und Strukturierung die Wirklichkeit überschaubar und beherrschbar macht.“132 Ein Zweck des Mythos ist also das Erklären und Erdulden einer chaotischen Welt, er „ermöglicht Gliederung und Systematisierung, er gibt der Welt ein bestimmtes Profil; als verstehende Durchdingung ermöglicht er Orientierung.“133 Gerade in Krisenzeiten wird deshalb, wenig verwunderlich, das Bedürfnis nach Mythen in verstärktem Maße geweckt. Eine als revolutionär empfundene Zeit, die scheinbare Gewissheiten und Deutungsmuster außer Kraft setzt, verlangt nach neuen Mythen, die, wenn sie auch nichts an den äußeren Umständen ändern können, doch immerhin für die Gewissheit sorgen, dass die Gegenwart keinen unerträglichen Einzelfall darstellt.134 Auf das tröstende Potential, dem Leid, wenn es schon nicht aus der Welt geschafft werden kann, wenigstens einen Sinn zu geben, verweist auch Mircea Eliade: Welcher Natur es [das Leid/das Unglück, PR] auch war und worin der scheinbare Grund zu suchen war – sein Leid hatte einen Sinn; es entsprach, wenn schon nicht immer einem 127

Assmann 2000, S. 14. Lukács 1920, S. 23–24. 129 Angehrn 1996, S. 72. Eine ähnliche Definition des Chaos bietet Manfred Frank: „Das ‚Chaos‘ – ein Zustand der totalen Unartikuliertheit, in dem man in jedem Augenblick mit allem möglichen zu rechnen hätte – scheint also der unerträglichste aller Gedanken zu sein.“ (Frank 1982, S. 87) 130 Angehrn 1996, S. 202. 131 Angehrn 1996, S. 45. Dabei gilt für den Mythos stets, dass ein Rückfall ins Chaos jederzeit möglich bleibt, denn „[d]as zum Jenseits fixierte Chaos bleibt als Bedrohung erhalten, sei es, daß sich die Zerstörungsmächte nie zu Gänze niederhalten lassen, sei es, daß der periodische Durchgang durch die Auflösung als Bedingung der lebendigen Gestaltung selber erscheint.“ (Angehrn 1996, S. 178) 132 Angehrn 1996, S. 38. 133 Angehrn 1996, S. 37. 134 Zum zyklischen Moment des Mythischen s. u. in dieser Arbeit. 128

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken

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Prototyp, so doch wenigstens einer Ordnung, deren Wert nicht angezweifelt wurde. […] Wenn solche Leiden ertragen werden konnten, so gerade deswegen, weil sie nicht sinnlos und willkürlich erschienen.135

Das Bedürfnis nach mythischem Denken ist damit nicht bloß in der Frühzeit der Menschheit anzutreffen. Auch das moderne oder zeitgenössische Denken befriedigt nicht das Verlangen, das dem mythischen Denken entspringt und das es zu stillen versucht.136 Nicht vergessen werden darf an dieser Stelle, dass alle Strukturen, die das mythische Denken zweifellos schafft, bereits qua Herkunft ihren eigenen Untergang in sich tragen. Das Schaffen „strukturierte[r] Gesamtheiten“ vollzieht sich ja gerade, legt man Lévi-Strauss’ ‚bricolage‘-Begriff zugrunde, „nicht unmittelbar mit Hilfe anderer strukturierter Gesamtheiten, sondern durch Verwendung der Überreste von Ereignissen: ‚odds and ends‘“.137 Dies verweist bereits auf den in den folgenden Ausführungen beschriebenen zyklischen Charakter des mythischen Denkens. Für das mythische Denken charakteristisch ist dabei, dass die von ihm „bestimmte Wirklichkeit […] narrativ, durch traditionelle ‚Geschichten‘ strukturiert [ist]; durch Erzählen von Geschichten macht der Mythos die Rätselhaftigkeit der Welt erträglich“138 . Dieses narrative Moment teilt der Mythos mit der Geschichtsschreibung. Dass Auch Klio dichtet, mithin das Faktische (oder, in diesem Fall genauer: das für das faktisch Gehaltene) einen nicht bestreitbaren fiktionalen Charakter hat, ist spätestens seit Hayden Whites Tropics of Discourse bekannt.139 Die Sprache als narratives Moment hat hier weltordnenden Charakter, durch sie „bringt die narrative Erzählform Ordnung, Harmonie, Eintracht in die Welt“.140 So erzählt auch der Mythos, und er erzählt Geschichten. Mythisches Denken ist dann, mit Roland Barthes, 135

Eliade 1986, S. 108. Vgl. Winkler 1995, S. 20. 137 Lévi-Strauss 1977, S. 35. Vgl. hierzu auch bei Lévi-Strauss S. 34: Das mythische Denken arbeitet demzufolge „mit Analogien und Vergleichen, selbst wenn seine Schöpfungen, wie bei der Bastelei, sich immer auf ein neues Arrangement von Elementen zurückführen lassen, deren Natur nicht je nach dem, was sie im instrumentalen Ganzen oder in der Einordnung auf einen Zweck hin darstellen, verändert wird und die immer, bis auf die innere Disposition, das gleiche Objekt bilden: ‚Man könnte meinen, die mythologischen Welten seien dazu bestimmt, eingerissen zu werden, kaum daß sie sich gebildet haben, damit neue Welten aus ihren Fragmenten entstehen.‘“ 138 Winkler 1995, S. 19. – Neben Mythos und Geschichtsschreibung existiert noch (mindestens) Form der Weltbewältigung: die Philosophie. Auf sie soll an dieser Stelle nicht im Besonderen eingegangen werden, da sie in aller Regel nicht über das der Geschichtsschreibung und dem Mythos inhärente Moment der Narrativität verfügt. 139 Vgl. hierzu White 1978. Was White in Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses (so der Titel der deutschen Übersetzung aus dem Jahre 1991) über die Dichtung im Allgemeinen sagt, lässt sich in diesem Fall leicht auf den Mythos übertragen. Mythos und Historiographie bedienen sich hier allerdings lediglich desselben Mittels. Auf die unterschiedlichen Betrachtungsweisen der ‚Vergangenheit‘ macht schon Hans Blumenberg aufmerksam: „Die Vergangenheit selbst hat kein ‚Warum‘ mehr: sie ist das Warum der Dinge. Das eben unterscheidet die Zeitbetrachtung des Mythos von der Geschichte, daß für sie eine absolute Vergangenheit besteht, die als solche der weitergehenden Erklärung weder fähig nach bedürftig ist.“ (Blumenberg 1984, S. 178) 140 Carr 1997, S. 175. 136

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bildliches Denken, der Mythos „schafft die Komplexität der menschlichen Handlungen ab und leiht ihnen die Einfachheit der Essenzen“.141 Er ist, vereinfacht gesagt, ein Instrument der Komplexitätsreduktion. Mythisches Denken „bedeutet Reduktion von Kontingenz und Komplexität durch die Zuschreibung von Relevanz sowie durch kausale und finale Verknüpfung.“142 So erlaubt der Mythos durch seine besonderen narrativen Mittel den gefahrlosen Umgang mit ansonsten kontingenten Systemen, die den schutzlosen Menschen andernfalls sowohl epistemisch als auch physisch überfordern würden. Die Bedeutung der Sprache kann, wie schon Lévi-Strauss feststellt, kaum überschätzt werden: „Das mythische Denken errichtet strukturierte Gesamtheiten mittels einer strukturierten Gesamtheit, nämlich der Sprache; aber es bemächtigt sich nicht der Struktur der Sprache; es errichtet seine ideologischen Gebäude aus dem Schutt eines vergangenen gesellschaftlichen Diskurses.“143 Die narrative Grundstruktur seiner Erzählweise verbindet den Mythos mit der Historiographie. Im Unterschied zur historisch gedeuteten Geschichte jedoch besitzt mythisch gedeutete Geschichte neben der erzählten Abfolge von Ereignissen noch eine Tiefenstruktur, indem sie dem Geschehen eine inhärente Notwendigkeit zuschreibt. Volker C. Dörr bezeichnet ein ähnliches Phänomen in Bezug auf die deutsche Nachkriegsliteratur als ‚Mythomimesis‘. Mythisches Erzählen kann dabei „Geschichte mit einer Tiefenstruktur auszustatten, die ihrerseits zum Sinne des Weltlaufs aufgeladen wird.“144 Mythisches Denken will also nicht nur (tatsächlich geschehene oder nicht geschehene) Ereignisse aufzählen und objektivistisch erläutern, welche Voraussetzungen oder Umstände zu bestimmten historischen Ereignissen oder Situationen geführt haben. Es will mehr: Es versucht, Sinn zu verleihen.145 Ereignisse, von denen Mythen zu berichten wissen, geschehen eben nicht zufällig, sie müssen geschehen, ihnen ist eine Notwendigkeit inhärent. So ist das Erzählen im Mythos auch nicht zwangsläufig an Abfolgen gebunden, die in gerader Linie fortlaufen. Das mythische Denken weist oftmals keine lineare Zeitstruktur auf, es ist ein vielen, wenn auch nicht allen, Fällen von einer zyklischen Vorstellung der Zeit geprägt: Generell hat man den Mythos durch die Dominanz des zyklischen Zeitverständnisses charakterisiert und ihn damit vom Geschichtsdenken abgehoben, das eine lineare, in die Zukunft hinein offene Zeit unterstellt. […] Auch der mythische Mensch lebt in seinem Tun, seinen Verpflichtungen und Entwürfen zunächst im irreversiblen Nacheinander der Ereignisse, 141

Barthes 1964, S. 130–131. Dörr 2004, S. 42. 143 Lévi-Strauss 1977, S. 35. Ausführlicher zum sprachlichen Moment des Mythos s. Angehrn 1996, S. 32–33: „Auf der Ebene des Satzes und der Einzelbeschreibung, teils des Wortes, wird als Merkmal des Mythos etwa die figurativ-metaphorische Rede im Gegensatz zur natürlichen, ‚normalen‘ Sprachverwendung hervorgehoben; die Unterstellung einer nicht-wörtlichen Redeweise scheint sich bei dem Phantastischen mythischer Erdichtung geradezu aufzudrängen.“ 144 Dörr 2004, S. 22. 145 Dass auch die Geschichtsschreibung das „Unvertraute vertraut […] machen“ will, beschreibt schon Hayden White. Auch hier kommt es also zu einer strukturellen Ähnlichkeit zwischen Geschichtsschreibung und Kunst, der Mythos indes geht (s. o.) noch einen Schritt weiter. Vgl. White 1986, S. 106. 142

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken

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worin Vergangenes nicht mehr existiert und Zukünftiges noch nicht ist. Doch wird ihm die chronologische Sukzession nicht zu einem umfassenden Rahmen ausgeweitet, zu einer historischen Zeitfolge verfestigt, in welcher alles Geschehen seinen unverwechselbaren Ort hat […].146

Der Mythos benutzt solche zyklischen Zeitstrukturen, um in der Urzeit stattgefundene Handlungen zu wiederholen.147 Das mythische Denken zeichnet sich also dadurch aus, dass es nicht an eine lineare Abfolge von ‚historischen‘ Ereignissen gebunden ist; in ihm ist die Zeit nicht linear in Zeitabschnitte zerlegt. Im ‚mythischen Bewusstsein‘ besteht insofern nach Cassirer „verglichen mit der objektiv kosmischen und der objektiv historischen Zeit […] in der Tat eine Zeitlosigkeit“.148 Dies wiederum sei, so Schelling, Merkmal einer „schlechthin vorgeschichtliche[n] Zeit“, eine ihrer Natur nach untheilbare, absolut identische Zeit, die daher, welche Dauer man ihr zuschreibe, doch nur als Moment zu betrachten, d. h. als Zeit, in der das Ende wie der Anfang und der Anfang wie das Ende ist, eine Art von Ewigkeit, weil sie selbst nicht eine Folge von Zeiten, sondern nur eine Zeit ist, die nicht in sich eine wirkliche Zeit, sondern nur relativ gegen die ihr folgende zur Zeit (nämlich zur Vergangenheit) wird.149

Das kommt nicht zuletzt dem Dichter entgegen. Denn so muss er sich, um Sinn zu erzeugen, nicht an eine streng lineare Abfolge von historischen Begebenheiten halten. Betrachtet man das Werk Heines, ist dort schon vor dem Romanzero die sowohl theoretische als auch literarische Auseinandersetzung mit einer zyklischen Struktur der Zeit virulent, wenn auch noch nicht zur Reife gelangt. Bereits in Ideen. Das Buch Le Grand 150 , bei dem es sich um einen fiktionalen Reisebericht handelt, ist keine lineare Zeitabfolge erkennbar. Stattdessen „wirbelt der Erzähler Orte und Zeiten durcheinander, überspringt sogar Kontinente und Jahrtausende“151 und gibt so nicht zuletzt einen Vorgeschmack auf sein spätes lyrisches Werk wie den Romanzero. Nichtsdestoweniger wäre es falsch, der Ideenschrift aufgrund ihres ungezwungenen Umganges mit Ort und Zeit einen Mangel an Struktur vorzuwerfen. Im Gegenteil offenbart sich bei genauerer Betrachtung eine logische (in diesem Fall: triadische) Grundstruktur. Dabei rahmt die Erzählung von Liebesbeziehungen (Kap. I–V und XVI–XX) den Bericht über die Französische Revolution samt ihres Vollstreckers Napoleon (Kap. VI–X) sowie Abhandlungen über literarische Fragen und die Rolle des Schriftstellers (Kap. XI–XV) ein. Diese strukturelle Eigenart des Textes deutet 146

Angehrn 1996, S. 76–77. Vgl. Winkler 1995, S. 19: „Mythen dieser Art vermitteln eine zyklische Zeitauffassung und sind insofern dem neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis des in sich offenen Kontextes entgegengesetzt: Mit ihnen wiederholt das mythische Bewußtsein Handlungen, die in der Urzeit stattgefunden haben.“ Anzumerken ist dabei selbstverständlich, dass diese urzeitlichen ‚Handlungen‘ oft Fiktionen sind. – Vgl. auch Hübner 1994, S. 135: „So geht einerseits das Sterbliche seinen irreversiblen Gang, aber in mythischer Sicht wirken in ihm unveränderliche Urereignisfolgen samt dem ihnen eigentümlichen Rhythmus und Tempo.“ 148 Cassirer 1964, S. 131. 149 Schelling 1865, S. 182. 150 Erschienen 1827 im zweiten Teil der Reisebilder. 151 Höhn 2004, S. 211. 147

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auf eine bestimmte Auffassung von Geschichte hin, auf einen mythischen Kern in Heines Denken, der eine zyklische Zeitabfolge der linearen vorzieht. Weiteren Aufschluss über Heines eigene Ansicht zur Zeitlichkeit – und damit auch darüber, dass er die Möglichkeit einer zyklischen Weltzeit durchaus für nicht unwahrscheinlich hielt – gibt der wohl um 1833 entstandene und nie veröffentlichte geschichtsphilosophische Essay Verschiedenartige Geschichtsauffassung, der sich mit dem Geschichtsdenken seiner Zeit auseinandersetzt. Obgleich von außerordentlicher Kürze (in der Düsseldorfer Heine-Ausgabe nimmt er gerade zwei Seiten in Anspruch) und unverkennbar fragmentarisch geblieben, sollte seine Bedeutung nicht unterschätzt werden. Jürgen Ferner spricht von einem Wendepunkt in Heines Geschichtsdenken, da der Text das Bemühen illustriere, die in der Reisebilder-Prosa verstreuten und unvermittelt gebliebenen geschichtsphilosophischen Reflexionen zu bündeln und gegeneinander abzuwägen, mithin die problematisch gewordene und als solche ihn schon immer beschäftigende Frage nach der Geschichte selbst zum alleinigen Gegenstand der Reflexion zu erheben […].152

Heine eruiert in seiner Zeit zwei um Deutungshoheit ringende Geschichtsauffassungen. Die erste stellt Geschichte als ewige Wiederkehr des Gleichen dar, sie sieht „in allen irdischen Dingen nur einen trostlosen Kreislauf“ (DHA 10, 301). Das zweite Modell ist teleologischer Natur und zielt auf die Perfektionierung des Menschen. Pate für dieses Modell stehen sowohl Schiller als auch Hegel, dessen Name kaum genannt werden muss, wenn als Ziel die „idealische Staatsform“ ausgegeben wird, die „basirt auf Vernunftgründen, die Menschheit in letzter Instanz veredeln und beglücken soll“ (DHA 10, 301).153 An dieser Stelle erteilt Heine noch beiden Ansichten eine Absage. Die erste erscheint ihm trostlos, da sie sämtlichen menschlichen Handlungen den Sinn zu entziehen droht. Die Vertreter des Historismus verlieren sich beim Versuch, Geschichte möglichst objektiv darzustellen, in den Einzelheiten der Weltgeschichte. Heine aber geht es gerade nicht darum, aufzuzeigen, „‚wie es eigentlich gewesen‘, sondern ‚was eigentlich gewollt wurde‘, […] die Intention, dem Potential, dem Ziel. Vergangenheit und Gegenwart sind nur interpretierbar im Hinblick auf bestimmte Zielvorstellungen. Sie unterliegen einer kritischen Bewertung.“154 Eine solche kritische Bewertung sieht er die historische Schule nicht vornehmen155 , durch ihre Verabsolutierung der ‚historischen Fakten‘ lässt sie dem Heine so wichtigen „politischen Enthousiasmus“ (DHA 10, 301) keinen Platz, denn einem solchen Gedanken muss eine Idee vorausgehen. Ein Geschichtsbild nach den Vorstellungen Goethes,

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Ferner 1994, S. 207. Als weiterer Vertreter tritt Leopold von Ranke in Erscheinung, wenig schmeichelhaft in den „kleinen Windungen niedriger Ranken“ und als „rankende[r] Knecht“, der nicht einmal das Schwert, sondern nur den Knüppel Wert ist. (DHA 10, 301) 154 Zantop 1984, S. 53. 155 Auch wenn Ferner zu Recht darauf hinweist, dass es sich dabei um eine arg vereinfachte Betrachtung handelt. Vgl. Ferner 1994, S. 200–201. 153

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in dem allen eruptiven Kräften der gemächliche Schritt einer Evolution entgegensetzt wird, kann vor Heine nicht bestehen: Es ist stets verdächtig, dem restaurativen Preußen zu dienen. Die zweite Auffassung hingegen nimmt Heine zu wenig Rücksicht auf das Individuum. In einer streng zukunftsgerichteten Geschichtsauffassung sieht er die Gefahr, die Gegenwart zu verkennen und die zeitgenössischen Menschen lediglich als Mittel zu betrachten. Damit offenbart sich ein Grundton, der das gesamte Werk Heines durchzieht: „Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht. […] Das Leben will dieses Recht geltend machen […], und dieses Geltendmachen ist die Revoluzion.“ (DHA 10, 301)156 Heine macht nicht beim Anspruch des Einzelnen auf sein persönliches gutes Leben Halt, sondern überführt diesen Anspruch in die soziale Sphäre, wenn zu seiner Verwirklichung eine Revolution vonnöten ist. Auffallend ist hier wieder der subtil pessimistische Hintergrund. Das Leben „will“, es fordert, von der tatsächlichen Realisierung dieses Anspruches ist nicht die Rede. Der Text bleibt nebulös bei einem „Geltendmachen“ und auch das nur in Form einer Revolution, also einer Umwälzung, die ihrem Wesen nach zunächst chaotisch ist. Diese Grundhaltung wird sich im Spätwerk verfestigen. Dabei sticht hervor, dass Heine keine eigene Geschichtstheorie in Abgrenzung zu den beiden kritisierten aufstellt. Es geht ihm vielmehr darum, „gegen den Ausschließlichkeitsanspruch der Vergangenheitsschwärmer und der Zukunftsbeglücker, gegen die Einseitigkeiten ihrer Dicta“157 zu polemisieren. Auch praktiziert er nicht etwa eine völlige Abkehr von den beanstandeten Theorien. Im Gegenteil verwendet er nicht selten das Bild eines sich kreisförmig wiederholenden Geschichtsablaufs.158 Bemerkenswert ist aber die an dieser Stelle klar erkennbare Verwandtschaft des Dichters mit dem Historiker. Bereits im ersten Satz wird mit dem „Buch der Geschichte“ (DHA 10, 301) eine der Historie inhärente narrative Struktur angedeutet. Heine ist sich also des narrativen Charakters jeder Geschichtsschreibung bewusst. Zudem verweist die Beschreibung auf einen göttlichen Charakter der Geschichte, die zum Buch Gottes wird, das immer wieder aufs Neue ausgelegt werden muss.159 Wer aber ist es, der dieses Buch deuten soll, wenn Historiker und Poeten allein aufgrund ihres Indifferentismus der Revolution hinderlich scheinen? (DHA 10, 301) Heine selbst antwortet darauf an anderer Stelle: Es [das Volk] verlangt seine Geschichte aus der Hand des Dichters und nicht aus der Hand des Historikers. Es verlangt nicht den treuen Bericht nackter Thatsachen, sondern jene Thatsachen wieder aufgelöst in die ursprüngliche Poesie, woraus sie hervorgegangen.160

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Es wird zu zeigen sein, dass sich Heine zwar nicht von diesem Anspruch verabschiedet, wohl aber von der Hoffnung auf dessen Verwirklichung. 157 Koopmann 1972, S. 463. 158 Koopmann 1972. 159 Siehe hierzu Heine: Die romantische Schule, DHA 8.1, 154: „Sein [d.i. Gottes] heiliger Odem weht durch die Blätter der Geschichte, letztere ist das eigentliche Buch Gottes“. 160 Heine: Reise von München nach Genua, DHA 7.1, 28.

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Also doch der Dichter, und zwar dann, wenn er historiographisch tätig wird. Dazu befähigt ihn in besonderer Weise eine Sensibilität, die es ihm erlaubt, die „materiellen, gesellschaftspolitischen und geistigen Umstände, aus denen ‚Urweltsdreck‘ und Geschichte entstehen“161 , wahrzunehmen. Dem Dichter ist es zudem möglich, nicht allein vermeintliche historische Fakten aneinanderzureihen. Dies ist Aufgabe des Historikers, wie Schiller ihn etwa als ‚Brotgelehrten‘ verunglimpft: ein engstirniger und für kleines Publikum schreibender Chronist, dessen Werke für weite Kreise der Bevölkerung weder verständlich noch von Bedeutung sind.162 Der Dichter dagegen vermag bei Heine das, was Schiller dem philosophischen Kopf zuschreibt, nämlich über das Allgemeine zu reden, denn ihm sei die Fähigkeit eigen, vom „kleinsten Bruchstück der Erscheinungswelt“ auf den „ganzen universellen Zusammenhang“ zu schließen.163 Rainer Kolk verweist in diesem Zusammenhang auf die dem Dichter zukommenden und für die historische Darstellung wichtigen „divinatorischen Fähigkeiten“164 , die es ihm erlauben, Aussagen zu treffen und Wertungen vorzunehmen, die über das Nennen von Fakten hinausgehen. Der ‚Geschichtsschreiber‘, wie er Heine vorschwebt, will etwas anderes leisten als eine Chronik von Ereignissen abzuliefern. Er möchte stattdessen mit dichterischen Mitteln Wahrheiten vermitteln, die losgelöst von der Zeit gültig sind. Somit nähert er sich hier bereits mythischem Denken an. Eine wie auch immer geartete ‚objektive‘ Geschichtsschreibung sei ohnehin nicht möglich, schon weil Heine sich der Geworfenheit des Individuums in seine Zeit bewusst ist: „Ja, da der sogenannte objektive Geschichtschreiber doch immer sein Wort an die Gegenwart richtet, so schreibt er unwillkührlich im Geiste seiner eigenen Zeit, und dieser Zeitgeist wird in seinen Schriften sichtbar seyn“ (DHA 10, 14).165 Diese Subjektivität erklärt Heine sogleich zum Vorteil des dichtenden Schreibens über die Geschichte, denn [e]rst in der Reflexion auf die historisch bedingten Kurzsichtigkeiten der Chronisten und den Bruch zwischen ‚gestern‘ und ‚heute‘, der nur durch die ‚subjektive‘ Erinnerung

161

Calian 2005, S. 39. Siehe a.a.O. auch: „Diese [Sensibilität] muss verstehen, dass sich die Realität der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft vor allem durch beständige Diskontinuität und Paradoxien zu erkennen gibt.“. 162 Schiller kontrastiert in Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? bekanntermaßen den Brotgelehrtem mit dem philosophischen Kopf, der in der Lage ist, die Fülle des menschlichen Wissens in einen größeren Zusammenhang zu stellen: „Das Kleine selbst gewinnt Größe unter seiner schöpferischen Hand, da er dabey immer das Große im Auge hat, dem es dienet, wenn der Brodgelehrte in dem Großen selbst nur das Kleine sieht.“ Schiller 1789, S. 362–363. 163 Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen, DHA 10, S. 16. 164 Kolk 1998, S. 93. 165 Mit diesem Gedanken ist Heine erstaunlich nah an Lévi-Strauss, der den bricoleur ebenfalls nicht als willkürlichen Erfindender sieht. Nach dieser Auffassung unterhält der Gelehrte „sich niemals mit der reinen Natur […], sondern mit einem bestimmten Zustand der Beziehung zwischen der Natur und der Kultur, der definierbar ist nach der Geschichtsperiode, in der er lebt, der Zivilisation, der er angehört, und den materiellen Mitteln, über die er verfügt.“ (Lévi-Strauss 1977, S. 32)

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken

29

des Schreibers überbrückt werden kann, ergibt sich die Möglichkeit einer ‚objektiven‘ Darstellung.166

Eine zyklische Auffassung von Geschichte beinhalte zugleich das Element der Wiederholung, einer Wiederholung indes nicht selten unter leicht veränderten Vorzeichen. „Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas, Madame!“ (DHA 6, 200) lässt Heine den Erzähler der Ideenschrift Napoleons berühmten Ausspruch wiederholen: Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein kleiner Schritt. Und tatsächlich ist das Bild, das Heine von den Siegern über Napoleon zeichnet, lächerlich. Aber es ist mehr als das, es ist gleichzeitig eine Wiederholung des scheinbar Vergangenen in verhunzter Form: Sie haben’s alle dem großen Urpoeten abgesehen, der in seiner tausendaktigen Welttragödie den Humor aufs Höchste zu treiben weiß, wie wir es täglich sehen: – nach dem Abgang der Helden kommen die Clowns und Graziosos mit ihren Narrenkolben und Pritschen, nach den blutigen Revoluzionsscenen und Kaiseractionen, kommen wieder her angewatschelt die dicken Bourbonen mit ihren alten abgestandenen Späßchen und zartlegitimen Bonmots, und graziöse hüpft herbey die alte Noblesse mit ihrem verhungerten Lächeln, und hintendrein wallen die frommen Kaputzen mit Lichtern, Kreuzen und Kirchenfahnen; – sogar in das höchste Pathos der Welttragödie pflegen sich komische Züge einzuschleichen […] (DHA 6, 200).

Das nimmt nicht nur Nietzsches Vorstellung von der ewigen Wiederkehr des Gleichen vorweg: „Daß Alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: Gipfel der Betrachtung.“167 Nietzsches Weltkonzeption behauptet einen „ziellosen, weil anfangs- und endlosen Kreislauf einer bestimmten Menge von sich erhaltender Kraft. Die Welt hat weder Ursprung noch Ziel, denn sie ist nicht die Schöpfung eines willkürlichen Gottes, […] sondern in jedem Augenblick Anfang und Ende zugleich, ein beständiger Wandel des Gleichen.“168 Diese ewige Wiederkehr weist einen Aspekt des Spielerischen auf, insofern es sich um eine Regel handelt, „die aber das Zweckrationale und Eindeutige transzendiert“.169 Gegen einen spielerischen Charakter – und damit der Heineschen Auffassung der ewigen Wiederkehr näher – argumentieren Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung. 166

Zantop 1984, S. 54. Für eine Analyse des Essays, die das Augenmerk auf die Verarbeitung literarischer Tableaux legt und Heine als ‚modernen‘ Schriftsteller avant la lettre liest, s. Großklaus 2013, S. 167–206. 167 Nietzsche 1886/1887, S. 312. Bei Nietzsche ist eine sich immer wiederholende Zerstörung von (apollinischer) Ordnung durch das Dionysische geradezu notwendig: „Damit aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ägyptischer Steifigkeit und Kälte erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, der einzelnen Welle ihre Bahn und ihre Bereich vorzuschreiben, die Bewegung des ganzen Sees ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die hohe Flut des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig apollinische ‚Wille‘ das Hellenentum zu bannen suchte.“ (Nietzsche 1782, S. 70) – Der dionysische Rausch verhindert hier praktisch den Kältetod des Universums. 168 Löwith 1986, S. 93. 169 Röttges 1972, S. 243. – Dieser Gedanke ist kein neuer, sondern trat so schon in der Antike auf. Vgl. Röttges 1972, S. 241, Fußnote 26: „Die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen kann auch als Korrelat der berühmten Zenonschen Aporie vom Achill, der die Schildkröte nicht einholen kann, aufgefasst werden.“

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1 Stand der Forschung und Methodik

Die Wiederholung zementiert dort keine positiv konnotierten Gründungsereignisse prometheischer Emanzipationsmomente, sie bestätigt das Leid: Es ist ein grundlegend anderes Bild von der Ewigkeit des Immergleichen, das hier aufscheint: nicht als Befreiung vom Fluch des Vergehens, sondern als Ausdruck von Unfreiheit und Zwang. […] Die Wiederholung ist nicht mehr heilende Vereinigung mit dem Ursprung, sondern Erleiden einer Strafe.170

Zugleich klingt in diesem Argument, gerade auch durch den Bezug auf Napoleon Bonaparte, Karl Marx an, wenn dieser geschichtliche Ereignisse als Farce sich wiederholen sieht: „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“171 Die Geschichtsauffassung einer Wiederholung des Gleichen für den Romanzero postuliert auch Gerhard Höhn, setzt sie jedoch nicht in Verbindung zu einem mythisch konnotierten Denken, sondern betrachtet sie als Regress von Heines geschichtsphilosophischem Denken.172 Jedoch muss es sich dabei nicht zwangsläufig um einen Rückschritt handeln. Möglich erscheint auch eine Akzentverschiebung, die dazu dient, der Sinnlosigkeit der im Romanzero beschriebenen Begebenheiten auf formaler Ebene zu entgegenzutreten. Wenn die Wiederkehr nämlich als „transzendente Tiefenstruktur des geschichtlichen Raums“173 erscheint, dann ergibt die Geschichte selbst zwar noch immer keinen Sinn. Indem aber durch die Wiederholung jedes Ende zugleich ein Anfang ist, wird die Sinnlosigkeit durch den Umstand aufgefangen, dass es erst nach einem Durchgang durch die Geschichte zu einer Realisierung des Zusammenfalls von Ende und Anfang kommen kann. In der Rückschau also wird Geschichte zu einer Notwendigkeit und erhält aufgrund ihrer Struktur eine Art Sinn. Dieser Sinn hat aber nicht den Status einer ‚Absolutheit‘. Er ist vielmehr eine Art struktureller Sinnhaftigkeit, d. h. er bezieht seine Sinnhaftigkeit aus der ihn schaffenden Struktur, nicht aus den historischen Tatsachen selbst.174 Mythische Strukturen schreiben sich so ihren Sinn eigengesetzlich ein, Sinn schreibt sich selbst fest. Für Lévi-Strauss hat die Wiederholung darüber hinaus „eine Eigenfunktion, die die Struktur des Mythos manifest machen soll. […] Jeder Mythos besitzt also eine Blätterstruktur, die in und durch den Vorgang der Wiederholung an der Oberfläche durchscheint, wenn man so sagen darf.“175 Diese Blätterstruktur verweist auf ein weiteres Moment des Mythos, indem in ihr, um im Bild zu bleiben, manifeste Inhalte 170

Horkheimer/Adorno 1969, S. 77. Für einen ausführlichen Überblick darüber, wie Heine in Teilen die kritische Theorie vorwegnimmt, s. Goetschel 2019. 171 Marx 1852, S. 115. 172 Höhn 2002, S. 169–199, einschlägig: S. 177–181. 173 Dörr 2004, S. 22. 174 Vgl. Dörr 2004, S. 22. 175 Lévi-Strauss 1967, S. 253. An derselben Stelle spricht Lévi-Strauss von der „spiralenförmig[en]“ Entwicklung des Mythos – er hat also hier eine zyklische Struktur. – Der Aufsatz erschien zunächst unter dem Titel The Study of Myth im Journal of American Folklore Bd. 78, Nr. 270 (Okt./Dez. 1955), S. 428–444. Einige der hier aufgestellten Thesen nimmt Lévi-Strauss in Das wilde Denken wieder zurück.

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken

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des Mythos unter der Oberfläche der Erzählung durchscheinen, mithin keiner linearen Verbindung bedürfen. Eng verbunden mit der zyklischen Struktur des Mythos ist dessen Transzendenz nicht nur der Zeit, sondern auch des Raums. Der Mythos unterscheidet nicht nur weniger streng als die Historiographie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auch der Raum ist in ihm durchlässiger als die Geschichtsschreibung dies erlaubt. Das mythische Denken kann ‚springen‘, es ist nicht nur nicht gefangen im ‚Jetzt‘, es ist ebenso wenig gebunden an ein ‚Hier‘. Dabei geht es nicht um profane Räume, d. h. reale Orte, sondern um transzendente Räume. Sind beispielsweise im Christentum176 die Toten kategorisch von Lebenden getrennt, so treten sie im Mythos als „unmittelbarer Bestandteil des Lebens und der Wirklichkeit“ auf.177 Der mythische Raum ist nicht gekennzeichnet von geometrischen Punkten und Orten der physisch-realen Welt, sondern konstituiert sich über seinen Sinngehalt. Man hat es im Mythos nicht mit Orten und Stellen im Sinne unseres empirisch-physikalischen Raumes, noch mit Punkten und Richtungen im Sinne unseres geometrischen Raumes zu tun. Jeder Ort und jede Richtung ist vielmehr mit einer bestimmten mythischen Qualität behaftet und mit ihr gewissermaßen geladen. Ihr ganzer Gehalt, ihr Sinn, ihr spezifischer Unterschied hängt von dieser Qualität ab.178

Diese Losgelöstheit von einer planaren Bestimmbarkeit des mythischen Raumes erlaubt es dem mythischen Denken, den Raum zu transzendieren. Der Mythos muss nicht in raumzeitlichen Angaben denken. Dabei gilt für den Strukturraum des Mythos, dass sich in allen Teilbereichen die Struktur des Ganzen widerspiegelt. Der mythische Raum stellt keine kontinuierliche Punktmannigfaltigkeit dar, sondern setzt sich aus lauter diskreten Elementen zusammen.179 Eine weitere Eigenart des mythischen Denkens ist ein Rekurrieren auf das Subjekt. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, scheint es doch ausgemacht, dass zum „Kernbestand des klassischen Mythos“ zunächst einmal die „großen Genealogien – Kosmogonie, Theogonie, Anthropogonie, Weltaltermythos“ gehören.180 Gleichzeitig aber erzählt der Mythos Geschichten mit Protagonistinnen und Protagonisten, die in ihrer jeweils besonderen Geschichte als Individuen aufgefasst werden – wenn auch als Individuen181 , deren Taten und deren Schicksal sinnbildlich für menschliche Schicksale stehen.182 Ob diese Subjekte Vorbilder in historischen Personen haben 176

Bzw. in allen drei großen monotheistischen Religionen. Die Toten im Christentum „sind in diesem Sinne ein Nirgendwo, so daß kein Sterblicher, zumindest ohne göttliche Hilfe, je räumlich zu ihnen gelangen kann, obgleich ihre grobe Lokalisation im Oben und Unten gegeben ist.“ Hübner 2001, S. 107. 177 Hübner 2001, S. 107. 178 Cassirer 2006, S. 495. 179 Den sogenannten Témena. Vgl. hierzu und zum Raum- und Substanzbegriff des Mythos: Hübner 1985, S. 163–180. 180 Angehrn 1996, S. 40. 181 Vgl. auch Angehrn 1996, S. 33–34. 182 Damit ist keine fundamentale Verallgemeinerbarkeit des mythischen Subjekts insofern gemeint, als jeder Mensch mythisches Subjekt sein könnte. Die Subjekte des Mythos zeichnen sich ja gerade

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1 Stand der Forschung und Methodik

oder nicht, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Das mythische Erzählen erlaubt, im Gegensatz zum historischen Erzählen, weitere Deutungsmöglichkeiten. Eine historische Figur, von der mythisch erzählt wird, öffnet sich gleichsam nach hinten, ihre historische Besonderheit verquickt sich mit dem mythischen Allgemeinen. Ähnlich findet sich dies bereits bei Aristoteles, der ja gerade in ihrer Allgemeingültigkeit den Vorzug der Dichtung gegenüber der Geschichtsschreibung sah, und das, obwohl in der Tragödie durchaus historische Figuren wie Könige oder Philosophen auftreten.183 Wer mythisch erzählt, erzählt also Geschichten von Subjekten, es gilt: „Nicht abstrakte Größen, Naturgesetze, theoretische Begriffe, sondern handelnde und leidende Subjekte bilden die Referenzgrößen des Mythos.“184 Das mythische Subjekt findet sich dabei zweifellos in einer prekären Situation wieder, in einer Welt, deren Rätselhaftigkeit und Kontingenz es hilflos ausgeliefert ist. Es sieht sich im übertragenen Sinne dem Dilemma der universellen Geltung des dritten Newtonschen Gesetzes ausgesetzt; je stärker das Subjekt versucht, seinen Subjektcharakter zu affirmieren, desto mehr Widerstand erfährt es von der Welt: In ihrer Vertiefung offenbart die Affirmation des Subjekts zugleich ihre Brüchigkeit und Aporetik. Zu dieser Vertiefung gehört zum einen die Genese des individuellen Ich, das innerhalb des mythischen Bezugsrahmens, doch ohne göttliche Protektion und Absicherung und unabhängig vom tragenden Grund der Gemeinschaft sich seiner versichert […].185

Das Subjekt spielt in Heines mythischem Denken eine wichtige Rolle, wenn es sich auch, und das ist von eminenter Bedeutsamkeit, gegen die Wirklichkeit nicht behaupten kann. Wenn Heine bereits bei der Betrachtung der Zeit Marx’ Diktum von der Wiederholung der Ereignisse als Farce vorwegnahm, finden sich, wie zu sehen sein wird, in seiner Behandlung der Subjekte ebenfalls erstaunliche Parallelen zum marx’schen Denken: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.186

meist durch eine Auserwähltheit aus. Ihre Erfahrungen allerdings können sinnbildlich für allgemeine Erfahrungen stehen, die jeder Mensch erlebt. 183 Vgl. Aristoteles 2008, S. 14: „Bei der Tragödie dagegen [im Gegensatz zur Komödie, P.R.] hält man sich an die historischen Namen. Dies aber (nur) aus dem Grund, weil das Mögliche glaubwürdig ist, und wir bei dem, was nicht wirklich geschehen ist, noch nicht glauben, dass es möglich ist, während es bei dem, was geschehen ist, offensichtlich ist, dass es möglich ist. Denn es wäre nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre.“ Und weiter: „Auch wenn es sich also ergibt, dass er [der Dichter, P.R.] Geschehenes dichterisch behandelt, ist er trotzdem ein Dichter.“ 184 Angehrn 1996, S. 218. Vgl. auch Angehrn 1996, S. 325: „Im Horizont des Mythos findet die Affirmation des Subjekts mehrfachen Ausdruck.“ 185 Angehrn 1996, S. 327. 186 Marx 1852, S. 115.

1.2 Methodik: Mythos, Mythologie und mythisches Denken

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Zwar ist der Mensch bei Heine schöpfendes, ‚tätiges‘ Subjekt, das allerdings eben auch nicht immer aus freien Stücken. Freiheit wird sich bei Heine oft als die trügerische Wahl zwischen zwei Übeln erweisen. Hier besteht also bereits ein enger Bezug zur ersten Vorüberlegung, dem Leiden an einer chaotischen, ungerechten Welt, in der sich das Subjekt wiederfindet. Heine erzählt dabei nicht von der Emanzipation des Subjekts vom Mythos.187 Stattdessen firmiert die ‚Affirmation des Subjekts‘ bei Heine als eine Art Kippfigur. Heines mythische Subjekte können, gerade weil sie oft über eine ‚Grundierung‘ in der Realität verfügen, an beiden Welten, der mythischen wie der historischen bzw. realen, teilhaben. Dadurch ist es ihnen möglich, in die Zukunft zu verweisen, ohne jedoch ihren mythischen Charakter zu verlieren. Außerdem hat der Rekurs auf das Subjekt wieder einen stark ordnungsstiftenden Charakter, indem er den Rezipierenden ein Identifizierungsangebot liefert, mit dessen Hilfe sie ihre eigene Stellung in der Welt verorten können. Nach dieser kurzen Skizze einiger mythostheoretischer Vorüberlegungen lassen sich Grundüberlegungen formulieren, die als Prämissen gelten können, anhand derer sich das mythische Denken und Erzählen des Romanzero untersuchen lässt. Erstens ist das mythische Denken auf Ordnung gerichtet. Der Mensch sieht sich einer chaotischen Welt gegenüber, auf deren Undurchsichtigkeit er reagieren muss. Das weltliche Chaos überfordert nicht lediglich das epistemische Vermögen des Menschen, es bedeutet für ihn ganz konkret eine Gefahr für sein Leben. Der Mensch lebt in ständiger Angst vor Leid, Tod und Gewalt, was elementare Bausteine des mythischen Denkens sind. Der Mythos verhandelt deshalb immer wieder die Erfahrung von Gewalt, Leid und Tod als Grunderfahrungen des menschlichen Daseins. Das schafft sie zwar nicht aus der Welt, vermag aber zumindest die Angst vor ihnen zu nehmen. Zweitens weist das mythische Denken, im Gegensatz zum historischen Denken, eine zyklische Struktur auf. Bestimmte (Ur-)Handlungen im Mythos bedürfen ihrer steten Wiederholung, die narrative Grundstruktur des mythischen Erzählens ist keine lineare, keine fortschreitend auf ein Ende gerichtete, sondern eine zyklische. Drittens, und mit der zyklischen Struktur eng verbunden, transzendiert der Mythos Raum und Zeit. In ihm sind raumzeitliche Gefüge aufgelöst, was es ihm ermöglicht, seinen Impetus auf das Allgemeine zu richten. Das mythische Denken ‚spielt‘ gleichsam mit Raum und Zeit (auch in Abgrenzung zum historischen Denken). Zudem – und dies lässt sich bei allen drei Punkten beobachten – erzählt der Mythos auch von einzelnen Figuren, von Protagonistinnen oder Protagonisten, die sich handelnd mit der Welt auseinandersetzen. Es treten Subjekte auf, die sich dem Chaos des Daseins entgegenstellen, denen das Leid der Welt exemplarisch widerfährt. Dies kann als eine ‚Affirmation‘ des Subjekts bezeichnet werden, die zugleich als ‚Ausstiegsklausel‘ dient, da die auftretenden Subjekte oftmals Zwitterwesen sind, die in ihrer Bearbeitung im Romanzero zwar dezidiert mythischen Charakter haben, zugleich aber der realen Welt angehören, zumeist in dem Sinne, als es sich um historisch verbürgte Figuren handelt. 187

Wie dies etwa von der Literaturgeschichte immer wieder für Thomas Manns Josephroman behauptet wird.

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1 Stand der Forschung und Methodik

Anhand dieser Aspekte soll nun Heines letzter großer Lyrikzyklus eingehend analysiert werden. Dabei ist stets darauf zu achten, dass, wie Winkler feststellt, Voraussetzung der Dynamik von Heines mythischem Denken „ein kompliziertes Ineinander von Mimesis des Mythos und Mythoskritik, mythosartiger Rede und Rede über den Mythos“188 ist. Die Vorgehensweise folgt dabei nur in Teilen der Chronologie des Romanzero. Vielmehr orientiert sich die Argumentationsstruktur an den Mustern des mythischen Denkens, die sich im Romanzero offenbaren. Zunächst wird dargestellt, wie Heine das Bild einer chaotischen Welt zeichnet, in der das menschliche Leben durch Leid, Tod und Gewalt gekennzeichnet ist. Dabei wird deutlich werden, dass der Romanzero eine zyklische Struktur aufweist.189 Diese Struktur geht weit über die offenkundige triadische Einteilung des Werkes hinaus, sie setzt sich bis in den Mikrokosmos einzelner Gedichte fort. Zugleich lässt sich im Zuge dessen in den Texten des Romanzero immer wieder eine Disposition zur Transzendenz von Zeit und Raum feststellen. Auch wenn historische Figuren auftreten, so ist Heine nicht daran gelegen, Geschichte nachzuerzählen oder historische Umstände fabulierend zu illustrieren. Stattdessen will er universellen Wahrheiten, nicht selten Konstitutiven der allgemeinen Umstände des Menschseins, nachspüren. Die handelnden Subjekte treten dabei oft als Typen auf, die als Zwitterwesen erscheinen: Sie sind, zumal dann, wenn sie ein historisches Vorbild besitzen, Individuum, bleiben aber durch die mythische Erzählweise zugleich stets verallgemeinerbar, treten also über das Individuelle hinaus. Überträgt man diese Aspekte des mythischen Denkens auf den Romanzero, so wird deutlich werden, dass Heine in seinem letzten großen Gedichtzyklus mit Hilfe mythischer Denk- und Narrationsmuster zu einer umfassenden Weltdeutung gelangt, der in ihrer Drastik in seinem Œuvre singulärer Charakter zukommt.

1.3 Zur Vorgehensweise Die besondere Beschaffenheit des Romanzero als Gedichtzyklus,190 der mühelos die scheinbar unterschiedlichsten Sujets und Stoffe miteinander zu verbinden und in Beziehung zu setzen weiß, stellt besondere Ansprüche an jede Arbeit, die es sich zur Aufgabe macht, ihn zu untersuchen. Die Struktur dieser Arbeit soll deshalb in aller gebotenen Kürze an dieser Stelle erläutert werden. Wie zuvor festgestellt wurde, ist ein fundamentales Merkmal des 188

Winkler 1995, S. 60. Auf die Bedeutung dieser Struktur weist bereits Joachim Bark hin: „Der wichtigste Aspekt der Ordnungstätigkeit Heines war die nachträgliche Strukturierung des Gedichtmaterials.“ (Bark 1986, S. 88) Der Vergleich zum bricoleur Lévi-Strauss’scher Prägung drängt sich wieder auf, denn es waren nicht nur Gedichte, die Heine eigens für den Romanzero geschrieben hat, die Eingang in den Zyklus fanden. 190 Maßgeblich für diese Arbeit ist die Betrachtung des Romanzero als eigenständiger Zyklus. Auf die Noten und das Nachwort zum Romanzero wird deshalb nur am Rande eingegangen. 189

1.3 Zur Vorgehensweise

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mythischen Denkens dessen ordnungsstiftendes Moment, seine Fähigkeit zur Kontingenzbewältigung. Diesem Moment wird in Kap. 2 nachgespürt. Da der Aspekt der Ordnung den gesamten Romanzero durchzieht, wird er in grober chronologischer Reihenfolge – die ich mir erlaube da aufzubrechen, wo es sinnfällig ist – zunächst unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Weil Kontingenzbewältigung immer auch eng verbunden ist mit der subjektiven Erfahrung von Individuen, wird gemeinsam mit dem sinn- und ordnungsgebenden Moment auch der Aspekt untersucht, den ich mit Angehrn als ‚Affirmation des Subjekts‘ bezeichnet habe. Danach widmet sich Kap. 3 der zyklischen Struktur des Romanzero und Kap. 4 der Transzendenz von Raum und Zeit. Dabei wird sich herausstellen, dass einige Gedichte mehrere, oder gleich sämtliche, Aspekte des mythischen Denkens nutzen.

Kapitel 2

Strukturen der Ordnung im Romanzero

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien Heisa! Vor dem Tod beschützen Keine stolzen Eisenmützen Und das Heldenblut zerrinnt Und der schlechtre Mann gewinnt. (Valkyren, DHA 3.1, 21)

2.1.1 Die Ordnung der Sukzession Ordnung und Struktur sind wesentliche Rahmenbedingungen, die der Mensch benötigt, um sich in der Welt, die ihrem Wesen nach kontingent ist, zurechtzufinden. Die Welt verfügt über keine ihr originär eigene Struktur, es ist der Mensch, der die strukturgebenden Momente erst in die Welt bringt. Aus epistemologischer Perspektive können dies etwa für das menschliche Verstehen überhaupt so zentrale Phänomene wie Zeit und Raum sein.1 Doch auch das menschliche Zusammenleben im Sinne gesellschaftlicher Verhältnisse will strukturiert werden. Wichtige Mittel zur Strukturierung derartiger Verhältnisse sind dabei Regelungen, die der Übertragung von Machtverhältnissen dienen. Nur wenn der reibungslose Übergang von Herrschaftsund Machtstrukturen gewährleistet ist, lässt sich Ordnung aufrechterhalten. Somit wird Kontingenz vermieden, indem es zu einer Legitimierung von Machtansprüchen kommt. Dieses Phänomens nimmt sich auch das mythische Denken an, wenn es etwa dynastische Abfolgen regelt, um einen Zusammenhang zwischen Altem und Neuem herzustellen. Dabei gilt grundsätzlich im Mythos, dass das Ältere, das Ursprüngliche, Autorität über das Neue besitzt: „Daß Thronfolgen nach gültigen Gesetzen geschehen, ist 1

Aber auch scheinbar universell gültige Konzepte wie Naturgesetze zählen hierzu.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Ritzen, Heinrich Heines „Romanzero“, Heine-Studien, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66641-8_2

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

ebensosehr Geltungsbedingung von Herrschaft wie Gewähr dafür, daß sich ein umfassendes Ordnungsgefüge erhält – das Alte gründet und bindet das Neue zugleich.“2 Sukzessionsregeln schaffen also Ordnung, sie verbinden nicht nur das Alte mit dem Neuen, sie sorgen auch für einen geregelten Ablauf der Geschichte. Dabei gibt das Ältere seine ganze Erfahrung und Weisheit an die neue Generation weiter.3 Das Gedicht Rhampsenit verdient nicht allein aufgrund seiner exponierten Stellung als Eröffnungsgedicht des gesamten Romanzero besondere Beachtung. Zum einen lässt sich daran exemplarisch Heines Auffassung der Welt als einer, die von Ungerechtigkeit und Gewalt gekennzeichnet ist, nachzeichnen. Zum anderen verhandelt es ganz konkret Sukzessionsregeln, wenn König Rhampsenit am Ende einen neuen Thronfolger bestimmt. Gleich zu Beginn des Romanzero wird also etwas über die Tradierung von Machtstrukturen und deren Beschaffenheit ausgesagt. Rhampsenit hebt mit einem nachgerade homerischen Gelächter über den namensgebenden altägyptischen Herrscher an: Als der König Rhampsenit Eintrat in die goldne Halle Seiner Tochter, lachte diese, Lachten ihre Zofen alle. Auch die Schwarzen, die Eunuchen, Stimmten lachend ein, es lachten Selbst die Mumien, selbst die Sphynxe, Daß sie schier zu bersten dachten. […] So sprach lachend die Prinzessin Und sie tänzelt im Gemache, Und die Zofen und Eunuchen Hoben wieder ihre Lache. An demselben Tag ganz Memphis Lachte, selbst die Crokodile Reckten lachend ihre Häupter Aus dem schlammig gelben Nile […] (DHA 3.1, 11–12)

Das Lachen geht hier zwar nicht von den Göttern aus, ist aber ebenso allumfassend, wenn selbst Tote (Mumien), sagenhafte Gestalten (Sphynxe) und Tiere darin einstimmen. Und auch die Szenerie ist ähnlich: Dort lachen die griechischen Götter 2

Angehrn 1996, S. 64. Für Grundsätzliches zur Autorität des Älteren im Mythos s. ebd. S. 58–66. Heine selbst ist in den Memoiren (1854) ganz nah bei Angehrn, wenn es dort heißt: „Aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen.“ (DHA 15, 60) 3 Vgl. Angehrn 1996, S. 64: „Die Erfahrung, Einsicht und Weisheit, über welche das Alter verfügt, verleiht seiner Weisung Gewicht und Glaubwürdigkeit; die Dauerhaftigkeit ist gewissermaßen als solche eine Beglaubigung von Wahrheit und Wohlbegründetheit; die unausweichliche, je provisorische Geltung des Herkömmlichen, das Präjudiz des Früheren sind Hilfen in Entscheidungssituationen. Besondere Prägnanz aber erhält die Würdigung des Anfangs im Zusammenhang mit Herrschaft und Macht.“

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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über den gehörnten Hephaistos, der den Liebhaber seiner Ehefrau Aphrodite in actu mithilfe einer intrikaten Falle ans Bett gefesselt hat. Bei Heine hat das Lachen ebenfalls einen erotischen Unterton, denn die Falle, die der König dem Dieb gestellt hat, bestand darin, seine Tochter in der Schatzkammer schlafen zu lassen, wo es dann aber statt zur Ergreifung des Diebs zum sexuellen Akt kommt. Die Formulierungen der Prinzessin lassen dabei darauf schließen, dass dieser durchaus auf Gegenseitigkeit beruht, im Gegensatz zum Originaltext, wo der König seiner Tochter befiehlt, zur Ergreifung des Diebs in einem Bordell zu arbeiten. Einen Zauberschlüssel hat er, Der erschließet allerorten Jede Thüre, widerstehen Können nicht die stärksten Pforten. Ich bin keine starke Pforte Und ich hab’ nicht widerstanden, Schätzehütend diese Nacht Kam ein Schätzlein mir abhanden. (DHA 3.1, 11, V. 17–24)

An dieser Stelle lohnt ein Blick auf das Quellenmaterial des Gedichtes. Heine entnimmt die Figur des Rhampsenit den Historien des Herodot. Bei (im griechischen Original) Rhampsinitos handelt es sich um einen fiktiven altägyptischen Pharao, von dem Herodot zwei Geschichten zu erzählen weiß, von denen wiederum Heine die erste mit einigen Abwandlungen übernimmt. Eingeleitet werden die Erzählungen mit: „Nach Proteus wurde Rhampsinitos König, wie man berichtet. Er hinterließ die westliche Vorhalle vor dem Hephaistostempel zu seinem Andenken.“4 Bereits hier findet sich, mit dem Tempel des Hephaistos, der zumindest assoziative Verweis auf das Gelächter. Zwar ist Herodots Sage noch um einiges brutaler5 als Heines Variation, „neckisch heiter“6 , wie sie in zeitgenössischen Rezensionen beschrieben wurde, erscheint allerdings auch diese bei genauerer Betrachtung kaum. Alles Lachen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es mit einem geradezu skandalösen Geschehen zu tun hat. Unverkennbar wird durch die Inthronisierung eines Diebes „die Legitimierung des absolutistisch-monarchischen Prinzips in Frage gestellt“7 . Aber 4 Herodot: Historien, 2. Buch, Kap. 121, S. 154. Vgl. hierzu auch die erste der Noten zum Romanzero, in der Heine seine Quelle angibt (DHA 3.1, 173–175). 5 Dort wird deutlich, dass der Arm, den die Prinzessin in der Hand hält (V. 11–12) der abgetrennte Arm des Bruders des Diebes ist, den dieser, nachdem jener auf einem früheren Beutezug in der Schatzkammer des Königs in eine Falle getappt war, töten musste, um selbst nicht erkannt zu werden. 6 Vgl. DHA 3.2, 559. Vgl. auch Sakolowski 2006, S. 74: „Der Leser darf sich durch das allerorten im Romanzero erschallende Gelächter keinesfalls mehr als ‚Komplize des Autors‘ fühlen. Er wird nicht zu einem erleichterten Einstimmen gereizt, sondern aggressiv dadurch provoziert.“ 7 DHA 3.2, 561. Das Skandalon gewinnt noch dadurch an Schärfe, wenn man bedenkt, dass Geschwisterehen zwischen altägyptischen Herrschern die Regel waren. Das Einheiraten in die königliche Familie würde so nicht nur die politische Ordnung durcheinanderbringen, sondern auch die göttliche, nach der der Pharao direkter Nachfahre Gottes war.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

es handelt sich ja nicht nur um einen einfachen Dieb. Der künftige Herrscher Ägyptens ist außerdem ein Brudermörder, wie der deutliche Hinweis auf die Herodot’sche Sage verrät: Die Prinzessin sprach: Ich glaubte Schon den Schatzdieb zu erfassen, Der hat aber einen todten Arm in meiner Hand gelassen. (V. 9–12)

Durch den toten Arm wird eindeutig der antike Prätext aufgerufen, der Arm ist als solcher ansonsten gar nicht erklärbar. So allerdings offenbart sich eine Form von Gewalt und Brutalität in der ersten Historie, die der heitere Schein ihrer Anfangsstrophen zunächst noch zu verdecken mag.8 Genau dadurch, dass „Rhampsenit […] Wort gehalten“ (V. 69) hat, d. h. durch eine Handlung, die gemeinhin jedes menschliche Zusammenleben erst ermöglicht, nämlich das Einhalten von (auch mündlichen) Verträgen, setzt er einen Dieb und Mörder in die Königsfolge. Ganz zu Beginn des Romanzero wird zum ersten, aber längst nicht letzten Mal, durch ein Mittel zur Sinn- und Ordnungsstiftung, dem Festhalten an ein einmal gegebenes Versprechen, jeder Ordnung ein empfindlicher Stoß versetzt: Der Dieb und Mörder wird gerade zum legitimen Herrscher erklärt und ins Recht gesetzt. Das ordnungsstörende Moment wird zu Ordnung, wodurch es sein zerstörerisches Potenzial erst vollends ausschöpfen kann. Die Kennzeichen seiner Herrschaft – Er regierte wie die Andern, Schützte Handel und Talente; Wenig, heißt es, ward gestohlen Unter seinem Regimente. (DHA 3.1, 13)

– offenbaren dabei, dass seine Handlungen bereits in der vorherigen Ordnung selbst („wie die Andern“) angelegt waren. Weiterhin lässt die scheinbar heitere Wendung („wenig, heißt es, ward gestohlen“) einen durchaus anderen Schluss zu als die augenzwinkernde Bemerkung, dass sich „zur Vorbeugung von Missetaten […] am besten ein Ganove [eigne], denn er kennt sich im Metier aus“.9 An Lachen und Tänzeln (vgl. V. 26) wie unter der Regentschaft Rhampsenits ist nicht mehr zu denken, denn der neue König herrscht mit militärischer Strenge, im Text aufgerufen durch das der militärischen Begriffssphäre entstammende Lexem „Regimente“. Nicht nur beschreibt Rhampsenit also die Legitimierung von Mord und Diebstahl, es deutet im selben Zuge die Verschlechterung des Herrschaftssystems von einem, das den situationsabhängigen, in diesem Fall tatsächlich heiteren, Ausbruch aus der Ordnung annimmt und aushält, zu einem, das mit militärischer Härte regiert, an. Ein gelöstes Lachen über und mit einem solchen Herrscher ist kaum vorstellbar. Überdies fällt 8

„[A]ls Rätsel unverständlich […], solange man die Möglichkeit, dass es sich um allegorisches Bild handelt […] ausschließt“, wie Helmut Landwehr behauptet, muss der „todte Arm“ also mitnichten bleiben (Landwehr 2001, S. 178, FN 4). 9 DHA 3.2, 561.

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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auf, dass der Dieb, genau wie die Prinzessin, die mit ihm die Herrschaft übernimmt, namenlos bleibt. Dabei hafte gerade dem Namenlosen das eigentlich Schreckliche an, wie Hans Blumenberg in seinen Überlegungen zum Mythos ausführt: Archaisch ist die Furcht nicht so sehr vor dem, was noch unerkannt ist, sondern schon vor dem, was unbekannt ist. Als Unbekanntes ist es namenlos; als Namenloses kann es nicht beschworen oder angerufen oder magisch angegriffen werden. Entsetzen, für das es wenig Äquivalente in anderen Sprachen gibt, wird ‚namenlos‘ als höchste Stufe des Schreckens. Dann ist es die früheste und nicht unsolideste Form der Vertrautheit mit der Welt, Namen für das Unbestimmte zu finden. Erst dann und daraufhin läßt sich von ihm eine Geschichte erzählen.10

Gegen dieses Namenlose hilft das mythische Denken, indem es dem Unbekannten Namen verleiht, um ihm so den Schrecken zu nehmen. In Rhampsenit jedoch geschieht das genaue Gegenteil. Dem Namenlosen wird, formal legitimiert durch eine ‚ordentliche‘ Erbsukzession, die Herrschaft über die Ordnung anheimgestellt, es kommt also zu einer Restituierung des Schreckens mit den Mitteln der Ordnung. Wenn, wie Blumenberg feststellt, „[a]lles Weltvertrauen […] mit den Namen [anfängt], zu denen sich Geschichten erzählen lassen“11 , dann desavouiert schon die erste Historie aus dem alten Ägypten jede Art von Grundvertrauen in die Beschaffenheit der Welt. Das heitere Ägypten – in seiner bunten Schilderung schon zum Klischee verzerrt – macht bald den Weg frei für eine weitaus düsterere Herrschaft, die sich auch lexikalisch vom Anfang des Gedichts absetzt. In den ersten acht Strophen taucht das Lexem ‚lachen‘ acht mal in verschiedenen Flexionen auf. Mit dem Verlesen der königlichen Botschaft, die den Dieb schließlich ins Recht setzt, erstirbt auch das Lachen im Text: Ab diesem Zeitpunkt ist eine Entwicklung in Gang gesetzt, die so nicht mehr aufzuhalten ist und die Lachen und Heiterkeit keinen Platz mehr einräumt.12 Dass dies alles noch dazu im Eröffnungsgedicht des Romanzero stattfindet, zeigt bereits an, in welche Richtung sich der Rest des Zyklus bewegen wird. Zu einem sehr ähnlichen Schluss, wenn auch unter ganz anderen Prämissen, kommt die Historie Schelm von Bergen. Auch in ihr wird ein bekannter Stoff variiert, die Volkssage, die von der Herkunft des Namens des Adelsgeschlechtes der Schelme von Bergen erzählt, wobei die auffälligste Umwandlung darin besteht, dass Heine die Handlung vom hessischen Bergen in seine Geburtsstadt Düsseldorf verlegt.13 Zugleich beschreibt das Gedicht die Einrichtung einer Sukzessionsfolge, wenn mit 10

Blumenberg 1984, S. 41. Blumenberg 1984, S. 41. 12 Der Wandel wird durch weitere sprachliche Merkmale deutlich. Auch Diminutive wie „Schätzlein“ oder „tänzelt“ finden nur zu Beginn des Gedichts Verwendung, ebenso wie sämtliche Sagenfiguren (Mumien, Sphinxe, lachende Krokodile), die zum scheinbar heiteren Charakter des Gedichts beitragen. Am Ende ist von ihnen nichts mehr zu hören, die ‚Schreckensherrschaft‘ trägt ganz und gar realen Charakter. 13 Vgl. DHA 3.2, 581. Dort finden sich zudem Verweise auf weitere kleinere Variationen, die für die Analyse des Gedichts unter dem hier vertretenen Blickwinkel jedoch von untergeordneter Bedeutung sind. 11

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den Schelmen von Bergen ein neues Adelsgeschlecht begründet wird. Häufig findet sich eine politische Deutung des Schelms, etwa indem der Tanz als „Metapher für politische Vorgänge“ gedeutet wird und so zugleich „Ausdrucksmittel für eine ständig gleitende und entgleitende Wirklichkeit, die niemals ruhende Substanz […], sondern stets intensive […] sinnliche und geistige Bewegung“14 sei. Der Skandal, der den Mittelpunkt des Gedichts bildet, besteht darin, dass der Herzog, um die Entehrung seiner Gattin zu vermeiden, die normativen Bedingungen des Ritterstandes außer Acht lässt, indem er den betrügerischen Schelm in den Ritterstand erhebt und damit zugleich versucht, die Exklusivität des Adelsstands zu wahren.15 Der Herzog ist klug, er tilgte die Schmach Der Gattinn auf der Stelle. Er zog sein blankes Schwert und sprach: Knie vor mir nieder, Geselle! Mit diesem Schwertschlag mach ich dich Jetzt ehrlich und ritterzünftig, Und weil du ein Schelm, so nenne dich Herr Schelm von Bergen künftig. (DHA 3.1, 20, V. 41–48)

Es wird also ein Scharfrichter „aus banalem Kalkül in den Ritterstand erhoben, nur um die Ehre der Herzogin wiederherzustellen, die unwissentlich mit dem Unehrenhaften getanzt hat“.16 Wie schon in Rhampsenit steht auch hier vor dem Schrecken das Lachen. Die Szenerie ist zu Beginn ausgelassen, es wird der ortstypische Karneval gefeiert. Bereits das Motiv des Karnevals legt natürlich eine politische Deutung nahe, da in ihm zeitweise (!) die politischen Verhältnisse außer Kraft gesetzt oder ins Gegenteil verkehrt werden.17 Das Entscheidende des Karnevals besteht mithin gerade darin, dass er die temporäre Aufhebung von Ordnung in die ‚größere‘ übergeordnete Ordnung integriert. Wenn während der Feierlichkeiten eines der bekanntesten Vorgängern des Karneval, den römischen Saturnalien, bei einem Gelage temporär Herren und Sklaven die Rollen tauschten, so war allen Beteiligten klar, dass dieser Tausch nicht die eigentliche Ordnung veränderte.18 Ihre zeitliche Begrenzung war von Beginn an konstitutiver Bestandteil der Festivität. War diese vorüber, so kehrten alle Beteiligten in ihre ursprünglichen Rollen zurück. Gerade die Temporalität des Rollentausches verfestigte damit die eigentlichen Verhältnisse. Der geordnete Ausbruch 14

Von Wiese 1976, S. 97 bzw. S. 131. Das Motiv des Tanzes wird unter anderen Gesichtspunkten später noch einmal ausführlich aufgegriffen. 15 Was letztendlich doch nicht gelingt, vgl. hierzu etwa den Kommentar von Alberto Destro in DHA 3.2, 583: „Mit der Endgültigkeit des Aussterbens der Schelme von Bergen soll auch der Glaube an die Berechtigung des Adelsstolzes zu Grabe getragen werden.“ Siehe zur Exklusivität des Adelsstandes: Laufhütte 2008, S. 18. 16 Sittig 2011, S. 180. 17 Vgl. Landwehr 2001, S. 32. Vgl. zum Karnevalsmotiv auch Abels 1973, S. 105–107. 18 Für eine überblicksartige Darstellung zur Funktion und kulturellen Bedeutung des Karnevals s. Godet 2020.

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aus einer Ordnungsstruktur mit anschließender Rückkehr in diese Struktur dient damit letztendlich der Festigung der bestehenden Ordnung. Die Pointe bei Heines Bearbeitung besteht meines Erachtens nun aber darin, dass aus einer in die Ordnung integrierten Unordnung wie dem Karneval19 , aus dieser Art des kontrollierten Rausches, der ja nichts anderem als der Bestätigung der ursprünglichen Ordnung dient, auf einer Bedeutungsebene die übergeordnete Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse irreparabel geschädigt wird. Damit wird, nicht mehr ironischer-, vielmehr fatalerweise, genau das angestoßen, was eigentlich verhindert werden soll, nämlich eine wirkliche und dauerhafte Änderung der Verhältnisse. Dem Karneval wird seine eigene Maske vom Gesicht gerissen, der Schelm legt den Grund des Karnevals bloß und desavouiert ihn so. Die Stimmung ist zunächst dem Anlass entsprechend fröhlich, vor allem die Herzogin beteiligt sich eifrig am neckischen Treiben: Im Schloß zu Düsseldorf am Rhein Wird Mummenschanz gehalten Da flimmern die Kerzen, da rauscht die Musik Da tanzen die bunten Gestalten. Da tanzt die schöne Herzoginn, Sie lacht laut auf und beständig; Ihr Tänzer ist ein schlanker Fant, Gar höfisch und behendig. (V. 1–8)

Darüber hinaus quittiert die Herzogin insgesamt dreimal jeden Ausspruch des Schelms mit einem Lachen: „Die Herzoginn lacht“ (V. 23, 27 und 31). Im Gegensatz zum Dieb im Rhampsenit gibt sich der Henker hier zwar mehrmals überdeutlich zu erkennen: „Durchlauchtigste Frau, gebt Urlaub mir, / Mein Anblick bringt Schrecken und Grauen –“ (V. 24–25) sowie V. 30: „Der Nacht und dem Tode gehör’ ich –“, nur um jedes Mal von der lachenden Herzogin unterbrochen zu werden. Der Herzogin schreibt denn auch Helmut Landwehr eine „Schlüsselrolle“20 für den Handlungsverlauf zu, wenn er sie allegorisch als ‚Dichtung‘ liest und dem Text so eine metapoetische Wendung gibt: Alle drei Kennzeichen umkreisen die ‚Dichtung‘, die allegorisch als ‚Herzogin‘ den Akt der Demaskierung vollzieht, ohne freilich zu wissen, wer bzw. was sich unter der Maske, die sie gewaltsam entfernt, verbirgt. Reimt man sich also die Geschichte von unten lesend‘ neu ‚zusammen‘, dann stehen mit dem ‚Herzog‘ (als dem Repräsentanten des Volkes) und der ‚Herzogin‘ (als Personifikation, deren Signaturen Lachen, Schönheit und Tanz sind) Souverän und Dichtung Seite an Seite beim Vorgang der Revolution.21

Diese Interpretation besitzt zwar ihren ganz eigenen Reiz, scheint in letzter Konsequenz dem in der Tat revolutionären Charakter des Textes jedoch nicht gänzlich 19

Der ja bekanntlich in seiner rheinischen Variante des Sitzungskarnevals eine oft bis ins Detail normierte Form besitzt. 20 Landwehr 2001, S. 35. 21 Landwehr 2001, S. 36.

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gerecht zu werden. Die Herzogin weiß, wenn auch nicht genau mit wem, dann doch, mit was für einem Typen von Schelm sie es zu tun hat – er teilt sich ihr ja mehrmals unverhohlen mit. Sie setzt sich allerdings über seine Warnungen hinweg, sie will nicht wissen.22 Der umwälzende Impetus besteht nicht nur darin, dass ein Scharfrichter in den Adelsstand erhoben wird: So ward der Henker ein Edelmann Und Ahnherr der Schelme von Bergen Ein stolzes Geschlecht! es blühte am Rhein Jetzt schläft es in steinernen Särgen. (V. 49–52)

Dies allein könnte noch als bissiger Kommentar zur allgemeinen Verdorbenheit des Adelsstandes gelesen werden, in dem auch ein Henker problemlos ein Geschlecht ‚erblühen‘ lässt, der ‚Adel‘ mithin zur leeren Chiffre verkommen ist und jede moralischnormative Grundierung vermissen lässt. Eine genauere Analyse des titelgebenden Lexems ‚Schelm‘ jedoch fügt dem Text eine weitere Bedeutungsebene hinzu. Neben seiner heutigen Bezeichnung als ‚Spaßvogel‘ oder ‚Schalk‘, besaß Schelm im Spätmittelalter – und hierauf spielt Heine an – die Bedeutung ‚Henker‘ bzw. ‚Scharfrichter‘.23 Der Scharfrichter tritt so bereits im Titel in Erscheinung, die Scharade ist gar keine, seine Identität ist von Beginn an bekannt, sie steht dem Gedicht buchstäblich in großen Lettern voran.24 Das Deutsche Wörterbuch hält überdies noch ältere Bedeutungen bereit, von denen vor allem „schelm, als ansteckende, pestartige krankheit der menschen“25 einschlägig ist. Unter Zuhilfenahme dieser Bedeutung vergrößert sich Interpretationshorizont. Der Herzog macht dann, in einem vergeblichen Versuch, die aus den Fugen zu geraten drohende Ordnung wiederherzustellen, nicht bloß einen Scharfrichter, jemanden, der seinen Lebensunterhalt mit Töten verdient, zum Adligen. Sein Handeln hat weitreichende Konsequenzen, die noch hinausgehen über seine eigene gesellschaftliche Sphäre: Es institutionalisiert eine die Menschheit an sich bedrohende ‚Krankheit‘. Der Versuch einer Restituierung von Ordnung schlägt also, wie in Rhampsenit, fehl, die einzige Ordnung, die am Ende siegt, ist der bewegungslose Tod, verdeutlicht durch die „steinernen Särge[]“. Der Tod hat hier buchstäblich das letzte Wort, weshalb der Versuch, die Ballade lediglich als „Utopie von der Emanzipation der außerhalb der ‚normalen‘ Gesellschaft lebenden Menschen“26 zu lesen, gewagt erscheint. Sowohl Rhampsenit als auch Schelm von Bergen zeigen somit – im Gewand heiterer Romanzendichtungen – zweierlei: Der Zustand der Welt ist ein prekärer, sie droht stets in von Gewalt und Tod geprägtes Chaos zu kippen und der Versuch dieses

22

Vgl. für eine andere Sicht hierzu Sittig 2011. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854– 1961, Bd. 14, Sp. 2508 (im Folgenden: DWB). 24 Dies bestärkt außerdem die These, dass die Herzogin wissen kann, mit wem sie es in Wirklichkeit zu tun hat, es aber nicht wissen will. 25 DWB, Bd. 14, Sp. 2508. 26 Abels 1973, S. 110. 23

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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Kippen zu vermeiden, etwa durch die Regelung der Abfolge von Machtstrukturen, muss fehlgehen, bewirkt das Gegenteil, setzt das Chaos erst ins Recht. Ebenfalls um Erbfolgeregelungen geht es in König David. Vor der Betrachtung von Heines dichterischer Bearbeitung lohnt es, zunächst einen Blick auf seine Quelle zu werfen, das alttestamentarische Buch der Könige: Als nun die Zeit herbeikam, daß David sterben sollte, gebot er seinem Sohn Salomo und sprach: Ich gehe hin den Weg aller Welt; so sei getrost und sei ein Mann und warte des Dienstes des HERRN, deines Gottes, daß du wandelst in seinen Wegen und haltest seine Sitten, Gebote und Rechte und Zeugnisse, wie geschrieben steht im Gesetz Mose’s, auf daß du klug seist in allem, was du tust und wo du dich hin wendest; auf daß der HERR sein Wort erwecke, das er über mich geredet hat und gesagt: Werden deine Kinder ihre Wege behüten, daß sie vor mir treulich und von ganzem Herzen und von ganzer Seele wandeln, so soll dir nimmer gebrechen ein Mann auf dem Stuhl Israels. Auch weißt du wohl, was mir getan hat Joab, der Sohn der Zeruja, was er tat den zwei Feldhauptmännern Israels, Abner dem Sohn Ners, und Amasa, dem Sohn Jethers, die er erwürgt hat und vergoß Kriegsblut im Frieden und tat Kriegsblut an seinen Gürtel, der um seine Lenden war, und an seine Schuhe, die an seinen Füßen waren. Tue nach deiner Weisheit, daß du seine grauen Haare nicht mit Frieden hinunter in die Grube bringst.27

Bevor Heine allerdings seinen König David zu Salomo sprechen lässt, künden zwei Expositionsstrophen vom Zustand der Welt: Lächelnd scheidet der Despot, Denn er weiß, nach seinem Tod Wechselt Willkür nur die Hände, Und die Knechtschaft hat kein Ende. Armes Volk! wie Pferd’ und Farrn Bleibt es angeschirrt am Karrn, Und der Nacken wird gebrochen, Der sich nicht bequemt den Jochen. (DHA 3.1, 40, V. 1–8)

Der biblische David tritt hier nicht als weiser König auf, sondern als Despot, der stellvertretend für alle Herrscher steht. Jede Königsherrschaft wird als Willkür gekennzeichnet, also als eine solche, die frei von jeglichen Regeln oder Gesetzen ist. Eine derartige Herrschaft kann nur in Knechtschaft enden, einer Knechtschaft, unter der vor allem das „arme[] Volk“ (V. 5) zu leiden hat.28 Das Gedicht lässt keine Sympathie mit dem sterbenden König aufkommen,29 wenn dieser sich noch in seinen letzten Atemzügen an dem Wissen delektiert, dass die Willkürherrschaft, das Gegenteil jeder Ordnung, fortbestehen bleibt. Willkürherrschaft und Machtmissbrauch werden 27

1. Könige, 2, 1–6. Zu „Karrn“ (V. 5) und „Farrn“ (V. 6) siehe Margaret A. Rose, die darauf hinweist, dass Heine hier ein mosaisches Verbot verarbeitet hat, „indem er vom Volk als angeschirrte ‚Pferd’ und Farr’n‘ gesprochen hat. Ironischerweise hat er aber nicht vollständig zitiert und nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, daß er auf ein mosaisches Verbot anspielt, das in 5. Mose 22,10 heißt: ‚Du sollst nicht ackern zugleich mit einem Ochsen und Esel‘.“ (Rose 1976, S. 77) 29 Im Gegensatz etwa zum Königsbild in Schlachtfeld bey Hastings oder Carl I., vgl. Abschn. 2.1.2 und 2.1.3. 28

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eingesetzt als „das Signum eines jeden Herrschers, ein jedes Herrschaftssystem ist daher Despotie, impliziert Knechtschaft. Das gilt selbst für den angesehensten König der Juden – wie andere Herrscher denken und handeln, bedarf dann wohl keiner Erläuterung mehr.“30 Diese Charakterisierung Davids steht zugleich in krassem Gegensatz zum DavidBild des biblischen Prätextes. Dort gemahnt David seinen Nachfolger an die Einhaltung von Recht und Gesetz, denn nur dann soll ihm „nimmer gebrechen ein Mann auf dem Stuhl Israels“ – also genau das geschehen, was König David als das Los des Volkes beschreibt: „Und der Nacken wird gebrochen“ (V. 6). Auch die „leger und nonchalant daherkomm[enden]“31 Handlungsanweisungen Davids („Sterbend spricht zu Salomo / König David: A propos“ (V. 9–10)) unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von der Bibelerzählung. Dieser tapfre General Ist seit Jahren mir fatal, Doch ich wagte den Verhaßten Niemals ernstlich anzutasten. Du, mein Sohn, bist fromm und klug, Gottesfürchtig, stark genug, Und es wird dir leicht gelingen, Jenen Joab umzubringen. (V. 13–20)

Das Alte Testament begründet wenigstens den Wunsch Davids, Joab umbringen zu lassen. Er „vergoß Blut im Frieden und tat Kriegsblut an seinen Gürtel“. Der Tod Joabs kann hier als gerechtfertigte Strafe für begangenes Unrecht gelesen werden. Ein General, der zu Friedenszeiten tötet, widersetzt sich der Ordnung des Friedens und des Krieges, seine Bestrafung ist so Sühne für außer-ordentliches Verhalten. Davon kann in Heines Bearbeitung nicht die Rede sein. Zwar darf man von der Bibelfestigkeit des zeitgenössischen Publikums ausgehen, doch Heines David beschreibt Joab lediglich als „tapfer“, eine grundsätzlich positive Eigenschaft, die aber offenbar genügt, beim Despoten in Ungnade zu fallen. Bemerkenswert ist daraufhin die Charakterisierung des Königsohns Salomo, der als fromm, klug und stark beschrieben wird, aber auch als „[g]ottesfürchtig“ (V. 19). Versteckt in der Eusebie verbirgt sich der entscheidende Unterschied zwischen Joab und Salomo. Wo jener tapfer ist, ist dieser furchtsam – im Weltbild des Romanzero überrascht es da nicht, dass mit Joab der tapfere Mann getötet wird. Für den Weltenlauf kann dies nichts Gutes bedeuten, führt man sich die Bedeutung Salomos vor Augen. König Salomo, 30

Steinecke 1998, S. 181. Das negative Bild König Davids gewinnt noch an Schärfe, vergegenwärtigt man sich, dass im Neuen Testament durchaus eine Abstammungslinie zwischen David und Jesus insinuiert wird, ja dass „in der Familie Jesu die Tradition lebendig war, von David abzustammen“ (Hengel/Schwemer 2007, S. 293). In dieser Lesart bekommt in Heines König David der, nach christlichem Glauben, Erlöser der Menschheit einen Stammvater zugesellt, der sich am Leid der Menschen erfreut, er wird mithin ans Ende einer Reihe von Gewaltherrschern gestellt, von deren Erbe er sich nicht lösen kann. 31 Steinecke 1998, S. 180.

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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dessen Weisheit und Rechtsprechung sprichwörtlich geworden sind, beginnt seine Regentschaft mit dem Auftragsmord an einem tapferen General, der seinem Vorgänger ein Dorn im Auge war. Die Ursache hierfür bleibt unausgesprochen, sodass es sich möglicherweise lediglich um eine persönliche Kränkung (‚verhaßt‘) oder willkürliche Missgunst handelt. Dass ihm dies „leicht geling[t]“ zeigt nur, wie wenig doch ein Menschenleben im Kosmos der Historien wert ist. Selbst die salomonische Rechtsprechung gründet sich im Weltentwurf des Romanzero auf einen willkürlichen Akt der nackten Gewalt. In der Umformulierung einer bekannten Figur32 aus dem mythologischen Kosmos des Alten Testaments nimmt König David ihr gerade eine ihrer konstituierenden Eigenschaften, die Gerechtigkeit – und genau dadurch pflanzt sich die Ungerechtigkeit ungehindert in die nächsten Generationen fort. Von einer etwas anders gearteten Sukzession weiß das Gedicht Spanische Atriden zu berichten, wo hinter „der blutigen Geschichte einer spanischen Dynastie die eigene Familiengeschichte aufscheint“.33 Um Heines eigene Familiengeschichte samt ihren dynastischen Verzweigungen und (Erb-)Streitigkeiten soll es an dieser Stelle jedoch nicht gehen. Spanische Atriden ist den Lamentazionen, dem zweiten Buch des Romanzero, zugeordnet, doch bereits der Titel enthält, ganz in der Tradition der Historien, einen direkten Verweis auf den griechischen Mythos. Heine versetzt das Geschlecht der Atriden ins mittelalterliche Spanien. Damit überträgt er zugleich den Tantalidenfluch aus der mythischen Vorzeit ins zwar fiktionale, aber doch naturalistisch beschriebene, Mittelalter. Wieder also gelangt nichts auch nur irgendwie ‚Gutes‘ aus der Urzeit in die Zeit der Erzählung, Bestand hat das Schlechte, in diesem Fall der Fluch des Tantalos, dessen Nachkommen bis in die fünfte Generation Verursacher wie Opfer von Gewalt und Verbrechen werden müssen. Die Vermischung von historischem Mittelalter und antikem Mythos wird dafür gleich wieder gebrochen, wenn als Zeitpunkt der Romanze der 3. November 1383 angegeben wird, ein Zeitpunkt, zu dem der historische Heinrich II. von Trastámara bereits seit vier Jahren tot war.34 Am Hubertustag des Jahres Dreyzehnhundert drey und achtzig, Gab der König uns ein Gastmahl Zu Segovia im Schlosse. Hofgastmähler sind dieselben Ueberall, es gähnt dieselbe Souveraine Langeweile An der Tafel aller Fürsten. (DHA 3.1, 84, V. 1–8)

32

Bzw. zweier Figuren, rechnet man Salomo hinzu. Bark 1986, S. 95. Der Bezug zu Heines eigener Familiengeschichte soll an dieser Stelle jedoch nicht weiter erörtert werden. Siehe hierzu exemplarisch die Ausführungen Alberto Destros im kommentierenden Teil der Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA 3.2, 746–750). 34 Auf das Spiel mit der Zeitlichkeit wird in Kap. 4 noch ausführlicher eingegangen. 33

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Der angesprochene Hubertustag ist insofern von besonderer Bedeutung, als es sich beim heiligen Hubertus um den Schutzpatron der Jäger handelt.35 Dabei ist daran zu erinnern, dass bei der Jagd, im Gegensatz zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Menschen, das Opfer von vornherein feststeht. Helmut Landwehr verweist auf ein weiteres Detail im Zusammenhang mit dem Hubertustag. Dieser erinnere nämlich, zusammen mit „der Jahreszahl ‚Dreyzehnhundert drey und achtzig‘ [a]n den historischen Zeitraum, in dem die Lage der Juden sich ([…] unter Henrico Trastamare) kontinuierlich verschlechterte“.36 Schon die vermeintlich unscheinbaren ersten Verse des Gedichts setzen es damit in einen historisch belegten Zusammenhang von Willkür und Gewalt, denn die angesprochene Zeit sah tatsächlich eine eklatante Verschlechterung der Lebensverhältnisse für Juden in Sevilla, die sich oftmals in spontanen gewaltsamen Übergriffen äußerte.37 Neben dem Verweis auf den Atridenfluch im Titel unterstreicht so auch der erste Vers von Spanische Atriden die Schicksalshaftigkeit des Berichteten, die, wie sich bald darauf herausstellt, an Grausamkeit kaum zu übertreffen ist.38 Don Pedro lässt aus Neid den ihm verhassten Don Fredrego ermorden, wieder ist es der bessere und schönere Mann, der dem brutalen und schlechten zum Opfer fällt: Das Verbrechen, das Don Pedro Nicht verzieh, das war sein Ruhm, Jener Ruhm, den Donna Fama Mit Entzücken ausposaunte. Auch verzieh ihm nicht Don Pedro Seiner Seele Hochgefühle Und die Wohlgestalt des Leibes, Die ein Abbild solcher Seele. 35

Das Motiv der Jagd findet sich auch in Waldeinsamkeit und wird an entsprechender Stelle ausführlicher behandelt. 36 Landwehr 2001, S. 201. Eine ähnlich versteckte Bezugnahme zur Vertreibung und Ermordung von Anhängerinnen und Anhängern des jüdischen Glaubens findet sich ebenfalls in der später untersuchen Historie König Richard. 37 Vgl. hierzu Landwehr 2001, S. 201–202. Für die historischen Verhältnisse zur damaligen Zeit s. Ben-Sasson 2007, S. 696–697: „Es war eine Verkettung von Umständen, die im Jahr 1390 eine eklatante Veränderung zum Schlechten für die Juden herbeiführte. Der König verstarb, und seine Nachfolge trat ein Minderjähriger an. Auch der Erzbischof von Sevilla starb in diesem Jahr, und die Leitung dieser kirchlichen Hochburg wurde einem extrem judenfeindlichen Mann übertragen, der sich schon seit 1378 durch seine Predigten aktiv an der Judenhetze beteiligt hatte. […] Von diesem Jahr 1391 an bis zu ihrer Vertreibung hundert Jahre danach lebten die Juden im christlichen Spanien unter dem unbarmherzigen Druck anhaltender entsetzlicher Verfolgungen. Die Massehysterie nährte sich nicht alles aus dem alten Groll auf die Juden, die offizielle Posten bekleideten und deren wirtschaftliche Position, sondern nun auch aus dem Neid auf die Neuchristen, die sogenannten Marranos – die Zwangskonvertiten, die in jeder Hinsicht die gleichen Rechte genossen wie die Christen, laufend rückten sie in neue Erwerbszweige und gesellschaftliche Positionen ein und entfachten damit den Zorn der ‚alten‘ Christen.“ 38 Für die von Heine benutzten Quellen, seine Abweichungen davon und zum historischen Hintergrund siehe DHA 3.2, 746–749.

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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Blühend blieb mir im Gedächtniß Diese schlanke Heldenblume; Nie vergeß ich dieses schöne Träumerische Jünglingsantlitz. (V. 45–56)

Auch die eigentliche Ermordung Don Fredregos kommt nicht ohne intratextuellen Bezug zu den Historien aus. Der ihn enthauptende Henker ruft natürlich Erinnerungen an den Schelm von Bergen wach39 , das Geschlecht der Schelme von Bergen hat sich also ins zweite Buch des Romanzero fortgepflanzt. Das nachfolgende Geschehen entgleitet vollends ins Fantastische oder gar Groteske, wenn der Hund Don Pedros dessen abgetrennten Kopf ergreift, um die versammelte Tischgemeinschaft zum Zeugen der grausamen Tat zu machen. Als das Ungethüm hereinsprang Mit dem Haupte Don Fredregos, Das er mit den Zähnen schleppte An den träufend blut’gen Haaren. Auf den leer gebliebnen Stuhl, Welcher seinem Herrn bestimmt war, Sprang der Hund und, wie ein Kläger, Hielt er uns das Haupt entgegen. (V. 165–172)

Wenn nun diese Untat Don Pedros auf den ersten Blick gesühnt scheint, weil Don Pedro selbst von Heinrich von Trastámara ermordet wird, so geschieht dies nur um den Preis noch größerer Grausamkeit, wie das Erzähler-Ich bald erfahren muss. Analog zum Atridenfluch müssen auch hier die Kinder für den Frevel ihres Vaters büßen. Der Blick in eine in einem Kreuzgang eingemauerte Zelle offenbart ein schreckliches Bild der Rache: Menschliche Gestalten zwo Saßen drin, zwey junge Knaben; Angefesselt bey den Beinen, Hockten sie auf fauler Streu. Kaum zwölfjährig schien der Eine, Wenig älter war der Andre; Die Gesichter schön und edel, Aber fahl und welk von Siechthum. 39

Der Vers „Dorten stand der rothe Meister“ (V. 138) assoziiert den Henker direkt mit seinem blutigen Handwerk, verweist aber außerdem auf den nicht minder blutrünstigen Oberpriester des Vitzliputzli aus dem Schlusszyklus Vitzliputzli der Historien. Vgl. hier einschlägig Vitzliputzli II, Vers 47–48, wo der Oberpriester beschrieben wird „[o]hne Haar an Kinn und Schädel; / Trägt ein Scharlach Kamisölchen.“ Oder Vitzliputzli III, Vers 73–74 „Rothjack’, Rothjack’, blut’ger Schlächter, / Hast geschlachtet viele Tausend“. Das Gedicht Vitzliputzli wird in Abschn. 2.1.6, in Abschn. 3.1 sowie in Abschn. 4.1 behandelt.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero Waren ganz zerlumpt, fast nackend Und die magern Leibchen trugen Wunde Spuren der Mißhandlung; Beide schüttelte das Fieber. (V. 209–219)

Dem siegreichen Henrico Trastamare genügt es nicht, seinen Bruder „[v]on der großen Last der Krone“ (V. 240) – und damit vom Leben – zu befreien. Der nicht mehr ironische, sondern schon zynische „Siegergroßmuth“ (V. 244) erstreckt sich auf seine Neffen, die bei, nicht weniger zynisch, „freye[r] Kost und Wohnung“ (V. 248) in einer Zelle vor sich hin vegetieren. Als wäre das nicht genug, sind sie dort der willkürlichen Gewalt des „Oberkoppelmeister[s]“ (V. 263) ausgesetzt, der seinerseits unter der Herrschaft seiner Frau steht, denn er „[i]st der unglücksel’ge Gatte / Jener sauren Citronella, […]“ Und sie keift so frech, daß oft Ihr Gemahl zur Peitsche greift – Und hierher eilt und die Hunde Und die armen Knaben züchtigt. (V. 269–276)

Ohnmacht führt zu Gewalt gegen andere. Damit nicht genug, die Gewalt setzt sich somit von Generation zu Generation fort, sie findet kein Ende und wird zur Grundstruktur der Familiengeschichte. Wenn der König dann schließlich befiehlt, seine Neffen nicht mehr zu behandeln „wie die Hunde“ (V. 280), wirkt das weniger wie ein Akt der Barmherzigkeit, sondern wie eine unbestimmte Drohung: Keiner fremden Miethlingsfaust Wird er ferner anvertrauen Ihre Zucht, die er hinführo Eigenhändig leiten will. Don Diego stockte plötzlich, Denn der Seneschall des Schlosses Kam zu uns und frug uns Höflich: ob wir wohlgespeist? – – (V. 281–288)

Das Schicksal der beiden Königskinder bleibt in der Schwebe, es verheißt ihnen nichts Gutes, im Gegenteil: Die scheinbar harmlose Frage, ob man wohl gespeist habe, lässt, zusammen mit den beiden vielsagenden Gedankenstrichen und dem Titel der Romanze, wieder an die Familiengeschichte der Atriden denken, die gleich mehrfach vom Frevel des Verzehrs der eigenen Kinder oder Neffen geprägt ist.40 Der Blick zurück ins Mythische sorgt also weniger für Sinngebung oder Trost, als vielmehr für noch mehr Grausamkeit. 40

So bereitete Tantalos, Stammvater der Tantaliden bzw. Atriden, den Göttern seinen jüngsten Sohn Pelops zum Mahl, was den Atridenfluch erst auslöste. Später tötete Atreus, König von Mykene und Enkel Tantalos, die Söhne seines Bruders Thyestes, um sie ihm als Mahl vorzusetzen. Vgl. hierzu auch Landwehr 2001, S. 200.

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

51

So siegt der noch Brutalere über den Brutaleren, so zeigt auch Spanische Atriden „konkret die Permanenz des Verhängnisses“41 , so bekräftigt sich noch einmal die aus König David wohlbekannte, sich perpetuierende Herrschaft der Willkür und des Machtmissbrauchs. Die Nachfolge und der Erhalt von Machstrukturen sind also unverkennbar Themen des Romanzero. Macht wird hier konsolidiert, die Abfolge von Herrschaft ist Regeln unterworfen – und bevor diese Regeln gebrochen werden, werden sie angepasst, um Neues (etwa im Rhampsenit oder Schelm von Bergen) zu legitimieren und in das Alte zu integrieren. Eine Betrachtung über diese strukturelle Ebene der Sukzession hinaus ergibt ein anderes Bild. Die Weitergabe von Macht wird dann gleichgesetzt mit der Weitergabe von Willkür- und Gewaltherrschaft, mit der Legitimation von Unrecht. Zwar gilt auch für den Mythos: „Die Autorität des Früheren, sofern sie nichts als die ist und in dieser Ursprünglichkeit ihren einzigen Legitimationsgrund hat, tendiert zur bloßen Macht.“42 Heine spitzt dies aber noch weiter zu. Es geht nicht um bloße Macht, es geht um die absolute Herrschaft des Schlechten. Die Struktur des mythischen Denkens wird zwar genutzt, eine Ordnung der Herrschaftsverhältnisse und damit der Welt wird zwar etabliert, diese Ordnung richtet sich aber gegen den Menschen. Sie führt gerade nicht zu einer Selbstvergewisserung des Menschen in der Welt, sondern stellt seine Existenz in Frage. Und selbst diese Ordnung des Schlechten ist nicht gewiss, sie wird ihrerseits immer wieder in Frage gestellt und ist der Willkür und dem Zufall ausgeliefert. Der Mensch kann sich also nicht einmal an etwas bestimmtes Schlechtes gewöhnen und sich damit einer Zuverlässigkeit des Schlechten gewiss sein.

2.1.2 Vom Schlachten der Schlachten – Die Ordnung des Krieges Werden Sukzessionsfolgen nicht dynastisch, sei es durch Befolgung bestehender Gesetze oder eben deren Beugung, geregelt, so existieren noch andere Möglichkeiten zu bestimmen, wie das entstandene Machtvakuum ausgefüllt werden soll: die bewaffnete Auseinandersetzung, der Krieg. Der Sieg auf dem Schlachtfeld wird dann entscheiden, wer letztlich Macht übernimmt, dem Chaos einer Schlacht soll, so die Hoffnung, ein dauerhafter Frieden, eine Ordnung, erwachsen. Die beiden Historien Valkyren (DHA 3.1, 21) und Schlachtfeld bey Hastings (DHA 3.1, 22–25) behandeln dabei dieselbe Thematik unter jeweils verschiedenen Blickwinkeln. In beiden Fällen bildet ein Schlachtfeld, auf dem kurz zuvor eine Auseinandersetzung stattgefunden hat, die Szenerie. In Valkyren offenbart sich bereits im Titel ein phantastisches Moment. Heine übernimmt dort die Walküren der nordischen Mythologie, die er, nach einer Exposition in der ersten Strophe, ein Lied singen lässt, das ganz allgemein etwas über die Verhältnisse der Welt aussagt: 41 42

Höhn 2004, S. 143. Angehrn 1996, S. 65.

52

2 Strukturen der Ordnung im Romanzero Fürsten hadern, Völker streiten, Jeder will die Macht erbeuten; Herrschaft ist das höchste Gut, Höchste Tugend ist der Muth. (V. 5–8)

Die beschriebene Welt befindet sich in einem Zustand des beständigen Krieges, das „höchste Gut“ tritt nurmehr gleichsam pervertiert in Erscheinung. Es ist nicht mehr die, im Begriff des höchsten Gutes anklingende, von Aristoteles entwickelte eudaimonistische Auffassung eines glückseligen Lebens oder eine Form der platonischen Idee des Guten: „Nicht das Leben ist das höchste Gut, sondern das gute Leben. ‚Gut‘ leben ist soviel wie ‚edel und gerecht‘.“43 Stets war das Ziel hier also eine moralische Lebensführung. Stattdessen identifiziert Valkyren als höchstes Gut die „Herrschaft“. Dass es sich hierbei nicht um einen Herrschaftsbegriff Weber’scher Prägung handelt, sondern eher Machiavelli Pate steht, verdeutlicht bereits die Schlachtenszenerie des Gedichts. Herrschaft findet ihre Legitimierung durch Gewalt, sie ist das Resultat blutiger Kämpfe, geführt von einem Fürsten, dem, „[w]enn es darauf ankommt, die Untertanen in Einigkeit und Gehorsam zu erhalten, […] der Vorwurf der Grausamkeit sehr gleichgültig sein“44 muss. Ein moralisches Gewicht oder eine moralische Legitimation trägt diese Art der Herrschaft nicht mehr. Im Gegenteil, sie wird „erbeutet“. Das betont nicht nur den Aspekt der Gewalt, es verweist außerdem auf die außermoralische Sphäre des Tierreichs.45 Und selbst wenn Moral ins Spiel kommt, wird sie in ihr Gegenteil verkehrt, wie gleich doppelt betont wird: Der Sieger ist nicht derjenige, der den Sieg verdient hat, sondern „der schlechtre Mann“ – der bessere Mann mag ein Held sein, aber er stirbt: Heisa! vor dem Tod beschützen Keine stolzen Eisenmützen, Und das Heldenblut zerrinnt Und der schlechtre Mann gewinnt. Lorbeerkränze, Siegesbogen! Morgen kommt er eingezogen, Der den Bessern überwand Und gewonnen Leut’ und Land. (V. 9–16)

Gleichzeitig weist „gewonnen“ noch einmal auf die chaotischen unplanbaren Verhältnisse nicht allein des Krieges, sondern der Welt als solcher hin. Denn das Lexem „gewinnen“ enthält auch ein Moment des Zufalls und des Glücks. Im Zusammenhang von Valkyren erscheint es so passend als Synthese von Gewalt und Zufall in einem einzigen Wort. 43

Platon: Kriton, 48b5 f. Niccolò Machiavelli 3 1996, S. 94. Nach Max Weber ist Grundvoraussetzung für Herrschaft (im Gegensatz zu ‚Macht‘) der Legitimitätsglaube, d. h. das Akzeptieren der Herrschenden durch die Beherrschten. Legitimation findet in Valkyren jedoch ausschließlich durch Gewalt statt. 45 Herman Salinger sieht hierin Nietzsche avant la lettre, namentlich in Bezug auf den Willen zur Macht und die Herrenmoral. Vgl. Salinger 1975, S. 676. 44

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

53

Auch eine Verbindung zum Rhampsenit, wo zuvor ebenfalls Unrechtsherrschaft legitimiert wurde, findet sich an prominenter Stelle, wenn das Motiv des Schlüssels wieder auftaucht, das schon in der ersten Historie von Bedeutung war.46 Dass allerdings auch die Herrschaft des Siegers endlich ist, auch er sterben muss, wird zusätzlich von der auffälligen Verbindung der letzten Valkyren-Strophe mit dem vorherigen Gedicht Schelm von Bergen verdeutlicht: Lächelnd stehen auf Balkonen Schöne Frau’n, und Blumenkronen Werfen sie dem Sieger zu. Dieser grüßt mit stolzer Ruh. (V. 25–28)

Das florale Motiv der Blumenkronen verweist auf das Geschlecht der Schelme von Bergen, das „blühte am Rhein“ (DHA 3.1, 20, V. 51). Dieses war ein „stolzes Geschlecht“ (ebd.), hier grüßt der Sieger „mit stolzer Ruh.“ Das Schlusswort von Valkyren schließlich, „Ruh“, stellt dann die letzte Verbindung zu den „steinernen Särgen“ (V. 52) her, in denen die Schelme von Bergen nun ruhen. Auch der Sieger47 der Valkyren ist also schon im Moment seines Sieges dem Tod geweiht. Es wird somit wieder, in einer streng durchgehaltenen Romanzenstrophe, vom Chaos und Leid einer Welt erzählt, die das Schlechte legitimiert. Interessant ist, dass augenscheinlich selbst die der Welt übergeordneten Mechanismen nicht mehr funktionieren: Die Walküren singen zwar von der Welt, aber sie handeln nicht. Mit keinem Wort wird erwähnt, wie sie ihrer eigentlichen Aufgabe, die ehrenvoll im Kampf Gefallenen auszuwählen und ins Jenseits zu führen, nachkommen. Heine rekurriert hier zwar auf noch genuin mythologisches Personal, das aber ist angesichts der Verhältnisse in der Welt von ähnlicher Ohnmacht betroffen wie die Menschen. Die folgende Historie Schlachtfeld bey Hastings schließt motivisch an Valkyren an: Abermals dient als Schauplatz der Handlung ein Schlachtfeld, abermals hat der Schlechtere über den Besseren gesiegt, abermals wird das (unterlegene) Volk objektiviert und vom Sieger nach Gutdünken aufgeteilt: Gefallen ist der bessre Mann, Es siegte der Bankert, der schlechte, Gewappnete Diebe vertheilen das Land Und machen den Freyling zum Knechte. Der lausigste Lump aus der Normandie Wird Lord auf der Insel der Britten; Ich sah einen Schneider aus Bayeux, er kam Mit goldnen Sporen geritten. (DHA 3.1, 22)

46

Vgl. die Verse 17–20: „Bürgermeister und Senator / Holen ein den Triumphator, / Tragen ihm den Schlüssel vor, / Und der Zug geht durch das Thor.“ 47 Der wiederum namenlos bleibt, vgl. die Ausführungen zu Rhampsenit.

54

2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Während in Valkyren ein namenloses Schlachtfeld beschrieben wurde, das so leicht verallgemeinerungsfähigen Charakter erlangt, handelt es sich nun um die dichterische Bearbeitung, mitunter als „bedeutendste[s] Gedicht aus dem Buch Historien“ bezeichnet48 , der namensgebenden Schlacht bei Hastings am 14. Oktober 1066, bei der der Normannenkönig Wilhelm I. den Angelsachsen Harald II. besiegte, Großbritannien eroberte und sich schließlich zum König krönen ließ. Überhaupt lässt sich eine Bewegung hin vom Allgemeinen zum Besonderen feststellen: Waren es dort noch drei sagenhafte, namenlose Walküren, die nach gefallenen Helden suchten, sind es jetzt die namentlich genannten, und so mit einer Identität ausgestatteten, Mönche Asgod und Ailrik (V. 5) sowie die ehemalige Geliebte Harolds, Edith Schwanenhals. Das Motiv des Suchens indes bleibt bestehen: Dieses lange vergebliche Suchen nach der Leiche des Königs ist der schmerzliche Ausdruck der geschichtlichen Situation. In diesem Suchen wird sichtbar, was geschehen ist, was geschehen muss und was dem Volk bevorsteht. Der tote König ist der besiegte König. Er mußte sein Volk hilflos zurücklassen. Seine Tapferkeit hinderte nicht den Triumph des fremden Eindringlings.49

Die Parallele zu Valkyren zieht auch Siegbert Salomon Prawer, der im „necessary defeat of the better man“ eine Chronik „of injustice, cruelty and suffering“ sieht „that confounds men and beasts“50 – eine allgegenwärtige Verwirrung also, die dem Menschen jede Orientierung in der Welt erschwert. Auffällig ist weiterhin die das gesamte Gedicht durchziehende Ironie, die es, dem tragischen Sujet zum Trotz, erschwert, Mitleid aufkommen zu lassen.51 Bei aller Ironie lässt sich ein weiteres Mal ein ganz und gar ernster Kern ausmachen. Schon Laufhütte beschreibt die „geradezu obszön widersinnig[e]“ Rede des Abtes, deren Anstößigkeit darin besteht, dass er die Liebesgeschichte Harolds und Ediths mit der fast naturalistisch anmutenden Beschreibung des Schlachtfelds vermischt:52 Der Nebel der das Schlachtfeld bedeckt Als wie ein weißes Lailich, Zerfloß allmählig; es flatterten auf Die Dohlen und krächzten abscheulich. Viel tausend Leichen lagen dort Erbärmlich auf blutiger Erde, Nackt ausgeplündert, verstümmelt, zerfleischt, Daneben die Aeser der Pferde.

48

Laufhütte 2008, S. 26. Müller 1959, S. 150. 50 Prawer 1961, S. 175. Für einen kurzen Überblick zur Forschung des Gedichts v. a. unter dem Gesichtspunkt der Balladenform siehe Müller 1959, S. 334–335. 51 Vgl. hierzu die ausführliche Analyse, u. a. zu diesem Gesichtspunkt, von Laufhütte 1979, S. 296– 310. 52 Laufhütte 2008, S. 28–29. 49

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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Es wadete Edith Schwanenhals Im Blute mit nackten Füßen; Wie Pfeile aus ihrem stieren Aug’ Die forschenden Blicke schießen. Sie suchte hin, sie suchte her, Oft mußte sie mühsam verscheuchen Die fraßbegierige Rabenschaar; Die Mönche hinter ihr keuchen. (V. 77–96)

Leid und Tod treten überdeutlich in Erscheinung, die Schlacht hat nichts Heroisches hervorgebracht, sie hinterlässt nur die zerbrochenen Körper der Gefallenen, deren Darstellung in ihrer Drastik an Schlachtbeschreibungen des ersten Weltkriegs erinnert. Sogar Unbeteiligte wie Edith können sich dem Leid nicht entziehen. Edith selbst wird durch das Blut der Gefallenen, das ihre Füße beschmutzt, Teil der Schlacht.53 Ihr Suchen übernimmt die Metaphorik des Kampfes („Wie Pfeile aus stierem Aug’ / Die forschenden Blicke schießen.“ V. 91–92), die Vorstellung einer alle Widernisse überwindenden Macht der Liebe wird lächerlich gemacht.54 Die Absurdität des menschlichen Lebens erreicht im Krieg ihren Höhepunkt und wird dort pointiert, wo selbst angesichts des großen Gleichmachers, des Todes, noch Standesunterschiede gewahrt werden sollen. Allein die Königsleiche nämlich wird gesucht, ausschließlich ihr soll, im offenkundigen Widerspruch zur christlichen Lehre, die doch für alle Menschen ohne Anschauung des Standes gelten soll, ein christliches Begräbnis zuteilwerden: „Damit wir bestatten den Leib / Und für die Seele singen.“ (V. 59–60) Selbst im Tod wird hier also versucht, eine menschliche Ordnung aufrechtzuerhalten, obwohl diese Ordnung bereits bildhaft, durch die nackten, zerfleischten Opfer, deren Blut sich miteinander vermischt, unrettbar in Auflösung befindlich ist. Hoffnung existiert dabei nicht, schon gar nicht durch eine wie auch immer geartete göttliche Einmischung. Die Schlussverse des Totengebets sind denn schon nicht mehr nur ironisch, sie muten zynisch an: Sie sang die Todtenlitaney’n In kindisch frommer Weise; Das klang so schauerlich in der Nacht – Die Mönche beteten leise. – (V. 121–124)

Ähnlich deutet dies auch Laufhütte, wenn er gegen eine naive Lesart der letzten Strophe argumentiert:

53

In gewisser Weise wird sie sogar zur Täterin, die Gewalt ausübt, indem sie die Gefallenen mit den Füßen tritt. 54 Vgl. hierzu auch Laufhütte 1979, S. 306: „Die sentimentale Geschichte von der Kraft der Liebe über den Tod hinaus verdeckt den Hintergrund, der dem Vorgang unabtrennbar zugehört, das historische Geschehen und seine unmenschlichen Konsequenzen nämlich, bis zur Unauffindbarkeit bzw. eliminiert alles an ihm, was die rührende Wirkung beeinträchtigen könnte.“

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero Das Gedicht hat diese Geschichte auf ihre Wahrheit zurückgeführt: ein Auftrag ist erledigt worden, in geschäftsmäßiger Ruhe und unter brutalem Mißbrauch eines menschlichen Werkzeugs. […] Es beleuchtet abschließend grell den Vorgang, wenn das letzte Wort der in bestimmter Weise neu erzählten Geschichte der Instanz gilt, die das Ganze bestimmt hat, und wenn es feststellt, daß diese Instanz sich genau so verhält wie sonst: ruhig, diskret, ökonomisch.55

Der von vorneherein zum Scheitern verurteilte Versuch, im Tod eine Ordnung wiederherzustellen, endet sinnlos. Das Totenlied Ediths kann kaum ernst genommen werden („kindisch“, „schauerlich“), das letzte Wort haben die betenden Mönche. Dass das Gedicht mit ihnen endet, deutet jedoch zugleich an, dass ihr Gebet unerhört bleiben wird. Das Gebet als Reaktion auf Ediths schauerlichen Totengesang zeugt, verstärkt noch durch die Gedankenstriche, von einer Hilflosigkeit, die über das Weltliche hinausgeht und bis ins Überirdische reicht. Die Walküren des vorigen Gedichts hatten kein Glück bei ihrer Suche nach gefallenen Helden, weil es offensichtlich keinen ehrenhaften Toten gab, sie mussten sich mit Gesang begnügen. Die zusammengewürfelten drei Suchenden56 in Schlachtfeld bey Hastings finden zwar den ehrenvollen Harold, können seinem Tod jedoch auch keinen Sinn geben – es ändert sich nichts. Sowohl in Valkyren als auch in Schlachtfeld bey Hastings drückt sich eine Ordnung aus, die den Namen kaum verdient. Beide Gedichte zeigen die Sinnlosigkeit von Siegen auf, die nicht dem Besseren oder Gerechteren zukommen, sondern schlicht dem Brutaleren. So wird also auch hier formal der Welt eine Struktur gegeben, der Inhalt, den diese Struktur umschließt, ist indes von Willkür und Zufall geprägt.

2.1.3 Die Ordnung des Königtums Das Königtum, das gewissermaßen schon in Schlachtfeld bey Hastings thematisiert wurde, wird ferner in zwei weiteren Gedichten des ersten Teilzyklus des Romanzero – König Richard und Der Mohrenkönig –, behandelt, deren gemeinsame Betrachtung sich anbietet, spielen die Könige doch hier, anders als in den zuvor genannten Gedichten, die aktive Hauptrolle.57 Auf den ersten Blick wirkt König Richard wie ein Kontrapunkt zu dem Gedicht König David 58 , auf das die Historie direkt folgt. Dem Titelhelden Richard I.

55

Laufhütte 1979, S. 307. Hier deutet sich selbstverständlich auch wieder das bekannte Motiv des Verlusts des Sensualismus und jeder Art von Größe durch den Siegeszug des Christentums an. Die Walküren betrachteten das Schlachtfeld noch global aus der Vogelperspektive, die Mönche und Edith müssen selbst durch die Toten waten, die Mönche sogar unter körperlichen Anstrengungen (V. 96: „Die Mönche hinter ihr keuchen.“). 57 Die Historie Carl I., die zweifellos auch das Königtum zum Thema hat, wird in Abschn. 4.3 untersucht. 58 S. Abschn. 2.1.1. 56

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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von England scheinen „die absolutistisch-despotischen Züge, die in der Regel die Königsgestalten im Romanzero kennzeichnen“59 , zu fehlen: Wohl durch der Wälder einödige Pracht Jagt ungestüm ein Reiter; Er bläst ins Horn, er singt und lacht Gar seelenvergnügt und heiter. (DHA 3.1, 41, V. 1–4)

So beliebt ist der König, dass selbst die unbelebte Natur ihn nach seiner Haft in Österreich in der Heimat willkommen heißt: Willkommen in England! rufen ihm zu Die Bäume mit grünen Zungen – Wir freuen uns, o König, daß du Oestreichischer Haft entsprungen. (V. 9–12)

Der Bezug zu Österreich, noch einmal aufgenommen in Vers 15 – „Er denkt an Oestreichs Festungsduft“ –, ruft die Rolle Österreichs nach der Revolution von 1848 auf den Plan, wie dies etwa auch Alberto Destro oder Joachim Bark ausführen.60 Schon Landwehr weist jedoch auf einige Ungereimtheiten hin, wenn hier gerade der König als Paradebeispiel für Freiheit und Ritterlichkeit dargestellt wird, „dessen Verklärung u. a. dazu diente, die Brutalität der Kreuzzugsgeschichte zu kaschieren und die Tradition christlicher Toleranz und Feindesliebe nebst aufopferungsvoller ritterlicher Hingabe hochzuhalten“.61 Landwehr bezieht sich hauptsächlich auf Widersprüche innerhalb der ersten Strophe62 , doch auch die zweite Strophe ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: Sein Harnisch ist von starkem Erz, Noch stärker ist sein Gemüthe, Das ist Herr Richard Löwenherz, Der christlichen Ritterschaft Blüthe. (V. 5–8)

Es mutet an „wie eine Karikatur der Freiheit“63 , wenn der Ritter wie eingezwängt wirkt in einen Harnisch „von starkem Erz“. Noch deutlicher wird Vers acht: Mit „Blüthe“ wird damit wörtlich (nur diesmal in substantivierter Form) ein bereits bekanntes Motiv aus Schelm von Bergen aufgenommen. Das Geschlecht der in den Adelsstand erhobenen Schafrichter „blühte am Rhein“ (DHA 3.1, 20, V. 51), was gleich ein ganz anderes Bild von der blühenden christlichen Ritterschaft Richards zeichnet, gerät sie doch in Verbindung mit Ungerechtigkeit, Siechtum und Tod. Durch den Verweis auf den Schelm von Bergen gelangt plötzlich der Tod in König Richard, das Ritter- und Königtum steht nun in direkter Verbindung zu Gewalt. 59

DHA 3.2, 645–646. Vgl. DHA 3.2, 645–646 bzw. Bark 1988, S. 308. 61 Landwehr 2001, S. 168. 62 Vgl. Landwehr 2001, S. 168–169. 63 Landwehr 2001, S. 169. 60

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Einen möglichen Adressaten dieser Gewalt bietet Landwehr an: „Ein letzter die Christlichkeit des Kreuzzugshelden betonender Vorgang findet im Text keinerlei explizite Erwähnung, und das ist der historische Zusammenhang des Kreuzzugsfanatismus […] mit Judenfeindschaft.“64 Auf diese Weise wird die Verbindung der direkt aufeinander folgenden Gedichte König David und König Richard noch einmal bestärkt: Sie folgen einer inneren Ordnung, nämlich einem dezidierten Bezug zum Judentum. Richard I. ist dabei nicht etwa ein Gegenentwurf zum despotischen David, er gleicht ihm: Auch er ist ein Herrscher, der Leid und Tod über seine, zumindest seine jüdische, Bevölkerung bringt. Daniel Goldhagen erwähnt regelrechte Pogrome in England zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert: England zwischen 1290 und 1656 ist in dieser Hinsicht ein schlagendes, aber keineswegs das einzige Beispiel. In dieser Zeit war die Insel buchstäblich ‚judenrein‘, da die Engländer auf dem Höhepunkt der antijüdischen Kampagne […] sämtliche Juden vertrieben hatten.65

Es waren dabei tatsächlich die Kreuzritter, also „[d]er christlichen Ritterschaft Blüthe“ (V. 8), und nicht etwa das ‚einfache‘ Volk, das hier Andersgläubige abschlachtete: „Daß aber das Volk nicht die Blutschuld trägt, beweist am Besten die lange Ruhe der Juden in der Abwesenheit Richards, während welcher man von keinen solchen Gewaltthaten hört.“66 Betrachtet man den historischen Hintergrund genauer, so ist es allerdings nicht allein der jüdische Anteil der Bevölkerung, der unter der Herrschaft Richards zu leiden hat. Der einzige Verweis auf ein konkretes historisches Ereignis im Gedicht – das dafür gleich zweimal, in den Versen 12 und 15 – ist die verbürgte Geiselhaft Richards in Österreich unter Kaiser Leopold V. Die politischen Hintergründe um seine Festnahme, bei der auch der Stauferkaiser Heinrich VI. und König Philipp II. August von Frankreich maßgebliche Rollen spielten, sind dabei an dieser Stelle gar nicht von übermäßigem Interesse. Viel wichtiger ist, dass Richard der österreichischen Haft keineswegs „entsprungen“ (V. 12) ist, wie es die Historie nahezulegen scheint, d. h. aus eigener Kraft dynamisch entkommen. Seiner Entlassung ging vielmehr die Zahlung eines gigantischen Lösegelds von 100.000 Mark Silber67 und die Bereitstellung von 50 Kriegsschiffen sowie 200 Rittern für ein Jahr voraus. Allein die Menge des aufzutreibenden Silbers entsprach etwa den doppelten Jahreseinkünften der englischen Krone, was abschätzen lässt, in welche finanziellen Nöte Großbritannien geriet.68 Richard Löwenherz kehrt somit in ein Land zurück, das knapp vor dem Staatsbankrott steht. Nicht nur zeigt dies einmal mehr 64

Landwehr 2001, S. 170, vgl. zur Judenverfolgung in England zur Zeit Richard Löwenherz’ Landwehr 2001, S. 170–173. 65 Goldhagen 1996, S. 61. 66 Jost 1827, S. 120. Jost bezieht sich mit „solchen Gewaltthaten“ etwa auf das Massaker von York, bei dem 500 Familien ermordet wurden. 67 Was etwa 23 Tonnen Silber entspricht. 68 Die Belastung der Staatskasse war beeindruckend. Um das Lösegeld einzutreiben „setzte im Frühjahr 1193 im Inselreich eine beispiellose Aktion zur Geldbeschaffung ein […] So trugen hauptsächlich die Bewohner des Inselreiches und weniger die Angehörigen der übrigen Teile des angevinischen Reiches die Laster der Lösegeldzahlung […]. Zur Finanzierung des Lösegeldes entwickelten die justiciars und die Spitzenbeamten höchst effiziente Methoden zur Entwicklung neuer

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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die Ungleichheit der Menschen auf. Wenn in der anderen Historie mit dezidiertem Englandbezug, Schlachtfeld bey Hastings, von allen Toten nur dem König ein christliches Begräbnis bereitet werden sollte, ist es auch hier wieder ein König, für dessen Freiheit schier übermenschliche Anstrengungen unternommen werden. Es erstaunt deshalb kaum, dass einzig die Natur König Richard freudig in England willkommen heißt (V. 9–11), denn die britische Bevölkerung dürfte sich zu gut an die Mühsal erinnern, die es für seine Freiheit auf sich nehmen musste, hat es deren Auswirkungen doch am eigenen Leib erfahren müssen. Ein weiterer Akt der Gewalt wird am Ende dann beiläufig erwähnt, ein Akt der Gewalt gegen ein Tier: „Er denkt an Oestreichs Festungsduft – / Und gibt seinem Pferde die Sporen.“ (V. 15–16) Die anfänglich so disparat erscheinenden Gedichte König David und König Richard behandeln nach dieser Lesart doch ganz ähnliche Themen. Das Joch, das dem armen Volk in König David den Nacken bricht69 , existiert, unter Berücksichtigung der historischen Hintergründe, auch in König Richard, und auch hier ist es die Willkür der Geburt, die über ein Leben in Reichtum oder Armut entscheidet. So betreibt auch Richard I. die Demontage einer quasi-mythischen Figur. Durch die anfängliche Übernahme der schon sagenhaften Eigenschaften Richard Löwenherz’ verbreitet die Romanze auf den ersten Blick eine ausgesprochen gelöste Stimmung. Eine genaue Analyse zeigt jedoch, dass dieser Schein nur eine Wahrheit verbirgt, die der scheinbar heiteren Stimmung diametral entgegengesetzt ist: Richard gehört derselben Klasse von Ausbeutern an wie alle Könige, denen letztendlich jedes Mittel Recht ist, das dem eigenen Machterhalt dient. Aus einer anderen Perspektive nimmt sich Der Mohrenkönig der Thematik des Königtums an. Mit der Vertreibung des letzten maurischen Königs beim Abschluss der spanischen Reconquista wird ein Herrscher im Moment der Erkenntnis seiner Niederlage gezeigt, was ihn dann gerade wieder sympathiefähig macht. Der König ist geschlagen: In’s Exil der Alpuxarren Zog der junge Mohrenkönig; Schweigsam und das Herz voll Kummer Ritt er an des Zuges Spitze. (DHA 3.1, 44, V. 1–4)

In der sich vollziehenden Verknüpfung von Okzident und Orient70 wird denn auch deutlich, dass es nicht allein die Anhänger des christlichen Gottes sind, die immer Steuerforderungen, indem etwa seit dem Frühjahr 1193 u. a. der Jahresertrag aus dem Wollverkauf konfisziert wurde, den die englischen Zisterzienserklöster erlösten; hinzu kam eine 25-%ige Sonderabgabe auf alle Vermögen und Einkommen im Lande, ergänzt durch die vollständige Konfiskation aller Gold- und Silbergeräte, über die englische Kirchen verfügten. Der deutliche Anstieg der königlichen Einnahmen nach den Angaben der Pipe Rolls von 9857 £ in 1192 auf 10.506 £ im Jahr 1193 und auf 25.292 £ im Jahr 1194 zeigt die Effizienz der getroffenen Maßnahmen […].“ Berg 2007, S. 198. 69 Vgl. dort die zweite Strophe, DHA 3.1, 40, V. 5–8. 70 Für die wichtigsten Quellen der Romanze s. DHA 3.2, 656–658. – Zur Vernetzung der Thematik des ‚Mohrenkönigs‘ in Heines Werk vgl. Böhn 2009, S. 224–225.

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wieder enttäuscht werden. Auch ein anderer Glaube, etwa der mohammedanische, schützt nicht vor Enttäuschung: Aber, Allah! Welch ein Anblick! Statt des vielgeliebten Halbmonds, Prangen Spaniens Kreuz und Fahnen Auf den Thürmen der Alhambra. Ach, bey diesem Anblick brachen Aus des Königs Brust die Seufzer, Thränen überströmten plötzlich Wie ein Sturzbach seine Wangen. (V. 25–32)

Heine hält sich über weiteste Strecken eng an seine Hauptquelle, Washington Irvings Chronicle of the Conquest of Granada (2 Bände, London 1829), nimmt aber an einigen Stellen entscheidende Änderungen vor. Wie bei Irving sieht Muhammad XII. sich zunächst des Vorwurfs der Unmännlichkeit ausgesetzt, da er seine Emotionen unverhohlen zeigt: Düster von dem hohen Zelter Schaut herab des Königs Mutter, Schaut auf ihres Sohnes Jammer Und sie schalt ihn stolz und bitter. „Boabdil el Chico,“ sprach sie, „Wie ein Weib beweinst du jetzo Jene Stadt, die du nicht wußtest Zu vertheid’gen wie ein Mann.“ (V. 33–40)

Eine gestörte Ordnung lässt sich gleich an mehreren Stellen erkennen. Der Sohn, immerhin der König, wird mit „Jammer“ in eine beinahe kindliche, zumindest keinesfalls kraftvoll-männliche, Sphäre gerückt. Damit nicht genug, seine Mutter spricht ihm von oben herabschauend nach der missglückten Verteidigung Granadas alle Männlichkeit ab, zur militärischen Niederlage gesellt sich also noch eine veritable Feminisierung. Im Prätext ist es ein Wesir, der dem König tröstende Worte zukommen lässt, in Heines Bearbeitung hingegen eine geliebte Konkubine: Heine führt anstelle das „Vizier“ Boabdils „liebste Kebsin“ ein, weniger und mehr also als die im Zusammenhang des granadischen Hofes offizielle Instanz des Wesirs. Nimmt sich dessen Trostversuch bei Irving eher wie ein Akt des Gehorsams aus, erhält er im Mund der „Liebsten“ eine poetisch rührende Note und ergänzt die Romanze um das Liebesmotiv, das diese Gattung so oft bestimmt. Zugleich verleiht Heine einer Figur, die in der Geschichtsschreibung meistens ausgespart und deren Ort eben Dichtung oder Legende ist, eine Stimme.71

71

Jäger 1999, S. 251–252.

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

61

Unbestreitbar verleiht Heine hier einer Figur eine Stimme, die sonst stumm geblieben wäre.72 Fraglicher jedoch erscheint, ob das, was er sie sagen lässt, tatsächlich eine tröstende Wirkung erzielen kann: Als des Königs liebste Kebsin Solche harte Rede hörte, Stürzte sie aus ihrer Sänfte Und umhalste den Gebieter. „Boabdil el Chico,“ sprach sie, „Tröste dich, mein Heißgeliebter, Aus dem Abgrund deines Elends Blüht hervor ein schöner Lorbeer. Nicht allein der Triumphator, Nicht allein der sieggekrönte Günstling jener blinden Göttin, Auch der blut’ge Sohn des Unglücks, Auch der heldenmüth’ge Kämpfer, Der dem ungeheuren Schicksal Unterlag, wird ewig leben In der Menschen Angedenken.“ (V. 45–56)

Höchstens situativ können diese Worte tröstenden Charakter entfalten, der im größeren Kontext des Romanzero schnell verfliegt. Die Begriffe „Lorbeer“ und „Triumphator“ nehmen bekannte Motive der früheren Romanze Valkyren wieder auf.73 Damit ist denn auch wieder die moralische Legitimität jeder Herrschaft in Zweifel gezogen, es ist Gewalt, die Herrschaft legitimiert.74 Jene nimmt keine Rücksicht auf den Einzelnen im Weltgeschehen und ist vor allem, wie die Rede der Kebsin verdeutlicht, vollkommen abhängig vom Zufall, sie ist nicht planbar, mit ihr ist nicht zu handeln, sie tritt einmal mehr als unverrückbares Faktum auf. Auch hier lässt sich also keine Ordnung im Sinne einer Kontinuität von Herrschaft erkennen: Wer eben noch König war, schaut nun zurück auf seine verlorene Stadt und muss sich beschimpfen lassen. Der scheinbare Trost – „wird ewig leben“ – vor dem Enjambement wird umgehend relativiert: „In der Menschen Angedenken.“ Die Ewigkeitsklausel 72

Ausgeblendet werden soll an dieser Stelle die Frage, mit welcher Stimme Boabdil hier spricht. Es handelt sich selbstverständlich weiterhin um eine Vereinnahmung eines arabischen Herrschers durch einen europäischen Dichter. Dies ist schon dadurch erkennbar, dass Heine durchgängig den Namen Boabdil (el Chico – der Junge), der von Spaniern benutzt wurde, verwendet und nicht den arabischen Namen Muhammad XII. Abu Abdallah. Vgl. hierzu auch Soukah 2021, S. 94. 73 Vgl. dort (DHA 3.1, 21) Vers 13 („Lorbeerkränze, Siegesbogen!“) und Vers 18: „Holen ein den Triumphator“. 74 Siehe hier (Vers 48) die Verwendung von „blüht“, wie bei König Richard wieder als Verweis auf den Schelm von Bergen lesbar und damit Gewalt und Tod andeutend.

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wird auf das menschliche Gedächtnis reduziert und damit nichtig. Denn natürlich ist, erstens, das Leben im Gedächtnis eben kein ‚Leben‘, sondern bloß Erinnerung. Zweitens ist explizit vom menschlichen Gedächtnis die Rede, das, wie alles Menschliche, seiner Natur nach endlich ist. Im Moment der Affirmation des Andenkens wird dieses Andenken negiert. Die letzten Strophen des Gedichts besitzen dabei durchaus metapoetischen Charakter: Lieblich hat die Zeit erfüllet, Seiner Liebsten Prophezeyung, Und des Mohrenkönigs Name Ward verherrlicht und gefeyert. Nimmer wird sein Ruhm verhallen, Ehe nicht die letzte Saite Schnarrend losspringt von der letzten Andalusischen Guitarre. (V. 61–68)

Der Mohrenkönig kann als andalusische Gitarre verstanden werden.75 Das aber ändert nichts am Schicksal Boabdils, er bleibt geschlagen, er bleibt besiegt, er bleibt gedemütigt. Die dem mythischen Erzählen eigenen Verallgemeinerungstendenzen – hier dargestellt an der Engführung zwischen Christentum und Islam, an der Verschmelzung zweier Kulturen – fruchten nicht, auch aus ihnen erwächst nur Trauer. Sie mögen zwar Trost liefern und für ästhetischen Genuss sorgen. Aber auch für die Poesie muss dann gelten, was für das Andenken des heldenhaften Kämpfers gilt: Sie besitzt keine transzendente Kraft, als menschliches Konstrukt ist sie endlich. Sie hat höchstens so lange Bestand wie die menschliche Erinnerung. Die unterschiedliche Behandlung der beiden Könige lässt zweierlei erkennen: Zunächst stellt selbst König Löwenherz, also eine mit der ganzen Kraft einer alten Sage aufgeladene Figur, keinen Garanten für Beständigkeit, Frieden und Gerechtigkeit dar. Hinter dem schönen Schein der Königswürde verbirgt sich ein berechnender Machtmensch, der ohne zu zögern das Wohl seiner Untertanen opfert, wenn es nur seinem eigenen Vorteil dient; ein weiterer großer Brutaler also. Außerdem sind selbst Könige nicht vor der Erfahrung von Gewalt und Niedergang gefeit. König Richard konnte sich nur durch Rücksichtslosigkeit und auf Kosten anderer aus dem österreichischen Gefängnis retten, König Muhammad XII. ist geschlagen und vertrieben, er steht vor den Trümmern seines Reiches und sieht sich dem Zorn seiner eigenen Mutter ausgesetzt. König Richard genauso wie Der Mohrenkönig dekonstruieren also die vermeintliche Sicherheit und Beständigkeit der Königswürde – weder schützt sie die Untertanen, das einfache Volk, noch den König selbst. Selbst die Institution Königtum, die sich auf eine transzendente Ordnung beruft und deren Legitimation auch darin gründelt, eben diese Ordnung in die Welt zu übertragen, sieht sich Verfallstendenzen ausgesetzt. Ihre Sukzessionsregeln gelten nicht mehr. Sie ist dem Zufall 75

Vgl. hierzu Böhn 2009, S. 227: „Hier macht das Gedicht seine eigene Funktion zum Gegenstand, nämlich als spanische Romanze – für die die ‚[a]ndalusische [!] Guitarre‘ metonymisch steht – die Erinnerung zu bewahren und weiterzutragen.“

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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anheimgestellt, die Ordnung, die das Königtum garantieren soll, ist nur temporärer Natur. Nicht zuletzt liefert der Romanzero mit Der Mohrenkönig einen metapoetischen Kommentar. Die Romanze um den glücklosen letzten maurischen Emir von Granada kann als Versuch gelesen werden, die Erinnerung an ihn aufrechtzuerhalten. Zugleich aber betont sie, dass die ‚andalusische Gitarre‘ irgendwann ihre letzte Saite verliert, die Dichtung selbst also in Vergessenheit gerät. Spätestens dann wird auch die Erinnerung an Muhammad XII. verblassen. Somit ist auch die tröstende Funktion der Poesie nicht von Dauer.

2.1.4 Der Verfall des Rittertums Wenn sogar Könige nicht vor dem Verfall geschützt sind, lässt das nichts Gutes hoffen für die unterste Stufe der Adelshierarchie, das Rittertum, von dessen Schicksal die Historie Zwey Ritter zu berichten weiß. Darin nimmt Heine Bezug auf die polnische Revolution von 1830, die am 7. September 1831 von russischen Truppen brutal niedergeschlagen wurde. Infolgedessen ließen sich viele Polen, die für die Revolution gekämpft hatten oder deren Zielen politisch nahestanden, im restlichen Europa, vor allem in Frankreich und Deutschland, nieder. Schon in Ludwig Börne. Eine Denkschrift bezieht Heine Stellung zu den Vorgängen im Nachbarland: Die bürgerliche Stubenuhr wurde eine Sturmglocke, deren Geläute Angst und Schrecken verbreitete. […] Was in jener Periode sich besonders geltend machte und die Gährung bis zur kochenden Sud steigerte, waren die polnischen und rheinbairischen Vorgänge, und diese haben auf den Geist Börnes den mächtigsten Einfluß geübt. Eben so glühend wie einseitig war sein Enthusiasmus für die Sache Polens, und als dieses muthige Land unterlag, trotz der wunderbarsten Tapferkeit seiner Helden, da brachen bey Börne alle Dämme der Geduld und Vernunft. Das ungeheure Schicksal so vieler edlen Martyrer der Freyheit, die, in langen Trauerzügen Deutschland durchwandernd, sich in Paris versammelten, war in der That geeignet ein edel gefühlvolles Herz bis in seine Tiefen zu bewegen. (DHA 11, 73)76

Von der „wunderbarsten Tapferkeit“ der polnischen Helden indes ist in Zwey Ritter nicht mehr viel aufzufinden: Crapülinski und Waschlapski, Polen aus der Polackey, Fochten für die Freyheit, gegen 76

Im Börnebuch benutzt Heine die Ereignisse in Polen auch dazu, die Zustände in Deutschland, d. h. den fehlenden Revolutionseifer, zu kritisieren: „Ja, wir Deutschen waren nahe daran eine Revoluzion zu machen, und zwar nicht aus Zorn und Noth, wie andre Völker, sondern aus Mitleid, aus Sentimentalität, aus Rührung, für unsre armen Gastfreunde, die Polen. Thatsüchtig schlugen unsre Herzen, wenn diese uns am Kamin erzählten; wie viel sie ausgestanden von den Russen, wie viel Elend, wie viel Knutenschläge […] Eine Revoluzion ist ein Unglück, aber ein noch größeres Unglück ist eine verunglückte Revoluzion; und mit einer solchen bedrohte uns die Einwanderung jener nordischen Freunde, die in unsre Angelegenheiten alle jene Verwirrung und Unzuverlässigkeit gebracht hätten, wodurch sie selber daheim zu Grunde gegangen“ (DHA 11, 74).

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero Moskowiter-Tyranney. Fochten tapfer und entkamen Endlich glücklich nach Paris – Leben bleiben, wie das Sterben Für das Vaterland, ist süß. (DHA 3.1, 38, V. 1–8)

Sie mögen tapfer gekämpft haben, ihr Sieg allerdings besteht ironischerweise nur im Entkommen, von wo der Verfall rasant an Fahrt aufnimmt. „Waschlapski“ ist eine auffällige Herabsetzung ritterlicher Tugenden wie Mut und Stärke, „Crapülinski“ nur wenig mehr verschleiert, wenn man weiß, dass sich der Fantasiename vom französischen „crapule“ – Lump, Schurke, Gesindel – ableitet. Beide Namen sind somit eindeutig gekennzeichnet durch „Unsolidität, Unernst und auch moralische[m] und physische[m] Niedergang“77 , mithin durch einen Abfall von allen ritterlichen Idealen. Der, oft auch derbe, Humor des Gedichts steht dabei dem ernsten und pessimistischen Grundton nicht im Wege, denn bei Heine bleibt „die Rückseite des Lachens […] immer die Trauer. Die heftigen Kontraste zwischen diesen beiden Polen sowie die aus den Kontrasten gewonnenen humoristischen Effekte prägen das Grundmuster des Heineschen Schreibens.“78 Die Helden der Revolution sind hier nicht nur besiegt, sie werden auch für moralisch Bankrott erklärt. Die mehrfach wiederholte Wendung von den „edlen Polen“ (V. 15, 26, 31) wird stets mit Bildern der Armut und der körperlichen Verwahrlosung kontrastiert.79 Es verwundert deshalb nicht, dass mit diesen Helden keine erfolgreiche Revolution und kein besseres Leben auf Erden denkbar ist, dass der nur scheinbar optimistische Schluss schal wirkt: Ihm erwiederte Waschlapski: „O du bist ein treuer Schlachzitz, Denkest immer an der Heimath Bärenpelz und Katzfell-Nachtmütz. Polen ist noch nicht verloren, Unsre Weiber, sie gebären, Unsre Jungfrau’n thun dasselbe, Werden Helden uns bescheren, Helden, wie der Held Sobieski, Wie Schelmufski und Uminski, 77

DHA 3.2, 639. Kortländer 1992, S. 61. Für Kortländer erlaubt Zwey Ritter „Einblick in die Art, wie sich Heines Humor ausspricht. Grundlegend ist zunächst der überaus scharfe Kontrast zwischen einer großen Idee, in diesem Falle durch die Stichworte der Freiheit und Vaterland gekennzeichnet, und der erbärmlichen Art, wie diese Idee von ihren kleinlichen Verfechtern desavouiert und verunstaltet wird.“ (Kortländer 1992, S. 64) 79 Vgl. etwa V. 19–20: „Eine Laus und eine Seele, / Kratzten sie sich um die Wette.“ oder V. 29–32: „Ja, sie haben wirklich Wäsche, / Jeder hat der Hemden zwey, / Ob sie gleich zwey edle Polen, / Polen aus der Polackey.“ 78

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Eskrokewitsch, Schubiakski, Und der große Eselinski.“ (V. 49–60)

Selbst der Ausblick in die Zukunft, auf die künftigen Helden, bleibt hoffnungslos. Die spezielle Eigenschaft des mythischen Erzählens, der Welt mit Blick zurück in die Vergangenheit einen Sinn für die Zukunft zu verleihen, wird hier ironisch gebrochen. Zunächst vermischt Heine Fantasienamen mit authentischen polnischen Namen. Auffallend ist weiterhin, dass die historischen Träger der polnischen Namen (Sobieski und Uminski) zur Zeit der Entstehung des Gedichtes bereits tot sind80 , also definitiv nicht mehr in den Geschichtsverlauf eingreifen können. Gleichzeitig lassen die erfundenen Namen keinerlei Hoffnung auf ein gutes Ende der Revolution aufkommen. Wie Prawer feststellt: „Hope itself (which Schiller had called the greatest boon of mankind) is derided. There can be no hope, for all men are rogues – and if not rogues they are fools.“81 Wenn Schiller die Hoffnung „[n]och am Grabe“ blühen sieht, ist bei Heine die Hoffnungslosigkeit der Revolution bereits in den Namen ihrer Akteure angelegt.82 „Eskrokewitsch“ stammt von dem französischen „escroc“ für Gauner, „Schubiaski“ findet seinen Ursprung in „Schubiack“, was im Niederländischen (und später in verschiedenen deutschen Regionen) „Schuft“ bedeutet.83 Schelmufski ist der namensgebende Held eines barocken Schelmenromans von Christian Reuter (1696), stellt aber ebenso und wichtiger eine Verbindung zur frühen Historie Schelm von Bergen her, wodurch zugleich das Scharfrichtermotiv mit all seinen Bedeutungen und Folgen wieder aufgerufen wird.84 Zum „große[n] Eselinski“ muss nicht viel gesagt werden – die Hoffnung auf ein freiheitliches Polen endet mit dem Verweis auf das Tier, das in der Tradition der Fabel wie kaum ein zweites für Dummheit und Sturheit steht. In der Aufzählung der Namen mischen sich also nicht nur „historische Figuren mit literarischen Helden und reinen Phantasienamen“.85 Auch formal ist die letzte Strophe intrikat gearbeitet. Sie setzt an mit „Helden,“, nimmt diese Helden jedoch durch das Komma sogleich wieder zurück, schränkt das Heldentum dadurch ein. Von allen Figuren handelt es sich nur bei einer um einen tatsächlichen Heroen,86 der auch formal heraussticht – „wie der Held Sobieski“ –, dadurch aber zugleich das „Helden“ vom Strophenanfang auch räumlich von den restlichen Figuren trennt. 80

Johann III. Sobieski spielte eine entscheidende Rolle bei der Zweiten Wiener Türkenbelagerung und starb im Jahr 1996. Jan Nepomucen Umi´nski, einer der Anführer des polnischen Aufstandes von 1830 starb 1851 im Wiesbadener Exil. Mit einer geschätzten Entstehungszeit des Gedichts zwischen 1850 und 1851 ist es nicht gesichert, dass Heine ihn in Kenntnis seines Todes verarbeitet hat – er taugt aber in jedem Fall nicht als hoffnungsverheißende Figur, da er als Anführer für eine fehlgegangene Revolution steht. 81 Prawer 1952, S. 156. 82 So Schiller in Hoffnung (Schiller 1797, S. 401). 83 Vgl. DHA 3.2, 641. 84 Vgl. hierzu Abschn. 2.1.1. 85 Kortländer 1992, S. 64. 86 In dem Sinne, dass er „eine tatsächlich große Figur nicht nur der polnischen, sondern der europäischen Geschichte“ darstellt (Kortländer 1992, S. 64).

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Die folgende Aufzählung beginnt mit „Wie“. Der Zusatz, dass es sich um Helden handelt, wird nicht wiederholt, was die Charakterisierung der nachstehenden Figuren als Helden bereits schwächt. Darauf folgt eine Aufzählung, die mit Versagen und Schrecken beginnt und schließlich, mit dem Bild des Esels, in der regelrechten Verblödung endet. Das Heldentum wird damit lächerlich gemacht, ja seinem Wesen nach ad absurdum geführt. Die formale Sinnstruktur des Gedichts steht in krassem Gegensatz zur Bedeutungsebene. So spiegelt die antiklimaktische Enumeratio der letzten Strophe zugleich die Makrostruktur des Textes wider: In den ersten beiden Strophen lässt sich zumindest noch erkennen, dass die Ritter für ein edles Ziel, die Freiheit Polens, „tapfer“ fochten. Über verschiedene Bilder der Verwahrlosung und des sozialen Abstiegs schließlich endet das Gedicht in der völligen Hoffnungslosigkeit. Diese deutet sich indessen, zusammen mit der Herrschaft des Todes, schon zu Beginn des Gedichtes an. Die zweite Strophe nimmt mit „Leben bleiben, wie das Sterben / Für das Vaterland, ist süß“ das berühmte Horaz’sche Diktum „Dulce et decorum est pro patria mori“ auf.87 Dabei handelt es sich durchaus um mehr als bloß eine „überscharfe Zuspitzung – und reale Umkehrung – der alten Maxime von Horaz“, wie es der Kommentar zur Düsseldorfer Heine-Ausgabe darstellt.88 Es lohnt der Blick in den Horaz’schen Prätext, denn dort folgt auf den zum geflügelten Wort gewordenen Vers: mors et fugacem persequitur virum nec parcit inbellis iuventae poplitibus timidoque tergo.

bzw. in deutscher Übersetzung: Der Tod verfolgt auch den flüchtenden Mann Und verschont nicht kriegsscheuer Jugend Kniekehlen und ängstlichen Rücken.

Dem Tod wird hier also eine allumgreifende Macht eingeräumt, die auch jene ereilt, die eben nicht tapfer für das Vaterland sterben. Greift man diese Nuance des Prätextes auf, so wird auch in Zwey Ritter wieder deutlich, dass es letztendlich kaum eine Rolle spielt, wie der Mensch sich verhält: Am Ende erwartet ihn der Tod. Die Hoffnung selbst, das, was das mythische Denken dem Menschen geben will, wird in Zwey Ritter zwar aufgerufen, hält der Wirklichkeit aber nicht stand, muss sofort wieder begraben werden. Die Aussicht auf eine Zukunft, die mehr Hoffnung bereithält als die Gegenwart, eine Zukunft, in der sinnstiftend gehandelt werden kann, wird zwar auf einer oberflächlichen Textebene („Polen ist noch nicht verloren“) in Aussicht gestellt, jedoch nur, um dann durch die Nennung von Heldennamen, die sich als leere Worthülsen entpuppen, erst recht vernichtet zu werden. Die Poesie fällt hier somit ein düsteres Urteil über die Zukunft. 87

In deutscher Übersetzung: „Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben“. Horaz: Carmina 3,2, S. 136. Alle folgenden Zitate von Horaz finden sich ebd. 88 DHA 3.2, 640.

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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2.1.5 Von der Liebe Im Kosmos von Rittern und Königen wird Gewalt stets mitgedacht. Sich einer Gefahr auszusetzen, sei es aus ideellen Gründen oder auch nur zur Durchsetzung persönlicher Machtwünsche, ist als ‚Berufsrisiko‘ Bestandteil des von ihnen bekleideten Amtes. So müssen sie auch das Scheitern oder den gewaltsamen Untergang zumindest als Möglichkeit präsupponieren. Der politisch-öffentliche Kosmos ist also seit jeher gefährlich. Wie aber gestaltet sich die Lage bei einem Rückzug ins Private, mehr noch, ins Privateste überhaupt, bei der Liebe? Beispielhaft für den Umgang mit dem Liebesdiskurs sollen nun zwei Gedichte der Historien und eines aus den Lamentazionen untersucht werden. Die Historie Der Apollogott beginnt mit einer Nonne in scheinbar gewohnter Klosterumgebung, wobei Heine für die Eröffnungsverse „geradezu einen Topos der romantischen Lyrik“89 übernimmt: Das Kloster ist hoch auf Felsen gebaut, Der Rhein vorüberrauschet; Wohl durch das Gitterfenster schaut Die junge Nonne und lauschet. Da fährt ein Schifflein, mährchenhaft Vom Abendroth beglänzet; Es ist bewimpelt von buntem Taft, Von Lorbeern und Blumen bekränzet. (DHA 3.1, 32, V. 1–4)

Die Persiflage romantischer Dichtung ist in den ersten Strophen des ersten Teils mit Händen greifbar.90 Am Beispiel des in die Gegenwart des Gedichtes versetzten Gottes Apoll berichtet Heine sowohl einmal mehr vom Niedergang der antiken Götter91 und beschreibt daneben die verheerende Wirkung, die diese Götter – und schließlich auf einer Metaebene die Kunst im Allgemeinen – auf die Menschen haben können. Die Gitterfenster in Vers drei deuten an, dass das Kloster der Nonne zum Gefängnis geworden ist, ein passendes Bild für das von Heine als sinnenfeindlich charakterisierte Christentum. Ironisch mutet es da an, dass derjenige, der sie schließlich aus diesem Gefängnis ‚befreien‘ soll, zunächst in romantischen Tönen beschrieben wird: Ein schöner blondgelockter Fant Steht in des Schiffes Mitte; 89

Mojem 1985, S. 267. Zum Aufbau und zur Komposition vgl. Preisendanz 1988, S. 289–293. Preisendanz bietet entgegen vieler ansonsten vorherrschenden stark biographischer Interpretationen eine metapoetische an: „Trotz der entwurzelten, sozial nicht integrierten Existenz läßt seine Dichtung Heine als Abschattung des mythischen Apollogottes erscheinen; zugleich als Gegenmacht des trübseligen, asketischen, sinnenfeindlichen Nazerenertums. Aber diese Dichtung ist aus ‚Gräcia‘ vertrieben, verbannt in eine moderne Welt, in der die Kunst, die Dichtung selbst im Exil hausen muss.“ (Preisendanz 1988, S. 299) 91 Vgl. etwa Götter im Exil oder Die Götter Griechenlands. 90

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero Sein goldgesticktes Purpurgewand Ist von antikem Schnitte. (V. 9–12) […] Der Goldgelockte lieblich singt Und spielt dazu die Leyer; In’s Herz der armen Nonne dringt Das Lied und brennt wie Feuer. (V. 17–20)

Die Nonne müht sich noch, der Versuchung zu widerstehen, indem sie, gleichsam das Gittermuster ihres Gefängnisses imitierend, das Kreuz schlägt, doch gegen diese Versuchung hilft kein christliches Symbol: Sie schlägt ein Kreuz, und noch einmal Schlägt sie ein Kreuz, die Nonne; Nicht scheucht das Kreuz die süße Qual, Nicht bannt es die bittre Wonne. (V. 21–24)

Sie wird also aus der göttlichen Ordnung gerissen, der sie sich verschrieben hat. Die verführerische Macht des Apollogottes ist so groß, dass sie selbst die dreimalige Nennung von „Kreuz“, durch den Verweis auf die Dreifaltigkeit die eigentliche Zugehörigkeit der Nonne zum Christentum noch bestärkend, nicht bannen kann.92 Im zweiten Teil der Historie beschreibt der Apollogott sich selbst und seine Vertreibung aus einem idealisierten antiken Griechenland: Ich bin der Gott der Musika, Verehrt in allen Landen; Mein Tempel hat in Gräzia Auf Mont-Parnaß gestanden. […] Ich sang – und wie Ambrosia Wohlrüche sich ergossen, Es war von einer Gloria Die ganze Welt umflossen. Wohl tausend Jahr aus Gräzia Bin ich verbannt, vertrieben – Doch ist mein Herz in Gräzia, In Gräzia geblieben. (DHA 3.1, 33, V. 1–4, 25–32)

92

Siehe hierzu auch: Mojem 1985, S. 268: „Die widerstreitenden Empfindungen der Nonne […] sind in die beiden Oxymora gefaßt, welche am Schluß der Strophe die Zerrissenheit des Mädchens nochmals auf wahrhaft geniale Weise auf die Formel bringen.“ Vgl. zur Zwecklosigkeit des Widerstandes Mojem 1985, S. 269: „Diese Aufhäufung von Kreuzeszeichen soll ihre Seele vor der Versuchung bewahren, sie mit dem Bollwerk des Glaubens schützen, offenbart aber in der bereits sinnlosen Mechanik der Bewegung das endgültige Verfallensein des Mädchens an die verbotene Leidenschaft.“

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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Gerade die Verse 25 bis 28 zeichnen wieder das Bild des sensualistisch intakten heidnischen Gottes, der schließlich vom Christentum vertrieben wurde. Der dritte und längste Teil zeugt von der Suche der Nonne nach dem Apollogott und dessen Demaskierung als nichtsnutziger „Rabbi Faibisch, / Was auf Hochdeutsch heißt Apollo –“ (DHA 3.1, 35, V. 38–39). Der Fall vom edel gekleideten Sänger zum Herumtreiber ist deutlich: Seine Mutter ist Cousine Meines Schwagers, und sie handelt Auf der Gracht mit sauern Gurken Und mit abgelebten Hosen. Haben kein Pläsir am Sohne. Dieser spielt sehr gut die Leyer, Aber leider noch viel besser Spielt er oft Tarok und l’Hombre. (V. 49–56)

Heine ist also jeder ‚Respekt‘ vor der mythischen Gestalt des Apollo fremd, er rückt ihn damit „aus der feierlich pathetischen in die artistisch verspielte Perspektive. Nicht um Verklärung der heidnischen Götter geht es hier, sondern um eine Liebeserklärung, die mit den modernen Mitteln eines Chansons von ihnen Abschied nimmt.“93 Heine verabschiedet sich an dieser Stelle nicht lediglich von den heidnischen Göttern, er lässt darüber hinaus das bloße Weiterschreiben und Variieren ihrer Geschichten hinter sich. Dass Heine Apoll als Subjekt auftreten lässt, gleichzeitig den Gott zum Menschen macht, lässt ihn sowohl an der mythischen als auch an der realen Welt teilhaben. Die Geschichte eines heruntergekommenen Bänkelsängers erhält durch die Grundierung im Mythischen den Charakter des Notwendigen. Dabei kommt es durch diese Bearbeitung weniger zu einer Zerstörung des Mythos, sondern vielmehr zu einer Relativierung: Heines spielerisches Umgehen mit dem Apollomythos braucht an sich dem Geist des antiken Mythos noch nicht zu widersprechen, sondern könnte als ein solcher Akt der Selbstrelativierung des Mythos gelten, der die Substanz des Mythos keineswegs zerstören will.94

Zerstört wird auf der Bedeutungsebene etwas anderes: die Existenz der Nonne. Deren Schicksal erwähnt Der Apollogott zwar nicht ausdrücklich. Das hingegen geschieht in einer anderen Historie. Himmelsbräute beschreibt sehr genau, was Nonnen blüht, die das Keuschheitsgelübde brechen: ewige Verdammnis und eine grausige Existenz als Gespenst.95 Und auch wenn die Substanz des Apollomythos nicht zerstört wird, so desavouiert Heine doch die Gestalt des Apoll. Das Ausmaß des sozialen Abstiegs erinnert an Zwey Ritter, dient aber ebenso als Reminiszenz an die frühere Schrift Götter im Exil, wo der heruntergekommene Apoll gleichfalls einen denkwürdigen Auftritt hat: 93

Von Wiese 1973, S. 124. Von Wiese 1973, S. 124–125. 95 Das Gedicht Himmelsbräute wird in Abschn. 4.3 ausführlich untersucht. 94

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero Apollo scheint sich in dieser Noth dazu bequemt zu haben, bey Viehzüchtern Dienste zu nehmen, und wie er einst die Kühe des Admetos weidete, so lebte er jetzt als Hirt in Niederösterreich, wo er aber, verdächtig geworden durch sein schönes Singen, von einem gelehrten Mönch als ein alter zauberischer Heidengott erkannt, den geistlichen Gerichten überliefert wurde. Auf der Folter gestand er, daß er der Gott Apollo sey. Vor seiner Hinrichtung bat er auch, man möchte ihm nur noch einmal erlauben, auf der Zither zu spielen und ein Lied zu singen. Er spielte aber so herzrührend und sang so bezaubernd, und war dabey so schön von Angesicht und Leibesgestalt, daß alle Frauen weinten, ja viele durch solche Rührung später erkrankten. Nach einiger Zeit wollte man ihn aus seiner Gruft wieder hervorziehen, um ihm einen Pfahl durch den Leib zu stoßen, in der Meinung, er müsse ein Vampyr gewesen seyn, und die erkrankten Frauen würden durch solches probate Hausmittel genesen; aber man fand das Grab leer. (DHA 9, 126–127)

Zugleich spiegelt sich der Niedergang in der Struktur des Gedichts. Das Kloster zu Beginn ist „hoch auf Felsen gebaut“ (V. 1), der fließende Rhein, auf dem das Schiff des Apoll fährt, verleihen dieser Höhe spielerische Dynamik. Der Kontrast zu den letzten beiden Strophen könnte größer kaum ausfallen: Aus dem Amsterdamer Spielhuis Zog er jüngst etwelche Dirnen, Und mit diesen Musen zieht er Jetzt herum als ein Apollo. Eine dicke ist darunter, Die vorzüglich quikt und grünzelt; Ob dem großen Lorbeerkopfputz Nennt man sie die grüne Sau. (DHA 3.1, 36, V. 69–76)

Die Romanze wechselt daraufhin von der tugendhaften Atmosphäre des Klosters in die lasterhafte Welt des Bordells.96 Die Musen des Apolls treten als „marmorschöne Weiber“ auf, mit „schlanken Leiber[n]“ (DHA 3.1, 32, V. 14–16), eine von ihnen wird in herabwürdigender Weise als Schwein bezeichnet. Sie wühlt buchstäblich im Dreck, das Gedicht ist am Ende also auch räumlich ganz unten am Boden angekommen.97 Auch den schuldlos Verführten, wie der Nonne, bietet der Text somit keine echte Hoffnung. Selbst wer sich Gott verschrieben hat, kann beim Verstoß gegen dessen Gebote gerade nicht auf göttliche Barmherzigkeit zählen, sondern muss stattdessen mit einer Strafe rechnen, die kaum im Verhältnis zum begangenen Fehltritt steht. Mit seinen Bildern des sexuell entfesselten Apolls und der tierischen Entgrenzung in der letzten Strophe zerstört das Gedicht auf einer Metaebene noch eine weitere Ordnung, die so erst 1827 von Nietzsche in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik etabliert wurde. Nietzsche beschreibt mit „Apollinisch“ und „Dionysisch“ bekanntermaßen zwei gegensätzliche Charakterzüge des Menschen, angelehnt an die 96

S. DHA 3.2, 630: Mit dem Spielhaus „kann sowohl ein Lokal, wo Musik gemacht wird und Hazardspiele gespielt werden, als auch ein Bordell gemeint sein.“ 97 Auch hier drängt sich wieder eine Assoziation zu Himmelsbräute auf, wo die verdammten Nonnen vom kalten Grab in der Tiefe und der Wärme im Himmel singen.

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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griechischen Götter Apoll und Dionysos. Apoll steht dabei für Ordnung und Form, Dionysos für den Rausch und einen Schöpfungsdrang, der alle Formen sprengt. Wenn Heine also hier seinen Apoll am Ende des Gedichts in einer grenzüberschreitenden98 Sphäre der Sexualität beschreibt, macht er ihn zum Dionysos, ebnet somit gleichsam die Nietzscheanische Unterscheidung ein, noch bevor sie überhaupt konstituiert werden konnte. Wenn Der Apollogott romantische Topoi benutzt, um einen Riss zu zeigen, der durch die Welt geht, so liefert er keinerlei Angebot, diesen Riss zu kitten. Apoll selbst, Sinnbild nicht nur der Musik, sondern auch der (apollinischen) Ordnung, wird der Blöße preisgegeben, ist dem Verfall in existenzieller Hinsicht ausgeliefert: Die Auflösung und Unordnung machen vor Niemandem Halt. Von der Macht der sinnlichen Liebe handelt auch Pomare. In seiner Trostlosigkeit exemplarisch zeigt sich das Schicksal der Tänzerin Pomare, das von einer Tänzerin und Prostituierten handelt, deren reales Vorbild Élise Sergent in Paris „um die Mitte der 40er Jahre [des 19. Jahrhunderts, PR] eine der berühmtesten Tänzerinnen der Halbwelt“99 war. Der erste der vier Abschnitte des Gedichtes beschreibt die Tänzerin und ihre Wirkung auf das Publikum: Alle Liebesgötter jauchzen Mir im Herzen, und Fanfare Blasen sie und rufen: Heil! Heil, der Königinn Pomare! Jene nicht von Otahaiti – Missionärisirt ist jene – Die ich meine, die ist wild, Eine ungezähmte Schöne. Zweymal in der Woche zeigt sie Oeffentlich sich ihrem Volke In dem Garten Mabill, tanzt Dort den Cancan, auch die Polke. (DHA 3.1, 29, V. 1–12)100

Mit dem „Garten Mabill“ wird die Protagonistin des Gedichtes sogleich einschlägig verortet, nämlich in einem Vergnügungsetablissement, „das ein vornehmeres und zahlungskräftigeres Publikum anzog.“101 Und auch die Art des Tanzes, der Cancan, verweist eindeutig in die Welt des Halbseidenen und Verbotenen, wie Heine selbst in Lutezia XLII zu erläutert: Heiliger Himmel, ich soll für die Allgemeine Zeitung eine Definizion des Cancan geben! Wohlan: der Cancan ist ein Tanz, der nie in ordentlicher Gesellschaft getanzt wird, sondern 98

Diese Lesart der ‚Transformation‘ der Prostituierten in ein Schwein bietet sich zumindest an. DHA 3.2, 616. 100 Bei der in Vers 5 erwähnten Königin von Othaiti (dem heutigen Haiti) handelt es sich um die zweite historische Person, die den Namen Pomare trug. Vgl. hierzu DHA 3.2, 615–616. 101 DHA 3.2, 619. 99

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero nur auf gemeinen Tanzböden, wo derjenige, der ihn tanzt, oder diejenige, die ihn tanzt, unverzüglich von einem Polizeyagenten ergriffen und zur Thür hinausgeschleppt wird. (DHA 13.1, 157)

In Lutezia bietet der Cancan dabei die Möglichkeit, vor den Augen der Polizei ‚unsittlich‘ zu handeln, ohne dieser einen Grund zu geben, einschreiten zu dürfen. Das wiederum sei noch unsittlicher als reine Nacktheit, denn durch die Verschleierung trete die Verruchtheit nur umso mehr hervor: Dieser gallische Leichtsinn aber macht eben seine vergnügtesten Sprünge, wenn er in der Zwangsjacke steckt, und obgleich das strenge Polizeyauge es verhütet, daß der Cancan in seiner cynischen Bestimmtheit getanzt wird, so wissen doch die Tänzer durch allerley ironische Entrechats und übertreibende Anstandsgesten ihre verpönten Gedanken zu offenbaren, und die Verschleyerung erscheint alsdann noch unzüchtiger als die Nacktheit selbst. (DHA 13.1, 157)

Dieter Borchmeyer erklärt Heines Faszination am Tanz – der im zweiten Teil des Gedichtes in aller Kunstfertigkeit beschrieben wird – an dieser Stelle damit, dass dieser die einzige Kunst [sei], die sich dem Spiritualismus mit Erfolg widersetzt hat. In ihm feiern die antiken Freudengötter ihr letztes Fest. Freilich, sein wahres Wesen entfaltet der Tanz nicht im „christianisierten“ klassischen Bühnen- und Gesellschaftstanz, sondern in der obszönen Vitalität des Cancan, dessen laszive Posituren Heine immer wieder an die Bacchantenzüge an antiken Vasen und Basreliefs gemahnen.102

Bemerkenswert ist, dass bereits hier eindeutige Hinweise auf das Ende des Gedichts, Pomares Tod, erkennbar sind. Die Freudengötter feiern im Tanz eben ihr letztes Fest, danach gibt es keines mehr, und wenn die Posituren tatsächlich an Bacchantenzüge erinnern, dann ist der Tod immer schon mitgedacht, denn die Bacchantinnen zerreißen am Ende des Rauschs ihren Gott Dionysos. Den Bezug zu einem Tanz, der den Tod bringt, macht Pomare II darauf auch explizit deutlich: Sie tanzt. Derselbe Tanz ist das, Den einst die Tochter Herodias Getanzt vor dem Judenkönig Herodes. Ihr Auge sprüht wie Blitze des Todes. Sie tanzt mich rasend – ich werde toll – Sprich, Weib, was ich dir schenken soll? Du lächelst? Heda! Trabanten! Läufer! Man schlage ab das Haupt dem Täufer! (DHA 3.1, 30, V. 9–16)

Pomare verschmilzt mit Salome, der Tochter der Herodias, die mithilfe eines Tanzes ihren Vater dazu bringt, Johannes den Täufer zu töten.103 102

Borchmeyer 1997, S. 51. „Da trat hinein die Tochter der Herodias und tanzte, und gefiel wohl dem Herodes und denen, die am Tisch saßen. Da sprach der König zu dem Mägdlein: Bitte von mir, was du willst, ich will

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Deutete das Tänzeln in Rhampsenit das kommende Unheil lediglich an, hat es sich in Pomare zum ausgewachsenen Tanz entwickelt und ist direkt mit Intrigen und Gewalt verbunden. Die Verbindung zwischen Sexualität und Gewalt ist an dieser Stelle frappierend.104 Ferner ist Pomare ein Beispiel dafür, dass es nicht nur Männer und nicht nur Könige sind, die Gewalt ausüben. Wenn sogar eine Tänzerin jede Möglichkeit der Machtausübung sogleich nutzt, um Leid zu verbreiten, wird die Gewalt auf alle Gesellschaftsschichten ausgedehnt, sind es nicht mehr nur Herrscher und Machthaber, die eventuell aufgrund charakterlicher Defizite schlecht handeln. Wer auch immer die Möglichkeit hat, sich über andere zu erheben – und sei der Grund nur das Talent zu tanzen –, wird dies ausnutzen und rücksichtslos anderen schaden. Wenn hier Tanz mit Lust assoziiert wird, dann ist zugleich „die Quelle der Lust […] vergiftet, die tanzende Muse eine Verderberin. Oscar Wildes Salome wirft ihre Schatten voraus. Der von Pomare rasend getanzte Poet wird zu einem zweiten Herodes.“105 An dieser Stelle bietet sich wieder eine metapoetische Lesart an, die im Vergleich zu Der Mohrenkönig noch an Schärfe gewinnt. Dort wurde lediglich die letztendliche Vergänglichkeit der Poesie als Mittel des Trostes betont. Nun wird der Dichter zum Täter. Indem der Poet von seiner eigenen Schöpfung in den Wahnsinn getrieben und zu einem zweiten Herodes wird, wird die Poesie als solche gefährlich. Die Literatur selbst besitzt das Potential zur Gewalt: Poesie kann tödlich enden, sie kann töten. Das in der ersten Strophe des dritten Teils von Pomare vermittelte negative Menschenbild kann in seiner Drastik selbst die Leser*innen des Romanzero überraschen: Gestern noch fürs liebe Brod Wälzte sie sich tief im Koth, Aber heute schon mit Vieren Fährt das stolze Weib spazieren. In die seidnen Kissen drückt Sie das Lockenhaupt, und blickt Vornehm auf den großen Haufen Derer, die zu Fuße laufen. (DHA 3.1, 30, V. 1–8)

Einmal mehr wird der Wankelmut und Kontingenz des Schicksals deutlich: Wer gestern noch „im Koth“ lag, mag schon am nächsten Tag über andere erhoben werden – jedoch immer unter dem Vorzeichen, dass ein Absturz genauso rasch erfolgen dir’s geben. Und er schwur ihr einen Eid: Was du wirst von mir bitten, will ich dir geben, bis an die Hälfte meines Königreiches. Sie ging hinaus und sprach zu ihrer Mutter: Was soll ich bitten? Die sprach: Das Haupt Johannes des Täufers. Und sie ging alsbald hinein mit Eile zum König, bat und sprach: Ich will, daß du mir gebest jetzt zur Stunde auf einer Schüssel das Haupt Johannes des Täufers. Der König war betrübt; doch um des Eides willen und derer, die am Tisch saßen, wollte er sie nicht lassen eine Fehlbitte tun. Und alsbald schickte hin der König den Henker und hieß sein Haupt herbringen.“ Mk 6, 22–27. 104 Zur Sexualitätsdiskurs in Pomare siehe Guy 1984, S. 81–112. 105 Borchmeyer 1997, S. 52.

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kann. Die Tänzerin selbst, eben noch mit der biblischen Salome vergleichen, wird mit Kot beschmutzt. Durch den Reim von Brod mit Koth verbindet sich der Vorgang des Broterwerbs und der Nahrungsaufnahme mit den Verdauungs- und Ausscheidungsfunktionen des menschlichen Körpers, die gemeinhin nicht gesellschaftsfähig sind. Dies kann gelesen als eine groteske Umkehrung einer physiologischen Grundordnung. Die Ausscheidungen stehen nicht am Ende des Essenvorgangs, im Gegenteil: Dem Essensvorgang geht das Wühlen in menschlichen Ausscheidungen voraus. Schließlich übertragen sich durch das Enjambement nach Vers 8 – „Vornehm auf den großen Haufen / Derer, die zu Fuße laufen.“ – die Fäkalien auf das Volk, das damit als abstoßend und niederträchtig charakterisiert wird. Zwar findet sich die Verbindung zwischen Sinnlichkeit, Sexualität, wie sie vor allem in den ersten beiden Teilen von Pomare beschrieben wird, und einer banalen Körperlichkeit häufig in Heines Werk. In dieser Intensität bleibt sie jedoch Ausnahme,106 wenn sich Sinnlichkeit, Tod und Schmutz untrennbar miteinander vermischen. Nach alledem wundert es kaum, dass das lyrische Ich, wie so oft bei gefallenen Figuren im Romanzero, ein gewisses Mitleid mit Pomare nicht verhehlen kann: „Wenn ich dich so fahren seh, / Thut es mir im Herzen weh!“ (V. 10–11) Das Schicksal schlägt unbarmherzig zu: Und der Carabin mit schmierig Plumper Hand und lernbegierig Deinen schönen Leib zerfetzt, Anatomisch ihn zersetzt – Deine Rosse trifft nicht minder Einst zu Montfaucon der Schinder. (V. 15–20)

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Einschlägig ist hier etwa das Gedicht Beine hat uns zwei gegeben aus dem lyrischen Nachlass, wo Heine, diesmal allerdings in unverkennbar humorvoller, beinahe liebevoller Weise, auf die Doppelfunktion des Phallus als Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorgan anspielt: Gott der Schöpfer der Natur, Warum schuf er einfach nur Das skabrose Requisit Das der Mann gebraucht damit Er fortpflanze seine Race Und zugleich sein Wasser lasse […] (DHA 3.1, 402, V. 79–84) Zwey Funkzionen die so gräulich Und so schimpflich und abscheulig Mit einander kontrastiren, Und die Menschheit sehr blamiren. Eine Jungfrau von Gemüth Muß sich schämen wenn sie sieht Wie ihr höchstes Ideal Wird entweiht so trivial! Wie der Hochaltar der Minne Wird zur ganz gemeinen Rinne! (V. 91–100)

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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Der soziale Abstieg der Tänzerin ist in der Logik des Romanzero bereits angelegt.107 Zudem erfährt sie noch nach ihrem Tod eine weitere Demütigung, wenn der Medizinstudent (Carabin) als Stümper beschrieben wird. Die Obduktion ist überdies mehr als bloß „eine (fast) groteske Schändung der Schönheit“.108 Heine nimmt damit ein Motiv wieder auf, mit dem er sich bereits 1837109 befasst hat: Ach! das ist Alles sehr hübsch und spaßhaft und die Leute lachen dabey; aber ich, wenn ich heimlich bedenke wo dergleichen Lustspiel in der Wirklichkeit endet, nemlich in den Gossen der Prostituzion, in den Hospitälern von St. Lazare, auf den Tischen der Anatomie, wo der Carabin nicht selten seine ehemalige Liebesgefährtinn belehrsam zerschneiden sieht … Dann erstickt mir das Lachen in der Kehle, und fürchtete ich nicht vor dem gebildetsten Publikum der Welt als Narr zu erscheinen, so würde ich meine Thränen nicht zurückhalten. (DHA 12.1, 239)

Das Zerfetzen des schönen Leibes gleicht einer Vergewaltigung. Die Gewalt eskaliert vollends, wenn sie selbst nach dem Tod kein Ende findet. Sie wird noch dadurch gesteigert, dass sie nicht bewusst, sondern in ihrer Stümperhaftigkeit gleichsam en passant, geschieht. In den letzten beiden Versen des dritten Abschnitts schließlich muss mit dem Pferd sogar die unschuldige Kreatur leiden.110 Der finale Teil von Pomare liest sich wie ein Nachruf: Besser hat es sich gewendet, Das Geschick, das dich bedroht’ – Gott sey Dank, du hast geendet, Gott sey Dank, und du bist todt. (V. 1–4)

Der Tod wird als Gnade empfunden, jedoch nicht, weil mit ihm ein Heilsversprechen verbunden ist – davon ist im ganzen Gedicht nicht die Rede –, sondern nur, weil nun endlich das Leid beendet ist. Wie aber schon im dritten Abschnitt, ist der Tänzerin auch jetzt kein Frieden vergönnt. Wiederum findet die Gewalt einen Weg in den Text, diesmal jedoch subtiler, durch einen Verweis auf die frühere Historie Schlachtfeld bey Hastings: „Kaufte dir ein gutes Lailich, / Einen Sarg, ein Grab sogar.“ (V. 9–10) In Schlachtfeld bey Hastings ist es der Nebel, der „wie ein weißes Lailich“ (DHA 3.1, 24, V. 82) das Schlachtfeld mit den „viel Tausend Leichen“ (V. 85) bedeckt.111 Noch nach ihrem Tod wird Pomare auf ihre Körperlichkeit reduziert, wenn ihr Friseur, neben ihrem Hund einziger Gast der Trauergemeinschaft, sich ihrer erinnert: 107

Siehe auch Prawer 1952, S. 41: „The present may be beautiful and luxurious: but it is built on a degrading past and looks forward to a horrible future.“ 108 Guy 1984, S. 106. 109 Pomare entstand zwischen 1844 und 1845. 110 Von Bedeutung ist hierbei auch, dass Montfaucon nicht nur einen Schlachthof bezeichnet. Auf dem Hügel nordöstlich von Paris wurden „vom 13. bis zum 17. Jahrhundert die zum Tode verurteilten ausgesetzt und hingerichtet.“ (DHA 3.2, 620) – Auf die enge Verbindung zwischen Pomare und einem Tier weist zudem Siegbert S. Prawer hin (Prawer 1952, S. 41): „Pomare has suffered the fate of any animal that has outlived its usefulness.“ 111 Nicht zu vergessen, dass auch Pomares Körper nach der Behandlung in Pomare III einem Schlachtfeld gleicht.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero „Ach, ich habe der Pomare,“ Seufzte dieser, „oft gekämmt Ihre langen schwarzen Haare, Wenn sie vor mir saß im Hemd.“ (V. 17–20)

Die letzten beiden Strophen verleihen schließlich noch einmal der ganzen Unbarmherzigkeit und Ungerechtigkeit der Welt Ausdruck: Arme Königin des Spottes, Mit dem Diadem von Koth, Bist gerettet jetzt durch Gottes Ew’ge Güte, du bist todt. Wie die Mutter, so der Vater Hat Barmherzigkeit geübt, Und ich glaube, dieses that er, Weil auch du so viel geliebt. (V. 29–36)

Mit der „Stimme (von oben)“ lässt sich ein Bezug zu Faust I herstellen, wo eine solche mit „Ist gerettet!“ Gretchens Rettung verkündet. In Pomare kann die Stimme kaum anders als zynisch verstanden werden.112 Es ist hier gerade kein Deus ex machina, der Pomares Seele in den Himmel holt. Der nicht vorhandene Gott des Romanzero könnte als einzige Gnade den Tod anbieten, aber ohne Hoffnung auf ein Weiterleben im Jenseits. Wenn der „Vater“, den man hier mit dem Kommentar der DHA113 als Gott-Vater lesen kann, Barmherzigkeit übt, so ist die Begründung dafür doppeldeutig. „[V]iel geliebt“ kann sich zwar auf Empathie und Emotionalität beziehen, aber eben auch ein Hinweis auf Pomares Leben als Prostituierte sein. Ihr früher Tod kann dann kaum ernstlich als Gnade gelesen werden, sondern als im christlich geprägten Moraldiskurs der Zeit folgerichtige Strafe für (weibliche) Promiskuität. Letztendlich könnte man versucht sein, Pomare, auch aufgrund seiner zyklischen Struktur, als ein Unterfangen zu betrachten, das, wie dies dem mythischen Erzählen eigen ist, das Leiden zwar nicht lindert, ihm jedoch schließlich einen Sinn gibt114 und somit eine tröstende Funktion übernimmt. Die Geschichte der Tänzerin und Prostituierten Pomare wäre dann eine solche vom „periodische[n] Durchgang“115 durch Auflösungsmomente, die aber am Ende zumindest eine temporäre Ordnung etabliert. So würde Pomare „Gliederung und Strukturierung die Wirklichkeit überschaubar und beherrschbar“116 machen. Genau das aber geschieht nicht. Auch im Fall von Pomare verbirgt sich innerhalb eines höchst akkurat gebauten Gedichtes – „[r]egulärer geht es eigentlich nicht“117 112

Goethe 1808, S. 238, V. 4612. Vgl. DHA 3.2, 621. 114 Dies betrachtet etwa Mircea Eliade als Merkmal des Mythischen, vgl. Eliade 1986, S. 108. 115 Frank 1982, S. 178. 116 Angehrn 1996, S. 38. 117 Borchmeyer 1997, S. 50. 113

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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– eine Welt, die in allen Belangen aus den Fugen geraten ist und ihren Bewohnern noch im Tod mit nichts als Zynismus entgegentritt. Der Tod ist für Pomare gerade keine Erlösung, er setzt nicht das Leid, das sie zuvor erfahren oder verursacht hat, ins Recht oder außer Kraft. Eine Sinngebung oder Strukturierung findet nur auf der oberflächlichen Ebene des Gedichtkorpus’ statt. Der Rhythmus des sinnlichen, leichtfüßigen Tanzes verbindet sich mit Tod und Gewalt, um schließlich im Stillstand zu enden. Um die Liebe geht es auch in der Lamentazion Alte Rose. Allerdings um eine bereits verblasste Liebe, um die Erinnerung an eine Liebe und somit weniger um die sinnliche Liebe als solche. Alte Rose lässt sich als exemplarisch „für die sich andeutende Konfrontation zwischen der realen und poetischen Lebenswirklichkeit, der kreatürlichen und dichterischen Existenzform“118 lesen. Hier ist es „[d]ie bis in die Minnelyrik zurückweisende Metapher der gebrochenen Blume oder Rose“, die vor allem durch Goethes Heidenröslein volkstümlichen Charakter erhalten hatte.119 In Alte Rose ist nun nicht mehr die Rose selbst gebrochen, sondern das lyrische Ich, der Erzähler, „der im späteren Leben von ihr Bedrängte, von profanen Alltäglichkeiten Entmutigte“.120 Dies wird umso deutlicher, führt man sich die Rolle der Rose im Heidenröslein noch einmal vor Augen: Knabe sprach: ich breche dich, Röslein auf der Heiden! Röslein sprach: ich steche dich, Daß du ewig denkst an mich, Und ich will’s nicht leiden. […] Und der wilde Knabe brach ’s Röslein auf der Heiden; Röslein wehrte sich und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt’ es eben leiden.121

In einer Wiederaufnahme des Mottos der Lamentazionen122 kommt es somit zu einer Subjekt-Objekt-Verschiebung. Alle Aktivität geht von der Rose aus, das eigentliche Subjekt, der Erzähler, wird zum Objekt gemacht: Ward die schönste Ros’ im Land, Und ich wollt’ die Rose brechen, Doch sie wußte mich pikant Mit den Dornen fortzustechen. 118

Nobis 1983, S. 535. Nobis 1983, S. 536. 120 Nobis 1983, S. 536. 121 Goethe 1827, S. 16. 122 Das Motto wird in Abschn. 2.1.6 genauer untersucht. 119

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero Jetzt, wo sie verwelkt, zerfetzt Und verklatscht von Wind und Regen – Liebster Heinrich bin ich jetzt, Liebend kommt sie mir entgegen. Heinrich hinten, Heinrich vorn, Klingt es jetzt mit süßen Tönen; Sticht mich jetzt etwa ein Dorn, Ist es an dem Kinn der Schönen. (DHA 3.1, 104, V. 5–16)

Mit einem im gesamten Romanzero durchgehaltenen strengen formalen Aufbau gelingt es dem Gedicht nicht nur [d]urch die Anwendung des Oppositionsprinzips auf mehreren Ebenen […] die poetisch überhöhte junge Liebe als literarische Illusion nachzuweisen, als metaphorisch uneigentlich zu decouvrieren. Angesichts der profanen, komisch verfremdeten Alterssituation gewinnt die platte Wirklichkeit die Oberhand und wendet die literarische Metaphernfunktion der gebrochenen Rose in ihr realistisches Gegenteil: Nicht mehr die Rose, die Geliebte wird gebrochen, sondern der nunmehr vollends Desillusionierte, ja Hassende.123

Durch den wörtlichen Gebrauch der Metapher zerbricht Heine darüber hinaus die Metapher selbst, er entmetaphorisiert sie124 , um sie auf ihren realen Kern zurückzuführen. Der wiederum ist gekennzeichnet von Ekel und Ablehnung: Allzu hart die Borsten sind, Die des Kinnes Wärzchen zieren – Geh’ in’s Kloster, liebes Kind, Oder lasse dich rasiren. (V. 17–20)

Die Poesie trifft hier auf die Wirklichkeit, sie wird von der Wirklichkeit entlarvt. Und diese Wirklichkeit ist profan, makaber und bietet keinerlei Trost.125 Altes Lied schließlich erweitert die Perspektive der Hoffnungslosigkeit, indem es aufzeigt, dass dem Subjekt auch im Privaten kein Glück beschieden ist. Es handelt von der vor der Zeit verstorbenen Liebe des lyrischen Ichs: Du bist gestorben und weißt es nicht, Erloschen ist dein Augenlicht, Erblichen ist dein rothes Mündchen, Und du bist todt, mein todtes Kindchen. (DHA 3.1, 103, V. 1–4)

Deren Leichenzug nimmt im Verlauf des Gedichts, in einer Parodie romantischer Topoi, immer fantastischere Züge an, wenn etwa „[d]ie Sterne mit zur Leiche“ (V. 8) gehen, die Tannen „Todtengebete murmeln“ (V. 12) und die „Elfen tanzten“ (V. 14). 123

Nobis 1983, S. 537. Vgl. Nobis 1983, S. 537. 125 Ein weiteres Indiz hierfür ist das Shakespeare-Zitat (Hamlet III, 1) in Vers 19 („Geh’ in’s Kloster, liebes Kind!“). 124

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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All das täuscht indes nicht darüber hinweg, dass der Tod endgültig ist, die Trauer über einen geliebten Menschen nur allzu real und durch fade Bilder der Romantik und Naturlyrik nicht zu lindern: Und als wir kamen zu deinem Grab, Da stieg der Mond vom Himmel herab. Er hielt eine Rede. Ein Schluchzen und Stöhnen, Und in der Ferne die Glocken tönen. (V. 17–20)

Auch der Rekurs auf die sinnliche Liebe bietet keine Erlösung. Liebe spendet, wenn überhaupt, nur temporär Trost. Auch in der Liebe kann sich das Subjekt nicht seiner selbst gewiss werden. Sogar das persönlichste aller Gefühle bietet also keinen Halt.126 Was bleibt dem Menschen dann? Zur Beantwortung dieser Frage erweitert der Romanzero den Blickwinkel, weg vom Persönlichen, er wagt den Sprung über Atlantik, hinein in eine ‚Neue Welt‘.

2.1.6 Die ‚Neue Welt‘ Das mit Abstand längste Gedicht der Historien bildet gleichzeitig ihren Abschluss und reaktualisiert, unter dem Deckmantel der Erzählung über die Eroberung Mexikos und der darauf folgenden Rache des namensgebenden aztekischen Kriegsgottes, alle Gedanken, die bis dahin im Romanzero von Bedeutung waren. Heine verdichtet in Vitzliputzli „eine extrem blutige Episode aus der Geschichte der spanischen Eroberung zu einem Bild des globalen Kreislaufs von kolonialer Gewalt und indigener Gegengewalt“.127 An dieser Stelle soll dabei zunächst nur darauf eingegangen werden, wie im Vitzliputzli Ordnungsstrukturen verhandelt und der allumfassende Leidenscharakter der Welt herausgestrichen werden.128 Vitzliputzli ist nicht nur aufgrund seiner Länge von insgesamt 604 Versen in vier Teilen und seiner exponierten Stellung als Bindeglied zwischen den ersten beiden Büchern des Romanzero eine Ausnahmeerscheinung in der Komposition des Zyklus. Es handelt sich zugleich um eines der, gerade in neuerer Zeit, meistbesprochenen Gedichte des gesamten Werks. Wurde der Teilzyklus in den frühen Untersuchungen129 noch recht stiefmütterlich behandelt, machte ihn Markus Winkler für seine Studie zur kulturellen Fremdheit nutzbar.130 Die bisher umfangreichste Untersuchung zum 126

Eine ähnliche Thematik findet sich auch in Der Asra (DHA 3.1, 41–42), das von einem jemenitischen Sklaven zu berichten weiß, bei dem Liebe und Tod untrennbar miteinander verbunden sind: „Und mein Stamm sind jene Asra, / Welche sterben, wenn sie leben.“ (V. 15–16) 127 Winkler 2016, S. 206. 128 Auf die für das mythische Denken ebenso wichtigen Aspekte der Transzendenz des Raumes und der Zeit und auf die zyklische Struktur des Textes wird an gegebenen Stellen dieser Arbeit gesondert eingegangen. Auf das kolonialistische Moment des Textes, der sich schon in der Begrifflichkeit ‚neue‘ und ‚alte‘ Welt zeigt, kann in dieser Stelle nicht eigens eingegangen werden. 129 Vgl. Gebhard 1956 oder Prawer 1952. 130 Winkler 1995 sowie Winkler 2016.

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Vitzliputzli hat Robert Steegers vorgelegt, der in seiner Dissertation zu dem Schluss kommt, dass Vitzliputzli als Reaktion auf den Genozid an seinem Volk gleich auf vierfache Weise an den Europäern Rache übt. Einmal durch „die Syphilis, die er aus der Neuen in die Alte Welt trage“, dann durch das Gold, das „auf die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des sich entfaltenden Industriekapitalismus“ verweist, durch die Reformation, in der sich „Vitzliputzlis Rache an seinen katholischen Überwindern“ widerspiegelt, und schließlich durch den Text selbst, der „ein Eigenrecht besitzt und wirkmächtig ist, wie es Heine am prägnantesten am Ende des Wintermährchens als Warnung an den Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. formuliert“.131 Ein veritables Lehrstück in Rache also, das nichts Gutes verheißt. Schon vor Entstehung des Vitzliputzli (zwischen 1848 und 1851132 ) hat sich Heine mit dem Stoff beschäftigt. Nordsee III (Reisebilder II, 1826/27) etwa erwähnt den Untergang der aztekischen Götter und deren Ersetzung durch das Christentum: Man wage es nur, die alten Bilder wieder auszugraben, und über Nacht blüht hervor auch die alte Liebe mit ihren Blumen. Das ist nicht figürlich gesagt, sondern es ist eine Thatsache: als Bullock vor einigen Jahren ein altheidnisches Steinbild in Mexiko ausgegraben, fand er den andern Tag, daß es nächtlicher Weile mit Blumen bekränzt worden; und doch hatte Spanien, mit Feuer und Schwert, den alten Glauben der Mexikaner zerstört, und seit drey Jahrhunderten ihre Gemüther gar stark umgewühlt und gepflügt und mit Christenthum besäet. (DHA 6, 160–161)

Das Christentum hat nach dieser Auffassung also nicht nur in Europa die alten sensualistischen („die alte Liebe mit ihren Blumen“) Götter verdrängt, sondern auch in der Neuen Welt. Und auch in den Französischen Zuständen (Artikel IX vom 16. Juni 1832) findet die Eroberung Mexikos durch die Spanier Erwähnung, in Worten, die sich fast genau so im Vitzliputzli wiederfinden: Als der erste Spanier fiel, und die Mexikaner merkten, daß die weißen Götter, die sie mit Blitz und Donner bewaffnet sahen, ebenfalls sterblich seyen, wäre diesen der Kampf schier schlecht bekommen, hätten die Feuergewehre nicht den Ausschlag gegeben. (DHA 12.1, 173)

Das Präludium hebt an mit einem vorgeblichen Lobgesang auf die Neue Welt, die in starkem Kontrast zum alten, überlebten Europa geschildert wird: Dieses ist Amerika! Dieses ist die neue Welt! Nicht die heutige, die schon Europäisiret abwelkt – […] Ist kein Kirchhof der Romantik, Ist kein alter Scherbenberg Von verschimmelten Symbolen Und versteinerten Perucken.

131 132

Steegers 2006, S. 242. Vgl. DHA 3.2, 677.

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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Aus gesundem Boden sprossen Auch gesunde Bäume – keiner Ist blasirt und keiner hat In dem Rückgratmark die Schwindsucht. (DHA 3.1, 56, V. 1–4, 13–20)

Die Erwähnung der Schwindsucht ist nicht nur eine „offene Anspielung auf die eigene Krankheit“133 . Als die endemische Erkrankung vor allem der ‚armen Massen‘ bedeutet die Abwesenheit der Schwindsucht zugleich ein Fehlen eben dieser armen Massen; die Neue Welt scheint also auf den ersten Blick nicht nur unverbraucht und neu, sie ist auch von einer Gleichheit zwischen den Menschen geprägt, denn wo die Tuberkulose nicht grassiert, kann auch keine Armut sein. Bei der Beschreibung dieser neuen Welt steht der Erzähler indes vor einem veritablen, grundsätzlichen Problem der Sprache. Selbst die neueste aller Welten kann nur in alten Worten beschrieben werden, die alte Welt ‚kontaminiert‘, wenn man so will, immer schon nolens volens alles Neue.134 Dieses kultur- und sprachtheoretische Dilemma macht sich Heine zunutze, indem er ganz dezidiert Vergleiche und Wendungen benutzt, die die Beschreibung Amerikas in die Nähe des alten Europas rücken. Das Erzähler-Ich kann nicht verhindern, dass es „in die Neue Welt sein Bildinventar mitbringt und es auf alles projiziert, was ihm über den Weg läuft“.135 Der Wahlspruch der Vertreter eines Kreislaufmodells der Geschichte aus Verschiedenartige Geschichtsauffassung scheint sich vorerst zu bestätigen: „[I]m Leben der Völker wie im Leben der Individuen, in diesem wie in der organischen Natur überhaupt, sehen sie ein Wachsen, Blühen, Welken und Sterben: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. ‚Es ist nichts Neues unter der Sonne!‘“ (DHA 10, 301)136 Es sind dabei keineswegs nur Themen und Motive, die Heine wiederverwendet, sondern vor allem auch Querverweise zu seinem eigenen Werk. Die Verse 30 und 31 zum Beispiel – „Kundig bin wie Salomo, / Welcher Tausend Weiber hatte“ – rufen sowohl den biblischen Salomo auf und übertragen ihn gedanklich nach Mexiko, als auch die Historie König David, wo Salomo für die sich perpetuierende Abfolge von Willkürherrschaft, Mord und Machtmissbrauch steht. Als weiteres Beispiel bietet sich das Blumenmotiv an, das schon in der ersten Strophe 133

DHA 3.2, 709. Das erklärt allerdings nicht die rätselhafte Verbindung von Rückgratmark und Schwindsucht. Die Tuberkulose befällt als Lungenkrankheit nicht das Rückenmark, im Gegensatz zur Syphilis, an der zu Leiden Heine glaubte. 134 Winkler 2016, S. 208–209. 135 S. Böhn 1998, S. 371: „Das Zeigen des Neuen gerät hier nicht zu einem neuen Zeigen; in dem vermeintlich sprachschöpferischen deiktischen Akt ist die ihn negierende metaphorische Bezugnahme auf das gegenwärtige Amerika enthalten, das nicht mehr neu und ‚gesund‘ ist, sondern wegen der europäischen Kolonisation bereites ‚abwelkt‘. […] In der zweiten und dritten Strophe muss das Erzähler-Ich nämlich zur Verbildlichung des Neuen das mythologische Bild von der Geburt der Aphrodite aus dem Meer bemühen. Damit parodiert es eine für die neuzeitliche Ethnographie grundlegende Figur, den gelehrten Kulturvergleich: Das Neue wird mithilfe tradierter europäischer Bildwelten zugleich erfasst und verfehlt; der globale Wissenshorizont, den der Vergleich eröffnen soll, bleibt eurozentrisch.“ 136 Steegers liest den ersten Vers des Präludiums als performativen Sprechakt, „der die Welt, die er beschreibt, erst erschafft.“ (Steegers 2006, S. 131)

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

eingeführt („abwelkt“, V. 4) und in den Versen 37–38 wieder aufgenommen wird: „Neuer Boden, neue Blumen! / Neue Blumen, neue Düfte!“ Die Blumen mögen neu sein, das entsprechende Motiv ist aber bereits unter anderem aus Schelm von Bergen bekannt, wo es in Verbindung mit Ungerechtigkeit, Willkür und Tod auftaucht. Noch bevor also in Vitzliputzli I. Cortez den Schauplatz betritt und Mexiko erobert, findet im Präludium eine sprachliche Eroberung und Aneignung der Neuen Welt statt. Sie ist schon im Akt ihrer Beschreibung ‚verunreinigt‘ und verloren.137 Bereits die ersten Strophen des ersten Teils (I.) liefern eine wesentliche Charakterisierung Cortez’: Auf dem Haupt trug er den Lorbeer, Und an seinen Stiefeln glänzten Goldne Sporen – dennoch war er Nicht ein Held und auch kein Ritter. Nur ein Räuberhauptmann war er, Der in’s Buch des Ruhmes einschrieb, Mit der eignen frechen Faust, Seinen frechen Namen: Cortez. (DHA 3.1, 59, V. 1–8)

Über die konkrete Beschreibung als Räuberhauptmann, der weder Held noch Ritter ist, hinaus werden in der ersten Strophe noch zwei direkte Bezüge zu vorherigen Historien hergestellt. Der Lorbeer erinnert an die Lorbeerkränze, die den Sieger in Valkyren schmücken, „[d]er den Bessern überwand / Und gewonnen Leut’ und Land“ (DHA, 3.1, 21, V. 15–16), was Cortez’ Charakterisierung als unbarmherziger Krieger noch unterstreicht. Ähnlich weist der Begriff „Sporen“ (V. 3) über Vitzliputzli hinaus. In Schlachtfeld bey Hastings sieht der Erzähler „einen Schneider aus Bayeux, er kam / Mit goldnen Sporen geritten“ (DHA 3.1, 22, V. 19–20).138 So wird ein Text aufgerufen, in dem es dezidiert darum geht, dass der Schlechtere über den Besseren siegt (in Vitzliputzli entsprechend Cortez über Montezuma), und in dem es zugleich zu einer Pervertierung christlicher Gedanken kommt.139 Doch nicht nur die Figur des Cortez ist mit ausgesprochen negativen Eigenschaften versehen, es ist der Zustand der Welt insgesamt, der wenig Anlass zur Hoffnung gibt. 137

Vgl. dazu auch Jäger 2000, S. 64. Wenn es in Schlachtfeld bey Hastings um die Umstände und Folgen des Sieges Wilhelm I. geht, lassen sich die entsprechenden Verse fast deckungsgleich auf Cortez und seinen Umgang mit den Azteken übertragen: Gefallen ist der bessre Mann, Es siegte der Bankert, der schlechte, Gewappnete Diebe vertheilen das Land Und machen den Freyling zum Knechte. Der lausigste Lump aus der Normandie Wird Lord auf der Insel der Britten; […] (DHA 3.1, 22, V. 13–18) 139 Die Pervertierung besteht beispielsweise in Vitzliputzli im Massenmord an der indigenen Bevölkerung Südamerikas unter dem Vorwand der ‚Zivilisierung‘ und Christianisierung, in Schlachtfeld bey Hastings im unchristlichen Auswählen des einen Menschen, des Königs, inmitten der Toten des Schlachtfelds, um nur diesem ein christliches Begräbnis zu gewähren. 138

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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Daran vermag selbst ein Mann vom Format Christoph Kolumbus’, der in den vorigen Strophen als leuchtendes Gegenbild zu Cortez’ gezeichnet wurde, nichts zu ändern: Mancher hat schon viel gegeben, Aber jener hat der Welt Eine ganze Welt geschenket, Und sie heißt Amerika. Nicht befreyen konnt’ er uns Aus dem öden Erdenkerker, Doch er wußt’ ihn zu erweitern Und die Kette zu verlängern. (DHA 3.1, 60, V. 29–36)

Hier drückt sich zunächst das kolonialistische Denken der Europäer in Reinform aus. Ein einzelner Mann hat der „Welt“ – damit ist das alte Europa gemeint – eine ganze neue Welt „geschenkt“. Die ‚alte‘ Welt wird als Norm gesetzt, an der die ‚neue‘ Welt gemessen wird. Bereits die Bezeichnung macht die Hierarchie deutlich. Die alte Welt verleibt sich sodann die neue ein, es existiert kein gleichberechtigtes Nebeneinander der Kulturen.140 Die Erfahrung der Fremdheit, wenn auch zunächst gekennzeichnet durch Neugier, ist von Beginn an geprägt von einem Anspruchsdenken der (vermeintlich) stärkeren Kultur, die ihre Ansprüche notfalls mit Gewalt rücksichtslos durchsetzt. Ein durch nichts Weiteres als den Zufall141 zu Macht gekommener Mann, Kolumbus, schwingt sich zum Eigentümer eines ganzen Kontinents auf, den er ‚verschenken‘ kann, über den er gedankenlos verfügt. Die Hoffnung auf etwas Gutes in der Neuen Welt (oder anderswo) wird zusätzlich negiert, wenn die nächste Strophe schon theologischen Charakter annimmt. Der „öde[] Erdenkerker“ wurde lediglich erweitert, am Los der Menschheit („Und die Kette zu verlängern“) ändert sich nichts, das optimistische Bild, das die Anfangsverse des Gedichts noch evozieren, ist spätestens jetzt verblasst. Das „Idealbild der Neuen Welt und ihres Entdeckers [wird] mit Schreckbildern ihrer blutigen Eroberung und Kolonialisierung zusammen“ gesehen.142 Markus Winkler liest dies als „bildkritisches Zusammensehen“, das „aber zugleich entdifferenzierend und mythisierend [ist], insofern als es suggeriert, dass sich Kolumbus und Cortes nur graduell, durch den Grad der Nähe zum bzw. der Entfernung vom Göttlichen unterscheiden“.143 Als tröstend würde sich da höchstens die Hoffnung auf ein Jenseits erweisen, das gänzlich außerhalb der Welt steht. Dieser Hoffnung allerdings schieben die beiden folgenden Strophen sogleich einen Riegel vor:

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Ein Einverleiben findet denn auch später im Gedicht noch auf eine sehr viel direktere Weise statt. 141 Schließlich war Kolumbus eigentlich auf der Suche nach einem Seeweg nach Indien und ist nur ‚zufällig‘ in Südamerika gelandet. Inwiefern dies selbst einen Mythos darstellt, soll an dieser Stelle nicht untersucht werden. 142 Winkler 2016, S. 210. 143 Winkler 2016, S. 210.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero Einer nur, ein einz’ger Held, Gab uns mehr und gab uns Bessres Als Kolumbus, das ist jener, Der uns einen Gott gegeben. Sein Herr Vater, der hieß Amram, Seine Mutter hieß Jochebeth, Und er selber, Moses heißt er, Und er ist mein bester Heros. (V. 41–48)144

Natürlich spielt Vers 44 vordergründig auf die Rolle Moses bei der Einführung des Monotheismus an. Im größeren Zusammenhang des Romanzero jedoch, der ein Eingreifen Gottes nicht kennt, lässt sich der Vers mit einer anderen Pointe lesen. Gott ist dann menschengemacht, er ist keine allmächtige Entität an sich selbst, sondern existiert nur qua menschlichem Schöpfungsakt. Jede Hoffnung auf göttliche Erlösung oder ein Leben nach dem Tod ist damit von vornherein obsolet geworden – der Mensch kann dem Leid und der Ungerechtigkeit der Welt nicht entkommen, er ist auf Erden gefangen. Die Ungerechtigkeit nimmt weiter ihren Lauf, wenn sich der Heide Montezuma als der eigentliche Christ erweist, indem er das Gastrecht ehrt, d. h. in dieser Hinsicht auch nach christlicher Morallehre gut handelt: Dieser unzivilisirte, Abergläubisch blinde Heide Glaubte noch an Treu’ und Ehre Und an Heiligkeit des Gastrechts. Er willfahrte dem Gesuche, Beyzuwohnen einem Feste, Das in ihrer Burg die Spanier Ihm zu Ehren geben wollten – (V. 69–76)

Ganz im Sinne des Romanzero jedoch wird auch derjenige, der sich einer allgemeinen Ordnung145 entsprechend verhält, schon bald betrogen. Anders als der Hebreärbrief erhoffen lässt146 , beherbergt Montezuma beileibe keinen Engel. Er gewährt dem 144

Vgl. hierzu auch Winkler 2016, S. 210: „Das Untereinanderschreiben der Namen entspricht also einem bildtheologischen Deszensus, der Kontinuität suggeriert – im Sinne jener neuplatonisch geprägten, bildtheologischen Wahrnehmungs- und Denktradition, die Gerhart von Graevenitz als ‚symbolisch‘ bezeichnet hat und als eine der Konstituenten unserer ‚Denkgewohnheit des Mythos‘ bestimmt hat.“ 145 Nichts anderes stellt das Gebot der Gastfreundschaft dar. Schon in der Antike war es eine der wichtigsten (religiösen) Pflichten, gewährleistete es doch Sicherheit auf langen Reisen, die stets anfällig waren für Unbill aller Art. Es war unverzichtbar für die Durchführung von Reisen und besaß somit einen stark ordnungsstiftenden Charakter. 146 Hebr. 13,2: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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Eroberer Cortez Obdach, der ihn durch eine List gefangen nimmt und schließlich für seinen Tod verantwortlich ist. Vitzliputzli deckt im Verhalten der Spanier die paradoxe Dynamik der Verkehrung des Christlich-Zivilisierten in das Wilde und Barbarische auf: Als Räuber und durch die Missachtung des Gastrechts nehmen sie selbst Züge der Barbaren an, die sie in den Azteken erblicken (wie die Subsistenzform des Raubs ist die Missachtung des Gebots der xenía, des Gastrechts, schon bei Herodot und Euripides ein Kennzeichen des Barbarischen).147

Auf diese Missachtung folgen blutige Auseinandersetzungen, die Heine überaus quellennah beschreibt.148 Bemerkenswert ist, dass es, wie schon in Pomare zu einer verstörenden Verbindung von Gewalt, Tod und Sexualität kommt:149 Auf den Brücken, Flößen, Furthen, Hei! da gab’s ein toll Gelage! Roth in Strömen floß das Blut Und die kecken Zecher rangen – Rangen Leib an Leib gepreßt, Und wir sehn auf mancher nackten Indianerbrust den Abdruck Span’scher Rüstungsarabesken. Ein Erdrosseln war’s, ein Würgen, Ein Gemetzel, das sich langsam, Schaurig langsam, weiter wälzte, Ueber Brücken, Flöße, Furthen. (V. 149–160)

Der Erzähler beschreibt die Schlacht zwischen Spaniern und ‚Mexikanern‘ als orgiastisches Fest, das Erinnerungen an den ‚Singetanz‘ um das goldene Kalb aufkommen lässt. Das auftaktlose „Hei!“ verleiht dem Ganzen einen spielerischen Charakter, der durch die Beschreibung „toll Gelage“ noch verstärkt wird. Durch die Erwähnung der Blutströme und die Bezeichnung der Kämpfenden als „Zecher“ wiederum verfestigt sich der Eindruck einer dionysischen Orgie, an deren Ende der Tod steht. Zudem kommt es bereits hier, wie schon in Pomare, zu einer Engführung von Nahrungsaufnahme und Tod, die später im Gedicht durch die kannibalistische Opferung der gefangengenommenen Spanier wieder aufgenommen wird. Die Verse 153–156 verleihen der Schlacht zusätzlich eine sexuelle Note. Wie Liebende pressen die Kämpfenden in einer grotesken Parodie des intimen Aktes ihre Leiber aneinander. Zu einer Vermischung der Völker kommt es gerade nicht durch konsensuelle Vereinigung, durch das Zeugen gemeinsamer Nachkommen, sondern durch Kampf auf Leben und Tod. Die schutzlosen „nackten“ Ureinwohner werden von den Spaniern praktisch vergewaltigt, die Unversehrtheit ihrer Körper wird angetastet, wie (Nutz)Tieren wird 147

Winkler 2016, S. 211. Vgl. DHA 3.2, 713. 149 Diese Verbindung stellt auch das Gedicht Das goldne Kalb her, vgl. dazu Abschn. 4.2. 148

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

ihnen ein Siegel aufgedrückt.150 Die Verse 157–160 heben den Kampf schließlich auf eine übergeordnete Ebene. Die Verwendung des Begriffs „Würgen“ erinnert an den biblischen ‚Würgeengel‘,151 der die Erstgeborenen Ägyptens tötet, das Morden erscheint somit als ein Phänomen, das in die Tradition der ältesten Erzählungen der Menschheit gestellt wird. Wenn die Schlacht sich nun „[s]chaurig langsam, weiter wälzte“, mutet sie wie eine unaufhaltsame Naturgewalt an. Mord und Gewalt werden also hier von der alten in die neue Welt hineingetragen, die paradoxe Ordnung der Gewalt setzt sich fort, der Stärkere (und Schlechtere) zwingt auch in der neuen Welt dem Schwächeren rücksichtslos seinen Willen auf. Im Akt der Gewalt schließlich ist jede Ordnung aufgelöst, selbst die von Freund und Feind, sie erscheint als maximal willkürlich, denn die Spanier [t]rafen freylich im Getümmel Viele ihrer eignen Brüder, Doch sie trafen auch gar manchen Hochvortrefflichen Hidalgo. (V. 81–84)

Die Gewalt gegen den Fremden kehrt sich gegen die Spanier selbst, sogar das Eigene ist also vor der eigentlich gegen den Anderen gerichteten Gewalt nicht sicher. Vitzliputzli152 selbst wird zum ersten Mal in Vitzliputzli II. erwähnt, wo Heine, wieder sehr nahe an den zeitgenössischen Quellen,153 den Tempel des Gottes beschreibt: Hundert tausend Freudenlampen, Waldharzfackeln, Pechkranzfeuer, Werfen grell ihr Tageslicht Auf Paläste, Götterhallen, Gildenhäuser und zumal Auf den Tempel Vitzliputzlis, Götzenburg von rothem Backstein, 150

Hierbei handelt es sich im Übrigen um eine der wenigen Stellen, an denen das Gedicht von historischen Schilderungen abweicht. Diese ‚Nahaufnahme‘ des Kampfes ist eine genuin poetische Bearbeitung. Vgl. hierzu DHA 3.2, 713. 151 Vgl. DWB, Bd. 30, Sp. 2214. 152 Vitzliputzli ist der nicht mehr gebräuchliche Name der aztekischen Gottheit Huitzilopochtli, die als Kriegs- und Sonnengott verehrt wurde. Huitzilopochtli wurden regelmäßig Menschenopfer dargebracht, bei denen es sich häufig um Kriegsgefangene handelte, die in eigens dafür organisierten Feldzügen gemacht wurden. 153 Vgl. DHA 3.2, 715. Vgl. beispielsweise einen, auch Heine bekannten, Bericht Alexander von Humboldts über das Aussehen der aztekischen Tempelanlagen: „Diese Gebäude, obschon von sehr verschiedener Größe, hatten doch alle einerlei Form; sie waren Pyramiden von mehreren Absätzen, deren Seiten sich genau der Mittags- und Parallel-Linie des Orts richteten. […] Der, dem großen Geist Tezcatlipoca und dem Kriegshott, Huitzilopochtli, geweihte Teocalli zu Mexico wurde von den Azteken, nach dem Muster der Pyramide von Teotihuacan, erbaut, und zwar nur sechs Jahre vor der Entdeckung America’s durch Christoph Columb. Diese abgestumpfte Pyramide, welche Cortes den Haupttempel nennt, hatte, an ihrer Base eine Breite von 97 Meters, und eine Höhe von ungefähr 54 M.“ (von Humboldt 1810, S. 31–33)

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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Seltsam mahnend an egyptisch […] (DHA 3.1, 66, V. 5–12)154

Auf dem Tempel schließlich sitzt der Kriegsgott höchstselbst, dessen Äußeres dem Anschein nach gar nicht zu seinem Charakter passt. Dort auf seinem Thron-Altar Sitzt der große Vitzliputzli, Mexikos blutdürst’ger Kriegsgott. Ist ein böses Ungethüm, Doch sein Aeußres ist so putzig, So verschnörkelt und so kindisch, Daß er trotz des innern Grausens Dennoch unsre Lachlust kitzelt – (V. 29–36)

Die späteren Taten des Vitzliputzli indes sprechen für sich. Auf die grausige Fratzenhaftigkeit des Körpers weist Robert Steegers hin: Der groteske Körper, der als kollektiver Körper vom Tod, der allein das Individuum trifft, nicht betroffen ist, ist ‚putzig‘, ‚verschnörkelt‘ und ‚kindisch‘ wie der des Götzenstandbildes und erregt zugleich Grausen und Lachlust, wobei letztere, wie das Leben über den Tod, schließlich triumphiert.155

Von Bedeutung ist an dieser Stelle, dass Vitzliputzli tatsächlich nicht als verallgemeinerungsfähiges Individuum aufritt, sondern Gott bleibt. Seine Eigenschaft als göttliches Wesen erlaubt es ihm, sich am Ende der Romanze zu transformieren und Rache an der Alten Welt zu üben. Das Motiv des verdrängten Gottes ist bei Heine bekannt, es kommt ganz ähnlich bereits in Die Götter Griechenlands oder Götter im Exil vor. Einmal mehr also treibt das Christentum einen alten, urtümlichen Gott ins Exil. Doch nicht nur der Gott selbst, auch seine Umgebung verdient Aufmerksamkeit. Auf des Altars Stufen kauern Auch die Tempel-Musici, Paukenschläger, Kuhhornbläser – Ein Gerassel und Getute – Ein Gerassel und Getute, Und es stimmet ein des Chores Mexikanisches Te-Deum – Ein Miaulen wie von Katzen – (V. 57–64)

154

Eine ausführliche Analyse des Altars und des Throns nimmt Robert Steegers (Steegers 2006, S. 112–120) vor. 155 Steegers 2006, S. 121. Für eine ausführliche Analyse des Körpers und der Figur Vitzliputzlis, u. a. mit einem Bezug zu den Theorien Michael Bachtins, s. Steegers 2006, S. 120–129.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

So weit nämlich scheinen Christentum und aztekischer Blutrausch gar nicht auseinander zu liegen. Auch im Zentrum des Christentums steht mit der Transsubstantiation das Blut, wenn auch eben in ‚zivilisierter‘ Form. Das Bild der Katzen wird dann noch weiter ausgeschmückt, denn sie weisen eine Eigenschaft auf, die sie von ihren europäischen Pendants unterscheidet: Ein Miaulen wie von Katzen, Doch von jener großen Sorte, Welche Tigerkatzen heißen Und statt Mäuse Menschen fressen! (V. 65–68)

Die Katzen der Neuen Welt lassen sich so leicht nicht einlullen und in den Schlaf singen, wie die in der Historie Carl I.156 Die Katzen der Neuen Welt sind quicklebendig – und sie haben Appetit auf Menschenfleisch. Darin nämlich besteht der eigentliche Ausbruch aus der Ordnung und der Rückfall in das Vorzivilisatorische des Vitzliputzli: dem orgiastischen Schlachten und Verspeisen der Menschenopfer zu Ehren des Kriegsgottes. Denn dem Blute wurde Rothwein, Und dem Leichnam, welcher vorkam, Wurde eine harmlos dünne Mehlbreyspeis transsubstituiret – (V. 89–92) Diesmal aber, bey den Wilden, War der Spaß sehr roh und ernsthaft Aufgefaßt: Man speis’te Fleisch Und das Blut war Menschenblut. (V. 89–96) […] Heute werden dir geschlachtet Achtzig Spanier, stolze Braten Für die Tafel deiner Priester, Die sich an dem Fleisch erquicken. (V. 101–108)

Das Christentum hat das, aus theologischer Sicht, singuläre Opfer Jesu Christi als quasi-zivilisiertes Messopfer im Abendmahl zu dem zentralen sinnstiftenden Moment gemacht. Durch die in der Eucharistiefeier stattfindende Transsubstantiation nehmen die Gläubigen Leib und Blut Christi zu sich, ohne dass dem ein Gewaltakt vorgeschaltet ist. Das seinem Wesen nach anthropophagische Moment wird so zivilisatorisch entschärft und bekömmlich gemacht. Vitzliputzli macht diese Zivilisierung wieder rückgängig, deckt den tabuisierten, verdrängten Kern des Messopfers, der in einem Akt des Kannibalismus liegt, auf und verbindet ihn mit bacchantischer Ausgelassenheit. Dem Neologismus ‚transsubstituieren‘ schreibt Markus Winkler in diesem Zusammenhang blasphemischen Charakter zu: 156

Vgl. Carl I.: „Das Kätzchen ist todt, die Mäuschen sind froh – / Schlafe, mein Henkerchen, schlafe!“ (DHA 3.1, 27, V. 35–36). Auf die motivische Nähe der beiden Historien Vitzliputzli und Carl I. weist schon Steegers hin, s. Steegers 2006, S. 131.

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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In ihm steckt der Gedanke, dass die mythenkritische Trennung von Bildträger und Bildgegenstand, die das katholische Christentum geleistet hat, indem es den zu opfernden Leib durch Brot und Wein substituierte, vom Dogma der Transsubstantiation, also der Wesensverwandlung von Brot und Wein in Christi Leib und Blut, rückgängig gemacht worden ist. Der Wortwitz hat also eine äußerst aggressive Tendenz; er führt schließlich auf den Gedanken, dass sich im Menschenopfer eine Extremform des Kannibalismus verbirgt, nämlich „Götterfresserei“ […].157

Es bleibt jedoch nicht bei einer Rückführung des christlichen Messopfers auf seinen tabuisierten anthropophagischen Kern. Die Spanier sehen sich in der Neuen Welt plötzlich mit ihrer eigenen verdrängten Vergangenheit konfrontiert. Vitzliputzli nimmt auch den Akt des Raubens auf und wendet ihn gegen die spanischen Eroberer selbst. Rauben diese Gold und Silber, so begeben sich die Azteken ohne Umwege auf eine viszerale Ebene, denn kulturhistorisch lässt sich der Kannibalismus durchaus als Form des Raubes lesen. Die Azteken gehen dann „[u]ngehindert durch moralische Fesseln […] den Weg der totalen Vernichtung konsequent bis an sein Ende – bis hin zur restlosen Vertilgung des Gegners durch seine kannibalische Einverleibung. Der kannibalische Akt markiert den Raub in seiner Extremform: ein ungehemmtes Nehmen, eine totale Appropriation.“158 Das Einverleiben einer anderen Kultur wird wörtlich genommen. Vitzliputzli gerät so auch zu einem Lehrstück über die transkulturelle Kommunikation bzw. Gesellschaft. Das Zusammentreffen von Kulturen wird hier in seiner rohesten Form als vollständiges Verzehren gezeigt. Im engen Sinne findet so zwar eine Vermischung von Kulturen statt, jedoch um den Preis, dass eine Kultur vollständig in der anderen aufgeht. Ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Kulturen oder gar eine gegenseitige intellektuelle Befruchtung, ein Voneinanderlernen, findet nicht statt. Dies alles jedoch, Menschenopfer und einstweilig gewonnene Schlacht, gereicht den Azteken am Ende nicht zum Vorteil. Sie werden untergehen, wie Vitzliputzli im dritten Teil der Romanze voraussieht. Der Aztekengott selbst jedoch wird in anderen Formen überleben und Rache nehmen an denen, die sein Volk vernichtet haben. Und wir müssen untergehen, Ich, der ärmste aller Götter, Und mein armes Mexiko. (DHA 3.1, 74, V. 114–116) […] Doch ich sterbe nicht; wir Götter Werden alt wie Papageyen, Und wir mausern nur und wechseln Auch wie diese das Gefieder. Nach der Heimath meiner Feinde, Die Europa ist geheißen, Will ich flüchten, dort beginn ich Eine neue Carrière. (V. 125–132) […] 157 158

Winkler 2016, S. 213. Moser 2008, S. 269–270.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero Ihre Weisen, ihre Narren Will ich ködern und verlocken; Ihre Tugend will ich kitzeln, Bis sie lacht wie eine Metze. Ja, ein Teufel will ich werden, Und als Kameraden grüß’ ich Satanas und Belial, Astaroth und Belzebub. Dich zumal begrüß’ ich, Lilis, Sündenmutter, glatte Schlange! Lehr’ mich deine Grausamkeiten Und die schöne Kunst der Lüge! Mein geliebtes Mexiko, Nimmermehr kann ich es retten, Aber rächen will ich furchtbar Mein geliebtes Mexiko. (V. 141–156)

Das Finale der Historien lässt keinen Stein auf dem anderen. Heine fährt noch einmal alles auf, was den ersten Teilzyklus des Romanzero ausmacht. Nicht nur ist die Eroberung Mexikos geprägt von Leid, Gewalt, Mord und der Hoffnungslosigkeit der unterlegenen Azteken. Zugleich kommt es zu einer Umkehrung aller Werte, die gesamte Ordnung der Alten Welt verkehrt sich gegen sie. Zwar gelingt es den Spaniern, wie geplant, das Gold Südamerikas zu rauben. Im Gegenzug jedoch werden sie selbst Opfer eines sehr viel größeren Raubs, wenn sich Vitzliputzli ihre Körper einverleibt. Die Eskalation der chaotischen Gewalt hat damit jedoch noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Die Rache Vitzliputzlis wird nämlich fürchterlich sein, und sie besteht aus einer weiteren Inkorporation, diesmal einer Selbstinkorporation: Vitzliputzli schreibt sich in das Pantheon der Alten Welt ein, er wird zum Teufel, um sein „geliebtes Mexiko“ zu rächen und zum „Kollaps der Werte, auf denen die christlich-abendländische Zivilisation beruht“159 beizutragen. Dabei spielt es gar keine allzu große Rolle mehr, ob es sich bei der Rache, wie Heine selbst suggeriert (V. 141–144)160 , um die Verbreitung der Syphilis in Europa handelt. Die Verbindung zwischen Neuem und Alten, zu Beginn des Vitzliputzli noch in hymnischen Versen gefeiert, nimmt kein gutes Ende, sie gebiert nur neue Ungeheuer. Vitzliputzli schreibt sich in die ältesten Mythen der 159

Winkler 2016, S. 216. Für Heines Teufelsbild in Zusammenhang mit Vitzliputzli siehe s. Park 2005, S. 404–416. 160 Vgl. DHA 3.2, 718: „Die markante Stellung von ‚Metze‘ läßt diese als Initiantin von ‚ködern und verlocken‘ und ‚Tugend-Kitzeln‘ erscheinen. Venerische Krankheiten fanden vor allem durch Verkehr mit Prostituierten Verbreitung. Hier scheint Heine der These zu folgen, daß die Syphilis aus Amerika von den Spaniern nach Europa gebracht wurde, was möglich, aber keinesfalls sicher ist.“ – Vgl. hierzu auch Rüdiger 1973, S. 316 und S. 319.

2.1 Die Ordnung der Welt – Historien

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Alten Welt161 ein, er verjüngt durch diese Vermischung alle schlechten Kräfte der Alten Welt. Die alten Götter der Neuen Welt können nicht sterben, doch durch ihre Weiterexistenz sorgen sie nur für zusätzliches Leid: „Mit der Historie von Vitzliputzli desavouiert Heine also einmal mehr die Hoffnung, die künftige Wiederkehr der dämonisierten Götter werde die – jetzt noch utopische – Wiederversöhnung von Geist und Materie, das Zeitalter der ‚Religion der Freude‘, einleiten.“162 Die Hoffnungslosigkeit wird somit am Ende der Historien noch einmal eindrucksvoll zur Schau gestellt: Wo unsterbliche mythische Figuren dem Menschen Rache schwören, besteht wenig Anlass zur Hoffnung auf einen positiven Fortgang oder gar ein positives Ende der (Menschheits)Geschichte. Führt man den Gedanken der Inkorporation fort, so lässt sich auf einer Metaebene ein weiterer Bedeutungshorizont erschließen. Susanne Zantop163 sieht Heine am Ende selbst als Verkörperung Vitzliputzlis. In dieser Lesart bringt er als Dichter(gott) das Chaos in die Welt und Vitzliputzli veranschaulicht die zerstörerische Macht der Dichtung. So wird ein weiteres Mal, nach Pomare, das Gefahrenpotential von Kunst selbst deutlich. Davon abgesehen jedoch lässt sich an Vitzliputzli noch Einiges mehr festmachen. Es scheint zunächst in einer als revolutionär empfundenen Zeit den Blick zurückzuwerfen, auf eine Epoche, die durch die europäische ‚Entdeckung‘ der Neuen Welt ebenso als Symbol einer Umbruchszeit gesehen werden kann. Solche Zeiten rufen nach neuen Mythen, sie sehnen sich nach Systematisierung, nach einer Einordnung des Unbekannten in bekannte Muster.164 Heine hingegen gibt mit dem Vitzliputzli eine Ahnung davon, dass das mythische Denken an ein Ende kommt. Die Geschichten, die der Vitzliputzli erzählt, sorgen nicht dafür, die „Rätselhaftigkeit der Welt erträglich“165 zu machen. Zwar nutzt Heine das narrative Moment des Mythos, er beschreibt die Eroberung Mexikos mithilfe von mythischen Komplexitätsreduktionen, wenn er die spanische Eroberung auf die Taten Hernán Cortez’ reduziert oder die Auseinandersetzung zwischen Spaniern und Azteken auf eine einzige entscheidende Schlacht. Dies alles jedoch hindert nicht daran, dass auf einer Bedeutungsebene schließlich noch mehr Unordnung entstanden ist als zuvor. Die alten Sinngebungsverfahren verfangen nicht mehr. Die Synthese zweier Systeme ist in der Regel ein Merkmal mythischen Denkens, denn durch sie wird das Fremde bekannt und vertraut gemacht, wodurch es seinen Schrecken verliert. Auf formaler Ebene funktioniert dies noch, indem der neue Gott Vitzliputzli nach seiner Inkorporation in das europäische Pantheon kein ‚Fremder‘ mehr ist, er hat sich den Europäern vertraut gemacht. Diese Nähe aber bringt gerade nicht „Ordnung, Harmonie, Eintracht in 161

Darauf weisen die Dämonennamen Satanas, Belial, Astharoth, Belzebub und Lilis hin. Lilis meint hier Lilith, die nach dem Talmud erste Frau Adams. Lilith wurde in der nachbiblischen Literatur zu einer dämonischen Gestalt. Ihre Ursprünge reichen jedoch noch weiter zurück: In der sumerischen Mythologie war Lilith eine Luftgottheit und fand wohl über diesen Umweg Eingang in den Talmud. 162 Winkler 1995, S. 264. 163 Zantop 1989, S. 81. 164 Vgl. Angehrn 1996, S. 38. 165 Winkler 1995, S. 19.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

die Welt“166 , sie steigert nur die bereits vorhandene Disharmonie, das Leid und sorgt, akzentuiert man die Lesart, nach der Vitzliputzli für die Syphilis steht, für ganz leibhaftige Auflösungserscheinungen. Diese Körperlichkeit der Auflösungserscheinungen unterstreicht dann nochmals die lebensweltlichen Auswirkungen der Verfallstendenzen, die im Romanzero dargestellt werden.

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen Im zweiten Buch des Romanzero, den Lamentazionen, lässt sich eine Themenverlagerung weg vom Allgemein-Historischen hin zur persönlichen Klage beobachten. Dabei ist nicht selten ein direkter Bezug zum Dichter selbst erkennbar: Das einheitsstiftende Element in den Lamentationen ist der Ich-Bezug. Die Krankheit […], der bevorstehende Tod, auch das Schicksal nach dem Tod, die Erinnerung an glücklichere Tage, die gegenwärtigen finanziellen Schwierigkeiten, die Sorge um Mathilde, die politische Enttäuschung sowie die politische Kampfbereitschaft: das sind die wesentlichen Themen dieser Gedichte.167

Dieser Einschätzung Alberto Destros aus dem Kommentar zur Düsseldorfer HeineAusgabe kann grundsätzlich nicht widersprochen werden. Die einzelnen Romanzen sprechen für sich, genauso wie Heines eigene Worte zur Zeit ihrer Niederschrift: Aber existire ich wirklich noch? Mein Leib ist so sehr in die Krümpe gegangen, daß schier nichts übrig geblieben als die Stimme, und mein Bett mahnt mich an das tönende Grab des Zauberers Merlinus, welches sich im Walde Brozeliand in der Bretagne befindet, unter hohen Eichen, deren Wipfel wie grüne Flammen gen Himmel lodern. Ach, um diese Bäume und ihr frisches Wehen beneide ich dich, College Merlinus, denn kein grünes Blatt rauscht herein in meine Matratzengruft zu Paris, wo ich früh und spat nur Wagengerassel, Gehämmer, Gekeife und Claviergeklimper vernehme. Ein Grab ohne Ruhe, der Tod ohne die Privilegien der Verstorbenen, die kein Geld auszugeben und keine Briefe oder gar Bücher zu schreiben brauchen – das ist ein trauriger Zustand. (DHA 3.1, 177)

Hiernach mag es kaum verwundern, wenn sich zur Beschreibung vor allem des zweiten Buches des Romanzero der Begriff der ‚Matratzengruft-Lyrik‘ etabliert hat. Die Bezeichnung indes hat auch etwas Verführerisches: „Die plakative, Aufsehen heischende Vokabel gebrauchte man genüßlich, die konkrete Arbeit am Text schien wenig lohnend.“168 Dieser von Nobis 1983 vorgebrachte Befund, dass „grundlegende Untersuchungen über Heines Matratzengruft-Lyrik und besonders zum Romanzero bislang ausgeblieben“169 seien, hat ebenfalls grundsätzlich weiterhin Bestand.170 Unbestritten scheint mir jedoch, dass die Lamentazionen mehr sind als Gedichte, „die uns glauben machen, Heine ließe sich leichtfertig aus der Realität in den schönen 166

Carr 1997, S. 175. DHA 3.2, 721. 168 Nobis 1983, S. 522. 169 Nobis 1983, S. 522. 170 Vgl. Abschn. 1.1. 167

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

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Schein locken“.171 Im Folgenden werde ich aufzeigen, dass sich auch in den Lamentazionen eine dezidierte Anwendung mythischer Denkstrukturen erkennen lässt. Die Welt, die hier beschrieben wird, ist keine andere als die der Historien, lediglich der Fokus hat sich verschoben. Wurde dort am Beispiel (pseudo-)historischer oder kontrafaktischer Begebenheiten die Welt beschrieben als eine solche, in der jede Ordnung aus den Fugen geraten ist und in der Willkür und Missbrauch herrschen, so justiert Heine nun das Brennglas. Aus den Lamentazionen „spricht nicht nur der von Krankheit und Siechtum Heimgesuchte, der lebende Leichnam Lazarus, sondern auch der von seinem Dichterschicksal sowie seiner persönlichen und geschichtlichen Welterfahrung Geschlagene“.172 Ausgehend vom großen Weltganzen widmet sich der Romanzero nun dem einzelnen Subjekt, das jedoch als (dichterisches) Subjekt stets verallgemeinerbar ist. Dies ist dem Wesen nach mythisches Denken, denn „[n]icht abstrakte Größen, Naturgesetze, theoretische Begriffe, sondern handelnde und leidende Subjekte bilden die Referenzgrößen des Mythos“.173 Es handelt sich dabei um einen in der strengen Anlage des Romanzero begründeten logischen Schritt, wenn die Auswirkungen der allgemeinen Verfasstheit der Welt, wie sie in den Historien dargestellt wurde, auf das einzelne Subjekt untersucht werden. So bleibt, um ein Beispiel zu nennen, das im Folgenden näher ausgeführt werden wird, „die Thematik der ‚Historien‘ […] präsent und wird der neuen Sphäre eingestaltet, indem hinter der blutigen Geschichte einer spanischen Dynastie die eigene Familiengeschichte aufscheint“.174 Wie die alttestamentarischen Klagelieder, denen die Lamentazionen nachempfunden sind,175 beschreiben sie das „Moment des Besonderen“176 . Gleichzeitig aber gewährt die Mittelstellung der Lamentazionen zwischen den Historien und den Hebräischen Melodien ihnen „eine zentrale Bedeutung innerhalb des Zyklus’ sowohl in kompositorischer als auch in thematischer Hinsicht“.177 Auch im Folgenden soll, wie schon bei der Analyse der Historien, nicht jede Romanze untersucht werden, sondern es werden mehrere Gedichte zu Sinneinheiten zusammengefasst. Untersuchungsgegenstand sind dabei vornehmlich Strukturen mythischen Denkens bzw. solche Textstellen, in denen, entgegen dem eigentlichen Impetus des mythischen Denkens, Ordnungsstrukturen unterlaufen und aufgebrochen werden. Einzelne Gedichte werden dabei besonders in den Blick gefasst. Gleiches gilt für den Unterzyklus Lazarus, der mit 20 Gedichten einen großen Teil des zweiten Buches ausmacht. Auch hier soll besonders darauf geachtet werden, wie

171

Boie 1974, S. 342. Boie kommt zu einem ähnlichen Ergebnis wie Nobis, wenn sie fortfährt (ebd.): „Beschäftigt man sich mit ihnen, so weniger, um diese Verlockung zu untersuchen als um sie einzuordnen und zu begründen.“ Vgl. hierzu auch Nobis 1983, S. 522. 172 Nobis 1983, S. 524. 173 Angehrn 1996, S. 218. 174 Bark 1986, S. 95. 175 Vgl. Bark 1986, S. 95. 176 Bark 1986, S. 90. 177 Nobis 1983, S. 525.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

sich die formal zweifellos vorhandene Ordnung auf einer Bedeutungs- und Metaebene spiegelt, bzw. was es für die Analyse bedeutet, wenn sich zwischen formalen Ordnungsstrukturen und Bedeutungsebene Bruchstellen auftun. Bereits das Motto der Lamentazionen steckt die Grenzen der entworfenen Welt ab: Das Glück ist eine leichte Dirne, Und weilt nicht gern am selben Ort; Sie streicht das Haar dir von der Stirne Und küßt dich rasch und flattert fort. Frau Unglück hat im Gegentheile Dich liebefest an’s Herz gedrückt; Sie sagt, sie habe keine Eile, Setzt sich zu dir an’s Bett und strickt. (DHA 3.1, 78)

Durch die allegorische Darstellung gewinnt „die den gesamten Zyklus bestimmende Gegenüberstellung von Glück und Unglück“178 an Kontur.179 Während sich das Glück als flüchtig erweist, wird dem Unglück Dauerhaftigkeit attestiert. Das Bild des Bettes, schon aufgrund von Heines eigenem Zustand beim Verfassen des Romanzero darf man ruhigen Gewissens von einem Kranken- oder Totenbett ausgehen, verweist dabei nicht nur auf den Verfasser selbst. Das Motto drückt Allgemeingültiges über das menschliche Leben, wie es im Romanzero beschrieben wird, aus. Das Glück bewegt sich in luftigen, flüchtigen Höhen („leicht“, „Haar“, „rasch“, „flattert“), wo es kaum greifbar ist, während der Mensch in seinem Unglück räumlich nach unten verlegt („Bett“) und ihm die Luft zum Atmen genommen wird („gedrückt“). Der natürliche, oder doch zumindest der dauerhafte, Zustand des Menschen ist also nicht der aufrechte, sondern der darniederliegende, im Zweifelsfall von Krankheit gezeichnete, versehrte.180 Helmut Nobis spricht in diesem Zusammenhang von der Selbstdomestizierung des Unglücks, „das sich nicht nur einen Weg zum Innersten des Menschen zu bahnen [vermochte] (ans Herz gedrückt), sondern […] [im] Haus des Menschen heimisch geworden und hier zu seinem Intimus“ geworden ist.181 Auch lässt sich hier 178

DHA 3.2, 735. Dieser allegorische Charakter wird in Lazarus XIV. mit Frau Sorge (DHA 3.1, 115–116) noch einmal aufgenommen. Auch dort hält die Sorge treue Wacht beim Erzähler-Ich („An meinem Bett in Winternacht / Als Wärterin die Sorge wacht.“ V. 13–14), während sich das Glück schon lange vorher unwiderruflich auf und davon gemacht hat: Das Glück ist fort, der Beutel leer, Und hab’ auch keine Freunde mehr; Erloschen ist der Sonnenglanz, Zerstoben ist der Mückentanz, Die Freunde, so wie die Mücke, Verschwinden mit dem Glücke. (V. 7–12) 180 In diesem Sinne erinnert das Motto an die Historie Der Apollogott, wo der – auch raumsemantische – Niedergang einer Nonne von der luftigen Höhe ihres Klosters bis in den Straßendreck einer Stadt beschrieben wird. 181 Nobis 1983, S. 526. 179

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

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die Perspektivverengung der Lamentazionen bei gleichzeitiger Beibehaltung eines Grundmotivs der Historien veranschaulichen. Die Historien berichteten zumeist von herrschaftlicher Willkür, Machtmissbrauch und dem unbarmherzigen Zufall, denen die Menschheit hilflos ausgeliefert ist. Im Motto der Lamentazionen ist es nun der einzelne Mensch, der sich Glück und Unglück hilflos gegenübersieht. Dabei ist der Mensch den gesamten Achtzeiler hindurch passiv, ein reines Objekt, dem Gutes wie Schlechtes widerfährt – wobei freilich das Schlechte überwiegt. Dass der Mensch dem Schicksal ausgeliefert ist, wird noch durch das Motiv des Strickens betont. Es weckt Assoziationen an den leitmotivisch wiederholten Fluch aus Die schlesischen Weber, die ebenfalls sitzend ein metaphorisches Leichentuch weben: Im düstern Auge keine Thräne, Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Altdeutschland wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreyfachen Fluch – Wir weben, wir weben! (DHA 2.1, 150, V. 1–5)

Das Motiv des Webens ist dabei mehr als nur ein Selbstverweis. Es erinnert zugleich an die Moiren der griechischen bzw. die Nornen der germanischen Mythologie, die den Lebensfaden der Menschen spinnen. Dabei haben sie nicht nur Macht über die Dauer eines jeden menschlichen Lebens, sondern über dessen Beschaffenheit, sie teilen Glück und Unglück zu, ohne dass der Mensch darauf Einfluss hätte oder die Gründe dafür nachvollziehen könnte. Bemerkenswert ist weiterhin die formale Struktur des Mottos, die sich in einem ausgesprochen strengen Parallelismus niederschlägt: Beide Strophen bestehen aus zwei Sätzen, die jeweils durch ein Semikolon voneinander getrennt sind, jeweils die zweiten Sätze beginnen mit dem Personalpronomen „sie“ (anaphorische Verklammerung) und die ersten Sätze mit den Subjektabstrakta, über die etwas ausgesagt wird (Glück – Unglück). In beiden Strophen sind Metrum, Reimschema und Kadenzen in der Distribution identisch.182

Diametral gegenüber steht diesem Parallelismus der Gegensatz sowohl der semantischen183 als auch, und vor allem, der Bedeutungsebene. Wie schon in den Historien wird auch hier eine auf formaler Ebene streng durchgehaltene Ordnungsstruktur184 dadurch konterkariert, dass auf der Bedeutungsebene das Bild von Unordnung, Unbeständigkeit und Leid des menschlichen Lebens gezeichnet wird. Das Motto entschärft auf diese Weise zudem die Trennung zwischen den beiden ersten Büchern des Romanzero und sorgt für einen ‚weichen‘ Übergang. Eine ganz ähnliche Diskrepanz zwischen Form und Inhalt – die durch das Mittel der Ironie nicht zur Gänze erklärt werden kann – zeigt sich im ersten Gedicht der 182

Nobis 1983, S. 528. Siehe hierzu ausführlich Nobis 1983, S. 528–529: „Denn in der ersten Strophe wird stets etwas – vom Menschen aus gesehen – fort- oder wegbewegt (weilt nicht gern, streicht von der Stirne, flattert fort), während in der 2. Strophe sich etwas auf ihn zubewegt (liebefest ans Herz gedrückt, keine Eile, setzt sich zu dir, strickt).“ 184 Ein Gedicht aus zwei Volksliedstrophen, das in dezidiert romantischer Tradition steht. 183

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Lamentazionen. In den stark romantisierenden Strophen von Waldeinsamkeit stimmt das Erzähler-Ich den „Abgesang seiner früheren Poesie“185 an. Ich hab’ in meinen Jugendtagen Wohl auf dem Haupt einen Kranz getragen; Die Blumen glänzten wunderbar, Ein Zauber in dem Kranze war. Der schöne Kranz gefiel wohl allen, Doch der ihn trug hat manchem mißfallen; Ich floh den gelben Menschenneid, Ich floh in die grüne Waldeinsamkeit. Im Wald, im Wald! da konnt’ ich führen Ein freyes Leben mit Geistern und Thieren; Feen und Hochwild von stolzem Geweih’ Sie nah’ten sich mir ganz ohne Scheu. Sie nah’ten sich mir ganz ohne Zagniß, Sie wußten das sey kein schreckliches Wagniß; Daß ich kein Jäger, wußte das Reh, Daß ich kein Vernunftmensch, wußte die Fee. (DHA 3.1, 79, V. 1–15)

Bereits der Titel Waldeinsamkeit evoziert die Erinnerung an einen urromantischen Topos,186 und in den ersten Strophen reiht Heine denn auch „Szene an Szene seines beglückenden Umgangs mit Feen, Elfen, Nixen, Erdgeistern, Zwergen, Salamandern und Alraunen“.187 Dem beglückenden Rückblick auf die Jugendzeit jedoch ist nur eine kurze Dauer gewährt, die „mährchentrunkene[]“ (V. 120) Vergangenheit entpuppt sich als Luftschloss, das vor der Realität nicht bestehen kann. O, schöne Zeit! wo voller Geigen Der Himmel hing, wo Elfenreigen Und Nixentanz und Koboldscherz Umgaukelt mein mährchentrunkenes Herz! O, schöne Zeit! wo sich zu grünen Triumphespforten zu wölben schienen Die Bäume des Waldes – ich ging einher, Bekränzt, als ob ich der Sieger wär’!

185

Bark 1986, S. 90. Der Begriff ‚Waldeinsamkeit‘ wurde erstmals von Ludwig Tieck im frühromantischen Kunstmärchen Der blonde Eckbert (1797) gebraucht. Vgl. DHA 3.2, 739. 187 Nobis 1983, S. 531. 186

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

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Die schöne Zeit, sie ist verschlendert, Und alles hat sich seitdem verändert, Und ach! mir ist der Kranz geraubt, Den ich getragen auf meinem Haupt. Der Kranz ist mir vom Haupt genommen, Ich weiß es nicht, wie es gekommen; Doch seit der schöne Kranz mir fehlt, Ist meine Seele wie entseelt. (V. 117–132)

Es handelte sich bloß um eine Gaukelei, um einen Trug. Der Blumenkranz der Jugendtage (Strophe 1) ist dem Erzähler längst geraubt, und das, obwohl er ihn ohnehin nur im Modus des „als ob“ getragen hatte (V. 124). In Wirklichkeit ist das lyrische Ich nie Sieger gewesen, seine gesamte naiv-romantische Vergangenheit erscheint ihm plötzlich als Trugschluss. Jeder Versuch einer Rückkehr in eine Vergangenheit, nachdem einmal die Erkenntnis über ihre Illusionshaftigkeit zur Reife gelangt ist, muss sich zwangsläufig als unmöglich herausstellen. Es glotzen mich an unheimlich blöde Die Larven der Welt! Der Himmel ist öde, Ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm. Ich gehe gebückt im Wald herum. Im Walde sind die Elfen verschwunden, Jagdhörner hör’ ich, Gekläffe von Hunden; Im Dickicht ist das Reh versteckt, Das thränend seine Wunden leckt. Wo sind die Alräunchen? ich glaube, sie halten Sich ängstlich verborgen in Felsenspalten. Ihr kleinen Freunde, ich komme zurück, Doch ohne Kranz und ohne Glück. […] (V. 133–144) Der rauscht trostlos gleich dem Styxe; Am einsamen Ufer sitzt eine Nixe, Todtblaß und stumm, wie’n Bild von Stein, Scheint tief in Kummer versunken zu seyn. Mitleidig tret’ ich zu ihr heran – Da fährt sie auf und schaut mich an, Und sie entflieht mit entsetzten Mienen, Als sey ihr ein Gespenst erschienen. (V. 148–156)

Die ganze Trostlosigkeit und Unbarmherzigkeit der Welt wird dem Erzähler-Ich offenbar, wenn es sich ihr ohne Erfolg und ohne zufälliges Glück („ohne Kranz und ohne Glück“) präsentiert. Der rauschende Bach wandelt sich zum Totenfluss Styx,

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero [d]ie Bewohner seiner phantastischen Märchenwelt weisen selbst ihn zurück. Angesichts seines unerwünschten und dreisten Eindringens in eine Toten und Todgeweihten unzugängliche Welt verwandelt sich in den letzten Strophen der Romanze die typisch romantische Waldeinsamkeit in Schrecken und Entsetzen hervorrufende Bestandteile eines literarischen Topos […].188

Der Wald gewährt keine Zuflucht mehr, er ist selbst zum Ort der Gewalt geworden. Wo vormals Elfen und andere Fabelwesen wohnten, zeigen nun Jagdhörner und -hunde (V. 137–140), dass die Kreaturen des Waldes um ihr Leben fürchten müssen. Im letzten Vers der Romanze erscheint das Erzähler-Ich selbst als Gespenst, was umso paradoxer wirkt, als sogar sagenhafte Kreaturen – in diesem Fall eine Nixe – vor ihm fliehen. Schon in den Historien weist das Motiv des Gespenstes auf eine völlige Umkehrung der Ordnung hin, der nun auch der Dichter anheimfällt. Diese Lesart lässt sich noch erweitern. Es ist nicht allein der Dichter, der aus der Zeit gefallen ist. Die Dichterexistenz steht hier für den Menschen im Allgemeinen, der sich einer ihm feindlichen Welt gegenübersieht, die er nicht fassen kann, die ihm keine Zuflucht mehr bietet: „Die poetisch romantisierte Realität wird als kaum mehr mögliche Zufluchtsstätte für den Desillusionierten entlarvt, als nicht mehr funktionstüchtige, ihrer wesentlichen, der Asyl gewährenden Eigenschaft beraubte reservatio mentalis desavouiert.“189 Der Mensch wird sogar aus seiner eigenen Vergangenheit verstoßen, was einmal mehr seine existenzielle Unbehaustheit betont. Keine Narration, kein Zurückdenken in eine Vergangenheit, sei es eine romantische oder mythische, kann ihn davor schützen. Waldeinsamkeit hat deshalb mehr als nur parodistischen oder ironischen Charakter. Wohin soll der Mensch, wenn ihm der Weg zurück versperrt ist? Ihm bleibt nur der Weg nach vorn, der jedoch seinerseits unweigerlich über den Styx, also in den Tod, führt. Und auch mit jeder Hoffnung auf eine noch fernere Zukunft, etwa im Jenseits, räumt die Eröffnungsromanze der Lamentazionen auf. Der Himmel nämlich „ist öde“ (V. 134), der Friedhof „entgöttert und stumm“ (V. 135). An dieser Stelle wird deutlich, dass „der durchgängig zu vernehmende Volksliedton des Gedichtes als automatisiertes künstlerisches Verfahren […] seine poetische Funktion eingebüßt“190 hat. Der Volksliedton ist zur leeren Hülle geworden, die benutzt wird, um entgegen ihrer ursprünglichen Funktion der ganzen Trostlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Kontingenz des menschlichen Daseins Ausdruck zu verleihen.

188

Nobis 1983, S. 532. Nobis 1983, S. 532. 190 Nobis 1983, S. 533. 189

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

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2.2.1 Vom Leiden der Dichter Sowohl Der Ex-Lebendige als auch Der Ex-Nachtwächter und Plateniden sind zunächst unmissverständliche Satiren, geprägt vom, im ersten Fall, „Spott auf besiegte Revolutionäre“191 , bzw. mit August von Platen auf einen bereits verstorbenen persönlichen Feind Heines. Unter Bezugnahme auf Georg Herweghs Gedichte eines Lebendigen (1841/1843), persifliert der Ex-Lebendige den zur politischen Untätigkeit gezwungenen Herwegh.192 Herwegh übernimmt die Rolle des Brutus, dem Der Ex-Lebendige mit Rücksicht begegnet, während sich der größte Teil des Spottes über Cassius ergießt, hinter dem sich Franz Freiherr von Dingelstedt verbirgt, der auch für die Figur des Ex-Nachtwächters Pate stand, was zugleich Titel des nächsten Gedichtes ist. Die stark subjektive Färbung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier wieder Allgemeingültiges verhandelt wird. Verse wie „Brutus, wo ist dein Cassius? / Er denkt nicht mehr an’s Morden!“ (DHA 3.1, 93, V. 9–10) aus Der Ex-Lebendige gemahnen nicht nur an die Hauptverschwörer des Cäsarenmordes, sondern auch an den allgegenwärtigen Verrat, vor dem niemand, auch kein Tyrann, sicher ist. Der Schluss von Der Ex-Nachtwächter schließlich zeigt einen resignierten Protagonisten, der sich nach Ruhe sehnt, dem keine revolutionäre Kraft mehr innewohnt: Deine langen Fortschrittsbeine, Heb’ sie auf zu neuem Lauf – Kutten grobe, Kutten feine, Sind es Kutten, schlage drauf! Jener aber seufzt, und seine Hände ringend er versetzt: Meine langen Fortschrittsbeine Sind Europamüde jetzt. Meine Hühneraugen jücken, Habe deutsche enge Schuh, Und wo mich die Schuhe drücken Weiß ich wohl – laß mich in Ruh! (DHA 3.1, 97, V. 117–128)

Die „langen Fortschrittsbeine“ tragen den Nachtwächter nicht mehr. Dieser Wächter ist unterdessen kein Unbekannter. Schon bei seiner ersten Erwähnung in Bey des Nachtwächters Ankunft zu Paris (in Neue Gedichte, 1844) war der Nachtwächter voll 191

Nobis 1983, S. 533. Vgl. DHA 3.2, 757: „Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romanzero war Herwegh zu politischer Tatenlosigkeit gezwungen, als Folge des gescheiterten Aufstandes von 1848, an dem er als politisches (nicht militärisches) Komiteemitglied der in Frankreich von deutschen Emigranten gebildeten Freischar teilnahm. Nach deren Niederlage […] war Herwegh zunächst in die Schweiz und dann nach Frankreich geflüchtet. […] Dieser erzwungene zeitweise Rückzug ins Private samt dem Gefühl der Niedergeschlagenheit der ehemaligen 48er-Kämpfer rechtfertigen die Resignation, die in der Ex-Benennung zum Ausdruck kommt.“

192

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

des Spotts über die politischen Zustände in Deutschland, dabei zugleich beweglich, und gewillt Veränderungen in Angriff zu nehmen: „Nachtwächter mit langen Fortschrittsbeinen, Du kommst so verstört einhergerannt! Wie geht es daheim den lieben Meinen, Ist schon befreyt das Vaterland?“ Vortrefflich geht es, der stille Seegen, Er wuchert im sittlich gehüteten Haus, Und ruhig und sicher, auf friedlichen Wegen, Entwickelt sich Deutschland von innen heraus. (DHA 2, 112, V. 1–8)

Zwischenzeitlich jedoch hat sich jeder Fortschritt, der zumindest eine Zeit lang denkbar erschien, als Illusion herausgestellt. Und auch die unausgesprochene, höchstens vorsichtig angedeutete Hoffnung, dass es sich um ein lokales, nicht um ein allgemeines Phänomen handelt, wird sogleich zunichte gemacht. Die Verse „Meine langen Fortschrittsbeine / Sind Europamüde jetzt“ sowie der folgende Verweis auf die desolaten Zustände in Deutschland, könnten zwar darauf hindeuten, dass es sich lediglich um eine europäische, nicht um eine globale Krise handelt. Der Begriff „Europamüde“ wurde jedoch bereits in Vitzliputzli eingeführt193 , wo eben auch gezeigt wurde, dass in der Neuen Welt kein Glück, sondern nur weiteres Leid zu finden ist. Durch die Verbindung von real existierenden Subjekten mit deren poetisch bearbeiteten Alter Egos, die sie dichterisch überhöhen, gelingt es Heine, der allgemeinen Sicht auf die Welt, die der Romanzero entwirft, eine Grundierung im Realen zu geben. Die zweimalige Benutzung der Vorsilbe „Ex-“ verleiht dem Lebendigen sowie dem Nachtwächter gleichzeitig etwas Paradoxes, macht sie zu Wiedergängern, die aus der Ordnung gefallen sind, ganz ähnlich den Gespenstern, die in den Historien ihr Unwesen treiben.194 Der Ex-Lebendige weigert sich zu sterben, ist aber zugleich in der Welt der Lebenden zu keinen Taten mehr fähig. Der Ex-Nachtwächter mag zwar noch über die physischen Eigenschaften verfügen, die ihn zu einem Verfechter der Freiheit gemacht haben. Diese „langen Fortschrittsbeine“ sind jedoch zu einem dysfunktionalen Anhängsel verkommen, dem kein Geist mehr innewohnt, der zu wahrer Veränderung fähig wäre. Das wiederum korrespondiert mit der Verwendung der Volksliedstrophe in Waldeinsamkeit. In beiden Fällen hat man es mit einer nutzlosen Struktur zu tun, die auf etwas verweist, das keine Bedeutung oder Wirkungskraft mehr für die Gegenwart hat – oder bei genauerer Betrachtung niemals hatte. Einen ähnlichen Aufbau lässt die Lamentazion An die Jungen erkennen, die vor dem Hintergrund von Heines Bewunderung für Ferdinand Lassalle zu lesen ist, 193

S. dort DHA 3.1, 60, V. 37–40: Dankbar huldigt ihm die Menschheit, Die nicht bloß Europamüde, Sondern Afrikas und Asiens Endlich gleichfalls müde worden – – 194 Vgl. hierzu einschlägig das Abschn. 4.3.

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

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dessen Bekanntschaft er im Herbst 1845 machte. Ohne den biografischen Hintergrund in den Blick zu nehmen, soll hier die auch in einem solch nur scheinbar sehr persönlichen Gedicht verhandelte allgemeine Weltsicht im Vordergrund stehen.195 Laß dich nicht kirren, laß dich nicht wirren Durch goldne Aepfel in deinem Lauf! Die Schwerter klirren, die Pfeile schwirren, Doch halten sie nicht den Helden auf. Ein kühnes Beginnen ist halbes Gewinnen, Ein Alexander erbeutet die Welt! Kein langes Besinnen! Die Königinnen Erwarten schon knieend den Sieger im Zelt. Wir wagen, wir werben! besteigen als Erben Des alten Darius Bett und Thron. O süßes Verderben! o blühendes Sterben! Berauschter Triumphtod zu Babylon! (DHA 3.1, 100, V. 1–12)

Unter Verwendung antiker Motivik stellt An die Jungen das Leben als einzigen Kampf dar. Die erste Strophe zeichnet den Helden als siegreich, er lässt sich nicht ablenken von Verführungen („goldne Aepfel“)196 oder Gefahren („Die Schwerter klirren, die Pfeile schwirren“). In der zweiten Strophe ist er aus den Schlachten erfolgreich hervorgegangen, wird gar mit Alexander dem Großen verglichen. Als Lohn dient nicht allein die Herrschaft über „die Welt“, die wiederum „erbeutet“ wurde. Auch hier hat man es sich also mit den Früchten rücksichtsloser Eroberungskriege zu tun. In der erotischen Sphäre sind die Mühen des Helden ebenfalls von Erfolg gekrönt: „Die Königinnen / Erwarten schon kniend den Sieger im Zelt.“ 195

Zum Eindruck, den Lassalle auf Heine machte, vgl. den Brief an Karl August Varnhagen von Ense vom 3. Januar 1846: „Mein Freund, Herr Lassalle, der Ihnen diesen Brief bringt, ist ein junger Mann von den ausgezeichnetsten Geistesgaben: mit der gründlichsten Gelehrsamkeit, mit dem weitesten Wissen, mit dem größten Scharfsinn, der mir je vorgekommen, mit der reichsten Begabniß der Darstellung, verbindet er eine Energie des Willens und eine Habilité im Handeln, die mich in Erstaunen setzen, und wenn seine Sympathie für mich nicht erlöscht, so erwarte ich von ihm den thätigsten Vorschub. Jedenfalls war diese Vereinigung von Wissen und Können, von Talent und Charakter, für mich eine freudige Erscheinung, und Sie, bey Ihrer Vielseitigkeit im Anerkennen, werden gewiß ihr volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Herr Lassalle ist nun einmahl so ein ausgeprägter Sohn der neuen Zeit, die nichts von jener Entsagung und Bescheidenheit wissen will, womit wir uns mehr oder minder heuchlerisch in unserer Zeit hindurchgelungert und hindurchgefaselt – Dieses neue Geschlecht will genießen und sich geltend machen im Sichtbaren; wir, die Alten, beugten uns demüthig vor dem Unsichtbaren, haschten nach Schattenküssen und blauen Blumengerüchen, entsagten und flennten, und waren doch vielleicht glücklicher als jene harten Gladiatoren, die so stolz dem Kampftode entgegengehn.“ (HSA 22, 180–181) Für eine nähere Erläuterung des Verhältnisses zwischen Heine und Lassalle s. DHA 3.2, 785–787. 196 Der Vers spielt auf den Atalante-Mythos an: Atalante tötete alle Freier, die sie nicht im Wettlauf besiegten. Erst Hippomenes gelang dies, indem er sie durch drei auf den Weg geworfene goldene Äpfel (die ihm eigens dazu von Aphrodite überreicht worden waren) ablenkte.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Schon der Beginn aber kündet nicht bloß von den Erfolgen des Helden, er ist zugleich Zeugnis seiner Fremdbestimmtheit. Bereits die phonetisch aufgeregte Wortwahl – „kirren“, „wirren“, „klirren“, „schwirren“ – offenbart, dass der Held in seinem Tun nicht völlig selbstbestimmt ist, er wirkt getrieben. Auch er ist Opfer zufälliger Geschehnisse, weniger ein aktiv handelndes Subjekt, vielmehr von Umständen, in die er keinen Einblick und auf die er keinen Einfluss hat, zum Handeln gezwungen. Und wenn ein „kühnes Beginnen“ schon „halbes Gewinnen“ ist, so zeugt es eben auch von Wagemut und Verwegenheit, was die Folgen des eigenen Handelns nicht immer abschätzbar sein lässt. Die Verknüpfung von Politik und Erotik in der zweiten Strophe bereitet schließlich das Fanal der letzten Strophe vor. Das Moment des Wagemutes (V. 9–10) führt dort tatsächlich zum Tod, wenn An die Jungen „aus Triumph und Tod ein Wort macht.“197 Der Tod tritt als Verschmelzung von Schmerz und Lust auf, als orgiastischer Höhepunkt eines von Kampf geprägten Lebens. Und auch die Lokalisierung des Todes ist von Bedeutung, es ist die Stadt Babylon, die schon in der Bibel als korrupt und lasterhaft beschriebene Hauptstadt des ‚Orients‘.198 An die Jungen beschreibt zwar einen Heldentod, dieser jedoch scheint als Zweck in sich selbst aufzugehen. Das Verderben und Sterben mag süß und blühend sein (V. 11), es ist aber auch endgültig und dient keinem höheren Zweck. Eine Sinngebung über den Akt des Sterbens hinaus wird nicht angeboten.199 Wenn ein Gedicht mit dem Titel An die Jungen also mit der exklamatorischen Schilderung des Todes endet200 , dann macht es gerade keine Hoffnung auf die Zukunft. Die Verallgemeinerung eines subjektiv erzählten Schicksals stellt kein Angebot zur Sinngebung dar, wenn selbst der scheinbar autonome Held nur ein Getriebener ist, der letztendlich dem Schicksal unterliegt. Die Jungen und Guten sterben früh, von ihren Taten, mögen sie auch mit guten Vorsätzen begangen sein, wird nichts Bestand haben, sie gehen im Weltlauf unter, ohne bleibende Nachwirkung hinterlassen zu haben. Sie richten höchstens, durch Eroberungen, individuellen Schaden an und tragen so zur allgemeinen Unordnung bei.

197

Ross 1994, S. 16. Vgl. Offenbarung 18, 1–3: „Und darnach sah ich einen andern Engel herniederfahren vom Himmel, der hatte eine große Macht, und die Erde ward erleuchtet von seiner Klarheit. Und er schrie aus Macht mit großer Stimme und sprach: Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon, die große, und eine Behausung der Teufel geworden und ein Behältnis aller unreinen Geister und ein Behältnis aller unreinen und verhaßten Vögel. Denn von dem Wein des Zorns ihrer Hurerei haben alle Heiden getrunken, und die Könige auf Erden haben mit ihr Hurerei getrieben, und die Kaufleute auf Erden sind reich geworden von ihrer großen Wollust.“ 199 „[S]üßes Verderben“ erinnert zudem wieder an die Maxime des Horaz – „Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben“ –, die bereits in Zwey Ritter verarbeitet wurde. S. Abschn. 2.1.4. 200 Allein die letzten beiden Verse, in denen der Tod beschrieben wird, verfügen über drei Ausrufezeichen. 198

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

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2.2.2 Lazarus – Die Affirmation des leidenden Subjekts Eine Sonderstellung innerhalb der Lamentazionen nimmt der 20 Gedichte umfassende Lazarus-Zyklus201 ein, der mit Weltlauf, Gedächtnißfeyer, Im Oktober 1849 und Enfant perdü einige der bekanntesten Texte des gesamten Romanzero enthält. Bereits Helmut Koopmann bezeichnete, freilich nicht nur deshalb, den Teilzyklus als „in einem mehr als äußerlichen Sinne zentralen Teil“202 des Romanzero. Aufgrund seiner besonderen Stellung im und Bedeutung für das Werk wird der Lazarus im Ganzen als Zyklus betrachtet. Joseph A. Kruse leitet aus der „literarischen Selbststilisierung“ der Lazarusfigur „eine existentielle Position“ des späten Heine ab.203 Heine verquickt in seinem Bild von Lazarus die beiden biblischen Gestalten gleichen Namens, wobei dem leidenden Lazarus des Lukas-Evangeliums eine größere Bedeutung zugeschrieben werden darf als dem von den Toten wiedererweckten Lazarus bei Johannes. Lukas kündet vom reichen Mann und dem armen Lazarus, „der lag vor seiner Tür voller Schwären und begehrte sich zu sättigen von den Brosamen, die von des Reichen Tische fielen; doch kamen die Hunde und leckten ihm seine Schwären.“204 Der reiche Mann verwehrt Lazarus jede Hilfe. Dafür wird Lazarus nach seinem Tod in Abrahams Schoß getragen, während der Reiche in die Hölle fährt. Da nun hilft kein Heulen und Zähneklappern mehr, sein Los ist entschieden: Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hob er seine Augen auf und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich mein und sende Lazarus, daß er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt. Und über das alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt, daß die wollten von hinnen hinabfahren zu euch, könnten nicht, und auch nicht von dannen zu uns herüberfahren.205

Der Lazarus des Johannesevangeliums206 wird von Jesus nach vier Tagen von den Toten erweckt, woraufhin er in seiner Eigenschaft als wandelndes Wunder seinerseits für eine Vielzahl von Bekehrungen sorgt. Roland Berbig weist auf einen wichtigen Aspekt der zweiten Lazarus-Erzählung hin, der für Heines Bearbeitung von substantieller Bedeutung ist. Auch in jener Version finde sich keine Heilsbotschaft. Denn Lazarus kehrt zu den Lebenden zurück, ohne daß sich sein Verhältnis zu Gott oder zu dem Vorgang der Wiedererweckung beim Evangelisten niederschlägt. Seine Todeserfahrung kann er nicht mitteilen, er ist der wieder ins Leben Entlassene. Seine Auferstehung „verkommt“ zum Zeichen: ein Zeichen für 201

Ich beziehe mich in dieser Arbeit ausschließlich auf den Lazarus-Zyklus des Romanzero und nicht auf die Gedicht-Sammlung Zum Lazarus aus Gedichte. 1853 und 1854. 202 Koopmann 1978, S. 57. 203 Kruse 1991, S. 262. 204 Lukas 16, 20–21. 205 Lukas 16, 23–26. 206 Johannes 11, 1–57 und Johannes 12, 1–11.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

diesseitiges Leben, frei von Vertröstungen auf ein glückliches Jenseits, wie es im Gleichnis manifest ist. Das Erschlagene schlägt nicht ins rettende Wort, es wird instrumentalisiert. Ihn erwartet, was er gehabt.207

Es besteht eine nicht abzuweisende Parallele zwischen dem leidenden Lazarus und dem im Sterben liegenden Heine, dessen Leib „in die Krümpe gegangen“ (DHA 3.1, 177).208 Die Engführung zwischen Leben und Werk soll an dieser Stelle indes nicht weiter verfolgt werden. Es genügt der Eindruck, dass der Lazarus „die beherrschende Identifikationsfigur des Spätwerks wurde“.209 Der Lazarus-Zyklus beinhaltet samt und sonders ausgesprochen subjektive Gedichte, die zunächst von einem je einzelnen Schicksal berichten, von denen zugleich ein jedes, wie sich herausstellen wird, verallgemeinerbaren Charakter besitzt. Insbesondere bei der Lazaruserzählung des Lukasevangeliums handelt sich um eine im Kern hoffnungsvolle Geschichte. Der arme geschundene Mensch erreicht das Himmelreich, während der hartherzige Reiche zur Hölle fährt: das Gottesgericht hat gesprochen, im Jenseits erhält ein jeder seinen gerechten Lohn oder seine gerechte Strafe. Heine erzählt dieselbe Geschichte mit einer folgenreichen Auslassung. Was geschieht, wenn es keinen Gott, keinen Jesus und kein Jenseits gibt? Was geschieht, wenn das irdische Leben das einzige Leben ist und sich im elenden Sterben erschöpft? Den ersten Hinweis auf eine mögliche Antwort liefert das Eröffnungsgedicht Weltlauf, dem wie jeder Ouvertüre in den drei Büchern des Romanzero programmatischer Charakter zuzuschreiben ist. Hat man viel, so wird man bald Noch viel mehr dazu bekommen. Wer nur wenig hat, dem wird Auch das Wenige genommen. Wenn du aber gar nichts hast, Ach, so lasse dich begraben – Denn ein Recht zum Leben, Lump, Haben nur die etwas haben. (DHA 3.1, 105, 1–8) 207

Berbig 1992, S. 68. S. detailliert Brandt 1995, S. 229: „Der Dichter begriff sich all die Jahre seines Leidens hindurch als Lazarus, oder, zutreffender, er versuchte als der in Qualen und Leiden ausgeschlossene, ins Elend verstoßene Mensch in der Projektion auf den biblischen Lazarus seiner Existenz den sprechenden Umriß zu geben. Die Krankheit, die ihn seit Mitte der vierziger Jahre mit gehäuften Schmerzen und bereits mit zeitweiligen Lähmungen angriff und die ihn im Februar 1848 endgültig niederwarf, machte die Analogie mit der Gleichnisgestalt aus dem Lukasevangelium nicht unbedingt zwingend, selbst wenn er damals gewußt hätte, daß er bis an sein Lebensende ans Bett gefesselt sein würde. Als die Konzeption des Romanzero etwa um 1850 Gestalt gewann und Heine spätestens damals Lazarus als einen Sammeltitel seiner Schmerzenslyrik wählte, gab es gleichwohl Gründe für diese Wahl. Er war hilflos, krank wie der biblische Held, seine Mittel waren beschränkt und die Dauer seines Lebens absehbar.“ 209 Brandt 1995, S. 238. 208

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

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Bereits der Titel Weltlauf deutet auf eine Regelmäßigkeit hin, die sich in der Weltgeschichte finden lässt. Der Achtzeiler wirkt wie eine poetische Bearbeitung von Lukas 19, 26: „Ich sage euch aber: Wer da hat, dem wird gegeben werden; von dem aber, der nicht hat, wird auch das genommen werden, was er hat.“210 Bodo Morawe weist auf den auch poetischen Minimalismus des Gedichts hin, das, untypisch für den Romanzero (oder Heines Lyrik überhaupt), praktisch ganz ohne poetische Bilder auskommt: Das Weltlauf -Gedicht vermeidet jedes lyrische Bild, verwendet keine poetische Metapher und kennt keine dichterische Anschauung. Allenfalls die vage Anspielung auf das Grab in der trivialen Wendung ‚sich begraben lassen‘ […] ließe sich auf eine bildhafte Vorstellung beziehen, ohne jedoch das Grau-in-grau der Rede aufzuhellen oder gar die lakonische Ausdrucksweise des schmucklosen Spruchgedichts zu poetisieren. An keiner anderen Stelle des Achtzeilers ist die ‚lyrische‘ Rede abgedroschener und verschlissener als gerade dort, wo die Lamentation in dem „Ach, so lasse dich begraben“ ihren Höhepunkt erreicht.211

Schon der Prolog des Lazarus entzieht somit der Welt ihre Bildhaftigkeit, entpoetisiert die Sprache, ist dabei aber doch durch und durch streng komponiert und folgt einer genauen Anlage. Das Gedicht ist um das Verb „haben“ herum strukturiert, das in verschiedenen Flexionsformen nicht nur gleich fünfmal vorkommt, sondern als Auftakt sowie als Coda und daher als Rahmen fungiert. Die Reichen werden also immer reicher, die Armen immer ärmer, ein sozialpolitisches und ökonomisches Phänomen, das dem in fiskalischen Fragen bewanderten Heine zu Zeiten des aufkommenden Finanzkapitalismus wohlbekannt war, wie etwa der Tagesbericht, den Heine für die Augsburger Allgemeine am 4. Dezember 1842 in Paris verfasst hat, zeigt: Hier in Frankreich herrscht gegenwärtig die größte Ruhe. Ein abgematteter, schläfriger, gähnender Friede. Es ist alles still, wie in einer verschneiten Winternacht. Nur ein leiser, monotoner Tropfenfall. Das sind die Zinsen, die fortlaufend hinabträufeln in die Capitalien, welche beständig anschwellen; man hört ordentlich wie sie wachsen, die Reichthümer der Reichen. Dazwischen das leise Schluchzen der Armuth. Manchmal auch klirrt etwas, wie ein Messer das gewetzt wird. (DHA 14.1, 37)212

Das Recht zu Leben ist in Weltlauf an materiellen Reichtum gebunden, was einen bemerkenswerten Kontrast zu Verschiedenartige Geschichtssauffassung von 1833 darstellt: Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht. Das Leben will dieses Recht geltend machen gegen den erstarrenden Tod, gegen die Vergangenheit, und dieses Geltendmachen ist die Revoluzion. Der elegische Indifferentismus der Historiker und Poeten soll unsere Energie nicht lähmen bey diesem Geschäfte; und die Schwärmerey der Zukunftbeglücker soll uns nicht verleiten, die Interessen der Gegenwart und das zunächst zu verfechtende Menschenrecht, das Recht zu leben, aufs Spiel zu setzen. – Le pain est le droit du peuple, sagt Saint-Just und das ist das größte Wort, das in der ganzen Revoluzion gesprochen worden – (DHA 10, 302) 210

Oder Matthäus 13, 12: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch das genommen was er hat.“ 211 Morawe 2002, S. 447. 212 Vgl. hierzu auch Morawe 2002, S. 448–449.

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In einem Imperativ von kategorischem Charakter („weder Zweck noch Mittel“) wird dort das Recht zu Leben zu einem unveräußerlichen Menschenrecht, zum revolutionären Ziel, erklärt. Nun, im Romanzero, lässt sich beobachten, wie weit diese Revolution gediehen ist. Sie ist verkümmert, sie konnte ihre Ziele nicht verwirklichen, das Gegenteil ist eingetreten, der „erstarrende[] Tod“ ist das einzige, was der Mehrheit der Menschen bleibt. Umso deutlicher tritt dies zutage, führt man sich vor Augen, dass selbst dieser kurze Ausschnitt aus einem Fragment gebliebenen politischen Essay mehr poetische Bilder und poetische Färbung enthält als der gesamte Weltlauf . Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben hat so mit der poetischen Bildsprache das, was Dichtkunst eigentlich ausmacht, die Lyrik verlassen. Weltlauf geht noch einen Schritt weiter, als bloß die bestehenden Verhältnisse zu beschreiben und zu kritisieren, es nimmt sie „beim Wort, führt sie immanent ad absurdum, beweist damit ihren Unsinn und erzwingt ‚ex negativo‘ eine neue politische und gesellschaftliche Sinngebung“.213 Es unterteilt nämlich nicht nur in arm und reich, es eröffnet eine weitere Kategorie: die der Menschen, die gar nichts haben (V. 5), also in völliger Mittellosigkeit leben. In einer Welt, in der Besitz und Eigentum über Glück, Unglück und Wert des Individuums entscheiden, ist der Besitzlose ein Ausgestoßener („Lump“). Er kann sofort sterben (V. 6), denn das Leben verheißt ihm ohnehin nichts Gutes. Heine zeigt in Weltlauf auf, was geschieht, wenn man die Bibel (Lk 19,26 bzw. Mt 13,12) wörtlich nimmt: Man erhält eine Lazarus-Figuration, die als Ausgestoßener elendig stirbt. Besondere Brisanz erhält dessen Situation dadurch, dass der Romanzero jede transzendente Ebene der Bibel ausspart und seinem Lazarus damit den Zugang zum Himmelreich verweigert. Wenn also kein gerechter Gottesspruch im Jenseits wartet, und nur noch das irdische Dasein in Betracht kommt, dann gilt auch der Bibel zufolge, daß man das Recht auf Leben nur verwirklichen kann, wenn man im Besitz ist. Denn der Mittellose, dem noch das Letzte genommen worden ist, wird wie Lazarus in die Finsternis geworfen […].214

Auf der Erde erwartet den Menschen allein der Tod. In Offenbarung 22,13 heißt es: „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte.“ Diesem Wort wohnt eine explizit tröstende Funktion inne: Gott ist das, was bleibt, auch wenn alles andere verloren ist. In einer Welt, die keinen Gott mehr kennt, in der Besitz das Erste und das Letzte ist, gibt es keine Hoffnung mehr, „[d]er Weltlauf ist also die tatsächliche Bestätigung der biblischen Lazarusgeschichte, sobald die himmlische Ausgleichung nicht mehr zur Kenntnis genommen wird“.215 Als großer

213

Morawe 2002, S. 459. Fraglich scheint, wie die Sinnstiftung aussehen soll. Morawe sieht diese in dem appelativen Charakter des Gedichtes verwirklicht, das in einem Brecht’schen Sinne zum Handeln auffordere. Eine tatsächliche Sinngebung lässt sich daraus jedoch nicht ablesen, das Gedicht selbst berichtet ja gerade von der Sinnlosigkeit des Handelns. Das Gesetz der Akkumulation von Reichtum wird sich nie durchbrechen lassen. 214 Brandt 1995, S. 232. 215 Brandt 1995, S. 232.

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

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Gleichmacher erwartet der Tod zwar alle Menschen. Die Zeit bis dahin muss der Mittellose jedoch in kaum zu linderndem Leid verbringen. Weiter ausgeführt wird der Gegensatz zwischen Arm und Reich in Rückschau, dem zweiten Lazarus-Gedicht, das sich als Lebensbilanz nicht in einer „biographischrealistische[n]“ (DHA 3.2, 809) Lektüre erschöpft.216 Das Erzähler-Ich tritt dort als Held auf, der sich seines Lebens erinnert, das reich war an Genüssen, vor allem sensualistischer Natur. Ich habe gerochen alle Gerüche In dieser holden Erdenküche; Was man genießen kann in der Welt, Das hab’ ich genossen wie je ein Held! (DHA 3.1, 106, V. 1–4) […] Ich hatte ein Haus, ich hatte ein Schloß. Ich lag auf der grünen Wiese des Glücks, Die Sonne grüßte goldigsten Blicks; Ein Lorbeerkranz umschloß die Stirn, Er duftete Träume mir in’s Gehirn, Träume von Rosen und ewigem May – Es ward mir so selig zu Sinne dabey, So dämmersüchtig, so sterbefaul – Mir flogen gebrat’ne Tauben in’s Maul […] (V. 10–18)

Bald aber muss der Held erkennen, dass all diese Genüsse zum einen vergänglich sind, zum anderen ihren Preis haben, denn „mit Verdruß, Pein, Bitternissen, ja mit Selbstverrat und Selbstdemütigung“217 wurden sie erkauft. Ach, jede Lust, ach, jeden Genuß Hab’ ich erkauft durch herben Verdruß; Ich ward getränkt mit Bitternissen Und grausam von den Wanzen gebissen; Ich ward bedrängt von schwarzen Sorgen, Ich mußte lügen, ich mußte borgen Bey reichen Buben und alten Vetteln – Ich glaube sogar, ich mußte betteln. (V. 25–32)

Rücklauf erscheint so als Explikation von Weltlauf, wo das menschliche Leben im Allgemeinen beschrieben wurde. Hier erzählt ein Subjekt mit einer individuellen Geschichte, wie das Weltbild des Prologs (sowohl des Lazarus-Zyklus als auch der Lamentazionen) verwirklicht wird. Alles Glück ist temporär, von Dauer ist allein das Leiden. Zuletzt bezieht sich diese Entwicklung nicht bloß auf materielle Güter, sie bezieht sich auf das Leben selbst. Das Erzähler-Ich wird, obwohl es dies zuvor 216

Vgl. zur (zeitgenössischen) Rezeption, die oft unter diesen Gesichtspunkten erfolgte DHA 3.2, 808–809. 217 Brandt 1995, S. 233.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

ausdrücklich verneinte („so sterbefaul“, V. 17), seines Lebens müde, es will sterben. Die einzige Entwicklung, die sich also im Verlauf eines Lebens erkennen lässt, ist die hinab, eine Verschlechterung, die geradewegs ins Grab führt. Eine positive Tendenz wird erst gar nicht mehr in Betracht gezogen. Jetzt bin ich müd’ vom Rennen und Laufen, Jetzt will ich mich im Grabe verschnaufen. Lebt wohl! Dort oben, ihr christlichen Brüder, Ja, das versteht sich, dort sehn wir uns wieder. (V. 33–36)

Die Verse 33 und 34 verbinden Rückschau zudem, durch das Motiv des Laufens, mit Der Ex-Nachtwächter, dessen müden „langen Fortschrittsbeine“ (DHA 3.1, 97, V. 117) nicht mehr tragen – während sich das Bild drastisch verschärft. Will der Ex-Nachtwächter bloß ruhen, zieht es den Helden der Rückschau eilends ins Grab. Die letzten beiden, empathisch mit „Lebt wohl!“ eingeleiteten, Verse sind dabei nicht anders als ironisch zu verstehen, sie bedeuten „eine sarkastische Abfuhr von pastoralen Wendungen, in denen die Jenseitshoffnungen allzu vordergründig ausgesprochen werden“.218 Hier wird keiner wahrhaftigen Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod Ausdruck verliehen, wie es dem biblischen Lazarus gewährt wird, vielmehr wird der Boden bereitet für Lazarus III, das mit beißendem Spott die Fantasie des göttlichen Gerichts durchspielt.219 Mutet der Posaunenruf des ersten Verses von Auferstehung noch feierlich an, gleitet schon die Beschreibung der wiederauferstandenen Toten ins Absonderlichere und Lächerliche ab. Posaunenruf erfüllt die Luft, Und furchtbar schallt es wieder; Die Todten steigen aus der Gruft, Und schütteln und rütteln die Glieder. Was Beine hat, das trollt sich fort, Es wallen die weißen Gestalten Nach Josaphat, dem Sammelort, Dort wird Gericht gehalten. (DHA 3.1, 107, 1–8)

Die Toten „schütteln und rütteln“ ihre Glieder, wobei Heine das Bild der wandelnden Toten fast ins Groteske überzeichnet. Denn ‚forttrollen‘ können sich nur diejenigen Toten, die noch über Beine verfügen. Die Toten in Auferstehung stellen somit eine ausdrückliche Kontrafaktur des Lazarus aus dem Johannesevangelium dar. Ihr Anblick wird Niemandes Bekehrung und kein huldvolles Staunen hervorrufen. In ihrem 218

DHA 3.2, 811, vgl. hierzu Brandt 1995, S. 233. Vgl. hierzu ebenfalls eine zeitgenössische Kritik der Wiener Kirchen-Zeitung vom 5. August 1853 (zitiert nach DHA 3.2, 811), die nicht an Invektiven gegen den Autor spart: „Wen widert in diesen Versen nicht das Höllengelächter eines herabgekommenen Wüstlings an, oder vielmehr, wer hat nicht Erbarmen mit solchem Mühsal? Was mag ein Mensch leiden, der an’s Krankenbett jahrelang gefesselt, noch in so diabolischer erzwungener Laune aufjubeln kann?“

219

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

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Bemühen, ohne untere Extremitäten das göttliche Gericht zu erreichen, wirken sie bloß elend und sind der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Gestaltung des Gottesgerichts selbst ist dem Matthäusevangelium entnommen: Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zu seiner Linken. […] Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!220

In der Welt des Lazarus ist eine derartige endgültige Gerechtigkeit allerdings nicht mehr denkbar, sie kann ohne ironische Brechung nicht einmal erzählt werden. Das ist zu Josaphat im Thal, Da stehn die geladenen Schaaren, Und weil zu groß der Beklagten Zahl, Wird hier summarisch verfahren. Das Böcklein zur Linken, zur rechten das Schaf, Geschieden sind sie schnelle; Der Himmel dem Schäfchen fromm und brav, Dem geilen Bock die Hölle! (V. 16–24)

Ist das Gottesgericht des Evangeliums als Metapher für die transzendente und unergründliche Gottesentscheidung, wer in das Himmelreich gelangt, zu verstehen, nimmt es in Auferstehung ausgesprochen irdische Züge an. Die Sprache verfällt in einen juristischen Jargon, wenn die Zahl der „Beklagten“ so groß ist, dass „summarisch verfahren“ werden muss. Noch dazu lässt sich ein gerechtes Verfahren nicht im Ansatz erkennen, womit „die Möglichkeit der jenseitigen Heilserfüllung, die Erwartung auf die ausgleichende Gerechtigkeit Gottes endgültig beiseite geschoben“221 wäre. Die Aufteilung in Bock und Schaf, in der biblischen Vorlage lediglich eine Dichotomie der Geschlechter versinnbildlichend, wird plötzlich zum alles entscheidenden Faktor über Seelenheil oder ewige Verdammnis, „[s]tatt Seele und deren Rein- bzw. Unreinheit steht das Geschlecht auf dem Prüfstand, wobei es Kriterium, nicht Gegenstand der Urteilsfindung ist“.222 Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, 220

Mt 25, 31–13; 42. Brandt 1995, S. 234. Brandt ist darüber hinaus zuzustimmen, dass Fromme Warnung (Lazarus VIII.) sich vielleicht auf einen ersten oberflächlichen Blick als Rehabilitation einer jenseitigen Heilsgeschichte ausnimmt, letztendlich jedoch lediglich als „humoristische[r] Nachgang“ zu betrachten ist: „Der Blick richtet sich nunmehr allein auf die Wirklichkeit des tatsächlichen Leidens. Dabei geht es nicht um den unmittelbar armen oder gar aussätzigen Menschen, es geht um alle, die, ob nun als Freund, Liebhaber oder Mitstreiter, eingebunden sind in die Welt, wo der für Freiheit kämpfende exiliert, der Notleidende im Stich gelassen, wo jedes goldne Kalb beweihräuchert und das Geld im Dreck angebetet wird“ (Brandt 1995, S. 234). 222 Berbig 1992, S. 69. 221

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es schreibt lediglich das irdische Unrecht im Jenseits fort und fest, es stellt nichts anderes dar als eine „Neuauflage alten Unrechts“.223 Dem großen Skandalon der menschlichen Existenz, der Angst dem Zufall hilflos ausgeliefert zu sein, kann somit nicht einmal in einem poetischen Gedankenexperiment begegnet werden. Die Kunst hat ihre tröstende Funktion verloren. Selbst in der Poesie entscheidet die reine Kontingenz, in diesem Fall das Geschlecht, über Glück oder Unglück, Heil oder Leid. Der mühevolle Gang der Toten vor das göttliche Gericht hat sich letztendlich als bedeutungslos erwiesen, wenn das Urteil von vornherein feststeht. Bekräftigt wird das zuvor entwickelte Weltbild in den beiden folgenden Gedichten Sterbende sowie Lumpenthum.224 Der Sterbende war ausgezogen, das Glück zu suchen, was sich als ein aussichtsloses Unterfangen herausstellt, von dem er geschlagen wieder heimkehrt: „Flogest aus nach Sonn’ und Glück / Nackt und schlecht kommst du zurück“ (DHA 3.1, 108, V. 1–2). Er ist von seiner Reise, die hier selbstverständlich als Lebensreise verstanden werden kann, nicht nur materiell verarmt („nackt“), er ist außerdem charakterlich depraviert („schlecht“) zurückgekehrt. Mancher leider wurde lahm Und nicht mehr nach Hause kam – Streckt verlangend aus die Arme, Daß der Herr sich sein erbarme! (V. 9–12)

Das Miserere der letzten der drei Strophen wird, nach allem, was der Lazarus-Zyklus bisher zu berichten wusste, unerhört bleiben; es gibt keinen Herrn, weder einen weltlichen, noch einen jenseitigen, der dem Menschen Hilfe zuteilwerden ließe. Lumpenthum nimmt die verschiedenen Invektiven des Lazarus-Prologs wieder auf und erweitert sie um das Selbstbild des im Prekariat lebenden Dichters, während das spätere (Lazarus XVIII.) Sie erlischt schildert, wie es mit seinem – ebenfalls leicht als Künstler zu identifizierenden Protagonisten – zu Ende geht: Verdrießlich rascheln im Parterr’ Etwelche Ratten hin und her, Und Alles riecht nach ranz’gem Oehle. Die letzte Lampe ächzt und zischt Verzweiflungsvoll und sie erlischt. Das arme Licht war meine Seele. (DHA 3.1, 120, 13–18)

Sie erlischt beschreibt also den vollkommenen Untergang des Individuums, nicht nur seinen sozialen und materiellen Abstieg oder physischen Verfall225 , sondern das Ende des Subjekts selbst. Mit dem Erlöschen der Öllampe verglimmen Seele und Bewusstsein. Was bleibt, ist Dunkelheit. 223

Berbig 1992, S. 69. Auf die politischen und biografischen Bezüge der beiden Gedichte soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Siehe dazu exemplarisch DHA 3.2, 813–816. 225 Vgl. etwa Vermächtniß (Lazarus XIX.), das explizit auf den körperlichen Verfall eingeht. Für eine Analyse s. Abschn. 3.2. 224

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

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Erinnerung (Lazarus VII.) schließlich geht noch einen Schritt weiter und preist den frühen Tod als ein Glück. Beim historischen Wilhelm Wisetzki, dem Jungen, dem Erinnerung ein literarisches Denkmal setzt, handelt es sich um einen Schulfreund Heines, der tatsächlich ertrunken ist.226 Bist klug gewesen, du bist entronnen Den Stürmen, hast früh ein Obdach gewonnen – Doch die Katze, die Katz’ ist gerettet. Bist früh entronnen, bist klug gewesen, Noch eh’ du erkranktest, bist du genesen – Doch die Katze, die Katz’ ist gerettet. Seit langen Jahren, wie oft, o Kleiner, Mit Neid und Wehmuth gedenk’ ich deiner – Doch die Katze, die Katz’ ist gerettet. (DHA 3.1, 109, 10–18)

Das Lob des frühen Todes erinnert eklatant an den Ausspruch des Silen, wie Nietzsche ihn in Die Geburt der Tragödie wiedergibt: „Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein […] Das Zweitbeste aber ist […] – bald zu sterben.“227 So hoffnungslos präsentiert sich die Welt, dass diejenigen zu beneiden sind, die sie gar nicht erst ertragen müssen oder ihr doch zumindest möglichst früh entkommen können. Noch aus einem anderen Grund als dieser zur Schau gestellten Weltmüdigkeit jedoch ist Erinnerung für das Gesamtkonzept des Romanzero von Interesse. Der am Ende jedes der sechs Terzetten auftretende Refrain „Doch die Katze, die Katz’ ist gerettet“ nimmt ein Motiv des Vitzliputzli wieder auf. Ein Miaulen wie von Katzen, Doch von jener großen Sorte, Welche Tigerkatzen heißen Und statt Mäuse Menschen fressen! (DHA 3.1, 65–68)

Liest man die Tigerkatzen Mexikos als Verweis auf Vitzliputzli, so ist dessen Atlantiküberquerung gelungen. Er treibt nun auch in der Alten Welt sein Unwesen, indem er Kinder ertränkt. Dass er ihnen damit unwissentlich einen Gefallen erweist, unterstreicht den Zynismus einer Weltanschauung, in der das einzelne Leben, selbst das eines Kindes, keinen Wert besitzt.228 Dass auch materielle Sorgenfreiheit und weltliche Macht kein Garant für ein glückliches Leben auf Erden sind, zeigt Salomo (Lazarus X.).

226

Für eine detaillierte Analyse, auch unter Einbeziehung des biografischen Hintergrundes, siehe Höhn 1986, S. 91–97. 227 Nietzsche 1872, S. 35. 228 Und in der nicht zuletzt das Leben eines Tieres wichtiger scheint als das Leben eines Kindes, was wiederum auf eine gestörte Ordnung hindeutet.

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Verstummt sind Pauken, Posaunen und Zinken. An Salomos Lager Wache halten Die schwertgegürteten Engelgestalten, Sechstausend zur Rechten, sechstausend zur Linken. Sie schützen den König vor träumendem Leide, Und zieht er finster die Brauen zusammen, Da fahren sogleich die stählernen Flammen, Zwölftausend Schwerter, hervor aus der Scheide. (DHA 3.1, 112, V. 1–8)

Etwas stimmt nicht im Reiche Salomos das deutet bereits die gedrückte Stimmung des ersten Verses an. Pauken und Posaunen, Sinnbilder für staatstragende Feierlichkeit und göttliche Verheißung, bleiben stumm. Der Grund dafür offenbar sich schon bald: Die ganze Macht der „[z]wölftausend Schwerter“ nämlich ist nicht in der Lage, den König vor dem einen Leid zu schützen, das ihn wirklich umtreibt, der Liebe. O Sulamith! das Reich ist mein Erbe, Die Lande sind mir unterthänig, Bin über Juda und Israel König – Doch liebst du mich nicht, so welk’ ich und sterbe. (V. 13–16)

Selbst der mächtige König Salomo ist der Liebe hilflos ausgeliefert. Die Liebe bleibt im Lazarus zwar Wunsch, jedoch unerfüllbarer Wunsch, zugleich ist sie ambivalent. Sie „regiert, sie ist schmucklos und sie ist asozial“229 . Sie ist keine Liebe, die Hindernisse überwindet, sie wird selbst zur Gefahr. Ihre Nicht-Erwiderung droht mit dem Tod des Königs das gesamte Reich in Unordnung zu stürzen. In Verlorene Wünsche (Lazarus XI.) ist es ausgerechnet die nicht erwiderte Liebe, die dem Erzähler-Ich den letzten Stoß versetzt: Goldne Wünsche! Seifenblasen! Sie zerrinnen wie mein Leben – Ach, ich liege jetzt am Boden, Kann mich nimmermehr erheben. Und Ade! sie sind zerronnen, Goldne Wünsche, süßes Hoffen! Ach, zu tödtlich war der Faustschlag, Der mich just in’s Herz getroffen. (DHA 3.1, 113, 29–36)

Im Oktober 1849 leitet als sechzehntes Gedicht programmatisch das Ende des Lazarus-Zyklus ein. Den historischen Hintergrund bildet die blutige Niederwerfung der Aufstände in der jungen (erst im Frühjahr 1849 ausgerufenen) Republik Ungarn durch die vereinten Kräfte des österreichischen Kaiser- und russischen Zarenreichs. Wenige Gedichte des Romanzero nehmen, in der Tradition des Zeitgedichts, derart 229

Berbig 1992, S. 70.

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113

dezidiert Bezug auf aktuelle politische Ereignisse. So überrascht es kaum, dass Heines Verleger Julius Campe in einem Brief vom 2. November 1851 hauptsächlich Im Oktober 1849 für das Verbot des Romanzero in Österreich verantwortlich macht: Schon am 12 October sandte ich an 5 loyale Wiener–Buchhändler mit Briefpost, ein Ex jedem, zu sehen, ob ich dafür freie Praxis in Oesterreich etwa erhielte–; denn wozu soll ich, mir 5 bis 600 confiscieren lassen, wenn ich es auf diese Weise vorher erfahre und die Buchhändler, wollen sie ein Ex bekommen, eine Gelegenheit suchen, es gewiß zu erhalten. Wegen den, Pagina 192 befindlichen: „October 1849“ erfolgte, abgesehen von den religiösen Spöttereien das Decisum: „Damnatur“ – Oesterreich ist also für das Buch verschloßen.230

Kein Wunder, stellt Heine doch „den Sieg der Gegenrevolution und die Wiederkehr der politischen Misere Deutschlands als grinsenden Triumph des Bösen und Niederträchtigen dar“.231 Eine politische Analyse soll jedoch an dieser Stelle nicht Thema sein, genauso wenig wie eine biographisch geprägte, die auf der Hand liegt.232 Unbestreitbar bleibt, dass Heine hier die „Position des Besiegten [einnimmt], der die Niederlage erkennt, aber nicht anerkennt, und sie schonungslos, ohne Larmoyanz und teleologische Sinngebung darstellen und zugleich gegen sie protestieren will.“233 Dabei beginnt Lazarus XVI. scheinbar idyllisch, mit Bildern eines biedermeierhaften Friedens nach der misslungenen Revolution: Gelegt hat sich der starke Wind, Und wieder stille wird’s daheime; Germania, das große Kind, Erfreut sich wieder seiner Weihnachtsbäume. Wir treiben jetzt Familienglück – Was höher lockt, das ist vom Uebel – Die Friedensschwalbe kehrt zurück, Die einst genistet in des Hauses Giebel. (DHA 3.1, 117, V. 1–8)

Allerdings liefern schon die ersten beiden Vierzeiler Indizien, die „die vorgebliche Harmonie als fragwürdig erscheinen lassen“.234 Dazu gehören sowohl unpassende Verbalkonstruktionen (etwa ‚Familienglück treiben‘) als auch der Umstand, dass die Friedensschwalbe im Oktober nach Deutschland zurückkehrt. Fast unbemerkt gelingt Heine hier eine Kontrafaktur der Wirklichkeit, die weitreichende Folgen hat. Würden die Schwalben tatsächlich im Oktober nach Deutschland zurückkehren, so 230

HSA 26, 344. Grab 1982, S. 168–169. 232 „Das Gedicht hat aber nicht nur eine historisch-politische, sondern auch eine psychologische Dimension. Die ungarischen Ereignisse entsprachen Heines eigenen Emotionen. Er identifizierte seinen eigenen Kampf der unerschrockenen Revolutionäre, die der tierisch rohen Übermacht erlagen; das physische Leiden des Dichters ist auch das politische Elend der Zeit. Er unterwarf sich nicht dem Sieg der Reaktion, suchte nichts zu beschönigen und keine Widersprüche zu glätten.“ Grab 1982, S. 169. 233 Liedtke 1998, S. 211. 234 Werner 1983, S. 291. 231

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müssten sie verhungern, es gäbe schlechterdings zu wenig Futter. Allein dieses Bild zeugt davon, dass der Friede ein falscher ist, einer, der nur von kurzer Dauer sein wird und der bei genauerer Betrachtung gar nicht existieren kann.235 Die dritte Strophe treibt dieses romantisierend ironische Spiel auf die Höhe, um es schließlich umso abrupter und brutaler enden zu lassen. Gemüthlich ruhen Wald und Fluß, Von sanftem Mondlicht übergossen; Nur manchmal knallt’s – Ist das ein Schuß? – Es ist vielleicht ein Freund, den man erschossen. (V. 9–12)

Plötzlich bricht die Wirklichkeit in all ihrer Brutalität in die zuvor beschriebene romantische Idylle, es kommt zur Gewalt, ein (vielleicht sogar vom lyrischen Ich geliebter) Mensch stirbt. Das Bild des Friedens hat also ganze zweieinhalb von 15 Strophen durchgehalten, bevor es durch einen Akt zufälliger Gewalt durchbrochen wird. Die Verwirrung potenziert sich noch durch die Ungewissheit, welche Ursache die Gewalt hat (V. 11). Von da an geht es Schlag auf Schlag. Wird zunächst noch in Erwägung gezogen, dass es sich beim Lärm um Feuerwerk zum einhundertsten Geburtstag Goethes handeln könnte236 , gerät der Ton danach immer martialischer: Es knallt. Es ist ein Fest vielleicht, Ein Feuerwerk zur Goethefeyer! – Die Sontag, die dem Grab entsteigt, Begrüßt Raketenlärm – die alte Leyer. Auch Liszt taucht wieder auf, der Franz, Er lebt, er liegt nicht blutgeröthet Auf einem Schlachtfeld Ungarlands; Kein Russe, noch Kroat hat ihn getödtet. Es fiel der Freyheit letzte Schanz’, Und Ungarn blutet sich zu Tode _ Doch unversehrt blieb Ritter Franz, Sein Säbel auch – er liegt in der Kommode. Er lebt, der Franz, und wird als Greis Vom Ungarkriege Wunderdinge Erzählen in der Enkel Kreis – „So lag ich und so führt’ ich meine Klinge!“ (V. 17–32)

235

Für weitere Merkmale der Disharmonie s. Werner 1983, S. 291–292. Der ironische Kommentar richtet sich dabei nicht gegen Goethe selbst. Ziel sind vielmehr die zu Goethes Ehren in ganz Deutschland veranstalteten Feiern, die, so Heines Überzeugung, Goethe lediglich für sich vereinnahmen wollen. Vgl. Werner 1983.

236

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115

Die Ironie, die sich hier über Franz Liszt, den österreichischen Komponisten mit ungarischen Wurzeln, ergießt, ist für Heine wohlbegründet, wie Michael Werner herausarbeitet: Als er [Liszt] auf einer triumphalen Tournee 1839 nach Ungarn kam, überreichte ihm der dortige Reichstag einen kostbaren Ehrensäbel. Bei der Verleihung erklärte Liszt, er verstehe diesen Säbel als einen Auftrag dazu, sein Volk, das sich früher durch Waffentaten ausgezeichnet habe, auf dem Gebiet der Künste zum Weltruhm zu führen. Sollten die Ungarn jedoch gewaltsam am friedlichen Aufbau ihrer Nationalität gehindert werden, so müßten die Säbel wieder aus der Scheide gezogen werden, „und unser Blut sei bis zum letzten Tropfen vergossen für unser Recht, für König und Vaterland“.237

Liszt aber ließ den Worten keine Taten folgen, er ließ den Säbel „in der Kommode“ und hat sich noch dazu immer wieder beim Feind, Österreich, um die Erhebung in den Adelsstand bemüht. Die Desavouierung eines missliebigen Komponisten, der sich in politischer Hinsicht als unzuverlässig erwiesen hat, ist jedoch nur eine Stoßrichtung des Gedichts. Liszt steht archetypisch für einen bestimmten Dichtertyp, der sich völlig in seine Kunst zurückzieht. Zu diesem Typ liefert Im Oktober 1849 ein verstecktes Gegenbild. Die Verse 23/24 – „Auf einem Schlachtfeld Ungarlands; / Kein Russe, noch Kroat hat ihn getödtet.“ – lassen den Zeitgenossen an den ungarischen Dichter Sándor Petöfi denken, der am 31. Juli 1849 sechsundzwanzigjährig während der Schlacht bei Segesvár gefallen war, an der er als Freiwilliger der ungarischen Revolutionsarmee gegen die zahlenmäßig doppelt so starken Armeen der Bündnispartner Österreichs teilgenommen hatte. Es klirrt mir wieder im Gemüth Die Heldensage, längst verklungen, Das eisern wilde Kämpenlied – Das Lied vom Untergang der Nibelungen. Es ist dasselbe Heldenloos, Es sind dieselben alten Mähren, Die Namen sind verändert bloß, Doch sind’s dieselben „Helden lobebären.“ (V. 37–44)

An Petöfi muss gedacht werden, wenn hier Erinnerungen an die sagenhaften Helden des Nibelungenlieds anklingen. Er ist, in seiner „Kombination von Künstler- und Kämpfertum“238 der wahre Held der modernen Zeit, neben dem sich Liszt wie ein Maulheld ausnimmt. Es ist dasselbe Schicksal auch – Wie stolz und frey die Fahnen fliegen, Es muß der Held, nach altem Brauch, Den thierisch rohen Mächten unterliegen. 237 238

Werner 1983, S. 294. DHA 3.2, 846.

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Und diesmal hat der Ochse gar Mit Bären einen Bund geschlossen – Du fällst; doch tröste dich, Magyar, Wir Andre haben schlimm’re Schmach genossen. Anständ’ge Bestien sind es doch, Die ganz honnet dich überwunden; Doch wir gerathen in das Joch Von Wölfen, Schweinen und gemeinen Hunden. (V. 41–56)

Der Kreis schließt sich. Wie schon in Valkyren und Schlachtfeld bey Hastings muss der Bessere sich dem Schlechteren – „nach altem Brauch“ den „thierisch rohen Mächten“ – geschlagen geben: „Und das Heldenblut zerrinnt / Und der schlechtre Mann gewinnt.“ (Valkyren, DHA 3.1, 21, V. 11–12). Im Oktober 1849 zeichnet so das pessimistische Geschichtsbild weiter, das bereits in den Historien angelegt ist.239 Waren es in den Historien namenlose Helden oder aber historische Figuren, die als Bestätigung für eine aus den Fugen geratene Welt, in der der Einzelne dem unbarmherzigen Schicksal unterworfen ist, dienen mussten, versetzt Heine dieses Bild durch die Verwendung noch lebender bzw. kürzlich gestorbener Individuen, wirkmächtig in die Gegenwart. Die Gedichte sind damit auf mehr als „auf die aktuelle politische Lage bezogen.“240 Der Mensch sieht sich einer Welt gegenüber, die keine humanistischen Werte kennt. Eine Welt, die, wie die Historien gezeigt haben, bleibende humanistische Werte kaum je gekannt hat. Stattdessen unterliegt sie den barbarischen tierhaften Mächten, so tapfer und heroisch der Einzelne auch Widerstand leisten mag. Heine benutzt mit Liszt und Petöfi zwei reale historische Figuren als Scharnier zwischen einem mythisch vermittelten unveränderlichen Weltverständnis und der Verankerung dieses Weltverständnisses in der Realität. Indem er seine Protagonisten nach hinten, in Richtung Historien, erweitert, sie also mit einer real existierenden Vergangenheit ausstattet, lässt er sie zugleich in die Zukunft weisen: Aus der Gegenwart, die sich genauso verhält wie die mythische Vergangenheit, wird keine gute Zukunft entstehen. In der letzten Strophe kommt das Erzähler-Ich noch einmal zu Wort. Das heult und bellt und grunzt – ich kann Ertragen kaum den Duft der Sieger. Doch still, Poet, das greift dich an – Du bist so krank und schweigen wäre klüger. (V. 57–60)

Die Identifizierung des lyrischen Ichs mit Heine ist naheliegend, „[u]nverhüllt subjektiv spricht es die äußere Lage und innere Verfassung des Dichters direkt aus, seinen Zorn, seine Liebe, seinen Gram, seine Verzweiflung“.241 Heine wird nicht schweigen, die Verse leiten umgehend zum Fanal der Lamentazionen über. 239

Bark 1986, S. 97. Vgl. dazu Bark 1986, S. 97. 241 Kaufmann 1981, S. 123. 240

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

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Enfant perdü, das „wohl mit am häufigsten zitierte[] Heine-Gedicht[]“242 , nimmt eine Sonderstellung im Romanzero ein, markiert es doch das Ende sowohl des zweiten Buches, der Lamentazionen, als auch des darin befindlichen Lazarus-Zyklus, wirkt insofern also als doppelte Coda. Mit Michael Werner handelt es „sich hier gewissermaßen um das letzte, endgültige Wort zur Sache“.243 Verlor’ner Posten in dem Freyheitskriege, Hielt ich seit dreyzig Jahren treulich aus. Ich kämpfte ohne Hoffnung, daß ich siege, Ich wußte, nie komm’ ich gesund nach Haus. Ich wachte Tag und Nacht – Ich konnt’ nicht schlafen, Wie in dem Lagerzelt der Freunde Schaar – (Auch hielt das laute Schnarchen dieser Braven Mich wach, wenn ich ein bischen schlummrig war). In jenen Nächten hat Langweil’ ergriffen Mich oft, auch Furcht – (nur Narren fürchten nichts) – Sie zu verscheuchen, hab’ ich dann gepfiffen Die frechen Reime eines Spottgedichts. Ja, wachsam stand ich, das Gewehr im Arme, Und nahte irgend ein verdächt’ger Gauch, So schoß ich gut und jagt’ ihm eine warme, Brühwarme Kugel in den schnöden Bauch. Mitunter freylich mocht’ es sich ereignen, Daß solch ein schlechter Gauch gleichfalls sehr gut Zu schießen wußte – ach, ich kann’s nicht läugnen – Die Wunden klaffen – es verströmt mein Blut. Ein Posten ist vakant! – Die Wunden klaffen – Der Eine fällt, die Andern rücken nach – Doch fall’ ich unbesiegt, und meine Waffen Sind nicht gebrochen – Nur mein Herze brach. (DHA 3.1, 121–122, V. 1–24)

Nicht allein im Gesamtaufbau des Romanzero jedoch nimmt das zwanzigste LazarusGedicht eine Sonderstellung ein. In der Heine-Forschung zählt es neben Vitzliputzli zu den am ausführlichsten untersuchten Gedichten des Spätwerks. Dabei ist nicht zu übersehen, dass es zu den „makabren Koinzidenzen zwischen der Zeitgeschichte und seiner eigener Biographie“244 gehört, wenn Heine, der sterbende Schriftsteller, sich 242

Höhn 2004, S. 145. Werner 1995, S. 183. 244 Betz 1989, S. 234–235. 243

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

der poetischen Überhöhung eines sterbenden Soldaten annimmt. Schon die Verszahl 24 verweist auf das Mythische: Die homerischen Epen Ilias und Odyssee bestehen aus jeweils 24 Gesängen. Auch hier soll etwas Allgemeines, Letztgültiges über den Menschen ausgesagt werden. Die jüngste Deutung liefert Jessica Romana Dümler (2014), die in dem Titelwechsel von Verlorene Schildwacht zu Enfant perdü245 die Eröffnung „weitere[r] semantische[r] Dimensionen“ sieht, indem Heine zunächst eine „literarische Tradition von Moscherosch über Rebmann, Arnim oder Eichendorff“ aufgreift und so „einen wesentlich breiteren Interpretationsrahmen“ schafft.246 Tatsächlich liefert der Wechsel des Titels einen lohnenden Ansatzpunkt für das Verständnis des Gedichtes. Peter Stein führt detailliert aus, was unter ‚Schildwacht‘ bzw. einer ‚verlorenen Schildwacht‘ zu verstehen ist: ‚Schildwacht‘ ist eigentlich die Wache bei den Schilden, d. h. bei Waffen, die aber seit der Verwendung von Handfeuerwaffen schon lange nicht mehr in Gebrauch waren. ‚Schildwacht‘ diente daher nur noch im übertragenen Wortsinn als Bezeichnung für den Wachsoldaten, vor allem den als Posten bzw. Ehrenposten […] aufgestellten Soldaten […]. Was aber ist eine „verlorene Schildwacht“? Das schwierige Verständnis hängt mit dem Adjektiv ‚verloren‘ zusammen, das in seiner älteren Bedeutung im Sinne von ‚verlassen‘, ‚aufgeben‘ verstanden werden muss. […] Andererseits ist die Formulierung „verlorene Schildwacht“ eine Übertragung aus dem französischen ‚sentinelle perdue‘ […]. Sie meint den Verlust von Wachsoldaten, wenn eine Truppe auf dem Rückzug ist, bzw. Wache auf einem gefährlichen Posten.247

Zwar wird also mit „verlor’ner Posten“ des ersten Verses der alte Titel anzitiert, bei dem Posten handelt es sich aber gerade nicht um eine Schildwacht, sondern um einen aktiv ins Kampfgeschehen eingreifenden Teilnehmer der Schlacht. Das lyrische Ich von Enfant perdü ist ein aggressiver Kämpfer, ein Angreifer, niemand, dessen Aufgabe sich im Wachen erschöpft. Der Freiheitskrieg des Auftaktverses ist keiner, der durch Verteidigung gewonnen werden kann, die reaktionären Kräfte müssen überrannt werden, denn Stillstand käme ihnen zugute. Der Begriff des ‚enfant perdu‘, betrachtet man ihn in seinem ursprünglichen militärischen Sprachgebrauch, ermöglicht eine weitere Lesart. Was also bezeichnet ‚enfant perdu‘? Es sind mit Arkebusen (Vorderladern) bewaffnete Fußsoldaten in der Schlacht, die vor der ersten Angriffsreihe kämpften, um den feindlichen Ansturm zu stören, ggf. aufzuhalten bzw. eine Bresche zu schlagen, in der sie sich durch Nahkampf festsetzen konnten bzw. den nachfolgenden Reihen Raum verschafften. Die enfants perdus erfüllten in dieser extrem gefährlichen Angriffsposition eine strategische Aufgabe, in der sie letztlich geopfert wurden.248

Dieser militärische Sprachgebrauch ist ausschlaggebend, er gibt dem Erzähler-Ich die Initiative zurück, es wird zum Angreifer, der für etwas kämpft und nicht bloß 245

Vgl. zum Titelwechsel etwa Stein 2010, S. 21. Dümler 2014, S. 45. 247 Stein 2010, S. 21. 248 Stein 2010, S. 22–23. 246

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

119

etwas zu verhindern sucht. Der Tod des enfants perdu wird dabei nicht bloß billigend in Kauf genommen, er wird vorausgesetzt. Sein Überleben ist gar nicht erst geplant, der ‚Verlorene‘ ist der Soldat noch vor der Front, im Niemandsland zwischen den Feinden. Da von seinem Tod ausgegangen wird, reiht er sich nahtlos in die lange Reihe der lebenden Toten bzw. der Wiedergänger ein, die den Lazarus-Zyklus (aber auch schon die Historien) bevölkern. Nirgends ist er ganz zu Hause, überall in der Fremde. Mit einer Rückkehr vom Schlachtfeld wird nicht gerechnet, auch in der Heimat würde er sich also fehl am Platze fühlen. Er wäre der Verstoßene aus Waldeinsamkeit, der gerade durch sein Überleben einen Affront beginge. Sein Zweck besteht darin, zu sterben, in einer Umkehrung der empathischen Rede aus Verschiedenartige Geschichtssauffassung: das Sterben ist zur Pflicht geworden, das Leben konnte sein Recht gegen den erstarrenden Tod nicht geltend machen. Zudem ist hier der Ort, an dem sich das lyrische Ich befindet, von Bedeutung. Wie die Mythen in Elementargeister 249 befindet sich das lyrische Ich in einer Zwischenexistenz zwischen Leben und Tod. Was nun eigentlich, betrachtet man etwa third-space-Theorien nach Bhabha oder das Heterotopie-Konzept Michel Foucaults,250 der Möglichkeit eines fruchtbaren Diskurses oder gar der Reflexion und Restrukturierung gesellschaftlicher Verhältnisse dienen kann, wird hier ins Gegenteil verkehrt. Die Zwischenexistenz lässt sich nicht konstruktiv nutzen, da der Tod des Individuums schon mit dem Eintritt in sie feststeht. Die daraus resultierende Hoffnungslosigkeit setzt sich dann auch in den Versen drei und vier fort – „Ich kämpfte ohne Hoffnung, daß ich siege, / Ich wußte, nie komm’ ich gesund nach Haus.“ –, die programmatisch für den gesamten Romanzero gelten und bereits auf die bedeutungsvollen letzten beiden Strophen von Enfant perdü verweisen. Auch hier siegt mit dem „schlechte[n] Gauch“ der schlechtere Mann über den Besseren. Was in den Historien am allgemeinen Weltlauf demonstriert wurde, dann im Lazarus an Einzelschicksalen, zeigt sich den Leser*innen nun aus der Innenperspektive des Sterbenden. Der doppelte Gebrauch der Wendung „Die Wunden klaffen“ (V. 19–20) verbindet die beiden Schlussstrophen aufs Engste miteinander. Formal bilden dabei die insgesamt sieben (!) Gedankenstriche der letzte sechs Verse das mühsame Atemholen des sterbenden Soldaten nach. Fraglich scheint mir die oft aus den letzten drei Versen – Der Eine fällt, die Andern rücken nach – Doch fall’ ich unbesiegt, und meine Waffen Sind nicht gebrochen – Nur mein Herze brach.

– konstruierte Hoffnung, die etwa bei Werner zum Ausdruck kommt: „Der Tod der Wache erfolgt im Bewußtsein der Ersetzbarkeit, ja der Austauschbarkeit der Personen, ein Bewußtsein, das von dem Gemeinschaftsgefühl derer getragen ist, die

249 250

Vgl. Abschn. 1.2.1. Foucault 2005.

120

2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

den Sinn der Geschichte auf ihrer Seite wissen.“251 Auch Stein schließt mit dem zumindest nicht völligen Scheitern der Bemühungen des lyrischen Ichs: Der Befreiungskampf der Menschheit ist im Nachmärz nicht verloren, sondern geht weiter – mit offenem Ausgang allerdings, auch im Hinblick auf eine bestimmte Gestalt einer kritischen Gegenwartskunst, für die nach wie vor das Gedicht steht, das deren Zukunft problematisiert […].252

Dabei zeigt gerade die letzte Strophe die Widersinnigkeit, ja Sinnlosigkeit des hier geführten Kampfes auf. „Doch fall’ ich unbesiegt“ bedeutet nicht ausschließlich, dass sich der „kämpfende Dichter, was seine Ziele und Ideen angeht ‚unbesiegt‘ [fühlt], und er […] zukunftsgläubig auf die Weiterführung seines Kampfes“253 vertraut. Zuallererst handelt es sich um ein Oxymoron: Wer im Kampf fällt, ist besiegt. Es ist unmöglich im Kampf zu fallen ohne ‚besiegt‘ zu werden. Zwar mag ein Soldat auch besiegt werden, ohne zu sterben, wird er jedoch getötet, so ist er in jedem Fall besiegt. Allerhöchstens kann der individuelle Tod einem größeren Ziel dienen, an dem der Gefallene selbst dann jedoch keinen Anteil mehr hat. Inwiefern dies aber hier der Fall ist, bleibt aus zwei Gründen fraglich. Erstens ist das Wichtigste, das, was den Menschen ausmacht, tödlich getroffen: „mein Herze brach.“ Das, was den Menschen in seinem Innersten kennzeichnet, seine Subjektivität und die Bedingung der Möglichkeit des Gefühlsempfindens, ist vernichtet und unwiederbringlich verloren.254 Zurück bleibt nur eine leere Hülle, ein Werkzeug, etwas ohne Leben, die Waffen des Soldaten. Damit nimmt Enfant perdü strukturell ein Grundmotiv auf, das im Romanzero immer wieder vorkommt: Das Äußere, die Struktur, bleibt bestehen255 , sie widersetzt sich jedoch jeder Sinngebung, sie wird bedeutungslos. Und auch dass andere den Platz des Gefallenen einnehmen, dass sie nachrücken, heißt nicht, dass sie im „Freyheitskriege“ gewinnen werden, ja es bedeutet nicht einmal ein Ende des Krieges. Die einzige Sicherheit, die Enfant perdü vermittelt, ist die, dass das Schlachten immer weitergeht, dass der einzelne Mensch in den Strömen von Blut, die die Weltgeschichte schreiben, ununterscheidbar wird und untergeht. Ungewiss scheint dabei, dass aus der letzten Strophe von Enfant perdü die Hoffnung spricht, die „noch im Augenblick des Scheiterns den ungebrochenen Glauben an die Vernunft in der Geschichte“256 bekräftigt. Weiterhin spielt die besondere Stellung des Gedichts eine elementare Rolle. Am Ende des zweiten Buches des Romanzero verdichten sich die gesamten Historien und Lamentazionen in der Ich-Perspektive eines einzelnen Kämpfers. Demgemäß zeigt Enfant perdü vor allem, dass Krieg, Kampf und Tod ewig währen. Das Schicksal des 251

Werner 1995, S. 187. Stein 2010, S. 27. 253 DHA 3.2, 859. 254 Vgl. hierzu auch Stein 2010, S. 27: „Dieses gebrochene Herz des Dichters steht, wie viele Textstellen in Heines Werk belegen, für den Schmerz, den Liebe, Welt und Zeit demjenigen zufügen, der als Künstler mitfühlend und engagiert an der Gegenwart partizipiert. […] Die Herz-Chiffre bedeutet beim späten Heine nämlich auch das körperliche Ende des Dichters.“ 255 Vgl. etwa die Volksliedstrophe in Waldeinsamkeit. 256 Höhn 2004, S. 146. 252

2.2 Die Ordnung des Einzelnen – Lamentazionen

121

einzelnen Soldaten weist über das individuelle Subjekt hinaus, es zeigt die Welt in einem Zustand des immerwährenden Krieges, dem der Mensch sich nicht entziehen kann und in dem allein der Zufall über Leben und Tod entscheidet. Die Hoffnung auf ein höheres Ziel wird dabei ausgeschaltet, das Sterben wird zum grausigen Zweck an sich selbst. Deutlich wird an dieser Stelle zudem die Affirmation des Subjekts im chaotischen Weltgeschehen. Auch wenn dem Subjekt nicht zu seinem Recht verholfen werden kann, auch wenn es den Zufällen der Welt hilflos ausgeliefert bleibt, so setzt der Romanzero ihm immerhin ein Denkmal. Das Subjekt existiert und ist in seiner Existenz, schlechtweg weil es existiert, wert, wahrgenommen zu werden. Insgesamt lässt sich für den Lazarus festhalten, dass der Bezug zum Mythos zu einer Zeit, in der sich der Mensch einer modernen Welt gegenübersah, die immer weniger Gewiss- und Sicherheiten bot, schon früh aufgefallen war, denn da, „wo die moderne, glaubenslos gewordene Welt sich dem Mythos immer mehr entfremdete, war es Aufgabe des Dichters, den Mythos gleichsam zurückzuholen, weil ohne eine solche Wiederbelebung des Mythos auch die autonome Existenz des Dichters ihre eigentliche Substanz zu verlieren drohte“.257 In der und durch die Wiederbelebung des Mythos kommt es jedoch zugleich zu einer Entmythologisierung, indem Heine Formen und Strukturen des mythischen Denkens benutzt, die er auf der Bedeutungsebene untergräbt. So wird auch in den Lazarus-Gedichten die biblische Welt von ihrem mythischen Ballast befreit, das Leiden und der Tod erhalten in ihnen keinerlei sinnstiftenden Charakter.258 Stattdessen nutzt Lazarus das Gewicht der biblischen Erzählung, um der Hoffnungslosigkeit der Welt den größtmöglichen Nachdruck zu verleihen. In einer bemerkenswerten Umkehrung der Bibelgeschichte spendet Heines Lazarus keinen Trost, vielmehr gerät er „zu einer Kontrafaktur des biblischen Lazarus“259 . Seine Geschichte erschöpft sich im Leid, Heine streicht den zentralen Heilscharakter des Evangeliums. Der Rekurs auf das Subjekt führt im Besonderen in Enfant perdü nicht zu einer positiven Affirmation des Subjekts, es tritt nicht als mythisches Subjekt auf, das schöpferisch tätig ist. Ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt, dass der letzten Lamentazion nicht selten attestiert wurde, dem Sterben einen Sinn zu verleihen. Mit Sinngebung und dem Trost vor dem Tod werden zwei Kernkomponenten des mythischen Denkens zitiert, die einer genauen Überprüfung aber gerade nicht standhalten. Auf einer Bedeutungsebene findet das, was das mythische Erzählen eigentlich erreichen will und wofür das Subjekt des Enfant perdü vordergründig steht, nicht statt. Es wird einerseits zum handelnden Subjekt gemacht, der einzelne Mensch hat also scheinbar Bedeutung und Handlungsmacht. Die aber ist zum guten Teil Illusion: Am Weltlauf selbst kann er nichts ändern. Er besitzt nicht die Kraft zur Sinngebung, sein Handeln und sein Schicksal bannen keine Furcht. In Enfant perdü scheinen damit

257

Von Wiese 1973, S. 134. Vgl. auch Berbig 1992, S. 72. 259 Vgl. Brandt 1995, S. 230. 258

122

2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

mehr als bloß Wunden auf, das Gedicht gibt den Blick frei auf „die klaffende Leere, de[n] gähnende[n] Abgrund“260 des Chaos, aus dem es kein Entrinnen gibt.

2.3 Die Ordnung des Glaubens und der Tradition – Hebräische Melodien Das Bild des sterbenden Dichters leitet zum dritten Buch des Romanzero über, Hebräische Melodien, das als letzter Teilzyklus in mehrerlei Hinsicht eine Sonderstellung im Werk einnimmt. Formal hervorstechend ist in erster Linie, dass es aus nur drei Gedichten – Prinzessin Sabbath, dem Fragment Jehuda ben Halevy sowie Disputazion – besteht.261 Inhaltlich macht bereits der Titel262 die bisher ungewohnte Hinwendung zum Religiösen deutlich. Durch diese Akzentuierung lassen die Hebräischen Melodien „Kontinuität und Wandel von Heines Einstellung zum Judentum spürbar werden“.263 Dies bedeutet allerdings nicht, dass Heine nun in einem Akt der Selbstvergessenheit sämtliche religionskritischen Tendenzen der Historien und der Lamentazionen über Bord wirft. Einmal mehr benutzt er lediglich geschickt das ihm zur Verfügung stehende Material für seine Zwecke. Es findet […] keine Identifikation mit der biblischen Welt in ihrer schriftlich fixierten und mit ihrer zum Kultus geronnenen Form statt. Die Distanzierungssignale sind deutlich, selbst in einem so hymnischen Gedicht wie Prinzessin Sabbath, wenn das in der Feier kurzzeitig von einem Hund in einen Prinzen verwandelte Volk Israel auf das Tabakrauchen im Wohnzimmer verzichten muß und die Schaletspeise mit dem Behagen eines bürgerlichen Philisters verzehrt.264

Das „tiefe Zugehörigkeitsgefühl zum jüdischen Volk“ verbindet sich so „mit großer innerer Distanz zur jüdischen Religion“.265 In Anbetracht der unverkennbar starken jüdischen Perspektive verblüfft es dennoch kaum, wenn die Forschung häufig Heines eigenes Judentum thematisiert und in Beziehung zu den Hebräischen Melodien setzt.266 Im Folgenden soll es aber vornehmlich darum gehen, wie der Romanzero die Ordnungsstrukturen der Welt und die Stellung des Menschen in ihr verhandelt. Nicht 260

Angehrn 1996, S. 202. Zur Anordnung der drei Gedichte s. Goetschel 2019, S. 186: „The order in which the poems Prinzessin Sabbat, Jehuda ben Halevy, and Disputation are arranged in the ‘Hebrew Melodies’ amounts to an exploration of the dialectic of the simultaneity of the nonsimultaneous, as each poem addresses the intertwinement of present, past, and future through the guise of historical reflection.“ 262 Zum Titel der Hebräischen Melodien s. Oellers 2016, S. 46–47. 263 Oellers 2016, S. 46–47. 264 Bark 1986, S. 99. Vgl. auch DHA 3.2, 860: „Der Titel des dritten Teils des Romanzero wirft mehrere Fragen auf, die im wesentlichen das Verhältnis zwischen Inhalt und Titel problematisieren. Der Titel liefert einerseits das ausdrücklichste poetische Zeugnis für Heines Judentum, andererseits aber entspricht der Inhalt der drei längeren Gedichte, aus denen sich die Hebräischen Melodien zusammensetzen, der Gesamtüberschrift nur bedingt.“ 265 Höhn 2004, S. 146. 266 Siehe hierzu einschlägig etwa Kircher 1973; Rosenthal 1978 oder Jacobi 1978. 261

2.3 Die Ordnung des Glaubens und der Tradition – Hebräische Melodien

123

zuletzt hat man es auch im letzten Buch des Romanzero immer wieder mit Geschichte als einer Realität zu tun, die auf angemessene Art und Weise in der poetischen Reimagination begriffen werden kann.267 Wie den beiden vorhergehenden Büchern, steht den Hebräischen Melodien ein Motto voran, das als Verbindungsglied zu den Lamentazionen dient. O laß nicht ohne Lebensgenuß Dein Leben verfließen! Und bist du sicher vor dem Schuß, So laß sie nur schießen. Fliegt dir das Glück vorbey einmahl, So fass’ es am Zipfel. Auch rath’ ich dir, baue dein Hüttchen im Thal Und nicht auf dem Gipfel. (DHA 3.1, 124, V. 1–8)

Im Motto klingt Enfant perdü wieder an, wenn es das Motiv des Schießens wiederaufnimmt, modifiziert allerdings um ein Carpe Diem-Motiv. Dieses Carpe Diem jedoch bleibt gerade durch die Verbindung mit dem vorherigen Gedicht mehrdeutig, denn „Schüsse und Freiheitskrieg, Revolution, gehören im Romanzero zusammen, das ‚Erschossen-Werden‘ konnotiert Tod und Niederlage im realen Kampf wie in der ideologischen Auseinandersetzung, das Schicksal der Unterlegenen in der Geschichte“.268 Die Aufforderung zur Suche nach dem Glück in der Gegenwart, sobald man sich in zeitweiliger Sicherheit befindet („Und bist du sicher vor dem Schuß“), muss mit Vorsicht genossen werden, denn bis hierher war der Romanzero von der Auffassung geprägt, dass Sicherheit illusorisch ist, dass das Schicksal jederzeit zuschlagen kann. Das Carpe Diem des Mottos kann an dieser Stelle deshalb „nur als Antithese zum Leidensschicksal der Juden aufgefasst werden. Deren Schicksal steht aber stellvertretend für das der ganzen Menschheit, und insofern behandelt das Motto Größe und Elend der Menschen allgemein.“269 Mit der Größe des Menschen ist es allerdings nicht weit her. Keine Burgen oder Schlösser soll er sich bauen, um dem Sturm des Lebens zu trotzen. Geraten wird zu einem „Hüttchen im Thal“, in dem er sich versteckt und hofft, vom Schicksal gar nicht erst wahrgenommen zu werden. Gipfelluft bekommt dem Menschen offenbar nicht wohl, in der düsteren Talestiefe gut verborgen scheint er besser aufgehoben. Und auch dem Glück wird nur, in der Tradition des Mottos der Lamentazionen, unbedeutender und temporärer Charakter zugeschrieben. Wenn es denn „einmahl“ ‚vorbeifliegt‘, so solle man es nur „am Zipfel“ fassen. Die Ansprüche an das Glück, an das, was die Welt dem Menschen Gutes bieten kann, sind also vor dem letzten Buch des Romanzero noch einmal zusammengeschrumpft.

267

Goetschel 2019, S. 178. Lämke 2004, S. 43. 269 DHA 3.2, 873. 268

124

2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

2.3.1 Die Unordnung des Sabbat Von der Flüchtigkeit des Glücks berichtet auch die erste Hebräische Melodie. In Prinzessin Sabbath wird der Prinz Israel, stellvertretend für das gesamte jüdische Volk, von einer Hexe mit dem Fluch belegt, in Hundegestalt umherzuwandeln. Als Hund mit hündischen Gedanken, Kötert er die ganze Woche Durch des Lebens Koth und Kehricht, Gassenbuben zum Gespötte. (DHA 3.1, 125, V. 17–20)

Das Bild des Juden, der, von der (Arbeits)Woche abgeplagt und gesellschaftlich ausgegrenzt am Sabbat zu neuem Leben erwacht, zeichnet Heine schon 1829 in Die Bäder von Lukka: Da wohnt in Hamburg, im Bäckerbreitengang, auf einem Sahl, ein Mann, der heißt Moses Lump, man nennt ihn auch Moses Lümpchen, oder kurzweg Lümpchen; der läuft die ganze Woche herum, in Wind und Wetter, mit seinem Packen auf dem Rücken, um seine paar Mark zu verdienen; wenn der nun Freytags Abends nach Hause kömmt, findet er die Lampe mit sieben Lichtern angezündet, den Tisch weiß gedeckt, und er legt seinen Packen und seine Sorgen von sich, und setzt sich zu Tisch mit seiner schiefen Frau und noch schieferen Tochter, ißt mit ihnen Fische, die gekocht sind in angenehm weißer Knoblauchsauce, singt dabey die prächtigsten Lieder von König David, freut sich von ganzem Herzen über den Auszug der Kinder Israel aus Egypten, freut sich auch, daß alle Bösewichter, die ihnen Böses gethan, am Ende gestorben sind, daß König Pharao, Nebukadnezar, Haman, Antiochus, Titus und all solche Leute todt sind, daß Lümpchen aber noch lebt und mit Frau und Kind Fisch ißt […] (DHA 3.1, 7, 117).

Heine setzt das Motiv des Hundes zumeist eindeutig negativ ein270 , wovon Prinzessin Sabbath keine Ausnahme macht. Die Fallhöhe vom Königssohn zum Hund könnte größer nicht sein. Die Benutzung des Begriffs ‚Köter‘ als Verb verstärkt den niederträchtigen Charakter271 und stellt durch Paronomasie eine zusätzliche Nähe zu den Ausscheidungen her, durch die der Verzauberte sich bewegen muss. Über die Beschreibung des Lebens im Allgemeinen muss also an dieser Stelle kein weiteres Wort verloren werden: Es besteht aus „Koth und Kehricht“, ein Motiv, das so schon aus Pomare bekannt ist. In Bezugnahme auf die Bedeutung dieses Gedankens für das Judentum bemerkt Céline Trautmann-Waller, dass „der verhexte Jude auf die unerträgliche Diskriminierung eines Volkes, auf die Diskrepanz zwischen seinem wahren Wesen und dem, was bedrückende Lebensbedingungen aus ihm machen“, hindeutet.272 Eine ‚Erlösung‘ für den Prinzen gibt es nur an jedem siebten Tag. Aber jeden Freytag Abend, In der Dämmrungstunde, plötzlich Weicht der Zauber, und der Hund 270

Vgl. etwa Höhn 2004, S. 160. Köter hat gemäß dem Deutschen Wörterbuch die Bedeutung eines schlechten Hundes, s. DWB, Bd. 11, Sp. 1887. 272 Trautmann-Waller 2004, S. 3. 271

2.3 Die Ordnung des Glaubens und der Tradition – Hebräische Melodien

125

Wird aufs Neu’ ein menschlich Wesen. Mensch mit menschlichen Gefühlen, Mit erhobnem Haupt und Herzen, Festlich, reinlich schier gekleidet, Tritt er in des Vaters Halle. (V. 21–28)

Nur am Sabbat, verkörpert hier von der titelgebenden Personifizierung des jüdischen Feiertags, der Prinzessin Sabbath, wird der Prinz in die menschliche Gemeinschaft aufgenommen. Fraglich bleibt dabei, ob der „Zauber des Sabbats“ tatsächlich „mehr eine Rückverwandlung als eine Verwandlung, vom ‚Hundeleben‘ zur prinzlichen Würde des wahren Menschentums“ darstellt.273 Zwar war der Prinz vorher unbestreitbar Mensch, doch allein die ungleiche Verteilung der Verwandlungsdauer darf skeptisch stimmen hinsichtlich der Frage, wie weit es um das Menschentum des Prinzen noch bestellt ist. Der ‚wahre‘ Prinz ist lediglich eine einzelne, unabhängige Ausgestaltung des Wesens, das er einmal war. Zu der Zeit, in der er Hund ist, und das sind immerhin sechs von sieben Wochentagen, ist er gänzlich Tier. Er übernimmt neben der Gestalt auch die Verhaltensweisen und den Geist des Hundes, als „Hund mit hündischen Gedanken / Kötert er die ganze Woche“. Gewiss ist jedenfalls, dass das Ende des Sabbats die Rückverwandlung zum Hund einleitet: Doch der schöne Tag verflittert; Wie mit langen Schattenbeinen Kommt geschritten der Verwünschung Böse Stund’ – Es seufzt der Prinz. Ist ihm doch als griffen eiskalt Hexenfinger in sein Herze. Schon durchrieseln ihn die Schauer Hündischer Metamorphose. Die Prinzessin reicht dem Prinzen Ihre güldne Nardenbüchse. Langsam riecht er – Will sich laben Noch einmal an Wohlgerüchen. Es kredenzet die Prinzessin Auch den Abschiedstrunk dem Prinzen – Hastig trinkt er, und im Becher Bleiben wen’ge Tropfen nur. Er besprengt damit den Tisch, Nimmt alsdann ein kleines Wachslicht, Und er tunkt es in die Nässe, Daß es knistert und erlischt. (V. 133–152) 273

Trautmann-Waller 2004, S. 3.

126

2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Mit „verflittert“ wird die Flüchtigkeit des Glücks aus dem Motto wieder aufgenommen – alles Gute kann nur temporär sein. Das Gedicht gibt in der letzten Strophe wirklichkeitsgetreu die Schlusszeremonie des Sabbatfestes wieder, bei der [e]ine aus kleinen Wachslichtern geflochtene bunte Kerze […] in einem kleinen Weinrest zum Erlöschen gebracht [wird] […] Durch diesen Vorgang wird angedeutet, daß der strahlende, lichtvolle Sabbattag vorüber ist und nunmehr wieder der dunkle Alltag zur Herrschaft zurückgelangt ist […].274

Der Schluss verbindet Prinzessin Sabbath darüber hinaus jedoch, durch die Verwendung des Bildes der erlöschenden Flamme und des Lexems „erlischt“, mit dem Lazarus-Gedicht Sie erlischt. Dort heißt es entsprechend in den letzten drei Versen: Die letzte Lampe ächzt und zischt Verzweiflungsvoll und sie erlischt. Das arme Licht war meine Seele. (DHA 3.1, 120, 16–18)

Das Erlöschen des Lichts steht hier für den Tod des Subjekts. Übertragen auf das Gedicht bedeutet dies, dass der Prinz alle sieben Tage aufs Neue stirbt. Seine Verwandlung kommt jedes mal einem Tod gleich, die „[b]öse Stund’“ beschreibt den Moment Auslöschens des Bewusstseins. Prinzessin Sabbath stellt so zwar durchaus eine Ordnung her, eben die regelmäßige Verwandlung an jedem siebten Tag. Auf einer Bedeutungsebene jedoch handelt es sich dabei um ein auf Dauer gesetztes Leid: Der Prinz darf nur für kurze Zeit Mensch sein, die meiste Zeit seines Lebens ist er zu einer Existenz als Hund verdammt. Den Gedanken an eine endgültige Erlösung, von der einige der Sagen und Märchen, aus denen Heine geschöpft hat, zu berichten wissen275 , sucht man vergebens. Die Glückseligkeit, die eigentlich Kennzeichen des Sabbatfestes ist, kann über den furchtbaren Alltag kaum hinwegtäuschen. Verschärft wird die Schwere des hier beschriebenen Leids noch dadurch, dass nicht irgendeine Ordnung ad absurdum geführt wird, sondern die göttliche, denn Gott vollendete am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er machte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, darum daß er an demselben geruht hatte von allen seinen Werken, die Gott schuf und machte.276

Hiermit etabliert Prinzessin Sabbath auf einer formalen Ebene zunächst eine Ordnung. Diese Konstruktion einer Ordnung wird jedoch als Illusion entlarvt. Inhaltlich ist diese Ordnung schrecklich, der Ordnungsgedanke selbst, das jedem mythischen Denken zugrundeliegende Moment, wird so dekonstruiert, indem ihm der eigentliche Zweck, das Zurechtfinden in der Welt, genommen wird. Das Sabbatfest existiert zwar noch, es wird geheiligt, ist aber unwiderruflich befleckt, denn an den übrigen Tagen ist der Mensch kein Mensch, sondern ein bloßes Tier. Die Arbeit, die als kulturelles Phänomen dem Tier fremd ist und von der der Mensch sich erholen könnte, 274

Rosenthal 1973, S. 295. Vgl. DHA 3.2, 878. 276 1. Mose 2,2. 275

2.3 Die Ordnung des Glaubens und der Tradition – Hebräische Melodien

127

fehlt ihm völlig. Schließlich ist das Tier natürlich der menschlichen Ordnung von vornherein entzogen. Es lebt rein trieb- und instinktgesteuert und widersetzt sich so jeder vernünftigen, d. h. mit Mitteln der Vernunft eingerichteten, Ordnung der Welt.

2.3.2 Der Ahnherr der Schlemihle – Jehuda ben Halevy Beim Mittelteil des dritten Buches, dem in vier Abschnitte unterteilten Fragment Jehuda ben Halevy, handelt es sich um das längste Gedicht des gesamten Romanzero. Heine komprimiert in 896 Versen eine Vielzahl von Aspekten, die nicht nur im Romanzero verhandelt werden, sondern sein gesamtes dichterisches Schaffen begleiten, hier ist der ganze Heine anwesend […]: Schicksal der Juden als Geschichte des modernen Dichters, Tod des Dichters und Leben der Kunst, Dichten im Exil, Apollo und Schlemihl als Chiffren des Dichters. Das Gedicht ist so etwas wie eine Summe von Werk und Selbstverständnis, Heines poetische Rekapitulation seiner Existenz.277

Dass damit auch Jehuda ben Halevy wieder, von Alberto Destro als „das größte poetologische Gedicht im Spätwerk“278 bezeichnet, vielfältige Bezüge zu Heines Judentum und seinem Selbstverständnis als Dichter anbietet, liegt auf der Hand. Darum kann und soll es an dieser Stelle jedoch nicht gehen.279 Der titelgebende Philosoph und Dichter Jehuda ben Halevy lebte zwischen 1075 und 1141 und gilt als der bedeutendste sephardische Poet des Mittelalters. Heine beschreibt in seiner (oftmals freien) poetischen, hoch assoziativen Bearbeitung dessen Leben exemplarisch280 , bis zur Legende seines Todes, wonach Jehuda bei Erreichen seines großen Zieles Jerusalem, in dem Augenblick, als er eine selbstverfasste Elegie zu rezitieren begann, von einem arabischen Reiter getötet wurde.

277

Bark 1988, S. 397. DHA 3.2, 892. 279 Heines Hauptquelle für den Jehuda war, wie auch die Note zu Jehuda ben Halevy bezeugt, Michael Sachs Werk Die religiöse Poesie der Juden in Spanien (Berlin 1845). Heines weitere Quellen sowie zusätzliche biografische Bezüge beschreibt etwa Wolf 1979. Wolf zeigt auf, dass Heines Beschäftigung mit dem Stoff „schon weit vor d[er] Veröffentlichung des Sachsschen Buches, das ja schließlich wohl nur den äußeren Anlaß [für den Jehuda, PR] gebildet hat“ zu suchen ist. Wolf 1979, S. 84. Siehe für den jüdischen Gehalt auch Kircher 1973 und Siegbert Prawer 2 1985. Speziell zum Jehuda ben Halevy siehe außerdem Preisendanz 1993. Zuletzt hat sich Florian Scherübel dem Thema gewidmet, s. Scherübel 2016. 280 Vgl. Bark 1986, S. 99–100. 278

128

2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Heines Bearbeitung beginnt mit einem Fluch auf das Vergessen, wogegen auch der Mythos ankämpft.281 Denn wer nicht weiß, wo er herkommt, der weiß nicht, wer er ist: Mythisches Denken ist Denken vom Ursprung.282 „Lechzend klebe mir die Zunge An dem Gaumen, und es welke Meine rechte Hand, vergäß’ ich Jemals dein, Jerusalem –“ (DHA 3.1, 130, V. 1–4)

Jerusalem kann dabei gelesen werden als Chiffre für jedes Ziel, für eine Sehnsucht, die unerreichbar scheint. Jehuda I berichtet zunächst von Jehudas frühen Jahren sowie seiner Sozialisation als Dichter. Ganz ohne Misstöne bleibt diese Beschreibung nicht. So erinnern beispielsweise die Hochgärten der Semiramis – Alles klug und fest verbunden Durch unzähl’ge Hänge-Brücken, Die wie Schlingepflanzen aussahn Und worauf sich Vögel wiegten – Große, bunte, ernste Vögel, Tiefe Denker, die nicht singen […] (V. 105–110)

– an die großen bunten Vögel aus dem Präludium des Vitzliputzli283 . Sie verbinden damit nicht nur die Neue Welt mit der uralten assyrischen Welt, es überträgt sich so zugleich die dort herrschende Unordnung nach Amerika. Zudem gilt die sagenhafte Semiramis als Begründerin Babylons, wo, wie etwa bei der Lamentazion An die Jungen, nur „süßes Verderben“ und „blühendes Sterben“ wartet (DHA 3.1, 100, V. 11). Der erste Abschnitt endet mit einem Hochgesang auf die Eigengesetzlichkeit der Dichtkunst, ein Hochgesang, der nicht ganz ohne Doppeldeutigkeiten auskommt: Wie im Leben, so im Dichten Ist das höchste Gut die Gnade – Wer sie hat, der kann nicht sünd’gen Nicht in Versen, noch in Prosa.

281

Heine übernimmt hier zudem fast wörtlich Psalm 137, 5–6: „Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde ich meiner Rechten vergessen. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wo ich nicht dein gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.“ 282 Vgl. Angehrn 1996, S. 26, der das mythische Denken als „Ursprungsdenken par excellence“ beschreibt. 283 Vgl. DHA 3.1, 57, V. 21–24: Auf den Baumes-Aesten schaukeln Große Vögel. Ihr Gefieder Farbenschillernd. Mit den ernsthaft Langen Schnäbeln und mit Augen […]

2.3 Die Ordnung des Glaubens und der Tradition – Hebräische Melodien

129

Solchen Dichter von der Gnade Gottes nennen wir Genie: Unverantwortlicher König Des Gedankenreiches ist er. Nur dem Gotte steht er Rede, Nicht dem Volke – In der Kunst, Wie im Leben kann das Volk Tödten uns, doch niemals richten. – (V. 169–180)

Die Lobpreisung der Kunstautonomie erfährt also unmittelbar einen Dämpfer, denn sie schützt nicht vor Verfolgung und Gewalt, die vom Volk ausgeht, das diese Kunst nicht versteht. Dieses Verständnis von Kunst, die einerseits nur sich selbst Rechenschaft schuldig ist,284 andererseits vom Volk, von der Masse der Menschen, nicht verstanden wird, findet sich schon in Lutezia: Die wahrhaft großen Dichter haben immer die großen Interessen ihrer Zeit anders aufgefaßt als in gereimten Zeitungsartikeln, und sie haben sich wenig darum bekümmert, wenn die knechtische Menge, deren Rohheit sie anwidert, ihnen den Vorwurf des Aristokratismus machte. (DHA XIV, 48)

Auch der Dichter als derjenige, der die Geschichten eines ganzen Volkes vor dem Vergessen bewahrt, der die Mythen immer weitertradiert und vor dem Untergang schützen will, ist vor willkürlicher Gewalt nicht gefeit. Die Willkür setzt sich im zweiten Teil des Gedichts fort. Lange schon, jahrtausendlange Kocht’s in mir. Ein dunkles Wehe! […] […] Heilen kann mich nur der Tod, Aber, ach, ich bin unsterblich! Jahre kommen und vergehen – In dem Webstuhl läuft geschäftig Schnurrend hin und her die Spule – Was er webt, das weiß kein Weber. Jahre kommen und vergehen, Menschenthränen träufeln, rinnen Auf die Erde, und die Erde Saugt sie ein mit stiller Gier – Tolle Sud! Der Deckel springt – Heil dem Manne, dessen Hand Deine junge Brut ergreifet Und zerschmettert an der Felswand. (DHA 3.1, 136, V. 9, 10, 15–28) 284

Es bleibt anzumerken, dass „Gott“ hier kaum mehr als ein Sprachspiel ist – er handelt nicht.

130

2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Der sich die Schwären leckende Hund nimmt das Bild des Lazarus wieder auf, ein weiterer Hinweis auf die enge Verbindung zwischen den Lamentazionen und den Hebräischen Melodien.285 Bezieht man das „unsterblich“ (V. 16), der Kommentierung der Düsseldorfer Heine-Ausgabe286 folgend, auf die Dauer der Krankheit, ist natürlich Heines Krankheit gemeint, die Stelle mithin stark biografisch gelesen. Legt man allerdings wieder eine Lesart zugrunde, die vom Subjekt ausgehend über das einzelne Subjekt hinausgeht, lässt sich auch dieser Stelle des Jehuda ein verallgemeinernder Charakter zusprechen. Der Tod wird dann, wie schon in Erinnerung, als Rettung empfunden. Das Leben hingegen besteht nur aus Leid und Qual, wie die Verse 21 bis 24 bestätigen. Noch dazu ist es geprägt vom Zufall, von dem nur sicher ist, dass er dem Menschen nichts Gutes verheißt. Denn „[w]as er webt, das weiß kein Weber“ heißt es in einer Übernahme des bekannten Webermotivs. Das Schicksal ist also nicht sinnhaft gestaltet, und die Beschreibung des Schicksals in den darauffolgenden Strophen lässt auf nichts Gutes hoffen. Den Höhepunkt des Lebensüberdrusses offenbaren zuletzt die Verse 25 bis 28, aus denen der Neid auf denjenigen spricht, der die „junge Brut ergreifet / Und zerschmettert an der Felswand.“ Angesichts das Übermaßes des Leidens wird der Wunsch nach einem möglichst frühzeitigen Tod laut, fast wörtlich übernommen von Psalm 137: „Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und zerschmettert sie an dem Stein!“287 In Anbetracht einer solchen Weltsicht erstaunt es nicht, wenn auch das Ziel aller Sehnsucht letztlich nicht halten kann, was es verspricht. Sie, die volkreich heil’ge Stadt Ist zur Wüsteney geworden, Wo Waldteufel, Wehrwolf, Schakal Ihr verruchtes Wesen treiben – Schlangen, Nachtgevögel nisten Im verwitterten Gemäuer; Aus des Fensters luft’gem Bogen Schaut der Fuchs mit Wohlbehagen. Hier und da taucht auf zuweilen Ein zerlumpter Knecht der Wüste, Der sein höckriges Kamehl In dem hohen Grase weidet. Auf der edlen Höhe Zions, 285

Und setzt es zugleich in Zusammenhang mit der biblischen Hiobserzählung. Vgl. auch die Kommentierung in DHA 3.2, 911. Zu Hiob s. auch Bark 1988, S. 253: „Die Hiob-Rolle nimmt Heine im Romanzero nur verdeckt ein, stärker entwickelt er sie in Gedichte 1853 und 1854, z. B. in Lazarus I (Laß die heilgen Parabolen).“ 286 Vgl. DHA 3.2, 911. 287 Psalm 137, 9. An die Jungen wirkt noch entsetzlicher als der Psalm, wenn es von „Brut“ spricht, damit die Kinder entmenschlicht und auf eine Stufe mit Tieren setzt.

2.3 Die Ordnung des Glaubens und der Tradition – Hebräische Melodien

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Wo die goldne Veste ragte, Deren Herrlichkeiten zeugten Von der Pracht des großen Königs: Dort, von Unkraut überwuchert, Liegen nur noch graue Trümmer, Die uns ansehn schmerzhaft traurig, Daß man glauben muß, sie weinten. (V. 121–140)

Jerusalem, der große Sehnsuchtsort, „ist nichts anderes als ein Bild das Jammers und der Zerstörung“, bei der Darstellung der biblischen Landschaft „werden jetzt ausschließlich die Vernichtungsaspekte in den Vordergrund gerückt“.288 Hier wächst nichts mehr. In der Beschreibung der Trümmer der Stadt, die rein gar nichts von einer romantischen Burgruinenschwärmerei hat (V. 137–140), geben sich bunt gemischt Fabelwesen und irdische Tiere ihr Stelldichein, sie unterstreichen den kompletten Verfall der wichtigsten Stadt des Judentums. Da das Judentum hier aber auch immer stellvertretend für die gesamte Menschheit gelesen werden kann, wird zugleich der Verfall der Menschheit schlechthin dargestellt. So ist denn auch der Tod des Dichters als verallgemeinerungsfähige Erfahrung zu verstehen. Auch Jehuda ben Halevy Starb zu Füßen seiner Liebsten, Und sein sterbend Haupt, es ruhte Auf den Knien Jerusalems. (V. 185–188)

Was zunächst als Topos des Todes im Angesicht der Erfüllung aller Träume gelesen werden mag, erhält durch das Vorangegangene eine gänzlich andere Pointe. Der Dichter erreicht zwar am Ende das Ziel seiner Begierde. Doch nicht nur ist seine ‚Liebste‘ im unabwendbaren Verfall begriffen, Jehuda stirbt außerdem unmittelbar, nachdem er Jerusalems ansichtig wird. Seine ganze Hoffnung und sein Streben waren also sinnlos, sein Sehnen wird nicht erfüllt. Die Zeit eines Poeten von Gottes Gnaden, der als „[a]bsoluter Traumweltsherrscher / Mit der Geisterkönigskrone“ (V. 42–43) aufritt, ist endgültig vorüber, „[i]n ihm kann sich nichts versöhnen – im Gegenteil: Präsentisch ist die Geste der Unversöhnlichkeit, in die das ‚Wehe!‘ des Erzählers mündet“.289 Vom Tod des Dichters führt Jehuda III zurück in die antike Vergangenheit, zum Sieg Alexanders des Großen über den Perserkönig Dareios III. nach der Schlacht von Gaugamela im Jahr 331 v. Chr. Nach der Schlacht bey Arabella, Hat der große Alexander Land und Leute des Darius, Hof und Harem, Pferde, Weiber, 288 289

Wolf 1979, S. 94. Landwehr 2001, S. 203.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Elephanten und Dariken, Kron’ und Zepter, goldnen Plunder, Eingesteckt in seine weiten Macedon’schen Pluderhosen. (DHA 3.1, 141–142, V. 1–8)

Die im Romanzero dargestellte Herrscherwillkür – der Sieger behandelt die von ihm unterworfenen Völker wie bloße Sachen, er enthumanisiert sie – lässt auch für geradezu ‚welthistorische Individuen‘ hegel’schen Schlages, wie Alexander den Großen, keine Ausnahme zu. Macht tritt somit als großer Homogenisator auf, sie gleicht alle Menschen einander an, aber gerade nicht im positiven Sinne: sie werden gleich schlecht. Wie mit wertlosem Tand verfährt Alexander mit „Land und Leute[n] des Darius“. Der Fokus des Gedichts wechselt darauf sogleich zu einem kleinen Kästchen, das Alexander unter den Besitztümern des Dareios findet. Eine kleine güldne Truhe, Mit Miniaturbildwerken Und mit inkrustirten Steinen Und Kameen reich geschmückt – Dieses Kästchen, selbst ein Kleinod Unschätzbaren Werthes, diente Zur Bewahrung von Kleinodien, Des Monarchen Leibjuwelen. (V. 13–20)

Die Vorlage für dieses Kästchen findet sich in Plutarchs Beschreibung Alexanders des Großen, die Heine wohlbekannt war,290 wonach Alexander darin die Ilias aufbewahrte: So führete er mit sich die Ilias, die er als Wegweiser der kriegerischen Tugend achtete und auch so nannte, nach einer von Aristoteles berichtigten Abschrift, welche sie die aus dem Schmuckkästchen nennen; und die er stets mit dem Dolche unter dem Kopfkissen liegen hatte […].291

Die in diesem Schmuckkästchen gefundenen Perlen, die im Verlauf des Gedichts Symbol für die Dichtung schlechthin werden,292 treten einen geradezu fantastisch anmutenden Weg durch die Weltgeschichte an, bis sie schließlich in Berlin zu „Frau Baronin Salomon“ (V. 160) gelangen. Bemerkenswert an dem Streifzug des Perlenkästchens ist der Umstand, dass, obwohl die Weltgeschichte ja bis zum Zeitpunkt des Verfassens des Gedichtes einen bekannten Verlauf genommen hat, somit faktisch nicht mehr änderbar ist, immer wieder Zeichen der Auflösung von Ordnung, des Auseinanderstiebens der historisch 290

S. DHA 3.2, 916. Plutarch: Griechische Heldensagen. Themistokles und Kamillus, Alexander und Julius Cäsar, S. 141. 292 Und damit, so Gerhard Höhn, eine Poesie verherrlichen, „die durch Leiden entstanden ist und höher steht als alle rein weltlichen Güter“ (Höhn 2004, S. 147). 291

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nachvollziehbaren Geschichte, eingestreut sind. Eine der ersten Empfängerinnen der Perlen ist die Tänzerin und Prostituierte „[a]us Corinth, mit Namen Thais“ (V. 40). Diese trug sie in den Haaren, Die bacchantisch aufgelöst, In der Brandnacht, als sie tanzte Zu Persepolis und frech In die Königsburg geschleudert Ihre Fackel, daß laut prasselnd Bald die Flammenlohe aufschlug, Wie ein Feuerwerk zum Feste. (V. 41–48)

Die bacchantische Auflösung aller Vernunft und Ordnung im Tanz bringt auch hier, wie schon zuvor im Romanzero, Tod und Zerstörung. Wie Salome vor Herodes tanzt Thais vor Alexander und bringt ihn dazu, den persischen Königspalast in Brand zu setzen, als Rache für die Zerstörung Athens.293 Der Tanz erinnert an die biblische Salome, was Jehuda oder, genauer gesagt, Thais in engen Bezug zur Historie Pomare setzt.294 Und wie Pomare muss auch Thais sterben. Die Perlen, ihr kostbarster Besitz, werden verschachert, das einzige, was nach ihrem Leben noch zählt, ist ihr weltlicher Besitz, von ihr als Person ist keine Rede mehr. Doch auch das Kästchen selbst, im Besitz Alexanders geblieben, zeigt Tendenzen des Dionysischen, der Auflösung, des dräuenden Todes. Stand das Kästchen – schlief der König, Stiegen draus hervor der Helden Lichte Bilder, und sie schlichen Gaukelnd sich in seine Träume. […] Damals war so sonnengoldig Und so purpurn mir zu Muthe, Meine Stirn’ umkränzte Weinlaub, Und es tönten die Fanfaren – Still davon – gebrochen liegt Jetzt mein stolzer Siegeswagen, Und die Panther, die ihn zogen, Sind verreckt, so wie die Weiber, Die mit Pauk’ und Zimbelklängen Mich umtanzten, und ich selbst Wälze mich am Boden elend, Krüppelelend – still davon – (V. 97–116) 293

Vgl. hierzu DHA 3.2, 917. Das Vorbild fand Heine ebenso in der Überlieferung des Plutarch. Der noch verstärkt wird durch die Lebensumstände: Beide Protagonistinnen, Thais und Pomare, sind Prostituierte.

294

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Die dionysische Szenerie erinnert durch ihre Untergangsmetaphorik an die letzten Verse von An die Jungen. Die Panther, Gefolgstiere des Dionysos, sind nicht einfach gestorben, sie sind „verreckt“. Selbst im Sterben ergeht es ihnen, wie den Frauen im Romanzero, elend. Die Verse 112 und 113 nehmen mit Tanz, Pauken und Zimbel verschiedene Motive aus Das goldne Kalb wieder auf.295 Diese motivische Übernahme weist wiederum auf ein Ende jeder Ordnung hin: Selbst der mächtige Alexander, der sich die ganze bekannte Welt Untertan gemacht hat, wird am Ende sterben, sein Reich in Unordnung zerfallen. Aus globaler Perspektive war auch er lediglich ein Gewaltherrscher, der über Land und Leute verfügte, wie alle Herrscher vor und nach ihm. Das Ende von Jehuda III schwenkt wieder auf den Dichter um, der vor Jerusalem vom Speer eines „freche[n] Sarazene[n]“ (V. 204) – in Enfant perdü war es der Schuss eines schlechten Gauchs – die Todeswunde empfängt und noch im Sterben „[r]uhig seinen Sang zu Ende“ (V. 214) bringt. Der Trost eines Heilsversprechens im Jenseits jedoch ist mehr als fragwürdig, das Gedicht ist an den entsprechenden Stellen durchsetzt von Ironiemerkmalen. Festlich kam das Chor der Engel Ihm entgegen mit Musik, Und als Hymne grüßten ihn Seine eignen Verse, jenes Synagogen-Hochzeitcarmen, Jene Sabbath-Hymenäen, Mit den jauchzend wohlbekannten Melodieen – welche Töne! Englein bliesen auf Hauboen, Englein spielten Violine, Andre strichen auch die Bratsche Oder schlugen Pauk’ und Zimbel. (V. 229–240)

In die zunächst feierlichen Verse mischt sich schon bald der Diminutiv „Englein“ (gleich zweimal), wobei die Englein zudem mit Pauke und Zimbel wieder genau die Instrumente spielen, die als Signale für ein auf Dauer gesetztes Austreten aus der Ordnung eingeführt wurden. Selbst im erhofften Himmelreich also würde der Mensch kaum Frieden finden. Der vierte und letzte Abschnitt von Jehuda ben Halevy behandelt mit Moses ibn Esra (1055–1138) und Solomon ibn Gabirol (ca. 1021–1070) zwei weitere jüdische Dichter des Mittelalters. Aus Trauer über eine unglückliche Liebe pilgert Moses ibn Esra nach Jerusalem, wird auf dem Weg dorthin jedoch von Tataren gefangengenommen, bei denen er in Leibeigenschaft niedere Dienste verrichten muss (DHA 295

Dort wird das Austreten aus der Ordnung auf Dauer gestellt. Vgl. hierzu die entsprechende Analyse in Abschn. 4.2.

2.3 Die Ordnung des Glaubens und der Tradition – Hebräische Melodien

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3.1, 152–153, V. 93–112). Erst seine Sangeskunst beschafft ihm die Freiheit wieder und ermöglicht ihm die Rückkehr in seine Heimat. Und er sang so schön und lieblich, Daß der Chan, der Fürst der Horde, Der vorbey ging, ward gerühret Und die Freyheit gab dem Sklaven. Auch Geschenke gab er ihm, Einen Fuchspelz, eine lange Sarazenenmandoline Und das Zehrgeld für die Heimkehr. (V. 113–120)

Darauf nimmt das Gedicht aber mitnichten ein gutes Ende. Es schlägt stattdessen in die Beschreibung des allgemeinen Dichterschicksals um, das beim griechischen Gott Apoll begonnen hat und seitdem von allerlei Pech und Unglück geprägt ist. Dichterschicksal! böser Unstern, Der die Söhne des Apollo Tödtlich nergelt, und sogar Ihren Vater nicht verschont hat, (V. 121–124)

Apoll steht so Pate für ein ganzes Geschlecht, das der Schlemihle, das im Folgenden besondere Bedeutung gewinnt. Ja, der hohe Delphier ist Ein Schlemihl, und gar der Lorbeer, Der so stolz die Stirne krönet, Ist ein Zeichen des Schlemihlthums. (V. 129–132)

Bei „Schlemihl“ handelt es sich um die jiddische Bezeichnung für einen Pechvogel, dessen bekanntester literarischer Vertreter in Deutschland Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) des Romantikers Adelbert von Chamisso (vgl. V. 134–135) ist.296 Hartmut Steinecke sieht in Heines Schlemihl vor allem „Spott über sich selbst, angesiedelt zwischen Selbstironie und Galgenhumor einerseits, Selbsterkenntnis andererseits: dadurch wird das Pech des notorischen Pechvogel Schlemiel literaturfähig“297 . Diese etablierte Lesart der Schlemihl-Figur als Pechvogel soll nicht angezweifelt werden, die Hinweise sind überdeutlich. Heine liefert im Jehuda ben Halevy ein Selbstporträt des Dichters als Pechvogel, als Schlemihl: Damit wird die literaturgeschichtliche Ebene des Gedichts indirekt mit der Schlemihl-Figur verbunden, die in der Gegenwartsebenen in den Mittelpunkt tritt und hier eine wesentliche Rolle im Gesamtbild des Dichters spielt, ihm die Elemente Selbstironie, Selbstverspottung, Galgenhumor hinzufügt.298 296

Für die verschiedenen Traditionen des Schlemihls in der jüdischen Literatur siehe Steinecke 2000, S. 130–135, außerdem: Steinecke 1998, hier v. a. S. 204–209. Siehe zum Judentum und Dichtertum als Schlemihltum zusätzlich Grundmann 2008, hier besonders S. 359–418. 297 Steinecke 2000, S. 133. 298 Steinecke 2000, S. 135.

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Ergänzt werden darf dies jedoch um eine semantische Nuance des Begriffs „Schlemihl“. Im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm heißt es unter dem Lexem „Schlemihl“ als erstes: „begegnet in der volkssprache als nicht böse gemeintes scheltwort: träumer, schelm […] loser schelmischer mensch“.299 Mit dem Schelm taucht hier ein alter Bekannter auf. Wenn nun im Folgenden noch vom Geschlecht der Schlemihle und deren Ahnherr die Rede ist, drängt sich der Vergleich mit Schelm von Bergen geradezu auf. Dieser nun, Schlemihl I, Ist der Ahnherr des Geschlechtes Derer von Schlemihl. Wir stammen Von Schlemihl ben Zuri Schadday. Freylich keine Heldenthaten Meldet man von ihm, wir kennen Nur den Namen und wir wissen Daß er ein Schlemihl gewesen. Doch geschätzet wird ein Stammbaum Nicht ob seinen guten Früchten, Sondern nur ob seinem Alter – Drey Jahrtausend zählt der unsre! Jahre kommen und vergehen – Drey Jahrtausende verflossen, Seit gestorben unser Ahnherr, Herr Schlemihl ben Zuri Schadday. (V. 200–216)

Wenn also im vorletzten Gedicht des gesamten Romanzero das Motiv des Schelms aus den Historien wieder aufgenommen wird300 , so gewinnt das Motiv der ins Recht gesetzten Unordnung und der Gewalt neue Brisanz. Doch der Schelm stand nicht nur für Gewalt und den misslungenen Versuch, Ordnung wiederherzustellen. Durch die alte Bedeutung von ‚Schelm‘ als pestilenzartige Krankheit wird der Dichter als Schlemihl, der nicht nur Pechvogel, sondern auch Schelm ist, zum kontaminierten Überträger des Leids. Seine Versuche, mit der Dichtung das Leid der Welt zu lindern, tragen so von vornherein zumindest die Möglichkeit des Scheiterns in sich. So wird auch der Nutzen von politischer Dichtung überhaupt in Frage gestellt. Das Geschlecht der Schlemihle reicht immerhin dreitausend Jahre zurück301 , spätestens seitdem also ist die politische Dichtung als kontaminiert anzusehen. Dass von (politischer) Dichtung überhaupt positive Veränderung ausgehen kann, wird vor diesem 299

DWB, Bd. 15, Sp. 624. Vgl. den Abschnitt zu Schelm von Bergen in Abschn. 2.1.1. Auch dort wird ein Geschlecht gegründet, der Scharfrichter wird zum Ahnherr. 301 Genau genommen ist ja sogar schon der Gott Apoll der erste Schlemihl. 300

2.3 Die Ordnung des Glaubens und der Tradition – Hebräische Melodien

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Hintergrund als schöner Schein entlarvt. Die lebensweltliche (und politische) Wirkung von Dichtung über den Kunstgenuss hinaus wird also zumindest ernsthaft in Frage gestellt. Eingedenk dieses Umstandes verwundert es kaum mehr, dass Jehuda ben Halevy, das anhob mit dem Anspruch an die Kunst, der Erinnerung zu dienen, in einem fast grotesken Akt der Gewalt endet. Solomon ibn Gabirol wird ermordet, seine Leiche verscharrt und auf seinem Grab ein Feigenbaum gepflanzt: Aber siehe! aus dem Boden, Wo die Leiche eingescharrt war, Wuchs hervor ein Feigenbaum Von der wunderbarsten Schönheit. Seine Frucht war seltsam länglich Und von seltsam würz’ger Süße; Wer davon genoß, versank In ein träumerisch Entzücken. (V. 257–264)

Auf makabre Weise kommt es damit zu einem zumindest mittelbaren Akt der Anthropophagie, der Feigenbaum wird vom Leichnam des Dichters genährt. Vitzliputzli hat in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass es sich dabei um untrügliches Signal des völligen Verstoßes gegen jede menschliche Ordnung handelt, der nicht ungesühnt bleiben kann.302 Nach Bekanntwerden des „Feigenphänomen[s]“ (V. 270) wird der Feigenbaum entwurzelt und Gabirol exhumiert. Unverständlicherweise, wenn auch durchaus passend für die im Romanzero entworfene Welt, wird auch der ahnungslose Besitzer des Baumes in einem Akt der Gewalt bestraft, indem ihm „Sechzig / Bambushiebe auf die Sohlen“ (V. 274–275) gegeben werden. Den Mörder aber erwartet ein anderes Schicksal: Diese [die Leiche Gabirols, PR] ward mit Pomp bestattet Und betrauert von den Brüdern; An demselben Tage henkte Man den Mohren zu Corduba. (V. 281–284)

Die letzte Tat des Gedichts vollbringt jedenfalls der Henker, als Scharfrichter ein namenloser Ahnherr des Schelms von Bergen. Unvergessen bleiben soll somit, in Reminiszenz an die erste Strophe, nicht allein die Erinnerung an Jerusalem. Zugleich wird das Memento daran, dass Gewalt, Willkür und Tod Konstanten des menschlichen Lebens, sogar das Dichterlebens sind, nachdrücklich bekräftigt. So wird aus dem Werk, das den Dichter in all seinen Facetten feiert, zugleich eines, das die Kunst bereits in ihrem Ursprung als verunreinigt ansieht. Das wiederum zieht den oftmals behaupteten Erlösungscharakter von Kunst in Zweifel. Als etwas vom Menschen 302

Überhaupt stehen die Früchte des Feigenbaums noch aus anderem Grund in enger Verbindung mit dem Tod. Die Feigenwespe kann nach der Befruchtung die Feige nicht mehr verlassen kann, verendet in ihr und wird schließlich von Enzymen aufgelöst. Der Feigengenuss geht also mit der Inkaufnahme tierischen Sterbens einher.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Geschaffenes bleibt Kunst defizitär. Das schmälert nicht den Kunstgenuss, wirft aber Zweifel bezüglich ihrer Wirkmächtigkeit auf. Die Konstruktion des Pechvogels scheint mir dabei eindeutig. Durch seine mythische Verortung bei Apoll soll er eine Ordnung in die Weltgeschichte bringen, die zwar von Missgeschicken und Pech geprägt ist, aber doch zumindest verlässliche Strukturen aufweist: eben die Ordnung des Schlemihls. Dieses Narrativ verfängt indes nicht, erweitert man den Schlemihl semantisch um den Schelm. Dann wird auf einer Bedeutungsebene das Strukturmoment selbst verdächtig, indem es vom ‚Schelm‘ berichtet, der Tod und Krankheit mit sich bringt. In letzter Konsequenz ist so die Dichtung selbst – der Schlemihl steht immerhin stellvertretend für das dichterische Subjekt – und was aus ihr entsteht, schon immer krank, sie trägt ihren eigenen Untergang in sich.

2.3.3 „[S]ie alle beide stinken.“ – Der Streit um den wahren Gott Die Hebräischen Melodien, und damit der Romanzero303 , enden mit einem Gespräch über die Religion zwischen einem Rabbi und einem Franziskanermönch. Die beiden streiten, jeweils samt einer Entourage von elf Unterstützern, um die alte Frage: Welches ist der wahre Gott? Ist es der Hebräer starrer Großer Eingott, dessen Kämpe Rabbi Juda, der Navarrer? Oder ist es der dreyfalt’ge Liebegott der Christianer, Dessen Kämpe Frater Jose, Gardian der Franziskaner? (DHA 3.1, 159, V. 17–24)

Anregungen für diese Disputazion fand Heine wohl in drei einschlägigen französischen Quellen, namentlich Voltaires Lettres sur le Juifs (1771), im fünften Band von Jacques Banages Histoire de la religion des juifs depuis Jésus Christus jusqu’à présent (1707) sowie in Victor Hugos Journal des idées, des opionions et des lectures d’un jeune jacobite de 1819.304 Die argumentative Auseinandersetzung der beiden Diskutanten fällt dabei eindeutig unter das, was Prinzessin Sabbath im ersten Gedicht des dritten Zyklus so sehr verachtet, wo es heißt, dass sie „verabscheut alle / Geisteskämpfe und Debatten“ (DHA 3.1, 127, 83–84). Nicht allein dies gibt eine Vorahnung auf die Bewertung und den Charakter des Streits. Denn selbst ein akademisches Gespräch kommt im 303

Oder, genauer gesagt, zumindest sein lyrischer Teil. Für eine ausführliche Darstellung der Quellenlage und Entstehung s. DHA 3.2, 934–938 und Bark 1988, S. 414–415.

304

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Romanzero nicht ohne martialische Konturierung daher. Die Stimmung ist aggressiv, die Disputation ein ernstzunehmender Kampf, der nicht weniger hart und unerbittlich geführt wird als eine Schlacht auf Leben und Tod, wie sie beispielsweise die Historien gezeigt haben. In der Aula zu Toledo Klingen schmetternd die Fanfaren; Zu dem geistlichen Turney Wallt das Volk in bunten Schaaren. Das ist nicht ein weltlich Stechen, Keine Eisenwaffe blitzet – Eine Lanze ist das Wort, Das scholastisch scharf gespitzet. (V. 1–8) […] Statt des Helmes tragen sie Schabbesdeckel und Kapuzen; Scapulier und Arbekanfeß Sind der Harnisch, drob sie trutzen. (V. 13–16)

Dazu trägt nicht allein die Beschreibung der Diskussionsteilnehmer als bewaffnete „Kämpen“ (V. 41) bei. Auch die Wahl des Ortes ist von Bedeutung. Man befindet sich in Toledo, am Königshof Pedro des Grausamen305 , der bereits aus dem Historiengedicht Spanische Atriden der Lamentazionen bekannt ist.306 Der Verlauf des Streitgesprächs verdeutlicht bald, dass weder die Charakterisierung der ‚Kämpfenden‘ als Krieger, noch die durch den Austragungsort bedingte Assoziation mit Grausamkeit fehl am Platz sind. Die Parteien schenken sich nichts, der Streit wird mit größtmöglicher Vehemenz geführt. Die Sympathien des Textes liegen dabei erkennbar beim Vertreter des jüdischen Glaubens. Denn gerade der Mönch fällt durch offenkundige Widersprüche und Verbalinjurien auf, die von christlicher Nächstenliebe nichts spüren lassen.307 So heißt es etwa an einer Stelle mit Bezug auf den christlichen Gott: Unser Gott, der ist die Liebe, Und er gleichet einem Lamme; Um zu sühnen unsre Schuld Starb er an des Kreuzes Stamme. Unser Gott, der ist die Liebe, Jesus Christus ist sein Namen; Seine Duldsamkeit und Demuth Suchen wir stets nachzuahmen. 305

Vgl. auch V. 73–74.: „Pedro wird genannt der König / Mit dem Zusatz der Grausame“. Das Gedicht wird unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz von Zeit und Raum in Abschn. 4.1 analysiert. 307 Schon seine Stimme wird beschrieben als „[p]olternd roh und widrig greinend“ (V. 91). 306

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Deßhalb sind wir auch so sanft, So leutselig, ruhig, milde, Hadern niemals, nach des Lammes, Des Versöhners, Musterbilde. (V. 185–196)

Was zunächst durchaus überzeugendes argumentatives Gewicht haben könnte, nimmt sich geradezu absurd aus, vergegenwärtigt man sich die Äußerungen des Mönches nur wenige Verse zuvor: Judenvolk, Ihr seyd Hyänen, Wölfe, Schakals, die in Gräbern Wühlen, um der Todten Leichnam’ Blutfraßgierig aufzustöbern. Juden, Juden, Ihr seyd Säue, Paviane, Nashornthiere, (V. 153–158) […] Ihr seyd Vipern und Blindschleichen, Klapperschlangen, gift’ge Kröten, Ottern, Nattern – Christus wird Eur verfluchtes Haupt zertreten. (V. 165–168)

Nicht nur zeigt sich in der Kanonade an Schimpfwörtern und Grausamkeiten, mit der der Christ den Rabbi und das jüdische Volk belegt, seine geheime Lust an Gewalt und Niedertracht, zugleich gerät die ganze Logik seiner Argumentation in Unordnung, er wird völlig unglaubwürdig, wenn er nach solchen Worten noch auf der Liebe Christi und seiner selbst besteht. Der Rabbi jedoch erweist sich dem Mönch in dieser Hinsicht als durchaus ebenbürtig, wenn er an die Taten des alttestamentarischen Gottes erinnert und seinerseits dem Kontrahenten dessen Rache wünscht. „[…] Treffe, Herr, die Kapuziner, Zeige den infamen Schuften, Daß die Blitze deines Zorns Nicht verrauchten und verpufften. Deines Sieges Ruhm und Preis Will ich singen dann und sagen, Und dabey, wie Mirjam that Tanzen und die Pauke schlagen.“ (V. 389–396)

Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass der Rabbi in gedanklicher Vorwegnahme seines Sieges über den Mönch feiern möchte wie Mirjam: mit Tanz und Paukenschlag.

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Dies verweist auf 2. Mose 15,20–21.308 Die Argumente des Rabbis überzeugen also ebenfalls nicht, vielmehr geraten auch sie in logische Unordnung: Im Moment seines Sieges erinnert er zu Ehren seines Gottes an den größten Affront, den sein Volk sich im Alten Testament geleistet hat, den Singetanz um den Götzen. Dies provoziert wiederum den letzten Ausbruch des Mönches. „[…] Christus ist mein Leibgericht, Schmeckt viel besser als Leviathan Mit der weißen Knoblauchsauce, Die vielleicht gekocht der Satan. Ach! anstatt zu disputiren, Lieber möcht’ ich schmoren, braten Auf dem wärmsten Scheiterhaufen Dich und deine Kameraden.“ (V. 409–416)

Nicht nur klingt hier wieder die seit Vitzliputzli bekannte und verstörende Sicht auf das Messopfer als anthropophagischen Akt an. Der Mönch ergeht sich zugleich in veritablen Folter- und Vernichtungsfantasien. Es genügt ihm offenkundig nicht mehr, seinen Gegner im öffentlichen Disput zu bezwingen. Stattdessen soll er, zusammen mit seinen Kameraden, die hier unschwer als Gesamtheit der Juden gelesen werden können, verbrannt werden. Hier tritt der maßlose Hass auf das jüdische Volk, der im Wunsch nach dessen Auflösung kulminiert, schamlos zu Tage. Die an und für sich in ihrem Ablauf geregelte Disputazion, das gelehrte Streitgespräch, streng unterteilt in Zweifel, Untersuchung, Erkenntnis, Einwand und schließlich Lösung ihres Problems, ist damit endgültig aus dem Ruder gelaufen. Die Teilnehmer des „Turney[s] für Gott und Glauben“ (V. 18) diskutieren nicht miteinander, vielmehr „[k]reischen, schelten, wüthen, schnauben“ (V. 420) sie. Das stellt zwar auch einen Vierschritt dar, in seiner Wildheit und Unordnung ist aber an eine anschließende Lösung kaum zu denken. Die kommt zuletzt auch von ganz anderer Seite, von der Königin Donna Blanka, die von Don Pedro gefragt wird, für welchen der Diskutanten sie sich entscheide. Donna Blanka schaut ihn an Und wie sinnend ihre Hände Mit verschränkten Fingern drückt sie An die Stirn und spricht am Ende: Welcher Recht hat, weiß ich nicht – Doch es will mich schier bedünken, 308

Vgl. dort: „Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, nahm eine Pauke in ihre Hand, und alle Weiber folgten ihr nach hinaus mit Pauken im Reigen. Und Mirjam sang ihnen vor: Laßt uns dem HERRN singen, denn er hat eine herrliche Tat getan; Roß und Mann hat er ins Meer gestürzt.“ Auch hier ist allerdings ein Bezug zur Gewalt gegeben. Zudem klingt mit der paukeschlagenden Mirjam einmal mehr Das goldne Kalb, wo ja gerade der Abfall vom rechten Glauben dar- und auf Dauer gestellt wird.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Daß der Rabbi und der Mönch, Daß sie alle beide stinken. (V. 433–440)

Entschieden ist damit gerade nichts – und doch alles gesagt. Das Ziel des Streits, den „Gegner ad absurdum führen“ (V. 30), ist erreicht, jedoch anders, als sich dies Mönch und Rabbi wohl vorgestellt haben. Sie beide werden, durch einen krassen Rekurs auf ihre Körperlichkeit, der Lächerlichkeit preisgegeben. Der ganze Streit nach dem einzigen wahren Gott verliert seinen Sinn, aus allen Geisteshöhen werden die beiden Kontrahenten zurückgeholt in die Wirklichkeit, die es nicht gut mit ihnen meint. Der Romanzero endet so mit einem Bild des Ekels vor allem, das auf irgendeine Art und Weise Hoffnung auf jenseitiges Heil verspricht.309 Es existiert nur die irdische Welt, die nicht von Hoffnung, sondern von Widerwärtigkeit und Gewalt geprägt ist.310 Disputazion setzt die Un-Logik ins Recht. Das Instrument der Logik selbst, eben das namensgebende reglementierte philosophische Streitgespräch, wird dekonstruiert. Der Schluss führt gerade nicht zu einer Synthese, die Gegensätze sind weiter voneinander entfernt als je zuvor, am Ende steht das Nichtwissen. Das Bemühen um die Schlichtung des Streits hat also zu seiner Verschärfung geführt. Ein Dilemma, das inzwischen mehrfach im Romanzero zu beobachten gewesen ist: Der Versuch, eine Ordnung zu festigen oder wiederherzustellen führt selbst erst zur nachhaltigen Zerstörung eben dieser Ordnung. Obendrein wird das Gespräch nicht einmal von einem intellektuellen Sieg einer der Kontrahenten beendet, sondern ganz banal von der weltlichen Macht Don Pedros, der es seiner Frau überlässt, nach Gutdünken einen Sieger auszuwählen, was auch nichts anderes darstellt als einen Akt der Willkür.

2.4 Was von der Ordnung übrig bleibt In der Tiefenhermeneutik des mythischen Denkens geht es „darum zu sehen, ob der Mythos durch seine Art und Weise, Geschichten zu erzählen und Welt zu beschreiben, etwas über die Welt zu verstehen gibt, etwas von der Auseinandersetzung des Subjekts mit der Welt und mit sich selber erkennen läßt“.311 Dies lässt sich im 309

Es ist damit natürlich auch eine Zurücknahme des großen poetischen Programms, das Jehuda ben Halevy entwirft, worauf Isabelle Kalinowski hinweist: „Dans la poésie du Romancero, la symbolique de Yehuda ben Halevy est précieusement conservée, mais comme dans le poéme Disputación, où le théologique est finalement ramené vers le ‚bas corporel‘, le mouvement d’élévation spirituelle de Yehuda ben Halevy est détourné par Heine dans le sens délibérément trivial d’une exigence politique dont son œuvre tardive atteste la permanence.“ Kalinowski 1998, S. 142. 310 Die Gewalt findet ihren Eingang in den Schluss des Gedichts eben durch den Ortswechsel. Dem Leser des Romanzero ist die unerhörte Geschichte um Don Pedro seit Spanische Atriden bekannt. Zudem ruft die Verortung nach Spanien, zusammen mit den offensichtlichen Anspielungen im Text selbst, stets die spanische Judenverfolgung bis zum 17. Jahrhundert ins Gedächtnis (vgl. DHA 3.2, 945). 311 Angehrn 1996, S. 41–42.

2.4 Was von der Ordnung übrig bleibt

143

Romanzero beobachten. Er erzählt Geschichten, er beschreibt die Welt und gibt Auskunft über die Auseinandersetzung des Subjekts mit dieser Welt. Insofern kommt er der dem mythischen Denken inhärenten Funktion nach, in narrativen Strukturen zu erzählen. Diese Ordnung kann sich auf vielfältige Art und Weise manifestieren, beispielsweise in der dynastischen Abfolge von Machtverhältnissen, die dafür sorgen, dass sich der Mensch aus der Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft absichern kann, ihm so eine Möglichkeit der Selbstvergegenwärtigung und Selbstvergewisserung bieten. Das mythische Denken bietet allerdings auch andere Verfahren an, die der Legitimation von Macht dienen, die dann wiederum Strukturen schafft, etwa den Kampf, den Krieg. Mechanismen von Herrschaft werden im Romanzero durchaus etabliert und dargestellt. Sie existieren, nur sind sie schlecht: „Es gibt keine wahren Helden, nur Mittelmäßigkeit, Mord, Totschlag und Despotenwillkür“.312 Insgesamt übernimmt der Mythos eine sowohl anthropologische als auch eine epistemische Funktion, der Romanzero etabliert mit mythischen Mitteln eine „Erklärungs- und Begründungsfunktion“, er macht „gegenwärtige Ordnungen verständlich und legitimiert sie“.313 Vorwiegend in den Lamentazionen hat man es schließlich mit dem Phänomen zu tun, das ich als ‚Affirmation des Subjekts‘ bezeichnet habe. Der Rekurs auf den einzelnen Menschen erlaubt es Heine, zumal im Lazarus-Zyklus, das Leid des Individuums naturalistisch zu beschreiben, indem er einerseits von Subjekten berichtet, die eine Grundierung, die ein Vorbild, in der realen Welt haben. Andererseits aber sind sie als Zwitterwesen zu verstehen, die einen Anteil am Mythischen besitzen. Sie wirken so als Kippfiguren. In ihrem beständigen Scheitern und Sterben offenbart sich die „Brüchigkeit und Aporetik“314 der menschlichen Verfassung. Heines Subjekte lehnen sich, wie der Dichter selbst, gegen die Welt auf, finden aber nur, ebenso wie der Dichter selbst, Verfall und Tod. Gegen eine derartige Auffassung der Welt arbeitet der Mythos als Instrument der Willkürvermeidung an, wie Hans Blumenberg betont: Der Mythos ist eine Ausdrucksform dafür, daß der Welt und den in ihr waltenden Mächten die reine Willkür nicht überlassen ist. Wie auch immer dies bezeichnet wird, ob durch Gewaltenteilung oder die Kodifikation der Zuständigkeiten oder durch Verrechtlichung der Beziehungen, es ist ein System des Willkürentzugs.315

Auf einer strukturellen Ebene zeichnet sich der Romanzero schon allein durch seine strenge formale Verfasstheit aus, durch seine lyrische Qualität als Kunstwerk, an dem kein Wort zufällig ist, in dem kein Gedicht an der falschen Stelle steht. Mithin wird hier also werkimmanent Kontingenz reduziert. Über die kompositorische Arbeit gibt Heine selbst in einem Brief an seinen Verleger Julius Campe Auskunft: Sie wissen wie der ordnende Geist zu meinen Haupt Eigenschaften gehört. Sie werden es noch jüngst bei der Herausgabe des Romanzero bemerkt haben, der gewiß unendlich 312

Sittig 2011, S. 180. Angehrn 1996, S. 26–27. 314 Angehrn 1996, S. 327. 315 Blumenberg 1984, S. 50. 313

144

2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

verloren hätte, wenn ich nicht der äußern Anordnung viel Zeit und Nachdenken schenkte. Die Gedichtesammlung so vieler deutschen Dichter würde das Publikum mehr anziehn, wenn sie nicht durch Anarchie der Anordnung den barbarischen Geist ihrer Verfasser verriethe.316

Der Romanzero befriedigt damit zunächst einmal, auf formaler Ebene, die ‚Sinnsehnsüchtigkeit‘ des Menschen. Er verleiht dem Weltgeschehen und dem menschlichen Dasein bereits durch seine hochartifizielle Verfasstheit Struktur. Wenn Heine Ereignisse und Figuren aus Vergangenheit und Gegenwart benutzt und miteinander in Beziehung setzt, so geschieht dies nicht aus historischem Interesse. Er sieht sich nicht als Vertreter der im 19. Jahrhundert als Leitwissenschaft auftretenden Historiographie, es geht ihm am wenigsten darum, mit Ranke aufzuzeigen, „wie es eigentlich gewesen“.317 Vielmehr benutzt er die Geschichte, um in mythischer Rede allgemeine Aussagen über die Welt zu treffen. Dies nämlich sei Aufgabe des Dichters, hierfür sei er in besonderer Weise geeignet, wie es beispielhaft in Shakespeares Mädchen und Frauen heißt: Hat Shakspear wirklich den Charakter des erwähnten Königs ganz treu nach der Historie geschildert? Ich muß wieder auf die Bemerkung zurückkommen, daß er verstand, die Lakunen der Historie zu füllen. […] Was Friedrich Schlegel von dem Geschichtschreiber sagt, gilt ganz eigentlich von unserem Dichter: Er ist ein in die Vergangenheit schauender Prophet. Wäre es mir erlaubt, einem der berühmtesten unserer gekrönten Zeitgenossen den Spiegel vorzuhalten, so würde jeder einsehen, daß ihm Shakspear schon vor zwey Jahrhunderten seinen Steckbrief ausgefertigt hat. (DHA 10, 85)

Dem Dichter gelingt es, die Lücken zu füllen, die die Historiographie zwangsläufig hinterlässt. Damit liefert er keine Chronik historischer Ereignisse, er liefert eine Deutung. Der Kitt, mit dem er die Lücken füllt, verleiht dem Weltgeschehen Sinn, es stellt sich nicht mehr als bloß zufällige Abfolge von Begebenheiten dar, es verfügt nun über eine innere Notwendigkeit. Der Blick des Dichters, der auf diese Art mythisch erzählt, ist dabei allumfassend. Er hat sowohl bedeutende historische Ereignisse (etwa Schlachten, wie in Valkyren oder Schlachtfeld bey Hastings) im Blick, als auch einzelne Figuren und Subjekte, die für sich allein genommen den Lauf der Welt selbstverständlich nicht ändern können318 , durch die Art und Weise des mythischen Erzählens aber verallgemeinerungsfähig werden und über sich selbst hinausweisen. In diesem Sinne stellt der Romanzero ein Angebot zur Kontigenzbewältigung dar, in diesem Sinne stiftet er Ordnung. Auffallend ist aber, wie sich dieses ordnungsgebende Moment auf einer Bedeutungsebene darstellt. Die ‚transzendentale Obdachlosigkeit‘ des Menschen wird zwar gelindert. Es lohnt sich jedoch, um im Bild zu bleiben, einen genaueren Blick in die Behausung zu werfen, die der Romanzero ihm bietet. Durch deren Fenster dringt alles andere als heiteres französisches Tageslicht. Es zeigt sich nämlich, dass, wenn der Mythos die Objektifizierung der sozialen Erfahrung des Menschen ist (Cassirer)319 , es düster aussieht für diesen Menschen. 316

Brief an Julius Campe vom 22. März 1852, HSA 23, S. 192–193. Von Ranke 3 1885, S. VII. 318 Man denke etwa an die Lamentazionen und hier im Besonderen an den Binnenzyklus Lazarus. 319 Vgl. Cassirer 1946, S. 47. 317

2.4 Was von der Ordnung übrig bleibt

145

Zwar findet sich die Festigung von Strukturen, sei es durch Sukzession oder durch Kampf, wieder. Was aber durch diese Ordnung etabliert wird, ist eine Entwicklung zum Schlechten hin. Wo im Mythos der Rekurs auf das Alte Autorität und Beständigkeit verspricht, zementiert er im Romanzero nur die Herrschaft des Unrechts. Selbst die vorgebliche Rettung bestehender Strukturen320 trägt letztendlich zu deren moralischer Verschlechterung bei, öffnet Tür und Tor für Leid und Tod. Auch der Wechsel der Blickrichtung von den großen Strukturen auf den einzelnen Menschen bietet, wie beschrieben, keinen Ausweg. Sogar die romantische sinnliche Liebe hat ihr erlösendes Moment verloren (Der Apollogott, Pomare), von politischen und philosophischen Überzeugungen ganz zu schweigen (exemplarisch Enfant perdü). Das Leiden am Leben stellt denn auch die einzige Erfahrung dar, auf die sich die Subjekte des Romanzero verlassen können, eine Hoffnung auf jenseitiges Heil bleibt mehr als ungewiss. In Deutschland. Ein Wintermährchen noch hieß es: Wir wollen auf Erden glücklich seyn Und wollen nicht mehr darben; Verschlemmen soll nicht der faule Bauch Was fleißige Hände erwarben. Es wächst hienieden Brod genug Für alle Menschenkinder, Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, Und Zuckererbsen nicht minder. Ja, Zuckererbsen für Jedermann, Sobald die Schooten platzen! Den Himmel überlassen wir Den Engeln und den Spatzen. (DHA 4, 92, V. 37–48)

Nie war Heine weiter von „Zuckererbsen für Jedermann“ entfernt als in seinem letzten Gedichtzyklus. Der Weltlauf des Lazarus-Prologs hat die Herrschaft übernommen: „Wer nur wenig hat, dem wird / Auch das Wenige genommen.“ (DHA 3.1, 105, V. 3–4) Gerade vor dem Hintergrund der letzten Lamentazion Enfant perdü ist es deshalb mehr als fraglich, dass Heine nie resigniert.321 Der Romanzero legt beeindruckendes Zeugnis davon ab, dass es keine Veränderung zum Guten geben wird. Dabei kommt das mythische Denken einerseits seiner epistemischen und sozialen Funktion nach. Es gliedert die Welt und gibt ihr ein bestimmtes Profil, genauso wie es gesellschaftliche Positionen und bestehende Verteilungen von Einfluss, Macht und

320

Wie etwa in Schelm von Bergen, wo die Adelsordnung stotternd zu einem Halt kommt, bis der beherzte Herzog den Scharfrichter in den Adelsstand erhebt. Die Ordnung ist gerettet, jedoch um den Preis der Inkorporation des Verderbens. 321 Vgl. Jung 2010, S. 94–95.

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2 Strukturen der Ordnung im Romanzero

Vermögen ontologisch absichert.322 Dieses Profil jedoch erscheint als gekennzeichnet von Ungerechtigkeit, woran der Mensch nichts zu ändern vermag, denn an den aktuellen gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen und Positionen gibt es nichts zu rütteln. Zusätzlich bedient sich der Romanzero einer weiteren Finte: des Moments der Willkür, die das menschliche Leben auszeichnet. Wer genau wann wie leidet, hängt nicht von den Taten des einzelnen Menschen ab, seinem Charakter oder sonstigen Eigenschaften – es geschieht zufällig, insofern die handelnden Menschen zwar Gründe haben mögen, diese Gründe indes denjenigen, die von den Auswirkungen der Handlungen betroffen sind, unzugänglich und unverständlich bleiben, weswegen die Handlungen selbst als schicksalhaft und zufällig wahrgenommen werden. Das ordnungsstiftende Moment des mythischen Denkens im Romanzero gewährleistet, dass der Mensch sich der Struktur der Welt, in die er geworfen ist, einerseits sicher sein darf. Die Sicherheit selbst aber ist paradoxerweise geprägt von Willkür. Denn Willkür wird als strukturgebendes Moment der Welt selbst konstituiert. Es gibt kein Heil in einer fernen Zukunft oder in einem Leben nach dem Tod. Dabei hat der Romanzero die Eigenschaft eines Zwitterwesens. Einerseits liefert er die für das menschliche Denken so nötige Struktur. Zum einen durch seinen formalen Aufbau und zudem auf narrativer Ebene durch seine Grundierung im mythischen Denken. Andererseits jedoch unterläuft er diese Struktur durch das, wovon er unablässig erzählt: die Herrschaft der Willkür in der Welt. Durch dieses poetische Verfahren lässt Heine Dichtung mit sich selbst in Widerspruch treten. Das Potential und die Wirkung von Poesie werden damit gezeigt, im selben Schritt jedoch negiert. So wird Dichtung selbst verdächtig und ihre Wirkung in Frage gestellt. Der Romanzero kann daher als Beispiel für eine Dichtung gelesen werden, die selbstkritisch geworden ist, die zwischen Struktur- sowie Sinngebung und deren Auflösung oszilliert.

322

Vgl. Angehrn 1996, S. 37–38.

Kapitel 3

Die zyklische Struktur des Romanzero

Der blasirte König von Judäa sagte mit Recht: es giebt nichts Neues unter der Sonne – Vielleicht ist diese Sonne selbst ein alter aufgewärmter Spaß, der mit neuen Stralen geflickt, jetzt so imposant funkelt! (Geständnisse, DHA 15, 57)

Der Aufbau und das Arrangement des Romanzero bildeten bereits Thema einer Vielzahl von Studien. Schon Helmut Koopmann argumentiert 1978 für eine dezidiert triadische Struktur und erteilt vor allem der Auffassung von einer bloßen ‚Sammlung‘ eine Absage: Die Hinweise auf die offenbar doch sehr durchdachte Konstruktion sind also ernstzunehmen. Sie beziehen sich natürlich einmal auf die Auswahl und Abfolge der einzelnen Gedichte […] Aber die Hinweise beziehen sich zum anderen auf die Großkonstruktion, in diesem Falle also auf die triadische Struktur des Romanzero. […] Nun scheint allein schon der Begriff der Sammlung hier fehl am Platze, denn wir haben es offenbar mit einer zyklischen Konstruktion zu tun.1

Koopmann sieht in der zyklischen Struktur keine evolutionistischen Tendenzen, denn „Heines Konstruktionen kennen kaum eine Entwicklung in der Weise, daß sich am Ende eines Zyklus Einsichten herausschälen, die der Anfang noch nicht kannte“.2 Jean Pierre Lefebvre hingegen setzt Heines Werk in enge Beziehung zur hegelschen Geschichtsphilosophie, wodurch sich im Romanzero eine Art der hegelschen Dialekt verwirkliche.3 Auch Siegbert S. Prawer betrachtet den Romanzero, gerade aufgrund seiner Struktur, als „one of the great books of world literature: an astonishing fest of the poetic 1

Koopmann 1978, S. 55. Koopmann 1978, S. 56. 3 Indem nämlich in den drei Büchern des Romanzero der Syllogismus der epischen Poesie aus Hegels Phänomenologie des Geistes verwirklicht sei. Vgl. Lefebvre 1989. Dagegen Koopmann (1978, S. 56): „Das Aufbauschema läßt sich nicht so fassen, daß etwa im ersten Teil der Lauf der Welt, im zweiten das Leiden des Dichters selbst beschrieben sei und der dritten den Versuch einer Synthese zwischen Dichter und Welt bedeutet hätte: Das klingt spitzfindig und läßt sich schon vom dissonanten Schluß des Romanzero her nicht halten, und wir wissen ja schließlich auch, wie gering letztlich der Einfluß Hegels auf Heine anzusetzen ist.“ Zur Beziehung zwischen Heine und Hegel s. außerdem Windfuhr 1973, S. 261–263 sowie Sternberger 1976, S. 407–410. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von 147 Springer Nature 2023 P. Ritzen, Heinrich Heines „Romanzero“, Heine-Studien, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66641-8_3 2

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3 Die zyklische Struktur des Romanzero

architecture both in its individual poems and its overall-all arrangement, and a powerful presentation of the experience of a tormented soul“.4 Dabei sei Heines letzter großen Zyklus seiner Form und seinem Inhalt nach mit einer Sonate vergleichbar, die zwar in einer Dissonanz ende, dabei dem Menschen aber gleichwohl erlaube, in eine Scheinwelt zu flüchten, wo er seine Würde behalte, „even in baseness, degradation, terror, and pain.“5 Anzumerken ist noch grundsätzlich, dass sich die triadische Struktur nicht ausschließlich auf die drei übergeordneten Bücher des Zyklus bezieht, sondern sich auch wiederholt in einzelnen Gedichten niederschlägt.6 Zu unterscheiden wäre also zwischen einer Makrostruktur, die den gesamten Romanzero bzw. einzelne Zyklen aus mehreren Gedichten betrifft, und einer Mikrostruktur des zyklischen Erzählens, die sich in einzelnen Gedichten fortsetzt. Nun verhält es sich so, dass das Denken in Zyklen auch Merkmal des mythischen Denkens und Erzählens ist. Das mythische Denken will „strukturierte Gesamtheiten mittels einer strukturierten Gesamtheit“7 errichten, und eine dieser strukturierten Gesamtheiten ist das Erzählen in zyklischen Strukturen. Ein Ziel des Mythos ist es ja gerade, archaische Ängste zu depotenzieren, „indem er durch Benennung, Gliederung und Strukturierung die Wirklichkeit überschaubar und beherrschbar macht“.8 Wenn also auch in einer Welt, die sich dem Menschen als feindlich gegenüberstellt „das Sterbliche seinen irreversiblen Gang“9 geht, so lässt sich immerhin Trost daraus ziehen, dass das Sterben einen Sinn hat, dass es irgendeine Ordnung gibt. Dies ist das Grundmuster fast aller Jenseitsmythen, vor allem solcher, die eine Art von Gerechtigkeit im jenseitigen Leben zum Inhalt haben.10 Einer zyklischen Struktur inhärent ist dabei das Muster der Wiederholung: Durch Wiederholung von Ereignissen findet Sinngebung statt. Auch bei Heine gibt es, schon vor dem Romanzero, Beispiele für zyklisches Erzählen. Christine Mielke weist auf das dezidiert zyklische Narrativ in Florentinische Nächte hin, wo Heine eine „radikale Veränderung im Übergang vom krisenhaften Erzählen zur Krise der Narration ein Erzählen für den Tod, ein symbolischer Tausch mit dem Tod“ gelinge und deren „Narrationsstruktur innerhalb einer traditionell zyklischen Rahmung bereits eine zyklisch-serielle Mischform der Binnenerzählung [aufweist], die die Transformation zur späteren seriellen Narration des Feuilletonromans erkennen lässt.“11

4

Prawer 1961, S. 147. Prawer 1961, S. 209. 6 S. etwa Höhn 2004 S. 139: „Die triadische Grundstruktur, die sich außerdem im dritten Buch, das aus drei Gedichten besteht, und in dreigliedrigen Romanzen wie Der Apollogott, Der Dichter Firdusi und Vitzliputzli (ohne Präludium) wieder. [!]“ 7 Lévi-Strauss 1977, S. 35. 8 Angehrn 1996, S. 38. 9 Hübner 1994, S. 135. 10 Vgl. etwa Assmann 2000, S. 49–58. 11 Mielke 2006, S. 378. 5

3.1 Die Struktur einzelner Gedichte

149

In Bezugnahme auf den späten Heine hat Markus Winkler auf das Phänomen der zyklischen Struktur des mythischen Denkens hingewiesen, das die Möglichkeit eröffnet, „kulturell Existierendes […] in seinem Gewordensein [zu] rechtfertigen, beglaubigen und mit Bedeutsamkeit“12 zu versehen. Auch hier sucht das mythische Denken durch die Mittel der zyklischen Strukturierung und der Wiederholung (die jedem zyklischen Erzählen inhärent ist), die Welt zu rechtfertigen, ihr einen Sinn zu geben und den Menschen mit ihr zu versöhnen, sodass es sich, in ganz praktischer Hinsicht „als einer der wichtigsten Faktoren des Gemeinschaftsgefühls und des Gemeinschaftslebens“13 erweist. Im Folgenden sollen Momente des zyklischen Erzählens und der Wiederholung im Romanzero an exemplarischen Beispielen aufgezeigt werden, um zu untersuchen, inwiefern Heine die Funktionen des mythischen Denkens übernommen hat bzw. mit ihnen spielt. Dabei soll auf die übergeordnete triadische Makrostruktur des gesamten Romanzero erst am Ende des Kapitels eingegangen werden, zunächst wird ein Blick auf Mikrostrukturen der Wiederholung und des zyklischen Erzählens geworfen.

3.1 Die Struktur einzelner Gedichte Ein fruchtbares Beispiel für eine formal zyklische Stoffbearbeitung liefert die frühe Historie Der Dichter Firdusi. In seiner Eigenschaft „als Gedicht eines berühmten Lyrikers aus dem 19. Jahrhundert über einen großen Poeten der Vergangenheit, der ungezählte Generationen älter ist und aus einem völlig anderen Kulturkreis stammt“14 , ist schon im Untersuchungsgegenstand ein zyklisches Moment angelegt: Etwas Vergangenes wird reaktiviert und in Bezug zur Gegenwart gesetzt. Das wiederum verleiht den Umständen der Gegenwart – Heine sieht sich in direkter Tradition Firdusis – mehr Autorität. Darüber hinaus gilt mit Walter Hinck: Bei keinem Dichter des 19. Jahrhunderts verzweigt sich das Balladenwerk so sehr in die Formenwelt der Tradition wie der künftigen Dichtung hinein. […] Keiner besitzt ein solches Organ für das Vergangene wie für das Künftige. Und dennoch ist Heine nicht der Eklektiker, der die Früchte der Überlieferung nur sammelt und Gefälliges sich auswählt […]. Sowohl als Erbe wie als Wegebereiter wird er seiner geschichtlichen Situation gerecht. […] Heines Dichtung ist ein der Vielzahl der Brechungen so schillernd wie die historische Situation, in der er sich fand […].15

Der Dichter Firdusi verquickt Heines eigene Lebenssituation mit der Firdusis, des persischen Nationaldichters und Verfassers des Buchs der Könige.16 Die Romanze stellt mit ihrer Unterteilung in drei Abschnitte einen Mikrozyklus innerhalb des Romanzero dar, sie bildet so dessen triadische Struktur ab. 12

Winkler 1995, S. 19. Cassirer 1964, S. 130. 14 Kruse 2000, S. 116. 15 Hinck 3 1978, S. 48–49. 16 Zu Heines Quellen s. Fendri 1980, S. 122–123. 13

150

3 Die zyklische Struktur des Romanzero

Der erste Teil beginnt mit einem fundamentalen Missverständnis zwischen Scheich und Dichter. Dieser geht selbstverständlich davon aus, dass ein Thoman, eine persische Münze, für einen Scheich immer aus Gold bestehe, während nur das arme Volk (was den Dichter mit einschließt), mit Silberthomanen rechnet: Goldne Menschen, Silbermenschen! Spricht ein Lump von einem Thoman, Ist die Rede nur von Silber, Ist gemeint ein Silberthoman. Doch im Munde eines Fürsten, Eines Schaches, ist ein Thoman Gülden stets; ein Schach empfängt Und er giebt nur goldne Thoman. Also denken brave Leute, Also dachte auch Firdusi, Der Verfasser des berühmten Und vergötterten Schach Nameh. (DHA 3.1, 49, V. 1–12)

Als der Scheich Firdusi, wie versprochen, für jeden Vers seiner Dichtung, immerhin 200.000, einen Thoman zukommen lässt, sieht sich Firdusi getäuscht und betrogen, da es sich nur um Silbermünzen handelt, worauf er das Geld verschenkt und sich ins Exil begibt. Bitter lachend hat er jene Summe abgetheilt in drey Gleiche Theile, und jedwedem Von den beiden schwarzen Boten Schenkte er als Botenlohn Solch ein Drittel und das dritte Gab er einem Badeknechte, Der sein Bad besorgt, als Trinkgeld. Seinen Wanderstab ergriff er Jetzo und verließ die Hauptstadt; Vor dem Thor hat er den Staub Abgefegt von seinen Schuhen. (V. 61–72)

Im Akt des Schenkens wird auch auf einer Inhaltsebene die Dreiteilung der Gedichtform wiederaufgenommen: Firdusi teilt das Geld vor dem Schenken in drei Teile auf. Somit wird also eine triadische Struktur in die Bevölkerung hineingetragen. Wesentlich bleibt aber, dass es sich in den Augen Firdusis um Geld handelt, dem der Makel des Betrugs anhaftet. Auf diese Weise verteilt sich mit dem Geld zugleich der Betrug unter den Beschenkten.

3.1 Die Struktur einzelner Gedichte

151

Der gesamte Mittelteil der Historie stellt ein Selbstgespräch Firdusis dar, das der Charakterisierung ‚Schah Mahomets‘ dient:17 „Hätt’ er menschlich ordinär Nicht gehalten, was versprochen, Hätt’ er nur sein Wort gebrochen, Zürnen wollt’ ich nimmermehr. Aber unverzeihlich ist, Daß er mich getäuscht so schnöde Durch den Doppelsinn der Rede Und des Schweigens größre List. Stattlich war er, würdevoll Von Gestalt und von Geberden, Wen’ge glichen ihm auf Erden, War ein König jeder Zoll. Wie die Sonn’ am Himmelsbogen, Feuerblicks, sah er mich an, Er, der Wahrheit stolzer Mann – Und er hat mich doch belogen.“ (II, V. 1–16)

Der dritte und letzte Teil des Gedichts unterscheidet sich auf den ersten Blick, etwa durch seine jeweils nur aus zwei Versen bestehenden Strophen, sehr von Teil I und II, entspricht allerdings in der Versanzahl genau dem ersten Teil. Er beschreibt die Reue des Scheichs, der nun eine mit Schätzen beladene Karawane zu Firdusi schickt. Jedoch zu spät, wie sich herausstellt, als die Karawane die Stadt erreicht: Wohl durch das West-Thor zog herein Die Karawane mit Lärmen und Schreyn. Die Trommel scholl, das Kuhhorn klang, Und lautaufjubelt Triumphgesang. La Illa Il Allah! aus voller Kehle Jauchzten die Treiber der Kamehle. Doch durch das Ost-Thor am andern End’ Von Thus, zog in demselben Moment Zur Stadt hinaus der Leichenzug, Der den todten Firdusi zu Grabe trug. (III, V. 63–72)

17

Vgl. Kruse 2000, S. 126.

152

3 Die zyklische Struktur des Romanzero

Das zeitgleiche Eintreffen des Königs mit dem Leichenzug des Dichters ist eine „unfreiwillig ironische[], im Grunde schicksalhafte[] Pointe“18 , mit der Firdusi endet. Die zyklische Struktur indes ist selbstverständlich nicht schicksalhaft, sondern als Instrument der Sinngebung anzusehen. Nur welchen Sinn soll sie verleihen? Mit Kruse lässt sich festhalten, dass „Auftakt und Schluss […] sich um den kurzen Mittelteil des Gedichtes wie um die eigentliche Klammer und Seele des Ganzen“19 gruppieren. Natürlich ist es einleuchtend, und in der Forschung immer wieder geschehen, das Gedicht zunächst in Zusammenhang mit dem Erbschaftsstreit zu lesen, den Heine, in Sorge um die Sicherung seiner finanziellen Existenz, mit Carl Heine, dem Sohn seines verstorbenen Onkels und Mäzens Salomon Heines, führte.20 Dann würden „[d]ie vier Strophen […] erst durch ihre Verwendung im Firdusi-Gedicht den Charakter eines Spiegelkabinetts [erhalten], in dem hinter den Zügen des Schahs das Bild des Übervaters Salomon aufscheint, der den Dichter in Paris auf das Bitterste enttäuscht hat“21 . Der Dichter Firdusi weist allerdings, wie Alberto Destro feststellt, über ein privates Schlüsselgedicht weit hinaus. Die eigenen Erfahrungen stehen nur stellvertretend für das meist unbefriedigende Verhältnis zwischen Dichtern und Machthabern, für die Unvereinbarkeit von Macht und Kunst, von innerer und äußerer Stellung des Künstlers. In der Realität ist eine angemessene Würdigung des Künstlers offensichtlich nicht erreichbar. Obwohl sich der Dichter dem Herrscher als ebenbürtig empfinden kann, bleibt er in der Praxis ein armer Außenseiter.22

Die zyklische Erzählform des mythischen Denkens will jedoch mehr anbieten als eine nur biografische Deutung, oder auch nur eine zweifellos darüberhinausgehende Deutung oder Kritik des Verhältnisses zwischen Dichtung und Geld bzw. Dichter und Herrscher/Mäzen: sie will dem menschlichen Leben eine Struktur oder einen Sinn geben. Wenn nun die Klage Firdusis im Mittelteil des Gedichtes, aufgrund von dessen Struktur, sinngebenden Charakter hat, so lohnt es, den Inhalt genauer in den Blick zu nehmen. Dabei fällt zunächst auf, dass sich an dieser Stelle die Makrostruktur des Romanzero spiegelt – Firdusis Klage ist nichts anderes als eine der Lamentazionen, als eines der Klagelieder, die den Mittelteil des gesamten Zyklus ausmachen. Und diese spezielle Lamentation nimmt das Motto der Historien wieder auf: 18

Fendri 1980, S. 126. Kruse 2000, S. 126. 20 Vgl. hierzu die Ausführungen im Kommentar von Alberto Destro, DHA 3.2, 669–670. 21 Kruse 2000, S. 127. 22 DHA 3.2, 670. Ähnlich, dann allerdings wieder in Verbindung mit der Biografie Heines, liest dies Joseph Kruse (Kruse 2000, S. 134): „Firdusi wird das unbeugsame Opfer im Kampf um die materiellen Rechte von Autoren, indem er jene Akzeptanz erwartet, die der Dichtung voll höchster Ansprüche durch ein anspruchsvolles Publikum entspricht. Anders konnte auch die eigene Antwort Heines unter den Bedingungen der Krankheit in Paris nicht mehr aussehen. Oder richtiger: Darum exemplifiziert er seine Auffassung an dem persischen Dichter, den er nach seiner Vorstellung ummodelt.“ Ähnlich auch Hinck 1978, S. 43: „Wo der historische Firdusi auf die Kränkung mit einer Satire reagiert, antwortet der Dichter Heines mit Schweigen. Damit ist der Figur zweifellos Aggressivität entzogen, auch wenn Nichtbeachtung eine äußerste Form von Verachtung sein kann. Firdusi erkauft den Schutz seiner Würde mit Resignation.“ 19

3.1 Die Struktur einzelner Gedichte

153

Wenn man an dir Verrath geübt, Sey du um so treuer; Und ist deine Seele zu Tode betrübt, So greife zur Leyer. (DHA 3.1, 10, V. 1–4)

Firdusi ist verraten worden, was für ihn jedoch, wie für Heine selbst, keinen Grund darstellt, der Dichtkunst abzuschwören. Der Verrat schmerzte umso mehr, als ihn nicht irgendjemand begangen hat, sondern ein Mann, „ein König jeder Zoll“ (V. 12), dem „[w]en’ge glichen […] auf Erden“ (V. 10), ein nach allen Maßstäben außergewöhnliches Individuum. Wenn also selbst solche Männer um etwas vergleichsweise Geringes wie Geld betrügen, ist von dem Menschen im Allgemeinen nichts Gutes zu erwarten. Der Brennpunkt des Gedichtes, auf den es aufgrund seiner zyklischen Struktur ausgerichtet ist, spendet keinen Trost, liefert also gerade keine Sicherheit. Der Wortbruch kann hier als Sinnbild für die Unsicherheit und die metaphysisch prekäre Lage des Menschen in der Welt gelesen werden. Die Schlusspointe, der Tod Firdusis im Moment des Versöhnungsversuches, nimmt sich demgegenüber fast harmlos aus, als letzter zynischer Hinweis, dass es das Schicksal wirklich nicht gut meint mit dem Menschen. Der Dichter Firdusi zeigt beispielhaft, wie Heine durch die Benutzung mythischer Strukturen eine Kernaussage mythischen Denkens unterläuft. Sein Denken und Erzählen in Zyklen schafft keine Ordnung, keinen Sinn und keinen Trost. Stattdessen rücken auf einer Bedeutungsebene Verrat und Betrug, Phänomene, die jede Ordnung zerstören, in den Mittelpunkt. Die Romanze um den persischen Dichter kann dabei als exemplarisches Beispiel für das Erzählen dienen, das den gesamten Romanzero durchzieht. Diese Art des zyklischen Erzählens findet sich immer wieder in einzelnen Gedichten des Romanzero, in ihrer Ausführung als Triade beispielsweise in Der Apollogott. Auch hier verweisen zwei flankierende Erzählabschnitte auf den Mittelteil, der die Klage der zentralen Figur – des Gottes Apollo – darstellt. In diesem Fall hat die exponierte Stellung des Mittelteils noch einen anderen Grund: Der Apollogott spielt mit den Identitäten des Apoll. Im ersten Abschnitt tritt er nur mittelbar in Erscheinung, durch Auge und Ohr einer Nonne: „Wohl durch das Gitterfenster schaut / Die junge Nonne und lauschet“. (DHA 3.1, 32, V. 3–4) Im letzten Abschnitt schließlich entpuppt sich der „holde[] Abgott“ (II, V. 12) der Nonne als Aufschneider und Betrüger, als Rabbi einer Synagoge in Amsterdam: Denn er war Vorsänger dorten, Und da hieß er Rabbi Faibisch, Was auf Hochdeutsch heißt Apollo – Doch mein Abgott ist er nicht. (III, V. 36–40)

Der Mittelteil allerdings lässt keinen Zweifel offen, wer hier spricht, von wem die Klage stammt: Der Gott Apoll lamentiert über seine Vertreibung aus Griechenland. Hier geht es durchaus um mehr als um eine „um eine Liebeserklärung, die mit den modernen Mitteln eines Chansons von ihnen [den heidnischen Göttern, PR]

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3 Die zyklische Struktur des Romanzero

Abschied nimmt“23 . Es geht zudem um mehr als bloß darum, dass „[d]er Dichter […] sich seiner sozial nicht mehr einzuordnenden Lage bewußt“24 wird. Wenn der Apollogott klagt: Ich bin der Gott der Musika, Verehrt in allen Landen; Mein Tempel hat in Gräzia Auf Mont-Parnaß gestanden. (III, V. 1–4)

Und seine Klage schließt mit Wohl tausend Jahr aus Gräzia Bin ich verbannt, vertrieben – Doch ist mein Herz in Gräzia, In Gräzia geblieben. (III, V. 29–32)

Dann drückt sich darin natürlich auf einer ersten Abstraktionsebene Heines eigene Situation als Dichter aus, der sich ins französische Exil gedrängt sah, gedanklich aber stets seiner Heimat Deutschland verbunden blieb. Darüber hinaus jedoch lässt sich die Sehnsucht nach einer Welt vernehmen, die unwiederbringlich verloren ist. In der Bearbeitung der mythischen Figur des Apoll drückt sich das Schicksal des Menschen aus, stets das zu wollen, was unerreichbar ist. Dass es sich beim Ziel dieser Sehnsucht nicht nur um die Vergangenheit, die ohnehin unerreichbar ist, handelt, dafür sorgt die geschickte Flankierung der zentralen Klage mit den Rahmenerzählungen. Der Blick zurück macht dem Apollogott nicht nur deutlich, was er alles verloren hat. Auch eine in die Zukunft gerichtete Sehnsucht wie die der Nonne stellt sich als vergeblich heraus. Mehr noch, durch die zynische Beschreibung des Sehnsuchtsobjekts der Nonne, das als heruntergekommener Rabbi Faibisch samt seiner Entourage von Dirnen, die bildlich in die Nähe von Schweinen gerückt werden, durch das Amsterdamer Rotlichtviertel zieht,25 wird sie auf geradezu hämische Weise vernichtet. Der Apollogott universalisiert so die Klage der absoluten Verlorenheit des Menschen in der Welt. Gegen diese Verlorenheit ist selbst die Liebe keine Hilfe, sie bringt keine, nicht einmal eine temporäre, Erlösung oder Linderung. Mit der mythisch grundierten Figur des Apoll erzählt der Romanzero von der Idee der (ewigen) Liebe, entlarvt die Suche danach aber als vergebene Mühe. Eine leicht abgewandelte Form der zyklischen Struktur weist Pomare auf. Die Historie über die Prostituierte und Tänzerin gleichen Namens ist als Vierteiler aufgebaut. Allerdings befinden sich auch hier die beiden Teile, die etwas Allgemeines über die conditio humana aussagen, in der Mitte des Gedichtes (als Teil II und III), flankiert von je einem erzählenden Abschnitt. Wieder weist die zyklische Struktur also auf das eigentliche Kernthema der Romanze hin. 23

Von Wiese 1973, S. 124. Von Wiese 1973, S. 126. 25 Vgl. III, V. 69–70.: „Aus dem Amsterdamer Spielhuis / Zog er jüngst etwelche Dirnen,“; und V. 73–74: „Eine dicke ist darunter, / Die vorzüglich quikt und grünzelt;“. 24

3.1 Die Struktur einzelner Gedichte

155

Der erste und vierte Abschnitt widmet sich jeweils dem konkreten Schicksal Pomares. Das Gedicht lässt sich also gliedern in eine Ouvertüre, die die Tänzerin einführt, und einen Epilog, der von ihrem Begräbnis und der Reaktion darauf berichtet. Der zweite Abschnitt scheint zunächst lediglich eine Beschreibung des Tanzes der Pomare zu sein, worin er sich jedoch bei weitem nicht erschöpft. Denn die Verbindung zur alttestamentarischen Geschichte von Salome und Herodes fügt dem Tanz überzeitlichen Charakter hinzu, er wird damit verallgemeinerungsfähig: Sie tanzt. Wie sie das Leibchen wiegt! Wie jedes Glied sich zierlich biegt! Das ist ein Flattern und ein Schwingen, Um wahrlich aus der Haut zu springen. (DHA 3.1, 30, V. 1–4) […] Sie tanzt. Derselbe Tanz ist das, Den einst die Tochter Herodias Getanzt vor dem Judenkönig Herodes. Ihr Auge sprüht wie Blitze des Todes. (V. 9–12)

Dieser Tanz hat dann nichts mehr mit einem Cancan oder einer Polka (I, V. 12) gemein, er ist vielmehr ein Todestanz (vgl. V. 12), ein Tanz der nur Unheil bringt, ein Tanz, der nicht sinnliche Zerstreuung verschafft, sondern der buchstäblich sinnenund willenlos macht: „Sie tanzt mich rasend – ich werde toll – / Sprich, Weib, was ich dir schenken soll?“ (II, V. 13–14).26 Der dritte Abschnitt leitet inhaltlich bereits zu Pomares Begräbnis (III) über, wenn der Prachtwagen, in dem sie sich durch die Stadt bewegt, als das Gefährt beschrieben wird, das sie auch in die Morgue fahren wird. Das Bild des Wagens, der die Menschen in den Tod fährt, taucht bei Heine häufiger auf, etwa auch in dem späten Gedicht Zur Teleologie aus dem lyrischen Nachlass: Klug ist alles kombinirt: Was dem Menschen dient zum Seichen Damit schafft er Seinesgleichen Auf demselben Dudelsack Spielt dasselbe Lumpenpak. Feine Pfote, derbe Patsche Fiddelt auf derselben Bratsche. Du[r]ch dieselben Dämpfe, Räder Springt und singt und gähnt ein jeder Und derselbe Omnibus Fährt uns nach dem Tartarus. (DHA 3.1, 403, V. 116–126)

Ebenfalls findet sich hier die Verbindung von Schönheit und Hässlichkeit, die sich in Pomare etwa durch Verse wie „Gestern noch fürs liebe Brod / Wälzte sie sich tief im 26

Für eine detaillierte Deutung s. Abschn. 2.1.5.

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3 Die zyklische Struktur des Romanzero

Kot“ (III, V. 1–2) ausdrückt, oder durch den Umstand, dass der Körper der schönen Pomare von einem Anatomen geschändet wird.27 Die zentralen Mittelteile drücken in absteigender Intensität Verallgemeinerbares aus, dabei jedoch gerade nichts, was der Etablierung, Strukturierung oder Sicherung einer Ordnung Vorschub leistet. Teil II und Teil III zeigen auf, wie Macht korrumpiert, wie jede Person, die Macht besitzt, diese einsetzt, um sich selbst über Andere zu erheben – und das meist zum Schaden der Anderen. Wer aber in den Besitz dieser Macht kommt, und wie sie sie einsetzt, ist oft genug vom Zufall abhängig. Es ist, genauso wie gesellschaftlicher und politischer Aufstieg und Fall, nicht sicher planbar, es enthält ein Moment der Willkür. In Teil II ist es Salome, die den einen Wunsch, dessen Erfüllung Herodes ihr zusichert, dazu benutzt, das Todesurteil über Johannes den Täufer zu sprechen. Teil III erzählt in der ersten Strophe von Pomare, die, gerade selbst der Armut entkommen, nun stolz und „[v]ornehm auf den Haufen“ (V. 7) blickt, „[d]erer, die zu Fuße laufen“. Dass es sich dabei um eine Kreislaufstruktur handelt, macht das Ende des letzten Abschnitts deutlich. Dort werden in der ironischen Rede von Gott, der sich barmherzig gegenüber Pomare zeigte – „Weil auch du so viel geliebt“ (IV, V. 36) –, wenigstens semantisch die Liebesgötter der allerersten Strophe aufgenommen, die Pomare noch freudig begrüßten: „Alle Liebesgötter jauchzen […] / Heil, der Königin Pomare!“ (I, V. 1 u. 4). Der Kreislauf des menschlichen Verfalls, der ohne Aussicht auf irdische oder jenseitige Gnade vom Jauchzen in den Tod führt, beginnt von Neuem. Mit einem etwas rätselhafteren Aufbau präsentiert sich die Historie Vitzliputzli, die ebenfalls in die drei Abschnitte gegliedert ist, denen allerdings noch das Präludium voransteht. In der Forschung herrscht keine endgültige Einigkeit darüber, ob das Präludium als Teil des Zyklus zu betrachten ist. Heine selbst spricht in einem Brief an seinen Verleger Campe vom 28. August 1851 vom „Vitzliputzli nebst seinem Präludium“28 , scheint so also den triadischen Teil vom Vorspiel abzusetzen. Mehrheitlich folgt die Forschung diesem Diktum, wenn sie das Präludium auch inhaltlich von den anderen Teilen absetzt, wie dies etwa Benno von Wiese tut, der das Vorspiel, im Gegensatz zu den Teilen I bis III als „spaßhaft, vergnügt ironisch“29 charakterisiert. Überhaupt wird das Präludium häufig mit den übrigen Teilen in Kontrast gesetzt, indem ihm ein utopischer Charakter zugeschrieben wird, der dem Rest 27

Das Bild dieser ‚Leichenwagen‘ entstammt Heines eigenem Erleben der Auswirkungen einer Cholera-Epidemie in Paris, worüber Artikel VI vom 19.4.1832 aus Französische Zustände Auskunft erteilt: „Wo man nur hinsah auf den Straßen, erblickte man Leichenzüge, oder, was noch melancholischer aussieht, Leichenwagen, denen Niemand folgte. Da die vorhandenen Leichenwagen nicht zureichten, mußte man allerley andere Fuhrwerke gebrauchen, die, mit schwarzem Tuch überzogen, abentheuerlich genug aussahen. Auch daran fehlte es zuletzt, und ich sah Särge in Fiackern fortbringen; man legte sie in die Mitte, so daß aus den offenen Seitenthüren die beiden Enden herausstanden. Widerwärtig war es anzuschauen, wenn die großen Möbelwagen, die man beim Ausziehen gebraucht, jetzt gleichsam als Todten-Omnibusse, als omnibus mortuis, herumfuhren, und sich in den verschiedenen Straßen die Särge aufladen ließen, und sie dutzendweise zur Ruhestätte brachten.“ (DHA 12.1, 141) 28 HSA 23, 116. 29 Von Wiese 1973, S. 141.

3.1 Die Struktur einzelner Gedichte

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des Gedichtes fehlt.30 Dagegen betont Robert Steegers, dass „das Präludium integral zum Vitzliputzli gehört und die Lektüre der folgenden drei Teile steuert“, was auch „durch die zahlreichen motivischen Verschränkungen und Verweise evident“ werde.31 Für diese Untersuchung vertrete ich einen Mittelweg, der das Präludium zwar als integralen Bestandteil des Vitzliputzli sieht, ohne den die letzte Romanze der Historien nicht verstanden werden kann, ihm aber dennoch den Charakter eines, im wörtlichen Sinne ‚Vor‘-Spiels gibt, der es erlaubt, die zyklische Struktur der drei Hauptteile des Vitzliputzli als solche bestehen zu lassen. Denn zunächst einmal wird die Neue Welt offensichtlich euphorisch mit der Alten Welt kontrastiert: Dieses ist Amerika! Dieses ist die neue Welt! Nicht die heutige, die schon Europäisiret abwelkt – (DHA 3.1, 56, V. 1–4)

Wie bereits ausgeführt32 , lässt sich die Neue Welt ausschließlich in den Worten und Begriffen der Alten Welt beschreiben. Letztendlich handelt es sich dabei um nichts anderes als eine Kreisstruktur, die ihrem Ursprung nach mythisch geprägt ist und das gesamte Gedicht durchzieht: Die Wahrnehmung des Neuen gerät zwangsläufig zur homogenisierenden Unterwerfung unter das Alte. Anders, nämlich kulturhistorisch gesagt: Die koloniale und ethnographische Erschließung des Globus führt kreisförmig an den Ausgangspunkt zurück. Schon hier zeichnet sich der Kreis als Grundstruktur des Gedichtes ab, als Bild des Verlaufs jener für die Globalisierung paradigmatischen Geschichte, die im Folgenden nacherzählt wird. Und schon hier zeigt sich die bildkritische, zugleich aber auch mythisierend-affirmative Dynamik dieser Figur.33

Die eigentliche Handlung setzt dann erst in Vitzliputzli I ein. Im Gegensatz zu den zuvor besprochenen Zyklen gruppieren sich hier keine Rahmenabschnitte um einen zentralen Mittelteil. Stattdessen lässt sich nach dem Präludium bereits eine Steigerung der Handlung vom rein Weltlichen ins Mythische beobachten. Vitzliputzli I berichtet von dem Verrat der Spanier an den Azteken und der darauf folgenden Schlacht, aus der die Azteken siegreich hergehen: Hundert sechzig Spanier fanden 30

Zu nennen wären hier etwa Hartmut Steinecke, der im Präludium eine Bejahung des Lebens sieht, die selbst durch die Akte der Grausamkeit und Gewalt im Vitzliputzli nicht ausgelöscht zu werden vermag (vgl. Steinecke 1991, S. 154) oder Siegbert S. Prawer, der im Präludium einen misslungenen Fluchtversuch sieht, einen „thwarted attempt which ends in the inferno of Vitzliputzli, with its senseless alternation of murder and revenge“ (Prawer 1961, S. 204). Roger F. Cook schließlich sieht in den Momenten des ersten Kontakts mit der Neuen Welt gar das Potential „to revive and liberate the human senses.“ (Cook 1998, S. 214) Eine Hoffnung, die sich schon bald als vergeblich herausstellen soll. 31 Steegers 2006, S. 23. 32 Vgl. Abschn. 2.1.6. 33 Winkler 2016, S. 209.

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3 Die zyklische Struktur des Romanzero

Ihren Tod an jenem Tage; Ueber achtzig fielen lebend In die Hände der Indianer. (I, 205–208)

Zwar wird die Schlacht in poetisch aufgeladenen und überhöhten Bildern geschildert, insgesamt aber lässt sich nachweisen, dass Heine sehr eng entlang der ihm zu Verfügung stehenden Quellen gearbeitet hat.34 Dies ändert sich allmählich, wenn in Vitzliputzli II vom Schicksal der 80 Spanier berichtet wird, die als kannibalisches Menschenopfer dem Gott Vitzliputzli zugeführt werden: Heute werden dir geschlachtet Achtzig Spanier, stolze Braten Für die Tafel deiner Priester, Die sich an dem Fleisch erquicken. (II, 105–108)

Für sich allein genommen wäre das eine zwar poetische, aber doch in der historischen Realität verankerte, Beschreibung aztekischer Menschenopfer, wenn nun nicht die mythische Figur des Kriegsgottes Vitzliputzli selbst auf den Plan treten würde, wodurch das Gedicht ein dezidiert fantastisches Moment erhält: Dort auf seinem Thron-Altar Sitzt der große Vitzliputzli, Mexikos blutdürst’ger Kriegsgott. Ist ein böses Ungethüm […] (II, 29–32)

Vitzliputzli nimmt jedoch in Teil II keine Rolle als handelndes Subjekt ein, seine gesamte Tätigkeit beschränkt sich auf die zwei Verse „Zwinkert mit den Augenwimpern / Und bewegen sogar die Lippen.“ (V. 55–56). Dabei bleibt unklar, was, oder ob überhaupt, er etwas sagt. Ansonsten ist er ausschließlich Objekt, dem zu Ehren die Spanier geopfert werden, und zwar „[f]ür die Tafel [s]einer Priester, / Die sich an dem Fleisch erquicken.“ (V. 107–108) Dies ändert sich im fulminanten dritten Abschnitt, auf den das gesamte Gedicht hinarbeitet. Die Bitte des Priesters, den Azteken den Sieg über die Spanier zu schenken, beantwortet Vitzliputzli mit einer eruptiven Rede, die die Vergeblichkeit dieses Wunsches deutlich macht. Das Schicksal der Azteken ist besiegelt, daran kann auch der Gott nichts ändern. Schließlich beendet der Aztekengott die Historien mit einem Fluch, der ihn selbst bis nach Europa tragen wird, um an der Alten Welt Rache zu nehmen, indem er sich ‚verteufelt‘, d. h. zu einer bösen, zersetzenden Macht innerhalb des europäischen Pantheons bzw. christlichen Glaubenssystems wird. Ich verteufle mich, der Gott Wird jetzund ein Gott-sey-bey-uns; Als der Feinde böser Feind, Kann ich dorten wirken, schaffen. (III, 133–136) […]

34

Vgl. DHA 3.2, 713.

3.1 Die Struktur einzelner Gedichte

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Mein geliebtes Mexiko, Nimmermehr kann ich es retten, Aber rächen will ich furchtbar Mein geliebtes Mexiko. (III, 153–156)

Vitzliputzli kann so als „eine Art negativer Mythos“35 gelesen werden, in dem sich das Böse verdoppelt. Hat der Mythos eigentlich die Funktion, das Böse zumindest narrativ in seine Schranken zu weisen, so müssen die Adressaten von Vitzliputzli, die Europäer, sich nun vor einem rachsüchtigen Gott mehr fürchten. Die Etablierung der Struktur im mythischen Erzählen sorgt so also für eine Stärkung des Schlechten, mithin für das Gegenteil dessen, was sie eigentlich will. Bemerkenswert ist im Besonderen die Struktur des Erzählens, die mythisch geprägt ist. Wenn Vitzliputzli am Ende selbst den Bogen nach Europa, und damit auch zurück zum Präludium, schlägt, dann hat man es mit einer Kreisstruktur zu tun, deren kreisförmiges Moment etwas Diabolisches besitzt: Diese mythisierende Prophezeiung schlägt die Brücke zur Erzählgegenwart: Das Lesepublikum soll einsehen, dass sich der von Europa eröffnete Teufelskreis in Europa fortgesetzt hat. […] Wie schon im Präludium stellt sich also auch am Ende der Romanze das Bild des Teufelskreises ein. Dieses hat hier aber eine mythisierende Tendenz […].36

Die kreisförmige Struktur des mythischen Erzählens, die eigentlich Ordnung in einer Welt schaffen soll, die sich dem Menschen als chaotisch darbietet, bewirkt hier das genaue Gegenteil, sie verstärkt das Chaos: Es gibt nun einen Teufel mehr, der im alten Europa Leid und Unordnung stiftet. Und noch eine weitere Eigenschaft des mythischen Denkens wird ins Negative überführt. Die Inkorporation neuer Gottheiten in bereits bestehende Systeme war immer eine Eigenschaft des mythischen Denkens. Dies erlaubte ihm, konstruktiv mit Neuem umzugehen. Es gelang ihm durch diese Art der Aneignung, die Angst vor dem Fremden zu nehmen. Dieser Gedanke wird in Vitzliputzli in sein Gegenteil verkehrt, wenn das Fremde gerade durch seine Inkorporation Angst und Schrecken verbreitet. Durch das Lévi-Strauss’sche Blätterdach der mythischen Struktur blitzt die Fratze Vitzliputzlis. Eine ähnliche Struktur, nämlich die Unterteilung in vier Abschnitte – die in diesem Fall allerdings tatsächlich mit I–IV bezeichnet werden –, ist dem zentralen Gedicht der Hebräischen Melodien, Jehuda ben Halevy, zu eigen. Die vier Teile sind vor allem durch das Motiv des sterbenden und misshandelten Dichters miteinander verbunden, wie Joachim Bark feststellt: „Vom Sterben eines Dichters handelt das Gedicht gleich zweimal, von der Mißhandlung des Dichters dreimal.“37 Ein die vier Teile verbindendes Element ist der schuldlose und zufällige Tod von Dichtern, mit dem jeder Abschnitt endet. Jehuda I hat dabei Expositionscharakter, 35

Von Wiese 1973, S. 139. Winkler 2016, S. 216. 37 Bark 1986, S. 100. Vgl. auch Höhn 2004, S. 148: „Jehuda wurde auf der Wallfahrt nach Jerusalem getötet; Salomon (ibn) Gabirol wurde in Corduba ermordet und Moses Iben Esra mußte als Sklave Kühe melken. Allen ist gemein, daß sie mehr Fremdlinge auf dieser Welt sind und einer anderen angehören“. 36

160

3 Die zyklische Struktur des Romanzero

wenn die titelgebende Hauptfigur Jehuda ben Halevy vorgestellt wird, wie sie „über das Studium des Talmuds, des Buchs der Gesetze und der Tradition, zur Poesie am Vorbild der Hagada“38 gelangt. Wird hier auch der Tod des Jehuda noch nicht direkt beschrieben, so verweist dies dennoch auf das prekäre Verhältnis zwischen Volk und Dichter bzw. zwischen Volk und Genie, das den Tod bereits vorwegnimmt: Solchen Dichter von der Gnade Gottes nennen wir Genie: Unverantwortlicher König Des Gedankenreiches ist er. Nur dem Gotte steht er Rede, Nicht dem Volke – In der Kunst, Wie im Leben kann das Volk Tödten uns, doch niemals richten. – (DHA 3.1, 135, V. 173–180)

Das Volk zeichnet sich durch rohe Kraft aus, es verkennt das Geniehafte; was es gleichwohl nicht davon abhält, Hand an das Genie zu legen. Der Freiheit des Dichters, der „[u]verantwortlicher König / Des Gedankenreiches ist“, sind da Grenzen gesetzt, wo rohe Kräfte walten. Alle anderen Teilabschnitte enden mit Tod des Dichters. Jehuda II berichtet, wie „[a]uch Jehuda ben Halevy / Starb zu Füßen seiner Liebsten, / Auf den Knien Jerusalems“. (III, V. 185–186 und 188) Dessen Tod wird im dritten Teil erneut behandelt, nun ausführlicher geschildert, wenn „ein frecher Sarazene“ (III, V. 205) einen Speer „[i]n die Brust des armen Sängers“ (V. 209) stößt. Im vierten Abschnitt nimmt das Morden dann regelrecht Überhand. Zwar ist auch der Träger des ‚Speers des Pinhas‘39 , von dem das Gedicht spricht, bereits tot, was jedoch nicht verhindert, dass der Speer noch immer seine Ziele trifft: Und die besten Herzen trifft er – Wie Jehuda ben Halevy, Traf er Moses Iben Esra Und er traf auch den Gabirol – (IV, V. 221–224)

Noch einmal wird der Tod des Jehuda ben Halevy erwähnt, zusammen mit dem zweier anderer jüdischer Dichter des Mittelalters. Immerhin wird der Mord an Gabirol gerächt, dies aber führt wiederum dazu, dass das Gedicht schließlich mit einem weiteren gewaltsamen Tod endet, der Hinrichtung seines Mörders: „An demselben Tage henkte / Man den Mohren zu Corduba.“ (IV, V. 283–284). 38

Bark 1986, S. 99. Vgl. zur biblischen Geschichte um Pinchas und seinen Speer Schubert 2003, S. 16: „Als der Priester Pinchas sah, wie der Israelit Zimri mit der Midianiterin Kozbi in aller Öffentlichkeit in ein Zelt ging, um dort mit ihr sexuellen Umgang zu haben, folgte er ihnen in das Zelt und durchbohrte sie gemeinsam an den Geschlechtsteilen. […] In der späteren rabbinischen Tradition wurde diese Episode noch weiter ausgeschmückt. […] Demnach bluteten sie nicht, solange sie am Speer hochgehalten wurden, und starben auch nicht, damit der Priester weder durch Blut noch durch die Leichenunreinheit kultisch untauglich wurde.“

39

3.2 Der Lazarus-Zyklus. Ein Zyklus im Zyklus

161

Der Charakter der Geschlossenheit, den die zyklische Form und die Schlusspointe suggerieren, wird in Jehuda ben Halevy auf einer inhaltlichen Ebene konterkariert. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt, in der der Speer das Pinchas noch immer „[u]eber unsre Häupter schwirr[t]“ (IV, V. 220), bleibt prekär. „[D]er Begriff der Synthese“, wie ihn die Struktur des Gedichts nahelegen mag, ist, „für dieses dynamische und fragile Verhältnis im Grunde unbrauchbar, weil er die Vorstellung einer Lösung des Problems suggeriert“.40 Im Gegenteil verdeutlicht Jehuda ben Halevy, gerade „[i]n der unbegrenzten Möglichkeit, weitere Erzählungen vom unschuldigzufälligen Sterben“41 aufzuzeigen, den Kontingenzcharakter der Welt. Die einzige Ordnung, die konstruiert wird, ist die des zufälligen und nicht nachvollziehbaren Sterbens Unschuldiger. Eine Strukturierung der Welt also, die keinen Halt gibt, die nicht tröstet. Der Poet mag das letzte Wort haben, dieses letzte Wort aber handelt von Tod und Sterben, weshalb es mir fraglich scheint, von „heitere[r] Zwecklosigkeit“ zu sprechen.42 Zwecklos ist die Dichtung in diesem Sinne schon, aber heiter nur an ihrer Oberfläche, im Kern herrscht ein düsterer Ton vor, sie berichtet nurmehr vom Sterben. Ähnlich ungewiss ist, ob sich „der negative Blick auf die große Geschichte, den die Historien tun“, aufhellt „im Preisen und Nachvollzug einer Poesie, die aus Leiden am Exil entstanden ist und Geschichte wie Geschichten überdauert“. Bereits Der Mohrenkönig hat im ersten Buch des Romanzero die Dauerhaftigkeit von Dichtung in Zweifel gezogen. Vor allem aber ruft sie ein Thema immer wieder ins Gedächtnis: den sinnlosen Tod und die Machtlosigkeit des Einzelnen.43

3.2 Der Lazarus-Zyklus. Ein Zyklus im Zyklus Auf die Sonderstellung des Lazarus-Zyklus wurde schon in Abschn. 2.2.2 eingegangen. Bereits der Form nach fällt der Lazarus aus dem Rahmen, insofern zum einzigen Mal im Romanzero ein Binnenzyklus nicht innerhalb eines einzelnen Gedichtes verwirklicht ist, sondern mehrere eigenständige Gedichte umfasst. Dabei lässt sich auch hier eine Tendenz vom Allgemeinen zum Besonderen verfolgen, die die große Linie des gesamten Buchs noch einmal abbildet: vom programmatischen Weltlauf im Zusammenhang mit Rückschau und von Auferstehung zu Gedichten, die Heines private Situation zum ausschließlichen Thema haben.44

40

Steinecke 2000, S. 135. Bark 1986, S. 102. 42 Bark 1986, S. 102. 43 Zudem hat bereits Der Mohrenkönig gezeigt, dass auch die Dauerhaftigkeit von Dichtung als solcher durchaus fraglich ist. 44 Bark 1988, S. 254. 41

162

3 Die zyklische Struktur des Romanzero

Im besonderen Maße gilt für den Lazarus, was Helmut Koopmann für das gesamte zweite Buch konstatiert, nämlich dass sich in ihm ein „neues dichterisches Selbstverständnis“ zeigt, das „eine endgültige Absage an die Romantik und das schmerzliche Programm einer neuen, desillusionistischen Lyrik“ enthält.45 Auf den Doppelcharakter der Lazarus-Dichtungen, die einerseits als Einzelgedichte mit je eigenem Titel wahrgenommen werden wollen und können, andererseits jedoch Teile eines größeren Zusammenhanges sind und als solche in ihrer kumulierten Singularität mehr sind als die bloße Summe ihrer Einzelteile, weist auch Helmut Brandt hin: Die Lazarusgedichte des Romanzero beanspruchen […] durch ihre je eigenen und obendrein gewichtigen Titel, trotz ihrer Nummerierung, auch als einzelne Gebilde wahrgenommen zu werden. Sie sind, das ist ausdrücklich hervorzuheben, als Einzelgedichte autonom, und ihre Aufnahme beim Publikum, ja, sogar in der wissenschaftlichen Kritik hat sich, wie ihre Wirkungsgeschichte zeigt, losgelöst und unabhängig von der Stellung im Zyklus vollzogen.46

Dabei konzediert er sogleich, dass die „Zusammenstellung und die genau bedachte Anordnung“ der einzelnen Gedichte „von erheblicher Bedeutung“ ist.47 Diese geht allerdings über die „gedankliche Wegweisung“48 des Eröffnungs- und Schlussgedichts hinaus. Dieser Umstand trägt maßgeblich zum Verständnis des Lazarus-Zyklus bei. Wenn die einzelnen Gedichte des Lazarus autonome Entitäten sind, die über eine je eigene und einmalige Bedeutsamkeit verfügen, dabei aber zugleich durch ihre bewusste Anordnung in einer gemeinsamen Struktur im Kollektiv über ihre singuläre Relevanz hinaus ein Surplus an Bedeutung erhalten bzw. erzeugen, dann spiegelt sich in dieser Struktur das Verhältnis des Menschen zur Welt. Der Mensch tritt als autonom handelndes Subjekt auf, ist jedoch aufgrund seiner Wesensveranlagung als zoon politikon49 eingebunden in eine soziale und politische Umwelt, die es ihm überhaupt erst erlaubt, sein ganzes ihm innewohnendes Potenzial zu entfalten. In diesem Zusammenhang ist dann natürlich die sich im Lazarus abzeichnende Tendenz der Einzelgedichte wiederum von Bedeutung. Von der allgemeinen Standortbestimmung des Menschen in der Welt des Eröffnungsgedichts Weltlauf, das den materiell Armen gar das Recht zu leben abspricht, zeichnet sich bald eine nicht zu übersehende Tendenz zu subjektiven Erlebnissen und Schicksalen ab, die nicht selten in direkten Bezug zu Heines persönlicher Situation gesetzt werden können.50 So listet etwa das vorletzte Lazarus-Gedicht unter dem Titel Vermächtniß mit großer Liebe zum Detail den Nachlass auf, mit dem der Dichter seine Feinde beschenkt und der sich als rechte Heimsuchung herausstellt: 45

Koopmann 1978, S. 65. Brandt 1995, S. 231. 47 Brandt 1995, S. 231. 48 Brandt 1995, S. 231. 49 Aristoteles: Politik, 1253a1-11. 50 Dabei bleibt anzumerken, dass dies nicht der Verallgemeinerungsmöglichkeit jedes einzelnen Gedichtes widerspricht. 46

3.2 Der Lazarus-Zyklus. Ein Zyklus im Zyklus

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Diese würd’gen, tugendfesten Widersacher sollen erben All mein Siechthum und Verderben, Meine sämmtlichen Gebresten. Ich vermach’ Euch die Coliken, Die den Bauch wie Zangen zwicken, Harnbeschwerden, die perfiden Preußischen Hämorrhoiden. Meine Krämpfe sollt Ihr haben, Speichelfluß und Gliederzucken, Knochendarre in dem Rucken, Lauter schöne Gottesgaben. Codizill zu dem Vermächtniß: In Vergessenheit versenken Soll der Herr Eu’r Angedenken, Er vertilge Eu’r Gedächtniß. (DHA 3.1, 121, V. 4–20)

Dass diese „Gebresten“ nicht bloß der dichterischen Fantasie entsprungen sind, sondern sie in der ganz konkreten Lebenswirklichkeit Heines ihren Ursprung haben, zeigt ein Brief von Heines Mutter vom 11. November 1851 mit Bezug auf Vermächtniß: Deine gedichte habe ich mit vielem vergnügen gelesen, daß Testament hätte ich weg gewunschen, den einestheil hat es mich traurig gestimt. weil ich daraus Deine viele leiden ersehen habe, andertheils ist es bischen viel boßhaft, obgleich ich weis daß Du es nicht so schlim meinst, übrigens lieber Harry bitte ich Dich stränge Dein Kopf nicht so sehr an, daß taugt nichts […].51

Im letzten Lazarus-Gedicht, Enfant perdü, auf das der ganze Binnenzyklus hinarbeitet, wird diese Tendenz zur Subjektivierung dagegen aufs Nachdrücklichste relativiert.52 Die Klage des sterbenden Freiheitskämpfers ist zugleich die allgemeingültige Anklage einer Welt, die den Menschen gnadenlos um das Wertvollste bringt, das er besitzt – „mein Herze brach“ (DHA 3.1, 122, V. 24) – und zugleich den Tod auf Dauer stellt: „Die Wunden klaffen – / Der Eine fällt, die Andern rücken nach –“ (V. 21–22). Es fällt schwer, an dieser Stelle von Sinnstiftung zu sprechen,53 wenn das einzige erkennbare Sinnangebot in einer Fortführung des Kampfes besteht, bei der jedoch nie auch nur die Hoffnung in Aussicht gestellt wird, dass es zu einem Sieg kommen würde; gewiss ist hier nur der Tod.54 51

HSA 26, S. 350. Für eine ausführliche Deutung s. Abschn. 2.2.2. 53 Vgl. zur Sinnstiftung Berbig 1992, S. 68. 54 Und zwar der Tod des guten Menschen durch den schlechten. 52

164

3 Die zyklische Struktur des Romanzero

Auch der Lazarus-Zyklus strukturiert durch seine zyklische Anordnung das menschliche Leben auf formaler Ebene, indem er jedem einzelnen seiner Teile eine eigenständige Bedeutung zukommen lässt, die in ihrer Gesamtheit jedoch über die Summe der Einzelteile hinausweist. Er erzählt vom Menschentum in all seinen Facetten. Inhaltlich allerdings, auf einer Bedeutungsebene, negiert er jeden Sinn. Jedes der Lazarus-Gedichte erzählt von Einsamkeit, Tod und von der Vergeblichkeit des menschlichen Lebens und Strebens. So benutzt Lazarus genau die zyklische Struktur des mythischen Erzählens, die dem Menschen eigentlich Halt und Sinn in einer chaotischen Welt geben soll, zur Darstellung der Potenzierung der Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins.

3.3 Die Makrostruktur des Romanzero Das auffälligste zyklische Moment des Romanzero ist ohne Zweifel seine triadische Unterteilung in die drei Bücher Historien, Lamentazionen und Hebräische Melodien. Theoretische Überlegungen zur Triade finden sich bereits in der Antike, wenn Aristoteles von der Lehre der Pythagoreer behauptet, in ihr würde durch die Dreizahl schlechterdings ‚Alles‘ definiert: „Ende, Mitte und Anfang bilden die Zahl des Alls, nämlich die der Triade.“55 Die Dreizahl steht hier also für etwas Abgeschlossenes, das keiner Erläuterung mehr bedarf, das für sich allein stehen kann und aus sich heraus Sinn ergibt. Auch eine Verbindung zum Mythisch-Kultischen ist bereits angelegt: „Deshalb haben wir diese Zahl der Natur entnommen, als ob sie eines von deren Gesetzen wäre, und bedienen uns ihrer bei der kultischen Verehrung der Götter.“56 Überhaupt lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Zahl drei und dem Mythischen feststellen. So treten quer durch alle Mythologien eine Vielzahl mythischer Figuren als Trias auf, beispielsweise die Horen, Moiren oder Parzen. Auch von den Musen existierten ursprünglich nicht neun, sondern bloß drei, und schließlich sind die neun Musen Hesiods nichts weiter eine als eine Verdreifachung ihrer Originale.57 Im griechischen und römischen Kult strukturierte darüber hinaus die Dreizahl, durch die dreimalige Wiederholung eines sakralen Aktes, besonders wichtige kultisch-sakrale Praktiken.58 Insofern stellt auch die Dreifaltigkeitslehre des Christentums eine Übernahme mythischer Denkstrukturen dar.59 Inhaltlich beschreibt der Romanzero einen „Zustand der totalen Unartikuliertheit, in dem man in jedem Augenblick mit allem möglichen zu rechnen“ hat, was Manfred Frank als wesentliche Eigenschaft des Chaos definiert: den „unerträglichste[n] aller

55

Aristoteles: De Caelo, 268a10-13. Aristoteles: De Caelo, 268a13-15. 57 Vgl. Mehrlein 1959, S. 272–275. 58 Mehrlein 1959, S. 282–288. 59 Die Übernahme verschütteter mythischer Inhalte durch das Christentum wurde auch schon in Vitzliputzli verarbeitet (s. Abschn. 2.1.6). 56

3.3 Die Makrostruktur des Romanzero

165

Gedanken“.60 Gerade hiergegen will das mythische Denken ja auch durch das Mittel des zyklischen Erzählens strukturierte Gesamtheiten in Stellung bringen, die dem Menschen Halt in einer unstrukturierten Welt geben. Denn wenn auch „einerseits das Sterbliche seinen irreversiblen Gang“ geht, wird ihm so andererseits „in mythischer Sicht“ ein „eigentümliche[r] Rhythmus und [ein eigentümliches] Tempo“ verliehen.61 Diese spiralförmige Struktur62 des mythischen Denkens findet sich ebenso in der Makrostruktur des Romanzero wieder. Ähnlich wie der Binnenzyklus der Lazarus-Gedichte handeln die Historien von allgemeinen Begebenheiten menschlichen Lebens, sie nehmen das große Ganze der Weltgeschichte(n) in den Blick. In den Lamentazionen hingegen kommt das Besondere, das Subjekt, zu seinem Recht, bleibt dabei aber doch stets verallgemeinerungsfähig. In den Hebräischen Melodien, wo nun eine Art der Synthese vermutet werden könnte, in der Allgemeines und Besonderes ineinanderfallen, findet zwar ein vordergründiger Rekurs aufs Religiöse statt, allerdings gerade ohne Heilscharakter. Der Streit um den wahren Gott der Disputazion endet mit einem Ausdruck des Ekels.63 Wo die Form also Struktur schafft, reißt der Inhalt, reißt die Bedeutung diese unablässig wieder ein. Sinngebung durch Struktur wird so verhindert. Die Welt stellt sich in jeder einzelnen Romanze als eine dar, in der „[n]icht Vernunft herrscht […], sondern Verfall, nicht Glück, sondern Leiden“64 . Unglück und Leid kann den Menschen jederzeit ohne Vorwarnung treffen. Die zyklische Struktur des Romanzero verstärkt diesen Prozess noch, sie verlagert ihn ins Ewige, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die Weltgeschichte nimmt die Form eines anfangs- und endlosen Kreislaufs der Willkür an, was in gewissem Sinne Struktur etabliert. Diese Struktur ist dem Menschen jedoch keine Stütze. Denn ihre Ziellosigkeit bannt nicht die Unartikuliertheit des Chaos, sie stellt das Chaos auf Dauer. Gewissheit schafft sie damit nur insofern, als der Mensch sich des Leids sicher sein kann. Wann und in welchem Maße ihn dieses Leid ereilt, ist dabei individuell und zufallsabhängig. So bleibt die Erzählstruktur des Romanzero zwar mythisch, für das Individuum bedeutet dies allerdings, der Vereinzelung und in dieser Vereinzelung willkürlichen Mächten ausgeliefert zu sein. Die so gewonnene strukturelle Sicherheit sorgt für individuelle Kontingenzerfahrungen.

60

Frank 1982, S. 87. Hübner 1994, S. 135. 62 Vgl. Lévi-Strauss 1967, S. 253. 63 Vgl. Abschn. 2.3.3. 64 Höhn 2004, S. 140. 61

Kapitel 4

Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

Doch durch jahrelangen Umgang Mit den Todten, nahm ich an Der Verstorbenen Manieren Und geheime Seltsamkeiten. (Vitzliputzli, DHA 3.1, 58, V. 65–68)

Mit der zyklischen Struktur des mythischen Denkens eng verbunden ist die Transzendenz nicht nur der Zeit, die sich bereits in gewisser Weise im zyklischen Denken ausdrückt, sondern auch die des Raumes. Da das mythische Erzählen nicht, wie etwa das historische, an eine lineare Zeitstruktur gebunden ist, kann es sowohl Zeit als auch Raum transzendieren. Dadurch schafft es mythische Räume, die sich vornehmlich durch ihren Sinngehalt, nicht über ihre geometrische oder temporale Ordnung konstituieren. In ihnen ist deshalb „[j]eder Ort und jede Richtung […] mit einer bestimmten mythischen Qualität behaftet und mit ihr gewissermaßen geladen“.1 Das Neben- und Übereinander unterschiedlichster Zeiten und Räume spielt auch in der Struktur des Romanzero eine maßgebliche Rolle. Allein die Historien etwa, eine kleine Weltgeschichte, durchmessen einen Zeitraum, der vom alten Ägypten über das mittelalterliche Persien bis zu Mexiko an der Schwelle der Neuzeit reicht bzw. von dem neuzeitlichen England und Frankreich bis zum gegenwärtigen Paris, wobei Indien, Arabien, Palästina, Spanien und mehrmals das Rheinland eingeblendet werden […].2

Dieses unterschiedslose Durchlaufen von Zeiten und Räumen beschränkt sich indes nicht auf die Historien, wenn es auch dort vielleicht am deutlichsten durchgeführt wird. Es kommt ebenso in den Lamentazionen (z. B. Spanische Atriden oder Im Oktober 1849) und den Hebräischen Melodien (v. a. in Jehuda ben Halevy) vor. Insofern eröffnet der Romanzero mythische Räume, die nicht in der realen Welt zu verorten sind, dessen ungeachtet aber durch ihre dem mythischen Denken entlehnte Struktur ein Angebot zur Sinnstiftung machen. Denn das mythische Denken verleiht dem menschlichen Leben durch die Transzendenz von Raum und Zeit eine überzeitliche, transzendente Ordnung. Indem der mythisch denkende Mensch etwa aus der linearen 1 2

Hübner 2001, S. 107. Höhn 2004, S. 141.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Ritzen, Heinrich Heines „Romanzero“, Heine-Studien, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66641-8_4

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4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

Abfolge historischer Ereignisse ausbricht, setzt er sich selbst in eine Abfolge von Notwendigkeiten und nicht von Zufälligkeiten. So vergewissert er sich einerseits seiner Herkunft, indem das „mythische Bewußtsein Handlungen“ wiederholt, „die in der Urzeit stattgefunden haben“3 . Er macht also auf diese Weise, wie das Denken in zyklischen Strukturen, das „Unvertraute vertraut“4 . Andererseits versichert der Mensch sich zugleich seiner Zukunft, denn in der Struktur des Mythos sind die unterschiedlichsten Zeiten und Räume sichtbar.5 Durch das Ordnen von Raum und Zeit festigt er so seine eigene Stellung in der Welt. Im Folgenden soll an exemplarischen Beispielen und Motiven untersucht werden, wie Heine im Romanzero mit Raum und Zeit umgeht und welchen Sinn die sich dadurch ergebenden Strukturen der Welt verleihen und welche Sicherheit sie dem Menschen geben.

4.1 Raum-zeitliches Neben-, Über- und Durcheinander in einzelnen Gedichten Schon das Eröffnungsgedicht der Historien veranschaulicht Heines spielerischen Umgang mit Raum und Zeit. Rhampsenit handelt vom ägyptischen König Rhampsinitos, einer bereits bei Herodot sagenhaften Figur6 , und eröffnet damit direkt zu Beginn einen mythischen, überzeitlichen Diskurs, der von zahlreichen Anachronismen durchsetzt ist. Diese tun der Wirkung des Gedichts jedoch keinen Abbruch, vielmehr unterstreichen sie dessen mythischen Charakter. So sind etwa Eunuchen (vgl. DHA 3.1, 12, V. 5–6: „Auch die Schwarzen, die Eunuchen / Stimmten lachend ein […]“) in Altägypten nicht belegt7 , auch war Memphis (vgl. V. 29: „An demselben Tag ganz Memphis“) zu der im Gedicht angegebenen Datierung schon lange nicht mehr Hauptstadt Ägyptens8 . Die Datumsangabe selbst sprengt vollends sämtliche Konventionen zeitlich-linearen Erzählens. Als sie Trommelschlag vernahmen Und sie hörten an dem Ufer Folgendes Reskript verlesen Von dem Kanzeley-Ausrufer: (V. 33–36) […] In der Nacht vom dritten zu dem Vierten Junius des Jahres Dreyzehnhundert vier und zwanzig 3

Winkler 1995, S. 19. White 1986, S. 106. 5 Vgl. Lévi-Strauss 1967, S. 253. 6 Vgl. Abschn. 2.1.1. 7 Vgl. DHA 3.2, 562. 8 Memphis war nur bis Ende des 3. Jahrtausends Hauptstadt des ägyptischen Reiches. 4

4.1 Raum-zeitliches Neben-, Über- und Durcheinander …

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Vor Christi Geburt, […] (V. 41–44) So geschehn den dritten Jenner Dreyzehnhundert zwanzig sechs Vor Christi Geburt. – Signiret Von Uns: Rhampsenitus Rex. (V. 65–68)

Das Datum ergibt aus mehreren Gründen keinen Sinn. Zunächst war, wie bereits erwähnt, Memphis zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr Hauptstadt des altägyptischen Reiches. Überhaupt ist weder für das Jahr 1324 vor Christus noch für das Jahr 1326 vor Christus irgendein Ereignis von historischem Belang überliefert, geschweige denn für die in diesem Zusammenhang absurd akkurate Datierung auf den Tag genau: Beide Daten verweisen also auf eine historische Leerstelle. Darüber hinaus wird die zeitliche Verortung ja nicht etwa bloß durch den Erzähler, der aus der Gegenwart die Sage vom Rhampsenit berichtet, vorgenommen. Stattdessen ist es der königliche Ausrufer, der in Figurenrede eine Datierung vornimmt, die keinen Sinn ergibt. Denn er benutzt den julianischen Kalender, dessen konstituierendes Ereignis, die Geburt Jesu Christi, erst über eintausend Jahre später stattfinden wird. Um die Absurdität der genauen Datierung zu komplettieren, ist sie noch in der Binnenerzählung unlogisch: Der Zeitpunkt des Ausrufens der Botschaft (4. Januar 1326 vor Christus) liegt vor der Tat, auf die sich der königliche Aufruf bezieht (4. Juni 1324 vor Christus). So zeigt schon das Eröffnungsgedicht der Historien (!) an, was der Erzähler des Romanzero von einer räumlichen Verortung und zeitlichen Datierung von Ereignissen hält und wie er damit umgeht. Es kommt ihm nicht maßgeblich darauf an, wann und wo sich einschneidende menschliche Handlungen und Erlebnisse abgespielt haben, es geht ihm allein darum aufzuzeigen, wie sich das menschliche Schicksal im Allgemeinen vollzieht. Rhampsenit versagt sich einer drei- oder vierdimensionalen Erfassung, es ist überhaupt nur in einem mythischen Raum fassbar. Und die Notwendigkeit, die sich in ihm ausdrückt, ist keine, die für den Romanzero oder den Menschen Gutes hoffen lässt: es ist die Etablierung der Herrschaft von Gewalt und Willkür. Ein ähnliches Vexierspiel mit Daten treibt Heine in der Lamentazion Spanische Atriden. Zunächst verbindet bereits der Titel Spanien mit dem Tantalos-Mythos. Die Eröffnungsstrophe spielt dann unmittelbar mit der zeitlichen Einordnung: Am Hubertustag des Jahres Dreyzehnhundert drey und achtzig, Gab der König uns ein Gastmahl Zu Segovia im Schlosse. (DHA 3.1, 84, V. 1–4)

Die Datierung auf das Jahr 1383 kann nicht stimmen, denn Heinrich II. von Trastámare, an dessen Hof die Romanze spielt9 , starb bereits am 29. Mai 1379. Auch wenn 9

Vgl. V. 105–108: An dem obern Tafelende, / Dort, wo heute Don Henrico / Fröhlich bechert mit der Blume / Castilian’scher Ritterschaft – Beachtenswert ist auch hier wieder das Motiv der Blume

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4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

sich letztendlich nicht klären lässt, „[o]b dies versehentlich geschah oder Heine bewußt falsch datierte“10 , will der Text beim Wort genommen werden. Zunächst einmal hat man es also mit einem simplen Anachronismus zu tun, wie Helmut Landwehr herausstellt, zumindest einige der zentralen Figuren des Gedichts sind zum angegebenen Erzählzeitpunkt bereits tot, sie geistern nur mehr als Gespenster durch die Romanze: Spanische Atriden präsentiert durch die Zeitangabe am Anfang […] alle nachfolgend auftretenden Personen als Gespenster. Albuquerque, der in der Rahmenhandlung die „blutgen Hofgeschichten“ erzählt, ist als historische Person ebenso schon tot wie Don Henrico Trastamare, der zu dem Festmahl geladen hat und der die Kinder seines Gegenparts Don Pedro wie Hunde im Stall misshandeln lässt, bis er ihre Zucht in die eigenen Hände zu nehmen gedenkt. Freilich sieht das nur ein Leser so, der die Angaben im Text wörtlich nimmt und sie nicht als Irrtum Heines übergeht. „Spanisch“ sind diese Atriden nicht nur, weil der Stoff den Schauplatz in Spanien hat und weil die Form der Romanze, in die er gegossen ist, so bezeichnet wird, sondern auch weil sie wie „manch luftges Schloß“ […] Dichtung sind.11

Das Versetzen der erzählten Handlung in eine Zeit, zu der sie gar nicht stattgefunden haben kann, ist kein Versehen und dient ebenso wenig als bloße Fingerübung in einem fantastischen Spiel mit Jahreszahlen. Stattdessen wird durch die Verwendung einer kontrahistorischen Datierung, in Verbindung mit dem direkten Verweis auf den antiken Mythos, eine nicht datierbare mythische Raum-Zeit hergestellt,12 die dem Geschehen einen allgemeinen Charakter gibt, der über den Einzelfall hinausweist. Die genauere Datierung auf den Hubertustag, den 3. November, erlaubt daneben noch eine ganze Reihe von Querbezügen außer- und innerhalb des Romanzero, die der willkürlichen Herrschergewalt und grotesken Grausamkeit, die sich in Spanische Atriden Bahn bricht, zusätzliches Gewicht verleihen. Denn am 3. November 1641 beruft Karl I. von England das ‚Lange Parlament‘ ein, just das Parlament, dessen Mitglieder ihn am 26. Januar 1649 zum Tode verurteilen. Sind also Henrico von Trastamare und Albuquerque bereits Gespenster, so gelangt durch den Hubertustag auch Karl I. in das Gedicht, dem Heine bereits in den Historien ein Denkmal gesetzt hat: Der englische König singt dort seinem eigenen Henker ein grausiges Wiegenlied.13 Damit wird gewissermaßen ein historisches Datum mythisiert. Die Mythisierung verdichtet dabei kontingente Ereignisse zu einem zusammenhängenden Kontext. Sie schafft so einen kontextualen Sinn, aus dem aber nichts Positives folgt: Am Ende des Wiegenlieds steht der Tod.

bzw. des Blühens, das in Verbindung mit Adel und Ritterschaft seit der frühen Historie Schelm von Bergen mit Willkürherrschaft und Tod verbunden ist. 10 DHA 3.2, 751. 11 Landwehr 2001, S. 197. 12 Denn auch der genannte Ort, das mittelspanische Segovia, war zwar Sitz von kastilischen Königen, widerspricht als Handlungsort allerdings den von Heine selbst genannten Quellen. Dort wird Sevilla als Ort der Ermordung Don Fredregos angegeben. Vgl. DHA 3.2, 751. 13 Vgl. dazu Abschn. 4.3.

4.1 Raum-zeitliches Neben-, Über- und Durcheinander …

171

Und auch auf die Frage nach dem Woher der ganzen Gewalt gibt der Hubertustag eine mögliche Antwort. Am 3. November des Jahres 1493 konnte Christoph Kolumbus auf seiner zweiten Reise14 zwar nicht mehr Amerika entdecken, dafür aber zwei bis dahin unbekannte karibische Inseln vor der Küste Südamerikas, Dominica und La Désirade. Über die Erwähnung Kolumbus’15 und Südamerikas erreicht schließlich auch der rachsüchtige aztekische Kriegsgott Vitzliputzli den spanischen Königshof. Gestützt wird diese Lesart noch dadurch, dass dem europäischen Mythos Anthropophagie natürlich nicht fremd ist. Mit der Atridensage beispielsweise kann sie ebenfalls eine weit zurückreichende anthropophagische Tradition vorweisen. Die Verbindung zwischen alter und neuer Welt durch den Akt des Kannibalismus erscheint so geradezu organisch und sinnfällig. Das Öffnen von Raum und Zeit ins Mythische stellt in Spanische Atriden auf diese Weise zusätzlich Tod und Grausamkeit ins Zentrum des menschlichen Handelns und Schicksals. Einen wahren Reigen an Momenten, in denen Raum und Zeit mühelos überschritten werden, stellt die letzte Historie, der Zyklus Vitzliputzli selbst, dar. Gleich zu Beginn des Gedichts, im Präludium, vermischt Heine Zeiten und Räume. Dieses ist die neue Welt! Wie sie Christoval Kolumbus Aus dem Ocean hervorzog. Glänzet noch in Fluthenfrische, Träufelt noch von Wasserperlen, Die zerstieben, farbensprühend, Wenn sie küßt das Licht der Sonne. Wie gesund ist diese Welt! (DHA 3.1, 56–57, V. 1–12)

Hier, am Anfang des Präludiums, wirkt der Glaube an die Neue Welt noch ungebrochen, wenn ihre Entdeckung mit „der Geburt der ‚schaumgeborenen‘ Aphrodite aus den Wellen parallelisiert wird“16 , hier besteht noch durchaus Raum für Utopien und einen zumindest im Präludium durchgehaltenen Entwurf einer im Sinnlichen befriedeten neuen, besseren Welt. Doch bevor dieser Entwurf sich im Text entfaltet, wird die einfache Dichotomie von Alter und Neuer Welt durch den Einbezug der zeitlichen Dimension aufgesprengt und erweitert.17

Doch bereits der Akt des Berichtens über die Neue Welt vergiftet sie. Sie lässt sich nur im Gegensatz zur Alten Welt beschrieben, wobei es immer zu einer Gegenübertragung der negativen Eigenschaften der Alten Welt kommt.

14

September 1493 bis Juni 1496. Kolumbus wird im Vitzliputzli als großer Mann bezeichnet: „Nach dem Christoval Kolumbus, / Nennt er jetzt Fernando Cortez / Als den zweiten großen Mann“ (DHA 3.1, 59, V. 13–15). 16 Steegers 2006, S. 24. 17 Zum Motiv der Venus im Vitzliputzli s. Steegers 2006, S. 27–30, das Kapitel Die Geburt der Venus. 15

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4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

Neuer Boden, neue Blumen! Neue Blumen, neue Düfte! Unerhörte, wilde Düfte, Die mir in die Nase dringen, Neckend, prickelnd, leidenschaftlich – Und mein grübelnder Geruchsinn Quält sich ab: Wo hab’ ich denn Je dergleichen schon gerochen? War’s vielleicht auf Regentstreet, In den sonnig gelben Armen Jener schlanken Javanesin, Die beständig Blumen kaute? Oder war’s zu Rotterdam, Neben des Erasmi Bildsäul’, In der weißen Waffelbude Mit geheimnißvollem Vorhang? (V. 37–52)

Die enthusiasmierte Beschreibung Amerikas, belegt durch die immerhin viermalige Verwendung des Adjektivs „neu“ in zwei aufeinanderfolgenden Versen, wird umgehend auf eine sehr profane Ebene gestellt, wenn zum Vergleich die Londoner Regent Street respektive eine ordinäre Waffelbude in Rotterdam herhalten. Der sprechende Affe schließlich, der vor dem Erzähler erschrickt, stellt mehr als einen Ausflug ins Fantastische dar. Er ist außerdem ein Anachronismus, wenn er (noch vor der Missionierung durch die spanischen Christen) zum Bann das Kreuz schlägt: Der erschreckt in’s Buschwerk forthuscht, Schlägt ein Kreuz bey meinem Anblick, Angstvoll rufend: „Ein Gespenst! Ein Gespenst der alten Welt!“ (V. 57–60)

Allerdings lassen sich weder Erzähler noch Kreuzfahrer so leicht in die Flucht schlagen. Die Konquistadoren nehmen den Aztekenherrscher Montezuma gefangen, ermorden ihn, es kommt zum Krieg zwischen Spaniern und Azteken, zwischen Alter und Neuer Welt. In einer Verkürzung des historischen Geschehens „setzt sich Heine über rund ein Jahr blutiger Auseinandersetzung hinweg“18 , wenn bei ihm direkt nach Montezumas Tod die Azteken mit der Belagerung der Spanier beginnen (V. 89–92). Dabei dient Heines

18

DHA 3.2, 713.

4.1 Raum-zeitliches Neben-, Über- und Durcheinander …

173

raffende Darstellung dieses Geschehens […] zunächst der Herstellung einer überschaubaren Handlungskausalität und der ironischen Akzentuierung des Kontrasts zwischen den arglosen Azteken und den hinterhältigen Spaniern, die den König Montezuma anlässlich eines Fests, das sie zu seinen Ehren geben, gefangen nehmen […].19

Diese einseitige Schuldzuschreibung an die Spanier wird jedoch später korrigiert. Die Azteken stehen ihren Gegnern in Sachen Grausamkeit in nichts nach. Wenn hier das Neue in Bildern des Alten beschrieben wird, wenn so das Alte in das Neue eindringt, etwa beim Vergleich Vitzliputzlis mit „Brüssels Mannke-Piß“ (II, V. 40), bei der Beschreibung der Priester des Kriegsgottes als „Pfaffen“ und „Clerisey“ (V. 42 und 44) und des Gesangs als „Mexikanisches Te-Deum“ (V. 63), dann verschwimmen die Grenzen zwischen alt und neu. Dann äfft das Neue das Alte nach und, die Form eines Teufelskreises annehmend, das Alte zugleich das Neue.20 Dieses Nachäffen kulminiert, wie Markus Winkler aufzeigt, in der Darstellung des Menschenopfers, das beide Kulturen kennen: Der Heidenpriester der Neuen Welt verurteilt das christliche Messopfer mit denselben Worten, mit denen die Christen die heidnische Menschenopferpraxis verurteilen. Mit dieser Verkehrung wird wiederum der Unterschied zwischen beiden Welten nivelliert.21

Beide Welten sind sonst gleich, nämlich gleich schlecht, von Zivilisation kann kaum noch die Rede sein. Durch das Ineinander, durch die Parallelisierung der Alten und Neuen Welt, heben sich die Unterschiede auf, aber eben nur zum Schlechten hin. Die Azteken stoßen die Spanier mit Gewalt auf den kultischen Ursprung dessen zurück, was die Transsubstantiationslehre vergessen machen wollte, nämlich die Logik des Opfers. Demnach kommt erst durch das Opfer Ordnung in die Welt, denn „was bestehen und gelten soll, muss durchs Opfer hindurchgegangen sein, das den Abgrund des Nichts aufreißt und wieder schließt“.22 Das Christentum wird im Vitzliputzli mit seinen eigenen mythischen Ursprüngen konfrontiert, in denen Konkretes und Abstraktes noch nicht voneinander getrennt waren. Cassirer spricht in diesem Zusammenhang „vom Gesetz der Konkreszenz und Koinzidenz der Relationsglieder im mythischen Denken“.23 Das mythische Denken kennt noch kein Abstraktum, in ihm muss (in diesem Fall) das Menschenopfer real sein, es begnügt sich nicht mit einer rein symbolischen Handlung. Die Erkenntnis, dass es eines leibhaftigen Opfers bedarf, um Ordnung zu schaffen, ist also eine alte. Bemerkenswert ist hierbei die poetische Konstruktion. Vitzliputzli erlaubt mit den Mitteln des mythischen Denkens einen unverstellten Blick in die Vergangenheit. Was sich dort indes zeigt, schafft weder Trost noch Orientierung noch Stabilität. Stattdessen offenbart sich in ihm lediglich das Verdrängte in seiner ganzen vorzivilisatorischen Rohheit, Grausamkeit und Inhumanität. Dieser Teufelskreis des Ineinandergreifens von Alt und Neu kommt schließlich auch am Ende zum Tragen, wenn Vitzliputzli sich ins Pantheon der Alten Welt 19

Winkler 2016, S. 211. Vgl. Winkler 2016, S. 212. 21 Winkler 2016, S. 213. 22 Burkert 1997, S. 91. 23 Cassirer 1964, S. 82. 20

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4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

einschreibt. Dadurch sorgt er dafür, dass der Kreis sich mit dem Untergang der Azteken nicht einfach schließt, sondern in Europa fortsetzt: Wie schon im Präludium stellt sich also auch am Ende der Romanze das Bild des Teufelskreises ein. Dieses hat hier aber eine mythisierende Tendenz, weil es nicht mehr das Resultat eines Selbstversuches im Modus der Selbstverspottung ist, sondern historischem Geschehen die Bedeutung des Schicksalhaften verleiht (im also die Historizität entzieht): Im Teufelskreis, zu dem der Gott als Teufel am Ende selbst wird, bildet sich nicht nur die Form des Globus ab, sondern auch der Zyklus als Form mythischen Zeitverständnisses.24

Das mythische Zeitverständnis im Vitzliputzli hat zwar so einen struktur- und ordnungsschaffenden Charakter, es schafft aber eine ‚teuflische‘ Ordnung, die zu einer dialektischen Potenzierung des Schlechten führt. Wenn also selbst der Schritt über den Atlantik nur einen neuen Teufelskreis öffnet, mag man sich mit dem Titel eines Gedichtes aus den Lamentazionen fragen: Jetzt wohin? Nach Deutschland kann und will das Erzähler-Ich nicht zurückkehren, auch wenn der „Krieg“, gemeint sind die revolutionären Vorgänge von 1848, beendet ist. An der Lebenswelt in Deutschland hat sich nichts Grundsätzliches geändert, es herrscht noch immer die Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen als Reaktion auf das dichterische Eintreten für Freiheit und Demokratie: Zwar beendigt ist der Krieg, Doch die Kriegsgerichte blieben, Und es heißt, du habest einst Viel Erschießliches geschrieben. Das ist wahr, unangenehm Wär’ mir das Erschossen-werden; Bin kein Held, es fehlen mir Die pathetischen Geberden. (DHA 3.1, 101–102, V. 5–12)

Vom Heldenpathos, das beispielsweise noch An die Jungen trug, ist nichts mehr zu spüren, stattdessen wird Heldentum als oberflächlicher pathetischer Gestus abgetan, der leer und ohne Wirkung bleibt.25 Zudem bietet sich dem Erzähler in Deutschland dasselbe trostlose Bild wie im ganzen Rest der Welt. In England und Russland hat sich die Freiheit ebenso wenig verwirklicht wie in der Heimat, und sogar Amerika, diesmal Nordamerika, bietet keinen Grund zur Hoffnung: Manchmal kommt mir in den Sinn Nach Amerika zu segeln, Nach dem großen Freyheitstall, Der bewohnt von Gleichheits-Flegeln – 24

Winkler 2016, S. 216. Und damit strukturell an das Benutzen der Volksliedstrophe in Waldeinsamkeit erinnert, die auch nur Hülle war.

25

4.1 Raum-zeitliches Neben-, Über- und Durcheinander …

175

Doch es ängstet mich ein Land, Wo die Menschen Tabak käuen, Wo sie ohne König kegeln, Wo sie ohne Spucknapf speyen. (V. 17–24)

Selbst das Land, in dem sich der Freiheitsgedanke gesellschaftlich und politisch verwirklicht zu haben scheint, lockt das Erzähler-Ich nicht. Denn in den Vereinigten Staaten von Amerika herrscht eine unästhetische Freiheit. Die Menschen mögen frei und gleich sein, anstatt jedoch dadurch erhöht zu werden, werden sie erniedrigt: Sie sind gleich, aber eben gleich schlecht, „Gleichheits-Flegel[]“ eben. Eine ähnliche Formulierung findet sich bereits im Helgoland-Brief des Börne-Buches. Dort wird der ‚Fanatismus‘ der Freiheit, der in Amerika vorherrsche, noch kontrastiert mit dem Grauen der Sklaverei, das als direkte Folge einer willkürlichen Freiheit, einer Freiheit des Pöbels, inszeniert wird: Oder soll ich nach Amerika, nach diesem ungeheuren Freyheitsgefängniß, wo die unsichtbaren Ketten mich noch schmerzlicher drücken würden als zu Hause die sichtbaren, und wo der widerwärtigste aller Tyrannen, der Pöbel, seine rohe Herrschaft ausübt! Du weißt wie ich über dieses gottverfluchte Land denke, das ich einst liebte, als ich es nicht kannte … Und doch muß ich es öffentlich loben und preisen, aus Metièrpflicht … […] geht nach Amerika! dort giebt es weder Fürsten noch Adel, alle Menschen sind dort gleich, gleiche Flegel … mit Ausnahme freylich einiger Millionen, die eine schwarze oder braune Haut haben und wie die Hunde behandelt werden! Die eigentliche Sklaverey, die in den meisten nordamerikanischen Provinzen abgeschafft, empört mich nicht so sehr wie die Brutalität womit dort die freyen Schwarzen und die Mulatten behandelt werden. Wer auch nur im entferntesten Grade von einem Neger stammt […] muß die größten Kränkungen erdulden, Kränkungen die uns in Europa fabelhaft dünken. Dabey machen diese Amerikaner großes Wesen von ihrem Christenthum und sind die eifrigsten Kirchengänger. (DHA 11, 37)

Setzt man den Helgoland-Brief in Beziehung zu Jetzt wohin?, wird deutlich, dass sogar die Verwirklichung der politischen Freiheit die Situation des Subjekts in der Welt nicht verbessert. Da, wo es keinen König von Gottes Gnaden mehr gibt, verlottern nicht nur die ästhetischen Sitten (V. 24). Es offenbart sich zudem, dass Machtmissbrauch und willkürliche Gewaltanwendung nicht bloß auf einzelne Tyrannen beschränkt bleiben26 , sondern konstituierende Bestandteile der menschlichen Natur sind. Mit solchen Menschen ist kein Staat zu machen, im Land der Freien und Gleichen kommt es zu Auswüchsen der Ungerechtigkeiten und der Gewalt, beispielsweise in Form der Sklaverei und des allgegenwärtigen Rassismus, die so selbst in der Alten Welt kaum zu finden sind. Der Blick des lyrischen Ichs richtet sich schließlich himmelwärts, obgleich von der Hoffnung, dort eine übermenschliche Lösung auf die brennenden Probleme der menschlichen Existenz zu finden, gar nicht erst die Rede ist. Traurig schau ich in die Höh’, Wo viel tausend Sterne nicken – Aber meinen eignen Stern Kann ich nirgends dort erblicken. 26

Wie dies eventuell Historien wie Rhampsenit oder König David nahelegen mochten.

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4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

Hat im güldnen Labyrinth Sich vielleicht verirrt am Himmel, Wie ich selber mich verirrt In dem irdischen Getümmel. – (V. 29–36)

Das Auge des Erzählers verliert sich in der chaotischen Ununterscheidbarkeit der unzähligen Sterne, die in der zweiten Strophe auf die Zustände der irdischen Welt gespiegelt wird. Das Ich „verirrt“ (V. 35) sich nicht nur, es droht sein eigenes Selbst zu verlieren, das Subjekt franst an den Rändern aus, der menschlichen Existenz ist im „irdischen Getümmel“ kein Sinn beschieden.27 Es ist ein Gleiches unter unendlich Vielen und damit bedeutungslos, was der Gedankenstrich am Ende des letzten Verses, gelesen als Ellipse, auf formaler Ebene unterstreicht. Der Wunsch nach Versetzung in andere Räume wird hier zunächst von Hoffnung auf ein besseres Leben getragen, die aber nach kurzer Zeit samt und sonders verworfen wird. Der einzige Raum, der schließlich weit und groß genug ist, um das Erzähler-Ich aufzunehmen, ist dann zu groß; in der Weite des Sternenhimmels verliert es sich. Die einzige Möglichkeit der Realisierung der Erlösung, nach der das Subjekt sich sehnt, besteht in der Auf-Lösung. Die Verwirklichung der Freiheit findet so zwar statt, aber eben nicht als Handlungsfreiheit oder auch nur Meinungsfreiheit – sie drückt sich stattdessen in existenzieller Leere aus. Es handelt sich dann um eine Freiheit von allem, nicht um Freiheit zu etwas. Eine Freiheit, die lähmt, keine, die ermächtigt. Das Subjekt sieht sich durch eine solche Art der Freiheit vor allem mit neuen Gefahren, hier poetisch überhöht, der Gefahr der völligen Auflösung, konfrontiert. Man kann von einer Art negativer Freiheit sprechen, die dem Individuum keine zusätzlichen (lebensweltlichen) Gestaltungsoptionen ermöglicht. Freiheit wird so nicht nur in ihr Gegenteil verkehrt, sie wird auch selbst zu einem leeren Begriff. Eine wieder andere Spielart der Transzendenz von Raum und Zeit zeigt die mittlere der Hebräischen Melodien. Im dritten Abschnitt von Jehuda ben Halevy reisen die Perlen aus dem Kästchen des Dareios, das Alexander der Große für sich selbst behält, durch die ganze Weltgeschichte, bis sie zuletzt am Hals der Baronin Salomon landen: Und die [die Perlen, PR] späterhin geschmücket Alle Notabilitäten Dieser mondumkreisten Erde, Thais und Cleopatra, Isispriester, Mohrenfürsten, Auch Hispaniens Königinnen Und zuletzt die hochverehrte Frau Baronin Salomon – (DHA 3.1, 146, V. 153–160) 27

Vgl. hierzu auch das Lazarus-Gedicht Sie erlischt, wo sich das lyrische Ich nach dem Verlöschen der Öllampe in der Dunkelheit verliert (Abschn. 2.2.1). Das Motiv des Sich-Verlierens ist also mehrmals im Romanzero angelegt.

4.1 Raum-zeitliches Neben-, Über- und Durcheinander …

177

Dabei sind sie über intertextuelle Bezüge mit verschiedensten Gedichten des Romanzero verbunden. Die Hetäre Thais, „[e]ine[] schöne Tänzerin“ (V. 39), erinnert an die Tänzerin und Prostituierte Pomare. Die „babylon’sche[] / Krankheit“ (V. 50–51), an der sie „zu Babylon“ (V. 51) stirbt, stellt eine Verbindung zu Vitzliputzli her, denn die Krankheit ist unschwer als Syphilis zu identifizieren, also eben jene Krankheit, die Vitzliputzli nach Europa einführt. Zudem klingt das Ende der Lamentazion An die Jungen an: „O süßes Verderben! o blühendes Sterben! / Berauschter Triumphtod zu Babylon!“ (DHA 3.1, 100, 11–12) Und wenn die Perlen von einem „Pfaff aus Memphis / Der sie nach Egypten brachte []“ (DHA 3.1, 143, 54–55) gekauft werden, dann handelt es sich um mehr als um einen Anachronismus, es schließt sich zugleich der Kreis zum Anfang des Romanzero: Die Handlung in Rhampsenit fand ebenfalls in Memphis statt.28 Doch nicht allein in die Vergangenheit weisen die Perlen, sie erlauben auch einen Ausblick in die Zukunft: Die kathol’schen Majestäten Span’scher Königinnen schmückten Sich damit bey Hoffestspielen, Stiergefechten, Prozessionen, So wie auch Autodafés, Wo sie auf Balkonen sitzend Sich erquickten am Geruche Von gebratnen alten Juden. (V. 73–80)

Diese Verse deuten auffällig voraus auf die nachfolgende, letzte Hebräische Melodie. Disputazion spielt am kastilischen Hof, wo der spanischen Königin Donna Blanka mit dem Schlusswort eine entscheidende Rolle zukommt. Im Streitgespräch zwischen Mönch und Rabbi äußert jener den eindeutigen Wunsch, den Juden samt seinen Kameraden auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.29 Auch hier also ermöglicht die Transzendenz von Raum und Zeit die Etablierung einer Kreisstruktur, die verschiedenste Räume und Zeiten miteinander verbindet und in Zusammenhang setzt. Die Besonderheit der heineschen Bearbeitung ist dabei einmal mehr, dass diese Zusammenhänge und Verbindungen keinen positiven Effekt zeitigen, sondern lediglich auf Gewalt und Tod verweisen. Die Verweisstruktur verfestigt so den Kreislauf von Willkür und Niedergang.

28

Kontrafaktisch zwar, aber das spielt für die Erzählweise des Romanzero nur eine, wenn überhaupt, untergeordnete Rolle. 29 Vgl. DHA 3.1, 171, V. 413–416.

178

4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

4.2 Die Transzendenz von Raum und Zeit im Motiv des Tanzes Ein häufig wiederkehrendes Motiv im Romanzero ist der Tanz. Manchmal versteckt und subtil, dann als strukturgebendes Element eines ganzen Gedichts, zieht er sich durch den gesamten Zyklus. Dies ist vor allem insofern von Bedeutung, als dem Tanz auch im mythischen Denken oft eine wichtige Rolle zukommt. Im Mythos übernimmt er eine kultische Funktion, indem er sinngebend auftritt: „Vielmehr geht es im Kulttanz um die Geschichte schlechthin […]. Alles Lebenswichtige über Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, über Liebe, Geburt, Krankheit, Tod und Arbeit ist darin aufbewahrt.“30 Gerade in schriftlosen Kulturen hat der Tanz als Teil des Festes, das verstanden werden kann als „multimediale[] Inszenierung […], [das] den sprachlichen Text unablösbar einbettet in Stimme, Körper, Mimik, Gestik, Tanz, Rhythmus und rituelle Handlung“.31 Der Tanz prägt damit zu nicht unmaßgeblichen Teil das, was Jan Assmann als das kulturelle Gedächtnis bezeichnet. Durch kultische Riten und Feste wird kulturelle Identität hergestellt und bewahrt. Während dieser Riten wird der Zeithorizont geöffnet und der Mensch hat Anteil an der Urzeit: In der Festzeit oder „Traumzeit“ der großen Zusammenkünfte weitet sich der Horizont ins Kosmische, in die Zeit der Schöpfung, der Ursprünge und großen Umschwünge, die die Welt in der Urzeit hervorgebracht haben. Die Riten und Mythen umschreiben den Sinn der Wirklichkeit. Ihre sorgfältige Beachtung, Bewahrung und Weitergabe hält – zugleich mit der Identität der Gruppe – die Welt in Gang.32

Der Tanz ist nicht zu wegzudenkender Teil dieser Riten, mithin also Element eines Systems, das Identität stärkt und Sinn stiftet. Wenn sich in ihm sichtbar Bewegungen „zur sinnvollen Abfolge durch stetige Wiederholung oder stetige Neuschöpfung nach Maßgabe eines Rhythmus“ ordnen, was sich „in einer Raum-Zeit-Dimension“ vollzieht, dann soll durch diese sinnvolle Abfolge eine Sinnstiftung in der Welt geschehen.33 Getanzt wird auch im Romanzero durch alle Zeiten und Räume. Dabei gilt für Heines letzten großen Gedichtzyklus das, was für den Mythos gilt: Der Tanz verleiht der Welt durchaus eine Struktur und Ordnung. Die sich darauf stellende Frage lautet dann: Welcherart ist diese Ordnung? Bereits in Rhampsenit wird getanzt, wenn auch zunächst lediglich als Tänzeln: „So sprach lachend die Prinzessin / Und sie tänzelt im Gemache“ (DHA 3.1, 11, V. 25–26). Nach der Liebesnacht mit dem Dieb tänzelt die Prinzessin also beschwingt 30

Mattheis 2001, S. 54–55. Assmann 5 2005, S. 56–57. 32 Assmann 5 2005, S. 57. Vgl. auch das Kap. 2. Ritus und Fest als primäre Organisationsform des kulturellen Gedächtnisses in Assmann 5 2005, S. 56–59. 33 Wösner 2001, S. 166. S. auch Henrichs 1996, S. 21: „In der archaischen Gesellschaft standen die Welt des Mythos und die soziale Wirklichkeit der Poliskultur in einem bedeutsamen Wechselverhältnis; erst der mythische Bezug gab dem Alltäglichen Festcharakter. Die Tanzlieder behandelten meist mythische Themen, die paradigmatische Bedeutung hatten und den kultischen Tanz in die übergreifenden Strukturen des Mythos einbanden.“ 31

4.2 Die Transzendenz von Raum und Zeit im Motiv des Tanzes

179

durch ihr Gemach. Dabei trug gerade diese Liebesnacht maßgeblich dazu bei, den namenlosen Dieb zum König zu machen und so Gewalt und Unrecht ins Recht zu setzen.34 Der nächste Tanz führt vom mythischen Ägypten ins mittelalterliche Düsseldorf, wo der Karneval herrscht: Da flimmern die Kerzen, da rauscht die Musik, Da tanzen die bunten Gestalten. Da tanzt die schöne Herzoginn, Sie lacht laut auf beständig; Ihr Tänzer ist ein schlanker Fant, Gar höfisch und behendig. (DHA 3.1, 19, V. 3–8)

Auf das Aufbrechen von Ordnungen bzw. deren Stärkung durch das karnevaleske Moment des Gedichts wurde bereits hingewiesen.35 All dies wird nun um das Motiv des Tanzes angereichert. Wie in Ägypten, so geht auch hier der Tanz der Etablierung einer dauerhaften Willkürherrschaft voraus. Aber mehr noch, der Tanz ist notwendige Bedingung für die Erhebung des Scharfrichters in den Adelsstand. Erst der Tanz ermöglicht ein Treffen mit der Herzogin, was schließlich zu der Peinlichkeit der ‚Verwechslung‘36 führt, die der Graf nur durch die Aufnahme in den Adelsstand zu verhindern weiß. Überhaupt kann erst getanzt werden, weil Karneval gefeiert wird, der in diesem Zusammenhang durchaus als Fest im Sinne Assmanns gelesen werden darf, in dem es zu einer „feierliche[n] Selbstvergegenwärtigung und Selbstvergewisserung“37 kommt. Bedeutsam ist, worin genau diese Selbstvergegenwärtigung und -vergewisserung besteht: In nichts anderem nämlich als der Legalisierung, d. h. der Ins-Recht-Setzung, des Schlechten und der Gewalt. Mit Schelm von Bergen raubt Heine dem Fest seinen ordnungsstiftenden Charakter und verkehrt ihn ins Gegenteil, indem er dem Schelm ein eigenes Geschlecht zuspricht. Dadurch dauerhaft etabliert, können Gewalt, Tod und pestilenzartige Krankheit selbst nach dem Ableben der einzelnen Mitglieder der Schelmenfamilie von Bergen fruchtbar und furchtbar weiterblühen. Seinen vorläufigen Höhepunkt findet der Tanz in Pomare. Die „ungezähmte Schöne“ (DHA 3.1, 29, V. 8) wird im ersten Abschnitt des Gedichtes eingeführt. Ihre tänzerischen Fähigkeiten verdienen besondere Beachtung, denn sie tanzt „[i]n dem Garten Mabil, […] / Dort den Cancan, auch die Polke“ (V. 11–12). Der zweite Abschnitt fokussiert sich dann ausschließlich auf die tanzende Pomare und führt in die mythische Urzeit zurück: Sie tanzt. Wie sie das Leibchen wiegt! Wie jedes Glied sich zierlich biegt! 34

Vgl. hierzu etwa auch den Ausruf des Königs, besonders V. 49–52. Vgl. Abschn. 2.1.1. 36 Inwiefern wirklich eine Verwechslung vorlag bzw. ob die Herzogin die Identität des Schelms hätte erkennen müssen, s. Abschn. 2.1.1. 37 Assmann 5 2005, S. 59. 35

180

4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

Das ist ein Flattern und ein Schwingen, Um wahrlich aus der Haut zu springen. Sie tanzt. Wenn sie sich wirbelnd dreht Auf einem Fuß, und stille steht Am End mit ausgestreckten Armen, Mag Gott sich meiner Vernunft erbarmen! Sie tanzt. Derselbe Tanz ist das, Den einst die Tochter Herodias Getanzt vor dem Judenkönig Herodes. Ihr Auge sprüht wie Blitze des Todes. Sie tanzt mich rasend – ich werde toll – Sprich, Weib, was ich dir schenken soll? Du lächelst? Heda! Trabanten! Läufer! Man schlage ab das Haupt dem Täufer! (II, V. 1–16)

In diesem „Wirbel von Bewegung um eine feste, senkrechte Achse“38 springt Pomare aus ihrer Haut39 . Dies ist nicht nur bildhaft zu verstehen. Die Betonung von ‚wahrlich‘ deutet bereits an, dass das Aus-der-Haut-Springen wörtlich genommen werden will. So versetzt sich Pomare denn auch vom zeitgenössischen Paris direkt in die biblische Sagenwelt. Diese Stelle bietet weit mehr als einen bloßen Vergleich der beiden Tänzerinnen Pomare und Salome. Pomares Tanz geht über eine bloße Mimesis hinaus, Pomare wird zu Salome. In der dritten Strophe ist es „[d]erselbe Tanz“, den Salome vollführt. So ist in der vierten Strophe die Identifikation vollzogen, wenn das lyrische Ich mit der Stimme des Herodes spricht. In seinem Essay Freud und die Zukunft prägt Thomas Mann für ein derartiges Phänomen, wie Pomare es demonstriert, den Begriff „mythische Identifikation“: „Dies ‚Nachahmen‘ aber ist weit mehr, als heute in dem Wort liegt; es ist die mythische Identifikation, die der Antike besonders vertraut war“.40 Ganz ähnlich äußert sich dazu Cassirer: „In allem mythischen Tun gibt es einen Moment, in dem sich eine wahrhafte Transsubstantiation – eine Wandlung des Subjekts dieses Tuns in den Gott oder Dämon, den es darstellt, vollzieht.“41 An anderer Stelle: „Es gibt hier [bei der mythisch-tänzerischen Darstellung, PR] nirgends ein bloß Bildhaftes, eine leere Repräsentation; es gibt kein bloß Gedachtes, Vorgestelltes oder ‚Gemeintes‘, das nicht zugleich sein Wirkliches und Wirksames wäre.“42 Der Tanz wird so zu einem Instrument, das seine Kraft aus dem Mythischen schöpft. Dabei wird er zum Mittel, die reale Zeit und den realen 38

Guy 1984, S. 95. Schon im Atta Troll dient der Tanz als Mittel zum ‚Aus-der-Haut-Springen‘: Hochtanz, wo der Stral der Gnade Das Talent entbehrlich machte, Und vor Seeligkeit die Seele Aus der Haut zu springen sucht! (DHA 4, 31, V. 69–72) Vgl. zu diesem Motiv Yongqiang 2015, S. 181–192. 40 Mann 1936, S. 496. 41 Cassirer 1964, S. 51. 42 Cassirer 1964, S. 285. 39

4.2 Die Transzendenz von Raum und Zeit im Motiv des Tanzes

181

Raum aus den Angeln zu heben und so einen Zugang zum mythischen Raum zu öffnen. Die Transzendenz von Raum und Zeit durch die mythische Identifikation im Tanz führt aber nun in Pomare ausgerechnet auf ein Ereignis zurück, das von Verführung, Sophisterei und Tod geprägt ist. Aus diesem Grund ist es auch schwierig, Pomares Tanz nur als eine „Waffe gegen gesellschaftliche Zwänge“43 aufzufassen. Heine selbst kommt bereits in Lutezia auf den Tanz (auch der Salome) zu sprechen, mit einer eindeutigen Wertung: Der Tanz ist verflucht, sagt ein fromm bretonisches Volkslied, seit die Tochter der Herodias vor dem argen Könige tanzte, der ihr zu Gefallen Johannem tödten ließ. „Wenn du tanzen siehst, fügt der Sänger hinzu, so denke an das blutige Haupt des Täufers auf der Schüssel, und das höllische Gelüste wird deiner Seele nichts anhaben können!“ (DHA 13.1, 155)

Die Identität, die in Pomare durch den Tanz vergegenwärtigt wird, ist eine, die sich durch willkürliche Gewalt und Tod auszeichnet. In dieser Form wird der Tanz auch im dritten Teil von Jehuda ben Halevy wieder aufgenommen, wenn die tanzende Hetäre Thais Alexander dazu auffordert, den Palast der Perserkönige zu verbrennen.44 Findet in Pomare durch den Tanz eine Grenzüberschreitung von Raum und Zeit bis ins Mythische statt, erweitert die Historie Das goldne Kalb das Motiv des Tanzes um den Aspekt des Austretens aus jeder Ordnung. Doppelflöten, Hörner, Geigen Spielen auf zum Götzenreigen, Und es tanzen Jakobs Töchter Um das goldne Kalb herum – Brum – brum – brum – Paukenschläge und Gelächter! Hochgeschürzt bis zu den Lenden Und sich fassend an den Händen, Jungfrau’n edelster Geschlechter Kreisen wie ein Wirbelwind Um das Rind – Paukenschläge und Gelächter! Aron selbst wird fortgezogen Von des Tanzes Wahnsinnwogen, Und er selbst, der Glaubenswächter, Tanzt im Hohenpriesterrock, Wie ein Bock – Paukenschläge und Gelächter! (DHA 3.1, 40, V. 1–18)

43 44

Park-Shims 2008, S. 191. Vgl. DHA 3.1, 143, V. 41–48 sowie Abschn. 2.3.2 dieser Arbeit.

182

4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

War es in Pomare der Tanz einer einzelnen Person, der sich auf das AllgemeinMenschliche übertragen ließ, ist es in Heines Adaption des biblischen Tanzes um das goldene Kalb eine ganze Gemeinschaft, die vom wahren Glauben abfällt. Es lohnt an dieser Stelle den Urtext in den Blick zu nehmen: Da nun Josua hörte des Volks Geschrei, daß sie jauchzten, sprach er zu Mose: Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit. Er antwortete: Es ist nicht ein Geschrei gegeneinander derer, die obliegen und unterliegen, sondern ich höre ein Geschrei eines Singetanzes. Als er aber nahe zum Lager kam und das Kalb und den Reigen sah, ergrimmte er mit Zorn und warf die Tafeln aus seiner Hand und zerbrach sie unten am Berge und nahm das Kalb, das sie gemacht hatten, und zerschmelzte es mit Feuer und zermalmte es zu Pulver und stäubte es aufs Wasser und gab’s den Kindern Israel zu trinken und sprach zu Aaron: Was hat dir das Volk getan, daß du eine so große Sünde über sie gebracht hast? Aaron sprach: Mein Herr lasse seinen Zorn nicht ergrimmen. Du weißt, daß dies Volk böse ist.45

Zunächst ist von Interesse, welche Situation genau Heine einer weiteren Bearbeitung wichtig erachtet: Es ist allein der Singetanz, der Reigen um das Goldene Kalb. Es geht ihm nicht darum, zu ergründen, warum es zur Götzenverehrung gekommen ist, noch darum, Moses Reaktion darauf und die Sühne des Volkes Israel zu beschreiben. Von Bedeutung scheint einzig der Moment, in dem das Volk jeder Ordnung entsagt und sich einem orgiastischen Tanz hingibt, dessen dionysische Anleihen nicht zu übersehen (und überhören) sind.46 Schon der erste Vers verweist mit der Erwähnung der Doppelflöte und der Hörner auf den Hirtengott Pan, der Teil des Gefolges des Dionysos ist. Der Tanz hat hier nichts mehr von der kontrollierten Sinnlichkeit des erotischen Tanzes der Pomare, sondern steigert sich von Strophe zu Strophe über „[k]reisen wie ein Wirbelwind“ bis zu „Wahnsinnswogen“: ein bacchantischer Taumel, dem sich niemand zu entziehen vermag. Das gilt nicht nur für die Töchter Jakobs, eines der Erzväter Israels (V. 3), die entblößt und enthemmt (V. 6–7) um den Götzen tanzen, es betrifft genauso Moses’ Bruder Aron, den „Glaubenswächter“, der sich trotz seiner exponierten Stellung in der Hierarchie des jüdischen Volkes der rauschhaften Unordnung nicht entziehen kann. Die Frage, warum es sich bei dem Götzen um ein Kalb handelt,47 scheint mir dabei fast vernachlässigbar, wenn auch Thomas Manns Deutung in der Novelle Das Gesetz nicht nur ihren ganz eigenen Charme, sondern eine beinahe zwingende Überzeugungskraft besitzt: Da stand’s. Inmitten der Blöße auf einem Stein, einem Altar-Sockel stand es, ein Bild, ein Machwerk, ein Götzenunfug, ein güldenes Kalb. Es war kein Kalb, es war ein Stier, der richtige, ordinäre Fruchtbarkeitsstier der Völker der Welt. Ein Kalb heißt es nur, weil es nicht mehr als mäßig groß war, eher klein, auch mißgegossen und lächerlich gestaltet, ein ungeschickter Greuel, aber als Stier allerdings nur allzugut zu erkennen.48

45

2. Mose 32, 17–22. Vgl. hierzu Gebhard 1956, S. 67. 47 Vgl. etwa die Ausführungen Gebhards (1956), S. 65–66, die naheliegenderweise im Kalb auch immer den Gott Mammon sieht. 48 Mann 1944, S. 869. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass Thomas Mann sich bei der Beschreibung des Tanzes um das Goldene Kalb ganz explizit auf das Heine-Gedicht bezieht. Vgl. hierzu: Hansen 1975, S. 258–259. 46

4.2 Die Transzendenz von Raum und Zeit im Motiv des Tanzes

183

Der „ordinäre Fruchtbarkeitsstier der Völker der Welt“ fügt sich in die bacchantische Orgie ein, in den Taumel, „an dem kein Glied nicht trunken ist“49 , an dem jeder Gedanke an Ordnung und Vernunft ein verlorener Gedanke ist und der im Mythos mit dem Zerreißen des Dionysos selbst endet. Der Stier aber ist mehr als nur ein bloßes Symbol für Fruchtbarkeit. Seit der Antike ist er auch ein Opfertier, das zu besonderen Anlässen geschlachtet wird. Das goldene Kalb enthält so das Motiv der Opfertötung, das seit jeher Kernbestandteil des Kultus des Mythos ist.50 Im Gegensatz zur Bibel fehlt Heines Bearbeitung jedes versöhnende Moment. Die Historie endet mit dem im Romanzero bereits wohlbekannten Gelächter,51 das nie Gutes verheißt. Hier steigt kein Moses vom Berg und sorgt für Ordnung, hier folgt auf den Ausbruch aus der Ordnung nicht der Dekalog mit seiner zivilisationsstiftenden Gesetzeskraft und hier kommt es vor allem nicht zu einem Gottesspruch, der das Volk Israels zwar straft, am Ende aber doch ins gelobte Land führt. Stattdessen gibt es nur die Entgrenzung, gibt es nur die enthemmte Feier des Abfalls von der Ordnung. Der Mythos vom Tanz um das goldene Kalb bezeichnet einen zentralen Augenblick in der Geschichte des jüdischen Volkes. Immer mitgedacht werden muss in diesem Zusammenhang, dass direkt danach, mit den Zehn Geboten, ein maßgebliches ordnungsstiftendes Moment der abendländischen Geschichte etabliert wurde. Und auch die Strafe Gottes, das vierzigjährige Irren durch die Wüste, hat reinigenden Charakter: sie stiftet Sinn und festigt Volksidentität. Davon ist in Heines Bearbeitung nichts zu spüren. Es wird nichts verfestigt, stattdessen wird die Entgrenzung auf Dauer gestellt. Dieses Motiv des bacchantischen Tanzes, nach dem es aber gerade, im Gegensatz zum Mythos,52 nicht zu einer Erneuerung kommt, wird wieder aufgenommen in Jehuda ben Halevy, das von der Tänzerin Thais berichtet: Doch die Perlen waren echt – Und der heitre Sieger gab sie Einer schönen Tänzerin Aus Corinth, mit Namen Thais. Diese trug sie in den Haaren, Die bacchantisch aufgelöst, In der Brandnacht, als sie tanzte Zu Persepolis und frech […] (DHA 3.1, 143, V. 37–44)

Der Tanz in eben jener Nacht, in der der Palast der Perserkönige in Flammen aufgeht, ist die letzte bekannte Tat Thais’, direkt anschließend ist von ihrem Tod die 49

So die berühmt gewordene Beschreibung Hegels in der Phänomenologie des Geistes (Hegel 1807, S. 39). 50 Vgl. Angehrn 1996, S. 155. 51 Vgl. etwa Rhampsenit, Schelm von Bergen oder Pfalzgräfin Jutta. 52 Das Dionysische ist gerade nicht ein Heraustreten aus jeder Ordnung, es ist Teil einer Ordnung, insofern ihm das Apollinische gegenübersteht. Ein solcher Gegenpol zur Auflösung fehlt im Romanzero.

184

4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

Rede. Tanzen wird also auch hier ausschließlich mit Zerstörung, mit entgrenzender Vernichtung, mit Auflösung durch Feuer, in Verbindung gesetzt. Aus alledem wird deutlich, dass der Tanz im Romanzero zwar durchaus in seiner mythischen Eigenschaft als Mittel eingesetzt wird, um raumzeitliche Trennung zu überwinden, ja sogar um die Trennung von Identitäten aufzuheben. Dies alles führt jedoch nicht, wie es der Tanz im mythischen Kult durch einen Rekurs auf das Ursprüngliche und die Erweiterung des Subjekts durch mythische Identifikation bezweckt, zu einer positiven Art der Selbstvergewisserung und Selbstvergegenwärtigung im Jetzt. Stattdessen rekurriert das Motiv des Tanzes auf Leid, auf Tod, auf eine Störung der Ordnung, wenn nicht gar auf eine totale Entgrenzung, d. h. auf das völlige Heraustreten aus jeder Ordnung und Struktur.

4.3 Von Lebendigen und Toten Das mythische Denken transzendiert nicht nur die Grenzen von Zeit und Raum, es überwindet noch eine weitere Grenze, die zwischen Leben und Tod.53 Der Mythos erlaubt eine Verbindung zwischen Lebenden und Toten, die dem Menschen sonst nicht gegeben ist. Er tritt so der Furcht vor dem Tod entgegen, kommt also seiner ursprünglichen Aufgabe nach. Im Christentum ist eine solche Verbindung nicht gegeben, denn [d]ie absolute Transzendenz der ‚Wohnung‘ des christlichen Gottes […] ist etwas mit der Wohnung der Götter ganz Unvergleichliches […] und entsprechend ist auch das christliche Reich der auferstandenen Toten etwas ganz anderes als der Tartaros, der immer noch Teil der heiligen Geographie ist. […] Mythisch bleiben die Toten, was sie zu Lebzeiten waren, und so behalten sie auch im Totenteich [!] ihre soziale Stellung.54

Das mythische Denken schafft die Toten nicht ganz aus der Welt, wie Jan Assmann ausführt, wenn er vom Totengedenken spricht, das den Toten, wenn ihrer gedacht wird, eine unmittelbare Gegenwärtigkeit einräumt: Die Erinnerung an die Toten gliedert sich in eine retrospektive und in eine prospektive Erinnerung. Das retrospektive Totengedenken ist die universalere, ursprünglichere und natürlichere Form. Es ist die Form, in der eine Gruppe mit ihren Toten lebt, die Toten in der fortschreitenden Gegenwart gegenwärtig hält und auf diese Weise ein Bild ihrer Einheit und Ganzheit aufbaut, das die Toten wie selbstverständlich mit eingreift […].55

Auch der Romanzero durchbricht immer wieder die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten. Es treiben beispielsweise Wiedergänger ihr Unwesen, die eigentlich längst tot sein müssten. Besonders auffällig geschieht dies in den Gedichten Maria 53

Vgl. auch Assmann 5 2005, S. 33: „Die ursprünglichste Form, gewissermaßen die Ur-Erfahrung jenes Bruchs zwischen Gestern und Heute, in der sich die Entscheidung zwischen Verschwinden und Bewahren stellt, ist der Tod.“ 54 Hübner 2001, S. 107. 55 Assmann 5 2005, S. 61.

4.3 Von Lebendigen und Toten

185

Antoinette, Pfalzgräfin Jutta, Carl I. und Himmelsbräute. Die vier Gedichte sollen nun einer genauen Analyse unterzogen werden, wobei vor allem auf die Verbindung der irdischen und der jenseitigen Welt eingegangen werden wird. Maria Antoinette, indem sie „die alten Gespenster“ (DHA 3.1, 27, V. 5) sieht, könnte zunächst als politischer Kommentar auf das sich überlebende Ancien Régime Frankreichs gelesen werden56 . Jedoch wird bald deutlich, dass man es nicht mit bloß im metaphorischen Sinne Toten zu tun hat, sondern dass die Bewohner der Tuilerien wirklich als lebende Tote umhergeistern: Die Taille ist schmal, der Reifrock bauscht, Darunter lauschen die netten Hochhackigen Füßchen so klug hervor – Ach, wenn sie nur Köpfe hätten! Sie haben alle keinen Kopf, Der Königin selbst manquiret Der Kopf, und Ihro Majestät Ist deßhalb nicht frisiret. (DHA 3.1, 27)

Die historische Maria Antoinette wird zur Symbolfigur „der gesamten dem Untergang geweihten aristokratischen Welt“ und ist „daher die Zielscheibe von Heines bissigem Spott“.57 Hinter der Beschreibung einer Königin und ihrer Hofdamen, die den eigenen Tod nicht wahrnehmen und als Gespenster ihr altes Leben scheinbar unterschiedslos fortführen, verbirgt sich allerdings mehr als bloßer Spott.58 Die Kopflosigkeit Maria Antoinettes und ihres Gefolges geht über das Komische des Bildes hinaus.59 Im grausigen Ankleiden und Umherstolzieren der Toten verdichtet sich das Bild des „in Europa, in Deutschland immer noch wirksamen Geist[es] des Ancién régime, […] ein[es] im Gegenwärtigen lauernde[n] Pandämonium[s]“60 . Ganz buchstäblich geistert die reaktionäre Herrschaft noch durch die Welt, sie widersetzt sich hartnäckig der völligen Auflösung. Die guillotinierte Königin wandelt so mit ihrem Hofstaat durch das Tuilerienschloss, als sei sie ihrer eigenen Hinrichtung nicht gewahr geworden: Sie muß jetzt spuken ohne Frisur Und ohne Kopf, im Kreise Von unfrisirten Edelfrau’n, Die kopflos gleicherweise. (DHA 3.1, V. 25–28) 56

Vgl. hierzu etwa Hinck 2000, S. 90: „Die ‚Historie‘ Marie Antoinette ist bezogen auf die politischen Verhältnisse um 1850; sie läßt sich verstehen als Protest gegen das Erbe des Ancien régime in den restaurativen Monarchien Deutschlands.“ 57 DHA 3.2, 605. 58 Dass grundsätzlich ein spöttischer Tonfall herrscht, ist natürlich nicht abzustreiten, wie etwa die vorletzte Strophe zeigt: „Die Oberhofmeisterin steht dabey, / Sie fächert die Brust, die weiße, / Und in Ermanglung eines Kopfs / Lächelt sie mit dem Steiße.“ (V. 53–56). 59 Vgl. Liedtke 2004, S. 18. 60 Hinck 3 1978, S. 57.

186

4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

Dafür aber erschrickt sich am Ende mit der Sonne sogar das Bild des Logos und der Aufklärung schlechthin:61 Wohl durch die verhängten Fenster wirft Die Sonne neugierige Blicke Doch wie sie gewahrt den alten Spuk, Prallt sie erschrocken zurücke. (V. 57–60)

Die Toten, und damit die Unordnung, werden nicht einfach der Lächerlichkeit preisgegeben, damit auch nicht einfach als „historisch[] überlebt und nicht mehr in die moderne Zeit passend“62 dargestellt. Eine Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und der Toten, die für irgendeine Art von Versöhnung sorgt, findet gerade nicht statt. Im Gegenteil, die Toten werden verlacht, an ein Miteinander oder auch nur ein gemeinsames Totengedächtnis ist nicht zu denken. Deutlicher noch wird Pfalzgräfin Jutta, wo die titelgebende Gräfin drei Ritter hat ermorden lassen. Bereits die ironische Brechung der romantischen Motivik der ersten drei Verse, in denen „der historisch denkende Interpret […] alle herkömmlichen Requisiten einer romantischen Ballade“63 erkennt, deutet an, dass der schöne Schein einer nächtlichen Rheinfahrt bald sein Ende finden wird. Und tatsächlich verschafft sich schon in der ersten Strophe der Tod Einlass in die Rheinromantik: Pfalzgräfin Jutta fuhr über den Rhein, Im leichten Kahn, bey Mondenschein Die Zofe rudert, die Gräfin spricht: „Siehst du die sieben Leichen nicht, Die hinter uns kommen Einhergeschwommen – So traurig schwimmen die Todten! Das waren Ritter voll Jugendlust – Sie sanken zärtlich an meine Brust Und schwuren mir Treue – Zur Sicherheit, Daß sie nicht brächen ihren Eid, Ließ ich sie ergreifen Sogleich und ersäufen – So traurig schwimmen die Todten!“ (DHA 3.1, 44, V. 1–14)

61

Vgl. hierzu auch Landwehr 2001, S. 153. Landwehr bietet darüber hinaus eine historisierende Deutung des Gedichts an, die vor allem den Ort des Geschehens, den „Pavillon de Flor’“ (V. 5), in den Blick nimmt (vgl. Landwehr 2001, S. 154–159). 62 Bodi 1973, S. 240. Vgl. dazu auch Liedtke 2004, S. 18–19. 63 Anglade 1989, S. 310.

4.3 Von Lebendigen und Toten

187

Eine dezidiert politische Deutung, wie sie René Anglade vorbringt, scheint mir an dieser Stelle dem Gedicht nicht gänzlich gerecht zu werden.64 Zunächst hat man es auch hier wiederum mit dem Einbruch der Unordnung in ein System zu tun, das eigentlich Ordnung schaffen soll. Die jugendlichen Ritter schworen der Pfalzgräfin der Treue. Das schließt selbstverständlich die Möglichkeit des Todes mit ein – aber eben des Sterbens für die Lehnsherrin. Das Handeln der Gräfin stellt geradezu eine Perversion dieses Treueschwurs dar, wenn sie die Ritter „Zur Sicherheit, / Daß sie nicht brächen ihren Eid,“ töten lässt. De facto ist der Eidbruch damit unmöglich geworden, de jure ist der Eid erfüllt, aber eben auch sinnlos geworden. Die logische Wahrheit, dass der Eid nicht gebrochen ist, hebelt jede moralische Komponente aus. Auch hier gilt somit wieder: Auf einer formalen Ebene ist der Ordnung Genüge getan, der Eid bleibt ungebrochen. Praktisch geschieht dies aber um den Preis von Gewalt und Grausamkeit. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht auch die Todesart. Das Ertränken steht als ‚unblutige‘ Tötungsart dem ritterlichen Tod im Kampf diametral gegenüber. Die Pfalzgräfin hat ihre Ritter dadurch noch auf andere Art und Weise der Ordnung entzogen, der sie eigentlich angehören, da das Ertränken als Hinrichtungsart „in erster Linie Frauen gegenüber angewandt“65 wurde. Die Ritter werden somit noch im Tod ihrer Männlichkeit beraubt.66 Auch hierbei handelt es sich um ein gewaltsames Herauslösen aus einer Ordnung, eben der des Geschlechts. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das von Heine benutzte Quellenmaterial. Die Pfalzgräfin hat kein Vorbild in der Wirklichkeit, sondern in der Dichtung: Sie entstammt dem Meisterlied Albertus Magnus aus Des Knaben Wunderhorn. Dort verführt die Königin neun Jünglinge, die sie jeweils am nächsten Morgen ertränken lässt. Der zehnte, Albertus Magnus, ein mit Zauberkräften ausgestatteter Student, durchschaut die Königin und bringt ihre Machenschaften an die Öffentlichkeit. Die Königin tut darauf achtzehn Jahren lang Buße, worauf sie schließlich Einlass ins Himmelreich findet.67 Heines Variante kocht die ursprüngliche Version auf ein veritables Kondensat herab, sie schrumpft von 174 Versen auf knappe 21. Von größerer Bedeutung aber sind die inhaltlichen Veränderungen: „Er streicht alles Wunderbare wie auch die ganze erbauliche Geschichte von Reue, Buße und Erlösung der Sünderin, hält aber sorgfältig drei Themen fest: die willkürliche Gewalt, den Schwur (verbunden mit der Forderung absoluter Treue) und das Ertränken.“68 Jede positive 64

Anglade deutet das Gedicht als Reaktion auf den hannoveranischen Verfassungskonflikt 1837, der mit der Entlassung der ‚Göttinger Sieben‘ endet. Die sieben ertränkten Ritter symbolisieren dabei die sieben entlassenen Professoren. Vgl. Anglade 1989, S. 316–344. 65 Lieberwirth 1971, S. 1009. 66 Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass die Ritter durch das Ertränken auch in eine tierische Sphäre überführt werden. Ertränkt werden auch sprichwörtlich Ratten, die als Ungeziefer und Krankheitserreger schlechthin geltenden Tiere. Im antiken Rom existierte darüber hinaus noch die besonders demütigende Todesstrafe des Säckens, in dem der Verurteilte zusammen mit einem Tier (Hund, Hahn, Katze, Affe) in einem Sack ertränkt wurde. (Vgl. von Hentig 1954, S. 305) 67 Vgl. Albertus Magnus. Von den Geheimnissen der Weiber in Des Knaben Wunderhorn (von Arnim/Brentano 1808, S. 225–230). 68 Anglade 1989, S. 311. Etwas unglücklich scheint mir an dieser Stelle der Rekurs auf „willkürliche“ Gewalt. Die Gewalt ist ja nicht willkürlich, sie wird von Jutta ausschließlich gegen Ritter

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4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

Wendung des Prätextes wird vermieden, der Protagonist des Urtextes nicht einmal erwähnt, übernommen wird lediglich das Schlechte, das mit großer Kunstfertigkeit und subtil in den größeren Sinnzusammenhang des Romanzero eingefügt wird. Denn wieder ist es das Lachen, wie schon im Rhampsenit und im Schelm von Bergen, das in der letzten Strophe den Sieg des Schlechten und Ungerechten begleitet: Die Zofe rudert, die Gräfin lacht. Das hallt so höhnisch durch die Nacht! Bis an die Hüfte tauchen hervor Die Leichen und strecken die Finger empor, Wie schwörend – Sie nicken Mit gläsernen Blicken – So traurig schwimmen die Todten! (V. 15–21)

Das poetisch aufgeladene, schon ins Groteske gehende, Bild der toten Ritter, die „[w]ie schwörend“ die Finger emporrecken, wirkt da wie ein zynischer Kommentar auf die (ritterliche) Treue bis in den Tod. Das Rittertum, jahrhundertelang (freilich in seiner idealisierten Form) Garant für Rechtsordnung und Tugendhaftigkeit, wird als jedem Sinn und jeder Macht enthoben dargestellt, noch im Tod dazu verdammt, derjenigen zuzustimmen, die ihm, gleichsam en passant („Pfalzgräfin Jutta fuhr über den Rhein, / Im leichten Kahn, bey Mondenschein.“) den Untergang gebracht hat. Im höhnischen Lachen der Gräfin über die von ihr verratenen Ritter drückt sich der ganze Hohn und Spott einer Welt aus, in der der Mensch selbst im Tod keine Zuflucht vor der Grausamkeit und Verachtung seiner Mitmenschen findet. Doch nicht nur Ritter sterben im Romanzero. Der macht bekanntermaßen auch vor der Spitze des Adelsstandes, vor Königen, nicht halt. Um den Tod eines Königs (genauer gesagt, dessen bald eintretenden Tod: Karl I. wurde am 30. Januar 1649 hingerichtet) geht es in Carl I., wo Heine den „entscheidende[n] geschichtliche[n] Augenblick [festhält], in dem erstmals eine sakrosankte Person angetastet wurde“69 . Man hat es hier mit einer ganz eigentümlichen Art der Zeit- und Raumüberwindung zu tun, die Claudius Sittig als Moment der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft charakterisiert: „Die alte Zeit soll also schon vergangen und das zukünftige neue Zeitalter in der Figur des Kindes bereits latent gegenwärtig sein.“70 Schon die Überschrift weiß von einem Epochenwandel zu berichten, den Heine „voller Sympathie aus der Perspektive des unvermeidlichen Opfers darstellt, das als Todgeweihter seinem Henker ein Wiegenlied singt.“71 Es ist in dieser Hinsicht durchaus möglich,

angewandt, die ihr die Treue geschworen. Das macht sie ungerecht und unmoralisch – aber eben sehr zielgerichtet. 69 Höhn 2004, S. 144. Das ist insofern nicht ganz korrekt, denn am Ende des Gedichts ist der Tod des Königs zwar besiegelt, aber er lebt eben noch. – Vgl. zum Gottesgnadentum bei Heine auch Landwehr 2001, S. 170–171. Zum Henkermotiv bei Heine (allerdings überraschenderweise ohne Bezugnahme auf Schelm von Bergen) siehe von Matt 1994, S. 149–158. 70 Sittig 2011, S. 177. 71 Sittig 2011, S. 177.

4.3 Von Lebendigen und Toten

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die Erwähnung der Hinrichtung einer königlichen Person als die Darstellung der äußersten Konsequenz revolutionären, gesellschaftsverändernden Handelns an[zu]sehen, die zwar nicht explizit, aber doch mindestens implizit die Ambivalenz der Revolution, das Vorhandensein inhumaner und antihumaner Affekte auch bei den revolutionären Vorkämpfern der Humanität aufzeigt.72

Gerhard Höhn resümiert die ja durchaus naheliegenden politischen Deutungen des Gedichts: Durch den Kunstgriff der zeitlichen Vorverlegung erscheint 1649 [das Jahr der Enthauptung Karls I., PR] als notwendiger Fluchtpunkt des Gedichts; in dem Köhlerkind tritt sogar der historische Gegenspieler des Untergehenden auf. Obwohl das Katz- und Mausspiel tödlich endet, bleibt der Schluß aus der Sicht von 1851 doppeldeutig: Kein Königskopf ist gerollt und in „Henkerchen“ klingt der Spott auf jene an, die sich im Gegensatz zu ihren historischen Vorläufern tatsächlich wieder haben einlullen lassen. Dadurch erhält das in seiner Struktur zukunftsfreudige Gedicht einen Dämpfer, der mehr in der Wirklichkeit als in Heines später Skepsis begründet ist.73

Neben dieser Analyse lässt sich jedoch noch eine weitere Lesart der im Rhythmus eines Schlaflieds74 gehaltenen Historie ausmachen, die im Folgenden aufgezeigt werden soll.75 Strukturelle Ähnlichkeit weist das Gedicht mit Valkyren auf, wenn auch an dieser Stelle auf eine Expositionsstrophe ein Lied folgt: Im Wald, in der Köhlerhütte sitzt Trübsinnig allein der König; Er sitzt an der Wiege des Köhlerkinds Und wiegt und singt eintönig: (DHA 3.1, 26, V. 1–4)

Es deutet sich jedoch bereits eine dem gesamten Gedicht inhärente Unordnung an, eine Verschiebung der Verhältnisse, wovon schon die holprigen, gegen die natürliche Wortbetonung gewandten, Trochäen der Romanzenstrophe in den Versen 2 und 4 zeugen. Die vordergründige Verniedlichung, auch des eigentlichen ‚Wiegenliedes‘, verdeckt dabei kaum den von geradezu groteskem Grauen erfüllten Inhalt des Gedichts: Der dem Tod geweihte König singt seinem zukünftigen Henker ein Schlaflied. Gleichzeitig wird durch das Wiegenlied „der Bedeutungshorizont des Gedichts vollständig umgekehrt. Die gesamte Szene ist nun in der Vergangenheit situiert.“76 Schon die Grundthematik des Gedichts bricht also mit jeder Art von ‚natürlicher‘ Ordnung, indem das Wiegenlied zu einem Totenlied transformiert wird, noch dazu angestimmt von dem künftigen Todeskandidaten, der sich seinem Schicksal ergibt.77 72

Abels 1973, S. 99. Abels kommt (ebd.) zu dem Schluss, Heine auf Seiten der Revolutionäre zu verorten, „denen die Hinrichtung der Könige ein nicht zu hoher Preis für die Errungenschaften der Revolution ist.“. 73 Höhn 2004, S. 144–145. 74 Zur Übernahme des Schlafliedmotivs und zur Variation der drei verwendeten Schlaflieder siehe Hinck 1972, S. 290–293. 75 Zur Struktur und zum Spiel mit den verschiedenen Tempi s. Bayerdörfer 1972/3. 76 Sittig 2011, S. 178. 77 Der Titel Carl I. zeigt, dass der Versuch des Einlullens nicht fruchten wird, die historische Wirklichkeit der Hinrichtung Carls lässt sich nicht leugnen. Anders sähe dies aus, hätte Heine

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4 Transzendenz von Raum und Zeit im Romanzero

Grund für den Tod des Königs ist das Schwinden des „Köhlerglauben[s]“, d. h. eines Glaubens, in dem sich spießbürgerlicher Geschmack und philisterhafte Moral verbinden78 : Der alte Köhlerglaube verschwand, Es glauben die Köhlerkinder – Eyapopeya – nicht mehr an Gott Und an den König noch minder. Das Kätzchen ist todt, die Mäuschen sind froh – Wir müssen zu Schanden werden – Eyapopeya – im Himmel der Gott Und ich, der König auf Erden. (V. 13–20)

Es ist das Verschwinden des Glaubens, und damit einhergehend der Verlust des Konzeptes des Gottesgnadentums des Königs, das nicht nur den zuvor tabuisierten königlichen Leib antastbar macht, sondern zusätzlich einen Keil durch die bisher bestehende gesellschaftliche Ordnung treibt. Dabei ist in diesem Zusammenhang nicht eindeutig erkennbar, ob das „Wir“ in Vers 18 („Wir müssen zu Schanden werden –“) einen pluralis majestatis des singenden Königs darstellt oder aber auf eine Gemeinsamkeit zwischen König und Köhlerkind (das natürlich dann stellvertretend für das Volk steht) hinweist. Deutlich ist jedoch, dass direkt nach dieser einzigen Verwendung der ersten Person Plural im gesamten Gedicht die größtmögliche Trennung dargestellt wird, nämlich die zwischen Gott im Himmel und dem König als – nun nicht mehr von Gott legitimierten – Herrscher auf Erden (V. 19–20). Diese Singularität des „Wir“79 lässt sich als Hinweis darauf deuten, dass an dieser Stelle etwas über den allgemeinen Zustand der Menschheit ausgesagt werden soll. In seiner Wortwahl erinnert der Vers dabei an Römer 5,5: „Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ Dort ist es die Hoffnung auf die Gnade Gottes, die nicht enttäuscht werden wird. Wenn Carl I. aber nun beschreibt, dass der Gottesglaube im Schwinden begriffen ist, so bleibt für die Hoffnung auf irgendeine Art von Gnade nicht mehr viel Platz. Stattdessen wird der Zustand der Menschheit als von Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet dargestellt. Peter von Matt weist darauf hin, dass „[a]m 10. Oktober 1789, drei Monate nach dem Bastille-Sturm und kurz nach der Erklärung der Menschenrechte, […] der Arzt Joseph Guillotin in der französischen Nationalversammlung die Gleichheit aller Menschen vor dem Henker“80 forderte. Die auf den sich, wie in der ersten Handschrift, für den in dieser Hinsicht neutralen Titel Das Wiegenlied entschieden. So aber ist der Protagonist nicht Sinnbild für einen beliebigen Herrscher, sondern trägt die individuellen Züge Karls I., dessen Schicksal feststeht. Vgl. hierzu DHA 3.2, 593–594. 78 Zum Begriff des Köhlerglaubens und dessen Verbreitung Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Bayerdörfer 1972/3, S. 446–447. 79 Ansonsten spricht der König von sich in der ersten Person Singular und das Köhlerkind direkt mit „du“ an. 80 Von Matt 1994, S. 149.

4.3 Von Lebendigen und Toten

191

Wegfall der Standesunterschiede folgende Gleichheit zwischen den Menschen führt gerade nicht zu einer Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände, sondern lediglich zu einer Angleichung der Bedingungen des Menschseins im Zustand des Leids. Die Gleichheit unter den Menschen erschöpft sich vor dem Fallbeil. So wird der Ruf nach egalité, die eigentlich soziale Ständeunterschiede einebnen soll, zur Farce. Das Motiv des Henkers verbindet Carl I. zudem mit Schelm von Bergen. Im Rekurs hierauf gewinnt das Krankheitsmotiv („Mein Muth erlischt, mein Herz ist krank, / Und täglich wird es kränker“ (V. 21–22)) deutlicher an Kontur.81 Folgt man zusätzlich dem durch den Verweis auf den Römerbrief eröffneten Motivbereich der Bibel, so nimmt die Herrschaft des Todes bald globale Ausmaße an. Das Motiv des in einer einsamen Hütte in einer Wiege liegenden Kindes82 verweist auf die Geburt Jesus Christus, auf ein Ereignis also, das die Hoffnung auf die Erlösung der Menschheit in sich trägt. Das Köhlerkind aber wird die Menschheit nicht erlösen, trägt es doch das Kainsmal auf der Stirn, das Zeichen des alttestamentarischen Brudermörders. Die einzige Erlösung, die dieses Kind bringen kann, ist der Tod, der aufgrund der nun absoluten Trennung von Gott und den Menschen, die „alle zu Schanden werden“, keinerlei Hoffnung mehr auf ein Leben im Jenseits in sich trägt. Von dieser Sinnlosigkeit eines Erlösungsgedankens im Jenseits kündet schließlich die Historie Himmelsbräute, die maßgeblich mitverantwortlich für das Verbot des Romanzero in Preußen war.83 Hier sind es Ursulinen, die wegen eines Verstoßes gegen das Keuschheitsgelübde als Gespenster ihr Unwesen auf Erden treiben: Wer dem Kloster geht vorbey Mitternächtlich, sieht die Fenster Hell erleuchtet. Ihren Umgang Halten dorten die Gespenster. 81

Daneben handelt es sich hierbei leicht erkennbar um eine Anspielung auf die Klage Gretchens in Faust I: „Meine Ruh ist hin, / Mein Herz ist schwer; / […] Wo ich ihn nicht hab’, / Ist mir das Grab, / Die ganze Welt / Ist mir vergällt.“ Goethe 1808, S. 170. 82 Auch der Stall findet mehrmals Erwähnung: „Es blöken im Stalle die Schaafe –“ (V. 6 und 34) –, bzw. wird durch den Refrain „Eyapopeya, was raschelt im Stroh?“ in jeder Liedstrophe leitmotivisch aufgerufen. Auch Walter Hinck spricht dem Gedicht am Ende jeden Sinn von Naivität ab, den man durch die Anklänge an Kinderliedern zunächst vermuten könnte und betont den politischen Charakter des Gedichts: „Wenn die Kinderliedverse – in der Schlußstrophe – zum erstenmal in ununterbrochener Folge zusammen erscheinen, wenn die verstreuten Elemente des Wiegenlieds endlich vereint sind, haben sie zugleich ihren ganzen naiven Sinn eingebüßt. Nicht nur die bildliche Wendung Das Kätzchen ist tot, auch ihr Komplement die Mäuschen sind froh ist nun metaphorisch festgelegt. Im Grunde haben wir hier sogar eine Metapher ‚in der Potenz‘, in der zweiten Dimension. ‚Mäuschen‘ steht als Metapher für die Köhlerkinder, ‚Köhlerkinder‘ wiederum ist eine Synekdoche, ist Bild für das ‚Volk‘. Diese doppelschichtige Metapher bestimmt die ‚Historie‘ zum politischen Gedicht. Es geht Heine nicht um die geschichtliche Faktizität, sondern um die Aktualisierbarkeit des historischen Ereignisses.“ (Hinck 1972, S. 296–297) 83 Vordergründig nicht aus politischen, vielmehr aus religiösen Gründen. Heine wurde schlichtweg Blasphemie vorgeworfen. Vgl. DHA 3.2, 650 sowie Landwehr 2001, S. 46. Der Vorwurf der Blasphemie scheint noch in Untersuchungen Mitte des 20. Jahrhunderts durch, etwa bei Gebhard (Gebhard 1956, S. 80–83).

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Eine düstre Prozession Todter Ursulinerinnen; Junge, hübsche Angesichter Lauschen aus Kapuz’ und Linnen. (DHA 3.1, 42, V. 1–8)

Sie singen weiterhin ihre Lieder, doch handelt es sich dabei um „wahnsinnwüste Worte; / Arme Seelen sind es, welche / Pochen an des Himmels Pforte“ (V. 18–20). Im Lied der Nonnen wird bald deutlich, warum sie zu ihrem Schicksal verdammt sind. Sie haben den Zölibat gebrochen und damit bildlich (V. 31) Jesus Christus Hörner aufgesetzt: „Bräute Christi waren wir, Doch die Weltlust uns bethörte, Und da gaben wir dem Cäsar, Was dem lieben Gott gehörte. Reitzend ist die Uniform Und des Schnurrbarts Glanz und Glätte; Doch verlockend sind am meisten Cäsars goldne Epaulette. Ach der Stirne, welche trug Eine Dornenkrone weiland, Gaben wir ein Hirschgeweihe – Wir betrogen unsern Heiland. Jesus, der die Güte selbst, Weinte sanft ob unsrer Fehle, Und er sprach: Vermaledeit Und verdammt sey eure Seele! (V. 21–36)

Wieder werden verschiedene Ordnungssysteme auf empfindlichste Art und Weise gestört. Zunächst sind es die Nonnen, die ihren Eid brechen, keinen Mann neben Christus zu lieben. Ihre Verbundenheit zu Christus wird im Gedicht noch dadurch bestärkt, dass Heine den poetischen Begriff „Himmelsbräute“ als Titel verwendet und später (V. 21) von den „Bräute[n] Christi“ spricht, was die Schwere des Eidbruchs noch betont. Weiterhin ist von Bedeutung, mit wem sie Christus betrogen haben. Es sind Soldaten bzw. Offiziere; semantisch wird damit die militärische und kriegerische Sphäre aufgerufen (V. 25–28), mithin handelt es sich um Vertreter des genauen Gegenteils dessen, wofür die Friedensbotschaft Jesu Christi steht. Dessen Reaktion entspricht allerdings auch kaum dem Geist des Christentums: Kein Wort von Vergebung der Sünden oder Verständnis für die armen Sünderinnen. Stattdessen werden deren Seelen verdammt. Der Schuldspruch Christi erinnert in seiner Unbarmherzigkeit (die in eklatanter Weise mit dem mehrfahren Ausruf „Miserere!

4.3 Von Lebendigen und Toten

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Miserere!“ kontrastiert) an den Gott des Alten Testaments. Die Nonnen sind dazu verflucht, als Gespenster weiterhin dem Gott, den sie verraten haben, Ehre zu erweisen. Letztendlich fallen sie deshalb dem Wahnsinn anheim: Grabentstieg’ner Spuk der Nacht, Müssen büßend wir nunmehre Irre gehn in diesen Mauern – Miserere! Miserere! (V. 37–40)

Der empathische Anruf der beiden Schlussstrophen des Nonnengesangs, der vom tiefen kalten Grab bis ins warme Himmelreich dringt, diese beiden Sphären demnach textlich miteinander verbindet, hat wenig Hoffnung auf Erhörung. Er endet zwar mit dem Miserere des Psalms 5184 , doch haben die Nonnen nicht das letzte Wort. Das Gedicht schaltet noch einmal um auf einen anscheinend wahnsinnig gewordenen (und ebenfalls toten) Organisten, der, genauso verdammt, den irren Gesang der Nonnen passend auf der Orgel begleitet: Ach, im Grabe ist es gut, Ob es gleich viel besser wäre In dem warmen Himmelreiche – Miserere! Miserere! Süßer Jesus, o vergieb Endlich uns die Schuld, die schwere, Schließ’ uns auf den warmen Himmel – Miserere! Miserere!“ Also singt die Nonnenschaar, Und ein längst verstorb’ner Küster Spielt die Orgel. Schattenhände Stürmen toll durch die Register. (V. 41–52)

Dies ist eine der wenigen Stellen im Romanzero, in der, wenn auch nur in Figurenrede, Gott bzw. Christus tatsächlich handelt. Bezeichnend ist dann, dass es sich bei dieser Handlung eben nicht um Vergebung oder eine um irgendwie ‚gut‘ konnotierte Tat handelt, sondern um den Fluch zu ewiger Verdammnis. Über die literarische Quelle des Gedichts besteht Unklarheit, doch ist anzunehmen, dass Heine sich auf das Volkslied Todtengesang Uhlands stützt:85 „Darin wird von den Stimmen der Toten berichtet, die in den Ruinen einer zerstörten Kirche ertönen. Es sind Freudestimmen, die die nahe Erlösung, den jüngsten Tag erwarten“.86 Der Kommentar zur Düsseldorfer Heine-Ausgabe stellt diese Verbindung in Frage, da die Stimmung in beiden Gedichten eine ganz verschiedene sei:

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In der Vulgata: „Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam.“ Vgl. Greinz 1894, S. 28. 86 DHA 3.2, 651. 85

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Es handelt sich im Volkslied um auf Erlösung Harrende, bei Heine um Verdammte. Ein volkstümlich religiöser Sinn spricht auf der einen Seite, während auf der anderen Seite mit Elementen der Schauerromantik gespielt wird. Schließlich gehören die Stimmen im älteren Text den Seelen von einfachen Gläubigen, während es im Gedicht Nonnen sind, die Fleischessünden begingen, womit Heine das Keuschheitsgelübde ins Lächerliche zieht.87

Allerdings arbeitet Heine das Volkslied Uhlands bewusst um und gleicht es dem Gesamtkonzept des Romanzero an. Wenn es im Prätext ‚einfache‘ Gläubige sind, die um Erlösung bitten, so gewinnt Himmelsbräute noch an Brisanz, wenn dort Nonnen, die sich eben in besonderer Weise Christus verschrieben haben, sündhaft handeln. So erklärt sich auch die Wandlung der ‚Harrenden‘ (bei Uhland) zu den von vornherein Verdammten (bei Heine): Im Gegensatz zum Volkslied existiert im Romanzero von Beginn an keine Hoffnung.88 Erneut steht die strenge Komposition der Romanzenstrophe89 der aus den Fugen geratenden Ordnung diametral gegenüber. Die mythische Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten, das Totengedenken gar, wird im Romanzero zwar durchgeführt, zugleich aber pervertiert: Es findet kein Gedenken statt, aus der Verbindung kann nichts Gutes entstehen. Weder sind die Toten gut (Maria Antoinette) noch die Lebenden (Pfalzgräfin Jutta) noch ist jenseitige Gnade zu erwarten (Himmelsbräute). Das Einebnen der Grenzen zwischen der Welt der Lebenden und der Toten lässt im Romanzero somit nicht auf eine überirdische Gerechtigkeit hoffen, es zementiert nur Willkür und Chaos, denen sich der Mensch in der Welt ausgesetzt sieht. So findet im Romanzero zwar eine dem mythischen Denken entlehnte Transzendenz von Raum und Zeit statt, die jedoch dem menschlichen Leben gerade keine überzeitliche, transzendente Ordnung zu verleihen vermag. Sie macht das Unvertraute nicht vertraut. Sie zerstört vielmehr jedes Weltvertrauen, indem sie die Rohheit und Schlechtigkeit der Welt aufzeigt. Darüber hinaus erlaubt die Betrachtung der überzeitlichen, d. h. mythischen, Vergangenheit, einen Blick in die Zukunft, der wiederum offenbart, dass sich an diesem Zustand nichts Grundlegendes ändern wird. Das transzendente Moment selbst wird so zu einem Instrument der Verunsicherung.

87

DHA 3.2, 651. Und auch wenn man dem Kommentar folgt und Heine das Keuschheitsgelübde ins Lächerliche zieht: Die Konsequenzen des Bruchs des Gelübdes bleiben ja nur allzu real. 89 Heine überlässt hier nichts dem Zufall. So endet etwa V. 35 – „Und er sprach: Vermaledeit“ – entgegen der eigentlichen Romanzenstrophe mit einer männlichen Kadenz. Das aber korreliert mit dem Fluchwort und „verstärkt den Kontrast zwischen dem sanft weinenden und dem verdammenden Jesus.“ (Gebhard 1956, S. 82) 88

Schluss

Vom Menschen heißt es, er könne nicht im Chaos leben. Das Chaos verkörpert eine „unstrukturierte[] Mannigfaltigkeit“ und diese wiederum verunmöglicht die Kommunikation mit anderen ebenso wie den verstehenden Zugang zur Welt, sie verhindert jedes Berechnen, Erklären, tätige Eingreifen und Planen. In ihr kann der Mensch keinen Halt gewinnen, weder an der Welt noch in sich selber. Das Erlebnis des Chaos ist Inbegriff der Verunsicherung, eine Urerfahrung der Angst; das Interesse an der festen Struktur, der geordneten Welt, in welcher der Mensch zu Hause sein kann, ist elementarster Ausdruck des Bedürfnisses nach Sicherheit und Identität.1

Eine Möglichkeit diesem Chaos zu begegnen, ein Weltzugang, der der Kontingenz der Welt entgegentritt, besteht im mythischen Denken. Es befriedigt die Sinnsehnsucht des Menschen, es verleiht Struktur und liefert eine transzendentale Behausung, denn der „Mythos ist wie die Sprache, die Kunst und die wissenschaftlich-empirische Erkenntnis eine eigengesetzliche ‚Gestaltung zur Welt‘ (Cassirer), d. i. eine intersubjektive Denkform, die der zeichenhaften Ordnung und Bewältigung erfahrener Wirklichkeit dient.“2 Dieses mythische Denken manifestiert sich in unterschiedlichen Formen auch in Heines Romanzero. Schon der genuin poetische, der lyrische Zugang zur Welt, legt davon Zeugnis ab: „Gelungen ist ein Kunstwerk, in dem nichts zufällig ist, nichts anders sein kann.“3 Das ist im Romanzero der Fall. Die Welt wird erfasst durch die Form des Gedichtzyklus, dieser zwingt sie in Regeln, zwingt ihr ein menschengemachtes Sinnsystem auf. So ist der Romanzero der eindrucksvolle Versuch einer „narrativen[n] Lösung[] eines Problems des Weltverhältnisses oder -verständnisses.“4 In seiner Eigenschaft als durchkomponierter Lyrikzyklus verfügt er offenkundig über ein ästhetisches Moment. Denn nicht zuletzt ist auch Ästhetik „in einem spezielleren und empathischeren Sinn Repräsentantin von Ordnung

1

Angehrn 1996, S. 72. Winkler 1995, S. 18. 3 Angehrn 1996, S. 246. 4 Dörr 2004, S. 42. 2

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Ritzen, Heinrich Heines „Romanzero“, Heine-Studien, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66641-8

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als ein komplexes Regelsystem dies ist“.5 In der poetischen Adaption mythischer Denkstrukturen bemüht sich der Romanzero um „das Festhalten der bestimmten Gestalt und Identität, gegen ihre Auflösung im Formlos-Unbestimmten, und das Setzen der Ordnung und eine Bewahrung gegen die Kräfte der Unordnung“.6 Heine bringt also die Kunst gegen die Kräfte der Unordnung der Welt in Stellung. Er tut dies geschickt. Denn die Schönheit und Struktur der Form sagt noch nichts über den Inhalt aus, sagt noch nichts darüber aus, wie die beschriebene Welt beschaffen ist und was dies für den Menschen in ihr bedeutet. Damit wäre also der Mensch zunächst lediglich räumlich und zeitlich in ihr verortet, was aber noch nichts über die Qualität seiner Existenz aussagt. Ihm sind die Grenzen seines Daseins aufgezeigt, aber noch nicht dessen Inhalt und Bedeutung. Der Romanzero kann so auch verstanden werden als der unausgesprochene Versuch einer Beantwortung der dritten großen Kant’schen Frage: Was darf ich hoffen? Die Antwort darauf fällt ernüchternd aus. Bereits die Historien beschreiben die Welt als ein System, in dem zwar Ordnung herrscht, allerdings bloß in einer pervertierten Form als Ordnung der Willkür und des Rechts des Stärkeren.7 Der Mensch weiß, wie ihm geschieht, er kann es nur nicht ändern. Wie es um das einzelne Subjekt ganz im Allgemeinen bestellt ist, drückt exemplarisch die erste Strophe von Weltlauf, dem ersten Lazarus-Gedicht, aus: Hat man viel, so wird man bald Noch viel mehr dazu bekommen. Wer nur wenig hat, dem wird Auch das Wenige genommen. (DHA 3.1, 105, V. 1–4)

Am Ende des Lazarus schließlich klaffen die Wunden, strömt das Blut, das Enfant perdü, der „[v]erlor’ne[] Posten in dem Freyheitskriege“ (DHA 3.1, 121, V. 1), sinkt tödlich getroffen nieder. Der Mensch ist tot, der Kampf mag weitergehen, aber von Hoffnung ist nichts mehr zu spüren, sie hat einem sich verselbstständigten Schlachten Platz gemacht: „Der Eine fällt, die Andern rücken nach –“ (V. 22). Das große Ganze gerät so zwar nie aus dem Blick, wie exemplarisch das hochpolitische Im Oktober 1849 zeigt. Auch hier jedoch gilt in Anknüpfung an die Historien: Es ist dasselbe Schicksal auch – Wie stolz und frey die Fahnen fliegen, Es muß der Held, nach altem Brauch, Den thierisch rohen Mächten unterliegen. (DHA 3.1, 118, V. 45–48)

Lazarus steigert die Orientierungslosigkeit des Menschen ins Extreme. In ihm zeigt sich, wie der Verlust äußerer Orientierung nicht allein die Erfahrung der Kontingenz 5

Dörr 2004, S. 299. Vgl. ebd.: „Ästhetische Ordnung teilt mit der moralischen oder religiösen Ordnung die Stringenz der inneren Wahrheit und Notwendigkeit: Sie tritt mit dem Anspruch der immanenten Begründetheit auf und kann in dieser Funktion andere Ordnungen abschließen oder beglaubigen“. 6 Dörr 2004, S. 45. 7 Vgl. etwa König David, Valkyren, Schlachtfeld bey Hastings.

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des eigenen Daseins in der Welt nach sich zieht. Mehr noch verliert sich das Subjekt dadurch selbst, die Haltlosigkeit wird zur existentiellen Bedrohung.8 Dem aus nur drei Gedichten bestehenden Schlusszyklus Hebräische Melodien liegt denn ebenfalls nichts ferner, als der menschlichen Existenz eine hoffnungsvolle Note zuzuschreiben. In Prinzessin Sabbath wird das jüdische Volk, das hier als Metonymie für die Menschheit gelesen werden darf, mit einem verwunschenen Prinzen verglichen, der nur am Sabbat seine menschliche Gestalt erhält, während er sich die restliche Zeit als „Hund mit hündischen Gedanken / […] [d]urch des Lebens Koth und Kehricht“ (DHA 3.1, 125, V. 17 und 19) schleppen muss. Jehuda ben Halevy, das längste Gedicht des gesamten Romanzero, erzählt vom Leben und vor allem vom Sterben dreier jüdisch-spanischer Dichter, wobei es besonders auf die Unberechenbarkeit des menschlichen Schicksals aufmerksam macht: Jahre kommen und vergehen – In dem Webstuhl läuft geschäftig Schnurrend hin und her die Spule – Was er webt, das weiß kein Weber. (DHA, 3.1, 136, V. 17–20)

Das letzte Gedicht des Romanzero endet, nachdem in Disputazion Mönch und Rabbi im stundenlangen Streitgespräch über die Beschaffenheit des einen und wahren Gottes beinahe handgreiflich geworden sind, in einer krassen Dissonanz. Die hochgeistige Ausgangsfrage wird auf reine Körperlichkeit reduziert: Welcher Recht hat, weiß ich nicht – Doch es will mich schier bedünken, Daß der Rabbi und der Mönch, Daß sie alle beide stinken. (DHA 3.1, 172, V. 437–440)

Fortwährend benutzt der Romanzero zur Beschreibung der Welt und des menschlichen Lebens die fundamentalen Merkmale des mythischen Denkens. Auf einer formalen Ebene wird beispielsweise durch Sukzession und Erbfolge Willkür vermieden. Auch wird der Mensch, durch die sowohl den Mikrokosmos einzelner Gedichte als auch den Makrokosmos der Gesamtkomposition durchziehende zyklische Struktur, fest in der Welt verortet. Die Transzendenz von Raum und Zeit sorgt für eine Selbstvergegenwärtigung und Selbstvergewisserung des Menschen nicht allein in der Gegenwart, sondern, durch den Rekurs auf mythische Vergangenheit, auch für die Zukunft. Der Mensch muss wissen, woher er kommt, sonst weiß er nicht, wer er ist: „Nicht nur wer weiß, woher er kommt, weiß, wer er ist; auch zu wissen, wovon man sich emanzipiert hat und wohin man geht, ist Grundlage von Identität.“9 Auf der Bedeutungsebene jedoch wird all diese Ordnung wieder negiert. In Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1833/34) hing Heine noch einem Fortschrittsglauben an, der „im geschichtlichen Progreß die Tendenz zu

8 9

Vgl. dazu auch Angehrn 1996, S. 144. Angehrn 1996, S. 84.

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Schluss

Vervollkommnung und die Bestimmung zur Glückseligkeit erkennt und dem fatalistischen Verständnis gegenüber sich auf die göttlichen Rechte der Menschheit, die Verheißung eines ‚goldenen Zeitalters‘ […] beruft.“10 Die Hoffnung auf ein ‚goldenes Zeitalter‘ hat sich zerschlagen. Im Gegenteil weiß der Romanzero um die Ausweglosigkeit der menschlichen Verfassung, er kennt für Hoffnung keinen Platz mehr, und zwar nirgendwo auf der Welt. Selbst das Ausweichen auf den ‚neuen‘ Kontinent Südamerika, stößt die Europäer nur auf eigene verdrängte Tabus zurück, führt zum Genozid an der indigenen Bevölkerung und schließlich, durch das Importieren des rachsüchtigen Kriegsgott Vitzliputzli nach Europa, zu einer Vergrößerung des Leidens auch in der Heimat. Folgerichtig wird der Poesie selbst ein Gefahrenpotential zugeschrieben. Der Romanzero entwickelt eine Auffassung von Dichtung (und Dichtenden), nach der Dichtung als von Beginn an kontaminiert angesehen wird und nach der Dichtende, so ehrbar und lauter ihre Motive auch sein mögen, sich der Wirkung ihrer Werke nie sicher sein können. Einer metapeotischen Lesart folgend, bestimmt der Romanzero Kunst so als suspekt. Damit nicht genug, kann Dichtung selbst, die doch ursprünglich Weltsicherheit vermitteln und für Ordnung sorgen soll, mitunter ernsthaft gefährlich werden. Oder, um es zuzuspitzen: Dichtung kann töten.11 Wenn im mythischen Denken das „periodische Auflösen und Wiederherstellen von Ordnung eine erlebensmäßige Auseinandersetzung mit dem Antagonismus von Chaos und Ordnung“12 ist, dann gibt Heine dem eine neue Wendung. Er benutzt dazu mit dem mythischen Denken gerade das eine dem Menschen zur Verfügung stehende Mittel, das gleichsam als anthropologische Konstante wie kein Anderes epistemische und soziale Sicherheit schafft, um diese Sicherheit sodann auf der Bedeutungsebene zu dekonstruieren. Hans Blumenberg stellt für die Mythologie Friedrich Nietzsches fest, „daß Rezeption des Mythos nicht nur ein Umkreisen seiner Materialien, auch nicht nur ein Nachspielen seiner formalen Strukturen ist, sondern daß dieses Verfahren seine eigene Konsequenz, gleichsam eine Finalität, hat. Ich nenne es: den Mythos zu Ende bringen.“13 Dies lässt sich auf Heines Umgang mit dem mythischen Denken im Romanzero übertragen. Er verwendet die Strukturen des mythischen Denkens konsequent, bis sie beinahe, aber eben nur beinahe, unter der Bedeutung, die sie tragen, zusammenbrechen und nicht mehr zu erkennen sind. Heine bedient sich eines Instruments der Willkürvermeidung zur Beschreibung der Faktizität der Willkür. Das Gerüst des Mythos wird so in das Erzählen transferiert, nur um ihm dann an einer zentralen Stelle seine ursprüngliche und wesentliche Funktion zu nehmen: Es schafft keinen Sinn mehr.14 10

Bollacher 1977, S. 150. Wie etwa die Gedichte Der Mohrenkönig oder Pomare zeigen. 12 Angehrn 1996, S. 38. 13 Blumenberg 1971, S. 31. 14 Der Romanzero kann somit auch als deutliche Absage an jede Form des Marxismus gelesen werden: „Der Marxismus hält nichtsdestoweniger doch noch an einem Sinn für Geschichte fest. 11

Schluss

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Für Mircea Eliade hat im Mythos das Leid des Menschen zumindest einen Sinn. In ihm drückt sich „wenigstens eine Ordnung“ aus, „deren Wert nicht angezweifelt wurde.“15 Das Leid wird erträglich, weil es nicht sinnlos und willkürlich erscheint. Genau dies negiert der Romanzero. Das Leiden hat keinen Sinn, aber es muss ertragen werden. Ein objektiver Sinn existiert nicht, weder für den Menschen noch in der Geschichte. Dieses Bewusstsein mag mit ein Grund dafür sein, dass Heines letzter großer zu Lebzeiten veröffentlichter Lyrikzyklus sich so hartnäckig einer Deutung zu widersetzen scheint. Damit führt der Romanzero den Mythos ad absurdum und somit tatsächlich zu einem Ende. Man könnte sagen, er nehme Adornos Definition des Mythischen vorweg: „Mythisch ist die Zelebration des Sinnlosen als Sinn.“16 Was bleibt also? Die Dichtung selbst. Jedoch nicht als Behauptung des Lebens gegen den unvermeidlichen Tod, nicht als Bekräftigung der Menschheitsgeschichte gegen die chaotischen Mächte der Welt, sondern als Zeugnis des Lebens überhaupt. Wenn schon die ältesten Kulturtechniken, Mythos und Religion, die Kontingenz der Welt nicht aufheben können, wenn der Mensch angesichts dieser Kontingenz resigniert, so liefert Dichtung doch zumindest temporären Trost für die Dauer des Kunstgenusses: das maximal Mögliche angesichts einer schonungslosen Betrachtung des Weltzustandes. Und im Falle des Romanzero ist das nicht wenig.

Für ihn sind die Ereignisse nicht nur eine Abfolge willkürlicher Zufälle, sondern sie lassen eine zusammenhängende Struktur deutlich werden und führen vor allem zu einem genauen Ziel: zur endlichen Ausmerzung des Schreckens der Geschichte, also zum ‚Heil‘.“ Eliade 3 1986, S. 161. 15 Eliade 3 1986, S. 108. 16 Adorno 7 2015, S. 125.

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© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Ritzen, Heinrich Heines „Romanzero“, Heine-Studien, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66641-8

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