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German Pages 241 [244] Year 2007
Un tersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 131
Karin Sousa
Heinrich Heines »Buch der Lieder« Differenzen und die Folgen
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007
Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-32131-1
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http: //www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Dr. Gabriele Herbst, Mössingen Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Inhalt
ι
2
Einleitung
ι
Thematische Hinführung Begründung der Textauswahl und des Forschungsansatzes . . .
4 11
Differenzen und die Folgen
17
2.1 Unkontrolliertes Reden: Zu Heimkehr LIII
18
2.2 Unwahres Reden: Zu Heimkehr LVII
26
Zwei Weisen der Rede Zwei Weisen des Umgangs mit Stimmigkeiten und Unstimmigkeiten Zusammenfassung
28 31 48
2.3 Uneiniges Reden: Zu Heimkehr XX Bestimmung des Graus\ens\ Mögliche Ursachen des Graus\ens\ Poetologische Sichtweisen
51 52 53 72
2.4 Uneigenes Reden: Zu Heimkehr XLIV Hinführung Auf der Suche nach der Eigentlichkeit Poetologische Perspektiven
81 82 88 97
2.5 Unzuverlässiges Reden: Zur Vorrede des BdL von 1837 Vom Verlust der ersten Dinge Von potenziell Präsenz-steigernden Mitteln Die Frage nach den letzten Dingen Zusammenfassung 3
112 113 132 158 161
Zum Stand der Forschung Von Ernst und Scherz, Ekel und Entzücken
170
Nichts weniger als ein Kulturkampf Die Position der so genannten älteren Heine-Forschung Wissenschaftliche Sichtweisen der Erlebnisstruktur des BdL . .
171 181 183 V
4
Tendenzen der neueren Heine-Forschung
189
Zusammenfassung
206
Zusammenfassung und Ausblick
209
Bibliografie Primärliteratur
225 225
Sekundärliteratur
226
VI
Danksagung
A n dieser Stelle möchte ich all denen danken, die mich während der Dissertationsphase unterstützt und so zur Fertigstellung der Arbeit beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt Prof. Rüdiger Görner für die sorgsame und zugleich inspirierende Betreuung der Arbeit, sein vielfältiges Engagement und vor allem für das Vertrauen, das er mir während der gesamten Dissertationsphase geschenkt hat. Der Studienstiftung des deutschen Volkes danke ich für die großzügige ideelle und finanzielle Unterstützung. Hans Graf von der Goltz gebührt mein herzlicher Dank für das Stipendium, das er dem damaligen Institute of Germanic Studies der University of London gestiftet hat und das mir zuerkannt wurde. Für das sorgfältige Korrekturlesen der Arbeit und die viele Aufmunterung danke ich meiner Mutter und meinem Mann, Stefanie Hölscher, Diana Böhmer, Chris Haie, Thomas Wagner sowie Daniela Zimmermann. Meiner Familie danke ich für ihren beharrlichen Wunsch, es möge einen Schlag tun und die Arbeit sei geschrieben. Meinen Eltern und Schwiegereltern danke ich dafür, dass sie zu jeder Zeit an jedem Ort waren, wenn ich sie brauchte, und dass sie Leo die Welt gezeigt haben, während ich mich um Heine kümmerte. Leo danke ich dafür, dass er mir immer wieder gezeigt hat, worum es im Leben >wirklich< geht. Axel Kaschner danke ich dafür, dass er mich in dieser Zeit auf Händen getragen hat. I hereby declare that this thesis is my own, original and unaided work. Tübingen, February 2006
Karin Sousa
VII
ι
Einleitung
Mit der Liebe ist es bei Heine so eine Sache, und das liegt mitunter daran, dass sie wie z. B. im Fall des Lyrische^n] Intermezzo[s] der zusammen-^ührurig
VI nicht der Ort
des Partikularen und somit nicht Ort der Prä-
senz ist, sondern ein »Un-ort«, 1 ein Ort der Absenz und Differenz: Lehn deine Wang an meine Wang, Dann fließen die Tränen zusammen; Und an mein Herz drück fest dein Herz, Dann schlagen zusammen die Flammen! Und wenn in die große Flamme fließt Der Strom von unsern Tränen, Und wenn dich mein Arm gewaltig umschließt — Sterb ich vor Liebessehnen!2 In der ersten Strophe des Gedichts tritt ein Subjekt in Erscheinung, das offenbar noch fest davon überzeugt ist, dass mein und dein ins große unser\_i\ überführbar seien. Auf der Basis dieser Uberzeugung wird in den ersten Zeilen der zweiten Strophe alles für den Moment der
zusammen-
Führung vorbereitet: Und wenn in die große Flamme fließt Der Strom von unsern Tränen, Und wenn dich mein Arm gewaltig umschließt Alles ist auf das finale »Dann« hin ausgerichtet und damit auf die feierliche Beschreibung und Bestätigung einsetzender Z.ze£es-Erfüllung. Was aber folgt, ist ein Liebessehnen,
das der Idee der Erfüllung radikal ent-
gegensteht, weil es darauf beruht, dass »das Objekt [...] zwar real da [ist], imaginär [...] jedoch weiterhin entbehr[t]« 3 werden muss. In der letzten
1
2
3
Bernhard Waidenfels: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, Frankfurt/Main 1998, S. 166. Heinrich Heme: Buch der Lieder, in: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, München 1997 (die folgenden Angaben zu Heines Schriften beziehen sich auf diese Ausgabe), Β. I, S. γ6ϊ. Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/Main 1984, S. 29. I
Zeile kommt mithin auf Seiten des Subjekts etwas zum Vorschein, das sich der großen zusammen-¥ühxvirig von Subjekt und Objekt entzieht bzw. widersetzt und das Subjekt gleichzeitig - zumindest grammatisch betrachtet - erst zum Subjekt macht {ich). Indem nun das Liebessehnen des Subjekts am Ende an die Stelle der Zie£>es-Erfüllung tritt, verweist die letzte Zeile des Gedichts die Idee der Z.ze£es-Erfülhing in den Bereich des Utopischen, denn hier wird keine einmalige oder zufällige Situation dokumentiert, die Wenn-Dann-Konstruktion, in die das ganze Gedicht eingebettet ist, verleiht der Angelegenheit vielmehr etwas Grundsätzliches. Rückblickend scheinen darüber hinaus vom Ende her zwei prinzipielle Gefahren großer Einheits- und Ganzheitsbestrebungen auf: Die Gefahr der Auflösung des Selbst und der Flamme im Strom von unsern Tränen sowie die Gefahr des »Zwang«-haften, die dem \G]ewaltig\er[\ der [U~\mscMe/?[ung] anhaftet: »Die Sehnsucht nach einem wiederzufindenden Ganzen lebt von der fragwürdigen Annahme, man könne den Glanz des Ganzen haben ohne den Zwang des Ganzen. An dieser Stelle berühren sich Romantizismus und Totalitarismus, allen sonstigen Unterscheidungen zum Trotz«. 4
Das Gedicht Lyrisches Intermezzo VI aber lässt sich nicht nur als Angriff auf große Einheits- und Ganzheitsbestrebungen in Sachen Liebe lesen, es stellt auch die Vorstellung der Einheit und Ganzheit des Subjekts selbst in Frage, denn genauso wenig wie am Ende gelten kann: »ich und du, wir sind [...] völlig bei uns«, gilt offenbar: »Ich und ich sind [...] völlig bei sich«.s Vielmehr muss das Subjekt konstatieren, dass Geist und Leib keine Einheit bilden und dass »[i]ch [...] nie ganz und gar da [bin], wo ich bin«:6 Ausgerechnet bzw. gerade im Augenblick der [U]«"zscMe/?[ung] des du muss das Subjekt die eigene Gespaltenheit erfahren, gerade in diesem Augenblick also muss das Subjekt tief in sich selbst die Erfahrung der Gleichzeitigkeit von »leibhaftige[r] Anwesenheit« und »leibhaftiger Abwesenheit« machen und damit die Erfahrung des eigenen Un-Einen und »Un-Ganzen«/ der eigenen Unverortbarkeit. Damit aber wird dem Subjekt nicht nur seine eigene Uberzeugung zum Problem, das Subjekt wird sich nicht nur selbst zum Problem, damit erscheinen auch traditionelle Vorstellungen von beispielsweise Echtheit und Autorschaft in Frage
4 s 6
7
Bernhard Waldenfels: Grenzen der Normalisierung, S. 162. Bernhard Waidenfels: Antwortregister, Frankfurt/Main 1994, S. 423. Bernhard Waidenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/Main 1997, S. 33. Bernhard Waidenfels: Grenzen der Normalisierung, S. l y / L 2
gestellt. So entspricht das Subjekt in Lyrisches Intermezzo VI nicht dem, was z. B. Gadamer noch als »echt« bzw. »wahr« definiert: »Wahr ist, was sich als das, was es ist, zeigt. Wenn wir etwa sagen »echtes Gold«, dann meinen wir, das blitzt nicht nur so wie Gold, das ist Gold. Noch besser entspricht dem in unserm eigenen Sprachgebrauch, wenn wir von jemandem sagen, er sei ein wahrer Freund. Wir meinen damit, er sei einer, der [...] einem nicht nur den Anschein freundschaftlicher Verbundenheit und Gesinnung entgegenbrachte. Es hat sich vielmehr herausgestellt, daß er ein wirklicher Freund ist, »unverborgen«, wie Heidegger sagt.«8
Gerade aber das »[VJerborgene« erscheint in diesem Kontext als ein, wenn nicht das wesentliche Merkmal dieses Subjekts, ohne dass es deswegen »[un]wirklich«, unwahr oder gar verlogen wäre. Darüber hinaus macht das »[VJerborgene« die Rede des Subjekts und, poetologisch betrachtet, die des Autors polyphon und stellt mithin deren »Status« in Frage: »Entscheidend ist [...], daß die Vielstimmigkeit keine bloße Vielfalt des Gesagten meint, sondern eine Vielfalt des Sagens bzw. des Sagenden, die sich in der Form des >Ich< ankündigt. Im Ereignis des Sagens kommt es zu Brechungen, Abweichungen und Distanzierungen«.?
Und so könnte man in der Auseinandersetzung mit diesem Text zu dem Schluss kommen, dass - jenseits vom Thema Liebe - gängige Vorstellungen von Identität, Echtheit oder Autorschaft, die, weil sie vermeintlich auf gewaltig [UJwscÄ/ossenem, d. h. auf Festem bzw. Festgeschriebenem, beruhen, Sicherheit und damit Kontrollier- und Beherrschbarkeit versprechen, am Ende lediglich Scheinsicherheiten bieten. Auch die Auseinandersetzung mit anderen Texten aus dem Buch der Lieder10 lässt, wie im Folgenden gezeigt werden soll, manches Sicher-Geglaubte zweifelhaft erscheinen.
8
9 10
Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Dichtung. Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit, in: Zeitwende. Kultur - Theologie Politik, 42. Jg. 1971, S. 402-410, hier S. 404f. Bernhard Waldenfels: Antwortregister, S. 436. Im Folgenden abgekürzt durch BdL. 3
»Wieder lesen, eine Verrichtung ganz gegen die kommerziellen und ideologischen Gewohnheiten unserer Gesellschaft, die uns die Geschichte »wegzuwerfen« heißt, sobald sie einmal konsumiert ist [...] so daß wir dann zu einer anderen Geschichte weitergehen, ein anderes Buch kaufen können ... Wieder lesen wird hier empfohlen, um anzufangen, denn es allein rettet den Text vor der Wiederholung (diejenigen, die es nicht schaffen, wieder zu lesen, sind genötigt, überall dieselbe Geschichte zu lesen).« (Roland Barthes)
Thematische Hinführung Das BdL nimmt, wie gezeigt werden soll, gemäß de Mans berühmtem Diktum seine eigenen Interpretationsmöglichkeiten vorweg und führt dabei vor Augen, dass »Lesen [...] einem Gefecht vergleichbar [ist], dessen Kämpfer über die Realität oder Fiktionalität ihrer Äußerungen streiten, über die Fähigkeit zu entscheiden, ob der Text eine Fiktion oder eine (Auto-)Biographie, eine Erzählung oder historisch, spielerisch oder ernsthaft sei«. 1 1
Im Fall des BdL fällt der Streit nun offenbar besonders heftig aus: »Es gibt den Streit um Heine«, so beginnt Gerhard Höhn das Kapitel zum BdL im Heine-Handbuch, »[u]nd es gibt den Streit um die frühe Lyrik Heines«.12 Ein Grund für den »Streit um die frühe Lyrik Heines« besteht der hier vertretenen Ansicht nach darin, dass sich das BdL durch eine stark ausgeprägte »Unruhe« auszeichnet: »Diese Unruhe wird durch gegenläufige Strömungen verursacht: auf der einen Seite [...] Nachweise, daß alle Vorstellungen von Identität, Echtheit und Autorschaft im besten Fall nützliche Fiktionen seien; auf der anderen Seite ein wahrer Furor der Echtheitsnachweise«. 13
Die »Unruhe« kommt demnach nicht durch die Opposition zwischen dem, was im Sinne von >Erlebnislyrik< echt, und dem, was imitiert wirkt, 11
12
13
Paul de Man: Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher, Frankfurt/Main 1988, S. 224. Gerhard Höhn: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk, Stuttgart/Weimar 2 i997, S. 54. Helmut Lethen: Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze, in: Hartmut Böhme und Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 2 0 5 - 2 3 1 , hier: S. 227.
4
zustande, sondern durch die »[G]egenläufig[keit]« bzw. die Differenz zwischen dem, was echt wirkt, und dem, was die Vorstellung von Echtheit als Fiktion herausstellt und insofern die Opposition zwischen >echt< und >imitiert< subvertiert. Was nun die »[NJachweise« betrifft, die den Eindruck von Echtheit, d. h. von >Präsenzecht< erscheinen lässt.20 Und weitere Spuren des Autors lassen sich in den Gedichten finden, so fällt z. B. der Name Heinrich,11 ferner ist vom juristischein] Streben,22 vom Doktor^ oder vom »[...] deutsche\n\ Dichter,/ Bekannt im deutschen Land [...]« 24 die Rede. Der Eindruck, die Gedichte enthielten ein biografisch-psychisches Substrat, wird darüber hinaus durch einige der so genannten poetologischen Gedichte erzeugt, die an markanten Stellen innerhalb der Zyklen 18 19
20
21 22 23 24
Β. I, S. 9 (Vorrede zur zweiten Auflage des BdL (1837)). Β. I, S. 229 (»Während der Entstehung des »Lyrischen Intermezzos« ausgeschieden«). Auch die Zyklen Aus der Harzreise und Die Nordsee lassen sich biografisch aus entsprechenden Reisen und Aufenthalten Heines (1824/1825) herleiten. Β. I, S. i02f. (Lyrisches Intermezzo LXIV). Β. I, S. 125 (Die Heimkehr XXXV). Β. I, S. 194 (Die Nordsee, Erster Zyklus, X). Β. I, S. 1 1 5 (Die Heimkehr XIII). 6
positioniert erscheinen und insofern auf den jeweiligen Z y k l u s ausstrahlen. So bekennt das Subjekt z. B. zu Beginn des Gedichts Lyrisches mezzo
Inter-
XXXVI·.
Aus meinen großen Schmerzen Mach ich die kleinen Lieder 25 oder offenbart in Heimkehr
I die selbsttherapeutische Funktion des
Dichtens. Z u nennen sind an dieser Stelle ferner jene Gedichte, die den Eindruck erwecken, das Subjekt sei durch das B u c h hindurch immer dasselbe unglücklich liebende, das seine Schmerzen
immer wieder dichte-
risch verarbeiten b z w . erst sein »Leben [...] verändern [müsse, K . S.], um zu einer neuen Thematik zu gelangen«: 26 Wartet nur, es wird verhallen Dieses Echo meiner Schmerzen, Und ein neuer Liederfrühling Sprießt aus dem geheilten Herzen. 27 25
Β. I, S. 75 (Lyrisches Intermezzo II). Vgl. ferner die Sargflieder], die den Abschluss der Zyklen Lieder, Lyrisches Intermezzo und Die Heimkehr bilden und in denen das Büchlein am Ende als Urne in Erscheinung tritt, die mit der Asche der alten Liebe zumindest ein solches biografisch-psychisches Rest-Substrat zu enthalten und zu bewahren scheint (Β. I, S. 42 (Junge Leiden, Lieder IX), S. iojf. (Lyrisches Intermezzo LXV), S. 149 (Die Heimkehr LXXXVIII)); vgl. auch das Eröffnungsgedicht des Zyklus Junge Leiden (Β. I, S. 20 (Traumbilder /)), das den Gegensatz zwischen der Vergänglichkeit des ursprünglichen Erlebens und dem [B]/[e]z^e?z[den] der Reime vor Augen führt, die damit ebenfalls ein biografisch-psychisches Substrat zu enthalten und zu bewahren scheinen; vgl. ferner das Gedicht, das sich als Kritik des Dichter-Ich an der Außenwelt verstehen lässt, die auf die [K]/ag[e] des Menschen über die erlittenen Schmerzen mit Langeweile und Desinteresse reagiert, die Verse des Dichters hingegen, die unmittelbarer Ausdruck derselben erlittenen Schmerzen sind, mit große[m] Lob versieht (Β. I, S. 125 (Die Heimkehr XXXIV)); vgl. schließlich auch das Abschlussgedicht der Romanzen {Junge Leiden, Romanzen XX) sowie den im Nachlass enthaltenen Vierzeiler (Β. I, S. 259 (»Gedichte aus dem Nachlass«, 6)): zwei Gedichte, die beide durch eine Wenn-dann-Konstruktion einen fast mechanistisch anmutenden Zusammenhang von Erlebnis und Gedicht suggerieren.
16
Rolf Lüdi: Heinrich Heines Buch der Lieder. Poetische Strategien und deren Bedeutung, Bern u. a. 1979, S. 139. Β. I, S. 130 (Die Heimkehr XL11I). Vgl. in diesem Zusammenhang auch das diesem unmittelbar vorausgehende Gedicht Β. I, S. 129 (Die Heimkehr XLII); vgl. neben den SDoppelgänger< Poem: An Illustration of Heine's Use of his Romantic Precursors aus Perraudins Studie »Heinrich Heine. Poetry in Context. A Study of Buch der Lieder«, in dem das Gedicht als »song about songs« (S. 72) herausgestellt wird (Oxford u. a. 1989, S. 72-80). Markus Winkler: Paradoxe Authentizität. Kritik und Radikalisierung der Romantik in Heines Heimkehr-Gedicht XLIV, in: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 128-143, hier: S. 135. Bernd Kortländer: Poesie und Lüge. Zur Liebeslyrik des »Buchs der Lieder«, in: Gerhard Höhn (Hg.): Heinrich Heine. Ästhetisch-politische Profile, Frankfurt/Main 1991, S. 195-213, hier: S. 206; vgl. auch Bernd Balzer, der in der Formel »Ernst ist Spiel und Spiel ist Ernst« die Formel »für Hemes spezifische Form der Ironie« ausmacht. (Bernd Balzer: Zum Spektrum der Ironie Heines im >Buch der LiederBotschaft< auf, er befördert die positive Bedeutung und bildet in diesem Sinne mit dem Signifikaten eine Einheit. Im Falle des Mund[es] präsentiert sich hingegen ein stolze[r] Signifikant, der offensichtlich eigene Interessen verfolgt und diese auch dem Subjekt gegenüber durchsetzt, so dass von »einer grenzenlosen Herrschaft oder Macht [des Signifikats] über den Signifikanten« 16 nicht die Rede sein kann. An die Stelle der glücklichen Einheit von Signifikanten und Signifikaten tritt mithin die \s]chmerz[hafte] renz. Während das Angesicht
Diffe-
die Möglichkeit des sicheren Zugriffs auf
>die< Bedeutung und damit die Möglichkeit einer »eigentlichen
Entfal-
tung« dessen verspricht, »was im Sprachgeschehen angestrebt wird, sei es Wahrheit, Verständnis oder Verständigung«, 17 entlarvt der Mund
den
Glauben an solche Möglichkeiten im Bereich der Sprache als Illusion. Dieser eigenmächtige und stolze Mund gewährleistet also keine Präsenz des vom Subjekt Intendierten, sondern zwingt das Subjekt, in impersonalen Wendungen über sein eigenes Reden und Tun zu sprechen (O,
dieser
Mund ist viel zu stolz [...]). Erfahrbar wird mithin, dass »[d]as »Ich spreche« [...] immer etwas von einem »es spricht« [behält, dass] ich [...] meine Rede sowenig wie meinen Leib [besitze]. [...] Dem völligen Abgleiten m ein »es spricht« oder »es handelt« ließe sich [...] begegnen, indem man etwa Handlungen und Äußerungen als dosierte Mischungen von Tun, Geschehen und Widerfahrnis, von Eigenem und Fremdem betrachtet«/ 8
Ernst genommen könnte die aus dieser Sicht im Text zutage tretende Ahnung eines »Es spricht« 19 schwerwiegende Konsequenzen nach sich deren Struktur absolut einmalig ist, gibt sich als das Phänomen einer grenzenlosen Herrschaft oder Macht über den Signifikanten, da dieser die Form der Nicht-Äußerlichkeit selbst hat.« (Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. I04f. und 109). 'S Ebd., S. 105. 16 Ebd., S. 109. 17 Bernhard Waidenfels: Vielstimmigkeit der Rede, S. 26. 18 Bernhard Waidenfels: Der Stachel des Fremden, S. J4f. 19 Vgl. dazu: Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 12 sowie Jacques Lacan: L a chose Freudienne, in: Ecrits, Paris 1966, S. 413.
24
ziehen: Zum einen bahnt sich dadurch, dass die Möglichkeit unmittelbaren Bekennens sowie die Funktion des Subjekts als sinn- und einheitsstiftendes Element des Textes in Frage gestellt wird, die Notwendigkeit an, das Lyrikverständnis zu überdenken, auf dem Heimkehr zzo»[..]2°
LIII
als Varia-
des dichterischen Bekenntnisses eines Subjekts beruht. Zum
anderen geraten dadurch, dass sich der Mund nicht uneingeschränkt als Teil eines Ganzen begreifen und entsprechend instrumentalisieren lässt, seit der Aufklärung gültige Sprach- und Menschenbilder ins Wanken. Die zunächst unscheinbare, weil psychologisch sofort nachvollziehbare Differenz zwischen »Sagen« und »Gesagte[m]« hinterfragt bei genauerer Betrachtung sicher geglaubte bzw. selbstverständlich erscheinende Zuordnungsverhältnisse sowie entsprechende Kontrollmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten. Um die konkreten Folgen der Differenz wird es in den folgenden Kapiteln gehen.
20
In seinem Brief an Karl Immermann vom 10. Juni 1823 spricht Heme bekanntlich im Hinblick auf seine Dichtungen von den Variazionen desselben kleinen Themas {HSA, Β. X X , S.91). 2
5
2.2 Unwahres Reden: Zu Heimkehr
LVII
»Man denke sich einen Menschen, [...] der stumm erträgt, daß man ihn des Illogismus, der Treulosigkeit zeiht; [...] der sich nicht beirren läßt von der sokratischen Ironie (den anderen zur äußersten Schande treiben: sich zu widersprechen) und vom Gesetzesterror (wie viele strafrechtliche Beweise fußen auf einer Psychologie der Einheit!). Ein solcher Mensch wäre der Abschaum unserer Gesellschaft [...] Nun, dieser Antiheld existiert: es ist der Leser eines Textes in dem Moment, wo er Lust empfindet. Der alte biblische Mythos kehrt sich um, die Verwirrung der Sprachen ist keine Strafe mehr, das Subjekt gelangt zur Wollust durch die Kohabitation der Sprachen, die nebeneinander arbeiten: der Text der Lust, das ist das glückliche Babel. [...] Text der Lust: der befriedigt, erfüllt, Euphorie erregt; der von der Kultur herkommt, nicht mit ihr bricht, an eine behagliche Praxis der Lektüre gebunden ist. Text der Wollust: der in den Zustand des Sich-verlierens versetzt, der Unbehagen erregt [...], die historischen, kulturellen, psychologischen Grundlagen des Lesers, die Beständigkeit seiner Vorlieben, seiner Werte und semer Erinnerungen erschüttert, sein Verhältnis zur Sprache in eine Krise bringt. [...] Das ist ein zweifach gespaltenes, zweifach perverses Subjekt.« (Roland Barthes)
26
Habe mich mit Liebesreden Festgelogen an dein Herz, Und verstrickt m eignen Fäden, Wird zum Ernste mir mein Scherz. Wenn du dich, mit vollem Rechte, Scherzend nun von mir entfernst, Nahn sich mir die Höllenmächte, Und ich schieß mich tot im Ernst. 1
Das Subjekt bezichtigt sich in diesem Gedicht selbst der Lüge, es gesteht, sein Gegenüber von Angesicht zu Angesicht belogen zu haben, es gesteht, ausgerechnet mit Liebesreden gelogen zu haben, und es gesteht, dies mehrmals getan zu haben. Damit aber hat dieses Subjekt nicht gegen irgendeinen Grundsatz verstoßen, sondern gegen eines der ältesten Gebote des Kulturkreises und zudem gegen eines, das Gott den Menschen gab, das achte: »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten«. Die Strafen, die bei Missachtung des Gebots durch die zuständigen Autoritäten angedroht werden, fallen entsprechend hart aus: Im Alten Testament heißt es schlicht, wer Lügen flüstere, werde zugrunde gehen,2 in der Offenbarung des Johannes wird den Lügnern gemeinsam mit den Ungläubigen, Mördern und Zauberern das Verbrennen in Feuer und Schwefel angekündigt,3 und auch in Heimkehr LVII klingt durch den Reim Rechte - Höllenmächte das -Rechtmäßige der harten Strafe noch an. Zwar hat die Lüge über die Jahrhunderte hin unterschiedliche Bewertungen erfahren, dennoch bedurfte es eines Nietzsche, um die Fragwürdigkeit des Gebots offen herauszustellen: Das, was gegen die Lüge gesagt wird, sind Naivetäten eines Schulmeisters, und zumal das Gebot »du sollst nicht lügen«!4 - Ist es nicht zum Lachen, daß man noch an ein heiliges unverbrüchliches Gesetz glaubt »du sollst nicht lügen«, »du sollst nicht töten« - in einem Dasein, dessen Charakter die beständige Lüge, das beständige Töten ist! Welche Blindheit gegen das wirkliche Wesen dieses Daseins muß es hervorgebracht haben [...].'
1 2 3 4
s
Β. I, S. 13 5 (.Heimkehr LVII). Sprichwörter, 19,9. Offenbarung des Johannes, 21,8. Friedrich Nietzsche: Nachlass, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Emzelbänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzmo Montmari, München 1988 (im Folgenden abgekürzt mit KSA), Β. IX, S. 281. Ebd., S. 649. Simone Dietz nimmt eine etwas differenziertere Beurteilung des Lügenverbots vor, wenn sie in ihrem Essay »Die Kunst des Lügens« schreibt: »Weder die Willensfreiheit noch die Urteilsfreiheit als solche können durch Lügen wirklich angegriffen werden, sie sind Fähigkeiten des vernunftbegabten Menschen, Vermögen, die einem Menschen kraft seiner Vernunft zur Verfügung stehen und die von außen, durch die Handlungen anderer Personen nicht
27
Auch wenn die Lüge aus Nietzsches Sicht das Leben und die Welt »[c]harakter[isiert]«, im Bereich der Dichtung stellt sie, von der ersten Person Singular ausgesprochen und eingestanden, eine Besonderheit dar und verlangt von daher eine genauere Betrachtung.
Zwei Weisen der Rede ι. Die stimmige Rede » O b denn auch alles fein wahr sey?« (Johann Wolfgang Goethe)
Anders als beim klassischen Liebesgedicht haben wir es in Heimkehr LVII nicht mit einem unschuldigen Liebesbekenntnis zu tun, aber auch hier bekennt ein Subjekt und zwar, dass es sein Gegenüber in der Vergangenheit mit Liebesbekenntnissen belogen habe. Dieses Bekenntnis markiert mithin einen Wendepunkt in der Entwicklung: Mit diesem Bekenntnis beginnt das Subjekt, die [V]ersinc&[ungen], die in der Vergangenheit offenbar durch den »Widerspruch zwischen Aussage und innerem Fürwahrhalten«6 entstanden waren, aufzulösen, und begibt sich damit zurück in die Präsenz oder mit den Worten Simone Dietz' zurück in die »Wirklichkeit«: »Lügen erfordert wie literarische Dichtung die Fähigkeit zur Fiktion. [...] Für den Lügner [...] ist die Eigendynamik von Fiktionen oft eine schwer zu bewältigende Hypothek. E r muss das bewusst Unwahre so begrenzen, dass es sich unauffällig wieder m die Wirklichkeit einordnen lässt, wenn er sich nicht hoffnungslos in seine eigene Lüge verstricken will. D e r deklarierte Sprung des Dichters in die erfundene Wirklichkeit erlaubt auch eine deklarierte Rückkehr: Die Geschichte ist zu Ende, der Schauspieler verbeugt sich, das Publikum applaudiert. Einen vergleichbaren Handlungsabschluss kann der Lügner nur erreichen, wenn er seine Behauptung nachträglich als Lüge zu erkennen gibt.« 7
angreifbar sind. [...] Niemand zwingt uns, einem Lügner zu glauben. [...] O b wir einer Behauptung Glauben schenken, müssen wir selbst beurteilen, ob wir ihr überhaupt Gehör schenken, liegt in unserer freien Entscheidung. Deshalb ist das Lügen kein Rechtsbruch wie die Gewaltanwendung - es gibt weder ein Gesetz, das Lügen an sich verbietet, noch ein allgemeines Recht, anderen glauben zu dürfen, was immer sie uns erzählen. Verstünde man das Recht auf U r teilsfreiheit m diesem Sinn, wäre es letztlich ein Recht darauf, von seinem eigenständigen Urteil befreit zu werden, ein Recht auf blinde Gefolgschaft.« (Simone Dietz: Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert, Reinbek bei Hamburg 2003, S. ioßff.). 6
7
Simone Dietz: Die Kunst des Lügens, S. 25. Ebd., S. 4 2 f . 28
Zurück in der »Wirklichkeit« mündet das Ganze allerdings nicht in dem großen Scherz, als der es offenbar angelegt war, sondern im großen Ernst: Die potenzielle Konsequenz der zutage tretenden Lügen, die [E]ntferw[ung] des Gegenübers, provoziert am Schluss die Androhung eines Selbstmords und damit die Androhung des klassischen Liebestods durch das Subjekt. Das Gedicht, das sich zunächst als Gegenstück zum klassischen Liebesgedicht auszugeben schien, lässt sich insofern vom Ende her als letztes großes Liebesbekenntnis »in einer Zeit der verlorenen Unschuld« 8 lesen, und so erlangt es noch einmal das Recht, »schön« zu sein, denn, so Peter von Matt, »[d]as Gedicht kann und darf nur schön sein in der Funktion [des] Bekennens. Denn nur so ist jeder mögliche Verdacht gegen seine Schönheit von Anfang an ausgeräumt. N u r so ist das Gedicht nicht Luxus, sondern nützlich, nicht Lüge, sondern wahr, und der Nutzen ist die Beförderung der Wahrheit«.'
Das Bekenntnis verkörpert aus dieser Sicht, gerade weil die Gefahr des Auseinanderstrebens dessen, was zusammengehört, von Signifikat und Signifikant wie von Ich und Du, so deutlich aufscheint, eine dichterische »Ethik der Präsenz«, 10 eine Ethik also der »ungeteilten, restlos bei sich seienden, mit sich identischen Anwesenheit«. 11
2. Die unstimmige Rede »Was das eigentlichste Merkmal moderner Seelen, moderner Bücher ausmacht, das ist nicht die Lüge, sondern die eingefleischte Unschuld in der moralistischen Verlogenheit. Diese >Unschuld< überall wieder entdecken müssen - das macht vielleicht unser widerlichstes Stück Arbeit aus« (Friedrich Nietzsche)
Die Sprache dieses Gedichts ist schön, sie ist, wie man so sagt, aus einem Guss und scheint vom Glück der Harmonie zu singen: In ihrer Einfachheit, rhythmisch-metrischen Gleichmäßigkeit und grammatischen Geschlossenheit gibt sie sich heil, erfüllt und unschuldig. Da klingt und reimt sich Herz auf Scherz, Rechte auf \M\ächte. Diese Sprache entfaltet sich in ihrer 8
9
10 11
Umberto Eco: Nachschrift zum »Namen der Rose«. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München/Wien 1984, S. 79. Bezogen ist diese Aussage auf das Gedicht »Dämmerstunde« von Theodor Storm, vgl. Peter von Matt: Die verdächtige Pracht. Uber Dichter und Gedichte, München/Wien 1998, S. 41. Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1972, S. 440. Bettme Menke: Dekonstruktion — Lektüre, S. 246.
29
ganzen Integrität und Liebenswürdigkeit. Ausgehend von der Vorstellung, die Sprache eines Gedichts sei unmittelbarer Ausdruck des vom Subjekt Erlebten bzw. Empfundenen, müsste es hier auf inhaltlicher Ebene um einen idyllischen Locus amoenus gehen, um einen Ort der Liebe, der Geborgenheit und des Glücks. Dieses Gedicht aber handelt von der Zweifelhaftigkeit des Wortes, von Spaltungen, Lügen, Verstrick[ungen] und Tod. Die schön und säuberlich gewobene Sprache geht in der von ihr vermittelten >Botschaft< nicht auf. »Rhythmus und Reim« repräsentieren aus dieser Sicht nicht das vom Subjekt Erlebte und Empfundene, sondern fungieren stattdessen, so Nietzsche mit Verweis auf Schopenhauer: »theils [als] Bindemittel unserer Aufmerksamkeit, indem wir williger dem Vortrag folgen, theils entsteht durch sie in uns ein blindes, allem Urtheil vorhergängiges Einstimmen in das Vorgetragene, wodurch dieses eine gewisse emphatische, von allen Gründen unabhängige Uberzeugungskraft erhält«. 12
Intaktheit, Erfülltheit und Unschuld der Sprache bewirken insofern die vollendete Täuschung. Damit erscheint die hier zutage tretende Differenz zwischen Signifikat und Signifikant ernster als der Gegensatz, den man im BdL zwischen der Schwere des Stoffes und der Leichtigkeit der Form bzw. der einigermaßen volksthümlich[en] Form und dem Inhalt [...] der Conventionellen Gesellschaft13 ausgemacht hat. Dieser >Wortbruch< verweist auf den Widerspruch, um den es auf der Bedeutungsebene geht und der, indem das Subjekt dem Gegenüber in einer himmlischen Sprache von der Hölle[...] singt, die Beobachtung Kafkas zu bestätigen scheint, dass »[njiemand [...] so rein [singt] als die, welche in der tiefsten Hölle sind«.14 Indem der auf Schönheit bedachte Signifikant die »Aufmerksamkeit« ganz auf sich zieht, lenkt er von der Problematik des Signifikats ab, trivialisiert diesen und täuscht so über das vermeintlich >Eigentliche< hinweg. Dieser »Text [...] praktiziert [insofern nicht], was er predigt«/5 Das Bekenntnis, das offenbar ein letztes Mal den Ernst beschwört und sich zugleich scherzend leiern lässt, erscheint mithin selbst verlogen. Es verkörpert aus dieser Sicht die Differenz und damit eine >doppelte Morah, es verkörpert die Liebeslügen, von denen es spricht.
12
Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke (Musarion-Ausgabe), Β. V , München 1922, S. 474. : 3 Brief Heines an Wilhelm Müller vom 7. Juni 1826 ( H S A , Β. X X , S. 250). 14 Franz Kafka: Briefe an Milena, in: Gesammelte Werke, hg. von Willy Haas, Frankfurt/M. 1965, S. 208. 15 Paul de Man: Allegorien des Lesens, S. 45. 3°
Zwei Weisen des Umgangs mit Stimmigkeiten und Unstimmigkeiten i. Eine paradoxe Lektüre »Wir können im selben Atemzug bestätigen und leugnen. [...] So besitzt Sprache selbst die Dynamik von Fiktion und ist von ihr besessen.« (George Steiner) »Wenn eine der Lektüren für wahr erklärt wird, wird es stets möglich sein, sie mit Hilfe der anderen zunichte zu machen; wenn sie für falsch erachtet wird, wird es allezeit möglich sein zu beweisen, daß sie die Wahrheit ihrer Abirrung konstatiert.« (Paul de Man) Das Gedicht lässt offenbar analog zum Kreter-Paradox 1 6 zwei gegensätzliche Lektüren zu: Die eine ist sozusagen gutgläubig, sie nimmt das bekennende Subjekt beim Wort, sie vertraut darauf, dass das Subjekt an diesem Punkt wahrhaft ist, glaubt also, dass sich diese Rede von den vorhergehenden verlogenen Liebesreden
absetzt und hat dafür gute Gründe:
Die Aussage wirkt stimmig, die Sache ernst·, die andere Lektüre ist misstrauisch, und der Anfangsverdacht scheint sich bei näherem Hinsehen zu bestätigen, denn, indem sich diese Lektüre der Rhetorik der Rede widmet, trifft sie auf Unstimmigkeiten, die das Geständnis in einer Reihe mit den vorhergehenden falschen Liebesreden hier aus als letzter großer Scherz
ansiedeln, die Sache lässt sich von verstehen. Die Sprache erweist sich
somit das eine Mal als transparent, das andere Mal als intransparent; das eine Mal lässt sich eine Ubereinstimmung zwischen Bedeutung und A u s drucksmittel ausmachen, das andere Mal eine Nicht-Ubereinstimmung. 1 7
16
17
Das so genannte Kreter-Paradox, das im Laufe der Geschichte der Vernunft immer wieder für Verwirrung und Streit gesorgt hat, geht auf eine von Eubulides überlieferte Aussage des vorsokratischen Philosophen Epimenides aus Kreta zurück, nach der alle Kreter lügen und so auch der Kreter, der eben diese Aussage macht (vgl. dazu: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, hg. von Georg Wissowa, 11. Halbband, Stuttgart 1907, Sp. 176). Zwar fehlt in diesem Zusammenhang der Begriff, der die Gesamtheit der vom Ich gesprochenen Liebesreden als falsche Liebesreden deklariert {Alle Kreter lügen), und auch Heimkehr LVII ist nicht eindeutig als Liebesrede[.] gekennzeichnet, dennoch erscheint der Verweis auf die Analogie berechtigt, da die Möglichkeit besteht, Heimkehr LVII als eine finale Liebesrede[.] zu verstehen und somit als Element der Menge falscher Liebesreden zu betrachten. Diese Nicht-Ubereinstimmung lässt sich allerdings, als Ausdruck der Lüge verstanden, am Ende doch wieder als Ubereinstimmung werten, und so findet auch diese Lektüre am Ende zu jener »Ubereinstimmung zwischen Struktur 31
Versteht man die Übereinstimmung zwischen Bedeutung und Ausdrucksmittel, die »Präsenz des Sinns«,18 als Ausdruck von Wahrhaftigkeit, kann das Gedicht das eine Mal wahr, das andere Mal verlogen erscheinen. Nun sind diese beiden Lektüren nicht nur gegensätzlich, sie greifen sich darüber hinaus gegenseitig an. Während die misstrauische die gutgläubige Lektüre für naiv erklärt, weil sie in ihrer Gutgläubigkeit Gefahr läuft, der Lüge zum Opfer zu fallen, wirft die gutgläubige der misstrauischen vor, die Wahrhaftigkeit des Subjekts zu ignorieren. Wertet man die Aussage des Subjekts, es habe zuvor gelogen, im Sinne der ersten Lektüre als wahrhafte Aussage, dann hätte dieses Subjekt in den vorhergehenden Liebesreden tatsächlich gelogen, dann allerdings kann zumindest der Verdacht aufkommen, dass auch an dieser Rede, die sich als finale Liebesrede[...] lesen lässt, etwas Unwahrhaftes ist - was wiederum die Ausgangsbasis dieser ersten Lektüre in Frage stellen und die der zweiten bestätigen würde; wertet man umgekehrt die Aussage des Subjekts, es habe zuvor gelogen, im Sinne der zweiten Lektüre als unaufrichtige Aussage, dann hätte dieses Ich gemäß jener binär strukturierten Logik, die auf dem Satz vom Widerspruch und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten beruht, was die vorhergehenden Liebesreden betrifft, die Wahrheit gesagt, dann aber kann zumindest der Verdacht aufkommen, dass auch an dieser Rede, die sich als finale Liebesrede[...] lesen lässt, etwas Wahrhaftes ist - was wiederum die Ausgangsbasis dieser Lektüre in Frage stellen und zugleich die der ersten bestätigen würde. Die potenzielle Selbstreferenz, die den tödlichen Verdachtsmoment einlässt,19 droht, die Statik, die Symmetrie, Kohärenz und damit
18
19
und Darstellung [...], an der jede thematische Lektüre hängt« (Paul de Man: Allegorien des Lesens, S. 110). In seiner Studie »Randgänge der Philosophie« spricht Jacques Derrida von der »Präsenz des Sinns (sens)« als »von dieser Wahrheit« (Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann, Wien z i999, S. 309^). Bertrand Russell und Alfred North Whitehead u. a. versuchten des Paradoxes Herr zu werden, indem sie u. a. mit Hilfe eines Stufenmodells semantisch paradoxe Aussagen durch Ausschluss sich selbst prädizierender Ausdrücke auflösten nach der Devise, »daß eine Proposition wie alle Urteile des Epimenides sind wahr auf den ersten Blick der Wahrheit nur dann überhaupt fähig sein wird, wenn alle seme Urteile von derselben Ordnung sind. Wenn sie von verschiedenen Ordnungen sind, worunter die κ-te die höchste ist, so können wir η Behauptungen von der Form alle Urteile des Epimenides von der Stufe m sind wahr aufstellen, wobei m alle Werte bis η hat. Aber kein solches Urteil kann sich selbst in seinem Bereich enthalten, da ein solches Urteil immer von höherer Ordnung ist als die Urteile, auf die es sich bezieht« (Alfred North Whitehead und Bertrand Russell: Principia Mathematica, hg. von Hans Morke, Frankfurt/Main 1986, S. 67). Mit dem Vorschlag, sich selbst prädizierende Ausdrücke 32
auch die Autorität der jeweiligen Lektüren zu sprengen: Die Lektüre, die dem Wort erst einmal zu trauen gewohnt ist, weil sie vom >Einklang< zwischen Signifikat und Signifikant ausgeht, wird zum Ende hin vom Verdacht der Differenz getroffen: Die Sache könnte doch als Scherz angelegt gewesen sein - während der Verdacht des Einklangs ausgerechnet auf jene Lektüre fällt, die von vornherein Misstrauen gegen alle Formen von Einklang zu hegen pflegt: Die Sache könnte am Ende ernst gemeint gewesen sein. Beide Lektüren drohen zum Ende hin an ihren je eigenen Voraussetzungen zu scheitern, Eindeutigkeit und Endgültigkeit von Anfang und Ende geraten ins Wanken. Der Eindruck, der Wahrheit nahe zu sein, stellt sich in beiden Fällen nur für einen kurzen Augenblick ein. Dies ist nun kein Problem, das sich streng logisch lösen lässt, denn beide Lektüren können auf sicherer Basis weder für sich noch nebeneinander bestehen. Keine der beiden Lektüren lässt sich entsprechend durch eine Verkehrung ins Gegenteil in eine mit den Regeln der Logik einhergehende Wahrheit überführen. Diese beiden Lektüren also konstituieren und denunzieren sich gegenseitig, indem sie zugleich ihre eigenen Fehler und die der anderen Seite aufzeigen, und unterhöhlen auf diese Weise das logische System, auf dem sie beruhen. In diesem Sinne gilt: »Die beiden Lektüren müssen sich in direkter Konfrontation aufeinander beziehen, denn die eine ist genau der Irrtum, der von der anderen denunziert wird und von ihr aufgelöst werden muß. Wir können mit keinem Mittel eine gültige Entscheidung über die Priorität einer der beiden Lektüren über die andere herbeiführen; keine kann ohne die andere existieren«. 20
Indem wir uns als Leser gezwungen sehen, uns für die eine und gegen die andere Lektüre zu entscheiden - denn die Lektüren schließen sich gegenseitig aus - gleichzeitig gerade dazu aber nicht in der Lage sind, weil sie auch aufeinander angewiesen sind, können wir keine unschuldige, geschweige denn richtige Entscheidung treffen. Wir haben uns in einer logischen Unlösbarkeit, in einer so genannten »double-bind-Situation«,
ver-
strickt·. »Indem er die Oppositionen, auf denen er ruht und zwischen denen zu wählen er den Leser auffordert, aufhebt, versetzt der Text den Leser in eine unmögliche Situation, die nicht in einem Triumph enden kann, sondern nur in einer schon
20
zu verbieten, tun die beiden Mathematiker und Philosophen das Problem der Möglichkeit der Selbstbezüglichkeit der natürlichen Sprache als ein Scheinproblem ab - was in den letzten Jahrzehnten von Seiten der Forschung als unbefriedigend empfunden und daher kritisiert worden ist (vgl. dazu u. a. Manfred Geier: Das Sprachspiel der Philosophen, Hamburg 1989, S. 94). Paul de Man: Allegorien des Lesens, S. 42. 33
vorher für unangemessen gehaltenen Lösung: einer nicht gerechtfertigten Wahl oder einem Mißlingen der Wahl«.21 Das kleine Lied beruht auf einem logischen Prinzip, das vorgibt, die Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge zu gewährleisten, und generiert zugleich das Gegenteil dessen: Verstrick[ungen],
Diese
Verstrick[ungen],
die Fehlbarkeit und Vorläufigkeit der Identifizierung verkörpern, lassen keine Form der Beherrschung des Gedichtes im Sinne einer Bedeutungsfixierung zu, sie machen das Gedicht, indem sie es auf brillante Weise gegen sich selbst aufbringen, im klassischen Sinne unlesbar bzw. zeigen auf, dass sich Lüge und Wahrheit nicht wie zwei reine Oppositionen zueinander verhalten, sondern dass am Ende »ein und dieselbe Person gleichzeitig lügen und die Wahrheit sagen [kann]«. 1 2
2. Eine poetologische Lektüre »manufacta esse omnia, ficta carmina, simulata suspiria« (es ist alles gemacht: erdichtet die Lieder, erheuchelt die Seufzer) (Francesco Petrarca) »Ich habe allerlei hmeingeflunkert, um es deutlicher zum Roman zu machen; denn noch immer gibt es Esel, die es für bare biographische Münze nehmen« (Gottfried Keller) Ach, mich tötet ihr Gesinge Von erlognen Liebesschmerzen.
(Heinrich Heine)
Also noch einmal: Habe mich mit Liebesreden Festgelogen an dein Herz, [...] A u c h wenn, wie Nietzsche bemerkt, das »Dasein« durch »die beständige Lüge« geprägt ist und auch wenn im BdL allerorts gelogen wird, wenn das Liebcben[.Y} 21
22
23
lügt und ebenso die Menscb[en]:24
wenn die erste Person
Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Aus dem Amerikanischen von Manfred Momberger, Reinbek bei Hamburg 2 i999, S. Syf. Hans Lenk: Prometheisches Philosophieren zwischen Praxis und Paradox, Stuttgart 1991, S. 88. Ο süße Augen, fromme Liebessterne, / Obschon ihr mir im Wachen oft gelogen, / Und auch im Traum, glaub ich euch dennoch gerne! (Β. I, S. 23 (Junge Leiden, Traumbilder III)). 34
Singular gesteht, gelogen zu haben, erscheint die Sache [e]r«sie[r]. Das hängt damit zusammen, dass sich ein solches Bekenntnis im Handumdrehen poetologisch lesen lässt, und das weckt einen ungeheuerlichen Verdacht. Poetologisch betrachtet, weckt das Bekenntnis des Subjekts in Heimkehr LVII den Verdacht, der Begriff der Liebesreden sei auf Liebesgedichte, auf zuvor verfasste Liebesgedichte des Dichter-Ich bezogen, mit vorhergehenden Liebesgedichten habe das Dichter-Ich entsprechend [...^[gelogen. Der Verdacht ist deswegen so ungeheuerlich, weil er, ernst genommen, alles in Frage stellt, was gerade noch vertraut und selbstverständlich wirkte, und weil wir, die Leser dieses Buches, nun in die Rolle des Gegenübers des Subjekts rutschen, weil wir plötzlich als die Betroffenen und Betrogenen dastehen und weil wir, wenn wir angesichts des aufkommenden Verdachts das Buch nicht vorschnell zuschlagen, uns gezwungen sehen, das bereits Gelesene noch einmal neu und anders zu lesen. Folgen wir dem, was wir in diesem Kontext als Lektüreanweisung verstehen, blättern wir tatsächlich zurück, machen wir uns daran, vorhergehende Liebesgedichte des Dichter-Ich auf ihre Wahrhaftigkeit hin zu überprüfen, so stellt sich zunächst die Frage, welche Gedichte eigentlich auf ihre Wahrhaftigkeit hin zu überprüfen sind; darauf aufbauend, stellt sich die Frage, wie sich die Wahrhaftigkeit in den entsprechenden Liebesgedichten überprüfen lässt - bzw. umgekehrt: Was hat es mit der Lüge im Zusammenhang mit den vorhergehenden Liebesgedichten auf sich, und woran wäre sie entsprechend zu erkennen? Blättern wir also wieder zu Heimkehr LVII vor, betrachten wir den Beginn des Gedichts auf diese beiden Fragestellungen hin, so müssen wir feststellen, dass vor allem die zweite Frage sich von hier aus nicht mit Sicherheit beantworten lässt. Zu unkonkret fällt das Lügenbekenntnis des Dichter-Ich aus. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich dem Gedicht überhaupt wenig über die eigentliche Lüge des Subjekts entnehmen lässt. Im Dunkeln bleibt nicht nur, was genau es mit den falschen Liebesreden auf sich hat und woran sich die Lüge mit Blick auf vorhergehende Liebesgedichte erkennen lässt, im Dunkeln bleibt z. B. auch, welchem Zweck die falschen Liebesreden dienten, welche Absicht das Subjekt damit also ursprünglich verfolgte. Damit fehlt ein wichtiger Baustein zum Verständnis der Lüge des Subjekts in diesem Gedicht, denn die Lüge definiert sich nach Simone Dietz nicht nur über den »bewusste[n], aber verdeckte^n] Widerspruch
24
Ich schaue durch die steinern harten Rinden / Der Menschenhäuser und der Menschenherzen, / Und schau in beiden Lug und Trug und Elend. (Β. I, S. 150 {Die Heimkehr, Götterdämmerung)).
35
zwischen
Aussage
und innerem
dass dieser »Widerspruch
sondern auch darüber,
Fürwahrhalten«,
[...] verdeckten
weiter
reichenden
Absichten
dient«.15 Uber die Motive des Subjekts aber lässt sich wie auch über das genaue Aussehen der Lüge nur frei oder durch Hinzuziehung anderer Gedichte aus dem Zyklus oder dem Buch spekulieren. Denken wir uns also auf der Suche nach den falschen Liebesreden die Figur des Dichter-Ich hinein, überlegen wir, wie Liebesreden
in
beschaf-
fen sein müssen, um sich damit erfolgreich fest [lügen] zu können an [Jezw Herz,
so ergibt sich recht schnell folgendes Bild: Zu suchen wäre nach
Gedichten, in denen ein Subjekt einem Gegenüber seine Liebe gesteht. Zu suchen wäre konkret nach Gedichten, in denen ein Subjekt in der ersten Person Singular spricht und in denen es einem Gegenüber auf originelle und zugleich einfache Weise seine Liebe bekennt, so dass der Eindruck einer individuellen Erfahrung, einer spontanen Rede und einer intimen Kommunikationssituation entsteht. Damit verfügen wir über ein Raster und können mit der Fahndung beginnen. Schwieriger als die Erstellung eines solchen Rasters gestaltet sich - da das Bekenntnis des Subjekts in Heimkehr
LVII,
wie gesagt, weder Hin-
weise über das genaue Aussehen der Lüge noch über dessen Beweggründe liefert - die Beantwortung der Frage, wie sich das Inszenierte aus den entsprechend dem Raster verdächtig gewordenen Liebesreden lassen könnte, wie also die falschen Liebesreden
herauslesen
von den wahren zu tren-
nen sind. Eine Möglichkeit, Falschaussagen als solche zu identifizieren, stellt nun die Suche nach Lügensignalen dar. Als klassische Lügensignale im erzähltheoretischen Sinne gelten neben Titeln, die von sich aus auf die Lüge verweisen, und Figuren, die von vornherein als Lügner in Erscheinung treten, z. B. übertriebene Wahrheits- bzw. Integritätsbeteuerungen 25
Wenn wir nicht mit Aurelius Augustinus, Thomas von Aquin oder Immanuel Kant die Lüge als solche rigoros verwerfen, sondern deren moralische Bewertung von der Handlungsabsicht des lügenden Subjekts abhängig machen, müssen wir feststellen, dass uns in diesem Fall die Grundlage fehlt, um eine solche moralische Bewertung des Subjekts und seiner falschen Liebesreden vornehmen zu können. Zwar scheinen die Lügenreden des Subjekts eher offensiven als defensiven Charakter zu haben, zwar fällt am Ende der ersten Strophe der Begriff des Scherz[ts], der zu der Annahme einer so genannten Scherzlüge und insofern nicht unbedingt zur Annahme moralisch >guter< Gründe für die Lüge des Subjekts Anlass gibt, darüber hinaus spricht das Ich seine Lügenreden offenbar nicht gegen irgendeinen, sondern gegen einen nahestehenden Menschen aus, es lügt also im privatpersönlichen Bereich und verletzt insofern vermutlich ein Vertrauensverhältnis wir können uns auf der Basis dieser Hinweise zwar ein Bild vom Ablauf der Szene machen, für eine handfeste moralische Verurteilung des Subjekts aber erscheinen die Hinweise, wie gesagt, zu unkonkret - auch wenn eine eingestandene Lüge zu einer unmittelbaren moralischen Bewertung verleitet.
36
von Seiten bestimmter Figuren wie auch Darstellungen unrealistischer Handlungsverläufe. Sollten die entsprechenden Liebesgedichten solche Lügensignale enthalten, ließe sich die Sache als so genannte »literarische[.] Lüge« abhandeln, in der, wie Harald Weinrich feststellt, »Lügenrede und Lügensignal [...] einander [letztlich, K. S.] auf[heben]«.26 Sollten sich Lügensignale dieser Art finden lassen, könnte die Sache insofern als geklärt gelten, wir müssten uns am Ende nicht mehr wie die Betrogenen und Belogenen vorkommen, sondern könnten uns als erfolgreiche Fahnder aufspielen - auch wenn die Sache vermutlich einen etwas faden Beigeschmack behält, weil wir aufgrund des Mangels an Wissen, was das genaue Aussehen der Lüge betrifft, nicht wissen können, ob wir am Ende tatsächlich alle falschen Liebesreden als solche enttarnt haben und weil deswegen trotz aller Fahndungserfolge ein Restzweifel hinsichtlich jener Liebesgedichte zurückbleibt, die zwar verdächtig sind, sich aber nicht durch klassische Lügensignale verraten. Sollten wir nun auf der Suche nach den falschen Liebesreden des Subjekts nicht auf Lügensignale stoßen, sollten wir es hier entsprechend nicht mit dem Fall einer »literarischen Lüge« im Sinne Weinrichs zu tun haben, ergibt sich ein Problem, denn dann verfügen wir zwar über einen Korpus verdächtiger Liebesgedichte, aber nicht über das geeignete Analyse-Instrumentarium, um die falschen Liebesreden von den wahren zu scheiden. Vergegenwärtigen wir uns also noch einmal das oben erstellte Raster: Demnach suchen wir nach Gedichten, in denen ein Subjekt in der ersten Person Singular spricht und in denen es einem Gegenüber auf originelle und zugleich einfache Weise seine Liebe bekennt, so dass der Eindruck einer individuellen Erfahrung, einer spontanen Rede und einer intimen Kommunikationssituation entsteht. Damit suchen wir ziemlich genau nach solchen Gedichten, die in die Rubrik >ErlebnislyrikFreiheitGleichheit< und von - gleichsam - >Brüderlichkeit< gegeben. Damit ist in dieser Lyrik die neue Bürgerhchkeit zu sich selbst gekommen und stellt im Muster der Erlebnislyrik seine ideale Repräsentationsform vor. Solcher Idealität des Sozialcharakters korrespondiert die Idee des einheitlich durchgeformten, geschlossenen Werktypus. Die verschiedenen angeführten Traditionsansätze sind hier m einer einheitlichen Konzeption harmonisiert.« (Michael Feldt: Lyrik als Erlebnislyrik. Zur Geschichte eines Literatur- und Mentalitätstypus zwischen 1600 und 1900, Heidelberg 1990, S. 17). Mit Goethe schrieb sich, durch ihn selbst als Dichter, aber auch als Interpreten seiner Gedichte gefördert, die Vorstellung von Erlebnishaftigkeit des >Dichters< als einer biografisch-psychischen Substanz in die Dichtung ein und prägte das Lyrikverständnis bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zuvor hatte Johann Adolf Schlegel in seiner 1 7 5 1 erschienenen kommentierten Ubersetzung des Lehrbuchs »Les Beaux-Arts reduits ä un meme principe« von Charles Batteux dessen an Regelpoetik und Nachahmungsprinzip orientierte L y rikauffassung kritisiert und behauptet, Lyrik sei von Beginn an »Ausdruck nicht nachgemachter, sondern wirklicher Empfindungen« gewesen, worauf die deutschen Geme-Asthetiken immer wieder emphatisch rekurriert haben (Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, hg. von Johann Adolf Schlegel, Repr. Hildesheim/New Y o r k 1976, Β. I, S. 368, Anm.). Auch Hegel hatte im Rahmen seiner »Vorlesungen zur Ästhetik« aus den Jahren 1 8 1 8 - 1 8 2 6 wesentlich zu diesem Lyrikverständnis beigetragen, indem er die Dichtung zur Gattung der Subjektivität erklärt und im Hinblick auf »Form« und »Inhalt« der zeitgenössischen Dichtung das »Subjekt als Subjekt«, d. h. als Zentrum des Textes herausgestellt hatte, dessen »[a]llgemeinmenschliche[.]« A n gelegenheit für die Leserschaft »poetisch nach[zu]empfinden« sei (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I—III, m: Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Β. 1 3 - 1 5 , Frankfurt/Main 1986, hier: Β. 15, S. 431 und 429). Bereits Hegel hatte Lyrik also als eine Ich-Aussprache des Dichters gedeutet, die über eine überindividuelle Bedeutung verfüge und von daher im Modus des mitfühlenden und verstehenden Nachvollziehens zu lesen sei. Charakteristisch für das Lyrikverständnis, das sich Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts ausbildete, ist der Eintrag zum Stichwort »Ich« in Grimms »Deutsche[m] Wörterbuch«: »wenn das epische gedieht um so vollkommener ist, je reiner und ungetrübter das object desselben hervortritt, [...] ist das lyrische, in welchem subject und object zusammenfallen sollen, um so lyrischer, je subjectiver es ist, je mehr es uns an den dichter gemahnt und was sein inneres bewegt zur anschauung bringt. Daher pflegt denn auch der epische dichter von seinem ich zu schweigen [...], während der lyrische es immerdar auf der zunge hat« (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, München 1984, B. 10, Spalte 2019).
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lässt, würde das bedeuten, wir hätten es nicht notwendigerweise mit einer »literarische[n] Lüge« im Sinne Weinrichs zu tun, sondern möglicherweise mit dem »Tatbestand [einer] Lüge im außerliterarischen Sinne«.28 Um die falschen Liebesreden ausfindig zu machen, müssten wir dann nicht im Text nach Lügensignalen suchen, sondern mit biografistischen bzw. psychologistischen Deutungsverfahren ganz im Sinne klassischer Wahrheitstheorien die Aussagen des Textsubjekts in den entsprechenden Liebesgedichten und die Aussagen der empirischen Person des Dichters abgleichen und auf Diskrepanzen hin überprüfen. Auf diese Weise könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass der Dichter, wenn er nicht eine »kolossale Vielweiberei«29 betrieben hat, im Leben nicht so vielen verschiedenen Frauen seine Liebe erklärt haben kann, wie er im BdL suggeriert. Ein Restzweifel hinsichtlich des Fahndungserfolgs bleibt allerdings wohl auch in diesem Zusammenhang bestehen, weil sich vermutlich auch bei dieser Vorgehensweise nicht das Gefühl der Sicherheit einstellt, am Ende seien alle »Tatbest[ä]nd[e]« aufgedeckt. Das Problem des Restzweifels erscheint hier sogar verstärkt, da bei dieser Vorgehensweise ein methodisches Problem auftritt. Das Problem besteht darin, dass es gerade mit Blick auf literarische Liebesreden wesentlich schwerer erscheint, Diskrepanzen zwischen >Leben< und >Werk< eines Dichters aufzudecken, als Korrespondenzen, um die es üblicherweise im Rahmen erlebnisorientierter Lektüren im engeren Sinne geht. Zurückzuführen ist das Problem darauf, dass Liebesgedichte üblicherweise nicht von solchen Erlebnissen handeln, die sich - nachdem die dichterisch dargestellten in reale Erlebnisse übersetzt und die wirklichen Erlebnisse des Dichters anhand von biografischem Material rekonstruiert worden sind - durch einen Abgleich falsifizieren und somit am Ende zuverlässig als Lügen deklarieren lassen. Wir stehen damit vor der alten Schwierigkeit, dass wir die falschen Liebesreden nicht ohne weiteres als solche identifizieren können. Ändern wir also die Blickrichtung: Gehen wir nicht von den verdächtigen Liebesgedichten aus, sondern überlegen wir noch einmal, was die Lüge
28 19
Harald Weinrich: Linguistik der Lüge, S. 72. Manfred Windfuhr: Heine und der Petrarkismus. Zur Konzeption seiner Liebeslyrik, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), S. 266-285, hier: S. 269. Weniger wörtlich genommen, hat man diesen Tatbestand in der Vergangenheit mit Verweis auf die Rede von den V'armzionen desselben kleinen Themas (Brief Hemes an Karl Immermann vom 10. Juni 1823 ( H S A , Β. X X , S . 9 1 ) häufig psychologisch gedeutet, und zwar in dem Sinne, dass der Dichter durch die wiederholte Behandlung des Themas einen Prozess des Freudschen »Durcharbeitens« durchlaufe (vgl. u. a. Jürgen Brummack (Hg.): Heinrich Heine. Epoche - Werk - Wirkung, München 1980, S. 100). So gedeutet stellt der Tatbestand allerdings keine Lüge mehr dar. 39
im Allgemeinen ausmacht. Gemäß der Definition, die Simone Dietz in ihrer Studie »Die Kunst des Lügens« vorlegt, stellt die Lüge einen »bewusste^n], aber verdeckte[n] Widerspruch zwischen Aussage und innerem Fürwahrhalten«i0 dar. Suchen wir in den entsprechenden Gedichten also nach jenem »Widerspruch«, der die Lüge als solche definiert und vermutlich für die [V]erstrzc& [ungen] verantwortlich ist, von denen in der ersten Strophe von Heimkehr LVII die Rede ist! Die Suche nach diesem »Widerspruch« erscheint im Vergleich zu der Suche nach klassischen Lügensignalen um einiges schwieriger, denn während diese sozusagen offen daliegen, weil sie zum Finden gedacht sind, ist der gesuchte »Widerspruch« prinzipiell ein »verdeckter«, auch wenn die Rede von den [V]ersirzc& [ungen] nahe legt, der »Widerspruch« sei vom Subjekt nicht besonders gut verdeckt worden. Lesen wir allerdings Weinrichs Definition der Lüge, so erscheint die Suche doch nicht so schwierig wie zunächst vermutet. Weinrichs Definition lautet: »es g[ibt] bei d[.. .]er Lüge nicht einen Satz, sondern zwei Sätze. Einen hören wir, und dieser Satz ist als solcher nicht weiter auffällig. E r ist aber unwahr. Den zweiten Satz hören wir nicht, denn er bleibt in der Brust verschlossen. Dieser Satz ist wahr. Er besagt nicht einfach etwas anderes als der gelogene Satz, sondern das gerade Gegenteil. Das bedeutet sprachlich: Der wahre Satz gleicht dem gelogenen Satz peinlich genau - bis auf das kleine Wörtchen »nicht«. [...] hinter dem (gesagten) Lügensatz [steht] ein (ungesagter) Wahrheitssatz [...], der von jenem kontradiktorisch, d. h. um das Assertionsmorphem ja/-nein abweicht. 31
Nach dieser Definition Weinrichs, der aus einer linguistischen Perspektive heraus argumentiert, scheint es also so, als ob es in den entsprechenden Liebesgedichten nur den kaschierten »gedachten Satz« ausfindig zu machen gelte, der dann, um »das kleine Wörtchen >nichtErlebnisErlebnisErlebnis< sprachlich selbst hervorgebracht hat, sich auf
34
35
Der Regelbruch als Zeichen spontaner, unmittelbarer und insofern wahrhafter Selbstaussprache eines Subjekts ist darüber hinaus als Abgrenzung von der außerliterarischen Welt verstanden worden, als Abgrenzung von der »Versachlichung und Rationalisierung des gesellschaftlichen Lebens [und von der] prosaischen Kollektivsprache zweckgerichteter Kommunikation« (Hiltrud Gnüg: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität. V o m klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit, Stuttgart 1983, S. 50). Alternativ zu diesem Verständnis lässt sich die Entwicklung als Fall von Selbsttäuschung begreifen, den Simone Dietz wie folgt beschreibt: »Zwischen der bewussten Lüge gegenüber anderen und der Selbsttäuschung kann es einen gefährlichen, schleichenden Ubergang geben, der die Lüge schließlich der bewussten Kontrolle des Lügners entzieht. Diese Verknüpfung kann zunächst ausdrücklich gewollt sein, weil sie der Lüge zu größerer Wirksamkeit verhilft. U m glaubwürdiger lügen zu können, steigert der Lügner sich so in das bloß Vorgegebene hinein, dass er es sogar selbst glaubt. Effektiv ist diese Technik aber nur dann, wenn sie eine von Absichten gesteuerte und begrenzte Suggestion bleibt, ein Spiel, das der Lügner »mit Haut und Haar« spielt, aber auch selbst wieder beenden kann.« (Simone Dietz: Die Kunst des Lügens, S. 140). 42
diese Weise als Subjekt konstituiert36 und insofern zwar nicht im engeren, aber doch in einem weiteren Sinne von Anfang an erlebnisbasiert geredet hat, dann bleibt das Problem bestehen, dass im Bekenntnis des Dichter-Ich der Begriff der Lüge fällt und somit der Verdacht geschürt wird, dass Sprache in jenen Liebesreden nicht als transparentes Ausdrucksmedium fungierte. Auch wenn also diese »große[.] Konfession«, die durch die Gefahr der Entzauberung und Diskreditierung, die sie für das Dichter-Ich mit sich bringt, sogar eine ins Extrem gesteigerte Wahrhaftigkeit dieses Dichter-Ich anzeigen könnte, auch wenn sich diese »große[J Konfession« als genuin poetologisches Bekenntnis in Bezug auf die Genese des Liebesgedichts verstehen lässt, auch wenn die Konfession aus diesen Gründen auf Seiten der Rezeption noch einmal verstärkt die Frage nach dem >Dichter< und seinem Erlebnis provoziert und auch wenn sie insofern das nicht mehr regelgeleitete Literatursystem noch einmal grundsätzlich zu bestätigen scheint - das Lügenbekenntnis verweist, wie gesagt, auf das anfänglich Inszenierte von Subjekt und Erlebnis und macht mithin, indem es die Frage nach der Transparenz der Sprache und damit nach der textinternen fiktionalen Struktur der vermeintlichen Erlebnishaftigkeit aufwirft, auf die Bedingungen dieses Literatursystems aufmerksam. Als Zeichen dessen, dass das Dichter-Ich weiß, dass es mit seinem Lügenbekenntnis nicht nur das Literatursystem, sagen wir, strapaziert, sondern möglicherweise auch seine Leserschaft aufs Spiel setzt, lässt sich, poetologisch betrachtet, die zweite Strophe von Heimkehr LVII lesen: Wenn du dich, mit vollem Rechte, Scherzend nun von mir entfernst, Nahn sich mir die Höllenmächte, Und ich schieß mich tot im Ernst.
Poetologisch betrachtet, lässt sich diese Strophe als Drohung des DichterIch verstehen, sich selbst zu töten, falls sich die Leserschaft aufgrund seiner falschen Liebesreden und aller daraus folgenden [V]erstrzc& [ungen] von 36
Vgl. Dietmar Jaegle, der in seiner Studie »Das Subjekt im und als Gedicht«, auf Humberto R. Maturana und Francisco J . Varela verweisend, »stark verkürzt« feststellt: »[D]er Mensch als Subjekt erzählt sich - sich selbst. Als Autor oder Rezipient erschreibt und erhört/erliest das Subjekt (s)ein Selbst: es (er)findet in (Gedicht-Bexten immer wieder (s)eine (neue) Identität. So sind Texte und (lyrische) Text-Subjekte buchstäblich Projektionsflächen für potentielle Handlungsmöglichkeiten. Das Subjekt, sei es als Autor oder als Rezipient, (er)findet sich sozusagen dadurch, dass es auf Vor-Würfe (s)eines Selbst als im (Gedicht-)Text zurückgreift. Ein Subjekt im und als (Gedicht-)Text simulierend, handeln Autor und Rezipient zugleich subjektkonstituierend.« (Dietmar Jaegle: Das Subjekt im und als Gedicht. Eine Theorie des lyrischen Text-Subjekts am Beispiel deutscher und englischer Gedichte des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, S. 9of.). 43
ihm entfern[..]e, falls die Leserschaft es also wagen sollte, sich angesichts der Aussicht, sie sei vom Dichter-Ich getäuscht und belogen worden, von ihm zu distanzieren, anstatt sich - gemäß einer Subjekt- und erlebniszentrierten Lektüre - mitfühlend und verstehend in seine Situation hineinzuversetzen. Sich in einen geständigen Lügner hineinzuversetzen aber könnte aufgrund des schlechten Rufes der Lüge37 das moralische Vorstellungsvermögen und entsprechend den Vorstellungswillen der einen oder anderen >Leserin< übersteigen. Um also den potenziellen Verlust an Einfühlungsbereitschaft der Leserschaft und in der Konsequenz seine Auslieferung an die Höllenmächte, an die Grammatik oder die Unendlichkeit der Diskurse, zu verhindern, droht das Dichter-Ich dieser Lektüre zufolge mit seinem eigenen Tod. Damit greift es zum äußersten ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Mit dieser Drohung, die sich als letzte imperiale Geste begreifen lässt, fordert das Dichter-Ich, poetologisch betrachtet, die Leserschaft dazu auf, ihm trotz seiner falschen Liebesreden als biografischpsychischem Subjekt die zentrale Rolle im Text und insofern eine sinnund einheitsstiftende Funktion zuzuweisen. Und diese imperiale Geste scheint auch notwendig angesichts der Tatsache, dass die erste Person im Nominativ erst in der letzten Zeile von Heimkehr LVII in Erscheinung tritt, erst in dem Moment also, da das textuelle Subjekt das von seiner zentralen Rolle und sinn- und einheitsstiftenden Funktion offenbar überforderte Dichter-Ich bereits ins Abseits zu drängen droht. Die Todesdrohung selbst provoziert am Ende - wenn auch vielleicht nur für den Bruchteil eines Augenblicks - den Blick ins Angesicht dieses Todes. Sie provoziert mithin die Frage, wie die Lektüre so genannter Erlebnislyrik nach dem Tod des Dichter-Ich aussehen könnte, der anstelle eines sinn- und einheitsstiftenden biografisch-psychischen Substrats eine »Leere des Subjekts«,38 einen leeren Signifikanten im Text hinterlässt. Denkbar wären Lektüren, die, ausgehend nicht vom Subjekt, sondern vom Text, der Frage nachgehen, wie der Eindruck von Subjektivität und Erlebnishaftigkeit überhaupt zustande kommt. Gefragt würde dann also, wie jenseits des Sprechens in der ersten Person, das sich als Zeichen (auto-) biografischen Sprechens verstehen lässt, beispielsweise die Metaphorik der Stimme in den Liebesreden, die, Mündlichkeit suggerierend,39 eine unmit37 38
39
Vgl. zum schlechten Ruf der Lüge Simone Dietz: Die Kunst des Lügens, S. /ff. George Steiner: V o n realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß. Aus dem Englischen von J ö r g Trobitius, München/Wien 1990, S. 261. Auch die Metaphorik des Sängers oder des Liedes, die Mündlichkeit und Musikalität suggeriert und insofern eine unmittelbare Präsenz des Subjekts fingiert,
44
telbare Präsenz des Subjekts fingiert, zu diesem Eindruck von Subjektivität und Erlebnishaftigkeit beiträgt, der allerdings durch die Schriftlichkeit des literarischen Textes umgehend wieder subvertiert wird. Die Todesdrohung, die die gesamte Szene pathetisch macht und somit den Blick hinter diepräcbtgen Kulissen1'0 dichterischer Ich-Inszenierung herausfordert, lässt sich insofern nicht nur als letzte imperiale Geste eines biografisch-psychischen Subjekts verstehen, sondern auch als »leere Figur [...], die ganz einfach die des Auswegs ist«.41 Sichtbar wird insofern durch die Notwendigkeit des ganze[n] Pistolenknalle f f ekt[s]42 nicht zuletzt das Fragile des Literatursystems, auf dem Lyrik mit Erlebnispostulat beruht: Sichtbar wird, dass dieses Literatursystem nur solange funktionieren kann, wie das sprechende Subjekt seine vermeintlich tatsächlichen, seine vermeintlich dem Sprechen vorausgehenden, individuellen Erlebnisse als im Gedicht substantialisierte Erlebnisse glaubhaft vermittelt, d. h. solange wie die vermeintliche Spontaneität, Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit des Ausdrucks gewährleistet erscheint und solange sich der dadurch bedingte Regelbruch ohne Umstände als Ausdruck der Spontaneität, Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit dekodieren lässt. Darüber hinaus wird sichtbar, dass dieses Literatursystem nur solange funktionieren kann, wie das Subjekt als biografisch-psychisches Subjekt unangefochten den Mittelpunkt der (poetischen) Welt markiert, d. h. solange es nicht z. B. durch die Grammatik als Zentrum des Textes in Frage gestellt erscheint und solange es auf einen guten Glauben bauen kann und nicht mit kritischer Distanz der Leserschaft rechnen muss. Sichtbar wird mithin die Korrelation, dass, je reiner und anschaulicher ein Mythos, desto größer einerseits die Möglichkeit, dass er als Wahrheit fungiert, desto größer andererseits die Wahrscheinlichkeit, dass er nachgeahmt, in sein Gegenteil verkehrt und am Ende als Lüge entlarvt wird. Heimkehr LVII provoziert, poetologisch gelesen, aus dieser Sicht eine neue Betrachtungsweise so genannter Erlebnislyrik, eine Betrachtungs-
wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. Diese Art der Metaphorik verortet die Dichtung ganz in ihrer oralen Tradition. Sie erzeugt also den Eindruck der Nähe dieser Dichtung zu ihrer Herkunft bzw. zum Volksliedhaften und damit den Eindruck von Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit (der Begriff Lyrik ist auf »lyra« (griech.) zurückzuführen und verweist auf das Instrument der Leier und die in der Frühzeit von Musik begleitete, zumeist gesungene Dichtung. Liedhaftigkeit bzw. Sangbarkeit galt in Verbindung mit Gefühlsausdruck aus diesem Grund lange Zeit als ein charakteristisches Merkmal von Dichtung). 40 41 42
Β. I, S. 130 (Die Heimkehr XLIV). Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 47. Β. I, S. 431 (aus Heines Rezension des »Struensee« von Michael
Beer). 45
weise, die sich der Erlebnisstruktur dieser Form von Lyrik widmet43 und das Subjekt als Zentrum lyrischer Texte kritisch reflektiert. Heimkehr LVII fordert in diesem Sinne eine Hinterfragung des lange Zeit Selbstverständlichen und nicht zuletzt die Betrachtung der sprachlichen und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen von >Erlebnislyrikeigentlichen< Merkmale des Zeichens heraus, das aber würde bedeuten, dass dieses Zeichen nur in alter Zeit im >eigentlichen< Sinn als solches fungiert hätte, »[e]in Zeichen [aber, K. S.], das nur »einmal« stattfände, wäre kein Zeichen.«61 Sichtbar wird stattdessen, dass mit den Worten Derridas »keine Bedeutung [...] außerhalb eines Kontextes determiniert werden, aber kein Kontext [...] sie ganz ausschöpfen [kann]«62 und insofern am Ende auch der Versuch einer Rekontextualisierung eine Form der Dekontextualisierung darstellt. Sichtbar wird darüber hinaus, dass »[w]enn nun [...] jedes Zeichen schlechthin von originär wiederholender Struktur ist, [...] die generelle Unterscheidung zwischen fiktivem Gebrauch und wirklichem Gebrauch eines Zeichens bedroht [ist]. Das Zeichen wird originär von der Fiktion bearbeitet. Deshalb gibt es, und zwar gleichgültig, ob es um eine anzeigende Mitteilung oder einen Ausdruck geht, kein sicheres Kriterium, um [...] zwischen einer wirklichen Sprache und einer fiktiven Sprache zu unterscheiden.
Wenn es nun, wie Derrida behauptet, aufgrund der »originär wiederholende^] Struktur [des Zeichens] kein sicheres Kriterium [gibt], um zwischen [...] einer wirklichen Sprache und einer fiktiven Sprache zu unterscheiden«, dann wäre das Erscheinen des Doppelgänger[s], der diese »originär wiederholende!·] Struktur« verkörpert, nicht als außerordentlicher Unglücksfall zu werten, sondern ein Ausdruck jener grundsätzlich »bedrohten]« Unterscheidbarkeit - und das Graus[en] aus dieser Sicht auf die Grundsätzlichkeit dieser »[B]edroh[ung]« zurückzuführen. Das Zeichen verweist angesichts der Grundsätzlichkeit dieser »[B]edroh[ung]« auf das Irreversible der »Verloren[heit]« und des »Fehlen[s]« jener vermeintlich »ursprünglichen« und damit auch jeder »endgültigen« Präsenz und provoziert mithin die Frage, was es mit der abwesenden Präsenz auf sich hat, denn: »Kein Doppelgänger ohne Aussaugen, ohne Anzapfen dessen, was ohne ihn für eine volle, selbstgenügsame Präsenz hätte gelten können: Der Doppelgänger macht das Original sich selbst unähnlich, ent-stellt es, versetzt in Bewegung und beunruhigt, was ohne ihn sich in simpler Weise hätte identifizieren, benennen, in diese oder jene bestimmte Kategorie einordnen lassen«. 64
61 62 63 64
Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 69. Jacques Derrida: Gestade (Parages), hg. von Peter Engelmann, Wien 1 9 9 4 , 8 . 1 2 5 . Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. j8L Sarah Kofman: Die Melancholie der Kunst, S. 229. 71
Und so regt sich im »Moment der Krise«, der »stets der Moment des Zeichens«65 ist, durch das Erscheinen des Doppelgängers] provoziert, der Verdacht, dass bereits die »Dinge[.]« an sich nicht so »fertig[..]« daliegen, wie man idealiter annehmen möchte, dass die Welt nicht aus jenen »fertigen Dingen« besteht, »die schon Sprache sind oder sich in der Sprache verdoppeln, sondern [aus, K. S.] Dingen, die sich selbst verdoppeln in einer Zeichenhaftigkeit und Bildhaftigkeit, der nichts vorausginge als diese selbst«,66 dass Präsenz insofern nicht in ihrer Abwesenheit durch das Zeichen repräsentiert, sondern der Eindruck abwesender Präsenz erst durch das Zeichen generiert wird.
Poetologische Sichtweisen »Was Erlebnis genannt werden kann, konstituiert sich in der Erinnerung. Wir meinen damit den Bedeutungsgehalt, den eine Erfahrung für den, der das Erlebnis hatte, als einen bleibenden besitzt.« (Hans Georg Gadamer) »Wir erleben das lyrische Aussagesubjekt, und nichts als dieses. Wir gehen nicht über sein Erlebnisfeld hinaus, in das es uns bannt. Dies aber besagt, dass wir die lyrische Aussage als Wirklichkeitsaussage erleben, die Aussage eines echten Aussagesubjekts, die auf nichts anderes bezogen werden kann als eben auf dieses selbst. Gerade das unterscheidet ja das lyrische Erlebnis von dem eines Romans oder Dramas, dass wir die Aussagen eines lyrischen Gedichts nicht als Schein, Fiktion, Illusion erleben. [...] Das Erlebnis kann >fiktiv< im Sinne von erfunden sein, aber das Erlebnis und mit ihm das Aussagesubjekt, das lyrische Ich, kann nur als ein reales und niemals als ein fiktives vorgefunden werden.« (Kate Hamburger)
Poetologisch betrachtet, lässt sich Heimkehr XX als Auseinandersetzung mit dem Konzept des ästhetischen Scheins verstehen. Diesem Konzept zufolge stellt der ästhetische Schein im Unterschied bzw. Gegensatz zur realen Substanz, zur tatsächlichen Wahrheit und Wirklichkeit den Modus der durch die Kunst hervorgebrachten Substanz, der durch die Kunst hervorgebrachten Wahrheit und Wirklichkeit dar. Die Erscheinung des 65 66
Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 1 1 0 . Bernhard Waidenfels: Antwortregister, S. 2 2 2 !
72
Doppelgänger]s] aber, die auf den ersten Blick den Charakter einer Fiktion hatte, macht als Verkörperung der Differenz die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion unmöglich, denn: »Die sogenannte »darstellende« Kunst kann nicht mehr als einfache Wiederholung eines vorher existierenden Modells gedacht werden, sondern nur als ein ursprüngliches Double, das jede Sicherheit erschüttert, die der Identität des »Gegenstandes« sowie jene des Subjekts, indem es jedes »Wirkliche« durch seine außergewöhnliche und faszinierende »Präsenz« verdoppelt.« 67
In der Konsequenz kann auf beiden Seiten nur noch von Effekten des Wahrhaften, Wirklichen und Substantiellen die Rede sein, die Opposition zwischen realer Substanz, tatsächlicher Wahrheit und Wirklichkeit auf der einen Seite und Kunst auf der anderen erscheint als solche unterminiert. Erfahrbar wird mithin in diesem Text, dass man es, wie Sarah Kofman schreibt, »[b]ei der Kunst [...] nicht mit einem »Schattenreich« zu tun [habe], das auf einfache Weise der realen Welt der Lebenden gegenüberstünde. Die Kunst bringt die Gegenüberstellung dieser beiden Welten aus dem Gleichgewicht, läßt sie ineinandergleiten. Der Schatten spukt nunmehr in der lebendigen Form »selbst« (wenn diese noch als solche identifiziert werden könnte). Der versteinerte Zusammenbruch aller gegensätzlichen Kategorien und jeder festlegbaren Bedeutung ist es ja gerade, was fasziniert und erschreckt [...] Die Faszination durch die beunruhigende Fremdheit der Kunst ist die gleiche, die auch der Leichnam hervorruft, dieses Double des Lebendigen, das ihm bis zur Verwechslung ähnelt, ohne es jedoch zu sein, viel imposanter, viel kolossaler«. 68
Poetologisch gesehen, lässt sich Heimkehr XX auch als Auseinandersetzung mit dem im 18. Jahrhundert aufgekommenen Originalitäts- bzw. Autorschaftskonzept verstehen. So könnte das Subjekt, das in der ersten Person spricht, die Auffassung vertreten, sein Werk solle direkt - deswegen kehrt es an die alten Stätten zurück - aus dem in alter Zeit empfundenen Liebesleid heraus entstehen, während der Doppelgänger vorführt, dass ein expressives Gedicht nicht notwendigerweise des [g]emi/i[igen] Erlebens und ein authentisch wirkender Text nicht notwendigerweise der unmittelbaren Selbstaussprache des Autors bedarf. Indem sich aus dem Wirken des Doppelgänger[s] heraus Dichtung als Artefakt, das der Dichtung zugrunde liegende Erlebnis als Imitation und das Subjekt als die eigentliche Fiktion erweist, subvertiert dieser Doppelgänger die eingespielten Gegensätze zwischen Originalität und Fälschung bzw. Autor und Fälscher, er tastet 67 68
Sarah Kofman: Die Melancholie der Kunst, S. 241. Ebd., S. 229. 73
mithin nicht weniger als »die heiligsten Insignien einer literarischen A u thentizitätsreligion« 69 an und erzeugt damit ein
\G]raus\m\.
»Eine vom logos bestimmte Ästhetik und Hermeneutik steht in Referenz zur Urheberschaft, zum Potential von »Autorität«, das in Wort und Begriff der auctoritas enthalten ist. Alles, was mimesis, thematische Variation, Zitat, Zuschreibung intendierten Sinnes umfaßt, leitet sich von einem Postulat schöpferischer Präsenz her. Die Dekonstruktionen semantischer Formen, die Destabilisierungen der Bedeutung, wie wir sie während der vergangenen Jahrzehnte kennengelernt haben, leiten sich von [Heines und, K. S.] Rimbauds Auflösung des Selbst her.«70 Poetologisch betrachtet, lässt sich Heimkehr
XX darüber hinaus als A u s -
einandersetzung mit der Aufgabe und Funktion von Kunst verstehen, die in der Formel »vita brevis, ars longa« zum Ausdruck kommt. Poetologisch betrachtet, also geht es dann um den Versuch des Subjekts, das Vergangene durch eine Transformation ins Künstlerische »für eine geraume Weile« der Vergänglichkeit zu entreißen. U n d dieser Versuch scheint berechtigt, denn: »Der Gegensatz zwischen Unwiederholbarem und Wiederholbarem eröffnet eine übergreifende Geschichtsperspektive, zumindest eine mittelfristige nach dem Motto: vita brevis, ars longa. Die >Kunst< überlebt, indem sie sich dem Gegensatz von Leben und Tod entwindet und zumindest für eine geraume Weile Herstellung und Hersteller, Tat und Täter ins Werk hinüberrettet: exegi monumentum aere perennius. Die vorübergehende Zeit des Sagens kommt in der stehenden Zeit des Gesagten zur Ruhe«. 71 Unter dem »Motto[.J vita brevis, ars longa« stehen nun mehrere Gedichte aus dem BdL,
so z. B. gleich das Eröffnungsgedieht des BdL
Zyklus Junge Leiden,
Traumbilder
und des
I, in dem es zum Ende hin heißt:
Verblichen und verweht sind längst die Träume, Verweht ist gar mein liebstes Traumgebild! Geblieben ist mir nur, was glutenwild Ich emst gegossen hab m weiche Reime. Du bliebst, verwaistes Lied! [...] 72 Während die Träume des Subjekts vergänglicher Natur zunächst wie Bilder verblichen
und dann wie Staub verweht
sind, erweist sich das Lied als
ein Beständiges, als ein [B]/[ei]£>era[des] und Bewahrendes, als eins, das 69
70 71 72
Andreas Höfele: Der Autor und sein Double. Anmerkungen zur literarischen Fälschung. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. Neue Folge. B. 49 (1999), hg. von Conrad Wiedemann, S. 79-101, hier: S. 80. George Steiner: Von realer Gegenwart, S. 137. Bernhard Waldenfels: Antwortregister, S. 378. Β. I, S. 20 {Junge Leiden, Traumbilder /). 74
unabhängig vom Tod der Träume weiterlebt, sich der veränderten Realität insofern nicht anpasst und entsprechend jenseits des »Gegensatzes] von Leben und Tod« existiert. Insofern hätte dieses Lied das Potenzial, im Fluss der Zeit Präsenz und Identität im idealistischen Sinne zu garantieren, doch ähnlich dem Haus in Heimkehr XX, das äußerlich fest auf demselben Platz verankert, im Inneren aber verlassen dasteht, stellen Beständigkeit und Unabhängigkeit nur die Außenseite des Lied[es] dar, in seinem Inneren hingegen herrscht, wie der Begriff des \y~\erwaiste\n\ zum Ausdruck bringt, Absenz. Dieses Lied zeugt zwar von früherer Präsenz, zugleich aber vermittelt es die »Erfahrung unüberwindlicher Abwesenheit«,73 und so erlangt es für das Subjekt keine aktuelle Bedeutung und keinen aktuellen Sinn. Es erfüllt aus der Sicht des Subjekts in dem Sinne keinen Zweck mehr, verliert damit seine Existenzberechtigung und provoziert in der letzten Strophe des Gedichts eine Reihe von Imperativen, die das »Wiederholbare[.]« in den Modus des »Unwiederholbare[n]« überführen und auf diese Weise tatsächlich ewige »Ruhe« einkehren lassen sollen:74 Du bliebst, verwaistes Lied! Verweh jetzt auch, Und such das Traumbild, das mir längst entschwunden, Und grüß es mir, wenn du es aufgefunden Dem luftgen Schatten send ich luftgen Hauch.
Poetologisch betrachtet, lässt sich auch Heimkehr XX als Auseinandersetzung mit der Kunstvorstellung verstehen, die durch das »Motto [.] vita brevis, ars longa« auf eine prägnante Formel gebracht erscheint, denn, 73 74
Bernhard Waidenfels: Topographie des Fremden, S. 90. Der ewigen Ruhe ein Stück näher sind die Lieder des Dichter-Ich am Ende des Zyklus Heimkehr, das abschließende Gedicht Heimkehr LXXXVIII lautet: »Sag, wo ist dein schönes Liebchen, / Das du einst so schön besungen, / Als die zaubermächtgen Flammen / wunderbar dein Herz durchdrungen?« // Jene Flammen sind erloschen, / Und mein Herz ist kalt und trübe, / Und dies Büchlein ist die Urne / Mit der Asche meiner Liebe. (Β. I, S. 149 {Heimkehr LXXXVIII)). Eine Antwort auf die in der ersten Strophe gestellte Frage, wo sich das Liebchen von einst befinde, bleibt das Subjekt in der zweiten mit der Erklärung schuldig, dass die Liebe inzwischen erloschen sei. Ähnlich den Träume[n] in Traumbilder I zeigt sich die Liebe also von ihrer vergänglichen Seite, während das Büchlein, das die Lieder enthält, die einst so schön das Liebchen besungen, ähnlich dem Lied in Traumbilder I beständiger erscheint, indem es nämlich die Urne darstellt, die die Asche der Liebe bewahrt und damit jenseits des »Gegensatzes] von Leben und Tod« existiert. Stärker allerdings als in Traumbilder I ist das Büchlein durch das Bild der Urne vom Tod überschattet, und so kommt der Gedanke, es könne im idealistischen Sinne Präsenz und Identität garantieren, hier gar nicht erst auf. Auch dieses Büchlein zeugt von Früherem, zugleich aber vermittelt auch dieses Büchlein durch die sterblichen Uberreste in seinem Inneren die »Erfahrung unüberwindlicher Abwesenheit« und befindet sich damit, nicht eindeutig positioniert, dicht am Ubergang zwischen »Wiederholbarem und Unwiederholbarem«. 75
poetologisch betrachtet, so könnte man meinen, geht es hier um ein Subjekt, das ausgezogen war, sich seiner selbst sprechend und dichtend zu vergewissern, dem es aber, wie der Doppelgänger vor Augen führt, nicht gelingt, das vermeintlich So-Erlebte transparent, »>leibhaftigsieh da< [...] und endet bei der Zeiggeste.« (Bernhard Waidenfels: Antwortregister, S. 349). Paul de Man: Allegorien des Lesens, S. 155.
76
Mit der »Preis[gabe der] buchstäblichen Wahrheit« des Selbst aber zeigt Heimkehr XX möglicherweise gerade den Wandel der Dichtung hin zur »[A]ufrichtig[keit]« an, denn, so Odo Marquard: »Indem sie aus dem Zwang zur Rechtfertigung mit der Schutzbehauptung des »semper idem« sich löst und zur Enthüllung der eigenen Identität als Andersgeworden- und Anders-sein übergeht, wirft die [Dichtung, K. S.] schließlich auch die Idealisierungen ab und wird »aufrichtig«. 81
Indem der Doppelgänger nun den Text »zum Text eines Textes« erklärt und dabei dessen Bedeutungslosigkeit offenbart, eröffnet er der Rezeption zugleich alle Möglichkeiten der Bedeutungskonstitution, sei es durch biografistische Deutungsverfahren oder durch semiotisch geprägte Annäherungsweisen. Der Doppelgänger macht Dichtung insofern gerade durch seine Gleichgültigkeit bzw. Distanz gegenüber dem »Leben« zu dem, was wir von Dichtung erwarten: zu einer phantastischen Projektionsfläche bzw. zu einem grammatischen Text. D u Doppelgänger! du bleicher Geselle! Was äffst du nach mein Liebesleid, Das mich gequält auf dieser Stelle, So manche Nacht in alter Zeit?
Die unbeantwortet bleibende Frage nach Bedeutung und Sinn des [Nach]ganz< eigen ist, erscheint das vermeintlich Präsente nur als das Präsente, indem es das Absente in sich aufnimmt und somit gerade nicht >ganz< präsent ist, erscheint das vermeintlich Identische nur als das Identische, indem es das Differente integriert und insofern nicht >ganz< mit sich identisch ist, bzw. erscheint das vermeintlich Wirkliche nur als das Wirkliche, indem es das Fiktive einlässt, und somit gerade nicht >ganz< wirklich ist. Das Graus[en] des Subjekts, als Zuspitzung des Unheimlichen verstanden, lässt sich insofern als Ausdruck des durch den Unterminierungsprozess des Doppelgängerls] provozierten Vertrauensverlusts in das System gängiger Identitäts- und Oppositionsbildungen verstehen. Von hier aus scheint es, als ob alles, insbesondere aber das, was wir für spezifisch wahrhaft, wirklich oder substantiell halten, der eingehenden Reflexion bedürfte. Uber ästhetische Vorstellungen im Hinblick auf Entstehungsbedingungen, den Modus, die Aufgabe und die Funktion von Literatur hinaus könnte es, poetologisch gesehen, in Heimkehr XX schließlich auch um Bedingungen und Möglichkeiten des Lesens von Literatur gehen. Dann lassen sich Subjekt und Doppelgänger als zwei verschiedene Lesertypen begreifen: Der eine Lesertyp, der durch das Subjekt verkörpert erscheint, ist der Autor bzw. steht dem Autor des Textes nahe, er »träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern«,84 muss stattdessen hier aber die Diskrepanz zwischen dem erfahren, was der Text seiner Meinung nach einmal sagen sollte, und dem, was er dabei zugleich schon sagte, er muss also erfahren, dass sich der Text nicht auf die Reproduktion von Intendiertem verpflichten ließ, sondern sich immer neuen Sprachspielen hingibt, in immer neuen Zusammenhängen auftaucht, somit immer wieder modifiziert in Erscheinung tritt und daher nicht langfristig konstituierend oder gar affirmierend wirkt. Dieser Lesertyp muss insofern am eigenen Leib erfahren, wie der Text, der sich seiner Referentialität, damit der sicher geglaubten Textbedeutung, dem sicher geglaubten Textsinn und auf diese Weise auch seinem persönlichen Zugriff entzieht, eine »Auslöschung von Urheberschaft« betreibt:
83 84
Bernhard Waidenfels: Topographie des Fremden, S. 187. Bernhard Waidenfels: Vielstimmigkeit der Rede, S. 87.
78
»Wo das »Ich« kein »Ich« ist, sondern eine magellanische Wolke momentaner Energien im Prozeß ständiger Spaltung, kann es keine Urheberschaft in irgendeinem spezifischen, stabilen Sinne geben. Der Wille und die Intention des schöpferisch Tätigen [...] hinsichtlich semes Werkes können keinen festen locus haben. Sie werden zu einer logischen und psychologischen Fiktion.« 85
Nun könnte man sagen, der gegenwärtig zutage tretende Mangel an »Wahrheit« und »Ursprung« des Textes und das daraus resultierende Unstete, Unberechenbare und Unbeherrschbare seiner Bedeutung sei auf die Zeit zurückzuführen, die immer neue Kontexte hervorbringt und den Text somit aus seinem ursprünglichen Kontext reißt. Man könnte entsprechend versucht sein zu glauben, der gegenwärtig zutage tretende Mangel stelle den Text gerade in seiner ursprünglichen »Wahrheit« und in seinem wahren »Ursprung« heraus, das aber würde bedeuten, dass dieser Text nur im Rahmen seiner Genese und nur vom Autor bzw. nur von Personen, die der Textgenese und dem Autor nahe stehen, im >eigentlichen< Sinn gelesen werden kann, ein Text aber, so lässt sich von hier aus sagen, der nur zu einem bestimmten Zeitpunkt und nur von einer einzigen Person bzw. nur von einer bestimmten Personengruppe im >eigentlichen< Sinn gelesen werden kann, wäre kein Text und zwar, weil »[e]ine Rede, die völlig auf der Höhe der Zeit wäre, [...] nur denkbar [ist] als erstes Wort, das von keinem Vorher, oder als letztes Wort, das von keinem Nachher beunruhigt würde«.86 Sichtbar wird stattdessen, dass »Sagen« und »Gesagtes« sich niemals decken, dass »unsere Rede [...] stets mit einer gewissen Verspätung ein[trifft], als wäre sie ein Echo ihrer selbst«. Sichtbar wird ferner die Kontextabhängigkeit des Textes, sichtbar wird durch die Figur des Doppelgänger^s], »die einen gesetzten Kontext in die perspektivische Distanz eines Anderswo bringt, von wo aus er gleichsam als Kontext im Kontext erscheint, [...] die [...] das scheinbar Identische in seinen Differenzen sichtbar [...] mach[t] und so den primären Kontext [...] multiplizier[t]«,87 dass am Ende auch der Versuch der Rekontextualisierung eine Form der Dekontextualisierung darstellt. Sichtbar wird darüber hinaus die »originär wiederholende[.] Struktur«,88 die nicht nur dem Zeichen, sondern mit dem Zeichen auch dem Text inhärent ist und auf die der andere Lesertyp, der durch den Doppelgänger verkörpert erscheint, aufmerksam macht. Dieser Lesertyp
85 86 87
88
George Steiner: V o n realer Gegenwart, S. i3ßf. Bernhard Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, S. 60. Karlheinz Stierle: Die Identität des Gedichts - Hölderlin als Paradigma, in: Odo Marquard und Karlheinz Stierle (Hg.): Identität, München 2 1996 (= Poetik und Hermeneutik, Β. VIII), S. 505-552, hier: S. 517. Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 78f.
79
»[bleibt] dem Ursprung nicht länger zugewandt [...], bejaht das Spiel und will über den Menschen [...] hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das [...] im Ganzen semer Geschichte, die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat«. 8 '
Jenseits aller »[B]ejah[ung des] Spiel[s]« bildet der Doppelgänger eine Art »Gegenkraft« zu den hermeneutischen »Sinnströmungen«, »die sich der allgemeinen Aneignung widersetzt, ohne [die] die Hermeneutik herabsinkt] zum bloßen Ausdruck einer bestehenden Kultur, die um sich selbst kreist und sich selbst bestätigt«.90 Der Doppelgänger verweist entsprechend auf das, was Paul Celan die »UNLESBARKEIT dieser Welt« nennt: UNLESBARKEIT dieser Welt. Alles doppelt. Die starken Uhren geben der Spaltstunde recht, heiser. Du, in dein Tiefstes geklemmt, entsteigst dir, für immer. 91
Indem er sich aber »der allgemeinen Aneignung widersetzt« und indem er auf die »UNLESBARKEIT dieser Welt« verweist, schafft der Doppelgänger ein Bewusstsein für das, was Nietzsche in § 381 der »fröhliche[n] Wissenschaft«92 bemerkt, nämlich dass sich ein jedes Verstehen und Interpretieren durch ein »Gleich-seize« und 7,mechi-machen« dessen vollzieht, was nicht gleich ist. Das Graus[en], als Zuspitzung des »Unheimlichen« verstanden, würde aus dieser Sicht dadurch hervorgerufen, dass das »Altvertraute« nie das »Altvertraute« im >eigentlichen< Sinne ist, sondern, um sein zu können, was es sein soll, als solches geschaffen werden muss und insofern immer schon das Ergebnis nachträglicher Erklärungen darstellt.
89
90 91
92
Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, m: Die Schrift und die Differenz, S. 422—442, hier: S.441. Bernhard Waidenfels: Vielstimmigkeit der Rede, S. 87. Paul Celan: Gesammelte Werke, hg. von Beda Allemann, Frankfurt/Main 1983; B . I I , S.338. »Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden« (Friedrich Nietzsche: K S A , B. III, S.633). 80
2.4 Uneigenes Reden: Zu Heimkehr XLIV
»Er [der Dichter] führe uns nicht rückwärts in unsre Kindheit, [ . . . ] sondern führe uns vorwärts zu unserer Mündigkeit, um uns die höhere Harmonie zu empfinden zu geben [...]. Er mache sich die Aufgabe einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffinirtesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt, welche mit einem Wort, den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurück kann, bis nach Elisium führt« (Friedrich Schiller) »So komm! daß wir das Offene schauen. Daß ein Eigenes w i r suchen, so weit es auch ist.« (Friedrich Hölderlin) » W i e ist man zugleich sich selber und ein anderer?« (Georges-Arthur Goldschmidt)
81
Hinführung Es gibt ein weiteres Gedicht, in dem von einem Sterbe[n] vor Schmerzen die Rede ist: die während der Entstehung der Junge[n] Leiden aus dem Zyklus ausgeschiedene Minneklage. Nicht nur die Rede vom Sterbe[n] vor Schmerzen aber verbindet dieses Gedicht mit Heimkehr LIII, auch der Grund für das Leiden des Subjekts scheint verwandt, wenn es in der drittletzten Strophe heißt: Schwarze Nacht mein A u g umdüstert, Schatten drohen feindlich grimm; Und im Busen heimlich flüstert Eine eigen fremde Stimm. 1
Auch hier taucht mitten im Bereich des Eigenen ein Fremdes auf: Eine Stimm, die als Reimwort von grimm in einen feindlich[en] Kontext gerückt erscheint, die heimlich, d. h. nach Freud »nicht eindeutig«, sondern zugleich »[v]ertraut[..]« und »[v]ersteckt[..]«2 agiert, der grammatisch eine Subjekt-Position eingeräumt wird und die anstatt mit dem Possessivpronomen der ersten Person lediglich mit einem noch dazu unbestimmten Artikel versehen ist. Dieser unbestimmte Artikel bereitet semantisch das Attribut des [F]rewzfi?e[n] vor, das dann direkt die Fremdeinwirkung benennt. Die Schuld an dieser Fremdeinwirkung wird, wie aus der letzten Strophe des Gedichts hervorgeht, eindeutig der Minne zugewiesen: Aber daß in meinem Herzen Flammen wühlen sonder Ruh, Daß ich sterbe hm vor Schmerzen — Minne, sieh! das tatest du!
Inszeniert wird dieser Einzug der Minne ins Innere des Subjekts wie der Auszug aus dem Paradies: Vor dem Einzug der Minne nämlich konnte sich das Subjekt, wie aus den Strophen drei bis fünf hervorgeht, umgeben von bunte[n] Blumen, grüner Aue und einem Bächlein, umgeben also von mythischer Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit, Unschuld, Einfachheit,
1 2
Β. I, S. 2 1 7 (»Während der Entstehung der »Jungen Leiden« ausgeschieden«). »Wir werden überhaupt daran gemahnt, daß dies Wort heimlich nicht eindeutig ist, sondern zwei Vorstellungskreisen zugehört [...] dem des Vertrauten, Behaglichen und dem des Versteckten, Verborgengehaltenen. [...] Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt.« (Sigmund Freud: Das Unheimliche, S. 235 und 237). 82
Friedlichkeit und Harmonie sowie einer »Reinheit der Präsenz«,3 glücklich entfalten, nun aber sieht sich das Subjekt aus dem idyllischen Schutzraum hinausgeworfen, und das erzeugt nicht nur ein Bewusstsein für die Nachtseiten der Natur, sondern ruft auch das Gefühl der Entfremdung hervor und damit zugleich ein Heimweh nach dem einstigen Einssein des Menschen mit sich und der Natur. Die direkte Konfrontation von eigen und fremd[.] in der drittletzten Strophe des Gedichts lässt sich von hier aus als Ausdruck einer vom Subjekt plötzlich empfundenen Gefährdung seiner Identität verstehen. Das zunächst noch Unbestimmte dieser vom Subjekt empfundenen Gefährdung wird in der folgenden, der vorletzten Strophe des Gedichts, die durch den Begriff des Fremde[n] dominiert wird, zugleich präzisiert und verschärft: Fremde Schmerzen, fremde Leiden Steigen auf mit wilder Wut, Und in meinen Emgeweiden Zehret eine fremde Glut.
Auch das Subjekt dieses Gedichts also erscheint nicht als »ganzer Mensch aus einem Guß« und Herr im eigenen Hause, sondern von »Ichfremdem [...] affiziert«:4 von fremden Gefühlen heimgesucht, die sich nicht nur verstehen lassen als plötzlich auftretende unbekannte Gefühle, sondern auch als Gefühle der Bestimmtheit und Beherrschtheit von fremden Regeln und Normen, Konventionen, Traditionen und Diskursen. Auffällig ist dabei, dass die Schuld für diese innerlich empfundene Fremdheit so eindeutig einer äußerlich auf das Subjekt einwirkenden Kraft zugewiesen wird, denn so heißt es in der sechsten Strophe: Bin ein bleicher Mann geworden, Seit mein Auge sie gesehn; Heimlich weh ist mir geworden, Wundersam ist mir geschehn.
und dann am Ende: Daß ich sterbe hin vor Schmerzen Minne, sieh! das tatest du!
Die so deutliche Verteilung grammatischer Aktiv- und Passivkonstruktionen in diesem Text aber könnte den Verdacht erregen, dass hier rückwirkend mit Kontrastmitteln gearbeitet wird, dass hier möglicherweise 3 4
Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 440. Bernhard Waidenfels: Antwortregister, S. 123.
83
von vornherein eine »originäre Einschreibung« vorlag, die sich, wie es im Anschluss an Gedanken von Levinas sowie Husserl, Heidegger und Derrida bei Waldenfels heißt, gerade »nicht von außen der Erfahrung hinzufügt«, sondern von Anfang an »einen Spielraum für fremde Ansprüche [öffnet], die sich dem eigenen Zugriff entziehen, weil schon dieser Zugriff nachträglich erfolgt, [...] die schon die Eigenheit des »eigenen Hausese[n] nach sich zieht, prägt das Fremde in 14
Β. I, S. 130 (Heimkehr
88
XLIV).
Heimkehr XLIV, das offenbar durch den starken Einfluss der kulturellen Tradition hervorgerufen wird, das Subjekt über einen längeren Zeitraum hinweg, löst zwar ein [E]lend aus, aber provoziert auch rationale Gegenmaßnahmen. Anders auch als in der Minneklage bleibt in Heimkehr XLIV unbestimmt, wie es anfänglich zum Elend kommt. Möglich ist einerseits, dass alles im Scherz und im Spiel beginnt, bevor dann der große Ernst einsetzt, möglich ist aber auch, dass das Subjekt sein Reden und Tun zunächst als »reine[n] und unmittelbare[n] Ausdruck« des eigenen Fühlens empfindet, dass es sich zunächst mit der kulturell vorgegebenen Rolle identifiziert, erst mit der Zeit den Eindruck einer Fremdbestimmtheit gewinnt und sich in dem Zuge von seiner Rolle zu distanzieren beginnt. Möglich ist also, dass das Subjekt erst mit der Zeit bemerkt, dass es sich in der Vergangenheit stz'/[sicher], pathetisch in Alliterationen und Superlative gehüllt, vor präehtgen Kulissen selbst inszenierte/6 Heimkehr XLIV lässt sich darüber hinaus dahingehend lesen, dass das Subjekt von Beginn an gleichzeitig in seiner Rolle aufging und dieser Rolle kritisch gegenüberstand. Auch wenn in diesem Gedicht aufgrund der Retrospektive, aus der heraus das Subjekt sein Fühlen, Reden und Tun betrachtet, nicht eindeutig zu klären ist, ob es von Beginn an über ein Rollenbewusstsein verfügte oder das Rollenhafte erst rückblickend als solches diagnostiziert, so legt die letzte Strophe des Gedichts nahe, dass es in der Vergangenheit zumindest Momente oder Phasen gegeben hat, in denen das Subjekt gleichzeitig sein Rollenspiel unreflektiert betrieb und sich kritisch distanziert damit auseinandersetzte. Das [E]lend des Subjekts ist nun darauf zurückzuführen, dass es die enge Verflechtung von eigenem Sagen und Fühlen und bereits vielfältig Vorgesagtem und Vorgefühltem erkennt, dass es das »Zitieren [...] als Rede in einer anderen Rede, also als ein Sagen [erkennt, K. S.], das im Ereignis des Sagens ein anderes Sagen mitvollzieht. [...] Das zitierende Sagen bestünde in diesem Falle nicht in einer bloßen Wiedergabe von etwas, das schon gesagt ist, sondern in einem Wiedersagen, in dem ein Sagen sich als solches wiederholt. [...] Die Verdoppelung und Vervielfältigung des Sagens 15 16
Michail M. Bachtin: Das Wort in der Poesie und das Wort im Roman, S. 178. Mit Bachtin ließe sich dieser Prozess folgendermaßen beschreiben: »das Bewußtsein erwacht zu selbständigem ideologischen Leben in der es umgebenden Welt fremder Wörter, von denen es sich zunächst nicht löst; das Unterscheiden von eigenem und fremdem Wort, von eigenem und fremdem Gedanken setzt ziemlich spät ein. Wenn die Arbeit des selbständigen prüfenden und auswählenden Gedankens beginnt, dann geschieht vor allem eine Trennung des innerlich überzeugenden Wortes vom autoritären und aufgezwungenen Wort und von der Masse der gleichgültigen, uns nicht berührenden Wörter.« (Michail M. Bachtin: Das Wort in der Poesie und das Wort im Roman, S. 232). 89
schließt ein, daß in der eigenen Stimme fremde Stimmen mitanklingen [...]. Wer zitiert, ist nicht schlechthin Herr [...] des Redens [...]. Die Rede m der Rede bedeutet zugleich ein Reden von einer anderen Rede
her«.17
»[FJremde Stimmen« in sich hörend, sehnt sich das Subjekt offenbar nach dem Gefühl uneingeschränkten Selbstseins, das es nicht wie das Subjekt in der Minneklage als für immer verloren in der Vergangenheit verortet, sondern, so lassen sich erste und dritte Strophe des Gedichts verstehen, als Möglichkeit der Gegenwart bzw. Zukunft. Und so versucht das Subjekt denn, das, was es als fremd entlarvt hat und was die Bruchstellen seiner Identität bewirkt, säuberlich und mit Verstand vom Eigenen zu trennen. Der Versuch der Trennung erscheint allerdings nicht von Erfolg gekrönt: Und nun ich mich gar säuberlich Des tollen Tands entledge, N o c h immer elend fühl ich mich, Als spielt ich noch immer Komödie.
Trotz der vollzogenen Maßnahmen, trotz der Einschaltung des Verstand^] und trotz der Säuberlich\ksit\ des Schnitts, also stellt sich ein Gefühl uneingeschränkten Selbstseins und damit das Gefühl, endlich Herr im eigenen Hause zu sein, beim Subjekt nicht ein. Der Grund für das anhaltende [E]lend ist offenbar darin zu sehen, dass das Subjekt nicht die richtigen Maßnahmen wählt. Zurückführen lässt sich das anhaltende [E]lend also offenbar darauf, dass der Verstand nicht so mächtig ist, wie wir es ihm in unserem durch Rationalität geprägten Selbstverständnis gerne zugestehen würden. Erfahrbar wird insofern, dass niemand einfach verstand\esmi&ig\ die Entscheidung treffen kann, hinter der Bühne zu verschwinden und Rolle und Requisiten abzulegen, um sich anschließend >verwirklicht< in der >wahren< Welt wieder zu finden.18 Erfahrbar wird darüber hinaus, dass die durch 17 18
Bernhard Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, S. 1 y8f. und 1 6 1 . Vgl. zu den geringen Möglichkeiten des Subjekts, bewusst eine Veränderung seines Handelns herbeizuführen, den Neurobiologen Gerhard Roth, der in seinem Buch »Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert« schreibt: »Unser bewusstes Ich ist - so der amerikanische Neurobiologe Michael Gazzaniga - »die letzte Instanz, die erfährt, was in uns wirklich los ist«. [...] Das bewusste Ich hat keine oder eine nur geringe Einsicht in die A n triebe des limbischen Erfahrungsgedächtnisses[, das »sich als Motive, Zu- und Abneigungen, Stimmungen, Antriebe, Wünsche und Pläne [äußert]« (S. 373)], schreibt sich aber die in ihm aufkommenden Wünsche, Absichten und Pläne zugleich selbst zu. [...] Das bewusste Ich hat auch nur wenig oder keine Macht, das unbewusste limbische Erfahrungsgedächtnis bewusst zu verändern. Es kann »um dieses limbische Erfahrungsgedächtnis herum« in die Handlungssteuerung eingreifen, aber im Konfliktfall gewinnt das limbische Erfahrungsgedächtnis.
90
den Verstand angeregte Reflexion, die das Entstehen des Gefühls uneingeschränkten Selbst- und Herrseins zunächst zu befördern schien, indem sie die Wahrnehmung des Fremden stimulierte und die Maßnahmen des \E\ntledge[ns\ initiierte, das Entstehen des Gefühls uneingeschränkten Selbst- und Herrseins zugleich behindert und zwar, weil sie das Subjekt für das Fremde und seine Verwachsenheit mit dem Eigenen sensibilisiert, anstatt also zu >einen< das Subjekt im Zuge dieser Sensibilisierung in ein sehendes und ein gesehenes spaltet und grundsätzlich ein »Nachgewahren« darstellt, »das sich nie zur Identität eines >Subjekts< rundet«.19 Indem die Reflexion aber in diesem Sinne das Identitäts- und Autonomiekonzept in Frage stellt, stellt sie das System in Frage, auf dem die binäre Opposition zwischen Fremdem und Eigenem beruht. Zurückführen lässt sich das anhaltende [E]lend aber auch darauf, dass das Eigene nach der säuberlicb[en] Abtrennung des Fremden nicht einfach als feste Substanz zurückbleibt, weil sich das, was als Fremdes abgetrennt werden soll, gerade als Eigenes entpuppt, bzw. darauf, dass sich das vermeintlich Fremde und das vermeintlich Eigene von vornherein gar nicht säuberlich abtrennen lassen, weil sich das vermeintlich Fremde nicht einfach zu einem bestimmten Zeitpunkt wie tolle[r] Tand dem vermeintlich Eigenen hinzugefügt hat, sondern vielmehr, von vornherein mit dem Eigenen verwachsen, den »anfänglichen Spalt [ausbildet, K. S.], der das >Subjekt< von sich selbst fernhält«.20 Erfahrbar wird insofern, dass mit den Worten Waldenfels' der »Umweg durch das Fremde [...] nie wieder zu einem rein Eigenen zurückführen wird«.21 Betrachten wir die Verwachsenheit von Eigenem und Fremdem, wie sie in der letzten Strophe des Gedichts zum Ausdruck kommt, genauer, so stellt sich diese in einem Moment, da das Subjekt sich mit seiner Rolle identifiziert und sich zugleich kritisch davon distanziert, optisch als innere Unterschiedenheit bei gleichzeitig äußerer UnUnterscheidbarkeit dar: Ich hab mit dem Tod in der eignen Brust Den sterbenden Fechter gespielet.
19 20 21
Von einigen Neurobiologen [...] wird bezweifelt, ob das limbische Erfahrungsgedächtnis überhaupt vergisst oder umlernen kann. Zumindest geschieht das Umlernen im limbisch-emotionalen System viel langsamer als im deklarativen cortico-hippocampalen Gedächtnis. [...] Das Bewusstsein entscheidet zweifellos nicht selbst darüber, was in es eindringen darf und was nicht.« (Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt/Main, 2001, S. 370 und 374). Bernhard Waidenfels: Der Stachel des Fremden, S. 77. Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, S. 78. Ebd., S. 64. 91
Erfahrbar wird hier, was Helmut Lethen »in unserer Kultur« beobachtet, dass: »[...] vor allem Schmerz [...] als ein sicherer Indikator eines authentischen Ausdrucks gilt[.] Während das trügerische Glück leicht in den Verdacht der Maskerade gerät, erscheint der Mensch im Schmerz als maskenloses Wesen, an keine Regeln der Inszenierung gebunden. Dabei gilt die unfehlbare Sicherheit, mit der der Ausdruck des Schmerzes einem stereotypen Schema folgt, als Indiz für seine Echtheit.« 22
In diesem Sinne also lässt sich die »Inszenier[theit]« der Gebärde des sterbenden Fechter[s] als »Indiz für seine Echtheit« verstehen. Deutlicher noch als in der Gebärde des sterbenden Fechter[s] aber kommt die Verwachsenheit von Eigenem und Fremdem im Sinne innerer Unterschiedenheit bei gleichzeitig äußerer UnUnterscheidbarkeit zu Beginn der letzten Strophe im Sprechen des Subjekts über seine Gefühle zum Ausdruck: Ach Gott! im Scherz und unbewußt Sprach ich was ich gefühlet;
Sprachlich kommen innere Unterschiedenheit und äußere Ununterscheidbarkeit durch die kopulative Konjunktion und zum Ausdruck, die die Gleichzeitigkeit von [s]cÄerz[haftem] und unbewußt[em]
Sprechen
anzeigt, die Gleichzeitigkeit also einerseits eines Sprechens, das spontan und unmittelbar aus dem eigenen Fühlen des Subjekts heraus entsteht, andererseits eines Sprechens, das sich, eigenes Fühlen imitierend, distanziert reflektierend zu diesem vermeintlich eigenen Fühlen verhält. Das Denken der Gleichzeitigkeit zweier Sprechweisen, die sich in der direkten Zusammenschau als gegensätzlich erweisen, aber stellt eine gewisse rationale Herausforderung dar, denn was dementiert bzw. sogar denunziert wird, ersteht im selben Atemzug neu. Konkret besteht die Schwierigkeit darin, dass durch die angezeigte Gleichzeitigkeit der beiden Sprechweisen ein »eingespielte[r] Kontrast [...] in Bewegung [gerät]«23 und zwar, weil das eine, wie sich nun herausstellt, um innerhalb der Opposition die Rolle spielen zu können, die man von ihm erwartet, die Merkmale aufweisen muss, die eigentlich dem anderen zugeordnet werden - und umgekehrt. Sichtbar wird in diesem Sinne, dass im Rahmen des unbewußten]
Spre-
chens nicht das Eigene, sondern das Fremde spontan und unmittelbar aus dem Inneren des Subjekts hervorgebracht, dabei aber als Eigenes deklariert wird, während das Subjekt im Rahmen des [s]c/?erz[haften] Spre22 23
Helmut Lethen: Versionen des Authentischen, S. 221. Bernhard Waidenfels: Der Stachel des Fremden, S. 9.
92
chens das Fremde als Eigenes inszeniert, es durch die Inszenierung gerade als ein Fremdes zur Schau stellt und dabei dem Fremden gegenüber eine eigene Haltung offenbart. Sichtbar wird in dem Sinne, dass das unbewußt Hervorgebrachte nicht, wie man meinen sollte, als das Eigentliche in Erscheinung treten kann, während das [s]c/?erz[haft] Geäußerte offenbar so uneigentlich nicht ist, wie man es ihm traditionell nachsagt. Mit Nietzsche, der in der viel zitierten Antwort auf die Frage »Was ist also Wahrheit?« dem »unbewußte[n] Text« die Lüge unterstellt, lässt sich das unbewußt[e] Sprechen in Heimkehr XLIV als ein Sprechen verstehen, das sich aus dem »Vergessen« der Fremdheit des Fremden bzw. aus der historischen »[V]erbindlich[keit]« dieses >eigentlich< Fremden heraus ereignet.24 Erfahrbar wird insofern mit Nietzsche und nachfolgend mit Derrida, dass »[d]er unbewußte Text [...] schon aus reinen Spuren und Differenzen gewoben [ist], in denen Sinn und Kraft sich vereinen; ein nirgendwo präsenter Text, der aus Archiven gebildet ist, die immer schon Umschriften sind. Ursprüngliche Stiche. Alles fängt mit der Reproduktion an«. 2 J
Mit Freud lässt sich das [U]nbewußt[e] des Sprechens in Heimkehr XLIV als durch einen »Primärvorgang« dominiert verstehen, der wiederum durch ein im Rahmen von Prozessen der »Verschiebung« und »Verdichtung« permanentes Gleiten der Bedeutung charakterisiert ist. Zeichentheoretisch betrachtet rücken damit die Signifikanten in den Blickpunkt, die nicht auf vermeintlich vorgegebene Signifikaten bezogen erscheinen, sondern in den verschiedensten Sinnzusammenhängen auftauchen und so das 24
»Wahrheit« also, so heißt es bei Nietzsche, sei »[e]in bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind. [...] wahrhaft sein, das heißt die usuellen Metaphern gebrauchen, also moralisch ausgedrückt: von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen, herdenweise, in einem bestimmten Stile zu lügen. N u n vergißt freilich der Mensch, daß es so mit ihm steht; er lügt also m der bezeichneten Weise unbewußt und nach hundertjährigen Gewöhnungen - und kommt eben durch diese Unbewußtheit, eben durch dies Vergessen zum Gefühl der Wahrheit (...)« (Friedrich Nietzsche: K S A , Β. I, S. 881). Vgl. zum Begriff des Unbewussten Odo Marquards Skizzierung eines »Traditionsstrang[s]«, der von Freud über Nietzsche, E. v. Hartmann, C. G . Carus bis zu Schelling, Fichte und Kant reicht (Odo Marquard: Zur Bedeutung der Theorie des Unbewussten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst, in: Hans Robert Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968, S. 375-392,hier: S. }γ6ϊϊ.).
25
Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 323. 93
unendliche Spiel der Differenzen initiieren. Indem sich das
unbewußt[e]
Sprechen aus dieser Sicht als unreflektierte Reproduktion von »Konventionfeilem]« 26 präsentiert und indem es, anstatt die eine definitive Bedeutung zu präsentieren, auf die unüberschaubare und unkontrollierbare Menge an Bedeutungsbeziehungen verweist, lässt sich das
unbewußt[e]
Sprechen, obwohl man meinen könnte, es bringe spontan und unmittelbar ein Eigentliches im Sinne eines genuin Eigenen des Subjekts zur Sprache, 27 als ein Sprechen verstehen, in dem sich die vermeintliche Substanz in ichfremden Konventionen, Traditionen und Diskursen verstrickt, verstreut und am Ende verliert, als ein Sprechen also, das das Subjekt als eine >Spur< herausstellt. Das unbewußt[e]
Sprechen des Subjekts über seine Gefühle,
das also unreflektiert substanzlos »Konventionelles]« reproduziert und Nietzsche zufolge aus diesem Grund verlogen ist, erweist sich mithin nur als eine besondere Form uneigentlichen Sprechens. Das scberz[ha.he]
Sprechen in Heimkehr
XLIV
ist umgekehrt mehr als
bloße Rhetorik und, auch wenn bzw. gerade weil es sich per se jeder Form der »[V]erbindlich[keit]« widersetzt, mehr und etwas anderes als ein Ausdruck »dieser Kunst, die eigene Identität aus der je eigenen Verantwortung zu entlassen«.28 Das scherz\haht\ Sprechen führt, indem es das Fremde als Eigenes inszeniert, das >Tragische< vor, das im Bewusstsein des Scheiterns nicht des Rollenspiels liegt, sondern im Bewusstsein des Scheiterns eines eigentlichen Seins, im Bewusstsein also, dass ein Zustand der vollkommenen Ubereinstimmung von Signifikat und Signifikant, 29 ein Zustand abso26 27
28 19
Friedrich Nietzsche: K S A , Β. I, S. 881. Vgl. zu diesem Thema auch jüngste neurowissenschaftliche Erkenntnisse, so schreibt der Neurobiologe Gerhard Roth, »dass diejenigen Hirnzentren, die unsere Denk- und Gefühlswelt und schließlich unser Handeln in seinen Grundzügen bestimmen, außerhalb der assoziativen Großhirnrinde liegen und deshalb dem bewussten Erleben nicht direkt zugänglich sind. [...] Aufgrund seiner besonderen Konstruktion kann der assoziative Cortex als bewusstseinschaffendes Systems die von außen eindringenden Einflüsse (und hierzu gehört alles, was nicht vom Cortex kommt) nicht von den selbstgenerierten Zuständen unterscheiden. Die plötzlich auftauchenden Wünsche, Absichten und Vorstellungen werden empfunden als unsere eigenen Wünsche, Absichten und Vorstellungen; unser Ich schreibt sie sich selbst zu. Jedoch ist nicht alles sofort stimmig; [...] deshalb werden Störungen korrigiert [...]. Das unbewusste [...] Erfahrungsgedächtnis lenkt — hierin ist Freud zweifellos zuzustimmen — unser Handeln stärker als unser bewusstes Ich; es äußert sich als Motive, Zu- und Abneigungen, Stimmungen, Antriebe, Wünsche und Pläne, die als relativ diffus und detailarm empfunden werden.« (Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln, S. 368f. und 373). Odo Marquard: Identität - Autobiographie - Verantwortung, S. 694. »Die Parodie ist ein sprachanalytisches Verfahren par excellence, sie »reißt das Wort gleichsam vom Gegenstand los« und zeigt seine Grenzen, indem sie die
94
luter Innerlichkeit nicht existiert bzw. ein Zustand absoluter Rollenlosigkeit nicht erzeugt werden kann, denn: »Die Komik des Rollen[spiels, K. S.] rührt«, so Hans Robert Jauß, »an die Tragik der verlierbaren Identität« 30 und damit an die »Tragik«, die auf dem Versagen des traditionellen Identitätskonzepts beruht. 31 Ferner verweist das scberz[ha.he]
Sprechen, indem
es Bilder, die sich aus Spuren der Vergangenheit zusammensetzen, imitiert und zitiert, direkt auf das Rollenhafte der Rolle des Subjekts und damit auch auf das Spielerische und Anachronistische dieser Rolle. Das scherz[hafte] Sprechen »zeigt« mithin anstelle einer Identität »die Doppelung von Rollenträger und Rollenfigur«, 32 bzw. führt das Zeichenhafte des Zeichens vor, es präsentiert anstelle einer Einheit »die Doppelung« von Signifikant und Signifikat. Als solches aber stellt dieses sc/>erz[hafte] Sprechen das bis dahin Sicher-Geglaubte und Verbindliche in Frage und präsentiert sich in diesem Sinne als eine selbstbewusst reflektierte Weise des Umgangs mit dem Fremden. Erst durch das scherz [hafte] Sprechen kommt das Subjekt, so gesehen, zu sich selbst. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die nebenordnende Konjunktion und, die ihrer Funktion gemäß das eine mit dem anderen verbindet, ohne dabei von sich aus differenzierend oder hierarchisierend vorzugehen, in diesem Fall durch die hergestellte Verbindung das eine gegen das andere aufbringt. Im Rahmen der Zusammenschau also entwickeln sich die Glieder der Aufzählung zu Gliedern einer Opposition, wobei sich aber weder das eine noch das andere als solches profilieren kann, weil sowohl das eine als auch das andere in der direkten Konfrontation vermeintlich substantielle Merkmale einbüßt. Das Ergebnis ist eine Ungewissheit nicht
30
31
32
Differenzen von Signifikant und Signifikat transparent werden lässt.« (Rolf Hosfeld: Die Welt als Füllhorn: Heine. Das neunzehnte Jahrhundert zwischen Romantik und Moderne, Berlin 1984, S. 86). Hans Robert Jauß: Poetik und Problematik von Identität und Rolle in der Geschichte des Amphitryon, in: Odo Marquard und Karlheinz Stierle (Hg.): Identität. München 2 i996 (= Poetik und Hermeneutik, Β. VIII), S. 2 1 3 - 2 5 3 , hier: S. 214. Auch in diesem Zusammenhang erscheint die neurowissenschaftliche Sicht von Bedeutung, so schreibt der Neurobiologe Gerhard Roth hinsichtlich des Bewusstseins: »Bewusstsein ist eine besondere Form von Informationsverarbeitung, die dann »eingeschaltet« wird, wenn das Gehirn mit Problemen konfrontiert wird, für die es noch keine »Routinen« ausgebildet hat [...] Hierzu trägt auch die sprachliche Vermitteltheit bewusster Zustände und Wahrnehmungen bei, die keineswegs unmittelbar etwas mit »objektiver Realität« zu tun hat, sondern eher mit der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit.« (Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln, S. 374f.). Rainer Warning: Komische Doppelgänger, in: Odo Marquard und Karlheinz Stierle (Hg.): Identität. München z i99Ö (= Poetik und Hermeneutik, B . V I I I ) , S. 729-734, hier: S. 730. 95
nur darüber, welches der beiden Glieder eigentlich welches ist, sondern eben auch darüber, welches am Ende das eigentliche ist. Das kleine Wörtchen und, das die Opposition von [s]d?erz[haftem] und
unbewußt[em]
Sprechen in ihrer Reinheit erst hervorbrachte, produziert also, indem es zugleich die Identität beider Oppositionsglieder erschüttert und den »Eigentlichkeitsabstand«33 - den Abstand also zwischen vermeintlich Eigentlichem und Uneigentlichem - aufhebt, eine >KopulationSubjekts< muß jeder Versuch einer totalen Aneignung Züge eines pathologischen Allmachtstraumes annehmen, dem der Gegentraum totaler Enteignung durch Auflösung aller Ich-Grenzen auf dem Fuße zu folgen pflegt«.
Anstelle des »Versuch[s] einer totalen Aneignung« und einer »totale[n] Enteignung«, wie sie in Heimkehr XXX zum Ausdruck kommt, so könnte man an dieser Stelle schließen, gilt es, sich mit der Vorstellung abzufinden: »Ich bleibe ein anderer«.37
Poetologische Perspektiven »Der Status der Lesehandlung bleibt also gefährlich in der Schwebe zwischen Simulakrum und Wirklichkeit; Fechten ist für eine solche Lage der Dinge die passende Metapher. Der Tod steht im Zentrum der Aktion und man kann unmöglich wissen, an welcher Stelle die Komödie des Sterbens in wirkliche Gewalt umschlägt« (Paul de Man)
Im Hinblick auf Heimkehr XLIV bietet sich auch eine poetologische Lektüre an. Dann geht es hier um das Elend38 eines Dichter-Ich, das in seiner Rede das Fingierte bzw. einen Fremdeinfluss wahrnimmt und bei 35 36 37 38
Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 424. Bernhard Waidenfels: Der Stachel des Fremden, S. 78. Ebd., S. 64. Vgl. zum Begriff des Elend[s] Johann Jokl, der bemerkt: »Der in dem Zyklus, den Heme »Die Heimkehr« benannt hat, zurückkehrt, ist kein Heimkehrer,
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dem Versuch, sich davon zu befreien, versagt, dann geht es hier, wie in Heimkehr XLIII angekündigt, mit Harold Bloom um »das Bemühen, das eigene Selbst neu zu erzeugen, das eigene große Original von sich selbst zu werden. [...] Aber w o das [...] Gewebe schon gewoben ist, sind wir unterwegs, um es wieder aufzutrennen. [...] Das ist Teil des Leidenskampfes des Schaffenden«."
Der Grund für das »Bemühen«, künstlerisch als ein »eigene[s] Selbst« und als ein »eigene[s] große[s] Original« in Erscheinung zu treten, ist in dem emphatischen Originalitäts- und Subjektivitätspostulat zu sehen, das sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts herausbildete. Diesem Postulat entsprechend lassen sich Aufgabe und Bestimmung des Dichters darin sehen, unmittelbar aus sich selbst, d. h. direkt aus dem »autonomen, individuellen Ursprung poetischer Kreativität«40 heraus schöpferisch tätig zu werden. Dem Dichter-Ich in Heimkehr XLIV wird nun, wie gesagt, bewusst, dass es nicht aus jenem »Ursprung« heraus spricht, sondern fingiert bzw. einem Fremdeinfluss unterliegt. Unbestimmt bleibt allerdings, zu welchem Zeitpunkt diese Wahrnehmung einsetzt. Möglich erscheint, wie zu Beginn der Auseinandersetzung mit diesem Gedicht dargelegt, zum einen, dass das Subjekt zunächst frei mit den Requisiten und Kulissen der literarischen Tradition hantiert, um dann zu merken, dass Eigenes in die Sache hineinspielt; möglich erscheint zum anderen, dass das Subjekt seine Rede zunächst als »reine[n] und unmittelbare[n] Ausdruck« 41 des eigenen inneren Fühlens empfindet, erst mit der Zeit den Eindruck einer Fremdbestimmtheit gewinnt und sich in dem Zuge von seiner eigenen Rede zu distanzieren beginnt. In diesem Fall würde das Subjekt also erst mit der Zeit bemerken, dass jenes Sprechen aus der eignen Brust heraus nicht so eigen war wie zunächst gedacht. Möglich ist aber auch, dass das Dichter-Ich in seinem vermeintlichen Brust[ton] aufgegangen wäre und diesem Sprechen zugleich kritisch distanziert gegenübergestanden hätte. Entscheidend ist in diesem
sondern ein Elender — der Begriff findet sich denn auch häufig — im ursprünglichen Sinne des Wortes, ein aus seinem Land, seiner Heimat Getriebener.« (Johann Jokl: V o n der Unmöglichkeit romantischer Liebe. Heinrich Heines >Buch der Liedererz[haft] Geäußerte offenbar so uneigentlich nicht ist, wie man es ihm traditionell nachsagt. Was nun im Rahmen des unbewußt[en]
Sprechens so leidenschaftlich
aus dem tiefsten Inneren des Subjekts hervorgebracht erscheint und sich entsprechend als spontane und unmittelbare Selbstaussprache eines Dichters geriert, ist das [r]ziier[liche] Bekenntnis
schmerzhaft-unerfüllter
Liebe und damit lediglich die unreflektierte Reproduktion fremden Fühlens, die auf dessen lange literarische Tradition zurückzuführen ist. Das Subjekt in Heimkehr
XLIV
erweist sich entsprechend nur als ein Effekt
der Textualität, als »ein unheilbarer Fall von Kontinuität«: 53 »denn der Dichter ist dazu verdammt, seine tiefsten Sehnsüchte durch die Wahrnehmung von anderen Ichs zu lernen. Das Gedicht ist in ihm, doch erlebt er die Schande und den Ruhm, daß er von Gedichten - von großen Gedichten von außen gefunden wird. In diesem Zentrum die Freiheit zu verlieren heißt, [...] den Schrecken einer für immer bedrohten Autonomie zu erfahren«. 54
Sichtbar wird darüber hinaus die Substanzlosigkeit des unreflektiert Reproduzierten. Die Spuren dieses Reproduzierten nämlich lassen sich zwar zum [iijochromantischen und über das \¥{\ochromantische\^\ zum mittelalterlichen Minnesang zurückverfolgen, fangen dann aber an, sich zu verlieren, da sich der mittelalterliche Minnesang selbst als rollenhafte Variationskunst erweist, die wiederum auf älteren Konventionen, Traditionen und Diskursen beruht und insofern weiter verweist - ad infinitum. Von einer festen Substanz kann insofern weder im Sinne eines »autonomen, individuellen Ursprung[s] poetischer Kreativität«, 55 noch im Sinne eines anderweitig klar definierten, absoluten Prätexts die Rede sein. Die vermeintliche Substanz stellt sich stattdessen als eine einzige intertextuelle Verstrickung, als eine einzige Verweisungsstruktur dar. 56
53
Harold Bloom: Einflußangst, S. 55. Η Ebd., S. 26f. 55 Andreas Höfele: Der Autor und sein Double, S. 81. 56 Anders als Friedrich Schlegel, der im »Zeitalter der Ritter« den Ursprung des »Wort[es]« zu finden meinte (»Da suche und finde ich das Romantische, [...] in jenem Zeitalter der Ritter, der Liebe und der Märchen, aus welchem die Sache und das Wort selbst herstammt.« (Gespräch über die Poesie [1800], in: Friedrich Schlegel: Fragmente zur Poesie und Literatur, in: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, hg. von Ernst Behler, Paderborn u. a. 1967, B. II, S. 333)), würde hier gelten, was Harold Bloom ganz allgemein feststellt: »poems are not things but only words that refer to other words, and those words refer to still other words,
102
» S u b j e k t i v i t ä t « e r w e i s t sich aus dieser Sicht als s p r a c h l i c h e V e r f a s s t heit, als eine b e s o n d e r e F o r m also der T e x t u a l i t ä t , n ä m l i c h mit d e n W o r ten R o l a n d B a r t h e s ' » n u r [als, K . S.] die hinterlassene S p u r aller C o d e s , die m i c h z u s a m m e n s e t z e n , so daß m e i n e S u b j e k t i v i t ä t letztlich etwas v o n der A l l g e m e i n h e i t v o n S t e r e o t y p e n hat«, » S u b j e k t i v i t ä t « e r w e i s t sich also als die E r f a h r u n g , »selbst s c h o n eine Pluralität a n d e r e r T e x t e , u n e n d l i c h e r C o d e s [zu sein], o d e r genauer: v e r l o r e n e r C o d e s (deren U r s p r u n g v e r l o r e n g e h t ) « . 5 7 Originalität 5 8 i m S i n n e einer U r s p r ü n g l i c h k e i t , die als d u r c h die S u b j e k t i v i t ä t des E r l e b e n s b e d i n g t e A b w e i c h u n g v o n d e n v o r h a n d e n e n literarischen M o d e l l e n s i c h t b a r w i r d , h i n g e g e n e r w e i s t sich aus dieser P e r s p e k t i v e als eine b e s o n d e r e F o r m der Intertextualität, d e n n , so J o n a t h a n C u l l e r , » T e x t e , w e l c h e die F ü l l e eines U r s p r u n g s b e h a u p t e n , die E i n z i g a r t i g k e i t eines O r i g i n a l s , die A b h ä n g i g k e i t einer D a r s t e l l u n g o d e r
and so on, into the densely overpopulated world of literary language.« (Harold Bloom: Poetry and Repression. N e w Haven/London 1976, S. 3); vgl. in diesem Zusammenhang Schellings Auffassung vom Unbewussten, nach der das Unbewusste »eine Region jenseits des jetzt vorhandenen Bewußtseins [darstellt, K. S.] und eine Tätigkeit, die nicht mehr selbst, sondern nur durch ihr Resultat in das Bewußtsein kommt [...] eine dem [...] Bewußtsein vorausgehende transzendentale Vergangenheit dieses Ich [...] eine transzendentale Geschichte des Ichs [...] Das [...] Ich findet in seinem Bewußtsem nur noch gleichsam die Monumente, die Denkmäler jenes Wegs, nicht den Weg selbst.« (Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Sämtliche Werke, hg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1 8 5 6 - 6 1 , B. 10, S. 93,95). 57 58
Roland Barthes: S/Z, Frankfurt/Main 1976, S. 14. Vgl. im Hinblick auf den ästhetischen Wertbegriff der Originalität die Bedeutung des Eigenen z . B . in Johann Georg Sulzers »Allgemeinen Theorie der schönen Künste« [ 1 7 7 1 - 1 7 7 4 ] , in der es unter dem Stichwort »Originalgeist« heißt: »Diesen Namen verdienen die Menschen, die in ihrem Denken und Handeln so viel Eigenes haben, daß sie sich von andern merklich auszeichnen; deren Charakter eine besondere Art ausmacht, in der sie die einzigen sind. Hier betrachten wir den Origmalgeist, m sofern er sich m den Werken der Kunst zeiget, denen er ein eigenes, sich von der Art aller andern Künstler stark auszeichnendes Gepräge giebt. Der Originalgeist wird dem Nachahmer entgegen gestellt« (in: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, B. III, Leipzig 1793, S. 625). Unter dem Stichwort >Originalwerk< vermerkt Sulzer dann: »Im ersten Sinne kommt dieser N a m e den Werken zu, die einen eigenthümhchen, nicht erborgten innerlichen Charakter haben; im andern Sinne bezeichnet man dadurch ein Werk, das von eines Künstlers eigenem Genie entworfen, und nach seiner Art bearbeitet und nicht copirt ist, wenn es sonst gleich in dem Wesentlichen seines Charakters nichts originales hat.« (in: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, B. III, S. 629). Anschließend ergänzt Sulzer: »Man könnte das Wort auch noch in einer dritten Bedeutung nehmen, um dadurch die Werke zu bezeichnen, die aus wahrem Trieb des Kunstgenies, aus würklicher, nicht nachgeahmter, oder verstellter Empfindung entstanden sind. Nämlich, die wahren Originalkünstler arbeiten gemeiniglich aus Fülle der Empfindung;« (in: J o hann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, B. III, S. 630). 103
den abgeleiteten Charakter einer Nachahmung, enthüllen so vielleicht gerade, daß das Original bereits eine Nachahmung ist«59 - »for the truest Plagiarism is the truest Poetry«. 60 59
Jonathan Culler: Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, S. 208. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Goethes Kritik am Originalitätspostulat: »Man spricht immer von Originalität, allein was will das sagen! Sowie wir geboren werden, fängt die Welt an auf uns zu wirken, und das geht so fort bis ans Ende. Und überhaupt! was können wir denn unser Eigenes nennen als die Energie, die Kraft, das Wollen! Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig. (Johann Wolfgang Goethe zu Eckermann, 12. Mai 1825, in: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. V o n Johann Peter Eckermann, mit Einleitung und Anmerkungen hg. von Gustav Moldenhauer, Β. I (1823—1827), Leipzig 1884, S. 161). Vgl. zum Verhältnis von »Genie« und »Unbewußte[m]«, das aus genieästhetischer Sicht den künstlerischen Schaffensprozess wesentlich prägt und einen Gegenbegriff sowohl zur Inspiration als auch zur Rationalität der Nachahmungs- und Regelpoetik darstellt, Johann Georg Sulzer, der den künstlerischen Schaffensprozess des Genies als einen durch das Unbewusste gekennzeichneten, naturhaften Vorgang beschreibt. In seinem Artikel »Erfindung« heißt es in seiner »Allgemeinen Theorie der schönen Künste«: »Es ist eine anmerkungswürdige Sache, und gehört unter die andern psychologischen Geheimnisse, daß bisweilen gewisse Gedanken, wenn man die größte Aufmerksamkeit darauf richtet, sich dennoch nicht wollen entwikeln und klar fassen lassen; lange hernach aber sich von selbst, und wenn man es nicht sucht, in großer Deutlichkeit darstellen, so daß es das Ansehen hat, als wenn sie in der Zwischenzeit, wie eine Pflanze, unbemerkt fortgewachsen wären und nun auf einmal in ihrer völligen Entwiklung und Blüthe da stünden. Mancher Begriff wird allmählig reif in uns, und löset sich dann gleichsam von selbst von der Masse der dunkeln Vorstellungen ab und fällt ans Licht hervor. Auf dergleichen glükliche Äußerungen des Genies muß sich jeder Künstler auch verlassen, und wenn er nicht allemal finden kann, was er mit Fleiß sucht, mit Geduld den Zeitpunkt der Reife seiner Gedanken abwarten.« (Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, B. II, Nachdruck der 2. vermehrten Auflage, Leipzig 1792, Hildesheim 1967, S. 93f.). Odo Marquard zeichnet im Folgenden die große »Bedeutung der Theorie des Unbewußten« für die »des Genies« nach und zeigt die Problematik auf, die daraus für die Theorie des Genies erwächst: »D[.. .]en status des Unbewußten hat die Natur exemplarisch im Genie für die Kunst: schon längst - schreibt Schelling - ist eingesehen worden, daß mit der bewußten Tätigkeit eine bewußtlose Kraft sich verbinden muß, die Philosophie der Kunst nach Grundsätzen des transzendentalen Idealismus muß beim Genie die bewußte Tätigkeit als bestimmt durch die bewußtlose reflektieren. Nämliches meint Jean Paul: das Mächtigste im Dichter - so schreibt er - welches seinen Werken die gute und die böse Seele einbläset, ist gerade das Unbewußte. Und: der Genius — so formuliert den gleichen Tatbestand noch der spätere Carus - zeichnet sich eben ... dadurch aus, daß er von dem Unbewußten ... überall gedrängt und bestimmt wird. Diese erste, romantische Theorie des Unbewußten rettet die Natur für die Kunst vor der Geschichte [...] Dieser Rekurs aber ist faktisch eine Regression. Unmittelbare Natur: das ist in der geschichtlichen Welt ein Anachronismus. Sie heilt nicht, sie gefährdet. Anachronistisch ist in der modernen - bewußt und artifiziell gewordenen - Welt auch alles, was jetzt noch als Natur produziert und wie Natur. Folglich ist auch,
104
Während »Kunst« aus dieser Sicht »nicht mehr als Darstellung von Bedeutung verstanden werden kann«, 61 während sich das unbewußt[e]
Spre-
chen aus dieser Sicht nur als eine besondere Form >uneigentlichen< Sprechens entpuppt, ist das scherz[hake] »modernen Konjunktur der Kunst,
Sprechen mehr als ein Ausdruck der es nicht gewesen
zu sein«.6x
Das
scherz [hafte] Sprechen macht, indem es das Fremde als Eigenes inszeniert, nämlich auf das >Tragische< aufmerksam, das im Bewusstsein des Scheiterns eines unmittelbaren dichterischen Ich-Sagens liegt, im Bewusstsein des Scheiterns also eines eigentlichen dichterischen Sprechens, des Hervorbringens einer »reine[n], primitive[n] Schöpfung« 63 bzw. eines Textes frei von intertextuellen Bezügen. Ferner verweist das scÄerz[hafte] Sprechen, indem es das bereits romantischem Verständnis zufolge 64 von vornherein Rollenhafte, das Typisierte, Fingierte und Artifizielle des Minnesangs aufgreift und verarbeitet, auf »den imitatorischen Akt als solchen«. 6 ' Seit der »Moderne« nun gilt der »imitatorische[.] Akt« im ästhetischen Bereich als »uneigentlich[..]« und »inauthentisch[..]« und kommt damit einer »Lüge«66 gleich, denn:
Genie zu sein und als Genie zu produzieren, ein A k t der Regression. Seine und die Verfassung von all dem, für welches das Genie einsteht, ist darum das Scheitern; und die schöne Kunst des Genies wird zunehmend nur mehr zur Kunst, sich über diese Lage produktiv zu täuschen, schließlich auch dies nur noch momentan: die Geniekunst - schreibt schon 1 8 1 9 Schopenhauer - erlöst den Menschen nicht auf immer, sondern nur auf Augenblicke ... und ist... nur einstweilen ein Trost. Die Flüchtigkeit dieses Trostes und sein Zusammenbruch konfrontiert den Menschen fortan direkt mit der nicht weiter mehr ästhetisch verzauberten Natur: also mit ihrer Gefährlichkeit. Der romantische Versuch, diese Natur durchs Genie als Retter zu rufen, ist fehlgeschlagen. Was Rettung bringen sollte, bedroht.« (Odo Marquard: Zur Bedeutung der Theorie des Unbewussten, 60 61
6z 63
64
65 66
S. 3 8 4 f.). Peter Ackroyd: Chatterton, London 1987, S. 87. Wolfgang Iser im Rahmen der »Achtefn] Diskussion« zum Thema »Das Unbewusste, das Kitschige, das Pathologische«, in: Hans Robert Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968, S. 651-668, hier: S. 65 if. Odo Marquard: Identität - Autobiographie - Verantwortung, S. 694. Karl Immermann: Briefe, hg. von Peter Hasubek, Β. I, München/Wien 1978, 1979,1987,8.773. Vgl. Guiettes Begriff der »poesie formelle«, in: Robert Guiette: D'une poesie formelle au moyen äge. In: Revue des sciences humaines 54 (1949), S. 61-68. Auch in der Romantik findet sich im Übrigen eine Fülle von Rollengedichten, die als Reaktion auf die Rezeption des Erlebnisgedichts Goethescher Prägung gewertet worden ist. Rainer Warning: Komische Doppelgänger, S. 730. Jochen Mecke: Der Film — die Wahrheit 24 mal pro Sekunde?, S. 293. 105
»Über Wahrheit und Lüge in der Kunst entscheidet die Frage, ob das Kunstwerk der originelle, individuelle und authentische Ausdruck der Gedanken und Empfindungen des Künstlers ist. [...] Lügt in der Alltagswelt derjenige, der Begriffe und Sprache in einer von der geltenden Konvention abweichenden Art und Weise gebraucht, so gilt für die moderne Ästhetik, daß gerade derjenige lügt, der sich konventioneller Ausdrucksformen bedient und damit seinen Rezipienten mit Gemeinplätzen abspeist, statt ihm den authentischen Ausdruck eines Gedankens oder Gefühls zu präsentieren. [...] Wahrhaftigkeit in [der] Literatur [...] der Moderne besteht demgegenüber gerade in der Abweichung von den toten und konventionalisierten Metaphern und in dem Versuch, die geltenden Zeichensysteme zu durchbrechen, um neue sprachliche oder zeichenhafte Möglichkeiten und damit einen authentischen Ausdruck zu schaffen. [...] Weder andere noch sich selbst darf der Künstler imitieren, will er nicht dem Verdikt der Lüge und der Uneigentlichkeit anheim fallen. Erst mit der Moderne ist die Ästhetik damit in einer spezifischen Weise wahrheitsfähig und damit dem eigenen Anspruch wahrhaftig und auf diese Weise auch zur Lüge fähig geworden. [...] Ob jemand eine ästhetische Lüge äußert, hängt somit nicht von semen noch so guten Absichten ab, sondern von dem Verhältnis der von ihm geschaffenen Form zur geltenden Konvention.« 6 7
Wenn nun die »Absichten« aus ästhetischer Sicht für den Status des »Kunstwerkes]« keine Rolle spielen, sondern nur das »Verhältnis der« vom Dichter »geschaffenen Form zur geltenden Konvention« dafür ausschlaggebend ist, dann lügt, poetologisch betrachtet, das Subjekt in Heimkehr XLIV sowohl im Scherz als auch unbewußt. Bezieht man die »Absichten« hingegen in die Bewertung der Sprechweisen ein, dann stellt sich mit Nietzsche das unbewußt[e] Sprechen wegen seines auf »Konvention« beruhenden Mangels an Reflexion, gerade wegen seines Mangels also an »Absichten«, als »Lüge« dar,68 während sich das sc/>erz[hafte] Sprechen, indem es das Konventionelle der Konvention zum Ausdruck bringt und insofern »absichtsvoll falsch«69 klingt, gemäß binärem Denkmuster in dem Sinne als »wahr« erweist, als »[e]ine ästhetische Lüge, die sich selbst als solche bezeichnet, [...] auf[hört], eine Lüge zu sein. Im Unterschied zu den verlogenen Bildern [...], die [...] Wahrhaftigkeit vortäuschen, sind die Bilder [...] der Lüge wahr, weil sie zugeben, dass sie lügen«. 7 "
Im Unterschied also zum unbewußt[en] Sprechen, das »tote[J und konventionalisierte[.] Metaphern« als authentische ausgibt und sich damit 67 68
70
Ebd. S. 290 und 292-294. Friedrich Nietzsche: K S A , Β. I, S. 881. Theodor W. Adorno: Die Wunde Heine, S. 100. Jochen Mecke: Der Film — die Wahrheit 24 mal pro Sekunde?, S. 298. 106
letztlich als bloße Rhetorik bzw. als »ästhetische Lüge« entpuppt, präsentiert das scherz [hafte] Sprechen jene »toten und konventionalisierten Metaphern« als das, was sie sind, macht damit alles vermeintlich Authentische verdächtig, erweist sich insofern als eine selbstbewusst reflektierte Weise des Umgangs mit dem Konventionellen und damit, wie gesagt, als »wahr«. Erst als sc/?erz[haftes] Sprechen kommt das Sprechen, so gesehen, zu sich selbst. Indem sich also rückblickend herausstellt, dass sich das Eigene äußerlich nicht vom Fremden unterscheiden lässt, sich gerade dadurch aber von sich selbst unterscheidet, wird deutlich, warum sich das Fremde nicht einfach säuberlich und mit Verstand vom Eigenen abtrennen lässt. Indem sich herausstellt, dass sich das Eigene nicht in Form einer festen Substanz sicher im Inneren des Subjekts verorten lässt, dass es vielmehr »da [ist], wo es ist, nur unter der Bedingung, daß es nicht ist, wo es sein soll«,71 indem sich mithin vom Ende her herausstellt, dass das Eigene nicht das Primäre im Sinne eines Ersten und Eigentlichen bildet, wird deutlich, warum das Eigene im Anschluss an den Abtrennungsprozess nicht einfach zurückbleibt, warum das [E]lend des Subjekts also trotz der getroffenen Maßnahmen einfach anhält. Das Gedicht, das uns mit der Erfahrung konfrontiert, dass das Streben nach dem reinen Eigenen vergeblich bleiben muss, bildet im BdL nun ausgerechnet das zentrale Gedicht des zentralen, mit Heimkehr überschriebenen Zyklus. Einer Leserschaft, die darin eine Form von Heimkehr zu finden hofft, aber stellt das Gedicht, das bezeichnenderweise in der Vagantenstrophe gehalten ist, dieser Lektüre zufolge keine Rückkehr zu einem real oder auch nur imaginär »unversetzbare[n] Zentrum«?1 in Aussicht. Hier geht es vielmehr um Formen der Dezentrierung und insofern um das nackte »Uberleben« des Subjekts als dem Zentrum aller Sprechakte - und tatsächlich »>überlebt< [das Subjekt] im Text, aber dies Uberleben in der Reflexionsfigur des Textes bezeugt [...] nur die Unvermeidlichkeit seiner Figur in der Mechanik der Sprache.« 73
Aus dem Zentrum heraus wird hier die Vorstellung eines Zentrums und damit nicht zuletzt die Möglichkeit der Befriedigung der großen (roman-
71 72 73
Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 136. Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 85. Werner Hamacher: Unlesbarkeit, in: Paul de Man: Allegorien des Lesens, S. 7-26, hier: S. 14.
107
tischen) Sehnsucht nach Beheimatung - »immer nach Hause«74 - genommen. Erfahrbar wird dieser Lektüre zufolge in Heimkehr XLIV somit, dass »[e]in Zitat, das nicht nur dazu angetan ist, eine vorhandene Rede wiederzugeben, sondern das vielmehr fremde Reden in der eigenen Rede anklingen läßt, [...] die Zentrierung auf das Normale und das Heimischwerden im Eigenen [durchbricht]«. 75
Die Unmöglichkeit eines »Heimischwerden[s] im Eigenen«, die Heimkehr XLIV dieser Lektüre zufolge erfahrbar macht, hat nun Konsequenzen auch für die Lektüre des Textes. Während sich der Begriff des Unbewußt[en], poetologisch betrachtet, zunächst als eine Redlichkeitsversicherung des Dichter-Ich verstehen lässt und insofern suggeriert, dass das \Y\ch hier Ausdruck der spontanen und unmittelbaren Selbstoffenbarung des empirischen Dichter-Ich ist und wir es in diesem Sinne mit Erlebnisdichtung in ihrer reinsten Form zu tun haben, lässt sich der Begriff des Scherz[es] als Inszenierungsgeständnis begreifen und legt insofern nahe, dass hier mit der Fiktion einer subjektiven Erfahrung lediglich gespielt wird, was zur Folge hat, dass die Bedeutung des \Y\ch eine empfindliche Relativierung erfährt und sich das Gedicht mithin statt als Erlebnisdichtung als eine besondere Form der Rollendichtung entpuppt. Während der Begriff des Unbewußt[en] zunächst entsprechend zu biographisch und psychologisch geprägten Deutungsverfahren verführt, verleitet der Begriff des Scherz[es] zu einer semiotisch geprägten Annäherung an den Text. Durch die Gleichzeitigkeit beider Sprechweisen, die, wie gezeigt wurde, zu einem Austausch vermeintlich substantieller Merkmale führt und somit zu einer Subversion der traditionellen Unterscheidung, provoziert Heimkehr XLIV eine Infragestellung der in der Forschung bis heute gängigen Oppositionsbildung von Rollen- und Erlebnisdichtung, eine Infragestellung der dieser Opposition zugrunde liegenden Prämissen76 und entsprechend Lektüren, 74
75 76
Novalis: Heinrich von Ofterdingen [1802], m: Werke, hg. und kommentiert von Gerhard Schulz, Β. I, München i960, S. 325. Bernhard Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, S. 166. Seltener zwar wird Rollenhaftigkeit heute so explizit als etwas dem Gedicht eigentlich Fremdes erklärt, wie Käte Hamburger dies noch in ihrer Studie »Die Logik der Dichtung« tat, wenn sie schrieb, das Rollengedicht sei ein »struktureller Fremdling im lyrischen Raum« (Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 2 i968, S. 245), die getrennte Behandlung von Rollen- und Erlebnisdichtung aber ist als Folge einer nach wie vor subjektivistisch ausgerichteten Lyrik-Vorstellung immer noch der Normalfall. Angeregt haben zu einer solchen Aufhebung der Opposition von Rollen- und Erlebnisdichtung Marianne 108
die über die üblichen subjektorientierten Zugänge an »Erlebniskunst« hinausgehen. Wenn, poetologisch betrachtet, in Heimkehr XLIV deutlich wird, dass »seit Adam und Satan [...] kein Dichter eine Sprache [spricht], die frei ist von der, die der Vorläufer geprägt hat«,77 wenn der literarische Text nicht im >eigentlichen< Sinne spontan und unmittelbar aus dem Inneren des Autors hervorgebracht, wenn er vielmehr von vornherein zitiert erscheint, wenn sich aber das »Zitieren [...] nicht darauf [beschränkt], daß man etwas herbeizitiert und das gefundene Zitat einsetzt wie in ein Puzzle, [wenn, K. S.] es [damit] beginnt [...], daß man selbst herbeizitiert wird«,78 wenn sich »die Sprache [also, K. S.] selbst [spricht]«79 und »die Frage >Wer spricht?< [entsprechend, K. S.] niemals endgültig durch die Angabe einer Autorschaft beantwortet werden kann«,80 dann stellt das unbewußt^] Sprechen das genieästhetische Originalitäts- und Subjektivitätskonzept in Frage, dann wird in Heimkehr XLIV die Konstrukthaftigkeit dieser Konzepte erfahrbar. Wenn sich Originalität aus dieser Sicht nicht als Ursprünglichkeit im Sinne einer Abweichung von den vorhandenen literarischen Modellen, sondern nur als eine besondere Form der Intertextualität81 erweist, während Subjektivität nicht als Substantialität, sondern
77
78 79 80 81
Wünsch mit ihrer bereits 1975 erschienenen Studie »Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes« wie auch Dietmar Jaegle mit seiner 1995 erschienenen Studie »Das Subjekt im und als Gedicht«, vgl. zusammenfassend S. 92). Harold Bloom: Einflußangst, S. 26. Das Konzept dichterischer Autonomie, das eine Absage an die Gesamtheit traditioneller Autoritäten wie auch an die Inspirationstheorie darstellte bzw. umgekehrt ein emanzipatorisches Potenzial von Selbstbestimmung und Schöpferkraft vorsah und damit Identität und zugleich Wahrheit und Erlösung versprach, hatte kulturgeschichtlich zumindest kurzfristig den »Tod Gottes«, das Ende also des Inbegriffs der Identität und der Identitätsgarantie, und den damit einhergehenden allgemeinen Identitätsverlust kompensieren können. Die Erfahrung seiner Konstrukthaftigkeit aber lässt sich als eine Art zweiter Vertreibung aus dem Paradies begreifen, als die Vertreibung aus einer Welt der Präsenz und Identität in eine Welt der Differenzen. Der Künstler und insbesondere der Dichter war nach dem Scheitern der Revolution für viele Bürger zur Projektionsfläche für unerfüllte Wünsche geworden, und so verkörperte er in der Gestalt des Genies in ihren Augen offenbar jene Autonomie, die ihnen politisch vorenthalten wurde, und stellte damit für viele die Sinnstiftungs- und Zentrierungsinstanz schlechthin dar. Bernhard Waidenfels: Vielstimmigkeit der Rede, S. 164 und 166. George Steiner: V o n realer Gegenwart, S. 133. Bernhard Waidenfels: Topographie des Fremden, S. 69. Die poststrukturalistische Konzeption von Intertextualität, die sehr weit gefasst erscheint, basiert auf der Vorstellung, dass: »tout texte se construit comme mosaique des citations, tout texte est absorption et transformation d'un autre texte« (Julia Kristeva: Semeiotike. Recherches pour une semanalyse, Paris 1969, S. 146). 109
nur als eine besondere Form der Textualität in Erscheinung tritt, dann provoziert das unbewußt[e] Sprechen anstelle von subjekt- und erlebniszentrierten Lektüren solche Lektüren, die angesichts des Tod[s] in der eignen Brust den Spuren des kulturellen Gedächtnisses nachgehen. Dabei scheint aufgrund der in Heimkehr XLIV zutage tretenden Entgrenztheit des Textraums weniger der Aspekt der konkreten Einflussnahme und entsprechend der Aspekt der Intentionalität von Bedeutung zu sein, als vielmehr der Aspekt der unbewußt\en] Intertextualität und entsprechend der Aspekt der Differentialität. Das unbewußt[e] Sprechen provoziert mithin eine kritische Distanzierung von unseren kulturellen Gewohnheiten, nämlich von jenem in der Genie-Epoche aufgekommenen AutorKult und damit auch vom auktorial verankerten, geschlossenen »Werk«Begriff zugunsten des Konzepts einer prozessualen und offenen Textualität, das ohne ästhetische Wertbegriffe wie dem der Originalität und ohne die Suche nach dem einen verbindlichen durchlaufenden Sinn auskommt. Das scherz [hafte] Sprechen, das die dichterische Rede als Machwerk herausstellt, weist nun Erlebnishaftigkeit als eine textinterne fiktionale Struktur aus und erzeugt entsprechend Fragen wie z. B., warum es im Rahmen so genannter Erlebnisdichtung zu einer Verwechslung bzw. Identifizierung von Subjekt des Textes und Autor des Textes kommt, wie der Eindruck der Individualität der Erfahrung oder der Eindruck der Unmittelbarkeit der Rede entsteht, wie also der Eindruck von Authentizität zustande kommt, wenn Authentizität nicht jedem erlebnishaftdichterischen Sprechen, das sich als solches präsentiert, von sich aus eigen ist, wenn Authentizität vielmehr erzeugt werden muss, sich aber auch durch die Anwendung entsprechender Maßnahmen wie das Trennen von Tand und Torheit nicht ohne weiteres erzeugen lässt, und wenn Authentizität, einmal erzeugt - wie das bereits Kulissen^hafte] des \H\ochromantischen demonstriert - nicht langfristig kodifiziert werden kann. Das scherz [hafte] Sprechen provoziert mithin eine Auseinandersetzung mit der textinternen Mechanik und Funktion der ersten Person und dem, was der »Ästhetik des Authentischen«82 Vorschub leistet, sowie mit der grundsätzlichen Frage, wie Bedeutung konstituiert wird. Die Subversion der traditionellen Unterscheidung zwischen [s]cherz[haftem] und unbewußt[em] Sprechen, die sich dieser Lektüre zufolge in Heimkehr XLIV ereignet, hat offensichtlich nicht zur Folge, dass alle Unterschiede ausgeräumt würden, sondern dass andere als die zunächst unterstellten sichtbar werden. Hält man an der Uberzeugung fest, Lyrik 82
Jochen Mecke: Der Film — die Wahrheit 24 mal pro Sekunde?, S. 298.
110
zeichne sich durch ihre »enge[.J Verbindung zur Sphäre der Subjektivität«83 aus, dann wirft das Gedicht nicht nur die Frage auf, »was es für ein anderes Subjekt bedeutet, es selbst zu sein«,84 sondern verweist auf die «[Fraglichkeit der] Idee der Einheit, die sich im Ichsagen äußert«,85 und demonstriert anstelle einer Einheit sowohl die Gebrochenheit des Selbstals auch des Weltbezuges, durch die Subjektivität aus moderner Sicht geprägt ist.86 Löst man sich von dieser Uberzeugung, geht man also nicht vom Subjekt als dem Zentrum aller Sprechakte aus, so offenbart sich hier die erste Person in ihrer ganzen Textualität. So unterschiedlich die Herausforderungen nun sind, die die beiden Sprechweisen in Heimkehr XLIV dieser Lektüre zufolge gleichzeitig an die Rezeption stellen, eines verbindet sie miteinander: Gemeinsam hinterfragen sie den zwischen rational-handelndem Subjekt und naturhaftpassivem Objekt schillernden Genie-Begriff und lassen die Suche nach dem auktorialen Ursprung des Textes im Sinne eines Eigenen, eines Primären und Substantiellen als Torheit erscheinen. Gemeinsam fordern sie stattdessen einen differenzierten Blick auf den Text, d. h. einen Blick, der den Text nicht als Fülle der Präsenz, sondern von vornherein als Differenz ausweist, gemeinsam fordern sie zugleich, indem sie die Illusion einer Textidentität vor Augen führen, anstelle des identifizierenden den permanent doppelten Blick und damit einen Blick, der jede Form einer Aneignung des Textes, jede Form eigentlichen Lesens im traditionellen Sinne also verhindert.
83
84
85 86
Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart/Weimar 2 i997, S. 182. Ulrich Charpa: Das poetische Ich - persona per quam, in: Poetica 1 7 (1985), S. 149-169, hier: S. 167. Walter Schulz: Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter, S. 237. Walter Schulz z . B . beschreibt »die Subjektivität als ein[en] Widerspruch [...], der nicht aufzulösen ist [...] Das bedeutet aber, dass gerade die Idee der dialektischen Wirklichkeit, die sich heute durchsetzt, nicht nur als ein zeitbedingtes Konzept erscheint, sondern der »wahren« Lage der Subjektivität entspricht.« (Walter Schulz: Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter, S. 34). III
Unzuverlässiges Reden: Zur Vorrede des BdL von 1837
Stets wird die Wahrheit
hadern mit dem
»Rien n'est beau que le vrai«
Schönen (Heinrich Heme) (Nicolas Boileau)
»So wie die Kunst Centauren erschafft, so kann sie uns auch jungfräuliche Mütter vorlügen, ja es ist ihre Pflicht.« (Johann Wolfgang Goethe) »jemand müßte mir beibringen, daß man nicht schreiben kann, ohne um seine Aufrichtigkeit zu trauern, wo die Sprache zugleich zu viel und zu wenig ist« (Roland Barthes)
12
V o m V e r l u s t d e r ersten
Dinge
Nicht ohne Befangenheit übergebe ich der Lesewelt den erneueten Abdruck dieses Buches. Es hat mir die größte Uberwindung gekostet, ich habe fast ein ganzes Jahr gezaudert, ehe ich mich zur flüchtigen Durchsicht desselben entschließen konnte. Bei seinem Anblick erwachte in mir all jenes Unbehagen, das mir einst vor zehn Jahren, bei der ersten Publikation, die Seele beklemmte. Verstehen wird diese Empfindung nur der Dichter oder Dichterling, der seine ersten Gedichte gedruckt sah. Erste Gedichte! Sie müssen auf nachlässigen, verblichenen Blättern geschrieben sein, dazwischen, hie und da, müssen welke Blumen liegen, oder eine blonde Locke, oder ein verfärbtes Stückchen Band, und an mancher Stelle muß noch die Spur einer Träne sichtbar sein... Erste Gedichte aber, die gedruckt sind, grell schwarz gedruckt auf entsetzlich glattem Papier, diese haben ihren süßesten, jungfräulichsten Reiz verloren und erregen bei dem Verfasser einen schauerlichen Mißmut.1 A u s einer räumlichen und zeitlichen Distanz heraus teilt der Verfasser in diesem zweiten A b s a t z der Vorrede1
zur zweiten A u f l a g e des BdL
seiner
Leserschaft mit, dass er angesichts der Neuauflage des Buches negative G e f ü h l e gehegt, Befangenheit,
Unbehagen
empfunden habe, dass es ihn die größte fast ein ganzes Jahr gezaudert
und schauerlichen
Überwindung
habe, ehe er sich zur
Mißmut
gekostet, flüchtigen
dass er Durchsicht
habe entschließen können, u m dann die Wandlung hervorzuheben, die er in der Zwischenzeit vollzogen habe 3 und das Publikum ten Sicht der Dinge heraus u m Nachsicht
1 2
3
aus der veränder-
zu bitten für die Schwäche
dieser
Β. I, S. 9 (Vorrede zur zweiten Auflage des BdL (1837)). Dieser Verfasser erscheint als historisches Individuum (vgl. das Sprechen über die Zeit [der] jugendlichen Ubermüten, die heimischen Drangsale[.], Exil, Geldnot und die Phase erzwungenen Schweigens (Β. I, S. iof.)), er erscheint ferner als ein Eigentümer, der das Seine geschickt zu vermarkten weiß, und verkörpert darüber hinaus mit den Worten Foucaults »das Prinzip einer gewissen Einheit des Schreibens« (Bemerken muß ich jedoch, daß meine poetischen, ebenso gut wie meine politischen, theologischen und philosophischen Schriften einem und demselben Gedanken entsprossen sind (Β. I, S. 11)), »da alle Unterschiede mindestens durch Entwicklung, Reifung [...] reduziert werden« (Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner und Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 233247, hier: S. 240) (dies gilt sowohl hinsichtlich des BdL, das die Gedichte in chronologischer Folge versammelt, als auch im >mtertextuellen< Vergleich (für die Schwäche dieser Gedichte mögen vielleicht meine politischen, theologischen und philosophischen Schriften einigen Ersatz bieten (Β. I, S. 11))). Im Folgenden wird der Verfasser der Vorrede als Autor betrachtet, der sich im Rahmen der ersten beiden Absätze der Vorrede mit der »Funktion Autor« auseinandersetzt. [...] in jener Zeit meiner jugendlichen Ubermüten, in jener Zeit als die Flamme der Wahrheit mich mehr erhitzte als erleuchtete... Diese Zeit ist vorbei! Ich bin jetzt mehr erleuchtet als erhitzt. (Β. I, S. iof.). 113
Gedichte,4
Die auktoriale Vorrede,
die üblicherweise »eine gute
[...], den Text [...] aufwerten«s
des Textes [...] gewährleisten
Lektüre
soll, zeich-
net sich in diesem Fall also in erster Linie durch Abwertungen des Buches aus. Der zweite Absatz der Vorrede
situiert das Problem des Verfassers
nun zunächst einmal im A k t der Veröffentlichung, der eine empfindliche Veränderung erste[r] Gedichte
nach sich zieht. Verschiedene Deutungs-
möglichkeiten bieten sich von hier aus an: Aus der Aii/?»2«i[sbekundung] des Verfassers könnte man einerseits darauf schließen, dass ersteh
Gedichte
in seinen Augen noch keinen
Kunstwert besitzen, weil sie zu sehr im privaten Bereich des Dichters angesiedelt sind und daher nicht veröffentlicht werden sollten, andererseits darauf, dass das ursprüngliche Erscheinungsbild der Gedichte, das »Original«, das ihre Einmaligkeit zum Ausdruck bringt, ihren Kunstwert ganz wesentlich ausmacht und sie aus diesem Grund nicht gedruckt werden sollten. Im Hinblick auf Letzteres ließe sich Benjamins Studie »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« heranziehen, in der es, wenn auch in einem anderen Kontext, heißt: »Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks - sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. [...] Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus. [...] Der gesamte Bereich der Echtheit ent2ieht sich der technischen [...] Reproduzierbarkeit. [...] Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. [...] was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache. [...] was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.«' 5
Ahnlich Benjamin, f ü r den sich »Echtheit« des »Kunstwerks« und »technische[.] Reproduzierbarkeit«
ausschließen, weil die »Echtheit« des »Kunst-
werks« auf seiner »[E]inmalig[keit]« beruht, könnte der Verfasser der Vorrede, wenn er sagt, erste[.] Gedichte Blättern geschrieben
sollten auf nachlässigen,
verblichenen
sein, im Hinblick auf diese ersten Gedichte der A u f f a s -
sung sein, diese sollten an ihr »Hier und Jetzt« gebunden bleiben und darin 4 s
6
B.I,S. it. Gerard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/ Main 2001, S. iijif. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 3 1977, S. 1 iff.
114
unmittelbares Zeugnis der Umstände, des Ortes und der Zeit ihrer Entstehung sein. Vielleicht sind Befangenheit, Unbehagen und schauerliche[r] Mißmut aus dieser Perspektive also darauf zurückzuführen, dass die Gedichte dem Verfasser der Vorrede in der gedruckten Fassung verfremdet und verfälscht erscheinen, weil sie nicht mehr »von [...] materielle[r] Dauer« sind und nicht mehr »geschichtliche[s] Zeug[nis]« ablegen. Gegen diese Lesart könnte sprechen, dass sich das Problem des Verfassers auf die Publikation erste]r] Gedichte beschränkt und nicht grundsätzlicher Art zu sein scheint; andererseits verhält es sich möglicherweise so, dass ein Dichter die Prozesse, die durch die »technische].] Reproduzierbarkeit« seiner ersten Gedichte ausgelöst werden, besonders empfindlich wahrnimmt. Gegen diese Lesart könnte ferner einzuwenden sein, dass der Verfasser im weiteren Verlauf der Vorrede von der Schwäche dieser Gedichte spricht, was darauf schließen lassen könnte, dass ihm die Vorstellung jeglicher Veröffentlichung diese[r] Gedichte unangenehm ist, dass ihm diese Gedichte an sich unangenehm sind. Sollte der Verfasser der Vorrede mit seiner Äußerung tatsächlich den Kunstwert erste[r] Gedichte anzweifeln, dann empfindet er möglicherweise ähnlich wie Gadamer, der in seinem Essay »Wahrheit und Dichtung« schreibt: »Wir wissen alle aus eigener Erfahrung, was zwischen einem wirklichen Gedicht oder etwa jenen mehr oder minder gut gemeinten Formen dichterischer Mitteilung für ein fundamentaler Unterschied besteht, die junge Leute aus vollem Herzen zu Papier zu bringen pflegen. Da ist gewiß Echtheit und drängende Macht des Empfindens, wenn einer ein Liebesgedicht schreibt, und ein solches Versgebilde ist aus seiner Motivation bestens verständlich. Dagegen sind der Dichter und das Gedicht, die solchen Namen verdienen, von allen Formen motivierten Redens wesenhaft unterschieden. Es kommt niemandem in den Sinn, wenn er ein Gedicht liest, verstehen zu wollen, wer da etwas sagen möchte und warum. Hier ist man ganz auf das Wort, wie es da steht, gerichtet und empfängt nicht eine Mitteilung [...] Das Gedicht steht vor uns nicht als etwas da, womit jemand etwas sagen möchte. Es steht in sich da. Dem Dichtenden wie dem Aufnehmenden steht es in gleicher Weise gegenüber. Abgelöst von allem Meinen ist es ganz, ganz Wort!« 7
Der private Hintergrund, die »Motiviert[heit]«, für die sich angeblich niemand, der »ein Gedicht liest«, interessiert, unterscheidet also das »Versgebilde« aus Gadamers Sicht von einem »wirklichen Gedicht«, das ganz in sich selbst ruhe, eben »ganz, ganz Wort« sei. Vielleicht sind Befangenheit, Unbehagen und schauerliche]r] Mißmut aus dieser Perspektive darauf
7
Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Dichtung, S. 40}f. I r
5
zurückzuführen, dass dem Verfasser der Vorrede erst angesichts der gedruckten Fassung das »gut [G]emeinte[.]« der Verse und die eigene Zugehörigkeit zu jenen »junge[n] Leute[n]«, jenen Dichterling[en], die »aus vollem Herzen« schreiben, auffällt, so dass er nun peinlich berührt ist. Für diese Lesart könnte die demütige Haltung des Verfassers der Vorrede gegenüber der Lesewelt im Hinblick auf das Buch sprechen, die in dem Satz zum Ausdruck kommt: Bescheidenen Sinnes und um Nachsicht bittend, übergebe ich dem Publikum das Buch der Lieder; für die Schwäche dieser Gedichte mögen vielleicht meine politischen, theologischen und philosophischen Schriften einigen Ersatz bieten.
Indem er die Gedichte in der Vorrede abwertet, könnte sich der Verfasser allerdings auch eine raffinierte Verkaufsstrategie ausgedacht haben, denn indem er den »Bescheidenheitstopos« aufgreift, wählt er, so Genette, zugleich den »sicherste[n Weg], Kritik vorzubeugen, das heißt diese zu entschärfen und sogar zu unterbinden«.8 Andererseits heißt es unmittelbar im Anschluss an die Rede von der Schwäche dieser Gedichte·. Bemerken muß ich jedoch, daß meine poetischen ebenso gut wie meine politischen, theologischen und philosophischen Schriften, einem und demselben Gedanken entsprossen sind, und daß man die einen nicht verdammen darf, ohne den andern allen Beifall zu entziehen.''
Mit diesem Satz versucht der Verfasser der Vorrede offensichtlich, ein Ausspielen der einen Schriften gegen die anderen zu verhindern. So peinlich berührt scheint er angesichts der neuen Ausgabe seiner ersten Gedichte demnach doch nicht zu sein, denn abgesehen davon, dass er als rechtlicher Eigentümer der Gedichte einen erneuten Abdruck der Gedichte auch hätte verhindern können, wertet er dadurch, dass er von einem und demselben Gedanken spricht, der allen seinen Schriften zugrunde liege, die Gedichte zumindest \g\edank\\ic\\\ wieder auf. Jenseits der Frage nach dem Kunstwert der Gedichte könnten Befangenheit, Unbehagen und schauerliche\r] Mißmut auch darauf zurückzuführen sein, dass der Verfasser der Vorrede im Zuge der Veröffentlichung der Gedichte eine Loslösung der Gedichte aus ihrem privaten Kontext wahrnimmt. Indem er sie nun im Rahmen der Vorrede als integralen Bestandteil seines Gesamtwerks deklariert und damit in einen auktorialen sowie in einen übergeordneten politischen und kulturellen Zusammenhang rückt, versucht er vielleicht gerade noch, die Gefahr einer Loslösung
8
?
Gerard Genette: Paratexte, S. 201. B . I , S . Ii. 116
der Gedichte zu bannen. Geht man dieser Lesart nach, stellt sich die Frage, worin die Gefahr der Loslösung besteht und wodurch sie entstanden ist. Es stellt sich mithin die Frage, was sich auf dem Weg vom »Original« zur gedruckten Fassung der Gedichte zugetragen hat. Was das ursprüngliche Erscheinungsbild erste[r] Gedichte, was das »Original« also betrifft, so sollte dieses in den Augen des Verfassers der Vorrede, so lässt sich der zweite Absatz der Vorrede verstehen, sinnlich wahrnehmbar Präsenz vermitteln und zwar die Präsenz jenes vom Dichter Erlebten, das der Verfasser offenbar grundsätzlich als Basis anfänglichen dichterischen Schaffens erachtet. Erste Gedichte sollten daher seiner Ansicht nach auf nachlässigen [...] Blättern geschrieben sein und so vermutlich den Anschein erwecken, nicht für ein breites, anonymes Publikum gedacht, nicht aus gründlicher Arbeit und reiflicher Überlegung heraus erwachsen und für alle Zeit festgelegt zu sein; sie sollten vermutlich im Gegenteil, ein Minimum an äußerem Aufwand und Mitteln dokumentierend, den Anschein erwecken, gemäß dem genieästhetisch geprägten Idealbild echter künstlerischer Schöpfung unmittelbarer Ausdruck der Intimität und Spontaneität dichterischen Fühlens und Schreibens zu sein, unmittelbarer Ausdruck also des berühmten »spontaneous overflow of powerful feelings«.10 Ferner sollte das »Original« aus Sicht des Verfassers mit materiellen Gegenständen wie Blumen [...] oder ein\tm] [...] Stückchen Band versehen sein, die wohl als solche, aber auch, weil sie - mit der Zeit welk[] und verfärht[...] - vergänglicher Natur sind, als Beweis für die »Echtheit«, für die Einmaligkeit und Lebendigkeit des Erlebnisses des Dichters und damit zugleich als Beweis für die Unwiederholbarkeit des schöpferischen Akts dienen. Blätter und Gegenstände sollten also offenbar dem »Original« erste[r] Gedichte den Anschein geben, als trüge es die unmittelbare Handschrift des Dichters und unmittelbare Spuren des Entstehungsprozesses dieser Gedichte. Indem das Beweismaterial von der Einmaligkeit und Lebendigkeit des vom Dichter Erlebten und insofern von der Beseeltheit und Erfülltheit des »Originals« zeugt, indem es die Gedichte also völlig in ihrer Genese verankert und als »Formen motivierten Redens« deklariert, hat es selbst nicht nur Zeichen- und Zeugcharakter, sondern erweist sich als konstitutiver Bestandteil dieser ersten Gedichte. Auf dieser Grundlage erscheint das Repräsentierte unmittelbar im Repräsentierenden verkörpert, Signifikaten und Signifikanten bilden, so gesehen, eine Einheit. 10
William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge: Lyrical Ballads, hg. von Raymond L. Brett, London 1963, S. 246. 117
Letztere lassen sich in diesem Zusammenhang als eine Art »phonetische^] Schrift« 11 beschreiben: sichtbar in dem Sinne, dass es sich dabei um einen »massive[n] Sprachkörper [handelt], der die Erlebnisqualität des Gesagten bewahren würde wie ein sicherer Vorratsspeicher«, 11 und zugleich unsichtbar bzw. durchsichtig in dem Sinne, dass es die ursprünglichen Bedeutungen und den ursprünglichen Sinn der Gedichte sowie die ursprünglichen Intentionen des Dichters in Reinform transportiert. Das »Original« erscheint mithin als ein gesicherter Text, der eine gesicherte Lesbarkeit garantiert, es erscheint als das Primäre, das allen reproduzierten Versionen der Gedichte vorangeht und diesen gegenüber eine privilegierte Stellung innehat. Die perfektionierte, d. h. fixierte, mechanisierte, sterilisierte, standardisierte, kommerzialisierte Druckschrift, die, ausschließlich auf Effizienz angelegt, den Gedichten und ihrer Entstehungssituation gegenüber indifferent bzw. distanziert gegenübertritt, erscheint dem Verfasser der
Vorrede
hingegen, so lässt sich der zweite Absatz dieser Vorrede lesen, als Bedrohung. Die Vorteile des Drucks, die z. B. in der Sicherung der Beständigkeit des Textes und der Identität des Dichters bestehen sowie »Anerkennung, Unsterblichkeit und eine gute Pension« 13 umfassen könnten, kommen in diesem Zusammenhang nicht zur Sprache. Im Mittelpunkt des zweiten Absatzes der Vorrede steht stattdessen der durch den Druck verursachte Verlust des Sakralcharakters der Gedichte, der auf dem Eindruck des organisch Gewachsenen und der Präsenz beruhte. Indem der Druck eine Entgegenständlichung herbeiführt und darüber hinaus durch den Einsatz spezieller Werkzeuge und Techniken sowie die Einflussnahme Dritter aus jenen ersten Gedichten glatte[s]
ein gre//[es] und
Schriftstück aus zweiter Hand macht, gibt er in den Augen des
Verfassers offenbar die ursprüngliche Intimität, Spontaneität und »Echtheit« der Gedichte preis und löst auf Seiten des Dichters eine Fremderfahrung aus. Obwohl die Druck-Fassung die ursprüngliche chronologische[.]
Fol-
ge14 der Gedichte sowie das ursprüngliche Textkorpus weitgehend beibehält15 oder vielleicht gerade weil sie dieses tut, dadurch den »Wortlaut 11 11 13
14
15
Jacques Derrick: Die Stimme und das Phänomen, S. 1 1 0 . Bernhard Waidenfels: Antwortregister, S. 3 50. Aleida Assmann: Der Eigen-Kommentar als Mittel literarischer Traditionsstiftung. Zu Edmund Spensers The Shepheardes Calender, in: Jan Assmann und Burkhard Gladigow (Hg.): Text und Kommentar, München 1995, S. 3 5 5 - 3 7 3 , hier: S. 356. B.I,S.9. So heißt es in der Vorrede zum BdL (1837): Ebenso 118
wenig wie an der
Zeitfolge
[..Jheiligt« und somit den Text aller Anpassungsmöglichkeiten an eine »sich verändernde Gegenwart« 16 beraubt, löscht sie, so scheint es, alle Spuren der »Echtheit«: Sie reißt die Gedichte aus ihrem ursprünglichen Entstehungszusammenhang und lässt sie - anders als in dem folgenden Lied[..] aus dem Zyklus Junge Leiden - nicht mehr, zumindest nicht mehr ausschließlich, als »Energiespeicher«17 und als »Formen motivierten Redens« erscheinen. [...] Hier sind nun die Lieder, die einst so wild, Wie ein Lavastrom, der dem Ätna entquillt, Hervorgestürzt aus dem tiefsten Gemüt, Und rings viel blitzende Funken versprüht! Nun liegen sie stumm und Toten gleich, Nun starren sie kalt und nebelbleich. Doch aufs neu die alte Glut sie belebt, Wenn der Liebe Geist einst über sie schwebt. Und es wird mir im Herzen viel Ahnung laut: Der Liebe Geist einst über sie taut; Einst kommt dies Buch in deine Hand, Du süßes Lieb im fernen Land. Dann löst sich des Liedes Zauberbann, Die blassen Buchstaben schaun dich an, Sie schauen dir flehend ins schöne Aug, Und flüstern mit Wehmut und Liebeshauch. 18
Im Gegensatz zu dieser Schrift ist der Druck-Schrift nicht zuzutrauen, dass sie ihre Buchstaben lebendig werden, schaun und flüstern lässt, geschweige denn, dass sie, die die Lieder so systematisch in die falschen Hände gibt, am Ende den Weg zur Liebsten] findet und die Lieder somit an ihren wahren Bestimmungsort trägt. Und tatsächlich ist in diesem Gedicht von blassen Buchstaben und nicht von grell schwarz gedruckten] die Rede, von jenen auf nachlässigen, verblichenen Blättern geschriebenen Buchstaben also, die in ihrer ganzen Vergänglichkeit neues Leben versprechen.
16
17
18
änderte ich an den Gedichten selbst. Nur hie und da, in der ersten Abteilung, wurden einige Verse verbessert. (Β. I, S. 9). Jan Assmann: Text und Kommentar. Einführung, in: Jan Assmann und Burkhard Gladigow (Hg.): Text und Kommentar, München 1995, S. 9-33, hier: S. 25. Aleida Assmann: Texte, Spuren, Abfall: die wechselnden Medien des kulturellen Gedächtnisses, in: Hartmut Böhme und Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg 1996, S.96-1 I i , hier: S. 104. Β. I, S. 42 (Junge Leiden, Lieder, IX). 119
Durch den Druck, der sich aus der Sicht des Verfassers der Vorrede als eine >uneigentliche< Verwendung dieser ersten Gedichte verstehen lässt, ist aus der »Sprache der Nähe« eine »Sprache der Distanz«19 geworden, aus jenen »Formen motivierten Redens« ist Literatur, aus dem privaten ist ein öffentlicher, kritisch reflektierbarer Gegenstand geworden. In einen literarischen Traditionszusammenhang gestellt, einem Massenpublikum angeboten, in ihrer unendlich vielseitigen Wiederhol- und Bearbeitbarkeit einem unendlichen Diskurs ausgesetzt, erscheinen die gedruckten Gedichte am Ende mit dem ursprünglich Geschriebenen nur noch dem Wortlaut nach verwandt, präsentieren sie sich dem Dichter nun in ihrem unbegrenzten Deutungspotenzial. Ein solcher Zugewinn an Möglichkeiten der Vereinnahmung aber muss auf Seiten des Dichters das Gefühl des Verlusts der eigenen Kontrollier- und Beherrschbarkeit von Sinn und Bedeutung der Gedichte hervorrufen. Indem nun die gedruckte Fassung der Gedichte nicht mehr »die Erlebnisqualität des Gesagten bewahr[t]« und das Repräsentierte, so gesehen, nicht mehr unmittelbar im Repräsentierenden aufgeht, könnte sich auch das Repräsentierte als etwas anderes erweisen, als es ursprünglich einmal gewesen sein soll. Und so könnte der Verdacht aufkommen, dass »die Verfahren, die nichts weiter als Ausdrucksmittel sein sollten, die Bedeutung, die sie repräsentieren sollen, affizieren oder gar infizieren könnten«. 20
Die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes würde entsprechend eine Veränderung des Inneren der Gedichte nach sich ziehen, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Gedichte in der gedruckten Fassung aus Sicht des Verfassers der Vorrede in ihrer Gesamtheit nun verselbständigt und damit zugleich diskontinuierlich, supplementär, sekundär und defizitär wirken. Angesichts der Pervertierung der »Sache«, die durch die Druck-Schrift zutage tritt, entsteht aber ein weiterer Verdacht: der Verdacht nämlich, die Gedichte seien bereits in der »originalen« Version sich selbst entfremdet gewesen. Denn die »doppelte Falle«, die das Kalligramm Michel Foucault zufolge der »Sache« stellt, stellt ihr auch das »Original«, in dem Signifikate und Signifikanten angeblich noch unmittelbar übereinstimmen: »Das Kalligramm bannt die unüberwindliche Abwesenheit, über die Worte nicht triumphieren können, indem es ihnen mit der List einer im Raum spielenden Schrift die sichtbare Form ihres Gegenstandes aufdrückt: sorgfältig auf dem 19
20
Peter Koch und Wulf Oesterreicher: »Sprache der Nähe - Sprache der Distanz«, in: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15-43. Jonathan Culler: Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, S. 1 0 1 . 120
Blatt verteilt, rufen die Zeichen durch den Rand, den sie bilden, durch die Gliederung ihrer Masse im leeren Raum der Seite von außen die Sache herbei, von der sie sprechen. U n d andererseits wird die sichtbare Form von der Schrift durchkreuzt, indem sie die unbewegliche, zweideutige und namenlose Gegenwart bannen, das Netz der Bedeutungen auswerfen, die sie taufen, bestimmen und im Universum des Diskurses fixieren. Diese doppelte Falle ist unausweichlich: wie sollten der Flug der Vögel, die rasch vergehende Form der Blumen, das Rauschen des Regens entkommen können?« 2 1
Sollte sich der Verdacht bestätigen, hätten die Gedichte nicht erst im Zuge ihrer technischen Reproduktion und ihres »Geworfenseins« auf den anonymen Markt ihre ursprünglichen Bedeutungen und ihren ursprünglichen Sinn eingebüßt. Von Anfang an wären Absenzen und Differenzen am Werk gewesen, die das vermeintlich gesicherte Reich der Präsenz von innen heraus bedroht hätten. An dieser Stelle stellt sich die Frage, was der Verfasser der Vorrede, der offenbar unter den Folgen des Drucks leidet, diesen aber in seiner Funktion als rechtlicher Eigentümer der Gedichte weder verhindert, noch im Rahmen der Vorrede eindeutig legitimiert, was dieser Verfasser der Vorrede mit dem zweiten Absatz bezweckt. Er könnte damit den tatsächlich empfundenen schauerlichen Mißmut zum Ausdruck bringen, den Mißmut angesichts der durch den Druck offenbarten Verselbständigung seiner Gedichte, angesichts ihres Präsenzverlusts und angesichts des daraus resultierenden Verlusts der eigenen Kontrolle und Herrschaft im Hinblick auf ihre Bedeutungen und ihren Sinn. Er könnte sich auf diese Weise offiziell von seinen ersten Gedichten distanzieren wollen, sie also mit dem zweiten Absatz offiziell aus jeder Bindung an ihren ursprünglichen Kontext entlassen, sie also offiziell für verloren erklären und sich selbst damit aus dem Buch zurückziehen. Sein Ziel könnte diesem ersten Anschein entgegen aber umgekehrt auch gerade darin bestehen, aus einer verzweifelten »Sehnsucht nach dem Anfänglichen«22 bzw. aus einem kühlen Kontroll- und Herrschaftsstreben heraus die eigenen durch den Druck offenbarten Unsicherheiten und »Schwierigkeiten« zu kaschieren bzw. sogar zu überwinden, und zwar indem er die »Unterscheidung [zwischen intendierter und ausgesagter Bedeutung] unmöglich mach[t]. Eben darum geht es beim Herrschaftsanspruch des Schreibers über seinen Text. [...] wenn Bedeutungen erzeugt werden, die er nicht inten21 22
Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife, S. 14. Hans Robert Jauß: Mythen des Anfangs. Eine geheime Sehnsucht der Aufklärung, in: Hans Robert Jauß: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen M o derne, Frankfurt/Main 1989, S. 23.
121
dierte, und wenn, andererseits, die intendierte Bedeutung das gewünschte Ziel verfehlt, dann ist er m Schwierigkeiten.« 23
»[UJnmöglich mach[t]« der Verfasser der Vorrede die »Unterscheidung« zwischen intendierter und ausgesagter Bedeutung hier dadurch, dass er nicht die Gedichte, sondern den Druck, der, wie gesagt, als eine >uneigentliche< Verwendung erste[r] Gedichte
dargestellt wird, für das A u f -
kommen nicht-intendierter Bedeutungen verantwortlich macht. Dadurch muss der Eindruck entstehen, die nicht-intendierten Bedeutungen seien die Folge eines von außen herbeigeführten >EigentlichkeitsEigentlichkeitsKunstwerks< als hinsichtlich des Künstlers. Vgl. dazu Cornelia Klinger: Modern/Moderne/Modernismus, in: Lexikon Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/Weimar 2002 (im Folgenden abgekürzt mit A G B ) , S. 1 2 1 - 1 6 7 , hier: S. 15 3ff. Historisch betrachtet, hatte sich das Verhältnis zwischen Autor und Text in der Goethezeit grundlegend geändert, und gemeinsam mit dem Originalitätspostu124
Ob der zweite Absatz der Vorrede die Lektüre tatsächlich in die >richtige< Richtung steuert, scheint allerdings fragwürdig. Erste Zweifel könnten bereits durch den >autoritären< Einschlag der Lektüresteuerung aufkommen, denn die Notwendigkeit eines wenn auch getarnten Machtwortes könnte bereits den Verdacht wecken, dass Bedeutungen und Sinn an sich nicht statischer Natur sind und ihre endgültige Kontrolle und Beherrschung daher von vornherein unmöglich ist. Darüber hinaus melden sich zum Ende des zweiten Absatzes der Vorrede deutlich Zweifel an, ob der jungfräulichste[.] »Original«-Zustand dieser Gedichte, der für die Echtheit des Erlebnisses des Dichters und, insofern als das echte Erleben des Dichters offensichtlich unmittelbar zu Buche schlägt, auch für die Wahrheit des Gesagten bürgt, ob dieser jungfräulichste[.] »Original«-Zustand der Gedichte rekonstruierbar ist bzw. ob es ihn als solchen jemals gegeben hat. Es heißt, die Gedichte hätten auf dem Weg zum Druck ihren süßesten, jungfräulichsten Reiz verloren, sie hätten, so lässt sich dieser Satz erweitert verstehen, aus ihrem privat-intimen Kontext herausgerissen, ihren süßesten, jungfräulichsten Reiz an die voyeuristischen Augen einer breiten, anonymen Leserschaft verloren. Zweifelhaft erscheint die Sache bereits dadurch, dass der Begriff des {jungfräulichsten in einer zwielichtigen Umgebung, in unmittelbarer Nähe nämlich zur deutschen Muse verkehrt, die nicht »rein wie das Herz der Wasser«, nicht »rein wie das Marek der Erde«, 31 also nicht als jene göttliche Inspirationsquelle in Erscheinung tritt, welche die Reinheit und Wahrheit des Kunstwerks garanlat war die Frage nach der Autorintention (im Unterschied zu künstlerischer >TraditionalitätJungfrau< steht - als Zeichen des Bewusstseins eines Dichters verstehen, dass »[s]ein Wort [...] nicht nur sein Wort [ist], und seine Muse [...] vor ihm mit vielen anderen gehurt [hat]«:32 Es lässt sich mithin als Zeichen der Distanzierung von kulturellen Werten und Normen verstehen im Kontext einer »schuldigen Kultur«.33 Insbesondere aber lässt sich die Berufung auf die deutsche Muse als einer guten Dirne als Zeichen der Distanzierung von einer übergeordneten Ästhetik des Reinen und Wahren verstehen, mit anderen Worten als Zeichen der Distanzierung von traditionellen Idealbildern, an deren Stelle das Vergängliche, Verdorbene, Massenhafte und Käufliche tritt. Diese Lesart lässt sich dadurch untermauern, dass die Steigerung des Adjektivs jungfräulich]^...ins Superlativische jenes [J]ungfräulich[e] in einen ökonomischen Kontext rückt, damit aber, weil das \]]ungfräulich[e] von sich aus nicht einem ökonomischen Kontext angehört und daher auch an sich nicht steigerbar erscheint, nicht eine maximale Steigerung der Bedeutung des Adjektivs ins Positive herbeiführt, sondern es vergewaltigt und verfremdet und am Ende in den Bereich des Mittelmaßes bzw. der Lüge verweist. Insofern könnte der Eindruck entstehen, dass sich der Verfasser der Vorrede durch die Rede vom Verlust des jungfräulichsten Reiz[es] auch vom Idealbild jener ersten Gedichte distanziert, die angeb31 33
Harold Bloom: Einflussangst, S. 55. Ebd., S. 55. 126
lieh im »Original«-Zustand so jungfräulichst[..], rein und wahr wirkten.
d. h. so superlativisch
Zweifelhaft erscheint die Sache also nicht nur wegen der Berufung auf die deutsche Muse als einer guten Dirne, sondern auch aus dem Grund, dass zum Ende des zweiten Absatzes der Vorrede nicht von dem durch den Druck verursachten Verlust der {J]ungfräulich[keit] jener ersten Gedichte die Rede ist, mit anderen Worten nicht vom Verlust der Ursprünglichkeit, Reinheit, Unschuld und Unmittelbarkeit, nicht von der verlorenen Präsenzhaftigkeit erste]r] Gedichte, sondern vom Verlust ihres jungfräulichsten Reiz[es]. Während der Superlativ jungfräulichst]...] Skepsis hinsichtlich der anfänglichen Echtheit des Phänomens aufkommen lässt, weil er, wie gesagt, eine Steigerung eines an sich nicht Steigerbaren darstellt, hält der Begriff des Reiz]es] die Unterscheidung zwischen Sein und Schein des Phänomens demonstrativ offen und schürt damit ebenfalls Zweifel hinsichtlich der anfänglichen Echtheit des Phänomens, denn: nicht jede Jungfrau, die sich als solche gibt, darüber klärt auch das Gedicht Götterdämmerung34 auf, ist tatsächlich eine Jungfrau. Dort hat ein Subjekt die Beobachtung gemacht, dass Jungfrauen - das Symbol, wenn man so will, für Präsenz schlechthin - ihre Busen wallen ]lassen] und damit eine das Bild der Präsenz attackierende Differenz an den Tag legen, während Frauen [...] sich in Unschuldweiß ]kleiden] und damit nicht etwa die »Idee der durch Erfahrung wiedergewonnenen Unschuld [verkörpern, K. S.], des nach dem Sündenfall des Bewußtseins durch Bewußtsein wiedererlangten Paradieses, mit anderen Worten: die Idee einer teleologischen und apokalyptischen Geschichte des Bewußtseins[, die] selbstverständlich einer der verführerischesten, mächtigsten und illusionsreichsten Topoi der idealistischen und romantischen Periode [ist]«,35
sondern eine Differenz bzw. Absenz zu kaschieren versuchen. Einerseits also stellt sich das vermeintliche Prädikat - das lehren uns die Frauen in Unschuldweiß - als ein bloß ökonomischer Wert, der eine gute Partie verspricht, bzw. als ein bloß äußerer, ein bloß optischer Effekt dar, mit dem man kokettieren geht oder mit dem man bewusst einen endgültigen Verlust überspielt. Andererseits ist Jungfräulichkeit] - das lehren uns die Jungfrauen, die ihre Busen wallen ]lassen] - in ihrem vermeintlich ursprünglichen, reinen, unschuldigen und unmittelbaren Zustand bereits beides: verführerisch präsent und zugleich absent und different, verführerisch ursprünglich und zugleich entfremdet, verführerisch 34 35
Β. I, S. ι jof. (Die Heimkehr. Götterdämmerung). Paul de Man: Allegorien des Lesens, S. 209.
127
rein und zugleich unrein, verführerisch unschuldig und zugleich schuldig, verführerisch unmittelbar und zugleich in sich gespalten. Durch den Superlativ des \J\ungfräulich\en] provoziert, der am Ende des zweiten Absatzes der Vorrede, wie gesagt, massive Zweifel an der anfänglichen Echtheit des Phänomens weckt, entsteht unter Berücksichtigung des Gedichts Götterdämmerung der Verdacht, dass erste[.] Gedichte ihre Präsenzhaftigkeit, ihre Ursprünglichkeit, Reinheit, Unschuld und Unmittelbarkeit lediglich nach außen tragen, bzw. dass ersie[.] Gedichte in ihrem vermeintlich »originalen« Zustand bereits beides sind, verführerisch präsent und zugleich absent und different. Unter Berücksichtigung des Gedichts Götterdämmerung verweist der Superlativ des U]ungfräulich[en] entsprechend darauf, dass >Sein< und >Schein< hier nicht zusammenfinden, dass sich \]]ungfräulich[keit], indem sie Merkmale wie Lust und Begierde bzw. Wissen, Willen und Anstrengung in sich aufnehmen muss, nun Merkmale versammelt, die dem, worin ihr Reiz besteht, diametral entgegengesetzt erscheinen. Der Superlativ verweist in dem Sinne darauf, dass am Ende das Prädikat in einen Widerspruch zu seinen Prämissen gerät. Und so entsteht der Verdacht, dass sich das \]]ungfräulich[e], das Symbol der Echtheit des vom Dichter Erlebten sowie der Wahrheit der Gedichte, am Ende auch als Symbol der Falschheit und der Lüge entpuppt. An dieser Stelle stellt sich somit erneut die Frage, was der Verfasser der Vorrede mit dem zweiten Absatz bezweckt haben könnte, denn von hier aus erscheint der zunächst durch das Ende des zweiten Absatzes provozierte Authentizitätseffekt zunichte gemacht. Es stellt sich mithin die Frage, ob es dem Verfasser der Vorrede eigentlich darum geht, die Gedichte, die angeblich in ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild so jungfräulichst wirkten, in diesem, ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild, und damit als solche zu diskreditieren. Es stellt sich mit anderen Worten die Frage, ob es dem Verfasser der Vorrede eigentlich darum geht, die Gedichte und damit auch sich selbst, in einer Tradition von Lug und Trug stehend, zu offenbaren, in einer Tradition, die nicht auf den Veränderungen des Textes basiert, die der Druck mit sich bringt, sondern darauf beruht, dass die Präsenz jenes vom Dichter Erlebten erste[r] Gedichte so nie existiert hat. Was hat es in diesem Zusammenhang also mit den autobiografischen Zügen auf sich, die erste[.] Gedichte angeblich tragen? Dass die im BdL vorliegenden ersten Gedichte des Dichters Heine tatsächlich autobiografische Züge tragen, suggeriert neben dem Mittelteil des zweiten Absatzes der Vorrede, der sich durch seine normative Ausrichtung allerdings nicht direkt auf das folgende BdL bezieht, die Widmung 128
des Lyrische^η] Intermezzo^s] an Salomon Heine, ein weiterer Paratext, der in der Vorrede zum BdL von 1837 zwar nicht zitiert, aber im Rahmen der Aufzählung der Veränderungen, die die zweite Auflage des BdL erfahren hat, genannt wird und folgendermaßen lautet: Zueignung An Salomon
Heine
Meine Qual und meine Klagen Hab ich in dies Buch gegossen, Und wenn du es aufgeschlagen, hat sich dir mein Herz erschlossen. 36
Ernst genommen scheinen hier der eigentliche Gegenstand, die Pein des Neffen wie auch seine darauf bezogene verbale Äußerung, die Schmerzäußerung, als solche unmittelbar im Buch repräsentiert. Die Zueignung bezeugt also durch die Sicherheit der Kontinuität der Uberführungen augenfällig die »Wahrhaftigkeit« von Dichter und Buch. Und tatsächlich erscheint es nahe liegend, bei Büchern, die autobiografische Züge tragen, im Rahmen einer Vorrede die »Wahrhaftigkeit« der Darstellung zu bezeugen, denn, so Gerard Genette: »Das einzige, weil vermutlich eher mit dem Gewissen als mit dem Talent zusammenhängende Verdienst, das sich ein Autor mittels eines Vorworts anrechnen kann, ist das der Wahrhaftigkeit. Seit Herodot und Thukydides ein Gemeinplatz des historiographischen Vorworts, seit Montaigne ein Gemeinplatz des Vorworts der Autobiographie oder des Selbstbildnisses: >Dies ist ein aufrichtiges BuchTotalisierung< der Gedichte daher den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde. 133
spezifischen Weise wahrheitsfähig und damit dem eigenen Anspruch wahrhaftig und auf diese Weise auch zur Lüge fähig geworden. [...] O b jemand eine ästhetische Lüge äußert, hängt somit nicht von seinen noch so guten Absichten ab, sondern von dem Verhältnis der von ihm geschaffenen Form zur geltenden Konvention.« 46
Der Superlativ des Jungfräulich[en], das als solches u. a. für Unberührtheit und Unverbrauchtheit steht und in dem Sinne »Authentizität« und Wahrheit verspricht, könnte dieser Lektüre zufolge auf die gesteigerten Anstrengungen des Dichters aufmerksam machen, Originelles zu schaffen; der Superlativ könnte also auf die gesteigerten Innovationsbemühungen des Dichters aufmerksam machen, deren Resultat ersten Gedichten den Eindruck verleihen soll, sie seien frei von literarischen Traditionen und Konventionen, stattdessen unmittelbarer Ausdruck echten und einmaligen Erlebens, entsprechend unmittelbar aus der Intuition, Leidenschaft und Spontaneität des Dichters heraus erwachsen und insofern eben unberührt und unverbraucht, authentisch und wahr. Gesteigerter Innovationsbemühungen bedarf es nun deswegen, weil der Dichter es prinzipiell seit dem Auszug aus dem Paradies nicht mehr mit einer unberührten Welt und nicht mehr mit einer unverbrauchten Sprache zu tun hat, was allerdings erst in der »Moderne« zu einem spezifischen Problem wird, da diese die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Individuen vorantreibt sowie ein Bewusstsein für die Geschichtlichkeit der Welt und damit auch für das Berührte und Verbrauchte geschaffen hat. In besonderer Weise also für das Berührte und Verbrauchte sensibilisiert, kommt, historisch betrachtet, in dieser Phase das Idealbild des Dichters als des urwüchsigen Genies, des keiner Autorität, keiner Tradition oder Konvention verpflichteten, des frei aus sich selbst heraus schaffenden Künstlers auf, der in seinen Werken unberührte Welten hervorbringt und eine entsprechend unverbrauchte Sprache spricht. Mecke geht im weiteren Verlauf seines Essays den Schwierigkeiten nach, die diese Idealvorstellung mit sich bringt. Schwierigkeiten bestehen seiner Meinung nach darin, dass »sich Authentizität nicht als direktes Ziel einer Kommunikationsstrategie, sondern lediglich als deren Nebenprodukt einstellen kann, [und dass] Authentizität nicht dauerhaft kodifiziert werden kann, sondern immer wieder neu erfunden werden muß«. 47
46 47
Jochen Mecke: Der Film - die Wahrheit 24 mal pro Sekunde?, S. 292-294. Ebd., S. 297.
134
Zum einen kann »Authentizität« demnach im Bereich der Kunst nicht »direkt[.J« zum Ausdruck gebracht werden, vielmehr entpuppt sich der Eindruck von »Authentizität« als Ergebnis erfolgreicher Innovationsbemühungen. Zum anderen erweist sich der Eindruck von »Authentizität« als äußerst unbeständig, denn was heute originell ist und deswegen möglicherweise authentisch wirkt, kann morgen bereits veraltet sein und damit unter Umständen seine »Authentizität« wieder einbüßen, der Eindruck von »Authentizität« erscheint somit nicht abhängig vom eigentlichen Gegenstand, sondern von Vergleichsobjekten, d. h. also von äußeren Rahmenbedingungen. Auf beide Schwierigkeiten könnte die Rede vom Verlust des [Jjungfräulich ste[n] aufmerksam machen. Dass Schwierigkeiten ins Haus stehen, signalisiert bereits der Begriff des \J\ungfräulichst\en\, der unter Berücksichtigung des Gedichts Götterdämmerung im Positiv auf eine Eigenschaft, im Superlativ aber darauf verweist, dass es - im Sinne der Frauen, die sich in Unschuldweiß hüllen - einer Handlung bedarf, um den Eindruck des jungfräulichsten Zustande hervorzubringen. Bezogen auf den Aspekt der »Authentizität«, baut sich hier, so lässt sich der Superlativ verstehen, eine Spannung zwischen Zustand und Machwerk bzw. zwischen Vorgefundenem und »[E]rfunden[em]« auf. Indem sich nun der Superlativ als Zeichen gesteigerter Innovationsbemühungen des Dichters verstehen lässt und somit darauf hindeutet, dass sich der Eindruck von »Authentizität« nicht von selbst einstellt, sondern eines bestimmten Wissens und eines besonderen Willens wie auch großer Anstrengungen bedarf, weckt er Zweifel an dem, wofür das Innovative erste[r] Gedichte gerade bürgen soll. Der Superlativ weckt Zweifel daran, dass die Gedichte unmittelbarer Ausdruck echten und einmaligen Erlebens und entsprechend unmittelbar aus der Intuition, Leidenschaft und Spontaneität des Dichters hervorgegangen sind. Die gesteigerten Innovationsbemühungen des Dichters ständen mithin dem Reiz des \]]ungfräulich[en], das als solches neu im Sinne von unberührt und unverbraucht zu sein vorgibt, entgegen, sie widersprächen der vermeintlichen Unmittelbarkeit zwischen Erlebnis des Dichters und dichterischer Rede und damit der vermeintlichen Wahrhaftigkeit von Dichter und Gedichten. Die Rede vom Verlust des jungfräulichsten Reiz[es] könnte darüber hinaus auch auf die zweite von Mecke aufgezeigte Schwierigkeit hinweisen, denn, indem sie die starke Abhängigkeit des \]]ungfräulich[en] vom äußeren Erscheinungsbild, d. h. von äußeren Rahmenbedingungen benennt, bringt sie die Unbeständigkeit dessen zum Ausdruck, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als unberührt und unverbraucht, als authentisch und r
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wahr gilt. Diese Unbeständigkeit aber, die auf der Relativität des Innovationswertes beruht, steht ebenfalls dem Reiz des U]ungfräulich[en], das als vermeintlich Unmittelbares zwischen Erlebnis des Dichters und dichterischer Rede einen vermeintlich absoluten Wert darstellt, entgegen. Die Schuld der Drucklegung, die angeblich den Verlust des jungfräulichsten Reiz[es] herbeiführt, ist aus dieser Sicht primär darin zu sehen, dass sie ersie[.] Gedichte als literarische Produkte offenbart, die in einem literarischen Traditionszusammenhang stehen, dass sie mithin auch Ähnlichkeiten dieser ersten Gedichte mit Gedichten anderer Dichter offenbart und damit die Originalität von Dichter und Gedichten, d. h. auch die Echtheit und Einmaligkeit des Erlebens dieses Dichters, in Zweifel zieht und die Gedichte als unmittelbaren Ausdruck der Intuition, Leidenschaft und Spontaneität des Dichters in Frage stellt. Die Drucklegung hindert den Dichter folglich daran, sich als der »mythische Adam« aufzuspielen, »der mit dem ersten Wort an eine noch nicht besprochene, jungfräuliche Welt herantrat«.48 Unter Berücksichtigung der Berufung des Verfassers der Vorrede auf die deutsche Muse als einer guten Dirne, die sich, wie gesagt, als Zeichen des Bewusstseins des Dichters verstehen lässt, dass »[s]ein Wort [...] nicht nur sein Wort [ist], und seine Muse [...] vor ihm mit vielen anderen gehurt [hat]«,49 verweist die Rede vom Verlust des jungfräulichsten i?eiz[es] nun vielleicht nicht nur auf einen tatsächlich durch den Druck verursachten Verlust der Wirkung des Echten und Einmaligen, des Intuitiven, Leidenschaftlichen und Spontanen, des Unberührten und Unverbrauchten, des Authentischen und Wahren; vielleicht verweist diese Rede auch auf die durch den Druck offenbarte allgegenwärtig klingelnde Gewohnheit des Reims und Silbenfalls,50 wie es in der Vorrede zur dritten Auflage des BdL aus dem Jahr 1839 in Anspielung auf den Beginn der Vorrede von 1837 heißt. Vielleicht verweist diese Rede also auf das Wiederholte der Schöpfung sowie die prinzipielle Wiederholbarkeit des schöpferischen Akts und damit auf das uranfänglich »[T]ote[.] und [K]onventionalisierte[.]« auch dieser ersten Gedichte·, vielleicht verweist die Rede vom Verlust des jungfräulichsten Reiz[es] mithin auf die durch den Druck, wie gesagt, lediglich
48 49 50
Michail M. Bachtin: Das Wort in der Poesie und das Wort im Roman, S. 172. Harold Bloom: Einflussangst, S. 55. Β. I, S. 15 (Vorrede zur dritten Auflage des BdL (1839)). Der Begriff des \K\lingelnde\yi\ macht auf den starken Einfluss des Klanges auf den Inhalt der Gedichte aufmerksam, ruft darüber hinaus aber auch die Assoziation des klingelnden Geldbeutels hervor und könnte insofern auf die Gewinnorientierung des Dichters verweisen. 136
offenbarte große intertextuelle Verstrickung eines jeden Textes, darauf, dass »[a]lle Bücher [...] immer von anderen Büchern [sprechen], und jede Geschichte [...] eine längst schon erzählte Geschichte [erzählt]«51; vielleicht verweist der Superlativ entsprechend auf die Paradoxie, dass der Eindruck der Wahrhaftigkeit sich angesichts dieser großen intertextuellen Verstrickung höchstens noch durch einen letzten originellen Regelverstoß, durch Verfremdungseffekte wie z. B. >inadäquate< Superlative und Betrugseingeständnisse erzielen lässt. Mit der Vorstellung eines jungen Dichtergotts hätte das allerdings nur noch wenig zu tun. Auf die beiden hier aufgezeigten Schwierigkeiten, die sich im Zuge des Authentifizierens von Texten ergeben, macht auch die letzte Strophe der Romanze Die Minnesänger aus dem Zyklus Junge Leiden aufmerksam, in der es um die Strukturen, das heißt konkret um Ablauf, Austragungsort, Bedingungen und Ziel eines Sängerwettstreits geht. Die letzte Strophe dieses Gedichts lautet: Und wem dort am besten dringet Liederblut aus Herzensgrund, Der ist Sieger, der erringet Bestes Lob aus schönstem Mund. 52
Und wieder deutet ein Superlativ auf die genannten Schwierigkeiten authentischen Schreibens hin. Der Superlativ am besten lässt sich in diesem Zusammenhang nämlich als Hinweis darauf verstehen, dass es bei dem Wettgesange der Minnesänger nicht darum geht, das Liederblut möglichst unmittelbar aus dem Herzensgrund dringe[n] zu lassen, sondern darum, die Unmittelbarkeit des Liederblut[es] möglichst überzeugend darzustellen. Der Superlativ am besten macht mithin sowohl auf die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der \p\hantasie-vo\\en Anwendung von Authentifizierungsmaßnahmen zur Optimierung des Eindrucks von Unmittelbarkeit aufmerksam als auch auf die Abhängigkeit dieses Eindrucks vom Gesamtniveau der Beiträge der zum Wettgesange angetretenen [S]änger. Mit dem in den letzten beiden Zeilen formulierten Ziel der Minnesänger, am Ende als Sieger aus der Veranstaltung hervorzugehen, zeichnet sich eine weitere Schwierigkeit authentischen Schreibens ab, eine Schwierigkeit, die in der »Moderne« akut wird und die möglicherweise ebenfalls durch den Superlativ des \]]ungfräulich[en] zum Ausdruck kommt. Der Superlativ des [}]ungfräulich[en] deutet nämlich aus dieser Sicht nicht zuletzt auf die Gefahr eines übertriebenen Einsatzes von Authentifizie51 52
Umberto Eco: Nachschrift zum »Namen der Rose«, S. 28. Β. I, S. 57 {Junge Leiden, Romanzen, XI, Die Minnesänger).
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rungsmaßnahmen in der »Moderne« hin. Er verweist entsprechend auf die Gefahr eines durch den »sich steigernde[n] Innovationszwang«» motivierten Einsatzes literarischer Neuartigkeiten von Seiten der Dichter, der in seiner Ubertriebenheit auf Seiten der Leserschaft den Eindruck erwecken könnte, das Innovative werde am Ende um des Innovativen willen produziert und sei somit eben nicht mehr unmittelbarer Ausdruck der Wahrhaftigkeit von Dichter und Gedichten, sondern umgekehrt: Ausdruck des Suggestiven und Ökonomischen, d. h. Ausdruck eines >modernen< literarischen Systems und professionellen Dichtertums. Tritt dieser Fall ein, steht zu vermuten, dass die Leserschaft mit Skepsis auf Authentifizierungsversuche reagieren wird, und, so folgert auch Mecke, übertragen auf das Gedicht: Dieses gerät »in ein Zeitalter des Mißtrauens [...], in welchem der [Leser, K. S.] allen Bestrebungen nach Authentizität mit einem grundsätzlichen Zweifel begegnet, einem Zweifel, den keine noch so emphatische Strategie der Authentifizierung mehr ausräumen kann. Denn jeder Versuch, die eigene Wahrhaftigkeit durch explizite zeichenhafte Kodierungen zu beglaubigen, entspricht einer Kommunikationsstrategie, die auch von der Lüge verwendet wird.« 5 4
Unter Vernachlässigung des Superlativs des {J]ungfräulich[en], der, wie gesagt, Zweifel bereits hinsichtlich der anfänglichen Echtheit des Phänomens aufkommen lässt, könnte nun der Eindruck entstehen, im »Original« sei tatsächlich noch jener »mythische Adam« am Werk, »der mit dem ersten Wort an eine noch nicht besprochene, jungfräuliche Welt herantrat«.55 Unter Berücksichtigung des Superlativs aber, der sich, wie gesagt, als Zeichen des Einsatzes gesteigerter Authentifizierungsmaßnahmen verstehen lässt, entsteht jener »grundsätzliche^] Zweifel«, der sich darauf zurückführen lässt, dass die genannten Schwierigkeiten, die sich mit der Authentizität bzw. im Zuge des Authentifizierens von Texten ergeben, die Existenz jungfräulicb[er] Texte in Frage stellen. Zusammenfassend ist jener »grundsätzliche^] Zweifel«, der Zweifel also, ob es \J\ungfräulich\ks\t\ im Hinblick auf Texte als einen absoluten Wert überhaupt gibt, darauf zurückzuführen, dass nicht eine Unmittelbarkeit des Ausdrucks, nicht also eine tatsächliche Wahrhaftigkeit für die wahrhafte Wirkung erste[r] Gedichte ausschlaggebend erscheint, sondern unbeständige, sich potenziell verselbständigende >SekundärtugendenForm< der Gedichte Ausdruck des [w]^r[en] >Inhalts< wäre. [JJungfräulichkeit] lässt sich im Hinblick auf letzteres als Symbol der Kunst im Rahmen einer idealistischen Kunstauffassung verstehen, gemäß derer, so die Formulierung Schellings, Kunst sowohl das »Urbild der Schönheit« als auch das »Urbild der Wahrheit«'8 darstellt. Stellt man eine solche Verbindung zwischen dem ersten und zweiten Absatz der Vorrede her, so könnte der Begriff des jungfräulichste[n], der in seiner ins Extrem gesteigerten Form auf die forcierte Steigerung eines an sich nicht Steigerbaren hindeutet, in der Kombination mit dem Begriff des Reiz[es], der den Blick ganz auf die Außenwirkung dieses Jungfräulichsten lenkt, auf eine superlativische Steigerung der schönen Außenwirkung erste[r] Gedichte hindeuten. Hervorgerufen wäre diese superlativische Steigerung der schönen Außenwirkung allerdings nicht durch eine superlativische Steigerung der Schönheit der Welt bzw. durch eine Wiedergewinnung des paradiesischen Zustande der Welt, obwohl sie 57
Vgl. Maria Christina Boerner, die zu Heines Wahrheitsbegriff vermerkt: »Sein Wahrheitsbegriff zielt [...] allerdings nicht mehr auf eine metaphysische Wahrheit wie in der idealistischen Ästhetik, die wie Hegel das Wahre als das Absolute und Kunst als Erscheinungsweise des Absoluten definierte, sondern auf eine Ubereinstimmung der künstlerischen Darstellung mit der Realität. Damit errichtet Heine [...] einen Gegensatz von anmutiger Schönheit und einer Wahrheit, die auch vor den Hässlichkeiten der Wirklichkeit nicht zurückschreckt.« (Maria Christina Boerner: »Die ganze Janitscharenmusik der Weltqual«, S. 333).
58
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst [1802-05], Ausgewählte Werke. Darmstadt 1974 (= Repro von 1859), S. 14.
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durch genau eine solch superlativisch schöne Welt hervorgerufen sein müsste, obwohl sie genau einen solchen paradiesischen Urzustand widerspiegeln müsste, um im oben definierten Sinne Ausdruck des Wahren zu sein. Die Uberreizung der schönen Außenwirkung stände entsprechend dem, was den jungfräulichsten Reiz, den Reiz der unmittelbaren Ubereinstimmung zwischen Schönem und Wahrem ausmacht, entgegen. Die Folge der Veräußerlichung des Schönen wäre die Lösung der glücklichen Übereinstimmung, wäre also eine Separierung, Säkularisierung bzw. sogar eine Kontrastierung von Schönem und Wahrem, wie sie im ersten Absatz der Vorrede zum Ausdruck kommt. Peter von Matt bemerkt nun im ersten Teil seiner Studie »Die Verdächtige Pracht«, erst im 20. Jahrhundert seien Schönheit und Wahrheit in einen Widerspruch geraten, die Vorrede zum BdL von 1837 aber belehrt uns eines anderen: Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die enge Verbindung von Schönheit und Wahrheit, die im Rahmen philosophischer Ästhetik in der europäischen Aufklärung, im deutschen Idealismus und in den Abhandlungen über klassische Kunst eine über die in der Antike geführte Debatte hinausgehende theoretische Reflexion und systematische Begründung erfahren hatte, problematisch und suspekt, und bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besteht von Seiten derer, die sich mit Gedichten auseinandersetzen, offenbar eine Furcht davor, »sich [...] von einer wachsamen Öffentlichkeit der Verlogenheit schuldig [zu] machen«: »Wir haben uns bequem eingerichtet mit der Regel, daß die Kunst »wahr« sein müsse, die Wahrheit aber nach dem Kenntnisstand des 20. Jahrhunderts keineswegs »schön« sei. »Wahr« könne nur sein, was nicht schön ist. Also ist, was schön ist, nicht wahr, ist Lüge. Also will eine Gestalt der Literatur, die ihrem innersten Wesen nach schön sein will, ihrem innersten Wesen nach lügen, ist sie verlogen von Grund auf. Hier liegt der Ursprung allen Verdachts gegen die L y rik. Und damit zeigt sich, daß der Verdacht gegen die Lyrik selbst den Beweis erbringt für das Axiom: Das Gedicht will schön sein. [...] Ein Problem [...] stellt die Tatsache erst für jene dar, die über Gedichte zu reden haben. Sie nämlich dürfen das simple Faktum nicht aussprechen, weil sie sich sonst selber von einer wachsamen Öffentlichkeit der Verlogenheit schuldig machen. Weil »schön« nicht »wahr« sein kann, vertritt, wer eine bestimmte Kunst von ihrem Willen zur Schönheit her definiert, eine faule und falsche Ästhetik, eine Ästhetik der Lüge.« 5 9
Als »wachsam[..]« kann in diesem Sinne eine »Öffentlichkeit« gelten, die kritisch beobachtet, wie die Lyrik ihr Schönsein vorantreibt bzw. wie sie s9
Peter von Matt: Die verdächtige Pracht, S. 1 if.
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ihr Wahrsein vernachlässigt, wie die unmittelbare Übereinstimmung zwischen Schönsein und Wahrsein dadurch nachhaltig gestört wird, wie diese Entwicklung letztlich nicht nur das Wahrsein dieser Gattung, sondern auch ihr Schönsein beeinträchtigt - das Wahrsein aber deswegen stärker betrifft, weil es im Vergleich zum Schönsein offensichtlicher an Glaubwürdigkeit einbüßt, weil es sich in diesem Zuge in sein Gegenteil verkehrt. Das Ergebnis dieser Entwicklung sind Zuspitzungen, wie sie z. B. von Matt vornimmt: dass »[w]ahr [...] nur sein [könne], was nicht schön [sei]«, bzw. umgekehrt, »was schön [sei], nicht wahr, [sondern] Lüge [sei]«, oder mit den Worten Bertolt Brechts: »Das Schöne darf uns nicht mehr als wahr erscheinen, da das Wahre nicht als schön empfunden wird. Man muß dem Schönen durchaus mißtrauen«. 60
Wie in der Alltagswelt das Schön-Reden tendenziell auf »[M]ißtrauen« stößt, weil es Differenzen bzw. Absenzen zu kaschieren versucht, muss offenbar auch das emanzipiert Schöne im Bereich der Kunst im Verlauf dieses Prozesses Verluste im Hinblick auf seine Glaubwürdigkeit hinnehmen. Auch wenn es im Verlauf dieses Prozesses nicht offensichtlich in Hässlichkeit umschlägt, so erscheint es in der gedruckten Version der Gedichte, indem es dem Verfasser der Vorrede zufolge nicht bzw. nicht mehr im Wahren gründet und für dieses Wahre bürgt, auf einen bloß äußeren, bloß optischen Effekt reduziert. Es wird damit zur verschleißbaren Ware und gerät in den Bereich der Beliebigkeiten und Belanglosigkeiten. In der gedruckten Version wäre das Schöne, so gesehen, aus ideellen Höhen in »kulturindustrielle« Tiefen herabgesunken, es erschiene vom Status einer Herrschafts- und Repräsentationskategorie auf einen ökonomischen Wert degradiert, der eine gute Beurteilung durch die Leserschaft und einen guten Absatz auf dem literarischen Markt verspricht. Und genau diesen Tatbestand scheint der Schluss des folgenden Gedichts aus dem BdL zu benennen: Doch Lieder und Sterne und Blümelein, Und Auglein und Mondglanz und Sonnenschein, Wie sehr das Zeug auch gefällt, So machts doch noch lang keine Welt. 61
Die Kunst, zumindest die im Lieder[stil] gehaltene Kunst, ist, so lässt sich das Ende des Gedichts, das die Uberschrift Wahrhaftig trägt und den 60
61
Bertolt Brecht: Forderungen an eine neue Kritik, in: Schriften 1914—1933, in: große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (BFA), hg. von Werner Hecht, Berlin/Weimar 1992, Β. X X I , S. 332. Β. I, S. 64 (Junge Leiden, Romanzen XXX). 142
Zyklus Romanzen abschließt, verstehen, ganz auf das allgemein [G]efäll[ige] fixiert. Vom Ende her stellt sich mithin die Frage, was genau dieses [G]e/ä7/[ige] ausmacht. Mit Blick auf den ersten Teil des Gedichts könnte es die Sicherheit sein, dass: Wenn der Frühling kommt mit dem Sonnenschein, Dann knospen und blühen die Blümlein auf; Wenn der Mond beginnt seinen Strahlenlauf, Dann schwimmen die Sternlem hintendrem; Wenn der Sänger zwei süße Auglein sieht, Dann quellen ihm Lieder aus tiefem Gemüt; -
Es könnte mit anderen Worten die Geborgenheit des Menschen im Kosmischen sein, die Verlässlichkeit von Sonne[...~\, Mond und Sternlein, es könnte die Vertrautheit mit einer Welt sein, die Sinnhaftigkeit verspricht, Helligkeit, Klarheit, Harmonie und Ordnung ausstrahlt, von Fülle, [S]üße, Glanz und Selbsterfüllung zeugt, den Mythos des Ersten und Reinen {Frühling, kommt, knospen, blühen [...] auf, beginnt, quellen) sowie den Mythos des Unschuldigen (Akkumulation von Verkleinerungsformen) und unmittelbar Ubereinstimmenden (Aneinanderreihung parallelistischer Wenn-dann-Konstruktionen, Maß und Gleichklang der Wörter61) beschwört, es könnte das tiefe Wissen um die versöhnliche Vereinigung von Mensch, Natur und Kunst sein, genauer: das tiefe Wissen um die Trinität von menschlich Schönem, Naturschönem und Kunstschönem. Was das [G]e/ä//[ige] also ausmacht, ist im übertragenen Sinne, dass Gott allen Dingen ihren Ort gegeben habe, dass er »alles geschaffen [habe] nach der vollkommensten zusammenstimmung oder schöhnheit so da möglich«,63 ist entsprechend die superlativische »zusammenstimmung« auch von Signifikaten und Signifikanten, die, indem sie die genaue Verortbarkeit eines jeden Zeichens im System und damit die Bestimmtheit, Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit eines jeden Zeichens sicherstellt, die Präsenz der Welt im Wort garantiert. Was das [G]efäll[ige] ausmacht, das sich im oben definierten Sinne als ein übergeordnet Schönes erweist, wäre somit die superlativische Unmittelbarkeit der Ubereinstimmung zwischen schönem Außen und wahrem Innen. Diese Beschreibung des »poetischen Stils« entspricht nun in weiten Teilen der Auffassung Michail M. Bachtins, der allerdings aus einem anΒ. I, S. 15 (Vorrede zur dritten Auflage des BdL (1839)). »Deus omnia creavit secundum maximam harmomam sive pulchritudinem possibilem« (Gottfried Wilhelm Leibmz: Defimtiones/Erclärung einiger Worthe [Bruchstücke, die Scientia Generalis betreffend], in: Die philosophischen Schriften, hg. von C. J. Gerhardt, Β. VII, Hildesheim 1961, S. 74, 76). 143
deren Blickwinkel, nämlich aus einer soziologischen Bestimmung des Wortes heraus die Meinung vertritt, das selbsterfüllte poetische Wort trete aus der Unmittelbarkeit und Voraussetzungslosigkeit einer unbesprochenen Welt heraus in Erscheinung und entwickele insofern keinen Abstand zu sich selbst und keine Beziehung zu anderen (nicht-poetischen) Texten. Sie entspricht Bachtins Meinung, nach der die »poetische Sprache [...] in aller Regel eine unmittelbar intentionale, unanfechtbare, einheitliche und einzige Sprache [ist]. [...] Die Idee der besonderen »poetischen Sprache« ist ihrerseits Ausdruck der ptolemäischen Konzeption der sprachlichen (stilistischen) Welt.«® 4
So aber, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt Zweifel an jener »ptolemäischen Konzeption der sprachlichen [...] Welt« aufkamen, so kommen auch am Ende des Gedichts Zweifel an der heilen Welt auf, denn, was zu Beginn des Gedichts noch ein ganzer Kosmos war, macht[...] am Schluss noch lang keine Welt, wirkt, ausgehend vom Ende des Gedichts, in monologischen Strukturen verhaftet, mechanisch, künstlich, banal und eindimensional. Vom Ende her betrachtet, erscheint die zunächst beglückende Unmittelbarkeit der Ubereinstimmung von Wahrheit und Schönheit nicht mehr gegeben, vom Ende her betrachtet, scheint zu gelten: Wie sehr es dem Sänger auch gelingt, schöne Lieder hervorzubringen, und wie sehr das Zeug auf dieser Basis dann auch gefällt, es sind und werden keine wahren Lieder. Zu sehr erscheinen sie, eine Präsenz der Welt im Wort nur auf metaphorischer und grammatischer Ebene suggerierend, von jeder We/i[lichkeit] und damit von jeder Wahrheit entfernt. Und so mündet der Schluss dieses Gedichts in die Frage, was es denn eigentlich mit dieser Welt auf sich hat, wie sie beschaffen ist und was sie auszeichnet. Was diese Welt offenbar ausmacht, ist, dass das Prinzip der unmittelbaren Übereinstimmung zwischen Schönheit und Wahrheit wie auch zwischen Signifikant und Signifikat nicht das allgegenwärtige Grundprinzip darstellt. In dieser Welt ist offenbar nicht alles jungfräulich, was jungfräulich daherkommt, entsprechend erscheint diese Welt im Unterschied zum Paradies gebrochen: nicht mehr durch Ordnung, Ganzheit und Geschlossenheit geprägt und nicht mehr durch die [K\uh\e\, die sich durch die »Ständigkeit des Selben und die Möglichkeit seiner Wiederholung«6' selbst garantiert. Diese Welt ist gezeichnet durch allgemeine Unordnung und Gespaltenheit, durch allgemeines Drängen, durch Prozesse z. B. der Historisierung, Individualisierung, Säkularisierung oder Hetero64 65
Michail M. Bachtin: Das Wort in der Poesie und das Wort im Roman, S. i/^i. Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 73. 144
genisierung, sowie durch die Not,66 durch Krisenmomente des Einzelnen, die aus der Perspektive des Verfassers der Vorrede von schlechten
Tagen
über heimische^
Verza-
Drangsale[.]
gens bis hin zu Geldnot67
[...], Exil [...], £>öse[.] Stunden
des
reichen.
Indem das Gedicht Wahrhaftig
nun vorführt, wie das schöne Lied ver-
sucht, durch die Herstellung vermeintlich unmittelbarer Ubereinstimmungen die Sprache und Welt vor dem Sündenfall, wenn man so will, und damit das Gefühl metaphysischer Sicherheit zu beschwören, wie es einseitig auf jene vermeintlich ewig gültige, einzigartige und erhabene Welt, auf jenes Paradies rekurriert, erweist es sich, wie das Gedicht Die Griechenlands
Götter
demonstriert, angesichts der prosaischen Welt der Gegen-
wart als vergänglich, verdorben, massenhaft und käuflich und damit als sinnentleert und mitleiderregend. Aber dich und deine Tücke, Und dein holdes Angesicht, Und die falschen frommen Blicke — Das erschafft der Dichter nicht.68 Indem das Gedicht vorführt, wie das schöne Lied sich weigert, die G e brochenheit der Welt widerzuspiegeln, die es widerspiegeln müsste, um dem Anspruch des Wahren gerecht zu werden, indem es zeigt, wie das schöne Lied das Falsche, Entfremdete, Unreine, Schuldige und in sich Gespaltene, das diese Welt eben auch ausmacht, systematisch ausspart, 6 ' stellt es das Lied in den Verdacht, eine Sicherheit versprechen zu wollen, die es in der Welt nicht gibt. Es stellt das Lied entsprechend in den Verdacht, eine in der Welt »unbefriedigte Sehnsucht« befriedigen zu wollen, es stellt das Lied in den Verdacht der »falschen Versöhnung«? 0 und offenbart damit seine Realitätsferne und seinen Mangel an Wahrhaftigkeit. Mehr noch: Indem das schöne Lied angesichts der We/i[lage] so tut, als wäre alles in bester Ordnung, als befände sich alles in der »vollkommensten zusammenstimmung«, als wäre die Welt noch ganz, lügt es, und so heißt es in der viel zitierten Passage des vierten Kapitels der Bäder von Lucca: 66 67 68 69
70
Β. I, S. 127 (Die Heimkehr XXXIX). Β. I, S. 10. Β. I, S. 81 (Lyrisches Intermezzo XVI). Ausnahmen führen sofort zu einer Vergift[ung] des Liede[s], die Integration von Falschem widerspricht also offenbar dem Grundkonzept des Liedes: Vergiftet sind meine Lieder; - / Wie könnt es anders sein? / Ich trage im Herzen viel Schlangen, / Und dich, Geliebte mein. (Β. I, S. 96 (Lyrisches Intermezzo LI)). Schönheit galt im Sinne des frühen deutschen Idealismus als Ort der Versöhnung von Wahrheit und Moral, vgl. dazu u. a. Friedrich Schiller: »Ankündigung« von »Die Hören« [1794]. r
45
Einst war die Welt ganz, im Altertum und im Mittelalter, trotz der äußeren Kämpfe gabs doch noch immer eine Welteinheit, und es gab ganze Dichter. Wir wollen diese Dichter ehren und uns an ihnen erfreuen; aber jede Nachahmung ihrer Ganzheit ist eine Lüge.71 Ausgehend v o n der Beobachtung, dass die Gesamtordnung, f ü r die das \G\anze
hier steht, seit Beginn der N e u z e i t »ins Zwielicht« 7 2 geraten ist,
dass auf der Basis in der Gegenwart auch andere O r d n u n g s f o r m e n denkbar werden und letztlich »die große allumfassende O r d n u n g in O r d n u n gen zerfällt, die ihrerseits (a) wandelbar und (b) beschränkt sind, (c) bewegliche Grenzen aufweisen und (d) grundlegende Innovationen zulassen«,73 ausgehend v o n dieser Beobachtung, muss gemäß der oben zitierten Passage aus den Bäder[n]
von Lucca alles, was wie selbstverständlich an
der »unverbrüchlich und allumfassend scheinende[n] Ordnung« 7 4 festhält, tatsächlich falsch und verlogen erscheinen. 71
B. II, S. 406 (Reisebilder. Dritter Teil. Italien (1828). IL Die Bäder von Lucca)·, Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Beobachtung des Subjekts in Die Bäder von Lucca: daß die Welt selbst mitten entzwei gerissen ist. Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden. Wer von seinem Herzen rühmt, es sei ganz geblieben, der gesteht nur, daß er ein prosaisches weitabgelegenes Winkelherz hat. Durch das meinige ging aber der große Weltriß [...]. (B. II, S. 405 (Reisebilder. Dritter Teil. Italien (1828). II. Die Bäder von Lucca)). Ganz ähnlich heißt es auch in Deutschland. Ein Wintermärchen·. Das alte heilige römische Reich, / Stells wieder her, das ganze, / Gib uns den modrigsten Plunder zurück / Mit allem Firlifanze. // Das Mittelalter, immerhin, / Das wahre, wie es gewesen, / Ich will es ertragen — erlöse uns nur/ Von jenem Zwitterwesen, // Von jenem Kamaschenrittertum, / Das ekelhaft ein Gemisch ist / Von gotischem Wahn und modernem Lug, / Das weder Fleisch noch Fisch ist. (Β. IV, S. 617). Mit dieser Einstellung widerspricht das Subjekt der Bäder von Lucca nicht zuletzt Goethe und Herder, die, wie Jochen Schmidt erläutert, den Gedanken vertreten, »[ajllein wer ein [...] inneres Ganzheitsvermögen ha[be], [sei ein] wahrer Dichter« (Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Β. I (Von der Aufklärung bis zum Idealismus), Darmstadt 2 i988, S. 260), die also der »Idee des Ganzen« (Johann Gottfried Herder: Kalligone. Von Kunst und Kunstrichterei. Zweiter Teil [1800], in: Sämmtliche Werke, hg. von B. Suphan, B . X X I I , Berlin 1880, S. 204) anhingen und die Aufgabe des Künstlers darin sahen, so Goethe, »die Gegenstände um sich her [...] zu einem gefugten Ganzen zusammen[zu]bilden (Johann Wolfgang Goethe: Von deutscher Baukunst [1823], in: Hamburger Ausgabe, B. 12, Hamburg i960, S. 164; vgl. Zweifel Goethes an der Angemessenheit dieser Auffassung z. B. in semen Ausführungen zu Winkelmann). Das Subjekt der Bäder von Lucca widerspricht Goethe und Herder damit aber nicht nur, sondern macht ihnen indirekt auch den Vorwurf der Lüge. Dieser Vorwurf dürfte ferner jene Literaturkritiker treffen, die seit dem 18. Jahrhundert Ganzheit als regulativen Begriff einsetzten.
72
Bernhard Waidenfels: Topographie des Fremden, S. 171. Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, S. 19. Ebd., S. i8f.
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Verantwortlich für den Eindruck des Falschen und Verlogenen aber sind der Vorrede zufolge nicht die Gedichte, sondern der Druck, der die Gedichte, die sich vom Wortlaut her durch den Druck nicht verändern und damit nach wie vor von \]]ungfräulich[keit], d. h. von der unmittelbaren Ubereinstimmung zwischen innerer Wahrheit und äußerer Schönheit zeugen, aus ihrer idyllischen Ruhe,7S ihrem ursprünglichen und originalen Zusammenhang, ihrem geschlossenen System und ihrer geordneten Syntax mitten in eine fortgerissen[e]7ehrliche Prosa< - /verlogene Lyrik< dieses von sich aus suggeriert, weil man Heine traditionell diese Oppositionsbildung zuschreibt,83 weil das allgemeine Verständnis des ersten Absatzes der Vorrede dahin geht, weil die Prosa im Gegensatz zur Lyrik tatsächlich auch die Gebrochenheit der Welt als solche zu re82 83
Roland Bartlies: Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1964, S. 67. »Mit Heine konstituiert sich der gleichzeitig formale und ethische Gegensatz: Prosa ist ehrlich, Verse sind verlogen.« (Peter von Matt: Die verdächtige Pracht,
S.36). 150
präsentieren scheint und daher schon früh das Prädikat der Wahrheit für sich reklamiert hat, und schließlich, weil die literaturgeschichtliche Sicht der Dinge die literarische Vorherrschaft der Prosa zu bestätigen scheint, weil diese nämlich bereits lautstark durch Hegel angekündigt worden war, weil sich der Autor Heine zeitweilig von der Lyrik ab- und der Prosa zugewandt hatte und weil er damit im literarischen Trend der Zeit lag. Auch wenn es also so aussieht, als sei die Angelegenheit entschieden, so bedarf sie einer genauen Untersuchung. Denn auch in diesem ersten Absatz der Vorrede gibt es einen Superlativ, der Zweifel hinsichtlich der Echtheit des Phänomens aufkommen lassen könnte. Gemeint ist der Superlativ ehrlichst im Zusammenhang mit der Prosa. Nun mag sich die Sache herunterspielen lassen mit der Begründung, der Superlativ sei vom Verfasser der Vorrede beabsichtigt, bewusst als rhetorisches Mittel eingesetzt, um eine Zuspitzung der Opposition herbeizuführen und auf diese Weise die Prosa eben als klare Siegerin über die Lyrik herauszustellen. Betrachtet man diesen Superlativ allerdings im Zusammenhang mit dem Superlativ des \]]ungfräulich[en] aus dem zweiten Absatz, dann könnte hier auch die Prosa in Bedrängnis geraten, denn auch diese Steigerung hat etwas Forciertes. Und so könnte man analog zur Betrachtung des Begriffs des jungfräulich ste[n] zu dem Schluss kommen, dass auch hier etwas mit dem >eigentlichen< Phänomen nicht stimmt, dass, wie gesagt, auch hier die Echtheit des Phänomens in Zweifel gezogen werden muss. Womit sich die Frage stellt, was es mit der Ehrlichkeit eigentlich auf sich hat. Versteht man Ehrlich-Sein im Sinne von Die-Wahrheit-Sagen, dann geht es aus dieser Sicht bei jenem Ehrlich-Sein darum, eine unmittelbare Ubereinstimmung zwischen Welt und Wort herzustellen, bzw. es geht mit den Worten Jacques Derridas darum, sprechend eine »Präsenz des Sinns« 84 herzustellen. Nun stellt sich allerdings in diesem Fall der Eindruck einer solchen »Präsenz des Sinns« nicht unmittelbar ein, denn der Superlativ des \E\hrlich\en\ bewirkt hier anstelle eines Optimums an Präsenz das Gegenteil: Er erscheint als Ausdruck einer Differenz, einer Differenz zwischen der Funktion und dem Ergebnis des Superlativs. Während nämlich die Funktion des Superlativs im Falle eines positiv konnotierten Adjektivs darin besteht, eine maximale Steigerung der Bedeutung des Adjektivs ins Positive herbeizuführen, damit Primat und Privilegiertheit des durch das Attribut näher bestimmten Satzgliedes herauszustellen und auf diese Weise eindeutige hierarchische Verhältnisse zu schaffen, besteht das Ergebnis 84
Jacques Derrick: Randgänge der Philosophie, S. 309.
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dieser Steigerung in der E r z e u g u n g semantischer Unsicherheit. Z u r ü c k z u führen ist diese semantische Unsicherheit darauf, dass der Superlativ gemäß seiner F u n k t i o n zwar eine maximale Steigerung des Adjektivs ins Positive suggeriert, die Gradierung dieses speziellen Adjektivs in diesem speziellen K o n t e x t aber unnötig b z w . sogar verfehlt erscheint. Z w a r k ö n n te man den Superlativ mit dem A r g u m e n t verteidigen, dass die Gradierung hier nicht eine »absolute[.], sondern [ . . . ] eine[.] relative[.] B e d e u t u n g « 8 ' innehat, dass sie damit also gemäß der F u n k t i o n des Superlativs dem Z w e c k der Abgrenzung, also der A b g r e n z u n g der >ehrlichen Prosa< v o n der >verlogenen Lyrikverlogenen Lyrik< aber lediglich ein einziges Vergleichsobjekt vorliegt. D i e deutlichste A b g r e n z u n g der >ehrlichen Prosa< v o n der >verlogenen L y r i k hätte, so gesehen, der Positiv des Adjektivs ehrlich bewirkt, ein Komparativ hätte die A b g r e n z u n g hingegen nur n o c h v o m Niveau des Verlogenen der L y r i k aus v o r n e h m e n k ö n n e n gemäß der Regel: »Die Komparativform wird auch dann gebraucht, wenn sich der Vergleich nicht auf die Grundstufe des betreffenden Adjektivs bezieht [...] Bei diesem Gebrauch hat der Komparativ nicht steigernde, sondern abschwächende, mindernde, einschränkende Bedeutung [...] Dieser Gebrauch ist vor allem üblich bei bestimmten Gegensatzpaaren. Der Komparativ besser z. B. wird in diesem
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Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, Β. IV, hg. von Günther Drosdowski, Mannheim u. a. 5 1995, S. 295. Peter Eisenberg: Grundriß der deutschen Grammatik, Stuttgart, Weimar 3 1994, S. 242. Ebd., S. 242. Duden. Grammatik, S. 296. 152
Fall nicht auf gut, sondern auf das Gegenwort schlecht bezogen: Dem Kranken geht es heute schon wesentlich besser (aber immer noch schlechter, als wenn es ihm gutginge)«. 89
Ein Komparativ hätte entsprechend anstelle einer Steigerung eine Einbuße der Qualität des Adjektivs und damit auch eine Abschwächung des Gegensatzes zwischen Prosa und Lyrik bewirkt. Der Superlativ aber muss vor diesem Hintergrund Zweifel an der Qualität dieses Qualitätsadjektivs hervorrufen, er hinterfragt mithin nicht nur die vornehmste Eigenschaft dieses Adjektivtyps, sondern nimmt darüber hinaus durch eine maximale Überhöhung eine maximale Unterhöhlung des Ehrlichkeitsbegriffs vor. Die Folge ist Unsicherheit hinsichtlich der Bedeutung des Superlativs, der sich als Mittel der deutlichen und positiven Abgrenzung der Prosa gegenüber der Lyrik gibt, zugleich aber eine kritische Infragestellung der Prosa hinsichtlich ihrer Ehrlichkeit bewirkt und sie damit ganz in die Nähe der ^verlogenen Lyrik< rückt. Dieser Superlativ produziert mithin Zweifel daran, ob es ein intentionales und insofern wahres Sprechen überhaupt geben kann. Bachtin schürt diese Zweifel, wenn er schreibt: »Die Sprache ist kein Neutrum, das rasch und ungehindert in das intentionale Eigentum des Sprechers übergeht; sie ist mit fremden Intentionen besetzt, ja überbesetzt.«' 0
Dieser Superlativ also produziert Zweifel daran, ob es, um im Bild des ersten Absatzes der Vorrede zu bleiben, eine nackte Wahrheit im Sinne sprachlich vermittelbarer Präsenz im Bereich der Literatur überhaupt geben kann, ob Literatur als solche wahrheitsfähig ist.91 Mit anderen Worten: Der Superlativ produziert den Verdacht, dass der Glaube, die Welt könne im Wort unmittelbar, das heißt u. a. korrekt und angemessen repräsentiert werden, »Sprache auch zur Lüge [macht]« - so die Formu89 90 91
Ebd., S. 295. Michail M. Bachtin: Das Wort in der Poesie und das Wort im Roman, S. 185. Vgl. in diesem Zusammenhang das Gedicht »Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen« von Hans Magnus Enzensberger: Weil der Augenblick, / in dem das Wort glücklich / ausgesprochen wird, / niemals der glückliche Augenblick ist. / Weil der Verdurstende seinen Durst / nicht über die Lippen bringt. / Weil im Munde der Arbeiterklasse / das Wort Arbeiterklasse nicht vorkommt. / Weil, wer verzweifelt, / nicht Lust hat, zu sagen: / »Ich bm ein Verzweifelnder.« / Weil Orgasmus und Orgasmus / nicht miteinander vereinbar sind. / Weil der Sterbende, statt zu behaupten: / »Ich sterbe jetzt«, / nur ein mattes Geräusch vernehmen läßt, / das wir nicht verstehen. / Weil es die Lebenden sind, / die den Toten in den Ohren hegen / mit ihren Schreckensnachrichten. / Weil die Wörter zu spät kommen, / oder zu früh. / Weil es also ein anderer ist, / immer ein anderer, / der da redet, / und weil der, / von dem da die Rede ist, / schweigt. / (Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1950-1985, Frankfurt/M. 1986,8. 120). r
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lierung George Steiners, der mit Blick auf Mallarme eine Umkehrung herkömmlicher Vorstellungen vornimmt: »Worten eine Entsprechung zu »den Dingen da draußen« zuzuschreiben, sie anzusehen und zu verwenden, als könnten sie irgendwie für die »Realität« der Welt stehen ist nicht nur eine verbreitete Illusion. Es macht Sprache auch zur Lüge. [...] Die Wahrheit des Wortes ist die Abwesenheit der Welt. [...] Benutzt (mißbraucht) als eine Art darstellerischen Rasters oder Faksimiles »des Wirklichen« ist die Sprache tatsächlich zu Klischee und träger Routine verkommen. Indem Worte für unzugängliche Phänomenalitäten stehen mußten, wurden sie auf korruptes Dienstbotendasein reduziert. Sie taugen nicht mehr für Dichter oder rigorose Denker (wobei Dichtung das rigoroseste Denken darstellt). Erst wenn uns klar wird, daß das, worauf sich Worte beziehen, wiederum Worte sind, daß jedweder Sprechakt mit Referenz auf Erfahrung heißt, »etwas mit anderen Worten zu sagen«, können wir zurückkehren zu einer wahren Freiheit. Allein innerhalb des Sprachsystems besitzen wir Freiheiten m Konstruktion und Dekonstruktion«. 9 2
Die beiden Superlative jungfräulichst[..] und ehrlichst[.] könnten aus dieser Perspektive am Ende darauf aufmerksam machen, dass Sprache in literarischen Texten, die einen intentionalistischen und repräsentalistischen Einsatz der Sprache zu betreiben vorgeben bzw. versuchen, das Erleben des biografischen Subjekts als solches zum Ausdruck zu bringen, zu »Klischee und träger Routine verkomm[t]« und »auf korruptes Dienstbotendasein reduziert« wird. Sprache gerät aus dieser Sicht gerade wegen der suggerierten Präsenz der Welt im Wort bei gleichzeitiger »Abwesenheit der Welt« im Wort in den Bereich der »Lüge«. Ausgehend von einem Wahrheitsbegriff, der auf einer sprachlich vermittelbaren Präsenz beruht, führt der Superlativ des \]]ungfräulich[en] insofern gerade das Verlogene des »Originals«, der Superlativ des \K\hrlich\eri\ hingegen gerade das Verlogene der Prosa vor Augen. Und so könnte man meinen, gemahnen uns die Superlative an diesem Punkt daran, uns damit abzufinden, dass es, so Derrida: »keinen präsenten Text im allgemeinen und selbst keinen gegenwärtigvergangenen Text [gibt]. Der Text läßt sich nicht in der ursprünglichen oder in einer modifizierten Form der Präsenz denken« 93 ;
sie gemahnen uns daran, dass Präsenz literarischen Texten lediglich von außen zugesprochen werden kann bzw., so die Auffassung Bachtins und
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George Steiner: V o n realer Gegenwart, S. i j o f f . Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 323.
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Steiners, dass hinter der Sprache keine Welt, sondern immer wieder nur Sprache zum Vorschein kommt. Die beiden Superlative, die die Präsenzhaftigkeit ins Extrem steigern sollten, provozieren also, vom Ende her gesehen, das Gegenteil, sie erzielen eine Differenz. Die aufgezeigte Differenz zwischen Funktion und Ergebnis der Superlative aber tritt nicht an die Stelle der Präsenz, sie positioniert sich, indem sie die Möglichkeit einer Präsenz als solche in Frage stellt. Zurückzuführen ist dieses Verhalten der Differenz mit den Worten Derridas darauf, dass: »[e]s [...] kein Wesen der differance [gibt], sie (ist) das, was sich in dem als solches ihres Namens oder ihres Erscheinens nicht aneignen lassen kann, sondern was überdies die Autorität des als solches, überhaupt des Anwesens der Sache selbst in ihrem Wesen bedroht. « ? 4
Durch die Differenz, die die beiden Superlative offenbaren, kann man zu dem Schluss kommen, dass im Hinblick auf Literatur ebenso wenig wie \y\ungfräulich\ktit\ »als solche[.]« \K\hrlich\ktit\ »als solche[.]« existiert, dass ebenso wie der Begriff der \J]ungfräulicb[keh]
auch der Begriff der
[E]/?r/zc/?[keit] von vornherein einem verlogenen Kontext angehört, dass ebenso wie die suggerierte \]]ungfräulicb[keit]
originaler erste[r]
Gedichte
die suggerierte [E]/?r/z'd?[keit] der Prosa primär einen ökonomischen Wert darstellt, der einen guten Absatz auf dem literarischen Markt verspricht bzw. einen optischen Effekt, mit dem man kokettieren geht oder mit dem man bewusst einen endgültigen Verlust überspielt. Liest man nun bei Derrida an der oben zitierten Stelle weiter, so stößt man auf den Satz: »Besitzt es [das Wesen der differance] in dem Maße kein eigenes Wesen, so ist impliziert, daß das Spiel der Schrift, sofern dieses die differance einbezieht, weder Sein noch Wahrheit besitzt«. 95
Folgt man Derridas Gedankengang, so könnten die beiden Superlative des \]]ungfräulicb[en]
und \E\brlicb\en\ auf genau dieses »Spiel der Schrift«
verweisen, in dem der Grund für die uranfängliche Differenz zwischen Wort und Welt zu sehen ist. Der Anfangsverdacht würde sich von hier aus bestätigen: Tatsächlich könnten die Superlative darauf verweisen, dass bei aller Unterschiedlichkeit zwischen Lyrik und Prosa
eine wichtige
Gemeinsamkeit besteht, dass weder Lyrik noch Prosa im oben genannten Sinne wahrheitsfähig sind und zwar, weil sowohl bei der Lyrik als auch
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«
Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie, S. 55. Ebd., S. 55. 155
bei der Prosa mächtige Signifikanten im Spiel sind, die die Signifikaten »affizieren«.96 Die Superlative führen nämlich, wenn man so will, symbolisch - am Beispiel des U]ungfräulich[en] und \E\hrliche\n\, das jeweils nicht als das erscheint, was es zu sein vorgibt - die ungeheure Macht der Signifikanten gerade im prosaischen Kontext vor Augen, indem sie sichtbar machen, wie diese Signifikanten superlativisch über ihre Signifikaten hinauswachsen, damit den vermeintlich fest vorgegebenen Bedeutungskern über sich hinaustreiben und so das Spiel der Differenzen initiieren. Die Lyrik würde aus dieser Sicht beim Kampf der Gattungen um den ehrlichsie[n] Platz im Vergleich zur Prosa vermutlich nur deswegen schlechter abschneiden, weil die Macht der Signifikanten hier markanter in Erscheinung tritt und der Verlust der »Präsenz des Sinns« entsprechend offensichtlicher zutage tritt. Vielleicht wäre die Lyrik aber gerade deswegen am Ende wieder die vergleichsweise ehrlichere, denn sie führt durch ihre offensichtliche \G]ebunden\hs\t\, durch die offensichtliche Abhängigkeit der Signifikaten von Reim und Silbenfall[.]97 die Macht der Signifikanten vor Augen, während die Prosa, indem sie neben der rohe[n] Tatsache98 den Gedanken und die Reflexion, den Signifikaten also ganz ins Zentrum ihres Selbstverständnisses stellt und damit einen vergleichsweise intentionalistischen, repräsentalistischen und letztlich instrumentalistischen Sprachbegriff an den Tag legt, diese Macht der Signifikanten zu verbergen sucht. Die Superlative verweisen folglich nicht auf das üblicherweise von literaturtheoretischer Seite vorgebrachte Argument, die Literatur löge nicht, da sie keine Behauptungen aufstelle,99 sich im Regelfall nicht im engeren Sinne wirklichkeitsbezogen, sondern fiktional gebe und sich insofern selbst von jedem Verdacht entlaste100 nach der Devise: »Dichtung gibt 96
Jonathan Culler: Derrick und die poststrukturalistische Literaturtheorie, S. 101. Β. I, S. 15 (Vorrede zur dritten Auflage des BdL (1839)). 98 B. VI/I, S. 645 (»Aufzeichnungen«), 99 Vgl. bereits Philip Sidney: A defence of poetry (1595), hg. von Jan A. van Dorsten, Oxford z i 9 7 i , S. 52. Die Verteidigung der Dichter gegenüber dem platonischen Vorwurf der Lüge beruht auf einem Verständnis der Lüge, nach dem derjenige lügt, der etwas behauptet, von dem er zu wissen meint, dass es nicht wahr ist. I0 ° Kant, Schiller und Hegel betrachten den Schein, der durch Dichtung erzeugt wird, losgelöst von allem Anspruch auf Realität, als Schein und somit nicht als Form einer Läuschung; auch bei Nietzsche findet sich die Aussage: »Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr. Das reine begierdenlose Betrachten ist nur an dem Scheine möglich, der als Schein erkannt wird, der gar nicht zum Glauben verführen will [...]« (Friedrich Nietzsche: KSA, Β. VII, S. 632); vgl. in diesem Zusammenhang neuere Fiktionalitätstheorien, die z. L. dazu tendieren, nicht mehr nach definitiven Fiktionahtätssig97
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sich als Dichtung«. 101 Die Superlative verweisen auf das Argument, Literatur sei von vornherein nicht wahrheitsfähig, weil das Medium der Literatur, die Sprache, sich von vornherein nicht als durchsichtiges Medium erweist, das der Vermittlung einer »Präsenz des Sinns« dient, sondern, wie gesagt, von Beginn an, »die Bedeutung, die sie repräsentieren soll[te], affizieren[d]«, 102 in Erscheinung tritt. Der hier offenbarte »Bruch des Kontraktes zwischen Wort und Welt« aber ist in den Augen George Steiners nicht irgendein Bruch, er ist »der Uberzeugung, daß dieser Vertrag zum ersten Mal in irgend fundamentalem und folgenreichem Sinne während der Jahrzehnte zwischen 1870 und 1940 in Kultur und spekulativem Bewußtsein Europas, Mitteleuropas und Rußlands gebrochen wird. Es ist dieser Bruch des Kontraktes zwischen Wort und Welt, der einen der wenigen echten geistigen Revolutionen in der Geschichte des Westens darstellt und durch den sich die Moderne definiert«.:°3
Aus dieser Sicht hätte die Vorrede zum BdL von 1837 nicht nur deswegen Karriere machen müssen, weil sie so prägnant den im 19. Jahrhundert heranwachsenden Gegensatz zwischen Wahrheit und Schönheit benennt, sie hätte nicht nur wegen der vom Verfasser so souverän und explizit geäußerten Verdachtsmomente gegen die Lyrik bzw. gegen die so genannten schönen Künste für Furore sorgen müssen - ein Verdacht, der, wie der Verfasser der Vorrede selbst und nach ihm viele andere feststellten, gar »kein[en] welthistorische[n] Erkenntnisdurchbruch« 104 darstellt-, sondern sie hätte aus dieser Sicht auch als Kritik an jeder Form »absolutistische[n] Wahrheitsstil[s]« 105 allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehen können
nalen und nach dem Wahrheitswert fiktionaler Äußerungen zu fragen, sondern dem Anspruch auf Wirklichkeitshaltigkeit des Textes nachgehen (vgl. u. a. U w e Japp: Die literarische Fiktion, in: Carola Hilmes u. a.: Dichter lügen, nicht. Uber Erkenntnis, Literatur und Leser, Würzburg 1995, S. 47-58; Hans Ulrich Gumbrecht: Fiktion und Nichtfiktion, m: Funk-Kolleg Literatur, hg. von Helmut Brackert und Eberhard Lämmert, Frankfurt/Main 1977, Β. I, S. 1 8 8 209 oder Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion m der Literatur und Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001). 101
102 103 104 I0J
Harald Weinrich: Linguistik der Lüge, S. 77. Die »literarische Lüge« erfülle deswegen, so Harald Weinrich, nicht den »Tatbestand der Lüge im außerliterarischen Sinne«, weil die »Lügensignale [...] genauso notwendig zur literarischen Lüge [gehör[t]en] wie die Ironiesignale zur Ironie [...] Lügenrede und Lügensignal h[ö]ben einander auf.« (Harald Weinrich: Linguistik der Lüge, S. 72). Jonathan Culler: Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, S. 1 0 1 . George Steiner: V o n realer Gegenwart, S. 127. Peter von Matt: Die verdächtige Pracht, S. Aleida und Jan Assmann: Kanon und Zensur, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.): Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, S. 7—27, hier: S. 21. r
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und zwar gerade im Hinblick auf jene Künste, die sich vom Schönheitsideal lossagten und sich stattdessen Wahrheit auf die Fahnen schrieben. Indem die Vorrede also Zweifel am vermeintlich Echten und Wahren weckt, verweist sie zugleich auf das Emphatische im Verlauf des 18. Jahrhunderts aufgekommener ästhetischer Konzepte wie z. B. das der »Autorschaft«, der »Aura« des »Kunstwerks« oder das der Originalität, sie verweist damit auch auf das Emphatische mit diesen Konzepten verbundener Wertbegriffe, wie z. B. Autonomie, Autorität, Einheitlichkeit, Ganzheitlichkeit, Stimmigkeit, Ursprünglichkeit, Alterität oder Singularität. Die Vorrede zum BdL von 1837 animiert, so gesehen, nicht zuletzt dazu, die Konstituenten einer auf dem Ideal der [J]ungfräulich[keit]
angelegten
Kultur kritisch zu überprüfen. Sie animiert dazu, den durch vermeintliche Präsenzhaftigkeit vermittelten Eindruck von Echtheit (im Sinne von »Authentizität«) und Wahrheit zu analysieren, einen Eindruck also, der lange Zeit eine tragende Rolle im Diskurs der Macht gespielt hat und vermutlich immer noch spielt, auch im Rahmen literaturkritischer Betrachtungen lange Zeit ein ästhetisches und ethisches Wertkriterium darstellte und trotz der im Rahmen dieses Kapitels aufgezeigten Schwierigkeiten immer noch gerne zur Bestimmung der literarischen Qualität insbesondere von Gedichten herangezogen wird.
Die Frage nach den letzten Dingen »Es heißt, das Verfahren der Dekonstruktion bestehe darin, »den Ast abzusägen, auf dem man sitzt. [...] Auch wenn [das] dem gesunden Menschenverstand als Narrheit erscheint, für Nietzsche, Freud, Heidegger und Derrida ist es das gewiß nicht; diese hegen nämlich den Verdacht, daß es keinen >Grund< gibt, auf den man aufschlagen könnte«. 1 0 6
Durch Superlative provoziert, die durch eine maximale Überhöhung eine maximale Unterhöhlung des eigentlichen Phänomens vornehmen, insofern die Idee des Ursprungs von »Grund« auf subvertieren und so »die Unmöglichkeit der Aufrichtigkeit« 107 vor Augen führen, werden nun immer mehr und weiterreichende Verdachtsmomente hervorgerufen, und so lässt sich von hier aus nicht nur die Zuverlässigkeit originaler Erscheinungsbilder literarischer Texte, es lässt sich nicht nur die Zuverlässigkeit dieser literarischen Texte selbst hinterfragen, es lässt sich auch fragen, ob das ursprüngliche Erleben des Dichters, das angeblich die Grundlage 106 107
Jonathan Culler: Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, S. 165!. Niklas Luhmann: Liebe als Passion, S. 154. 158
erste\r\ Gedichte darstellt, so ursprünglich, so echt und einmalig ist, wie es zunächst scheint. Der Verdacht nämlich kommt auf, dass ein solches ursprüngliches Erleben des Dichters, von dem die »Dinge[J da draußen«,108 von dem Blumen, Locke oder Band Zeugnis ablegen sollen, im Sinne eines Gegebenen, eines fest umrissenen Phänomens so superlativisch jungfräulich^...] niemals existiert hat: Der Verdacht also kommt auf, dass mit den Worten Derridas »[d]ie Unmittelbarkeit abgeleitet [ist]. Alles durch das Vermittelnde [beginnt]«.109 Insofern könnte sich der Superlativ als Hinweis auf die »postmoderne Haltung« des Verfassers der Vorrede verstehen lassen, die, so Umberto Eco: »[...] wie die eines Mannes [erscheint], der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: »Ich liebe dich inniglich«, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: »Wie jetzt Liala sagen würde: ich liebe dich inniglich.« In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck gebracht hat, daß man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er gleich wohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß er sie liebe, aber daß er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld liebe.« 110
Der Superlativ des \j\ungfräulicb\er[\ fasst aus dieser Sicht die Situation der Entstehung erste[r] Gedichte mit Unschuldsanspruch »in einer Zeit der verlorenen Unschuld« zusammen - eine Situation, die etwas >AnachronistischAnachronistischAnachronismen< zum Trotz zu einer »hermeneutischen virginite«,114 zu einer unschuldigen Annäherung an ersie[.] Gedichte verführt. Uns rührt der Mißmut des Verfassers der Vorrede angesichts des durch die »Zeit« verursachten Verlusts der Unschuld erste[r] Gedichte, und wir leiden bereitwillig mit ihm mit. Die Rührung aber, die uns angesichts des Schmerzes des Verfassers der Vorrede über den Verlust der Unschuld überkommt, sollte uns am Ende dieses Kapitels skeptisch stimmen und uns vor die Frage stellen, warum uns das [S]chauerliche[.] des Mißmut\ß\ eben nicht zum Lachen bringt oder gleichgültig lässt, warum, so Helmut Lethen, »vor allem Schmerz in unserer Kultur als ein sicherer Indikator eines authentischen Ausdrucks gilt«.115 Unsere Rührung könnte uns insofern als Indiz für die kulturelle Vorgeprägtheit unserer eigenen großen Sehnsucht nach »Echtheit« und Wahrheit, nach Ursprünglichkeit, Reinheit, Unschuld und Unmittelbarkeit dienen, deren engen Radius wir aus dieser großen Sehnsucht heraus zu vergrößern bereit sind, gemäß der Devise: Auch in gebrochener Form sei der Mensch gegenwärtig echt, d. h. ursprünglich, rein, unschuldig und unmittelbar. Unsere Rührung könnte uns aber auch gerade wegen der >Anachronismen< zur folgenden von Eco formulierten »Moral« verleiten: »Es gibt obsessive Ideen, sie sind niemals privat, die Bücher sprechen direkt miteinander, und eine wahre detektivische Untersuchung muß beweisen, daß immer wir die Schuldigen sind«. 1 1 6
Und vielleicht verweist die Rede vom jungfräulichsten Reiz, die aus dieser Perspektive einerseits das Supplementäre, Sekundäre und Defizitäre des Eigentlichen benennt, andererseits auf die Attraktion aufmerksam macht, die von jungfräulich[en] Vorstellungen ausgeht, vielleicht verweist die Rede am Ende auf eben diese unsere »Schuld[...]«, die darauf beruht, dass das Supplement »weder die Anwesenheit noch die Abwesenheit ist und [...] folglich an unsere Lust wie an unsere Jungfräulichkeit rührt«.117 Aus meinen Tränen sprießen Viel blühende Blumen hervor, Und meine Seufzer werden ein Nachtigallenchor.
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Norbert Altenhofen »Ästhetik des Arrangements«, S. 60. Jacques Derrida: Scribble. Vorwort zu: William Warburton. Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter, Frankfurt/Berlm/Wien 1980, S. X V I I . Helmut Lethen: Versionen des Authentischen, S. 221. Umberto Eco: Nachschrift zum »Namen der Rose«, S. 90. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 268.
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Und wenn du mich lieb hast, Kindchen, Schenk ich dir die Blumen all, Und vor deinem Fenster soll klingen Das Lied der Nachtigall." 8 Die Rose duftet - doch ob sie empfindet Das was sie duftet, ob die Nachtigall Selbst fühlt, was sich durch unsre Seele windet Bei ihres Liedes süßem Widerhall; Ich weiß es nicht. Doch macht uns gar verdrießlich Die Wahrheit oft! Und Ros und Nachtigall, Erlögen sie auch das Gefühl, ersprießlich Wär solche Lüge, wie m manchem Fall —1
Zusammenfassung Rückblickend lassen sich Befangenheit, Unbehagen und schauerliche[r] Mißmut des Verfassers der Vorrede, aber auch die im ersten Absatz geäußerte Abneigung gegen alle gebundene Rede darauf zurückführen, dass das Wort nicht erst in dem Moment, da es, vom Dichter für die Öffentlichkeit freigegeben, offensichtlich ein Eigenleben entwickelt, dass es sich also nicht erst in der gedruckten Version aus jeder Form der Ursprünglichkeit, Reinheit, Unschuld und Unmittelbarkeit löst und damit in den Augen des Dichters seine \]]ungfräulich[keit] verliert, sondern darauf, dass es von Beginn an ein >gebrochenes< Wort war. Entgegen der Behauptung des Verfassers der Vorrede hätte also nicht der Druck das Unschuldweiß der Gedichte in grell[es] [S]chwarz verwandelt, hätten nicht die Mechanismen der Druckindustrie, die von der Bearbeitung und Bereinigung des ursprünglichen Erscheinungsbildes der Gedichte bis zu deren Auslieferung an ein Massenpublikum reichen, diese ersten Gedichte um ganz wesentliche Attribute gebracht, von Beginn an wäre die vermeintlich ursprüngliche Präsenz den Gedichten nicht eingeschrieben gewesen; von Beginn an wäre ein »Text-Äußeres« im Sinne einer »psycho-biographische[n] Realität« 11 ' nicht direkt zu Buche geschlagen, wäre »[d]as Namenlose des geschriebenen ich, die Uneigentlichkeit des ich schreibe [...] die >normale Situa"8B.I,S.75.
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Jacques Derrida: Grammatologie, S. 274; vgl. in diesem Kontext auch Banfield, die von der ecriture schreibt, sie sei »ein Produkt, das mit der Person, die es hervorbrachte, und der Tätigkeit dieser Person nichts mehr zu tun« habe (Ann Banfield: Ecriture, narration and the grammar of French, in: Jeremy Hawthorn (Hg.): Narrative: From Malory to Motion Pictures, London, 1985, S. 13). 161
tion