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German Pages 158 [159] Year 2022
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Rosa Maria Marafioti
Heideggers und Gadamers Wiederentdeckung der φρόνησις
ALBER PHILOSOPHIE
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Rosa Maria Marafioti Heideggers und Gadamers Wiederentdeckung der φρόνησις
ALBER PHILOSOPHIE
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Rosa Maria Marafioti
Heideggers und Gadamers Wiederentdeckung der φρόνησις Mit einem Vorwort von Christoph Jamme und drei unveröffentlichten Briefen von Hans-Georg Gadamer an Hermann Heidegger
Verlag Karl Alber Baden-Baden
Rosa Maria Marafioti Heidegger’s and Gadamer’s Rediscovery of φρόνησις The «prehistory» of the «rehabilitation of practical philosophy», which starts in Germany in the 1960s and promotes a reappropriation of Aristotle’s thought, stems from Heidegger’s «Hermeneutics of facticity». In the early 1920s, proceeding from contemporary issues and in the light of his own «question of Being», Heidegger «destroys» Aristotle’s writings to make them speak anew. Although he assigns a key role to φρόνησις as «sight» and «conscience» of human Dasein, which originally conducts itself in the world in a practical way, Heidegger leaves the ethical-political character of Aristotle’s virtue out of consideration. On the contrary, Gadamer brings this feature of φρόνησις to the forefront. Indeed, he makes Heidegger’s reading of Aristotle fruitful for Hermeneutics that interprets understanding both as happening of Being and as interminable situational knowledge, which characterizes human sciences. Philosophical Hermeneutics of the 20th century proves to be one of the most crucial turning points in Aristotle’s «history of effect», particularly since it qualifies itself as «practical philosophy». Hermeneutics thus elevates φρόνησις to a model of «responsible reasonability», which should direct the current application of scientific findings to individual and social life through technology. Martin Heidegger’s decisive influence on Gadamer as well as the difference of Aristotle’s interpretation by these two thinkers comes out clearly in Gadamer’s letters to Hermann Heidegger that are published here for the first time. The Author: Rosa Maria Marafioti (Taurianova, 1979) is a researcher (RTDB, tenured professor) of «History of Philosophy» in the Department of Letters, Philosophy and Communication at the University of Bergamo. She obtained a Ph.D. in «Philosophical Methodology» and received the National Scientific Habilitation for «History of Philosophy», «Theoretical Philosophy», and «Aesthetics and Philosophy of Language». She has studied and worked in Messina, Freiburg, Tübingen, Fribourg, Budapest, and Marbach. Among her publications are the translation of Heidegger’s writings on arts (Oltre l’estetica. Scritti sull’arte, 2010) and the monographs La questione dell’arte in Heidegger (2008), Il ritorno a Kant di Heidegger. La questione dell’essere e dell’uomo (2011), and Gli Schwarze Hefte di Heidegger. Un «passaggio» del pensiero dell’essere (2016).
Rosa Maria Marafioti Heideggers und Gadamers Wiederentdeckung der φρόνησις Die »Rehabilitierung der praktischen Philosophie«, die im Deutschland der 1960er Jahre begann und eine Wiederaufnahme des Denkens des Aristoteles forderte, findet in Heideggers »Hermeneutik der Faktizität« eine Art Vorgeschichte. Anfang der 1920er Jahre »destruiert« Heidegger die aristotelischen Texte, um sie ausgehend von den Problemen der Gegenwart und unter der Leitung seiner eigenen Seinsfrage neu zum Sprechen zu bringen. Trotz der Schlüsselstellung, die er der φρόνησις als »Sicht« und »Gewissen« des menschlichen Daseins einräumt, das sich ursprünglich praktisch in der Welt verhält, klammert Heidegger den ethisch-politischen Charakter der aristotelischen Tugend aus. Dieser wird dagegen von Gadamer in den Vordergrund gerückt, indem er Heideggers Aneignung des Aristoteles fruchtbar macht für eine Hermeneutik, die das Verstehen einerseits als Seinsgeschehen, andererseits als unabschließbares situationsgebundenes Wissen und eigene Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften erläutert. Die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts erweist sich als einer der stärksten Angelpunkte der »Wirkungsgeschichte« des Aristoteles, zumal sie sich als »praktische Philosophie« kennzeichnet, die die φρόνησις zum Vorbild einer »verantwortlichen Vernünftigkeit« erhebt, welche die Weise leiten soll, wie die Ergebnisse der Wissenschaften durch die Technik auf das individuelle und soziale Leben angewendet werden. Der entscheidende Einfluss Martin Heideggers auf Hans-Georg Gadamer, aber auch der Unterschied zwischen den von diesen Denkern ausgearbeiteten Auslegungen des Aristoteles geht deutlich aus den Briefen Gadamers an Hermann Heidegger hervor, die im Anhang zum ersten Mal veröffentlicht sind. Die Autorin: Rosa Maria Marafioti (Taurianova, 1979) ist Forscherin (RTDB, TenureTrack-Professorin) für Philosophiegeschichte an der Fakultät für Philologie, Philosophie und Kommunikationswissenschaft der Universität Bergamo. Sie hat in »Methodologie der Philosophie« promoviert und sich für Philosophiegeschichte, Theoretische Philosophie sowie Ästhetik und Sprachphilosophie habilitiert. Sie studierte und forschte in Messina, Freiburg, Tübingen, Fribourg, Budapest, Marbach. Zu ihren Veröffentlichungen gehören die Übersetzung von Heideggers Schriften zur Kunst (Oltre l’estetica. Scritti sull’arte, 2010) und die Monografien La questione dell’arte in Heidegger (2008), Il ritorno a Kant di Heidegger. La questione dell’essere e dell’uomo (2011) und Gli Schwarze Hefte di Heidegger. Un «passaggio» del pensiero dell’essere (2016).
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www.verlag-alber.de ISBN 978-3-495-49250-5 (Print) ISBN 978-3-495-99970-7 (ePDF)
Es ist nicht genug zu wissen – man muss auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen – man muss auch tun. Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre
Meinen Meistern und Schülern für all das, was ich von ihnen gelernt habe
Inhalt
Vorwort von Christoph Jamme
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »Rehabilitierung der praktischen Philosophie«: Anlass, Vorgeschichte und Ziel . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Teil Phänomenologische Interpretationen des und zu Aristoteles I. Kapitel Aristoteles in Heideggers Durchgang zur Ausarbeitung der Seinsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Neustellung der aristotelischen Frage in der Hermeneutik der Faktizität . . . . . . . . . . . . . . 2. Die κίνησις als vereinigender Sinn des Lebens . . . . 3. Die ἀρεταὶ διανοητικαί als entdeckende Verhaltungen eines zeitlich-handelnden Wesens . . . . . . . . . . . 4. Die ἀλήθεια πρακτική als »Vollzugswahrheit« des strebend-vernünftigen Menschen . . . . . . . . . . .
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II. Kapitel Die Ethik des Aristoteles im Gesichtskreis der Ontologie des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Erwerb der ἀρεταὶ ἠθικαί durch die Erschlossenheit der Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die ἕξις προαιρετική im Augenblick der »Wieder-holung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 49 55 9
Inhalt
3.
Das zwiespältige Verhältnis von φρόνησις und σοφία: Angst versus εὐδαιμονία . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Teil Die philosophische Hermeneutik als Wiederaufnahme der praktischen Philosophie des Aristoteles III. Kapitel Gadamers Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein Gespräch mit Aristoteles durch Heidegger hindurch und über ihn hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das »phronetische« Wissen der Geisteswissenschaften als Grundzug eines geschichtlichen Seins . . . . . . . . . . 3. Das sinnschaffende Selbstverständnis des praktischen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die πρᾶξις als Auszeichnung des Menschen und die Universalität der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . IV. Kapitel Zur Neubelebung der φρόνησις als »verantwortlicher Vernünftigkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die »Magd-Funktion« der Ethik des Aristoteles und der Hermeneutik Gadamers . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die hermeneutische Zirkelhaftigkeit der ἐπιστήμη πρακτική . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konvention versus Konformismus im »Zeitalter der Wissenschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die συνθήκη als Sprachgeschehen erweiterbarer Horizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lehre des Aristoteles und die Erziehung zur Solidarität . .
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110 110
Inhalt
Dokumentarischer Anhang Drei unveröffentlichte Briefe von Hans-Georg Gadamer an Hermann Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . Brief vom 29.03.1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . Brief vom 16.07.1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . Brief vom 21.08.2000 . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . 3. Abkürzungs- und Siglenverzeichnis
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Personenregister
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Vorwort
Das Thema der vorliegenden Studie, die Rezeption des aristotelischen Begriffs der φρόνησις bei Heidegger und Gadamer, scheint ein philosophiehistorisches Spezialproblem des 20. Jahrhunderts zu behandeln, ist in Wahrheit aber doch ungleich mehr, berührt es doch nicht nur die Ursprünge der von Manfred Riedel Anfang der 1970er Jahre ausgerufenen »Rehabilitierung der praktischen Philosophie«, sondern die Geburtsstunde der Grundeinsicht von Heideggers Philosophie sowie die Entstehungsgeschichte der Hermeneutik HansGeorg Gadamers. Gadamer kommt zu Heidegger genau zu dem Zeitpunkt, als dieser durch eine phänomenologische Neuinterpretation des Aristoteles zu seinem eigenen philosophischen Denkweg gefunden hat – nämlich Anfang der 1920er Jahre. Gadamer lernte Heidegger 1923 noch in Freiburg kennen und nahm an seinem Seminar über die Nikomachische Ethik des Aristoteles teil, sodann an der Vorlesung Hermeneutik der Faktizität, die die erste Umweltanalyse im Sinne der Vorhandenheitsanalyse von Sein und Zeit enthält. Seit 1921 hat Heidegger seine Philosophie in der Auseinandersetzung mit Aristoteles entwickelt; das geplante Buch über Aristoteles ist dann in die Abhandlung Sein und Zeit eingegangen, die freilich vor dem entscheidenden dritten Kapitel abbrach. Aus verschiedenen Quellen wie z. B. dem sogenannten »Natorp-Manuskript« (vom Oktober 1922) und der Vorlesung vom Sommersemester 1922 Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles (Gadamer bekam diese damals zu lesen) wissen wir, worum es in dem geplanten Buch gehen sollte, nämlich um eine Interpretation des 6. Buches der Nikomachischen Ethik und des 9. Buches der Metaphysik. Die Vorlesung vom Winter 1921/22 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles stellt wiederum die Einleitung zu diesen Aristoteles-Interpretationen dar. Heideggers Interesse gilt der aristotelischen Idee des praktischen Wissens: Aristoteles fordert für die situationsgebundene πρᾶξις 13
Vorwort
einen eigenen λόγος und einen eigenen Wahrheitsbezug, den er »φρόνησις« nennt. Heidegger geht insofern über Aristoteles hinaus, als er nicht mehr wie dieser sagt, die φρόνησις sei wichtig für den Menschen, weil er im Zufälligen lebe, und sie werde überboten von der σοφία, die auf Ewiges ziele, sondern für Heidegger ist die φρόνησις das Gewissen bzw. das »Gewissen-haben-wollen« (Sein und Zeit), das heißt die höchste Zuspitzung, zu der Bewusstsein finden kann. Das war, wie Gadamer in seinen Erinnerungen an Heideggers Anfänge schreibt, seine These von Anfang an, nämlich Aristoteles in die christliche Botschaft hineinzulesen und ihn aus dem (neu)scholastischen Korsett zu befreien. In einen größeren Rahmen gestellt wird das Ganze dann in der Marburger Vorlesung von 1924/25 über Platons Sophistes, die im ersten Drittel von Aristoteles handelte und zu deren Hörern nicht nur Gadamer, sondern auch Hans Jonas und Hannah Arendt gehörten. Heidegger sah immer seinen eigenen Denkweg genau in dieser Zeit, um 1923/24 herum, beginnen. »Erst in Marburg«, so Gadamer, »entwickelt sich seine Auseinandersetzung mit der Metaphysik in der Richtung, daß er die Fortbildung der Seinsgeschichte in der Neuzeit als Geschichte der Seinsvergessenheit erkannte, so daß der Rückgang auf den Anfang ihm erst als sein eigener wirklicher Weg erschien, den er an der ›Physik‹ und ›Metaphysik‹ des Aristoteles wiedererkannte.« 1 Auch hier sagt Heidegger, dass Aristoteles mit der φρόνησις »auf das Phänomen des Gewissens gestoßen ist. Die φρόνησις ist nichts anderes als das in Bewegung gesetzte Gewissen, das eine Handlung durchsichtig macht.« 2 Die so verstandene φρόνησις wird der τέχνη kontrastiert – als ein nichtobjektivierbares Wissen, ein Wissen in der konkreten Existenzsituation. Dies alles zeichnet Rosa Marafioti sorgfältig nach. Im zweiten Teil ihrer Arbeit zeigt sie dann, wie Gadamer seine Philosophie unter dem Einfluss Heideggers entwickelt hat, aber auch in Abstoßung von ihm. »Ich war klassischer Philologe geworden, und da konnte mich Heideggers Plato-Deutung nicht überzeugen« 3, hat Gadamer im Rückblick auf diese Zeit einmal bemerkt. Das Zentrum des vorliegenden Buches liegt in der These, dass Gadamer eine neue Begründung der Geisteswissenschaften von Aristoteles her versucht. Gadamer, so zeigt Rosa Marafioti sehr überzeugend, lernt zunächst von Heidegger 1 2 3
EHA, 20. GA 19, 56. FED, 126.
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Vorwort
zweierlei, einmal die phänomenologische Deutung Platons, die in seine Habilitation über den Dialog Philebos mündet, außerdem das Interesse an der aristotelischen Kritik an Platons Idee des Guten. Leitend wird für Gadamer die Untersuchung der aristotelischen Bestimmung des Guten für den handelnden Menschen. Dabei versucht er eine Verbindung der aristotelischen Ethik mit der platonischen Dialektik und im Zusammenhang damit eine Aufwertung der Rolle des von Heidegger vernachlässigten »Mitseins«. Gadamer studiert erneut klassische Philologie und wendet sich ab ca. 1935 dann wieder Aristoteles zu. Diese neuerliche Zuwendung gipfelt, wie das vorliegende Buch sehr deutlich zeigt, in der Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend«. Der von Heidegger ausgeklammerte ethisch-politische Charakter der Tugend der φρόνησις wird von Gadamer in den Vordergrund gerückt und Hermeneutik als »phronetisches« Wissen bestimmt. Im Paragrafen zu Aristoteles in Wahrheit und Methode misst er der φρόνησις eine große Bedeutung zu als »sittliches Wissen« und rekonstruiert die aristotelische Abgrenzung der φρόνησις von der τέχνη. »Die aristotelische Analyse [der φρόνησις, C. J.]«, so die These Gadamers in Wahrheit und Methode, zeige sich »als eine Art Modell der in der hermeneutischen Aufgabe gelegenen Probleme« 4. Rosa Marafioti zeigt eine Fülle von Analogien auf zwischen dem hermeneutischen Verstehen und dem aristotelischen praktischen Wissen, d. h. zwischen Hermeneutik und praktischer Philosophie. Innovativ ist dabei vor allem, dass sie das, was Gadamer bei dieser Analogie oft nur im Ungefähren lässt, näher ausführt und im gadamerschen Sinne weiterdenkt. In dem 1978 gehaltenen Vortrag Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles hinterfragt Gadamer die Vorrangstellung der σοφία gegenüber der φρόνησις und versucht, die φρόνησις als »verantwortliche Vernünftigkeit« neu zu beleben. Die Arbeit wirft spannende Fragen auf, vor allem die nach der Aktualität der praktischen Philosophie. Deutlich wird, dass die aristotelische Einheit von Ethik, Politik und Ökonomik zerbrochen ist und wir es bis heute, folgt man der Analyse von Hannah Arendt, mit einem degenerierten Begriff von πρᾶξις zu tun haben, der das Handeln auf das Herstellen und dann auf die Arbeit verengt und die Funktionalität als oberstes Ziel hat. Für Heidegger gipfelt die heutige Version der ποίησις in der Maschinentechnik. Lässt sich, so fragt 4
GW 1, 329.
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Vorwort
Rosa Marafioti am Schluss ihrer Arbeit, dennoch der aristotelische Begriff der φρόνησις aktualisieren, lässt sich die Lehre des Aristoteles für eine Erziehung zur Solidarität fruchtbar machen? Marafioti sieht die Möglichkeit in dem von Gadamer hochgehaltenen Begriff der »Offenheit« (für den Anderen). Man müsste, so wird aus der vorliegenden Studie deutlich, die Hermeneutik Gadamers zu einer interkulturellen Hermeneutik weiterdenken und müsste eine differenziertere Theorie von Technik und Wissenschaft entwickeln, als sie Heidegger vorgelegt hat. Christoph Jamme
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Einleitung Die Zukunft zeigt sich uns, lange bevor sie eintritt. Rainer Maria Rilke
Die »Rehabilitierung der praktischen Philosophie«: Anlass, Vorgeschichte und Ziel Anfang der 1960er Jahre – anlässlich der Veröffentlichung von Hannah Arendts Abhandlung The Human Condition 5 (1958), HansGeorg Gadamers Buch Wahrheit und Methode (1960) (das den Paragrafen Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles 6 enthält) und Joachim Ritters Aufsatz Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles 7 (1960) – begann eine Debatte um die Dringlichkeit einer »Erneuerung« der praktischen Philosophie, die zwanzig Jahre lang vor allem in Deutschland geführt wurde und den epistemologischen Status sowie die Aufgaben der praktischen Philosophie zum Thema machte. Die Richtungen, in denen sich diese Debatte während ihres ersten Jahrzehnts entwickelte, treten in den Aufsätzen deutlich hervor, die in den beiden von Manfred Riedel herausgegebenen Bänden mit dem Titel Rehabilitierung der praktischen Philosophie 8 (1972–1974) gesammelt sind. Hannah Arendt: The Human Condition. University of Chicago Press: Chicago 1958; überarbeitete erste deutsche Ausgabe: Vita activa oder vom tätigen Leben. Kohlhammer: Stuttgart 1960 (im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Piper: München u. Zürich 8 1994). 6 GW 1, 317–329. 7 Joachim Ritter: Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. 46 (1960), 179–199 (im Folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck in R2, 479–500). Vgl. ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1969, darin enthalten: »Politik« und »Ethik« in der praktischen Philosophie des Aristoteles (1967), 106–132. 8 R1 und R2. Einige der hier veröffentlichten Arbeiten waren schon in den 1960er Jahren erschienen, aber sie wurden von Ritter wegen ihrer bedeutenden Wirkung hinsichtlich der Neubestimmung der praktischen Philosophie wieder abgedruckt. Die Wendung, mit der die Bände von Riedel betitelt sind und die dadurch zur Bezeichnung für die Wiederaufnahme der praktischen Philosophie wurde, tauchte bereits 1963/64 5
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Einleitung
Die Autoren der beiden Sammelbände gingen vor allem auf Kant und Aristoteles zurück, um Probleme zu behandeln, die die »Hegelrenaissance nach 1945, die Rezeption der angelsächsischen MetaEthik, der ›operative‹ Ansatz in der Wissenschaftstheorie und« die »›kritisch[e] Theorie‹« 9 (die die Theorie-Praxis-Problematik unbewältigt hinterlassen hatte) nicht ganz befriedigend gelöst hatten. Sie setzten sich zum Ziel, »die Geltung von Normen des menschlichen Handelns […] sowie das Abwägen und Wählen von Handlungszielen […] zu begründen« 10. Eine besondere Aufmerksamkeit schenkten sie dem gesellschaftlichen Leben, um zur Überwindung der Krise beizutragen, in die die Politik dadurch geraten war, dass sie auf die »Politologie« – die systematische und wertfreie Planung des menschlichen Handelns – zurückgeführt worden war oder sich gar in Ideologie aufgelöst hatte. Die kritische Beurteilung der zeitgenössischen Auffassung von Politik, die die Vertreter der »Rehabilitierung der praktischen Philosophie« äußerten, ist ausgehend von den Motiven nachzuvollziehen, die diese »Rehabilitierung« veranlasst haben und die auf die unmittelbare Nachkriegszeit zurückgehen. Damals implizierte der Versuch, die Aufarbeitung der Erfahrung des Totalitarismus zu beginnen und ein demokratisches Gemeinwesen zu bilden, nicht nur, dass die Frage nach dem Wesen des Politischen neu gestellt wurde, sondern auch eine Neubegründung der Politikwissenschaft als solcher. 11 Unter denjenigen, die Gegenstand und Methode einer »Wissenschaft« von der Politik definieren wollten, nahmen einige den Maßstab von der in Amerika vorherrschenden neopositivistischen »political science« und bestimmten die Politik als eine am neuzeitlichen Ideal methodischer Exaktheit orientierte Disziplin. Sie verfuhren nur scheinbar anders als diejenigen, die eine »soziologische« Moralbegründung vertraten, die experimentell-empirisch gemäß der
bei Karl-Heinz Ilting auf. Zur Genesis, zur Entwicklung und zu den Auslegungsrichtungen der »Rehabilitierung« der praktischen Philosophie vgl. Franco Volpi: Filosofia pratica, §§ 1–3. In: Treccani. Enciclopedia del Novecento. II Supplemento (1998), http:// www.treccani.it/enciclopedia/filosofia-pratica_%28Enciclopedia-del-Novecento%29/ (letzter Zugriff am 28. 02. 2022). 9 Manfred Riedel: Vorwort. In R1, 9–12, hier 11. 10 Ibidem. 11 Vgl. Thomas Gutschke: Aristotelische Diskurse: Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. J. B. Metzler: Stuttgart u. Weimar 2002, 190 f.
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Die »Rehabilitierung der praktischen Philosophie«
Methodologie der Naturwissenschaften hätte durchgeführt werden sollen. 12 Von diesem szientistischen Ansatz kehrten sich andere Forscher ab, die eine Begründung der Politikwissenschaft durch eine Reflexion über ihre Herkunft und Geschichte unternahmen. 13 Sie wandten sich erneut Aristoteles zu, der die Politik auf die Seinsverfassung des Menschen als vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen, das sich erst in der Gesellschaft bzw. der πόλις verwirklichen kann, gegründet 14 und sie zusammen mit der Ethik und der Ökonomik ins Forschungsfeld der »praktischen Wissenschaft« – der ἐπιστήμη πρακτική – eingegliedert hatte. An die Überlegungen von Autoren wie Dolf Sternberger, Siegfried Landshut und Eric Voegelin, die die Politikwissenschaft als Teil der praktischen Philosophie wiederentdeckten, knüpften diejenigen Vertreter der »Rehabilitierung der praktischen Philosophie« an, die eine »Rückkehr« zu Kants Moralphilosophie als ungenügend ansahen, um dem gegenwärtigen Zeitalter eine ethisch-politische Orientierung anzubieten. Diese Philosophen erkannten dabei Kants Verdienste durchaus an. In den Aufsätzen Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik (1963) und Aristoteles und die imperativische Ethik (1989) betonte nämlich beispielsweise Gadamer, dass Kant »im Zeitalter der modernen Wissenschaft […] die Grundfrage der praktischen Philosophie«, d. h. die Frage, wie diese Disziplin, die als solche Theorie sei, hilfreich für die sittlich-politische Praxis sein könne, »erstmals wieder aufgedeckt« 15 habe. Er habe aber nicht auf die Zu einer Darstellung und Widerlegung der These, die Moral lasse sich durch die Mittel der empirischen Sozialforschung begründen, vgl. Gernot Reibenschuh: Warum moralisch sein? Zur Kritik soziologischer Moralbegründung. In R2, 85–118. 13 Vgl. Wilhelm Hennis: Politik und praktische Philosophie. Eine Abhandlung zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft. Luchterhand: Neuwied 1963; Hans Maier: Politische Wissenschaft in Deutschland: Lehre und Wirkung. Piper: München u. Zürich 1969 (erw. Aufl. 1985); Dieter Oberndörfer: Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 21966. 14 Vgl. Ritter: Zur Grundlegung. A. a. O., 493, wo die Zusammengehörigkeit der beiden aristotelischen Definitionen des Menschen als ζῷον πολιτικόν und ζῷον λόγον ἔχον (Pol., Α, 2, 1253 a; Eth. Nic., Ι, 9, 1169 b 18; Met., Α, 2, 282 b) mit der Feststellung erläutert wird, dass »die allen Menschen eigene potentiale Natur nur aktual zu werden […] vermag, wenn es die Polis gibt«. Indem Ritter hinzufügt, der Mensch sei »das Wesen, das zur Verwirklichung seiner Natur auf sie [die Polis] verwiesen ist«, verrät er, dass er Schuldner Heideggers bleibt, bei dem er in Marburg studiert hatte. 15 AiE, 386 f.; vgl. MpE, 176. 12
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Einleitung
»Reinheit« der Ethik verzichtet, indem er die Gebote der Sittlichkeit den Imperativen der Klugheit oder der Geschicklichkeit entgegengesetzt habe 16 und die »praktische Weltweisheit«, die sich im Zeitalter der Aufklärung als eine höhere Form der Moralität ausgegeben habe, unter die pragmatische Anthropologie und nicht unter die Moralphilosophie habe fallen lassen. Gegen den »Wissenshochmut der Aufklärung« habe Kant schließlich bewiesen, dass die theoretische Vernunft keine begriffliche Begründung im Bereich der Moral leisten könne. Somit habe er »die sittliche Aufgabe gegenüber einer wachsenden wissenschaftlich-technischen Machterweiterung zur Geltung« 17 gebracht. Erst die Nachfolger Kants hätten den Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen so ausgeweitet, dass sie eine apriorische Ableitung der Resultate der naturwissenschaftlichen Forschung unter teleologischen Gesichtspunkten beansprucht hätten. Dies habe zur Infragestellung des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis geführt. In seinem Aufsatz Ist »praktische Philosophie« eine Tautologie? (1972) bemerkte Helmut Kuhn, dass sich in der entstehenden Industriegesellschaft des 18. Jahrhunderts eine Umkehrung der traditionellen Rangordnung von Theorie und Praxis samt der Verwandlung der Letzteren in Poiesis vollzogen habe. Er schreibt: »Die Produktion« wurde »als die fundamentale, sein geschichtliches Wesen enthüllende Tat des Menschen angesehen […]. Damit war die bislang festgehaltene Einsicht in den Vorrang der Theorie gegenüber der Poiesis, des Erkennens gegenüber dem Machen preisgegeben.« 18 Während der Geist bei Hegel noch das Subjekt der Produktion gewesen sei, hätten die Kritiker des deutschen Idealismus schließlich auch ihn zugunsten des bloßen Prozesses überwunden, »dem in der menschlichen Praxis die ›Tätigkeit‹« 19 entspreche: Es bleibe nur ein anonymes, automatisches Tun, das das Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft lenke. In den Arbeiten Ein programmatischer Aufriß der Problemlage und systematischen Ansatzmöglichkeiten praktischer Philosophie (1972) und Theoretische und praktische Wahrheit (1974) zitierten Helmut Fahrenbach und Fernando Inciarte Marx’ Ausspruch: »Die Philo-
Vgl. AiE, 381 f.; MpE, 187. AiE, 394. Vgl. 387 und Immanuel Kant: Vorrede zur zweiten Auflage. In KW 3, B XXVIII–B XXX, 31 f. 18 Helmut Kuhn: Ist »praktische Philosophie« eine Tautologie? In R1, 57–78, hier 76. 19 Ebd., 78. 16 17
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Die »Rehabilitierung der praktischen Philosophie«
sophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern« 20 als Zeugnis dafür, dass die Praxis im 19. Jahrhundert das Voraussetzungs- und Bezugsfeld der Theorie geworden sei, und deshalb habe die Philosophie ihre Verwirklichung in der Praxis gesucht und sich endlich in ihr aufgehoben. 21 Die Denker, die für eine »Rückkehr« zu Aristoteles plädierten und deswegen als »Neoaristoteliker« bezeichnet werden können, 22 rekonstruierten die Etappen, die zur Krise der Praxis als des freien Handelns des Menschen in der Gesellschaft und schließlich zur Auflösung der Philosophie als solcher geführt hätten, und hielten sie für ein allmähliches Sich-Entfernen von der aristotelischen Auffassung der praktischen Philosophie. 23 Fast alle von ihnen erwähnten die industrielle Revolution als den Wendepunkt, der die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft als System der Bedürfnisse verursacht habe, in dem der Mensch auf ein durch Arbeit und Nutzung charakterisiertes Lebewesen reduziert worden sei. 24 Der Staat als die politische RegeKarl Marx: Thesen über Feuerbach. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus. Dietz: Berlin. Bd. 3, 1978, 7. 21 Vgl. Helmut Fahrenbach: Ein programmatischer Aufriß der Problemlage und systematischen Ansatzmöglichkeiten praktischer Philosophie. In R1, 15–56, hier 20 f.; Fernando Inciarte: Theoretische und praktische Wahrheit. In R2, 155–170, hier 155. 22 Für einen Überblick vgl. Franco Volpi: Réhabilitation de la philosophie pratique et néo-aristotélisme. In: Alonso Tordesillas (éd.): Aristote politique. Études sur la «Politique» d’Aristote. Presses universitaires de France: Paris 1993, 461–484; John R. Wallach: Contemporary Aristotelianism. In: Political Theory. 20 (1992), 613–641; René Weiland: Bruch und Vor-Bild. Auf neoaristotelischer Spur. In: Merkur. 43 (1989), 358–365. 23 Anderer Ansicht sind diejenigen, die den neuzeitlichen Rationalismus und den Autonomiegedanken der Moderne innerhalb der »Rehabilitierungsdebatte« verteidigen (vgl. die Beiträge von Karl-Otto Apel, Norbert Hoerster und Willi Oelmüller in R2, 13–32, 455–475, 521–560). Beispielhaft sind die Ausführungen Manfred Riedels, nach dessen Ansicht »[d]ie aristotelische Tradition […] das Bestehen der bürgerlichen Gesellschaft und damit einer Herrschaftsgewalt kraft Naturgesetzes immer schon voraus[setzt], bevor überhaupt die Frage nach der […] Legitimation« dieser Gewalt auftritt (Manfred Riedel: Herrschaft und Gesellschaft. Zum Legitimationsproblem des Politischen in der Philosophie. In R2, 235–258, hier 241). Der Grund dafür sei in einer »mangelhafte[n] normative[n] Fundierung« der aristotelischen Auffassung des Politischen zu finden, weswegen die praktische Philosophie des Stagiriten nicht als solche zu erneuern sei: »Die hermeneutische Aktualität der Aristotelischen Politik und Ethik« beruhe vielmehr auf den »Problemen […], die sie dem philosophischen Nachdenken aufgegeben« hätten (ders.: Über einige Aporien in der praktischen Philosophie des Aristoteles. In R1, 79–97, hier 96 f.). 24 Vgl. Ritter: Zur Grundlegung. A. a. O., 499 f.; Kuhn: Ist »praktische Philosophie« eine Tautologie? A. a. O., 75 f. Zur modernen Arbeitsgesellschaft und zu ihrer Er20
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lung des Zusammenlebens sei somit durch die Organisation der verschiedenen Leistungen in der Gesellschaft ersetzt worden, deren Struktur mit der Wirtschaft in der Gestalt der »politischen Ökonomie« zu identifizieren sei. In Zur Grundlegung der praktischen Philosophie durch Aristoteles machte Joachim Ritter darauf aufmerksam, dass Kant zum Zusammenbruch der Einheit der aristotelischen Ethik mit der Politik und der Ökonomik entscheidend beigetragen habe, als er das ethische Prinzip in der Innerlichkeit der Subjektivität verortet und die Moralität von der Legalität getrennt habe. Dies habe eine Emanzipation des Rechtes von der Philosophie veranlasst, durch die jenes zur rechtwissenschaftlichen Theorie geworden sei. 25 Gadamer unterstrich die Zwischenstellung Kants. Er würdigte ihn, weil Kant das Sittengesetz aus dem Bereich der beweisbaren Tatsachen und somit der Naturwissenschaft ausgeschlossen habe. Er gibt aber auch zu bedenken, dass Kant gleichzeitig nur dem Inhalt des empirischen Bereichs – nicht dem des Bereichs des Sollens – die Möglichkeit der Erkenntnis zugesprochen habe. Als sich der neuzeitliche Begriff der methodischen Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert endgültig durchgesetzt habe, sei dem Bereich des Sollens – vom Neukantianismus mit dem der »Werte« identifiziert – jedwede Wissbarkeit abgesprochen worden. 26 Deswegen sei der weit gefasste aristotelische Begriff der Wissenschaft, der sich mit demjenigen der Philosophie decke und der zusammen mit seinem metaphysischen Kontext schon bei Descartes eine erste Erschütterung gelitten habe, vollends zusammengebrochen. 27 Damit habe die »philosophia practica« aristoteläuterung durch Arendt und Marx vgl. Thomas Geisen: Arbeit in der Moderne. Ein dialogue imaginaire zwischen Karl Marx und Hannah Arendt. Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2011. Im Unterschied zur gewöhnlichen These hält Gadamer die Machtergreifung der Bourgeoisie im 18. Jahrhundert nicht für einen der Knotenpunkte der Geschichte, weil sie nach seiner Ansicht »die großen tragenden Kräfte der europäisch-abendländischen Kultur« (WP, 218) nicht erschüttert habe. 25 Vgl. Ritter: Zur Grundlegung. A. a. O., 479 f. 26 Vgl. AiE, 382 f., 388. Auf S. 383, Fn. 1 erwähnt Gadamer seine Aufsätze über die Wertethik (in GW 4, 189–215), in denen er sich ausführlich mit der neukantianischen Wertauffassung auseinandersetzt. Verschieden von derjenigen Gadamers ist die Beurteilung Manfred Riedels, nach dem der Neukantianer Heinrich Rickert die Ethik mit der ganzen praktischen Philosophie zusammenfallen lasse und deshalb in ein »ethizistische[s] Mißverständnis« (Riedel: Vorwort. A. a. O., 9 f.) gerate. 27 Gadamer ist der Meinung, dass sich das Ende der Metaphysik im 19. Jahrhundert mit dem Positivismus vollzogen habe (vgl. EK, 207 f.). Damit sei die kulturelle Tradition, die alle in Europa bis dahin unmittelbar geteilt hätten, verloren gegangen. Zur
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Die »Rehabilitierung der praktischen Philosophie«
lischer Tradition ihre Legitimation verloren, die Ethik sei von der Politik getrennt worden, und an die Stelle der »Philosophie der Politik« sei die »politische Wissenschaft« oder »Politologie« getreten, die mehr oder minder explizit als eine bloße Technik der Beherrschung der Gesellschaft aufgefasst worden sei. Dieser Vorgang habe sich im 20. Jahrhundert vollzogen, als das technische Können vom Wirkungsfeld der Naturkräfte auf das gesellschaftliche Leben übertragen worden sei. 28 Wenn alles im Voraus geplant und gelenkt werden könne, brauche man keinen eigentlichen Politiker als erfahrenen, seine praktische Vernunft betätigenden Menschen. Dieser sei tatsächlich durch den »Technike[r] der Gesellschaft« bzw. durch »den Fachmann« ersetzt worden, an den man sich wende, um von »praktische[n], politische[n], ökonomische[n] Entscheidungen« 29 entlastet zu werden. Die verantwortliche Vernunft, deren ein »Steuerer« der Gesellschaft bedürfe, sei in einer bloß zu »verwaltenden« Welt überflüssig geworden. 30 In dieser sei nur eine »Zweckrationalität« gefordert, die nach den Mitteln suche, welche dem einzigen Ziel dienen könnten, die durchgängige Erkenntnis und Gestaltung sowohl der Natur als auch der Gesellschaft zu erlangen. 31 Diese »instrumentelle« Vernunft entspreche einer Praxis, die lediglich als automatische Anwendung einer auf den neuzeitlichen Begriff Aufhebung der aristotelischen Auffassung der praktischen Philosophie während dieses Traditionsbruchs vgl. HA, 314; NdA, 455; WL, 158; AiE, 382. 28 Vgl. WP, 218. 29 Ibidem. Vgl. PZ, 164; HpP, 328; REI, 252; TTP, 257. 30 Vgl. die Gegenüberstellung zwischen dem Modell des technischen Machens und dem Leitbild des Steuerns in PZ, 165. Auf S. 159 f. nimmt Gadamer Adornos Begriff der »verwalteten Welt« (Theodor W. Adorno: Kultur und Verwaltung. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Suhrkamp: Frankfurt am Main. Bd. 8: Soziologische Schriften 1, 31990, 122–146) wieder auf. In WP, 219 spielt er ebenfalls auf ihn an, wenn er schreibt: »Die Gesellschaft der Experten ist zugleich auch eine Gesellschaft der Funktionäre«, in der die »Praxis an die Technik« verfallen ist. 1958 stellt Arendt in ähnlicher Weise fest: »In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft«, die »von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren« (Arendt: Vita activa. A. a. O., 314) verlangt. 31 Vgl. HA, 326, wo Gadamer sich auf Webers Begriff von »Zweckrationalität« beruft (vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Mohr [Paul Siebeck]: Tübingen 51990, 9–12), der schon von Horkheimer kritisiert wurde (vgl. Max Horkheimer: »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft« und »Notizen 1949–1969«. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Alfred Schmidt. Fischer: Frankfurt am Main. Bd. 6, 21998, 19–186).
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der methodischen Wissenschaft ausgerichteten Theorie zu bezeichnen sei. 32 Die Modalität dieser Anwendung sei der »Handlungstheorie« zugewiesen, die keine sittliche Einsicht voraussetze. 33 Aristoteles nenne eine solche Einsicht »φρόνησις«. Er halte sie nicht für eine praktische Klugheit, die ähnlich wie das Sachwissen der ποίησις, die τέχνη, wäre, als ob sie nur mit Mitteln zu tun hätte. Die φρόνησις sei vielmehr eine »verantwortliche Vernünftigkeit« im Sinne einer individuellen und zugleich sozialen »Gewissenhaftigkeit« 34, da sie einer πρᾶξις innewohne, die sich an den vom ἦθος der Gesellschaft gesetzten und frei übernommenen Zwecken orientiere, welche sie durch ihre Wahl neu gestalte. Φρόνησις, πρᾶξις und ἦθος sind gerade diejenigen Leitbegriffe der Auffassung des Aristoteles von Ethik und Politik, die Gadamer, Arendt und Ritter – drei Hauptvertreter der »Rehabilitierung« der aristotelischen praktischen Philosophie – jeweils wiederentdeckt haben, um die Probleme der heutigen Welt zu bewältigen und eine Weise philosophischer Reflexion auszuarbeiten, die ihnen gemäß sein könnte. Gadamer machte darauf aufmerksam, dass es unmöglich gewesen wäre, die »philosophia practica« als »von der aristotelischen
Vgl. WP, 216; HA, 314; NdA, 454; TTP, 245. Gegen die »Illusion«, dass »›die Wissenschaft‹ […] die Entscheidungen einer ›universellen Praxis‹ tragen« (WL, 158) könne, habe Husserl als Erster durch seinen Begriff der »Lebenswelt« Einspruch erhoben, gefolgt von Heidegger. Zum Verhältnis der vorwissenschaftlichen Lebenswelt und der in ihr gründenden theoretischen Praxis der objektiven Wissenschaften vgl. FriedrichWilhelm von Herrmann: Intentionalität und Welt in der Phänomenologie Edmund Husserls. Zwei Freiburger Vorlesungen. Königshausen & Neumann: Würzburg 2020, 305–325. 33 Vgl. BzW, 234. Gadamer ist gegenüber dem Ansatz der Handlungstheorie als solcher kritisch eingestellt, deshalb will er keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Richtungen sehen, die sie entwickeln. Ein anderer Gesichtspunkt ist derjenige von Hans Lenk: Bemerkungen zu einer »praktischen« Rehabilitierung der praktischen Philosophie aufgrund der Planungsdiskussion. In R1, 559–575. Für einen Überblick über die bedeutendsten ökonomischen und soziologischen Handlungstheorien vgl. Christian Etzrodt: Sozialwissenschaftliche Handlungstheorien: Eine Einführung. UVK Verlagsgesellschaft: Konstanz 2003. 34 Vgl. PpV, 325; EA, 14. Im Hintergrund des Terminus »Gewissenhaftigkeit« steht Heideggers Übersetzung von »φρόνησις« mit »Gewissen«. Gadamers Deutung ist auf der Basis seiner Berücksichtigung des »unaufhebbaren Gegensatz[es]« nachvollziehbar, »der zwischen einer politikē technē und einer politikē phronēsis besteht« (HH, 423) und den er unter Berufung auf die griechische Philosophie durch »das Verhältnis zwischen politischer Kunst und politischem Sinn (Techne bzw. Phronesis)« (PZ, 164 f.) erläutert. 32
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Die »Rehabilitierung der praktischen Philosophie«
›Phronesis‹ […] implizierte ›Weise des Wissens‹« 35 neu zu gründen, wenn Heidegger die Begriffe von Subjektivität und Objektivität und damit die sie voraussetzende Wissenschaft nicht ontologisch kritisiert hätte. Der entscheidendste Beitrag, den Heidegger im Hinblick auf die Wiederbelebung der praktischen Philosophie geleistet habe, liege aber anderswo, und zwar darin, dass er als Einziger Anfang der 1920er Jahre Aristoteles mit neuen – nämlich phänomenologischen – Augen gelesen 36 und ihn ausgehend von den Fragen der Gegenwart wieder zum Sprechen gebracht habe. 37 Heidegger war damals jedoch weder an ethisch-politischen noch an epistemologischen Problemen interessiert. Er hat deshalb im aristotelischen Text diejenige Dimension, welche im Hinblick auf die Ethik und die Politik im traditionellen Sinn beachtenswert sein kann, ausgeklammert und sich auch nicht für eine Neubestimmung und Erneuerung der praktischen Philosophie eingesetzt. Trotzdem lassen sich seine letzten Freiburger und seine Marburger Vorlesungen und Seminare als die »Vorgeschichte« 38 der Rehabilitierung der praktischen Philosophie bezeichnen, da Heidegger in ihnen seine bahnbrechende Aneignung der Philosophie des Aristoteles vollzogen hat, welche die Teilnehmer dieser Lehrveranstaltungen etwa 40 Jahre später durch die Erforschung des ethischen und politischen Aspekts der πρᾶξις sowie des ihr entsprechenden Wissens ergänzt haben. 39 Denn
WL, 158. Vgl. Heideggers Äußerungen in GA 63, 5; Mein Weg in die Phänomenologie. In GA 14, 97 und Gadamers Beurteilung in E, 74; HS, 18; KW, 72. 37 Vgl. Heideggers Ausdrücke in NB, 348 und Gadamers Feststellung in: Aus dem Vorwort zum Neudruck der ersten Auflage (1982). In PdE, 161. 38 So wird Heideggers Vorlesung vom SS 1923 (Ontologie. Hermeneutik der Faktizität) von Manfred Riedel genannt in: Heidegger und der hermeneutische Weg zur praktischen Philosophie. In: ders.: Für eine zweite Philosophie. Vorträge und Abhandlungen. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1988, 174. 39 Als Zeugnis dafür, dass die von Heideggers Auslegung gebahnten Wege breiter als der heideggersche Gedankenpfad selbst sind, seien nur einige der ersten Werke über Aristoteles aufgelistet, die von ihr direkt beeinflusst wurden: Walter Bröcker: Aristoteles. Klostermann: Frankfurt am Main 1935; Helene Weiß: Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles. Haus zum Falken: Basel 1942; Wilhelm Szilasi: Macht und Ohnmacht des Geistes. Franke: Bern 1946; Karl Ulmer: Wahrheit, Kunst und Natur bei Aristoteles. Ein Beitrag zur Aufklärung der metaphysischen Herkunft der modernen Technik. Niemeyer: Tübingen 1953; Fridolin Wiplinger: Physis und Logos. Zum Körperphänomen in seiner Bedeutung für den Ursprung der Metaphysik bei Aristoteles. Alber: Freiburg u. München 1971. 35 36
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die meisten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die ἐπιστήμη πρακτική des Stagiriten in all ihren Facetten aufgewertet haben – neben Gadamer, Arendt und Ritter sind mindestens Leo Strauss und Hans Jonas zu nennen –, waren Schüler Heideggers, dessen Lehre sie als den Ausspruch eines »Aristoteles redivivus« 40 empfunden haben. Um den Charakter der Wiederentdeckung der praktischen Philosophie des Aristoteles angemessen zu verstehen, ist es deswegen erforderlich, die Eigenart des heideggerschen Zugangs zum Stagiriten und die wichtigsten Etappen von Heideggers Auseinandersetzung mit ihm in den 1920er Jahren in Erinnerung zu rufen. Danach ist es angebracht, Gadamers Interpretation zu erwägen. Denn Gadamer las Aristoteles vom Anfang bis zum Ende seines Denkweges. Darum ermöglichen seine Schriften es, einen Überblick über die Entstehung und die Entwicklung der »Rehabilitierung« von Aristoteles’ Ethik und Politik zu geben und abschließend die Frage zu stellen, ob und eventuell in welchem Sinne eine Neuaneignung der aristotelischen praktischen Philosophie heutzutage noch förderungswürdig wäre. Die Schriften Gadamers, die vor allem in Betracht gezogen werden müssen, sind diejenigen, die den stärksten Einfluss auf die Rehabilitierung der praktischen Philosophie ausgeübt haben, nämlich Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles und der in dem ersten von Riedel herausgegebenen Sammelband enthaltene Aufsatz Hermeneutik als praktische Philosophie (1972). Der Inhalt der Arbeiten, die sich im Begriffsfeld dieser Schriften bewegen, ist zu ihrer Präzisierung hinzuzuziehen. Insofern Gadamer sich besonders auf die aristotelische Auffassung der φρόνησις konzentriert, gilt es, nach der Kontextualisierung von Heideggers Auseinandersetzung mit Aristoteles unter den in ihr behandelten Thematiken diejenige der φρόνησις auszuwählen und auf deren Interpretation durch Heidegger einzugehen. Die anderen Schwerpunkte der heideggerschen Auslegung des Aristoteles sowie Heideggers spätere Besinnung auf die Technik
HJ, 267. Umso mehr wurde Heidegger von seinen Schülern negativ beurteilt, als er in die NSDAP eingetreten ist und sich 1933 zum Rektor der Universität Freiburg hat wählen lassen. Auf den sogenannten »Fall Heidegger« – die Debatte um Heideggers Nationalsozialismus und Antisemitismus – soll hier jedoch nicht eingegangen werden. Zur Begeisterung sowie zur Enttäuschung der Studenten Heideggers und zur Kritik an ihrem ehemaligen Lehrmeister wegen dessen »politischer« Verwicklung vgl. Gutschke: Aristotelische Diskurse. A. a. O., 44–52.
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Die »Rehabilitierung der praktischen Philosophie«
und auf das Wesen des Handelns, die gleichwohl von Belang für eine Erneuerung der praktischen Philosophie waren oder sein könnten, sollen in der folgenden Untersuchung ausgeklammert werden.
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I. Teil Phänomenologische Interpretationen des und zu Aristoteles
I. Aristoteles in Heideggers Durchgang zur Ausarbeitung der Seinsfrage Der Weise, welcher sich hat über sich gebracht, Der ruhet, wenn er läuft, und wirkt, wenn er betracht’. Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann
1.
Die Neustellung der aristotelischen Frage in der Hermeneutik der Faktizität
Die Tragweite seiner ersten Begegnung mit der aristotelischen Philosophie und ihrer nachfolgenden Aneignung wird von Heidegger im Rückblick oft betont. Anfang der 1960er Jahre erinnert er daran, dass seine ersten Versuche, »in die Philosophie einzudringen« 41, aus dem Bestreben entsprungen waren, eine selbstständige Antwort auf die Fragen auszuarbeiten, die von Franz Brentanos Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (1862) aufgeworfen worden waren. Brentanos Buch, das er im Jahr 1907, am Ende seiner Gymnasialzeit, las, zeigte Heidegger eine Auslegungsrichtung, in der er jedoch wegen der neuthomistischen Auslegung des Aristoteles (die an der von ihm bis 1911 besuchten Freiburger Fakultät für katholische Theologie vorherrschend war) nicht vorankommen konnte. 42 Vergeblich waren auch die Versuche, durch die schon 1909/10 unternommene Lektüre von Edmund Husserls Logischen Untersuchungen (1900–1901) (die von Brentano inspiriert waHeidegger: Mein Weg. A. a. O., 93; Ein Vorwort. Brief an Pater William J. Richardson. In GA 11, 145 f.; Vorwort zur ersten Ausgabe der »Frühen Schriften«. In GA 1, 56; GA 100, 33 f. 42 Zur allmählichen Befreiung Heideggers vom Neuthomismus vgl. Rosa M. Marafioti: Auf dem Weg zum Denken und Glauben. Heideggers Auseinandersetzung mit der Theologie bis zum Ende der 1920er Jahre. In: Heidegger Studies. 36 (2020), 105– 110. Wie entscheidend für Heidegger die »Abwendung von seiner katholischen Herkunft« war, hat vor allem Gadamer unterstrichen, der schreibt: »Das theologische Problem – oder besser: der lange antitheologische Affekt […] – hat ohne Zweifel [Heideggers] ganze Entwicklung bestimmt.« (KW, 72). Gadamer betont dennoch die tiefe religiöse Dimension des heideggerschen Denkens, auf deren Basis auch der Grund, aus dem Heidegger Aristoteles in den 1920er Jahren Beachtung schenkt, als ein in einem gewissen Sinne »theologischer« erscheint (vgl. E, 67 f., 73; HS, 18; HoD, 65, 67 f.; DH, 146). 41
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Aristoteles in Heideggers Durchgang zur Ausarbeitung der Seinsfrage
ren) zu einer Klarheit zu kommen. Auch der Wechsel zur philosophischen Fakultät, an der er sich beim Neukantianer Heinrich Rickert habilitierte, genügte nicht. Trotzdem war das Studium Diltheys, Schleiermachers und Hegels richtungsweisend für die Anerkennung der unverzichtbaren Rolle der Geschichte und der Hermeneutik in der philosophischen Forschung. Nachdem Heidegger sich in der persönlichen Begegnung mit Husserl, dessen Assistent er 1919 geworden war, in die phänomenologische Methode eingeübt hatte, konnte er endlich seinen eigenen Denkweg einschlagen, da er nunmehr bereit war, die Frage nach dem Sinn von Sein – zuerst nach dem Sein des Lebens, dann nach dem Sinn von Sein überhaupt – von Neuem zu stellen. Zu einer zweiten Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Erbe wurde Heidegger ebenso von äußeren Umständen wie von Faktoren angetrieben, die der Entwicklung seines Denkens selbst immanent waren. Zum einen veranlasste der auf den Ersten Weltkrieg folgende Wandel des (geistigen) Klimas eine Abwendung von der »akademischen« Philosophie, die in den Varianten des Neukantianismus und der transzendentalen Phänomenologie Husserls immer noch das Subjekt bzw. das Bewusstsein ins Zentrum des Interesses stellte. 43 Dostojewskij, Nietzsche und Kierkegaard (mit seiner Kritik an Hegel und seiner Hinwendung zur Existenz) wurden darum wieder zu »Zeitgenossen« und verwiesen Heidegger auf die Probleme des »faktischen« Lebens – des Lebens als eines immer schon in einem bestimmten Bedeutungszusammenhang eingefügten, aus dem her es (sich) »zunächst und zumeist« verstehe. Zum anderen wollte Heidegger das Motto der Phänomenologie, »Zu den Sachen selbst!«, »beim Wort nehmen« 44, d. h. er wollte – über Husserls transzendentales Bewusstsein hinaus – auf das ursprüngliche Phänomen zurückgehen. Da Heidegger zu der Überzeugung kam, dass das theoretische Verhalten, das das Bewusstsein zum Objekt mache und zugleich von ihm vollzogen werde, abkünftig sei, sofern es sich aus einer Entfremdung von dem ursprünglich praktischen Umgang des Lebens mit seiner Welt ergebe, erhob er das faktische Leben zum »Ursprungsgebiet« sowie zum ersten Adressaten der Philosophie. 45 Vgl. PEW, 122 f.; AiE, 387 f.; FS, 396 f.; KW, 72. PdE, 122. 45 Vgl. NB, 351, 362 f. sowie GA 58, eine Vorlesung, deren zwei Teile mit Das Leben als Ursprungsgebiet der Phänomenologie und Phänomenologie als Ursprungswis43 44
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Die Neustellung der aristotelischen Frage in der Hermeneutik der Faktizität
Heidegger nannte seine Forschungsart »hermeneutische Phänomenologie« oder »Hermeneutik der Faktizität«, da sie die phänomenologische Beschreibung des Lebens in dessen »Aus-legung« verwirkliche, d. h. die innere Artikulation des Lebens expliziere, indem sie seinen immanenten Sinn hervorhebe. Somit ermögliche die Philosophie dem Leben, auf sich selbst bzw. auf sein wahres Sein – die Existenz – zurückzukommen, indem sie es aus seinem »Verfallen an die Welt« 46 zurücknehme. Dadurch trete die Hermeneutik der Faktizität der »Ruinanz« des Lebens entgegen, deretwegen es sich nicht ausgehend von ihm selbst verstehe, sondern von dem, worum es sich in seiner weltlichen Lage kümmere. In der Alltäglichkeit stehe das faktische Leben nämlich in der »Reluzenz« von allem, was es »jeweils in seine Welt hineinsorgt« 47. Demzufolge treffe es keine selbstständigen Entscheidungen, sondern tue das, was »man« tue, teile die öffentliche durchschnittliche Meinung und spreche die Sprache seiner Welt, d. h. verwende die Begrifflichkeit, die den Bedeutungen zugrunde liege, die seiner faktischen Lage eine Sinnartikulation verliehen. Diese Begrifflichkeit gründe ihrerseits in den vergangenen Theorien, die tradiert worden seien und sich im Laufe der Zeit so umgebildet hätten, dass die Bedeutung ihrer Begriffe »verblasst« sei: Die traditionellen Begriffe entsprächen nicht mehr den ursprünglichen Erfahrungen, die durch sie am Anfang erfasst worden seien. Die überlieferten Theorien würden die Situation des Lebens umgrenzen, die Heidegger als »hermeneutisch« bezeichnet. Unter »hermeneutischer Situation« versteht er den Bereich, in dem sich jede Auslegung – auch diejenige der auf das Leben gerichteten Philosophie – bewege, soweit sie ihren eigenen »Blickstand«, ihre »Blickrichtung« und ihre »Sichtsenschaft des faktischen Lebens an sich betitelt sind. Zur verwandelnden Neugestaltung der husserlschen Phänomenologie durch Heidegger vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutik und Reflexion. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl. Klostermann: Frankfurt am Main 2000; zur Rolle, die Dilthey dabei gespielt hat, vgl. Robert C. Scharff: Heidegger becoming phenomenological: interpreting Husserl through Dilthey, 1916–1925. Rowman & Littlefield International: New York u. London 2019. 46 NB, 356. Vgl. 360–362, wo Heidegger die Hermeneutik der Faktizität als »Gegenbewegung« gegen das Verfallen erläutert; GA 61, 132 f., wo er die phänomenologische Interpretation des Lebens als »›Gegen‹bewegtheit« ansieht. Diese Bestimmungen klingen noch in Sein und Zeit (1927) an (vgl. GA 2, 237, 412). 47 GA 61, 119. Zur »Ruinanz« vgl. 131–155, 184, 186; zur »Reluzenz«, die eine »Praestruktion« gegenüber dem wahren Sein des Lebens einschließe, vgl. 117–129, 133–135, 143.
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Aristoteles in Heideggers Durchgang zur Ausarbeitung der Seinsfrage
weite« habe, d. h. sich unter einem bestimmten Gesichtspunkt, mit einem bestimmten Zweck und durch eine bestimmte Begrifflichkeit vollziehe. 48 Heideggers Ansicht nach muss die hermeneutische Situation »durchsichtig« gemacht werden, damit das Leben in der Lage ist, sich aus seiner »Zerstreuung« 49 in die Welt zurückzuholen, indem es von der Philosophie ursprünglich ausgelegt wird. Für die »Erhellung« der hermeneutischen Situation sei es notwendig, ihre verschiedenen Aspekte voneinander abzuheben und die Theorien, in denen sich das Leben ausgelegt und (miss)verstanden habe, zu »destruieren«. 50 Die Destruktion als Methode der Phänomenologie zerstöre den hermeneutischen Bereich des Lebens nicht, sondern sei sein »›gerichteter‹ Abbau« 51: Sie hebe die ihn strukturierenden Sinnrichtungen und -gestalten ans Licht, indem sie die tradierten Begriffe »verflüsVgl. NB, 346 f.; GA 2, 199–201 (wo Heidegger die Termini »Vorhabe«, »Vorsicht« und »Vorgriff« bevorzugt). 49 Vgl. GA 60, 205 f.; GA 61, 101–104, 119. Nach Heidegger muss die Interpretation ihren »Gegenstand« »durchsichtig« (NB, 347, 352, 364) machen, weshalb sie ihn zunächst »überhellen« soll (372). Dazu und zur Infragestellung der Möglichkeit, eine letzte Durchsichtigkeit des Lebens und der Geschichte zu gewinnen, die das spätere Denken Heideggers konsequenterweise nicht mehr für möglich gehalten habe, vgl. E, 73; HG, 35, 37, 44. 50 Heidegger nennt seine Methode zum ersten Mal im WS 1919/20 »Destruktion« (vgl. GA 58, 139) und präzisiert sie in seiner ersten Freiburger Zeit. Zum zweifachen Bereich, auf den sich die Destruktion richtet – die philosophischen Theorien und die Objektivationen des Lebens – vgl. István M. Fehér: Heidegger’s Postwar Turn. The Emergence of the Hermeneutic Viewpoint of His Philosophy and the Idea of «Destruktion» on the Way to Being and time. In: John Caputo/Lenore Langsdorf (eds.): Phenomenology and beyond. Bd. 21. Philosophy Today. 40 (1996), 14–19. Gadamer betont, dass die Destruktion weder die Veränderung des Sinnes eines Begriffes noch die Rückkehr auf einen nie erreichbaren »reinen« Ursprung bezwecke, sondern sich zum Ziel setze, »den Begriff in seiner Verwebung in lebendiger Sprache wieder sprechen zu lassen« (DH, 146. Vgl. HG, 45; HoD, 65; RA, 401; GP, 299, wo Gadamer darauf aufmerksam macht, dass Heidegger die Destruktion als Erstes auf die Philosophie des Aristoteles anwendet). 51 GA 59, 35. Vgl. 5, 181; GA 24, 31, wo Heidegger die »drei Grundstücke der phänomenologischen Methode: Reduktion, Konstruktion, Destruktion« aufzählt und feststellt: »Konstruktion der Philosophie ist notwendig Destruktion, d. h. ein im historischen Rückgang auf die Tradition vollzogener Abbau des Überlieferten« im Sinne der »positive[n] Aneignung« der Tradition. Heidegger geht auf Hegels Methode der »Verflüssigung« als der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte eines Begriffes (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: ders.: Werke in 20 Bänden. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel. Suhrkamp: Frankfurt am Main. Bd. 3, 1970, 37) zurück, wenn er die Ausdrücke »flüssig machen« und »Flüssigmachung« in GA 1, 204, 399 gebraucht. 48
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Die κίνησις als vereinigender Sinn des Lebens
sige« – d. h. die überlieferten Konzepte auf die Lebenserfahrungen zurückbringe, denen sie entstammten – und dadurch die von ihnen verursachten Verdeckungen auflöse. Die Entfaltung der Hermeneutik der Faktizität könne daher auf die Destruktion der Geschichte der Philosophie nicht verzichten, sofern die traditionelle Ontologie das Sein des Lebens immer mehr verborgen habe, indem sie die aristotelische Definition des Menschen als ζῷον λόγον ἔχον mit »animal rationale« – und deshalb »λόγος« mit »ratio«, »Vernunft«, nicht mit »Sprache« – übersetzt und damit umgedeutet habe. 52 Die Philosophie des Aristoteles sei also – zusammen mit der von Platon und Descartes – als primärer Adressat der Destruktion von demjenigen auszuwählen, 53 der ihren echten Sinn und den Lauf der darauffolgenden Kultur einsehen wolle.
2.
Die κίνησις als vereinigender Sinn des Lebens
Nach Heidegger nimmt Aristoteles in der Philosophiegeschichte eine eigentümliche Grenzstellung ein. Denn die Lehre des Stagiriten sei »die Vollendung und konkrete Ausformung der vorangegangenen Philosophie; zugleich aber« erlange Aristoteles »in seiner ›Physik‹ einen prinzipiellen neuen Grundansatz, aus dem seine Ontologie und Logik« 54 erwüchsen. Eben diesen »neuen Ansatz« will Heidegger durch seine Destruktion, die er seit dem Ende des Jahres 1921 unternimmt, geltend machen. Denn er möchte zum Vorschein bringen, dass Aristoteles (in seiner Physik) die Bewegung als »universale[n] Seinscharakter« 55 entdeckt habe, ausgehend von dem er dann auch Vgl. GA 63, 21–29, wo Heidegger erklärt, warum er es für unzutreffend hält, das faktische Leben als »Menschen« zu bezeichnen; GA 2, 65, wo er seine Analyse von der Anthropologie unterscheidet. 53 Vgl. GA 59, 12. In GA 63, 5 bezeichnet Heidegger Aristoteles dennoch als sein »Vorbild«. 54 NB, 371. Figal kommentiert: »Die aristotelische Philosophie, wie Heidegger sie versteht, hat den Januskopf eines Anfangs«, der »ein Punkt« ist, »von dem die philosophische Tradition ausgeht und ebenso der Schritt zurück zur Wahrheit des Lebens« (Günter Figal: Heidegger als Aristoteliker. In: ders.: Zu Heidegger. Antworten und Fragen. Klostermann: Frankfurt am Main 2009, 64). Aus demselben Grund bemerkt Gutschke, dass »Heideggers Deutung […] mit und gegen Aristoteles gewonnen« sei (Gutschke: Aristotelische Diskurse. A. a. O., 22). 55 GA 22, 170. Vgl. 147, 172–175; GA 18, 283–329; GA 62, 117–120; NB, 371. Gadamer bemerkt, dass die Physica aufgrund der in ihr dargelegten Auffassung der 52
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Aristoteles in Heideggers Durchgang zur Ausarbeitung der Seinsfrage
das menschliche Leben bestimmt habe (nämlich in seinen Schriften zur Ethik, zur Rhetorik und über die Seele). Dadurch bezweckt Heidegger, in den aristotelischen Texten diejenigen Kategorien bzw. Seinsweisen des faktischen Lebens in den Vordergrund zu rücken, die er schon in seinen ersten Vorlesungen skizziert hatte und nun mithilfe des Aristoteles genauer bestimmen möchte. 56 Heidegger war dank der Auslegung der Briefe des Paulus und der Bekenntnisse des Augustinus im akademischen Jahr 1920/21 bereits zu dem Ergebnis gekommen, dass der Grundzug der Faktizität eine ursprüngliche Bewegung sei, die er »Bekümmerung« und »Sorge« genannt und deren Sinn er mit der »Zeitlichkeit« identifiziert hatte. 57 Heidegger ist nun aber der Ansicht, dass die Lebenserfahrung des Urchristentums, die von der Zeit als solcher geprägt gewesen sei, zuerst in der Patristik und dann in der Scholastik mithilfe einiger von der griechischen Philosophie ererbter Kategorien konzeptualisiert
Bewegung nach Heidegger »das wichtigste Buch des Aristoteles« (HoD, 67) sei. In seiner Rekonstruktion von Heideggers allmählicher »zweiter« Annäherung an Aristoteles listet Gadamer jedoch als »ersten Zugang« zu dem Griechen denjenigen durch die Rhetorica (Affektenlehre), als »zweiten« den durch die Ethica und als »dritten« den durch die Metaphysica auf (vgl. ebd., 66; HS, 18 f.; HG, 37, 40). 56 Vgl. Mark Michalski: Nachwort des Herausgebers. In GA 18, 417. Dieses zirkelhafte Verfahren charakterisiert alle Auslegungen Heideggers, der sein eigenes Denken durch die Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte ausarbeitet – eine Auseinandersetzung, die im Falle des Aristoteles in eine so »gewaltsame« (»rapace«) Aneignung mündet, dass sie sogar die Spuren der angeeigneten aristotelischen Begriffe löscht (vgl. Franco Volpi: Heidegger e Aristotele. Daphne: Padova 1984, 14). Zu einem Überblick über Heideggers Interpretation vgl. Walter Brogan: Heidegger and Aristotle. The Twofoldness of Being. Suny Press: Albany 2005. 57 Schon im SS 1920 hatte Heidegger den Wesenscharakter der Faktizität als »Bekümmerung« gekennzeichnet (vgl. GA 59, 173 f., 184) und den husserlschen Begriff der Intentionalität in ihr vertieft. Er begann, dem Wort »Bekümmerung« den Terminus »Sorge« vorzuziehen, als er den augustinischen Begriff des »curare« auslegte (vgl. GA 60, 205–210). In Sein und Zeit wird Heidegger die Sorge »ontologisieren« und sie für die Seinsverfassung des Daseins halten. Er wird auf seine Interpretation des Augustinus und des Aristoteles als die Quellen seiner Auffassung der Sorge verweisen (vgl. GA 2, 264, Fn. 3). Die Beunruhigung gegenüber dem Nichts und dem Tod, die den Griechen fremd war, kann Heidegger von Augustinus aufnehmen und sie am Leitfaden des Aristoteles in einer ontologischen Richtung überarbeiten. Zur Entstehungsgeschichte des heideggerschen Sorgebegriffs vgl. Annalisa Caputo: La formazione del concetto di «cura» in Heidegger (1919–1926). Fonti, stratificazioni, scelte lessicali. In: Responsibility and Judgement – Responsabilità e Giudizio. Logoi.ph. VI. 15 (2020), http://logoi.ph/edizioni/numero-vi-15–2020, 98–160 (letzter Zugriff am 28. 02. 2022).
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worden sei, die sie verunstaltet hätten. 58 Von der griechisch-christlichen Auslegung des Lebens stamme dann diejenige Idee des Menschen ab, die sich durch den Deutschen Idealismus und die weiteren »Bewusstseinsphilosophien« immer mehr durchgesetzt habe. 59 Sich abwendend von der vorherrschenden Interpretation des Aristoteles, die die ontologische Auffassung der Bewegung durch den Stagiriten nicht vertieft habe, will Heidegger in dessen Werk eine Ontologie des faktischen Lebens entdecken. Seit 1923 nennt er dieses Leben »Dasein«, und zwar infolge einer »Ontologisierung« der Hermeneutik der Faktizität, zu der die Auseinandersetzung mit Aristoteles verhilft. Besonders in der Zeit von 1921 bis 1926 hält Heidegger Seminare und Vorlesungen über die aristotelische Philosophie, 60 die als Vorbereitung auf eine große Arbeit mit dem Titel Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles dienen sollten, welche er jedoch nie zum Ende bringt. 61 Stattdessen verfasst Heidegger 1922, aus Heidegger baut auf der These einer »Hellenisierung des Christentums« auf, die seit Adolf von Harnacks Werken Lehrbuch der Dogmengeschichte (1886–1890) und Das Wesen des Christentums (1899) (vgl. die Ausgabe hrsg. von Trutz Rendtorff. Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh 1999, 194–198) weitreichend debattiert wurde, obwohl er der Auffassung von »Hellenisierung«, wie sie die liberale Augustinus-Interpretation (Dilthey, von Harnack, Troeltsch) vertritt, nicht zustimmt (vgl. Pierfrancesco Stagi: Der faktische Gott. Königshausen & Neumann: Würzburg 2007, 130–138, 247–261), zumal er im Neuplatonismus eine »Christianisierung« des Griechischen erkennt (vgl. GA 60, 171; GA 61, 6 f.). 59 Vgl. die Wendepunkte der Rezeptionsgeschichte von Aristoteles’ Philosophie in NB, 369 f.; GA 61, 4–9; GA 22, 146–148. Heidegger würdigt nur die philologisch-historische Forschung und die Auslegungen Brentanos und Husserls, obwohl er der Meinung ist, dass auch sie »nicht zu einem eigentlichen Verständnis« (GA 61, 8 f.) des Aristoteles gelangen. Er lehnt schließlich den rein philologischen Ansatz Jaegers ab, so wie es auch Gadamer tun wird. 60 Für sie und für die weiteren Arbeiten über Aristoteles’ Werk vgl. den Editionsplan der Gesamtausgabe auf der Internet-Seite des Verlags Klostermann: https://www.klos termann.de/Buecher/Seite-/-Kategorie/Editionsplan (letzter Zugriff am 28. 02. 2022). Der Erste, der Heideggers Aneignung des Aristoteles in allen ihrer Facetten verdeutlicht hat, war Franco Volpi; von ihm vgl.: Heidegger e Aristotele. A. a. O.; Dasein comme praxis: l’assimilation et la radicalisation heideggérienne de la philosophie pratique d’Aristote. In: ders. et al.: Heidegger et l’idée de la phénomenologie. Kluwer: Dordrecht, Boston u. London 1988, 1–41; Essere e tempo: una versione dell’Etica nicomachea? Heidegger e il problema della filosofia pratica. In: Piero Di Giovanni (a cura di): Heidegger e la filosofia pratica. Flaccovio: Palermo 1994, 333–370; Being and Time: A «Translation» of the Nicomachean Ethics? In: Theodore J. Kisiel/John van Buren (eds.): Reading Heidegger from the Start. State University of New York Press: Albany 1994, 195–211. 61 Vgl. dazu Günther Neumann: Nachwort des Herausgebers. In GA 62, 440–444. 58
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Anlass seiner Bewerbung um philosophische Extraordinariate in Göttingen und Marburg, eine Aristoteles-Einleitung, die über Methode, Stand und Richtung seiner Aristoteles-Studien sowie über die dabei vor allem berücksichtigten Texte (Ethica Nicomachea, Ζ; Metaphysica, Α–Ε, Ζ, Η, Θ; Physica, Α–Ε, Β, Γ 1–3) berichtet. Dieser Entwurf beeindruckt besonders Paul Natorp und trägt so maßgeblich zu der von diesem unterstützten Berufung Heideggers an die Universität Marburg bei. In diesem sogenannten Natorp-Bericht und in den AristotelesVorlesungen der 1920er Jahre unterstreicht Heidegger, dass seine Untersuchungen »weder die Absicht [hätten], eine philosophische Rettung und Apologie des Aristoteles ins Werk zu setzen, noch […] auf eine Erneuerung« der Philosophie des Stagiriten oder eine »Anbahnung eines Aristotelismus mit angeflickten Ergebnissen moderner Wissenschaften« 62 zielen würden. Es gelte, Aristoteles philosophisch im Hinblick auf die Fragen der Gegenwart zu interpretieren, nicht um seine Texte zu zwingen, etwas ihnen Fremdes zu sagen, sondern um aufzudecken, was in der aristotelischen Philosophie unausdrücklich bereits präsent gewesen sei, um es radikaler zu fassen. 63 Die Methode der heideggerschen Auslegung ist deshalb die »Destruktion« der aristotelischen Werke unter der Leitung der Faktizitätsproblematik, d. h. der Frage nach dem Sinn des Lebens bzw. des Seins des Daseins. Heideggers »zweite« Zuwendung zu Aristoteles geschieht – ebenso wie sein »erstes« Studium des Stagiriten – am Leitfaden der von Brentano erneut ins Licht gerückten aristotelischen Frage nach der Grundbedeutung des Seienden. Im Unterschied zu den 1910er GA 61, 11. Vgl. NB, 371; GA 22, 146; Neumann: Nachwort. A. a. O., 450; GA 18, 3–6; GA 19, 62, 77 f., 189 f.; E, 69; Gadamer: Aus dem Vorwort (1982). A. a. O., 161. In FS, 396 und in HoD, 69 führt Gadamer Heideggers These an, dass »wir […] die Griechen noch immer nicht griechisch genug« dächten, und verdeutlicht sie in dem Sinne, dass wir den Griechen treu blieben, wenn wir auf unserem eigenen Weg vorankämen. In GA 19, 189 stellt Heidegger weiter fest, dass »wir immer aus dem Späteren kommen und als Spätere rückwärtsgehen zu den Früheren«, deshalb müsse man zuerst Aristoteles und dann Platon wieder lesen, sofern »die immanenten Tendenzen« der platonischen Philosophie in Aristoteles sichtbar würden. Diese Verfahrensweise wird von Gadamer übernommen (vgl. Hans-Georg Gadamer: Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage [1967]. In PdE, 160). Zur Fraglichkeit von Heideggers Methode, die die aristotelische Begrifflichkeit auf das platonische Denken anwende und es deshalb missverstehe, vgl. Claudia Lo Casto: L’interpretazione heideggeriana di Platone attraverso Aristotele. In: Bollettino della Società Filosofica Italiana. 299 (2020), 41–54.
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Jahren macht Heidegger aber jetzt Aristoteles zur Kontrastfolie der von ihm selbst diskutierten Probleme, sodass er keinen echten »Rückgang« zu ihm bezweckt, sondern einen »Durchgang« durch diejenigen Themen seiner Philosophie, die es ihm ermöglichen, die Seinsfrage auszuarbeiten. 64 Schon in seiner ersten Freiburger Zeit (1919–1923) bezeichnet Heidegger deshalb als »nächste[s] Ziel« seiner Aristoteles-Interpretation »die Gewinnung eines prinzipiellen Verständnisses« der »Ontologie des Aristoteles« 65. Dieses Ziel möchte er durch die Erläuterung der aristotelischen Auffassung der wissenschaftlichen Forschung erreichen. Denn wenn die Motive, aus welchen die Untersuchung des Seinssinnes des Seienden bei Aristoteles entspringt, geklärt würden und wenn die Rolle, die diese Untersuchung innerhalb der entscheidenden Fragestellung der aristotelischen Philosophie spielt, herausgearbeitet würde, könnte die aristotelische Bestimmung des menschlichen Lebens in ihrer Reichweite, aber auch in ihrer Begrenztheit erfasst werden. Deshalb konzentriert sich Heidegger auf die Metaphysica des Aristoteles als Wissenschaft vom Sein und rekonstruiert die Genesis und die Idee der philosophischen Forschung, die hier beschrieben ist, 66 sowie die aristotelische Auffassung der Wahrheit. 67
In GA 63, 105 notiert Heidegger: »Hermeneutik der Faktizität: jetzt radikale Faktizität mitnehmen im Zurück zu A.«. Vgl. HoD, 64; HS, 18 f.; E, 74, wo Gadamer feststellt: Heidegger wollte »davon überzeugen, dass Aristoteles ein Phänomenologe war«. Tatsächlich betitelt er das erste Kapitel von GA 17, 6–41 mit: »Aufklärung des Ausdrucks ›Phänomenologie‹ im Rückgang auf Aristoteles«. 65 GA 62, 13. 66 Heidegger übersieht den »Doppelbegriff der Fundamentalwissenschaft« des Aristoteles, nämlich »1. Wissenschaft vom Sein; 2. Wissenschaft vom höchsten und eigentlichen Seienden« (GA 22, 149) bzw. von Gott nicht, aber führt in den 1920er Jahren die zweite Bedeutung auf die erste zurück, insoweit er sich auf den aristotelischen Begriff des unbewegten Bewegers beschränkt und aufweist, dass Aristoteles’ Begriff des Göttlichen aus dem Problem der φύσις bzw. deren Grundbestimmung, der κίνησις, erwächst (vgl. GA 62, 97–111; GA 18, 112 f.; GA 19, 37; NB, 389; HoD, 66; IpP, 246). Nach der »Kehre« der 1930er Jahre wird Heidegger dagegen die Doppeldeutigkeit der Metaphysik des Aristoteles betonen, um in ihr den Boden der »ontotheologischen Verfassung der Metaphysik« sehen zu können (vgl. GA 11, 51–79). 67 Vgl. GA 62, 13–113. In: Heidegger: Mein Weg. A. a. O., 99 und in: ders.: Ein Vorwort. A. a. O., 146 erwähnt Heidegger als entscheidende Folge seiner erneuten Zuwendung zu Aristoteles, dass er dadurch einen Einblick in die ἀλήθεια gewonnen habe, d. h. in die griechische Auffassung der Wahrheit als Unverborgenheit – einen Einblick, der ihm das Verständnis der Zeit als Sinn von Sein überhaupt erst ermöglicht habe. 64
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Aristoteles in Heideggers Durchgang zur Ausarbeitung der Seinsfrage
Danach geht Heidegger auf die Physica zurück, um die aristotelische Konzeption der Bewegung als Grundphänomen zu betrachten und damit die Lebensbewegtheit zu erhellen, die sich in verschiedenen Weisen des Umgangs mit der Welt entfalte. Von den Arten des Verhaltens des Lebens zu seiner Welt ist die θεωρία – zu deren Feld die Metaphysik gehört – nach Aristoteles die höchste. Durch seine Interpretation möchte Heidegger aber zeigen, dass die theoretische Einstellung im aristotelischen Text selbst als eine Modifikation der ursprünglich praktischen Umgangsbewegtheit des Lebens beschrieben wird. 68 Da Aristoteles als »σοφία« diejenige Verhaltensweise bezeichnet, die dem reinen θεωρεῖν entspricht, und sie unter den »dianoetischen Tugenden« aufzählt, die im Buch Ζ der Ethica Nicomachea behandelt sind, sieht Heidegger sich auf die aristotelische Ethik und auf die mit ihr in Verbindung stehende Analyse der Seele verwiesen.
3.
Die ἀρεταὶ διανοητικαί als entdeckende Verhaltungen eines zeitlich-handelnden Wesens
Insofern Heidegger zur Ethik des Aristoteles von der Metaphysik her und im Dienste der eigenen Seinsfrage gelangt, tritt in seiner ersten Analyse der Ethica Nicomachea – im Natorp-Bericht, in der Vorlesung vom SS 1922 und in den Seminaren des akademischen Jahres 1922/23 – die Problematik des Ethos und die mit ihm zusammenhängende Tugend, die φρόνησις, nicht in den Vordergrund. 69 Heidegger selbst sagt deutlich, dass seine Interpretation des Buches Ζ der Ethica Nicomachea die »dianoetischen Tugenden« – ἐπιστήμη, τέχνη, φρόνησις, σοφία, νοῦς – »unter vorläufigem Absehen von der spezifisch ethischen Problematik […] als die Weisen des Verfügens über die Vollzugsmöglichkeit echter Seinsverwahrung« 70 verständlich macht. Dementsprechend übersetzt er das Wort »ἀληθεύειν«, durch welches Aristoteles die Funktion der dianoetischen Tugenden definiert, mit »erschließen«, »entdecken«, wobei er sich auf seine Auslegung der Vgl. GA 62, 119. Heidegger bemerkt, dass die Bestimmung der ontologischen Forschung selbst als μετὰ τὰ φυσικά auf die Physik verweist. Auf die Entstehung der θεωρία und der ἐπιστήμη im Allgemeinen geht er ein in DW, 71 ff.; NB, 374 f., 354, 387 f., 398; GA 19, 24, 27, 38 f., 65–131; GA 22, 208–212; GA 62, 13–46. 69 Vgl. NB, 397; E, 71, 73 f.; N, 67. 70 NB, 376. In einer Fußnote präzisiert Heidegger: »Nachklang alter Einstellung.« 68
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Die ἀρεταὶ διανοητικαί als entdeckende Verhaltungen
griechischen Auffassung der Wahrheit als »ἀ-λήθεια« – »Un-Verborgenheit«, »aus der Verborgenheit nehmen« – beruft. Heidegger glaubt, im Natorp-Bericht seine Interpretation anhand von Textstellen aus De interpretatione, De anima (Γ, 5 ff.) und Metaphysica (Ε, 4, Δ, 29, Θ, 10) belegen zu können. 71 Da das »Entdecken« voraussetzt, dass etwas zuerst verdeckt ist und immer wieder verhüllt und deshalb verborgen werden kann, erläutert Heidegger den griechischen Gegenbegriff des Wahrseins, »ψεύδεσθαι«, nicht im Sinne von »Falschsein«, sondern von »Täuschen«, d. h. im Sinne eines Verdeckens, wegen dessen etwas nicht als solches gesehen werden kann. Indem Heidegger die Stellen Ethica Nicomachea, Ζ, 3, 1139 b 15 und De anima, Γ, 8, 431 b 21 parallel interpretiert, behauptet er, dass die ἕξεις für Aristoteles diejenigen Vollzugsweisen der ψυχή seien, durch die das Seiende, das in seinem Sein entdeckt worden sei, in seinem »Unverhülltsein« aufbewahrt werden könne. Das Entdecken mache deswegen einen Grundzug der Seele aus, deren »höchste und eigentliche« ἕξεις die σοφία und die φρόνησις seien, »sofern sie die ἀρχαί« des Seienden, auf das sie sich richten, zuerst enthüllen und dann »in Verwahrung halten« 72 würden. Insofern die φρόνησις die ἀρχαί des Handelns bzw. der πρᾶξις betrifft, die Heidegger »ontologisiert« und mit der ursprünglichen Bewegtheit des Lebens identifiziert, weist er der aristotelischen Beschreibung dieser ἕξις eine besondere Bedeutung für »die kategorial[e] Explikation des Seinssinnes der Faktizität« 73 zu. Die φρόνησις, die Aristoteles als eine wahrhaft wissende Bereitschaft zur Handlung definiert, die sich auf Güter und Übel für den Menschen beziehe, 74 wird in der heideggerschen Umdeutung zu derjenigen dem Leben immanenten Sicht, die für die Erhellung des Umgangs des Lebens mit sich selbst und seiner Welt verantwortlich sei: Sie mache alle Komponenten der Situation des Lebens in einem bestimmten Augenblick (»das jeweilige Wie, Wozu, Inwieweit und Warum« 75) und zuVgl. ebd., 378, 385; GA 18, 265; GA 19, 17, 20; GA 22, 25; GA 2, 131. Zur »ethischen Bedeutung« der heideggerschen Auffassung der Wahrheit als Unverdecktsein, das »errungen werden muß« (GA 19, 16), vgl. Umberto Regina: La virtù della verità. Heidegger interprete del VI libro dell’Etica Nicomachea. In: Heidegger e l’etica. Contratto. 2 (1993) 1–2, 142 f. 72 NB, 380; vgl. DW, 71, 76. 73 NB, 385. 74 Vgl. Eth. Nic., 1140 b 6–7. 75 NB, 384. Vgl. 383; GA 18, 171; GA 19, 146 f. Zur Einschränkung der aristotelischen 71
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Aristoteles in Heideggers Durchgang zur Ausarbeitung der Seinsfrage
gleich das Sein des Lebens in dessen Einstellung zu ihnen zugänglich, damit es wohl bereit zum Handeln, d. h. entschlossen sei. In der Ethica Nicomachea versteht Aristoteles unter »καιρός«, Augenblick, die bestimmte Zeit des Handelns oder, im weiteren Sinne, die Situation des Handelnden. Soweit das Handeln immer auf das Gute ziele, spricht Aristoteles dem καιρός weiterhin die Bedeutung des Guten gemäß der Kategorie der Zeit zu. 76 Er sieht diese eigentümliche Gegenwart als ganz verschieden vom νῦν, vom Moment, an, der die Zeit als das Gezählte ausmache, das in der Bewegung feststellbar werde und das in der Physica, Δ, 10–14 erläutert wird. 77 Trotzdem weist Aristoteles dem Augenblick eine gewisse »Erstrecktheit« zu, insoweit er ihn als die der φρόνησις eigene Zeit denkt, die sich in der εὐβουλία, im »Wohlberaten«, vollziehe, die ihrerseits in die προαίρεσις, in die »Vorzugswahl«, münde: Insofern man nur über das Mögliche beratschlagen könne, sei die προαίρεσις auf die Zukunft gerichtet. 78 In seiner Aristoteles-Einleitung »ontologisiert« Heidegger den Augenblick, den er schon in seiner Auslegung der Thessalonicherbriefe des Paulus im WS 1920/21 als die »Zeit der Entscheidung« und des Wissens um sich selbst gefasst hatte, 79 und verschiebt den Fokus vom Handeln zum Sein des Handelnden. Zuerst bestimmt er die φρόνησις als »Verwahrungsweise des vollen Augenblicks«, d. h. als »Festhalten des οὗ ἕνεκα« 80 (des Ziels) des handelnden Lebens in der Wahl der Mittel zu ihm vermöge der Enthüllung des πρακτόν Bedeutung der φρόνησις in Heideggers Interpretation vgl. Jacques Taminiaux: Heidegger and the Project of Fundamental Ontology. Suny Press: Albany 1991, 111–143. 76 Vgl. Eth. Nic., Γ, 1, 1110 a 14; Β, 2, 1104 a 9; Α, 6, 1616 a 34. Zum καιρός in der Ethik des Aristoteles vgl. Pierre Aubenque: La prudence chez Aristote. PUF: Paris 1963, 95–104 (ins Deutsche übers. von Nicolai Sinai und Ulrich J. Schneider, mit einem Vorw. zur dt. Ausgabe von Horst D. Brandt: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles. Meiner: Hamburg 2007, 97–106). 77 Zu Heideggers Kritik an der Zeitauffassung, die in der aristotelischen Physik ausgeführt wurde und bestimmend für den »vulgären« und traditionellen Zeitbegriff war, vgl. GA 21, 249, 265–269; GA 26, 178, 188, 257; GA 2, 24, 35, 53, 556 f., 564, 566, 570 f.; GA 24, 327–363. 78 Vgl. Eth. Nic., Β, 2, 1139 b 6–9; Γ, 3, 1113 a 4. 79 Vgl. GA 60, 102 f., 150 f. Zu Heideggers »kairologischer« Auffassung der Zeit, in der die Einflüsse von Paulus, Aristoteles und Kierkegaard (vgl. GA 2, 447, Fn. 2) verschmelzen, vgl. Michel Haar: Le moment (καιρός), l’instant (Augenblick) et le temps du monde (Weltzeit). In: Jean-François Courtine (éd.): Heidegger 1919–1929. De l’herméneutique de la facticité à la métaphysique du Dasein. Vrin: Paris 1996, 69–71. 80 NB, 383.
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(dessen, was zu tun sei bzw. der Haltung, die das Leben einnehmen müsse). Dann bemerkt er, dass der eigene νοῦς der φρόνησις, der von Aristoteles als eine Art nicht-sinnlicher αἴσθησις bezeichnet werde, das πρακτόν, das noch nicht sei, als solches schon da sein lasse. Er schließt: »Das ›Noch-Nicht‹ und das ›Schon‹ sind in ihrer ›Einheit‹ zu verstehen, d. h. von einer ursprünglichen Gegebenheit her«, die im »schlichte[n] Übersehen des Augenblicks« 81 erfasst wird. In seinen späteren Auslegungen des Buches Ζ der Ethica Nicomachea geht Heidegger auf das λέγειν der φρόνησις, die εὐβουλία, näher ein und betont die Zukunftsdimension der phronetischen Erhellung. In der Vorlesung Platon: Sophistes (WS 1924/25) – deren erstes Drittel der Ethica Nicomachea gewidmet ist – geht Heidegger aus von seiner Definition des λόγος als »Durchsprechen« 82, was so viel heiße wie artikulieren und dadurch sichtbar machen, um die εὐβουλία als diejenige Enthüllung der einzelnen Komponenten der Lage des Handelnden zu bestimmen, die eine ὀρθότης βουλῆς, einen richtigen Entschluss, ermögliche. Er sagt, dass das βουλεύεσθαι »εὖ« geschehen könne, d. h. sich als ein ὀρθὸς λόγος verwirkliche, falls es von der ἀρχή auf das τέλος der Handlung – die sich im Grunde decken würden, insoweit beide nicht außerhalb des Handelns zu verorten seien – vorgehe und somit die Lage des Handelnden erschließe. Die Richtigkeit des Handelns bestehe deshalb darin, dass es die Richtung durchhalte, die von der ἀρχή der Handlung (ihrem οὗ ἕνεκα, ihrem Worumwillen) und deren τέλος (dem πρακτόν im Sinne der vollzogenen Handlung) vorgezeichnet sei. Wenn dies eintrete, dann führe die Artikulation der konkreten Lage zur »rechte[n] Entschlossenheit«, die Heidegger nicht als Entscheidung für eine bestimmte mögliche Tat versteht, sondern als (ontologische) »Durchsichtigkeit der Handlung« 83 bzw. des Handelnden selbst. Daraus folgt, dass Heidegger auch die προαίρεσις nicht so sehr für das Ergebnis der εὐβουλία hält wie für dasjenige Erfassen des Grundes der Handlung und des Entschlusses, welches das βουλεύεσθαι ständig begleitet. Deswegen stellt er fest, dass ἀρχή und τέλος »in der προ-αίρεσις vorweggenommen« 84 seien. Die Textstelle 433 b Ibidem. Vgl. 384, 407; DW, 79 f.; GA 19, 164; GA 22, 312; GA 24, 409. GA 19, 151. Vgl. 146–156, wo sich eine ausführliche Analyse von Eth. Nic., Ζ, 9, 1142 a 31–1142 b 34 findet. 83 GA 19, 150; vgl. DW, 89. 84 GA 19, 142. Vgl. 155 f.; GA 22, 311; GS, 352 f.; PW, 232, wo Gadamer auf ähnliche Weise annimmt, dass Aristoteles dem Menschen einen Sinn für Zeit zuschreibt. 81 82
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Aristoteles in Heideggers Durchgang zur Ausarbeitung der Seinsfrage
5–10 im 10. Kapitel des Buches Γ von De anima auslegend, fügt Heidegger in der Vorlesung Die Grundbegriffe der antiken Philosophie (SS 1926) hinzu, dass die Vorwegnahme in der προαίρεσις die Möglichkeit des Menschen ans Licht bringe, sich zum Zukünftigen (und nicht nur zum Gegenwärtigen wie die anderen Lebewesen) zu verhalten. Auf diese Weise stellt Heidegger die in der προαίρεσις zugespitzte φρόνησις als die Erhellung des Seins des Menschen (der ein handelndes Wesen sei) dar, d. h. als das ἀληθεύειν (die Wahrheit) des Seins des menschlichen Lebens, dessen Sinn er als Zeitlichkeit aufweist. Er belegt seine Auslegung durch eine »Destruktion« des aristotelischen Begriffs der ἀλήθεια πρακτική, der praktischen Wahrheit.
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Die ἀλήθεια πρακτική als »Vollzugswahrheit« des strebend-vernünftigen Menschen
Aristoteles führt die Definition desjenigen Denkens und derjenigen Wahrheit, die die πρᾶξις anbelangen, innerhalb seiner Behandlung der Tugenden am Anfang des Buches Ζ der Ethica Nicomachea ein, das parallel zu De anima, Γ, 3, 427 a 17 – 428 a 6 und Γ, 9, 432 b 13 – 433 b 13 zu lesen ist. In der Abhandlung, die die ψυχή erforscht, definiert Aristoteles die Seele als die Seinsart des Lebendigen und spricht ihr die Eigenschaften des κινεῖν (des Bewegens) und des κρίνειν (des Unterscheidens) zu, das sich im Menschen durch αἴσθησις (Empfindung) und νοῦς (Vernunft) vollziehe. Aristoteles weist somit der menschlichen Seele die Fähigkeit des ἀληθεύειν zu, zumal er zuerst präzisiert, dass der νοῦς recht (ὀρθός) sein könne oder nicht, und dann die φρόνησις sowie die ἐπιστήμη in die rechte Vernunft eingliedert. Er zählt weiter die Seelenvermögen des Menschen auf, unter die das Streben (ὄρεξις) und das Denken fallen. Er identifiziert schließlich die ἀρχή κινήσεως, den Grund der Bewegung, mit dem ὀρεκτόν, dem Erstrebten. 85
Zu Heideggers Auslegung dieser aristotelischen Beschreibung der Seele vgl. GA 22, 184–188, 308–312; GA 19, 38 f. Zur Zwischenstellung der ὄρεξις (als des Seelenvermögens der Leidenschaften, das sich der Vernunft nicht mehr wie bei Platon entgegensetze) vgl. Silvia Gastaldi: Virtù e felicità nell’etica di Aristotele. In: Bollettino della Società Filosofica Italiana. 217 (2016), 8 f.
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Die ἀλήθεια πρακτική als »Vollzugswahrheit«
In Ethica Nicomachea, Α, 13, 1102 a 5 – 1103 a 10 unterscheidet Aristoteles zwei Teile der Seele – einen vernünftigen und einen nichtvernünftigen – und nennt für jeden Teil noch zwei »Bausteine«. Von der ὄρεξις schreibt er, dass sie zum nicht-vernünftigen Teil gehöre, obwohl sie irgendwie an der Vernunft Anteil habe, sofern sie ihr gehorchen könne. Dementsprechend seien zwei Arten von Tugenden – eine für jeden Teil der Seele – zu erwägen: die ethischen und die dianoetischen. 86 Im Buch Ζ, 1, 1139 a 10 – 1139 b 6 führt Aristoteles aus, dass die dianoetischen Tugenden in zwei Gruppen – je nach dem jeweiligen »Baustein« des vernünftigen Teils der Seele – zu differenzieren seien: Das ἐπιστημοτικόν vollziehe sich in ἐπιστήμη und σοφία, das λογιστικόν in τέχνη und φρόνησις. Da der νοῦς für ihn in allen Tugenden eine entscheidende Rolle spielt, 87 erwähnt Aristoteles eine διάνοια θεωρητική und eine διάνοια πρακτική, der eine ἀλήθεια πρακτική entspreche, da sie eine Weise des ἀληθεύειν sei. Der Stagirit definiert schließlich die ἀλήθεια πρακτική, indem er die ursprüngliche Einheit der Teile der Seele zum Vorschein bringt. Aristoteles geht von der Definition der ethischen Tugend als der habituell gewordenen Fähigkeit aus, in der προαίρεσις (der Vollzugsweise der φρόνησις) die Mitte zwischen zwei Extremen (die bestimmt werden solle, wie sie der φρόνιμος bestimmen würde) zu wählen. 88 Danach fügt er hinzu, dass die ἀρχή der προαίρεσις sowohl die ὄρεξις als auch das praktische Denken sei, das die Mittel zum Erreichen des von der ὄρεξις Erstrebten aussuche. Er schließt, dass sich die προαίρεσις als tatsächlich gut verwirkliche – d. h. die Mitte 86 In der Eth. Nic., Α, 13, 1102 a 26–34 verwendet Aristoteles die Metapher des konvexen und konkaven Aspekts einer gekrümmten Linie, um zu verbildlichen, dass und wie der vernünftige vom unvernünftigen Teil der Seele differenziert werden könne. Gadamer unterstreicht, dass die Einteilung der Seele und die Unterscheidung der ethischen von den dianoetischen Tugenden lediglich einen methodischen Sinn hätten, zumal die ethischen Tugenden von der προαίρεσις nicht getrennt werden könnten und θεωρία und πρᾶξις für die Griechen wesentlich aufeinander angewiesen seien (vgl. AiE, 390; IpP, 239 f.; MpE, 175; EE, 353, 360; EA, 2; PW, 247). 87 Heidegger erwähnt die Einteilung des vernünftigen Teils der Seele in GA 18, 106 und erklärt sie in GA 19, 28–30, 47. Er untersucht das Kriterium der Einteilung in DW, 72, 74–75, und weist auf die Tragweite des νοῦς hin in GA 19, 28; DW, 76; NB, 404. 88 Vgl. Eth. Nic., Β, 2, 1104 a 11–18; Β, 7, 1106 b 36 – 1107 a 2; Ζ, 1, 1138 b 19–29. Zu Aristoteles’ Begriff der praktischen Wahrheit vgl. Alejandro G. Vigo: Die aristotelische Auffassung der praktischen Wahrheit. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie. 2 (1998), 285–308.
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Aristoteles in Heideggers Durchgang zur Ausarbeitung der Seinsfrage
treffe –, falls der λόγος wahr und das Streben richtig sei. 89 Die praktische Wahrheit bestehe darum in der Übereinstimmung von wahrem Denken und richtigem Streben. Auf jeden Fall sei der Mensch – als ὄρεξις διανοητική und νοῦς ὀρεκτικός – der Anfangsgrund der προαίρεσις bzw. seiner πρᾶξις. In der Ethica Nicomachea, Ζ, 12, 1144 a 7–9, 36; Ζ, 13, 1144 b 32–33 kommt Aristoteles auf das Verhältnis von φρόνησις und ethischer Tugend zurück und verweist auf die gesellschaftliche Dimension von beiden. Zuerst verdeutlicht er, dass es einerseits unmöglich sei, ohne φρόνησις (Vernünftigkeit) ethisch tugendhaft zu sein, und andererseits, ohne ἦθος sich vernünftig zu verhalten, da das richtige Ziel der Handlung (von dem das richtige Streben abhänge) durch das ἦθος gesetzt werde. Danach greift er auf die Einführung in die Problematik der πόλις und somit auf die Überleitung von der Ethik zur Politik am Ende des Buches Κ voraus, indem er die Staatskunst beiläufig erwähnt. 90 Aristoteles möchte dadurch zu verstehen geben, dass das zu Erstrebende, das Ziel der Handlung, aus dem menschlichen ἦθος (als den Sitten, Bräuchen und Gesetzen einer Gesellschaft) zu nehmen sei, in dem der handelnde Mensch aufgewachsen sei und das er sich kraft seiner προαίρεσις aneignen solle, indem er es durch seine Wahl zugleich modifiziere. 91 Mit »ἦθος« meint Aristoteles kein festes Kri89 Im Buch Ζ setzt Aristoteles seine Erläuterung der προαίρεσις und des βουλεύεσθαι in Γ, 2–3, 1111 b 4 – 1113 a 14 voraus. Zum wahren Logos und richtigen Streben als Bedingungen der praktischen Wahrheit sowie zur guten Entscheidung vgl. Friederike Rese: Praxis und Logos bei Aristoteles. Handlung, Vernunft und Rede in »Nikomachischer Ethik«, »Rhetorik« und »Politik«. Mohr (Paul Siebeck): Tübingen 2003, 178–204. 90 Vgl. Eth. Nic., Ζ, 13, 1145 a 11. Aristoteles hatte die Rolle der φρόνησις schon in der Politik erwähnt, wo er diese Tugend als die Grundhaltung des Politikers bezeichnet hatte (vgl. Ζ, 5, 1140 a 8–11; Ζ, 8, 1141 b 24 – 1142 a 30). Zur »politischen« Dimension der φρόνησις vgl. EA, 14; zur Untrennbarkeit von Ethik und Politik bei Aristoteles vgl. PW, 243 f., 248; AE, 304. Elm hebt hervor, dass der entscheidende Unterschied zwischen der aristotelischen φρόνησις und der praktischen Klugheit der Neuzeit im politischen-gesellschaftlichen Charakter der Ersteren liege (vgl. Ralf Elm: Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles. Schöningh: Paderborn 1996, 225, 228, 235, 237). 91 Zum ἦθος als der gewohnt-herkömmlichen Lebensordnung und zur Entstehung der Tugend aus ihm sowie zum davon abhängenden Verhältnis von Ethik und Politik vgl. Ritter: Zur Grundlegung. A. a. O., 483–492. Zum wechselseitigen Verhältnis von ἦθος und φρόνησις vgl. PW, 246 f.; EE, 354. Die Einheit von ἦθος und λόγος (die in AiE, 381, 393 in Hinblick auf die aristotelische Definition des Menschen betrachtet
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Die ἀλήθεια πρακτική als »Vollzugswahrheit«
terium, an dem sich die Wahl ausrichten solle: Nur der φρόνιμος könne das Gute in der Wirklichkeit erkennen und es von Mal zu Mal in einem gewissen Grade verkörpern, sodass er (als σπουδαῖος) zum »Maß« seiner Mitbürger werden müsse. 92 Die praktische Wahrheit erweist sich also schließlich als eine Art »Vollzugswahrheit« 93, und zwar als die Enthüllung des Lebens in der Gemeinschaft durch das Zusammenwachsen derselben dank des Wählens der Menschen, das an die geschriebenen wie ungeschriebenen Normen gebunden bleibe und sich ebenso frei wie vernünftig verwirkliche. Die ethisch-politischen Züge der praktischen Wahrheit des Aristoteles werden im Natorp-Bericht Heideggers – gemäß dessen ontologischem Ansatz – außer Acht gelassen. Heidegger stellt fest: »Die ἀλήθεια πρακτική ist nichts anderes als der jeweils unverhüllte volle Augenblick des faktischen Lebens im Wie der entscheidenden Umgangsbereitschaft mit ihm selbst« 94. Heidegger geht zwar auf die διάνοια πρακτική ein, aber nur um zu betonen, dass der νοῦς πρακτικός das ὀρεκτόν als ἀρχή der πρᾶξις vernehme und somit enthülle. 95 Es liegt ihm nur daran zu zeigen, dass Aristoteles neben einer theoretischen Weise des ἀληθεύειν eine praktische zulässt. Er will damit seine These bekräftigen, dass sich die philosophische Tradition in der Behauptung geirrt habe, dass Aristoteles diejenige Wahrheitsauffassung ausgearbeitet habe, nach der »wahr« zunächst das mit seiwird) ist nach Gadamer die aristotelische Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang von Tugend und Wissen, die sich ausgehend von Sokrates stellen lässt (vgl. PW, 231, 248; IG, 161). Für Aristoteles’ Stellungnahme zu Sokrates’ These, dass die Tugend ein Wissen sei, vgl. Eth. Nic., Ζ, 13, 1144 b 18–22. 92 Dazu sollte man auch bedenken, dass Aristoteles das Wesen der φρόνησις induktiv, d. h. ausgehend von der Beobachtung des φρόνιμος, bestimmt (vgl. Eth. Nic., Ζ, 5, 1140 a 24–25). Zu den Textstellen in Aristoteles’ Werken, in denen behauptet wird, dass das Gute allein dem guten Menschen als ein solches erscheint, sowie zur Diskussion des »Normproblems« bzw. der Frage nach dem Maß, an dem sich das Verhalten ausrichten soll, vgl. Günther Bien: Die menschlichen Meinungen und das Gute. Die Lösung des Normproblems in der Aristotelischen Ethik. In R1, 345–371, hier 355–371. 93 Mit dieser Bezeichnung ist eine Wahrheit gemeint, die nie Bestand haben kann, weil sie eine sich ständig entwickelnde Wirklichkeit aufdeckt. Zu der Unmöglichkeit, Aristoteles’ Auffassung der praktischen Wahrheit durch das Konzept der Übereinstimmung mit einem bereits festgestellten Guten sowie durch den positivistischen oder operativistischen Wahrheitsbegriff zu erklären, vgl. Inciarte: Theoretische und praktische Wahrheit. A. a. O., 161–170. 94 NB, 384. 95 Vgl. ebd., 406–410.
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Aristoteles in Heideggers Durchgang zur Ausarbeitung der Seinsfrage
nem Gegenstand übereinstimmende Urteil sei. Denn »wahr« im ursprünglichen Sinne sei für den Stagiriten das Seiende, das vollkommen »ἀληθές« (enthüllt) werde, wenn es der menschlichen Seele begegne. 96
Vgl. ebd., 377, 408. Heidegger wird diese Auslegung der aristotelischen Auffassung der Wahrheit in fast allen seinen Arbeiten der ersten Freiburger und der Marburger Zeit ausführen (vgl. DW, 58–62, 65–70, 82 f.; GA 19, 14–19, 23–27, 186–188, 616, 618 f.; GA 21, 127–195; GA 2, 44 f., 282–284, 290 f., 298 f.). Vgl. dazu Franco Volpi: Heidegger in Marburg: die Auseinandersetzung mit Aristoteles. In: Philosophischer Literaturanzeiger. 37 (1984), 2, 177–180; Enrico Berti: I luoghi della verità secondo Aristotele: un confronto con Heidegger. In: Virgilio Melchiorre (a cura di): I luoghi del comprendere. Vita e pensiero: Milano 2000, 3–27.
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II. Die Ethik des Aristoteles im Gesichtskreis der Ontologie des Daseins Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste. Hohe Tugend versteht, wer in die Welt geblickt, und es neigen die Weisen oft am Ende dem Schönen sich. Friedrich Hölderlin, Sokrates und Alkibiades
1.
Der Erwerb der ἀρεταὶ ἠθικαί durch die Erschlossenheit der Existenz
Der Aufweis der Zusammengehörigkeit von menschlichem Leben, ἀλήθεια und Sein bei Aristoteles wird zum vorrangigen Anliegen Heideggers während der Marburger Zeit seiner Lehre (1923–1928), in der er die Frage nach dem Sein überhaupt ausarbeitet und die Ergebnisse seiner Auslegung der Philosophiegeschichte in das Hauptwerk der 1920er Jahre, Sein und Zeit (1927), einfließen lässt. Während Kant der Gesprächspartner ist, dank dessen Heidegger zum Verständnis der Zeit als Sinn von Sein überhaupt – als »Vollzugseinheit« der verschiedenen Bedeutungen von »Sein« – gelangt, 97 bleibt die Interpretation des griechischen Philosophen entscheidend für die Präzisierung der heideggerschen Auffassung der Wahrheit. Denn Heidegger ist überzeugt, dass »die Fundamentalfrage der griechischen philosophischen Forschung […] die Frage nach dem Sein […] und charakteristischerweise die Frage nach der Wahrheit« 98 sei. Aristoteles erscheint Heidegger als derjenige, der nach Platon »das Problem des Seins auf eine grundsätzlich neue Basis gestellt« 99
In GA 21, 194, 197, 199 f. bezeichnet Heidegger Kant als den Einzigen, der die Idee einer »phänomenologischen Chronologie« – einer Logik, die den Bezug des Seins zur Wahrheit durch die Enthüllung der Grundzüge der Zeit verdeutlicht – geahnt habe. Vgl. GA 2, 31 sowie zu Heideggers Auslegung der kantischen Zeitauffassung Rosa M. Marafioti: Il ritorno a Kant di Heidegger. La questione dell’essere e dell’uomo. Mimesis: Milano u. Udine 2011, 191–222, 228–250, 297–381. Heideggers Meinung nach hat Aristoteles sich nicht von einem naturalistischen Zeitverständnis befreit. Er habe deshalb die ursprüngliche Einheit der Seinsbestimmungen des Daseins verfehlt, die in seinen Schriften jedoch bereits genannt worden seien. 98 GA 19, 190. 99 GA 2, 5; vgl. 3; GA 17, 316; GA 19, 449; GA 20, 179, 184. Für einen Vergleich zwischen Heideggers Ausarbeitung der Seinsfrage und Aristoteles’ Erforschung des 97
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Die Ethik des Aristoteles im Gesichtskreis der Ontologie des Daseins
habe. Denn mit seiner Äußerung: »ἡ ψυχὴ τὰ ὄντα πώς ἐστιν« 100 habe Aristoteles zu verstehen gegeben, dass die Seele als Sein des Menschen das menschliche ebenso wie das nichtmenschliche Seiende in seinem eigenen Sein zu entdecken vermöge. Der aristotelische Satz deute deshalb schon auf den »ontisch-ontologische[n] Vorrang des Daseins« 101 hin, der darin bestehe, dass das Dasein das einzige Seiende sei, das das Sein verstehen könne, da es sich wesenhaft zu seinem Sein – der Existenz – verhalte, indem es sein Sein jeweilig zu sein habe. 102 Die »Existenzialanalytik«, d. h. die Ontologie des Daseins, sei deshalb die »Fundamentalontologie«: Sie müsse vor jeglicher anderen Ontologie ausgeführt werden und bilde die Voraussetzung auch für das Stellen der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt. Heidegger arbeitet die Frage nach dem Sinn des Seins des Daseins gleichzeitig mit seiner Auslegung des Aristoteles aus. In der Marburger Zeit zieht er die Rhetorica und die Ethica Nicomachea mehr als zuvor in Betracht. Er ist jetzt der Ansicht, dass die Rhetorica »die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins« 103 bzw. der uneigentlichen Seinsweise des Daseins – Seins vgl. Ryioichi Hosokawa: »Sein und Zeit« als »Wiederholung« der aristotelischen Seinsfrage. In: Philosophisches Jahrbuch. 94 (1987) 2, 369–371. 100 De an., Γ, 8, 431 b 21, zitiert in GA 2, 18 f.; vgl. GA 19, 19. 101 GA 2, 18; vgl. 12–20, 56 f. Wegen dieses Vorrangs erhebt Heidegger das Dasein zum »Befragten« der Seinsfrage. Während er die drei Elemente der Frage nach dem Sinn von Sein (Erfragtes, Gefragtes, Befragtes) im WS 1923/24 noch nicht eingeführt hatte (vgl. GA 17, 316), tauchen sie in der Vorlesung vom WS 1924/25 über Platons Sophistes auf (vgl. GA 19, 448) und werden im SS 1925 sowie in Sein und Zeit (vgl. GA 2, 7–9) analytisch dargestellt. Zur Rolle, die die Interpretation von Platons Sophistes bei der heideggerschen Ausarbeitung der Seinsfrage gespielt hat, vgl. Ingeborg Schüßler: Le Sophiste de Platon dans l’interpretation de Heidegger. In: Courtine (éd.): Heidegger 1919–1929. A. a. O., 91–111. 102 Vgl. GA 2, 56 f. und (zum Zusammenhang zwischen Seinsverständnis, Seinsverhältnis, Jeweiligkeit und Jemeinigkeit des Daseins) Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Ein Kommentar zu »Sein und Zeit«. Klostermann: Frankfurt am Main. Bd. 2: »Erster Abschnitt: Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins« § 9 – § 27, 2005, 34–37. 103 GA 2, 184. Vgl. GA 18, 110 und dazu Massimo Marassi: Heidegger e la Retorica di Aristotele. Risposta alla domanda: quando il lógos diventa pístis? In: Emilio Mattioli/ Rita Messori (a cura di): Martin Heidegger (trent’anni dopo: 1976–2006). Studi di estetica. 33 (2006), 243–261. Offensichtlich definiert Heidegger das Existenzial der Befindlichkeit anhand des aristotelischen Begriffs des πάθος und des augustinischen Terminus der affectio (vgl. GA 64, 111; GA 18, 178). Die ausführlichste heideggersche Interpretation der Rhetorica findet sich in GA 18, 108–172, 246–263. Auf die hier entwickelte Auslegung des aristotelischen Begriffs der Furcht wird in GA 20, 391–
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Der Erwerb der ἀρεταὶ ἠθικαί durch die Erschlossenheit der Existenz
des »Man« – sei, in der sich das Dasein wegen seines Verfallens an die Welt »verloren« habe. In der Ethica Nicomachea sei dagegen eine »Ontologie des Daseins« vorhanden, die die »Ontologie des Lebens« 104 ergänze, die bereits in De anima entworfen worden sei. In der Ethica Nicomachea stelle Aristoteles nämlich eine vollständige Phänomenologie der entdeckenden Verhaltungen des menschlichen Lebens dar, 105 aus der einige Grundzüge der eigentlichen Seinsweise des Daseins entnommen werden könnten. Heidegger glaubt, in den aristotelischen Texten auch einen Hinweis auf diejenige existenzielle Modifikation des Man finden zu können, kraft deren das Dasein eigentlich existiere, und zwar in der Beschreibung der Entstehung der ethischen Tugend als ἕξις προαιρετική. In diesem Zusammenhang richtet er seine Aufmerksamkeit auf den Begriff des ἦθος, dem er eine ontologische Bedeutung beimisst, insoweit er es als die »›Haltung‹ des Menschen« auslegt, was so viel heiße wie die Weise, in der »der Mensch da« 106 sei und aufgrund deren er sich in einer bestimmten (existenziell-ontischen) Art innerhalb der Welt und ihm selbst sowie den anderen gegenüber je und je verhalten könne. Auf dieser ursprünglichen Ebene erweise sich die aristotelische Ethik nicht als ein Teil der Politik, sondern falle mit ihr zusammen, zumal der Stagirit den Menschen als ζῷον πολιτικόν bezeichne. 107
400 und in GA 2, 186–189 zurückgegriffen. Zu einer Kritik von Heideggers Interpretation und einer Analyse ihres möglichen Nachklangs in der heideggerschen Auffassung der zwischenmenschlichen Beziehungen vgl. Enrico Berti: Le passioni tra Heidegger e Aristotele. In: Bollettino della Società Filosofica Italiana. 206 (2012), 23–29. 104 GA 22, 148, 188. 105 Aus diesem Grund behauptet Heidegger, dass Aristoteles weiter gesehen habe als Husserl: Husserl habe zwar verstanden, dass die Wahrheit der Aussage und der kategorialen Anschauung auf der sinnlichen Anschauung beruhe (er habe nämlich Aristoteles’ Satz umformuliert: »οὐδέποτε νοεῖ ἄνευ φαντάσματος ἡ ψυχή« [De an., Γ, 7, 431 a, 16–17]); doch sei er dem theoretischen Ansatz verfallen, der in seinem Begriff der transzendentalen Subjektivität hervortrete und in einer Tradition verwurzelt sei, die mit der aristotelischen Kategorienlehre begonnen habe (vgl. GA 20, 73 f., 162, 301). Die hierarchische Anordnung der nicht-theoretischen entdeckenden Verhaltungen bei Aristoteles ist zusammengefasst in: Franco Volpi: »Sein und Zeit«: Homologien zur »Nikomachischen Ethik«. In: Philosophisches Jahrbuch. 96 (1989) 2, 229. 106 GA 18, 68; vgl. 106. Auf S. 165–167 untersucht Heidegger die drei Momente der Ausbildung des ἦθος – zu denen auch die ἀρετή und erst recht die φρόνησις gehört – in Rhet., Β, 1, 1378 a 9–15. 107 Vgl. GA 18, 45 f., 68, 104.
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Die Ethik des Aristoteles im Gesichtskreis der Ontologie des Daseins
In der Vorlesung Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (SS 1924) interpretiert Heidegger Aristoteles’ Definition der ἀρεταὶ ἠθικαί, deren Übersetzung mit »sittliche« bzw. »ethische Tugenden« er zurückweist. Heidegger geht implizit von seiner Daseinsanalytik aus und gibt zu verstehen, dass sich das ἦθος »uneigentlich« oder »eigentlich« vollziehen kann. 108 Umso mehr gilt das für die ἕξις, insoweit sie in Heideggers Interpretation eine Entwicklungsweise der Haltung ist. Ausgehend von Metaphysica, Δ, 23, 1022–1023 und Ethica Nicomachea, Β, 5, 1105 b 19 – 1107 a 4 bestimmt Heidegger die aristotelische ἕξις als die Seinsweise, in der das Dasein sich »habe«, und fasst sie als »Orientiertsein« auf etwas. 109 Indem er sagt, dass das Dasein zumeist unausdrücklich in einer ἕξις sei, verweist er implizit auf die uneigentliche Existenzweise, aus der sich das Dasein jedoch »zurückholen« könne. Man kann vermuten, dass Heidegger die »Zurücknahme« des Daseins aus dem Verfallen an das Man analog zur Veränderung des Status des aristotelischen Menschen durch die Ausbildung der ἕξις auffasst. Er wird wohl gedacht haben, dass das Dasein, wenn es ausdrücklich in eine ἕξις kommt, sich seine Grundmöglichkeit aneigne, die darin bestehe, dass es sich selbst »habe«. Wenn es diese Möglichkeit ergreife, verhalte es sich zu seinem Sein und zur Welt in einer gewählten (weil ausgebildeten) Weise. Heidegger betrachtet die Ausbildung der ἕξις zusammen mit der Entstehung der ἀρεταὶ ἠθικαί, da die ἕξις das γένος der ἀρετή ist, das Aristoteles in Bezug auf die ethische Tugend untersucht. 110 In der heideggerschen Auslegung des Erwerbs der ἀρετή kommt deshalb die entscheidende Rolle, die Heidegger der aristotelischen προαίρεσις bzw. der φρόνησις beim Auftreten der eigentlichen Existenzweise des Daseins zumisst, ans Licht. Heidegger zeigt, dass der Grundcharakter der ethischen Tugend, nämlich dass sie die Mitte treffe, dafür 108 Die beiden Seinsmöglichkeiten scheinen auch in der Auslegung der Abgrenzung der δόξα von der προαίρεσις (vgl. ebd., 147) und in der Gegenüberstellung des Betrügers und des Redners durch, welch Letzterer »das richtige ἦθος« (165) (d. h. ἀρετή und φρόνησις) habe (vgl. 166 f.). 109 Vgl. ebd., 168, 172–191; DW, 89. 110 Aristoteles beschreibt die Ausbildung der ἀρεταὶ ἠθικαί als einen Erfahrungsund Erziehungsweg – den sogenannten »ἐθισμός« –, auf dem die sittlichen Handlungsziele, an denen sich das Verhalten des σπουδαῖος orientiere, von der φρόνησις ans Licht gehoben worden seien. Diese Ziele könnten dann als Gestalten der allgemeinen Regel der πρᾶξις einer Gesellschaft und als Hilfe für das Treffen der Mitte verstanden sowie zum Maß der eigenen Entscheidungen erhoben werden. Vgl. dazu Elm: Klugheit und Erfahrung. A. a. O., 220–225, 253–258, 268 f.
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Der Erwerb der ἀρεταὶ ἠθικαί durch die Erschlossenheit der Existenz
verantwortlich sei, dass das Dasein sich in der Mitte halten könne, und sagt, dass sie die Fähigkeit voraussetze, »den Augenblick« (die ganze Situation des Handelnden) »zu ergreifen« 111. Dieses Vermögen sei wegen der Jeweiligkeit unseres Daseins wesenhaft auf die Zeitdimension des Augenblicks bezogen. Auf der Basis der heideggerschen Paraphrase des Wortes »ἀρετή« mit »das Verfügen jeweils über eine ganz bestimmte Möglichkeit des eigenen Seins« 112 wird der Hintergrund der Auslegung der ethischen Tugend durch Heidegger ersichtlich: Das Dasein müsse sich zunächst »an sich«, an sein eigenes Sein, halten, um dann die μεσότης, die Mitte, in einer (ontischen) Situation anerkennen und wählen zu können. Indem Heidegger sagt, dass der aristotelische Begriff der ἀρετή eine Seinsmöglichkeit bedeute, die »sich verschlafen« könne, und dass das »Wachsein« eines tüchtigen Lebens nur erreicht werde, falls dieses »sich nicht vor seinen eigenen Möglichkeiten und Gefahren« 113 zurückziehe, erläutert er die Ausbildung der ἀρετή im Sinne der Verwandlung der uneigentlichen Existenzweise des Daseins in die eigentliche. In Heideggers Sicht ist daher der Augenblick nicht nur deshalb die eigene Zeitlichkeit der ἀρεταὶ ἠθικαί, weil sich die Welt, in der sich das Dasein befindet und an die es sich anpassen muss, stetig verändert. Denn der Augenblick betrifft eher die ontologische Haltung (das ἦθος) des Daseins als sein ontisches Verhalten in einer Situation, in der die eigentliche Existenzweise des Daseins immer neu vollzogen werden muss und ihr Verlust eine ständige Gefahr bleibt. Diesbezüglich wird Heidegger in Sein und Zeit schreiben, dass die »vorlaufende Entschlossenheit« (die ontologische Haltung des Daseins, in der dieses vor seinem Tod als seiner ursprünglichen Nichtigkeit bzw. Endlichkeit nicht fliehe) die Möglichkeit der Eigentlichkeit der Existenz sei, 114 die sich nicht ein für alle Mal ergreifen lasse. Denn die Eigentlichkeit entspringe aus der Übernahme des eigensten Seins durch das Dasein und setze voraus, dass das Sein dem Dasein erschlossen sei. Die Entschlossenheit bestehe nämlich in der Erschlossenheit der Existenz, d. h. in der Wahrheit (der ἀλήθεια) des Seins GA 18, 186. Ebd., 78. 113 Ebd., 78, 181. Vgl. 76, wo Heidegger Eth. Nic., Α, 5, 1095 b 32–33 auslegt. Er übernimmt die Metapher der Wachsamkeit aus Paulus’ Ersten Thessalonicherbrief, 5, 6 (vgl. GA 60, 104 f., 125). Sie wird in verschiedenen Kontexten auch von Gadamer wiederaufgenommen (vgl. Z, 19 f.; HS, 18; PW, 241). 114 Vgl. GA 2, 409. 111 112
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Die Ethik des Aristoteles im Gesichtskreis der Ontologie des Daseins
des Daseins, das sich jedoch in der Wahrheit und zugleich in der Unwahrheit bewege. 115 Die vorlaufende Entschlossenheit mache dem Dasein die Gleichursprünglichkeit von Wahrheit und Unwahrheit erfahrbar, und dadurch bereite es auf seine »Zurück-nahme«, seine »Wieder-holung« aus der immer wieder möglichen Verlorenheit in das Man vor. Damit halte die vorlaufende Entschlossenheit das Dasein gleichsam bereit zur Wiederholung ihrer selbst, da nur sie die »Wieder-holung« des Daseins aus dem Man ermögliche. Gerade weil die Entschlossenheit das Dasein für seine mögliche und je faktisch notwendige Zurücknahme bereit halten müsse, solle sie sich nicht auf eine bestimmte Möglichkeit beschränken, sich »nicht auf die Situation versteifen« 116. Insoweit der Entschluss »das erschließende Entwerfen und Bestimmen der jeweiligen faktischen Möglichkeit« sei, halte die Entschlossenheit den Entschluss offen nur durch ihre eigene Unbestimmtheit: 117 Sie sei keine bestimmte Wahl, sondern so etwas wie eine »Wahl der Wahl« 118. Dies besage aber keine Ablösung von der Welt, weil erst die ontologische Haltung (das ἦθος) der vorlaufenden Entschlossenheit einen eigentlichen Umgang des Daseins mit dem anderen Seienden ermögliche, da sie dem Dasein erlaube, seine ganze Situation im »Augenblick« 119 zu erschließen. Vgl. ebd., 407 f. Ebd., 407; vgl. 408. Davon hänge die Freiheit und die Verantwortlichkeit des Daseins ab (vgl. István M. Fehér: Eigentlichkeit, Gewissen und Schuld in Heideggers »Sein und Zeit«: Eine Interpretation mit Ausblicken auf seinen späteren Denkweg. In: Man and World. 23 [1990], 57). 117 Vgl. GA 2, 395 f. 118 Ebd., 358; vgl. 356. Heidegger übernimmt diesen Ausdruck von Kierkegaard, der »das Existenzproblem als existenzielles ausdrücklich ergriffen« (313, Fn. 6) habe. Zu Kierkegaards »Wahl der Wahl« vgl. Søren Kierkegaard: Entweder – Oder. Teil II. Hrsg. von Emanuel Hirsch. In: ders.: Gesammelte Werke. Diederichs: Düsseldorf. Bd. 11, 1957, 227–233. Zum Unterschied in der Auffassung der Wahl bei Kierkegaard und Heidegger vgl. Günter Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit. Hain: Frankfurt am Main 1991, 251–256. 119 GA 2, 434; vgl. 350 f., 395. Zur eigenen Zeit der Entschlossenheit sowie zu ihrer Beziehung zu den bestimmten Handlungen im Kontext des »Miteinanderseins« vgl. GA 64, 81. Dass Heidegger die Eigentlichkeit des Daseins keinem isolierten »Selbst« zugeschrieben hat (weswegen seine »Ontologisierung« der πρᾶξις in keinen Solipsismus gemündet ist), ist auf der Basis mehrerer Stellen in Sein und Zeit belegbar. Vgl. dazu Hadrien France-Lanord: Martin Heidegger et la question de l’autre I, II, III & IV. In: Heidegger Studies. 20 (2004), 63–82; 21 (2005), 111–131; 27 (2011), 75–99. Zur Gegenthese, die auch von Karl Löwith, Hannah Arendt, Martin Buber und Emmanuel 115 116
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Die ἕξις προαιρετική im Augenblick der »Wieder-holung«
2.
Die ἕξις προαιρετική im Augenblick der »Wieder-holung«
Heidegger arbeitet seine Auffassung der Entschlossenheit gleichzeitig mit der Auslegung des aristotelischen Begriffes der προαίρεσις aus, weswegen sich die sie angehenden Textstellen der Marburger Vorlesungen parallel zu Sein und Zeit lesen lassen. In der Vorlesung Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie macht Heidegger darauf aufmerksam, dass Aristoteles diejenige ἕξις, die einem aufrichtigen Verhalten zu den anderen und zu sich selbst entspricht, mit der προαίρεσις identifiziere. Die ἕξις προαιρετική sei deshalb die ἕξις des ἀληθεύειν, des »Verfügen[s] über die« (griechisch verstandene) Wahrheit im Verhalten »zu anderen und zu sich selbst« 120. Sie sei folglich die ἕξις, in der das Dasein eigentlich – d. h. gemäß seinen eigenen Seinsmöglichkeiten – existiere. Heidegger findet einen Nachweis dafür in der aristotelischen Unterscheidung der προαίρεσις von der δόξα. Denn die δόξα gehe auf das ἀληθές sowie auf das ψευδές, und sie komme ins Spiel auf der ontischen Ebene des alltäglichen Miteinanderredens. Dagegen verwandele die προαίρεσις ontologisch, weil »die Art und Weise, wie ich mich entschließe, […] entscheidend für mein Sein, […] für mein ἦθος« sei und sich nicht auf einzelne bestimmte Umstände richte. Heidegger präzisiert: »Bei der προαίρεσις kommt es darauf an, wie es gemacht werden soll, […] was in einen Entschluß gestellt ist.« 121 Damit überträgt Heidegger den Sinn der aristotelischen προαίρεσις vom Sachfeld der Handlungsbestimmung auf den Bereich des Seinsverständnisses 122 und -vollzugs. Dabei kann er einen Anhalt für seine Interpretation in der aristotelischen Unterscheidung zwischen den Erzeugnissen der τέχνη und den Ergebnissen der tugendhaften Handlungen finden: Während Lévinas vertreten wurde, vgl. Jean-François Courtine: Heidegger et la phénoménologie. Vrin: Paris 1990, 318–353. 120 GA 18, 264; vgl. 263–265. Heidegger legt hier Eth. Nic., Δ, 7, 1127 a 19 – 1127 b 3 aus. 121 GA 18, 147; vgl. 176. Heidegger kommentiert hier Eth. Nic., Γ, 2, 1111 b 30 – 1112 a 17. 122 Vgl. dazu Friederike Rese: Handlungsbestimmung vs. Seinsverständnis. Zur Verschiedenheit von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik und Heideggers Sein und Zeit. In: Alfred Denker/Günter Figal/Franco Volpi/Holger Zaborowski (Hrsg.): Heidegger und Aristoteles. Heidegger-Jahrbuch. 3 (2007), 196.
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Die Ethik des Aristoteles im Gesichtskreis der Ontologie des Daseins
es für die Ersteren genüge, dass sie bestimmte Eigenschaften besäßen, um gelungen zu sein, müssten die Zweiten aus einer festen Haltung folgen. 123 Eine solche Haltung sei jedoch mit der Sachkenntnis der τέχνη nicht vergleichbar: Das für die Produktion benötigte Wissen könne nach dem Erwerb als gewisser Besitz behalten werden, wohingegen sich die tugendhafte Einstellung immer wieder erneuern müsse. Bei der heideggerschen Auslegung dieses Unterschieds kommt die entscheidende Rolle des Begriffs der »Gewöhnung« zum Vorschein. Aristoteles schreibt, dass sowohl die ἀρεταὶ ἠθικαί als auch die τέχνη Fähigkeiten seien, die durch ein wiederholtes Tun ausgebildet werden könnten, da sie vermöge der Gewöhnung erworben würden. Heidegger deutet die Gewöhnung zunächst als »Wiederholung«; danach unterscheidet er die Wiederholung, die die Einübung in eine τέχνη bedeutet und die vollkommene Entsprechung zu einer Richtlinie bezweckt, von der »Wieder-holung« im Sinne der wiederholten Aneignung der ἕξις προαιρετική. 124 Er betont, dass die ἀρεταὶ ἠθικαί bzw. die ἕξις προαιρετική ursprünglich auf den Augenblick »orientiert« seien, und zwar nicht nur, weil sie die Mitte je nach dem Augenblick – der Situation des Handelns – treffen müssten, sondern auch und vor allem, weil die ihnen zugrunde liegende προαίρεσις immer »wieder-holt« werden müsse. Heidegger führt den aristotelischen Satz an, nach dem »das μέσον schwer zu finden und sehr leicht zu verfehlen ist« 125, und kommentiert: »Die Möglichkeiten, über die eine menschliche Existenz verfügt, sind in der Erstreckung des Daseins nicht ständig da, es verliert sich. Die Möglichkeit verfällt und es bedarf der immer neuen und ständig wiederholten Aneignung […]. Das Immer eines solchen Seienden wie des Daseins ist das Öfter der Wiederholung.« 126 Heidegger führt diesen Gedankengang in der Vorlesung Platon: Sophistes (WS 1924/25) weiter aus, indem er auf die Abgrenzung der Vgl. GA 18, 182–184. Heidegger interpretiert hier Eth. Nic., Β, 1, 1103 a 14 – 1103 b 25; Β, 4, 1105 a 17 – 1105 b 19. 124 Vgl. GA 18, 188–191. 125 Ebd., 190. Heidegger beruft sich hier auf Eth. Nic., Β, 6, 1106 b 32–33. Er hatte an diese These schon in GA 61, 108 erinnert und sie mit Platon (Res publ., 285 b; Prot., 356 a) in Zusammenhang gebracht. Aristoteles’ Satz wird wiederholt auch von Gadamer angeführt, der betonen möchte, dass im Bereich der praktischen Philosophie keine feste Regel, sondern nur eine Orientierungshilfe möglich sei. Hierbei verweist Gadamer auf das Gleichnis des Bogenschützen in Eth. Nic., Α, 2, 1194 a 23–24 (vgl. IG, 219 f.; IpP, 240). 126 GA 18, 190 f. 123
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φρόνησις (die sich in der προαίρεσις vollzieht) gegen die τέχνη und die ἐπιστήμη eingeht, 127 die Aristoteles im Buch Ζ der Ethica Nicomachea innerhalb der Darstellung der Eigenart jener dianoetischen Tugend als einer Weise des ἀληθεύειν vornimmt. Unter den Gründen, die Aristoteles zur Unterscheidung der φρόνησις von der τέχνη aufzählt, unterstreicht Heidegger besonders die Differenz des τέλος, von der wiederum der Unterschied in der Vollzugsart von φρόνησις und τέχνη abhängt. Dies ermöglicht es ihm, den Akzent auf die Autotelie der πρᾶξις und die konstitutive Nichtgraduierbarkeit des sie orientierenden Wissens zu legen, um auf die Selbstbezüglichkeit des Daseins – als des Seienden, das umwillen seines Seins sei, welches ihm zu einer schweren Last werde – 128 und auf die Gegenüberstellung von uneigentlicher und eigentlicher Existenzweise anzuspielen. Aristoteles schreibt, dass das Ziel der τέχνη das Werk, d. h. etwas anderes als die Herstellung als solche sei, wohingegen sich die φρόνησις auf die πρᾶξις selbst richte, insofern sie die εὐπραξία bezwecke: Die πρᾶξις sei nicht um eines anderen willen da, sondern habe ihr Prinzip und Ziel (οὗ ἕνεκα) in sich selbst. Heidegger unterscheidet stillschweigend in den aristotelischen Texten zwei Bedeutungen von »πρᾶξις«: Im strengen Sinne bezeichne dieses Wort eine Verhaltensweise des Daseins, die gleichrangig mit ποίησις und θεωρία sei; im weiteren Sinne decke es sich mit der dem Menschen spezifischen Art der κίνησις, d. h. mit dem Sein des Daseins als Sorge, die durch den aristotelischen Begriff der ὄρεξις weiter bestimmt werden könne. Die
Vgl. GA 19, 48–57. Heidegger legt hier Eth. Nic., Ζ, 5, 1140 a 24 – 1140 b 30 aus. Nach Gillespie hat diese Auslegung die Grundlage für die spätere Annäherung Heideggers an den Nationalsozialismus gelegt, insoweit der Denker die Nationalsozialisten als diejenigen φρόνιμοι geschätzt habe, die der Gewalt der Technik entgegentreten könnten (vgl. Michael A. Gillespie: Martin Heidegger’s Aristotelian National Socialism. In: Political Theory. 28 [2000] 2, 140–158). 128 Vgl. GA 2, 254, 377, 179 f. (in Fn. »a« ist zu lesen: »›Last‹ : das Zu-tragende […]. Tragen: übernehmen aus der Zugehörigkeit zum Sein selbst.«). Dass Heidegger den »Lastcharakter« des Daseins ausgehend von Aristoteles’ Theorie bestimmt hat, dass es schwer sei, die Mitte zu treffen, ist zu entnehmen aus GA 61, 108 f.; GA 62, 65 f., 76, 81, 318; NB, 349; GA 19, 54. Vgl. dazu Neumann: Nachwort des Herausgebers. A. a. O., 346 f. In der Bezeichnung des Daseins als »umwillen seiner selbst« ist der Einfluss von Aristoteles (dazu vgl. Franco Volpi: L’esistenza come «praxis». Le radici aristoteliche della terminologia di «Essere e tempo». In: Gianni Vattimo [a cura di]: Filosofia ’91. Laterza: Roma u. Bari 1992, 236–239) und Kant (dazu vgl. Rolf Kühn: Person und Subjekt in Heideggers Kantinterpretation. In: Wissenschaft und Weisheit. 56 [1993], 65–69) erkennbar. 127
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πρᾶξις in diesem weiteren Sinn gestalte sich dann in den Modi der πρᾶξις im engeren Sinne, der ποίησις und der θεωρία. 129 Diesen weiteren Begriff der πρᾶξις voraussetzend, schreibt Heidegger, dass Aristoteles’ Unterscheidung des τέλος der τέχνη vom τέλος der πρᾶξις darauf beruhe, dass das Erste mit einem vom Menschen herzustellenden Seienden übereinstimme, während das Zweite »das rechte Sein des Menschen« 130 selbst sei. Dass Heidegger damit die eigentliche Existenzweise des Daseins meint, wird aus seinen Ausführungen erkennbar, die die Notwendigkeit der φρόνησις rechtfertigen wollen. Heidegger sagt: Der Mensch ist »sich selbst verdeckt […], so daß es eigens eines ἀ-ληθεύειν bedarf, um sich selbst durchsichtig zu werden […]. Die φρόνησις ist […] eine Aufgabe, die in einer προαίρεσις ergriffen werden muß« 131 und die nie völlig zur Erfüllung kommen kann. Heidegger macht klar, dass die τέχνη sich in der Meisterschaft ein für alle Mal vollenden könne, wohingegen die Möglichkeit der Ewigkeit der durch die φρόνησις gewährleisteten Durchsichtigkeit unweigerlich entzogen sei. Er erinnert dabei daran, dass der φρόνησις aus diesem Grund von Aristoteles keine ἀρετή zugeordnet werde, da sie vielmehr als solche »ἀρετή« sei: Die Vollendung – die ἀρετή – sei für die φρόνησις kein Charakter, der zuerst erworben und dann als immer anwesend beibehalten werden könne, sondern ihre eigene je verschiedene Entfaltungsweise. 132 Damit hänge zusammen, dass sich das Wissen der τέχνη durch eine Ausbildung vermehre, die auch durch Fehlversuche zu verwirklichen sei und sich in Stufen vollziehe, bis irgendwann die vollkom129 Vgl. Volpi: Heidegger e Aristotele. A. a. O., 96 f., Fn. 30, 106–110. Die aristotelische Bestimmung des Menschen als ὄρεξις διανοητική und νοῦς ὀρεκτικός wird wohl der Grund dafür gewesen sein, dass Heidegger sowohl die ὄρεξις als auch die πρᾶξις, deren Wissen die sich mit νοῦς und λόγος vollziehende φρόνησις ist, in die Definition der Sorge einfließen lässt. Einige der Textstellen, in denen Heidegger den aristotelischen Begriff von πρᾶξις mit dem ursprünglichen Sinn des Seins des Daseins identifiziert, finden sich in DW, 70; GA 18, 38, 65, 176, 188 f.; GA 19, 38, 143; GA 22, 312; GA 63, 27; NB, 383; HAS, 35, 45. 130 GA 19, 50. Vgl. dazu Alessandro Giordani: Il problema della verità. Heidegger vs Aristotele. Vita e Pensiero: Milano 2001, 153–155. 131 GA 19, 51 f.; vgl. GA 2, 195. 132 Vgl. GA 19, 54. Heidegger kommentiert hier Eth. Nic., Ζ, 5, 1140 b 22. Diese Textstelle wird auch von Gadamer in PW, 241 f. wieder aufgegriffen. Für das Verhältnis zwischen den Auslegungen Heideggers und Gadamers vgl. Robert Bernasconi: Heidegger’s Destruction of φρόνησις. In: The Southern Journal of Philosophy. 28 (1989), 136–138.
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mene Beherrschung erreicht werde. Die φρόνησις habe dagegen »gar keine Möglichkeit, vollendeter zu sein«, und in ihrem Fall sei »jedes Fehlgehen [als] ein Sich-Verfehlen«, ein »Verderb« zu vermeiden, da sie sich auf »das eigene Sein des Daseins« richte: Bei der φρόνησις gebe »es kein Mehr oder Minder, kein Sowohl-Als auch […], sondern nur […] das Treffen oder Verfehlen, das Entweder-Oder« 133. Außerdem könne das Wissen der τέχνη sowie dasjenige der ἐπιστήμη und sogar das der δόξα wachsen und verbessert werden, wohingegen das Wissen der φρόνησις keine Möglichkeit habe, auf sich selbst aufzubauen, weil es jedes Mal neu sei. Dies müsse jedoch nicht als Nachteil, sondern als Vorteil angesehen werden. Denn während das Ergebnis eines θεωρεῖν gelernt und auch vergessen werden könne, geschehe das im Falle des von der φρόνησις Enthüllten nicht, und zwar aus dem Grund, dass die φρόνησις mehr als eine bloße ἕξις sei. Deswegen gebe es »die Verfallensmöglichkeit des Vergessens« 134 bei ihr nicht. Heidegger kommentiert Aristoteles’ Gedankengang, der den Aufweis der Eigenart der φρόνησις bezweckt, mit den Worten: »Aristoteles [ist] hier auf das Phänomen des Gewissens gestoßen.« Man kann »das, was das Gewissen aufdeckt, […] verstellen und unwirksam werden lassen. Das Gewissen meldet sich [aber] immer wieder.« 135 Obwohl Heidegger hier nichts hinzufügt, denkt er offenbar an seine eigene Auffassung des Gewissens, die er vor allem in der Auseinandersetzung mit Aristoteles, dem Urchristentum und Kant ausarbeitet und die in Sein und Zeit eine ausführliche Darstellung findet. 136 In dem Werk von 1927 bezeichnet Heidegger das Gewissen als dasjenige Phänomen, das dem Dasein sein eigenstes Seinskönnen offenbar mache. Als Ruf der Sorge enthülle das Gewissen das Sein des Daseins und bringe dieses Seiende vor sein ursprüngliches »Schuldigsein« – vor seine Nichtigkeit –, von dem weg es in Richtung GA 19, 54. Ebd., 56. 135 Ibidem. Vgl. DW, 95, wo geschrieben ist: »Φρόνησις […]. In der Handlung – τέλος – ergreift und gewinnt das Dasein sich selbst.« 136 Vgl. GA 2, 359–382. Gadamer erinnert die Seminarsitzung, in der Heidegger die aristotelische φρόνησις mit dem Gewissen identifiziert hat, und bringt die heideggersche Auslegung mit dem »Gewissensruf« in Verbindung, der in Sein und Zeit erläutert wird. Er gibt zu, dass er Heideggers »Übertreibung« damals nicht ganz verstanden habe, obwohl er von ihr gelernt habe, wie fremde Fragen zu eigenen werden könnten, obzwar Differenzierungen zwischen dem eigenen und dem anderen Standpunkt vorzunehmen seien (vgl. S, 485; MT, 200; RA, 400; EH, 7). 133 134
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der beruhigenden Mittelmäßigkeit des Man fliehe. Im Modus des Schweigens lasse sich das Gewissen durch das Gerede des Man hindurch hören und gebe dem Dasein zu verstehen, dass es sich aus der Verlorenheit in die Alltäglichkeit zu ihm selbst zurückholen solle. 137 Wenn das Dasein auf den Gewissensruf höre bzw. ihn verstehe, weiche es vor seinem Zu-sein – vor der Schwere seines Seins – nicht mehr aus und übernehme die Verantwortlichkeit für sein Handeln, d. h. es bringe sich selbst in die Entschlossenheit des Handelns im Sinne der ursprünglichen πρᾶξις. 138 Dadurch könne das Dasein sogar »zum ›Gewissen‹ der Anderen werden« 139, indem es eigentlich – sein eigenes Sein erschließend und das Sein des anderen Seienden enthüllend – existiere. 140 Vgl. GA 2, 372, 380 f., 390. Nach Gethmann ist das Gewissen diejenige »EinsichtsInstanz« (307), die die Selbstbeziehung des Daseins aufweist und somit die Selbstverpflichtung des Handelnden als Ursprung des Sollens offenbar macht (vgl. Carl F. Gethmann: Dasein. Erkennen und Handeln. Heidegger im phänomenologischen Kontext. Walter de Gruyter: Berlin u. New York 1993, 291, 305–307). Zur ursprünglichen Verbindung des Gewissensrufs mit der Verantwortung vgl. Martin Heidegger: Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung. In GA 80.1, 144 f.; Günther Neumann: Der Freiheitsbegriff beim frühen Heidegger. In: Heidegger Studies. 36 (2020), 42–44. 138 Vgl. GA 2, 382, 390, 398. Heidegger erklärt, dass er das Wort »Handeln« absichtlich vermeide, weil sich seine Überlegungen auf einer Ebene bewegten, die vor der Scheidung von Theoretischem und Praktischem liege. Er spielt auf eine ursprüngliche πρᾶξις an, indem er den Ausdruck »besorgender Umgang« mit »πρᾶξις« übersetzt (vgl. 92). In dem Vortrag Phänomenologie und Theologie (1927) führt er weiter aus: »Existieren [ist] Handeln, πρᾶξις« (GA 9, 58). Für den indirekten Bezug des Gewissens zu konkreten Taten – es lasse das Dasein seine eigenen Möglichkeiten anerkennen, damit es Normen für die auszuführenden Handlungen installiere – vgl. Manuela Massa: Sprache, Ethik und Leben bei Heidegger und Wittgenstein. Alber: Freiburg u. München 2019, 223–237. 139 GA 2, 395. Vgl. 217, wo Heidegger auf »das Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt«, verweist. Vgl. dazu François Fédier: Voix de l’ami. Le Mans: Éditions du Grand Est 2007. 140 Während die meisten Interpreten die φρόνησις auf die Eigentlichkeit beziehen, behauptet Kontos, dass sie dem ursprünglichen Selbst entspreche, das »vor« der eigentlichen und der uneigentlichen Existenzweise – die sich ihrerseits mit der σοφία bzw. der τέχνη decken würden – zu verorten sei (vgl. Pavlos Kontos: L’éthique aristotélicienne et le chemin de Heidegger. In: Revue philosophique de Louvain. 95 [1997] 1, 139–143). Zu der These, dass Heidegger die φρόνησις mit dem Gewissen zusammenfallen lassen könne, weil er den ethisch-politischen Charakter der aristotelischen φρόνησις und den noetischen Zug der platonischen φρόνησις übereinanderlege, vgl. Robert Brisart: La phénomenologie de Marbourg. Presses de l’Université Saint-Louis: Bruxelles 1991, 135–140. 137
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Das zwiespältige Verhältnis von φρόνησις und σοφία: Angst versus εὐδαιμονία
Die Durchsichtigkeit seines eigenen Seins für das Dasein könne jedoch nicht ewig dauern. Deswegen schreibt Heidegger, dass das Verstehen der Nichtigkeit bzw. der Endlichkeit seines eigenen Seins dank des Gewissens das Dasein frei für dessen Ruf mache, d. h. das Dasein in »die Bereitschaft für das Angerufenwerdenkönnen« 141 setze: Insofern die Verdeckungstendenz das Dasein ständig begleite, müsse die Enthüllung des Gewissens immer neu geschehen, d. h. müsse sich das Gewissen »immer wieder melden«. Dasselbe gelte für die φρόνησις: Das Unvermögen dieser »dianoetischen Tugend«, etwas zu leisten, das zu einem festen Besitz werden und die Vollkommenheit des Lebens garantieren kann, ist nach Heidegger der entscheidende Anhaltspunkt, der den Rückgang zu dem Grund ermöglicht, aus dem Aristoteles die φρόνησις der σοφία – deren θεωρεῖν dem σοφός eine »ewige Gegenwart« gewähre – unterordnet.
3.
Das zwiespältige Verhältnis von φρόνησις und σοφία: Angst versus εὐδαιμονία
In der Vorlesung Platon: Sophistes vertieft Heidegger seine Interpretation des Verhältnisses zwischen φρόνησις und σοφία, indem er die Voraussetzungen für die aristotelische Hochschätzung der σοφία betrachtet. Er geht dem Gedankengang des Aristoteles nach, um diejenigen Argumente hervorzuheben und neu zu formulieren, die es ihm ermöglichen, zu zeigen, dass der Stagirit der σοφία nicht aufgrund der immanenten Tendenzen seiner Philosophie einen Vorzug gebe, sondern nur wegen des bestimmten Sinnes von Sein, der im alten Griechenland den Vorrang habe. Er konzentriert sich auf das Buch Α der Metaphysica und die Bücher Ζ und Κ der Ethica Nicomachea, in denen Aristoteles aufweist, dass die φρόνησις und die σοφία die höchsten Tugenden der beiden »Glieder« des vernünftigen Teils der Seele – des λογιστικόν und des ἐπιστημοτικόν – seien. Nach der Ansicht des Stagiriten ist die σοφία verschieden von der φρόνησις, da diese das durch das Handeln erreichbare Gutsein betreffe; deswegen schließe sie ein Sich-Beraten ein und richte sich auf das Letzte im Sinne des Einzelnen, wohingegen die σοφία die Anfangsgründe erfasse, die nicht anders sein könnten; deshalb betreffe sie das Letzte im Sinne des All141
GA 2, 381; vgl. 382.
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gemeinsten. 142 Die σοφία setze die φρόνησις zwar voraus, da sie außerhalb eines tugendhaften Lebens unerreichbar sei; doch dürfe die φρόνησις nur als Mittel zum Erreichen der σοφία betrachtet werden. Letztere sei dagegen selbstständig und stimme mit der Vollkommenheit des edelsten »Bausteins« der Seele überein, da der Vollzug der σοφία ununterbrochen sei und die Vernunft das Göttliche im Menschen ausmache. Demzufolge sei die σοφία der φρόνησις überlegen, und das theoretische Leben ermögliche die εὐδαιμονία, das höchste Gut des Menschen. 143 Heidegger beginnt seine Interpretation, indem er als Kriterien, die Aristoteles für die Entscheidung über die Rangordnung von φρόνησις und σοφία verwendet, die folgenden nennt: die Seinsart des vom ἀληθεύειν der φρόνησις bzw. der σοφία aufgedeckten Seienden und die Weise, wie φρόνησις und σοφία die jeweilige ἀρχή dieses Seienden enthüllen und verwahren. Heidegger bemerkt, dass der Vorrang der φρόνησις und nicht der σοφία zugesprochen werden müsste, wenn man sich an das erste Kriterium hielte. Denn die φρόνησις richte sich auf das menschliche Dasein, wohingegen der Gegenstand der σοφία das Immersein sei, dem man nicht dasselbe Maß an Ernst zusprechen könne wie der Existenz des Menschen. 144 Das zweite Kriterium mache jedoch verständlich, dass die menschliche Existenz nur in der σοφία ihre höchste eigentliche Möglichkeit erreiche. Denn die Weise, wie φρόνησις und σοφία, »umsichtige Einsicht« und »reines Verstehen« (wie Heidegger die griechischen Bezeichnungen dieser »Tugenden« übersetzt) 145, die ἀρχή erfassen könnten, sei zwar für beide der νοῦς, das »reine Hinsehen«. Die beiden »Tugenden« richteten sich nämlich auf eine ἀρχή, die ein durch keinen λόγος artikulierbares ἔσχατον sei. 146 Der νοῦς der φρόνησις vollziehe sich aber in der zum νοῦς der σοφία entgegengesetzten Richtung, denn die von ihm erfasste ἀρχή decke sich nicht mit den Vgl. Eth. Nic., Ζ, 7, 1141 b 9–23. Zu den Verstehensschwierigkeiten hinsichtlich der Rangordnung von φρόνησις und σοφία vgl. Mario Vegetti: L’etica degli antichi. Laterza: Roma u. Bari 62010, 202. 143 Vgl. Eth. Nic., Ζ, 13, 1145 a 6–10; Κ, 7–8, 1177 a 12 – 1179 a 34. Zur Debatte um den Beitrag von φρόνησις und σοφία beim Erreichen der εὐδαιμονία und für eine »›inclusive‹ doctrine« (41) der Letzteren vgl. John L. Ackrill: Aristotle on Eudaimonia. In: Otfried Höffe (Hrsg.): Aristoteles. Nikomachische Ethik. Akademie Verlag: Berlin 22010, 39–62. 144 Vgl. GA 19, 135, 166. 145 Vgl. ebd., 47, 166. 146 Vgl. ebd., 143, 145, 156–159, 180. Zum Begriff des ἔσχατον vgl. HAS, 46. 142
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Das zwiespältige Verhältnis von φρόνησις und σοφία: Angst versus εὐδαιμονία
letzten Elementen dessen, was immer sei, sondern mit dem »jeweils einzelnen Dies-da« 147. Demzufolge sei der νοῦς des reinen Verstehens das θεωρεῖν, der νοῦς der umsichtigen Einsicht eine Art nicht-sinnlicher αἴσθησις, die sich auf keine ἴδια beziehe, sondern auf die πρακτά. 148 Aus dieser Differenz entnimmt Heidegger, dass das »Discrimen des νοεῖν in φρόνησις und σοφία« »[d]ie Zeit – der Augenblick und das Immersein –« sei: Die αἴσθησις sei »der Blick des Auges, der Augen-blick auf das jeweils Konkrete, das als solches immer anders sein kann. Dagegen« sei das θεωρεῖν »das Betrachten dessen, was ἀεί ist, was immer in Selbigkeit gegenwärtig ist« 149. Aus der spezifischen Zeitlichkeit von αἴσθησις und θεωρεῖν folge diejenige Abgrenzung der φρόνησις von der σοφία, die entscheidend für die Höherstellung der Letzteren sei, da die Rangordnung der beiden »Tugenden« in Anbetracht ihrer Betätigung im Verhalten des Menschen zu entscheiden sei. Insofern jedes Verhalten dem Gegenstand angemessen sein müsse, auf den es sich richte, verhalte sich der die φρόνησις ausübende Mensch nie in gleicher Weise, da er sich auf ein Seiendes beziehe, das »je anders sein [könne] und jeweils einen Entschluß im Augenblick verlang[e]« 150. Im Gegensatz dazu verharre der reine Betrachter »des Immerseienden gleichsam in einem dauernden Jetzt« 151. In »Gegenbewegung […] gegen die αἴσθησις« 152 erreicht und »um ihrer selbst GA 19, 158; vgl. 163, 171; NB, 383, 403. Vgl. Eth. Nic., Ζ, 9, 1142 a 28–29. Heidegger geht auf diese αἴσθησις näher ein in NB, 381, 383, 405; GA 19, 160–163. 149 GA 19, 164; vgl. 614. 150 Ebd., 174. 151 Ibidem. 152 Ebd., 98. Heidegger stellt die Entstehung der σοφία als Verhalten des reinen Hinsehens mit Ausdrücken dar, die ähnlich wie diejenigen sind, die er in Bezug auf das Erreichen der Eigentlichkeit des Daseins verwendet, um darauf anzuspielen, dass die Existenzweise des σοφός nach Aristoteles die eigentliche Existenzweise sei. Er bemerkt, dass die σοφία der Tendenz auf das Wissen entspreche, die dem Menschen angeboren sei und im ersten Satz der Metaphysica (Met., Α, 1, 980 a 1) ausgedrückt werde, den er mit: »Alle Menschen haben in sich ein Streben zu sehen« übersetzt. Indem Heidegger diese Textstelle zitiert (vgl. GA 19, 70; GA 2, 227; GA 62, 17), verweist er implizit auf das Seinsverständnis des Daseins, das er nach Sein und Zeit »Transzendenz« nennen wird. Zur Verschmelzung einiger Wesenszüge der σοφία mit solchen der φρόνησις in Heideggers Auffassung der Philosophie als »eine Art phronetische σοφία oder sophiaartige φρόνησις« vgl. Ralf Elm: Aristoteles – ein Hermeneutiker der Faktizität? Aristoteles’ Differenzierung von φρόνησις und σοφία und 147 148
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Die Ethik des Aristoteles im Gesichtskreis der Ontologie des Daseins
willen« 153 vollzogen, gewähre die σοφία eine αὐτάρκεια, die letztendlich von ihrem Gegenstand abhänge: Wer sich dem Immerseienden anmesse, lebe so wie in einem ewigen Jetzt. Insofern das Immerseiende ein solches sei, weil es sein τέλος erreicht habe – weswegen sein Sein in der reinen ἐνέργεια verharre –, bringe der σοφός sein eigenes Sein auch in die ἐνέργεια als ἐντελέχεια. Somit verwirkliche er die höchste Möglichkeit der menschlichen Existenz, in der das Dasein mehr ununterbrochen als in allen anderen seiner Verhaltensweisen leben könne 154 und darum die εὐδαιμονία erreiche. Heidegger schließt, dass Aristoteles der σοφία den Vorzug gebe, weil sie die »Anmessung des menschlichen Daseins […] an das Immersein der Welt« ermögliche, die das »Seiende« sei, das »griechisch seinsmäßig den Vorrang« 155 habe. Sich orientierend am Sein der Welt, hätten die Griechen das Sein als Anwesendsein und somit zeitlich als reine Gegenwart verstanden. Aristoteles habe die Anwesenheit der Welt als vollendete Bewegung, als ἐνέργεια und ἐντελέχεια, Fertigsein, gedeutet. Demzufolge habe er für die σοφία plädiert, weil sie mehr als jegliche andere Haltung des Daseins das menschliche Leben zur »Voll-endung« bringe, vollständig »hervor-bringe«, indem sie es zum reinen Gegenwärtigsein beim ἀεὶ ὄν führe und darin halte. Wenn Heidegger sagt, dass der »Boden« für die aristotelische Abgrenzung und Höherstellung der σοφία gegenüber der φρόνησις das ποιεῖν im weiteren Sinne, das »Hervor-bringen« als »ZumSein-bringen« sei, 156 nimmt er eine These wieder auf, die er schon im Natorp-Bericht angedeutet hatte und während seines ganzen ihre Transformation bei Heidegger. In: Denker/Figal/Volpi/Zaborowski (Hrsg.): Heidegger und Aristoteles. A. a. O., 280. 153 GA 19, 177. Zur Selbständigkeit der σοφία vgl. 121–128, 170, 176; zur Abhängigkeit der φρόνησις vgl. 53, 138, 165–168. Heidegger bezieht sich auf Eth. Nic., Ζ, 12, 1144 a 34–35 und unterstreicht, dass die φρόνησις auf die anderen Menschen und auf die Umstände angewiesen sei, im Dienste der Handlung stehe und ein gutes Leben voraussetze. 154 Heidegger erinnert daran, dass »das Dasein des Menschen« nach Aristoteles »nicht die ganze Zeit seines Lebens« (GA 19, 134) im reinen Betrachten aushalten könne, und beruft sich dabei auf Eth. Nic., Κ, 7, 1177 b 25–29. Auch in diesem Fall will Heidegger die Endlichkeit bzw. das »Zeitlichsein« des Daseins betonen. 155 GA 19, 177, 137; vgl. 61, 63 f., 69, 178; DW, 94. 156 Vgl. GA 19, 169, wo Heidegger die Stelle Eth. Nic., Ζ, 12, 1143 b 35 zitiert. Heidegger greift das Beispiel des Arztes, der ein gesundes Leben hervorbringt (Eth. Nic., Ζ, 12, 1144 a 3–4), in GA 19, 157 f., 169 f. wieder auf, und erwähnt den aristotelischen Vergleich mit der »Kunst des Heilens« schon im Seminar vom SS 1921 (vgl. HAS, 20). Wenn er Aristoteles’ Behauptung in Eth. Nic., Ζ, 7, 1141 a 9–10 umdeutet und sagt:
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Das zwiespältige Verhältnis von φρόνησις und σοφία: Angst versus εὐδαιμονία
Denkweges weiter ausführen wird, und zwar dass das Sein für Aristoteles »Hergestelltsein« besage. 157 In seiner Aristoteles-Einleitung hatte Heidegger zunächst die These aufgestellt, dass Aristoteles die κίνησις als Grundzug des Seins aufgefasst habe. 158 Dann hatte er hinzugefügt, dass Aristoteles nicht die Bewegung des menschlichen Lebens, sondern diejenige der Produktion für exemplarisch gehalten habe, indem er vom Seinsfeld »der hergestellten, umgänglich in Gebrauch genommenen Gegenstände« 159 ausgegangen sei. Aristoteles habe deshalb auf das Sein im Allgemeinen die Kategorien ausgedehnt, die er aus dem bestimmten Seinsbereich der »besorgbaren Umgangsgegenstände« 160 gewonnen habe. Schließlich habe der Stagirit den Sinn von Sein als Fertigsein und Gegenwärtigkeit verstanden. Dementsprechend habe er die Rangordnung von φρόνησις und σοφία auf der Basis der Grundkategorie der ποίησις entschieden. Es könnte so aussehen, als ob Heidegger sich widerspräche, sofern er einerseits Aristoteles würdigt, weil der Stagirit die πρᾶξις als die ursprüngliche Bewegtheit des Daseins begriffen habe, und ihn andererseits kritisiert, weil Aristoteles die Bewegungsweisen des Daseins, d. h. seine Verhaltungen, anhand der ποίησις als der Grundart der Bewegung des Seins im Allgemeinen beurteilt habe. 161 Wenn aber »Das Frappante ist nun, daß Aristoteles die σοφία als ἀρετή der τέχνη bezeichnet« (GA 19, 56), möchte er wohl auf das ποιεῖν der σοφία verweisen. 157 Zu den wichtigsten Stellen, in denen Heidegger diese These darstellt, und zu den Interpreten, die sie schon vertreten hatten, vgl. Günther Neumann: Denken – Glauben – Dichten – Dialogisches Deuten. Sein als Anwesen und Poiesis. In: Heidegger Studies 25 (2009), 262, Fn. 23. Gegen Heideggers Überzeugung, dass Aristoteles das menschliche Leben aus der Perspektive der ποίεσις interpretiert habe, kann der Satz aus Pol., Α, 4, 1254 a 7 angeführt werden: »Das Leben ist eine πρᾶξις, keine ποίεσις.« 158 Dies ist die Grundthese und der Ausgangspunkt der Rekonstruktion von Heideggers Auseinandersetzung mit Aristoteles bei Francesco Mora: L’ente in movimento. Heidegger interprete di Aristotele. Il Poligrafo: Padova 2000. Im Unterschied dazu sieht Minca den eigentlichen Leitfaden von Heideggers Aristoteles-Interpretationen in seiner Auslegung des antiken Sinnes von Sein im Hinblick auf die Problematik des Herstellens (vgl. Bogdan Minca: Poiesis. Zu Martin Heideggers Interpretationen der aristotelischen Philosophie. Königshausen & Neumann: Würzburg 2006, 11 sowie 209–266). 159 NB, 373; vgl. 374. 160 Ebd., 398; vgl. 385; DW, 72. 161 Zu einer Widerlegung von Heideggers These, dass die ursprünglichen Bestimmungen der griechischen Ontologie der Kategorie der ποίησις entlehnt seien, vgl. Jean-François Courtine: Zwischen Wiederholung und Destruktion – die Frage nach der analogia entis. In: Denker/Figal/Volpi/Zaborowski (Hrsg.): Heidegger und Aris-
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die verschiedenen Texte, in denen Heidegger sich mit dem aristotelischen Seinsverständnis befasst, miteinander in Verbindung gebracht werden, leuchtet es ein, dass Heidegger in einer ersten Phase seines Denkens davon überzeugt war, Aristoteles habe die πρᾶξις und nicht die ποίησις als den ontologischen Grundbegriff erachtet. Heidegger wird wohl die folgenden Überlegungen angestellt haben: Der besorgende Umgang, der auch die Herstellung von Gegenständen einschließt, aus der der griechische Sinn von Sein entstanden ist, vollzieht sich nur in der ursprünglichen πρᾶξις. Insofern das ontologische Verständnis der Griechen jedoch vom Sein der Welt her – vor deren Pracht der Mensch staunte – seine Richtung genommen hat und die κίνησις der Welt als Übergang von der δύναμις zur ἐνέργεια bis zum Erreichen der ἐντελέχεια von Aristoteles verdeutlicht worden ist, hat der Stagirit diejenige Gestaltung der ursprünglichen πρᾶξις als paradigmatisch angesehen, die sich nicht mit der πρᾶξις im engeren Sinne, sondern mit der ποίησις deckt. 162 Aus diesem Grund hat er an seiner ursprünglichen Idee – die πρᾶξις als Grundbewegtheit des Seins – nicht festgehalten und sich wieder dem menschlichen Leben zugewandt, um die Grundweisen seines ἀληθεύειν – unter ihnen die φρόνησις und die σοφία – am Leitfaden der ποίησις zu systematisieren. Angenommen, dass die heideggersche Auslegung des Verhältnisses von φρόνησις und σοφία bei Aristoteles vor dem eben zusammengefassten Hintergrund ausgearbeitet wurde, lässt sich ein maßgebender Unterschied zwischen Heideggers und Aristoteles’ Auffassung des τέλος des Menschen (zwischen der Eigentlichkeit des Daseins und der Vollkommenheit des Lebens) hervorheben, der von der Verschiedenheit des heideggerschen und des aristotelischen Seinsverständnisses abhängt. Zwar liegt sowohl für Heidegger als auch für Aristoteles der »eigentlichen« Existenzweise des Menschen toteles. A. a. O., 109–129. Auch Gadamer kritisiert die heideggersche Auslegung des griechischen Verständnisses des Seins und stimmt Heidegger vor allem auch insofern nicht zu, als dieser fast keinen Unterschied zwischen dem Sinn von Sein als »Vorhandenheit« und dem Begriff der Objektivität in der neuzeitlichen Naturwissenschaft mache (vgl. S, 486; HD, 198). 162 Als Zeugnis dafür, dass Heidegger Aristoteles die Erfassung des Seins der Welt ausgehend vom Begriff der ποίησις zuschreibt, kann die heideggersche Auslegung der aristotelischen Auffassung der »Natur« bzw. der φύσις im Sinne einer »Selbstherstellung« seit den 1930er Jahren miteinbezogen werden (vgl. Martin Heidegger: Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik Β, 1. In GA 9, 255–257).
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Das zwiespältige Verhältnis von φρόνησις und σοφία: Angst versus εὐδαιμονία
die Erfahrung seines Ganzseinkönnens zugrunde. Doch ist Aristoteles überzeugt, dass das Ganzseinkönnen für den Menschen erst mit dem reinen Anwesen seines Seins erworben werden könne, aus dem die εὐδαιμονία folge. 163 Im Gegensatz dazu behauptet Heidegger, dass das Ganzseinkönnen des Daseins nur kraft des »Vorlaufens in den Tod«, d. h. durch die Aneignung der Nichtigkeit des eigensten Seins, erreichbar sei, die sich in der Angst offenbare. 164 Die so gewonnene »Ganzheit« sei keine Verwirklichung des menschlichen Lebens, das sich gleichsam ins Unendliche ununterbrochen erstrecke, sondern bedeute lediglich einen Einblick in das tiefste Seinkönnen des Daseins, der einen Perspektivenwechsel hinsichtlich der jeweiligen Möglichkeit gewähre. 165 Als Heidegger Aristoteles wiederentdeckte, war das Staunen, das θαυμάζειν, schon seit Langem keine »Grundbefindlichkeit« des Daseins, keine »Grundstimmung« der »Geschichte des Seins« mehr. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich vielmehr die Angst als Ursprung der Philosophie bewährt. 166 Deswegen konnte Heidegger den Sinn von Sein nicht mehr als Gegenwärtigkeit gemäß dem Vorbild 163 Vgl. Ingeborg Schüßler: Die Frage der εὐδαιμονία in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. In: dies.: Studien zur Genealogie des europäischen Denkens/Études généalogiques de la pensée occidentale. LIT: Wien. Teilbd. I: Griechische Antike/Antiquité grecque. Hrsg. von Klaus Neugebauer, 2020, 137–195. 164 Vgl. GA 2, 314–316, 348–354, 399–411. 165 Zu der These, dass die Orientierung auf das »Ganze« als formale Struktur das Einzige sei, das in der heideggerschen Umformung des aristotelischen Begriffes des τέλος im Worumwillen des Daseins bleibe, vgl. Anna P. Ruoppo: Von Hegel zu Aristoteles. Phronesis, ethos, Ethik im frühen Denken Martin Heideggers. In: Denker/ Figal/Volpi/Zaborowski (Hrsg.): Heidegger und Aristoteles. A. a. O., 253. 166 Das θαυμάζειν wurde zuvor von Platon – in Theait., 155 d – und dann von Aristoteles – in Met., Α, 2, 282 b – als Ursprung der φιλοσοφία bezeichnet. Heidegger kommentiert die aristotelische Textstelle in GA 19, 125 f.; GA 45, 155; GA 62, 37–39. »Grundbefindlichkeit« wird von Heidegger diejenige Stimmung genannt, die nicht nur die »Geworfenheit« des Daseins in die Welt, sondern die Nichtigkeit seines eigenen Seins erschließt. Seit der Mitte der 1920er Jahre identifiziert sie Heidegger mit der Angst (vgl. GA 20, 400–406; GA 2, 244–253). Seit den 1930er Jahren ersetzt er den Begriff der »Grundbefindlichkeit« durch denjenigen der »Grundstimmung«. Dabei stellt er dem θαυμάζειν als Grundstimmung des »ersten Anfangs« der Seinsgeschichte bzw. des Abendlandes das Erschrecken als Grundstimmung des »anderen Anfangs« gegenüber (vgl. GA 45, 151–181, 197–200). Zu den »Grundstimmungen« des abendländischen Denkens vgl. Ingeborg Schüßler: La motivation de la philosophie. Etonnement – Doute – Angoisse/Vom Ursprung der Philosophie. Staunen – Zweifel – Angst. In: dies.: Studien zur Genealogie des europäischen Denkens/Études généalogiques de la pensée occidentale. A. a. O., 387–418.
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Die Ethik des Aristoteles im Gesichtskreis der Ontologie des Daseins
eines ewigen κόσμος bestimmen. Er verstand darum die Temporalität des Seins überhaupt ausgehend von der Zeitlichkeit des Daseins, das seine eigene Existenz im endlichen Augenblick dank des Gewissensrufs immer neu erschließen müsse. Unter diesen Umständen konnte für Heidegger nicht die σοφία, sondern die φρόνησις, das die πρᾶξις leitende endliche Wissen, zum Vorbild einer Art von Verstehen werden, das den Menschen wesenshaft angeht und sich nie abschließt. Dieses Verstehen, das Heidegger existenzialontologisch bestimmte, wurde dann von Gadamer als Angelpunkt einer philosophischen Hermeneutik weitergedacht.
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II. Teil Die philosophische Hermeneutik als Wiederaufnahme der praktischen Philosophie des Aristoteles
III. Gadamers Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend« Der aus Büchern erworbene Reichtum fremder Erfahrung heißt Gelehrsamkeit. Eigene Erfahrung ist Weisheit. Gotthold Ephraim Lessing, Selbstbetrachtungen und Einfälle
1.
Ein Gespräch mit Aristoteles durch Heidegger hindurch und über ihn hinaus
In mehreren Rückblicken auf den zurückliegenden Weg gibt Gadamer zu, dass er »[d]as Wichtigste […] von Heidegger« 167 gelernt habe. Als er den methodologischen ersten Teil von Heideggers AristotelesEinleitung, die Anzeige der hermeneutischen Situation, im Jahr 1922 von seinem Doktorvater Paul Natorp erhalten und ihn gelesen habe, sei dieser Text für ihn »zu einer wahren Inspiration« 168 geworden und habe ihn veranlasst, zu Heidegger nach Freiburg zu gehen. Dort habe er einen Weg eingeschlagen, auf dem er versucht habe, den Erfordernissen seiner Zeit gerecht zu werden. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als es dringend gewesen sei, »eine neue Verfassung menschlicher (und auch staatlicher) Gemeinsamkeit aufzubauen« 169, habe die Philosophie einerseits zusammen mit den Altertumswissenschaften »an dem ›politischen‹ Plato« ein neues Interesse entwickelt und sich andererseits gegen den »Wissenschaftsglauben des liberalen Zeitalters« 170 auf die Suche nach einer Art »praktischen« Wissens gemacht, das die von Husserl beschriebene Lebenswelt würde durchleuchten können. Unter beiden Gesichtspunkten sei die Begegnung mit Heidegger – so Gadamer – entscheidend gewesen: Zum einen habe er sich dem Thema seiner Habilitationsschrift, Platos dialektische Ethik. PhänoS, 485. E, 68. Gadamer schreibt weiter: »Wenn ich« diese Schrift »heute wieder lese, so ist es, als ob ich darin den Leitfaden meines eigenen philosophischen Werdegangs wiederfände.« Vgl. HG, 32. 169 FS, 396. 170 PEW, 124; AiE, 388. Ebenso wie bei Heidegger verstärkte die Lektüre der Werke Kierkegaards und Dostojewskijs die Einstellung gegen alle philosophische Systematik auch bei Gadamer (vgl. ErE, 166). 167 168
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Gadamers Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend«
menologische Interpretationen zum Philebos (1931), mit der methodischen Haltung angenähert, die im Natorp-Bericht skizziert worden sei, um den »griechische[n] Text […] von den Grunderfahrungen« seiner »eigenen Lebenwelt aus neu zum Sprechen [zu] bringen« 171; zum anderen habe er sich von Aristoteles’ Kritik an Platons Idee des Guten zur Untersuchung der aristotelischen Bestimmung des Guten für den handelnden Menschen führen lassen. Dabei habe er sich auf die dianoetische Tugend der φρόνησις konzentriert, deren Namen er in Heideggers Seminar von 1923 über das Buch Ζ der Ethica Nicomachea wie »ein wahres Zauberwort« 172 gehört habe. Gadamer erklärt jedoch, dass er nicht bei Heidegger »stehengeblieben« 173 sei. Denn er habe nie Heideggers Ansicht geteilt, dass Platon der Anfang einer Geschichte der Metaphysik sei, die das Sein vergessen habe. Eine solche Metaphysik habe es laut Gadamer gar nicht gegeben, deshalb existiere auch keine zu »destruierende« »metaphysische Sprache«: Es gebe »nur Begriffe der Metaphysik, deren Inhalt sich aus der Verwendung der Worte bestimm[e], so wie das mit allen Worten« 174 sei. Aus diesem Grund hat Gadamer allmählich Abstand von der »Sprachgewalt« der heideggerschen Destruktion sowie von der »Ver171 PEW, 124. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Aus dem Vorwort zur ersten Auflage (1931). In PdE, 159; ders: Aus dem Vorwort (1967). A. a. O., 159; ders: Aus dem Vorwort (1982). A. a. O., 161. Gadamers Habilitationsschrift verdankt Heideggers Existenzialanalytik auch inhaltlich viel, wie sich aus den zahlreichen Hinweisen auf Sein und Zeit entnehmen lässt (vgl. PdE, 23–27, 118, 124). 172 S, 485; vgl. AiE, 389. Gadamer behandelt die Frage nach dem Guten bei Platon und Aristoteles in mehreren Schriften, in denen er Werner Jaegers These einer Entwicklung in der aristotelischen Ethik – der Protreptikos gehöre zu einer »platonischen Periode« und die Eudemische Ethik stehe im Mittelpunkt der Entstehung einer eigenen Auffassung, die sich in der Nikomachischen Ethik vollende – widerlegt, indem er durch philologische und philosophische Argumente zeigt, dass die drei aristotelischen Schriften über die Ethik einfach Variationen einer einzigen Grundlehre seien, deren Differenz zum Inhalt des platonischen Philebos nicht so groß sei (vgl. PeE; PEW, 126; IG, 135, 144–149, 227). 173 HD, 198; vgl. PD, 12 f. Für den Unterschied der Stellung zu Platon von Heidegger und Gadamer, die auch durch die Begegnung mit Friedländer veranlasst wurde, vgl. Andrea Le Moli: Dialogica, politica, pratica di vita. Platone nel giovane Gadamer. In: Mario Bonazzi/Raffaella Colombo (a cura di): Sotto il segno di Platone. Il conflitto delle interpretazioni nella Germania del Novecento. Carocci: Roma 2020, 92–96. 174 PD, 11; vgl. DH, 144. Zu Gadamers »Neubelebung« der traditionellen Begriffe durch die Methode des Gesprächs, das sich als »Begriffsgeschichte« gestalte, vgl. ferner Giuliana Gregorio: Die Philosophie und die Unendlichkeit des Dialogs. In: Alina Noveanu/Julia Pfefferkorn/Antonino Spinelli (Hrsg.): Seefahrten des Denkens. Dietmar Koch zum 60. Geburtstag. Attempto: Tübingen 2017, 157–162.
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Ein Gespräch mit Aristoteles durch Heidegger hindurch und über ihn hinaus
flüssigung« der traditionellen Begriffe durch die hegelsche Dialektik genommen. Anstatt der Anwendung dieser beiden Methoden versuchte er, die philosophischen Begriffe kraft ihres Gebrauchs, vermöge ihrer Verwebung in die lebendige Sprache neu zu beleben. 175 Insofern er Platons Dialektik als »die Kunst, ein Gespräch zu führen« 176, erläuterte und die ursprüngliche Sprache ebenso als einen Dialog verstand, der sich durch eine »Verschmelzung« der Horizonte der Gesprächspartner vollzieht und zur Bildung einer gemeinsamen reicheren Sprache führt, deutete Gadamer Heideggers Methode der »Destruktion« zum »Gespräch« mit der Geschichte der Philosophie um und glaubte, damit die hegelsche Dialektik in die Hermeneutik »zurücknehmen« zu können. 177 Einer der Lieblingsgesprächspartner Gadamers war von Anfang an Aristoteles. Schon in seinen früheren Arbeiten – z. B. in dem Aufsatz Praktisches Wissen (1930) und in der Habilitationsschrift Platos dialektische Ethik. Phänomenologische Interpretationen zum Philebos (1931) – versuchte Gadamer, die aristotelische Ethik mit der platonischen Dialektik zu verbinden und die Rolle des »Mitseins« auf175 Zu Gadamers Abstandnahme von Heidegger und Hegel vgl. PD, 12. In HG, 42 spielt Gadamer auf Heideggers Aneignung der hegelschen Methode an. Trotz seiner Kritik würdigt Gadamer »Hegels spekulativ[e] Erneuerung […] des Aristoteles« (DH, 147; vgl. DD, 366; S, 485) und unterstreicht den entscheidenden Einfluss von Hegel und Platon auf seine Aristoteles-Auslegung. 176 PEW, 123. Im Unterschied zu Heidegger ist Gadamer davon überzeugt, dass Platon durch seine Dialektik die erste »Wiederaufnahme« der ererbten philosophischen Begriffe vollzogen habe (vgl. NdA, 456). Mehr als Aristoteles habe Platon »die Begriffsund Anschauungskraft« der lebendigen Sprache »zu Ende« gedacht (S, 485), sodass er (Gadamer) von diesem »großen Dialogiker« die »Dialogstruktur der Sprache« (PD, 13) gelernt und seine philosophische Hermeneutik mit der platonischen Dialektik zusammengeschlossen habe (vgl. PEW, 125; HG, 40; NdA, 456). Zu Gadamers Kritik am »apodiktischen Philosophieren« des Aristoteles (vgl. SA, 377–380), wegen deren er sogar als »Anti-Aristoteliker« bezeichnet werden müsste, vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer. Ein philosophisches Porträt. Mohr (Paul Siebeck): Tübingen 2009, 177–179. 177 Vgl. HL, 86. Zu dieser »Zurücknahme« und zu Gadamers Auslegung der hegelschen Interpretation des griechischen Denkens vgl. Rosa M. Marafioti: Gadamer e Hegel: la «ripresa» dialogica della dialettica. In: Francesco Cattaneo/Carlo Gentili/ Stefano Marino (a cura di): Domandare con Gadamer. Cinquant’anni di Verità e metodo. Mimesis: Milano u. Udine 2011, 143–179. Für die »Horizontverschmelzung« und das Gespräch als deren Vollzugsform vgl. GW 1, 305–312, 368–384, 392; Rosa M. Marafioti: Das »Klassische« als dialogische Wahrheit der Lebenswelten. Eine Umdeutung des Neoklassizismus ausgehend von Gadamers Hermeneutik. In: Hans-Christian Günther (ed.): Neoclassicism – What is that? Verlag Traugott Bautz: Nordhausen 2019, 51–61.
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Gadamers Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend«
zuwerten. 178 Nach einem erneuten Studium der Philologie, das zur Präzisierung seiner Weise der Auslegung diente, wandte sich Gadamer seit Mitte der 1930er Jahre nochmals Aristoteles zu, um in der Ethica Nicomachea andere Dimensionen als die seinerzeit von Heidegger aufgeschlossenen ans Licht zu bringen. Während in dieser zweiten Phase von Gadamers Auseinandersetzung mit dem Stagiriten – die sich bis etwa Mitte der 1960er Jahre erstreckte und auf die es im Folgenden näher einzugehen gilt – die hermeneutische Bedeutung der φρόνησις hervorgehoben wurde, trat in der dritten und letzten Phase seines Gesprächs mit Aristoteles die ethisch-politische Tragweite des »praktischen Wissens« in den Vordergrund.
2.
Das »phronetische« Wissen der Geisteswissenschaften als Grundzug eines geschichtlichen Seins
Im Mittelpunkt von Gadamers Auseinandersetzung mit Aristoteles steht der ihm gewidmete Paragraf in Wahrheit und Methode. Um erwägen zu können, welche Bedeutung Gadamers Hauptwerk dem Begriff der φρόνησις zumisst, ist es zweckmäßig, zunächst das Ziel und die wichtigsten Thesen von Wahrheit und Methode in Erinnerung zu rufen. Gadamers Anliegen ist schon im Titel seines Werkes angekündigt: Es geht um die Untersuchung einer Art von Wahrheit, die sich durch die Anwendung einer durch feste Regeln charakterisierten Methode nicht erfassen lässt. 179 Gadamer behauptet, dass eine solche Wahrheit in der Kunst und in der Geschichte nur durch eine 178 Zu Gadamers Kritik an Heideggers Begriff des »Anderen« vgl. HD, 198 f. Gadamer würdigt die Freundschaftsauffassung des Aristoteles, der sogar »in allem menschlichen Erkennen […] ein Element des ›Mit‹« (FS, 405) entdeckt habe. 179 Gadamers Gegenüberstellung zwischen dieser Art von Wahrheit und jener, die erst durch die Anwendung einer Methode erreichbar ist, hat viel Kritik (u. a. von Jürgen Habermas, Paul Ricœur, Ernst Tugendhat) und manchmal auch Missverständnisse auf sich gezogen. In NdA, 453 macht Gadamer klar, dass die »Zuschärfung der Spannung von Wahrheit und Methode […] einen polemischen Sinn« hatte (vgl. GG, 15–17). Trotzdem bemerkt Grondin, dass Gadamer weder eine wirkliche Definition der »extramethodischen Wahrheit« gebe noch auf einen bestimmten Weg zu ihr hinweise (vgl. Jean Grondin: Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff HansGeorg Gadamers. Beltz Athenäum: Weinheim 21994, 1, 4). Zu diesem Schwerpunkt vgl. Stefano Marino: «Un altro sapere»: la verità extrametodica dell’ermeneutica. Vorwort zu: Hans-Georg Gadamer: Che cos’è la verità. I compiti di un’ermeneutica filosofica. It. Übers. von Stefano Marino. Rubbettino: Soveria Mannelli 2012, 20–24.
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Das »phronetische« Wissen der Geisteswissenschaften
lebendige Erfahrung zu empfangen sei. Die Philosophie und die sogenannten »Geisteswissenschaften« sollten sich auf diese »extramethodische« Wahrheit richten. 180 Dies sei aber unmöglich, solange sich diese Disziplinen an das Ideal der Exaktheit der Naturwissenschaft anmessen und sich deren Methode zu eigen machen wollten. 181 Gadamer bezweckt jedoch keine Erneuerung des alten Methodenstreits zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. 182 Er beabsichtigt vielmehr die Ausarbeitung einer philosophischen Hermeneutik, die keine Kunstlehre des Verstehens im herkömmlichen Sinne sein solle, da sie sich nicht als eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften – nach dem von Wilhelm Dilthey entworfenen Modell – gestalten müsse. 183 Die philosophische Hermeneutik habe zwar eine wissenschaftstheoretische Relevanz, insoweit sie die Wahrheitsbedingungen jeglicher Wissenschaft aufdecke. 184 Doch sei ihre Auswirkung im wissenschaftlichen Bereich nur eine indirekte Leistung. Gadamer setzt nämlich bei der Erläuterung des Phänomens des Verstehens als solchen an, und zwar bei dessen Definition und der Beschreibung seiner Verwirklichung. Er knüpft an die Auffassung der Hermeneutik beim jungen Heidegger an und nimmt das ontologische Konzept des Verstehens als einer Seinsweise des Daseins wieder auf, weswegen er der Hermeneutik die Bedeutung der »Grundbewegtheit des Daseins« zuspricht, die »das Ganze [der] Welterfahrung« 185 des Menschen umfasse. Darauf aufbauend kommt Vgl. die Einleitung zu GW 1, 1 f. Vgl. ebd., 9–15; WG. Zum Unterschied zwischen der »Neubegründung« der Geisteswissenschaften durch Gadamer und der frühen Grundlegung dieser Disziplinen vgl. István M. Fehér: Bild und Sprache. Über den Zusammenhang zwischen Kunstund Sprachauffassung in der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers. In: Ernő Culcsár-Szabó/Csongor Lőrincz/Gábor T. Molnár (Hrsg.): Transgressionen des Medialen in der Literatur. Osiris: Budapest 2004, 68–72. 182 Vgl. VzA, 438 f. Gadamer bezeichnet den wissenschaftstheoretischen Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften als unsachgemäß in TTP, 265. 183 Vgl. die Einleitung zu GW 1, 3; VzA, 446. 184 Vgl. NdA, 450. 185 VzA, 440; vgl. 446. Gadamers eigenen Angaben zum Trotz vertritt Grondin die These, dass dieser von jeder der drei Phasen beeinflusst geworden sei, in die sich Heideggers hermeneutisches Denken gliedern lasse (nämlich die Hermeneutik der Faktizität, des Daseins, des Seins) (vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 2001, 91 f.). Zu den beiden wichtigsten »Akzentverschiebungen«, die Gadamers Begriff des Verstehens von demjenigen Heideggers unterschieden – das Verstehen sei bei Heidegger vorwiegend zukunftsorientiert, bei Gadamer vergangenheitszugewandt; es besitze bei 180 181
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Gadamers Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend«
Gadamer zu den Geisteswissenschaften zurück und vergleicht die Art ihres Erkennens mit der Weise, in der der Mensch versteht, wenn er mit seiner eigenen Vergangenheit bzw. mit der Tradition umgeht, zu der er aufgrund seines geschichtlichen Seins wesenhaft gehöre. Nach Gadamer ist die Tradition »nicht die Verteidigung des Herkömmlichen, sondern die Fortgestaltung des sittlich-sozialen Lebens« 186, die durch einen Akt freier und vernünftiger Anerkennung geschehe 187 und sich vor allem in den Geisteswissenschaften bilde. Das diesen Disziplinen eigene Wissen werde von denjenigen humanistischen Leitbegriffen ausgedrückt, die sich die Geisteswissenschaften wieder aneignen müssten, um ihre Eigenart gegenüber den Naturwissenschaften bewusst zu machen und damit auch die Bedeutung der Hermeneutik für das individuelle und gesellschaftliche Leben zum Vorschein zu bringen. Die Begriffe, durch die Gadamer »[d]ie Bedeutung der humanistischen Tradition für die Geisteswissenschaften« 188 illustriert, verweisen aufeinander. Der erste von ihnen, die Bildung, wird von Gadamer mit einem allgemeinen und gemeinschaftlichen Sinn identifiziert, der es demjenigen, der ihn besitze, ermögliche, zu den jeweiligen Einzelfällen Stellung zu nehmen. Der zweite humanistische Leitbegriff, der sensus communis, bezeichne auch einen Sinn, der mit der Fähigkeit zusammenfalle, das Rechte und das gemeine Wohl zu erfassen. Der sensus communis werde durch Erziehung gebildet und setze den Besitz von Urteilskraft voraus, die ihrerseits nicht erlernbar sei.
Heidegger eine existenzialhermeneutische Dimension, bei Gadamer eine geisteswissenschaftliche Prägung und sei bei ihm auf die Lebenspraxis bezogen –, vgl. István M. Fehér: Verstehen bei Heidegger und Gadamer. In: Günter Figal/Hans-Helmuth Gander (Hrsg.): »Dimensionen des Hermeneutischen«. Heidegger und Gadamer. Klostermann: Frankfurt am Main 2005, 103–115. 186 NdA, 470. In dieser Betonung der Abhängigkeit der Gegenwart von der Vergangenheit sieht Olay den entscheidenden Unterschied zwischen der jeweiligen Auffassung der Tradition bei Heidegger und Gadamer, die er jedoch für einander ergänzende hält, indem er sie als »Überlieferung der Gegenwart« bzw. »Gegenwart der Überlieferung« bezeichnet (vgl. Csaba Olay: Die Überlieferung der Gegenwart und die Gegenwart der Überlieferung. Heidegger und Gadamer über Tradition. In: International Yearbook for Hermeneutics. 12 [2013], 197, 210–212, 217–219). 187 Vgl. GW 1, 285 f. Zur Debatte um Gadamers angeblichen Traditionalismus und Autoritarismus vgl. Marafioti: Das »Klassische« als dialogische Wahrheit. A. a. O., 44 f., Fn. 44. 188 GW 1, 9; vgl. 15–47.
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Das »phronetische« Wissen der Geisteswissenschaften
Die Urteilskraft, die von Gadamer als dritter Begriff aus der humanistischen Tradition aufgelistet wird, müsse gemäß der jeweiligen Situation ins Spiel gebracht werden, da sie etwas als recht oder unrecht beurteile und für den »gemeinen Nutzen« sorge, der je anders sei. Die Urteilskraft gehe mit dem Geschmack einher, dessen humanistischer Begriff ein Geistesvermögen bezeichne, das eher im sittlich-sozialen Bereich als auf der Ebene der Erkenntnis betätigt werde. Insofern die Rücksicht auf die anderen, das Vergleichen und deswegen das Sichversetzen in einen allgemeinen Gesichtspunkt für den Geschmack konstitutiv seien, leiste dieses Vermögen zusammen mit der Urteilskraft einen unerlässlichen Beitrag bei der Jurisprudenz sowie bei der Sitte: zwei Lebensbereiche, in denen die Anwendung von allgemeinen Normen auf die konkreten Fälle Anlass zur Prüfung der Gesetze bzw. der Richtlinien gebe, die deshalb durch ihre Applikation produktiv ergänzt würden. Alle diese vier Grundbegriffe, deren Bedeutung sich seit Kant verändert und verengt habe, seien durch gemeinsame Charaktere gekennzeichnet, die sich darauf zurückführen ließen, dass das Wissen, das von ihnen angeboten werde, nicht von der Art der abstrakten und allgemeinen Erkenntnis sei, die der Anwendung nach bestimmten Regeln bedürfe. Die von Gadamer ausgewählten humanistischen Begriffe verweisen dagegen auf ein »situationsgebundenes« Wissen, das die Anwendung schon in sich selbst enthalte. Denn es werde von Geistesvermögen hervorgebracht, die sich in ihrer jeweiligen Leistung je nach der Situation anders vollzögen und sich ihr entsprechend weiterbildeten. Ein solches Wissen gehöre darum ursprünglich zum Sein des Menschen, der es in den für seine ontologische Verfassung konstitutiven Beziehungen mit den anderen erwerbe. Die Eigenschaften, die von den humanistischen Leitbegriffen aufgewiesen werden, sind schon im Begriff der φρόνησις enthalten, die Gadamer – nicht zufällig – bei der Behandlung des sensus communis einführt und in Bezug auf die Urteilskraft nochmals kurz erwähnt. Ebenso wie Heidegger ontologisiert Gadamer die φρόνησις und schreibt, dass sie »eine Bestimmtheit sittlichen Seins« 189 sei: Sie 189 Ebd., 27. Gadamer definiert auch das ἦθος und die Tugend ontologisch. Er schreibt: »Der Begriff des Ethos […] drückt ja eben das aus, daß die ›Tugend‹ nicht nur im Wissen besteht, daß die Möglichkeit des Wissens vielmehr von dem abhängt, wie einer ist«; »sittliches Handeln« hängt »mehr von unserem Sein als von unserem ausdrücklichen Bewußtsein« ab (MpE, 183, 185).
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Gadamers Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend«
setze »eine sittliche Haltung voraus, die« sie ihrerseits »fortbild[e]« 190. Denn sie erfasse die konkrete Situation des gesellschaftlichen Lebens und führe zu einer Entscheidung, welche in die Erfüllung und zugleich Veränderung des angestrebten Zwecks münden könne. Das anvisierte Ziel werde seinerseits wegen derjenigen Haltung gewählt, welche sich dank der φρόνησις einnehmen lasse. Gadamer ist der Meinung, dass die Wesenszüge des phronetischen Wissens dieselben seien wie die der spezifischen Erkenntnis, die von den Geisteswissenschaften erworben werden könne. Er denkt ferner, dass sie auch den Merkmalen des Verstehens im ursprünglichen Sinne entsprächen. Aus diesem Grund lässt sich vermuten, dass Gadamer sein Vorhaben in Wahrheit und Methode implizit durch die Auslegung des aristotelischen φρόνησις-Begriffes ausführt. Im Rückblick auf die Entstehung seiner Thesen weist Gadamer tatsächlich der φρόνησις eine »zentrale Stellung« in seiner »Hermeneutik« 191 zu und erhebt sie sogar zum »Modell für« seine »eigene Gedankenbildung« 192. Die φρόνησις erweist sich deshalb in Wahrheit und Methode als »die hermeneutische Grundtugend selbst« 193, zumal 190 GW 1, 27; vgl. 46 f., Fn. 71. Gadamer wird die φρόνησις wohl nicht als einen humanistischen Leitbegriff betrachtet haben, weil sie vor dem Humanismus gedacht wurde und der ganzen humanistischen Tradition gleichsam zugrunde liegt. Vgl. dazu István M. Fehér: Hermeneutik und praktische Philosophie. In: Riccardo Dottori/István M. Fehér/Csaba Olay (éd.): Constellations herméneutiques. Interpretation et liberté. Yearbook of Philosophical Hermeneutics (The dialogue, Das Gespräch, Il dialogo). 6 (2014), 71. 191 HD, 199. In S, 500 gesteht Gadamer zu, dass die praktische Philosophie des Aristoteles, deren Methode Folge der »praktischen Vernünftigkeit« sei, nicht nur als »ein bloßes methodisches Vorbild für die ›hermeneutischen‹ Wissenschaften« erachtet werden müsse, sondern als »ihre sachliche Grundlage«. 192 PpV, 328; vgl. das Vorwort zu GW 8, V. Gadamer grenzt somit seine Hermeneutik nicht nur von der traditionellen Kunstlehre, sondern auch von der Philosophie als »erster Wissenschaft« bzw. Metaphysik ab (vgl. Friederike Rese: Phronesis als Modell der Hermeneutik. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles. In: Günter Figal [Hrsg.]: Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode. Akademie Verlag: Berlin 22011, 127). 193 PpV, 328. Wegen der Tragweite der φρόνησις in Gadamers Hauptwerk schreibt Fehér: »Das Buch ›Wahrheit und Methode‹« versteht sich »als Werk der phronesis« und »erweist sich […] im ganzen als eine praktisch-politische Tat« (István M. Fehér: Pietismus, Hermeneutik, Phronesis, praktisches Wissen. In: Berliner Beiträge zur Hungarologie. 13 [2002–2003], 33). Dottori drückt sich ähnlich aus: »Therefore Nicomachean Ethics would be not only on the basis of Heidegger’s Being and Time, which Volpi calls a German translation of this work, but also the fundamental thesis of Truth and Method« (Riccardo Dottori: The Concept of Phronesis by Aristotle and the Be-
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Das sinnschaffende Selbstverständnis des praktischen Wissens
ihr Vollzug hier als »die grundlegende Form der Erfahrung« 194 beschrieben wird. Gadamers Meinung nach geschieht das Verstehen in der Erfahrung, da das Verstandene mit dem Erfahrenen übereinstimme: Das Erfahrene werde durch eine »Applikation« seines Inhaltes auf die Situation desjenigen verstanden, der seinen Sinn ergreifen und auslegen müsse.
3.
Das sinnschaffende Selbstverständnis des praktischen Wissens
In dem Paragrafen von Wahrheit und Methode, der auf die Struktur der hermeneutischen Erfahrung eingeht und der »eine systematische Schlüsselstellung« 195 einnimmt, setzt Gadamer sich auf mehreren Ebenen mit Aristoteles auseinander. Zum einen nimmt er die kurz zuvor hervorgehobene untrennbare Verbindung des von der φρόνησις gewonnenen Wissens mit der Erfahrung implizit wieder auf – Aristoteles’ Ansicht nach entstehe das sittliche Wissen aus der Erfahrung und wirke auf sie sowie auf das Sein des erfahrenden Menschen zurück. 196 Zum anderen hebt Gadamer ein Hauptmerkmal der hermeneutischen Erfahrung hervor, und zwar ihre Offenheit. Denn er geht der aristotelischen Auffassung der Begriffsbildung (der »ἐπαγωγή«) nach, gemäß der die Erfahrung bzw. die Induktion zur Allgemeinheit des Begriffes hinführe, der als ἀρχή dadurch ein logisches und ontologisches prius sei, dass sich die Verweisung jeder einzelnen Beobachtung auf immer weitere zu verzeichnende Einzelfälle nie im Gewinnen eines empirischen erfahrbaren geschlossenen Ganzen anhalten lasse. 197 ginning of Hermeneutic Philosophy. In: Etica & Politica/Ethics & Politics. 11 [2009] 1, 308 f.). Zur Unterstützung dieser These gilt es daran zu erinnern, dass die von Wahrheit und Methode untersuchte Erfahrung der Wahrheit »nicht nur philosophisch gerechtfertigt werden muß, sondern […] selber eine Weise des Philosophierens ist« (Hans-Georg Gadamer: Einleitung zu GW 1, 3). 194 GW 1, 328. 195 VzA, 445; vgl. GG, 31 f. 196 Vgl. GW 1, 328. In Fn. 261 verweist Gadamer auf seine nachfolgende Erläuterung des Wesens der Erfahrung, in der er auch auf Aristoteles eingeht. 197 Vgl. ebd., 356–359. Gadamer verweist auf An. post., Β, 19, 99 ff. und kommentiert diese Passage, obzwar in einem anderen Kontext, in GS, 354. In Wahrheit und Methode bemerkt er, dass Aristoteles die produktive »Negativität« (die »Dialektik«) der Erfahrung jedoch nicht erfasst habe. Sie sei von Hegel verstanden worden, der aber
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Gadamers Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend«
Die Interpretation der aristotelischen Begriffsbildung folgt dem Kapitel von Wahrheit und Methode, in welchem Gadamer die Wesenseinheit von Verstehen, Auslegen und Applikation am Leitfaden des aristotelischen φρόνησις-Begriffes zu erläutern versucht. Darin hatte Gadamer mit Heidegger die Auslegung nicht für einen Akt gehalten, der nur gelegentlich zum Verstehen hinzukäme, sondern für dessen explizite Form. 198 Gadamer hatte jedoch der Auffassung Heideggers hinzugefügt, dass sich das Auslegen in der »Applikation« vollziehe, die »keine nachträgliche Anwendung von etwas gegebenem Allgemeinen, das zunächst in sich verstanden würde, auf einen konkreten Fall« sei. 199 Die Applikation vermittle vielmehr das Allgemeine mit dem Einzelfall, indem sie den Sinn des Ersteren ausgehend vom Letzteren erschließe und somit bereichere. Für den wesenhaft verstehenden Menschen sei das »Allgemeine« zunächst die Tradition, der er zugehöre und die er sich selbst »über-liefere«, indem er etwas Vergangenes verstehe. Durch dieses Verständnis würden immer neue Dimensionen des Sinnes der überlieferten Gehalte und deswegen der Geschichte selbst zum Erscheinen gebracht. Da die Geschichte das Sein des verstehenden Menschen ausmache, verändere das Verstehen denjenigen, der verstehe, ohne dass sich diese wechselseitige »Wirkungsgeschichte« zur Durchsichtigkeit eines absoluten (Selbst-)Verständnisses zuspitzen könne. 200 die Unabgeschlossenheit des Erfahrungsweges nicht anerkannt habe. Deshalb seien sowohl die Auffassung des Aristoteles als auch diejenige Hegels im Begriff der hermeneutischen Erfahrung umzuarbeiten (vgl. GW 1, 359–363). Gadamer übernimmt die Hauptgedanken von Heideggers Aufsatz Hegels Begriff der Erfahrung (vgl. GA 5, 115–208), auf den er sich in GW 1, 360 explizit beruft. Vgl. dazu Francesco Cattaneo: Ermeneutica e libertà dell’esperienza. Un percorso tra Gadamer e Heidegger. In: Cattaneo/Gentili/Marino (a cura di): Domandare con Gadamer. A. a. O., 203–205, 215– 228. 198 Vgl. GW 1, 312; GW 2, 197–204. 199 GW 1, 346; vgl. 312–316. Gadamer wertet die »subtilitas applicandi« wieder auf, die der Pietismus der »subtilitas intelligendi« und der »subtilitas explicandi« hinzugefügt hatte, nachdem sie in der weiteren Geschichte der Hermeneutik außer Acht gelassen wurde. Das Moment der Applikation tritt am deutlichsten bei der juristischen Hermeneutik hervor (vgl. 330–339). Neben dem aristotelischen φρόνησις-Begriff gelten als Inspirationsquellen für Gadamer Hegels Auffassung des »konkreten Allgemeinen« und Kierkegaards Konzept der »Gleichzeitigkeit« (vgl. NdA, 471). Zu Gadamers Erörterung der »subtilitas applicandi« vgl. István M. Fehér: Hermeneutics and Philology: «Understanding the matter», «Understanding the text». In: Continental Philosophy Review. 34 (2001) 3, 276–280. 200 Vgl. GW 1, 305–312.
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Das sinnschaffende Selbstverständnis des praktischen Wissens
Das Verstehen zeige sich deshalb immer als ein situationsgebundenes Selbstverstehen, das nicht zuerst eine Erkenntnisart, sondern ebenso ein historisch bedingtes und zugleich geschichtsschaffendes Sein sei. 201 Dadurch kommt die Verbindung zwischen der philosophischen Hermeneutik Gadamers und der praktischen Philosophie des Aristoteles zum Vorschein. Um die »hermeneutische Aktualität« des Aristoteles vorzustellen und sie für eine Neubegründung der Geisteswissenschaften nutzbar zu machen – seiner Ansicht nach ist »die praktische Philosophie des Aristoteles […] das einzige tragkräftige Modell für ein angemessenes Selbstverständnis der Geisteswissenschaften« 202 –, vertieft Gadamer die aristotelische Abgrenzung der φρόνησις von der τέχνη. Auf diese Weise entspricht er dem zweifachen Vorhaben von Wahrheit und Methode: »uns […] gegen das technische Selbstverständnis des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs abzuschirmen« 203 und der Beherrschung des sozialen Lebens durch die Technik mittels der Wiederaufnahme einer der πρᾶξις immanenten Vernünftigkeit entgegenzutreten. In seiner Analyse wiederholt Gadamer zum Teil die Überlegungen, die er schon in dem Aufsatz Praktisches Wissen dargestellt und in der vierten Löwener Vorlesung Das hermeneutische Problem und die aristotelische Ethik 204 (1958) weitergeführt hatte. Gadamer bezieht sich implizit auf den Inhalt von Heideggers Vorlesungen, die er besucht hatte, obwohl er die heideggerschen Argumente in einem hermeneutischen und ethisch-politischen Zusammenhang kontextualisiert sowie vollständig verwandelt. Gadamer greift aus den aristotelischen Ausführungen drei Unterschiede zwischen τέχνη und φρόνησις heraus. Der erste wird implizit im Ausgang von Heideggers Identifizierung der Unvergesslichkeit der φρόνησις mit der des Gewissens ausgelegt, da er die Unmöglichkeit betrifft, das sittliche Wissen zu lernen und demzufolge auch zu verlernen. Während man imstande sei zu wählen, ob ein sachliches Können erlernt werde oder nicht, und ein solches Können nicht mehr besessen werde, falls es nicht regelmäßig angewandt werde, könne man nicht für oder gegen das Handeln überhaupt entschei-
Vgl. ebd., 265. Gadamer arbeitet Heideggers These um; zu dieser vgl. GA 24, 390 f. PpV, 319. 203 NdA, 455. Auf S. 459 verteidigt sich Gadamer gegen den Vorwurf, er wolle, dass die Wissenschaft »das qualitative Weltbild des Aristoteles restaurativ« erneuere. 204 Sie ist enthalten in PhB, 33–41. 201 202
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Gadamers Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend«
den: Jeder Mensch sei »immer schon in der Situation dessen, der handeln soll« 205, und besitze gewissermaßen die Fähigkeit, die beste Handlungsmöglichkeit zu ergreifen. Denn er habe »durch Ausübung und Erziehung eine Haltung«, eine ἕξις, »in sich ausgebildet […], die in den konkreten Situationen […] zu bewähren« 206 sei und es ihm ermögliche, im Allgemeinen zu wissen, was recht sei. Ein so gewusstes Rechtes sei aber keineswegs ähnlich wie das εἶδος einer vom Handwerk herzustellenden Sache, da es nie absolut feststehe: Der Handelnde müsse es an den ausgezeichneten Menschen seiner Gesellschaft ablesen, die als Leitbilder gälten, insofern sie das ἦθος bzw. die geschriebenen und ungeschriebenen Normen gleichsam verkörperten. Sie würden jedoch lediglich »Schemata« 207 versinnlichen, die »immer erst in der konkreten Situation des Handelnden« 208 weiter zu bestimmen seien. Im Fall der φρόνησις gebe es also keine bestimmte Regel zur Erfüllung eines vorgegebenen Ziels. Der Unterschied zur τέχνη werde noch deutlicher, wenn man bedenke, dass das praktische Wissen keinen bloß partikularen Zweck habe: Es betreffe vielmehr das Richtig-Leben im Ganzen. Außerdem müsse dieser allumfassende Zweck von Mal zu Mal anders konkretisiert werden und die Mittel selbst, die zu ihm führen könnten, blieben auch nie dieselben: Sie müssten durch Überlegung, durch ein immer GW 1, 322. Ebd., 318 f.; vgl. PW, 246 f., 242 f., wo Gadamer betont, dass die ἕξις eine Seinsweise sei: Man könne eine Ansicht vergessen, aber nicht das eigene Sein. 207 GW 1, 326. Mit diesem Wort wird Gadamer wohl an die »Typik« Kants gedacht haben, die das Problem der Anwendung des Sittengesetzes habe lösen sollen (vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In KW 7, 186–190) und auf die in AiE, 392 verwiesen wird. Gadamer exemplifiziert die Rolle der Leitbilder, indem er auf die Gesetze hinweist, die der Richter anwenden muss. Er schreibt, dass Aristoteles sich darüber im Klaren gewesen sei, dass das Gesetz die Wirklichkeit in ihrer vollen Konkretion nicht in sich enthalten könne, weswegen es durch seine Applikation ergänzt werden müsse (vgl. GW 1, 323–325). Gadamer arbeitet somit die Frage nach der »Billigkeit« (ἐπιείκεια) aus, die Aristoteles in Eth. Nic., Ε, 10, 1137 a 31 – 1138 a 3; Ζ, 11, 1143 a 19–24 behandelt und vor allem im 16. Kapitel von Pol., Γ beantworten will, indem er klarstellt, dass nur wer im Gesetz erzogen worden sei, dieses auch zu ergänzen und sogar zu verbessern vermöge. 208 GW 1, 323. In Praktisches Wissen führt Gadamer das erste und das zweite der Argumente nicht aus, die er in Wahrheit und Methode entwickelt, d. h. die Argumente der »Anwendung« und des »Mittel-Zweck-Zusammenhanges«, da er seine Hermeneutik im Jahr 1930 noch nicht präzisiert hatte. Er verweilt (nach dem Vorbild Heideggers) eher beim Unterschied des »Worumwillen« (des Zweckes) von τέχνη und φρόνησις und bei den existenzialen Zügen der φρόνησις (vgl. PW, 241–243). 205 206
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Das sinnschaffende Selbstverständnis des praktischen Wissens
neu zu vollbringendes »Mitsichzurategehen« 209 erfasst werden. Im Mittel-Zweck-Zusammenhang besteht die zweite Differenz zwischen τέχνη und φρόνησις, die Gadamer hervorhebt. Zwar werde das Ziel vom ἦθος vorgegeben; doch bestimme die φρόνησις es mit, indem sie es aus der Perspektive der jeweiligen Situation erfasse, die angebrachtesten Mittel zu ihm wähle und es dadurch als das »Tunliche« hier und jetzt konkretisiere. 210 Die φρόνησις gehe also den Zweck ebenso wie die Mittel an, obwohl Aristoteles dazu neige, sie nur als bloßes Vermögen der rechten Wahl des Mittels vorzustellen. 211 Auch wenn dieser Einschränkung des sittlichen Wissens durch die Übersetzung der griechischen »φρόνησις« mit der lateinischen »prudentia« Vorschub geleistet worden sei, habe die »prudentia« – so führt Gadamer aus – erst in der Neuzeit jedweden Bezug zum Guten verloren und sei rein technisch, als bloßes Erfassen der rechten Mittel, verstanden worden. 212 Des Weiteren könne die φρόνησις den Handlungszweck keinesfalls außer Acht lassen: Wenn sie das tun würde, dann fiele sie mit der Schlauheit zusammen, d. h. mit der charakteristischen Eigenschaft des δεινός, der »›zu allem fähig [sei]‹, sein Geschick hemmungslos zu allen Zwecken« 213 gebrauche. Aristoteles sehe aber die bloße Schlauheit als Degeneration des praktischen Wissens an, das er als mit anderen Tugenden wesensverwandt erachtet. Die Verbindung der φρόνησις 209 Mit diesem Wort betont Gadamer den praktischen Charakter des λόγος der φρόνησις (vgl. GW 1, 326; PW, 241, 245). 210 Vgl. GW 1, 326; MpE, 184. 211 Vgl. GW 1, 326 f. Gadamer beruft sich auf Eth. Nic., Ζ, 12, 1144 a 8–9; Ζ, 13, 1145 a 5–6, wo Aristoteles sagt, dass das richtige Ziel durch das ἦθος gesetzt werde, während die rechten Mittel dazu durch die φρόνησις zu wählen seien. Gadamer nimmt an, dass Aristoteles hier die φρόνησις auf die Mittel beschränke, weil er sie der platonischen Lehre von der Idee des Guten entgegensetzen wolle. Dagegen betont die sogenannte »Padua-Schule« um Enrico Berti, dass das phronetische Wissen nur die Mittel und nicht den Zweck als solchen betreffe. Zur Diskussion dieses schwierigen Punktes der aristotelischen Philosophie vgl. Martin Ganter: Mittel und Ziel in der praktischen Philosophie des Aristoteles. Alber: Freiburg u. München 1974. 212 Vgl. GW 1, 327, Fn. 320; AiE, 381 f., 388. Der Sinn des Wortes »prudentia« wurde entscheidend von seinem Gebrauch bei Cicero (vgl. De inv., II, 53; De nat. deor., III, 15, 38) geprägt. Dottori macht darauf aufmerksam, dass »prudentia« in dem Terminus »jurisprudentia« enthalten sei, der das Urteilen nach den Gesetzen bedeute (vgl. Riccardo Dottori: Il concetto di phronesis in Aristotele e l’inizio della filosofia ermeneutica. In: Paradigmi. 3 [2008], 53). 213 GW 1, 329; vgl. PW, 246; IG, 221; AiE, 382. Gadamer kommentiert hier Eth. Nic., Ζ; 12, 1144 a 23–29.
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mit der σύνεσις (Verständnis), 214 der γνώμη (Einsicht) und der συγγνώμη (Nachsicht), durch die Aristoteles das Wesen des sittlichen Wissens von demjenigen der ἐπιστήμη und der τέχνη schärfer abgrenzt, gibt Gadamer Anlass dazu, die Selbstbezüglichkeit und den gesellschaftlichen Charakter der φρόνησις in den Vordergrund zu rücken. Als dritten Unterschied zwischen φρόνησις und τέχνη listet Gadamer nämlich den existenziellen Zug des sittlichen Wissens auf. 215 Dieses sei kein »Für-jedermann-Wissen«, d. h. kein Wissen, das auch »für andere« gelte, sondern ein »Für-sich-Wissen«, das sich selbst und das ganze Sein des Handelnden wisse. Insofern der Mensch immer in einer Gesellschaft existiere, schließe sein »Für-sich-Wissen« die Fähigkeit ein, sich in den Anderen hineinzuversetzen und seine Lage vernünftig so zu beurteilen, als ob sie die eigene wäre, um ihn beraten zu können. 216 Ein solches vernünftiges Verständnis 214 Riedel unterstreicht, dass es nach Gadamer bei Aristoteles eine komplementäre Betätigung von σύνεσις und φρόνησις gebe (vgl. Manfred Riedel: Hermeneutik und Gesprächsdialektik. Gadamers Auseinandersetzung mit Heidegger. In: ders.: Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1990, 103). Gadamer verbinde die aristotelischen Begriffe φρόνησις und σύνεσις so stark miteinander, weil er sich von der heideggerschen Identifizierung der σύνεσις mit der συντήρησις des Apostels Paulus beeinflussen lasse (vgl. ders.: Heidegger und der hermeneutische Weg. A. a. O.). Trotzdem räumt Gadamer im Unterschied zu Heidegger der σύνεσις eine zentrale Stelle ein, weil er Selbstsein und Mitsein viel stärker als sein Lehrer aufeinander bezieht. Diesbezüglich bemerkt Fisher, dass Gadamer und Ricœur Aristoteles nicht ganz treu geblieben seien, da die aristotelische φρόνησις »primarily self-regarding, and only secondarily or derivatively, other-regarding« sei (David H. Fisher: Is Phronēsis Deinon? Ricœur on Tragedy and Phronēsis. In: Francis J. Mootz III/George H. Taylor [eds.]: Gadamer and Ricœur. Continuum: London u. New York 2011, 162). 215 Vgl. GW 1, 321, 328. Wang bemerkt, dass die Erstreckung des sittlichen Wissens auf den Bereich des Anderen dank des Hinweises auf die σύνεσις sowie die Aufwertung des ἦθος die wesentlichen Unterschiede zwischen Heideggers und Gadamers Analyse der aristotelischen Abgrenzung der φρόνησις von der τέχνη seien. Diese Unterschiede erlaubten es Gadamer, die letzten Spuren von Subjektivismus zu überwinden, die in Heideggers »formalem Ansatz« noch vorhanden seien (vgl. Hongjian Wang: Tradition, φρόνησις und Praktische Philosophie. Über Gadamers kritische Aneignung von Heidegger. In: Synthesis Philosophica. 67 [2019] 1, 199–202). 216 Gadamer führt das Beispiel des Freundes an und schreibt: »Nur Freunde können einander raten« (GW 1, 328; vgl. HA, 315). Man könnte sich fragen, ob sich die σύνεσις auch im Falle eines Unbekannten üben lässt. Dieses Problem ist mit demjenigen der Geltung der Prinzipien von Gadamers Hermeneutik im Bereich der nicht-abendländischen Traditionen und mit der Frage nach der Möglichkeit verbunden, denjenigen zu verstehen, der zu einer anderen Überlieferung gehört. Seit den 1970er Jahren
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Die πρᾶξις als Auszeichnung des Menschen
gehe zusammen mit der Einsicht (γνώμη) – die »die besondere Situation des anderen recht gelten« 217 lasse und deshalb zur Selbstkritik bereit mache – sowie mit der Nachsicht (συγγνώμη) – die zur Verzeihung anhalte. Indem Gadamer die aristotelische Beschreibung der φρόνησις wiedergibt, neigt er dazu, ihr auf der Spur Heideggers einen fast allumfassenden Charakter zuzuschreiben. Dies zeigt sich besonders deutlich in den Aufsätzen, in denen er das Verhältnis zwischen der φρόνησις und der σοφία behandelt.
4.
Die πρᾶξις als Auszeichnung des Menschen und die Universalität der Hermeneutik
In dem Vortrag Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978) analysiert Gadamer nochmals die aristotelische Bestimmung der φρόνησις im Buch Ζ der Ethica Nicomachea und ergänzt das in den früheren Schriften Ausgeführte um eine Infragestellung des Vorrangs der σοφία gegenüber der φρόνησις. Zuerst erinnert er daran, dass sowohl die φρόνησις (die praktische Vernünftigkeit) als auch die σοφία (die theoretische Weisheit) ein »Höchstes« seien, insofern dasjenige »Höchste im Menschen« sich »in ihnen verwirklich[e] […], das Aristoteles ›Nous‹ oder auch ›das Göttliche‹ zu nennen« 218 pflege. Gadamer bestimmt die φρόνησις und die σοφία auch als ein »Bestes«, weil jede von ihnen die Vollkommenheit eines Teils der Seele sei: Nur sie seien eigentlich »Tugenden«, falls das Wort »ἀρετή«, »Tugend«, die »Bestheit« der Seele bezeichne. 219 Dann behauptet Gadamer, dass das Verhältnis zwischen praktischem und theoretischem Wissen im Werk des Aristoteles nicht zu einer genauen Darstellung gebracht worden sei. 220 versuchte Gadamer, die Universalität der Hermeneutik in unterschiedlichen Weisen zu rechtfertigen und den interkulturellen Dialog zu fördern. 217 GW 1, 328; vgl. 327; PW, 239–241, 243, 245; AiE, 391 f.; HA, 314 f. Gadamer stützt sich auf Eth. Nic., Ζ, 10, 1142 b 30 – 1143 a 18; Ζ, 11, 1143 a 19 – 1143 a 24. Davon ausgehend misst er der Hermeneutik eine offene Einstellung zu, die verlangt, dass derjenige, der verstehe, seine eigene Wahrheit zuerst »auf die Probe« (H, 116) stellen und sich selbst kritisieren müsse (vgl. S, 505). 218 IG, 225. 219 Gadamer nimmt die Übersetzung von »ἀρετή« wieder auf, die Wolfgang Schadewaldt vorgeschlagen hatte. Vgl. ebd., 225; AiE, 389; PW, 242; Z, 19; N, 63. 220 Vgl. IG, 226; N, 63. Die Zweideutigkeit, in der die aristotelische Auffassung dieses
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Gadamers Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend«
Er gesteht zwar zu, dass Aristoteles das theoretische Lebensideal Platons festhalte und dass er die θεωρία der πρᾶξις nicht unterordne, auch wenn er die praktische Vernünftigkeit für die Bedingung der Ausbildung und der Betätigung der theoretischen Vernünftigkeit halte. 221 Gadamer verweist jedoch auch auf Politica, Η, 1325 b, wo Aristoteles die θεωρία als die höchste πρᾶξις bestimmt. 222 Er schlussfolgert, dass Aristoteles zum einen das praktische Leben im Rang unter dem theoretischen verorte und als »Zweit-Bestes« bestimme; zum anderen schätze er aber auch die sittlich vollendete πρᾶξις als ein »Bestes« (was so viel heiße wie die »Erfüllung der Eudämonie«) und gebe schließlich zu, dass »das praktische Glück des Menschen nicht zweites Ranges, sondern eben das [einzige] dem Menschen zuteil gewordene« sei, »wenn er sich auch zeitweise über sich selbst zur göttlichen Seligkeit der ›Theoria‹ erheben« 223 möge.
Verhältnisses bleibt, hat Anlass zu mehreren Auslegungen der Ethik des Aristoteles gegeben, unter ihnen die »metaphysische« von René Antoine Gauthier (der die Distanz zwischen φρόνησις und σοφία verringert, indem er »φρόνησις« mit »sagesse« übersetzt) und die dem »Kontingentismus« nahestehende von Pierre Aubenque (der »φρόνησις« als »prudence« überträgt). Aubenque würdigt die φρόνησις als Erfahrungswissen, dank dessen der Mensch sich trotz der Zufälligkeit der sublunaren Welt zurechtfinden könne (vgl. Aubenque: La prudence chez Aristote. A. a. O., 64–94; dt. Übers. 69–96). 221 Vgl. IG, 226. Gadamer verweist hier auf Eth. Nic., Ζ, 13, 1145 a 7–9. Er versucht in allen Phasen seiner Philosophie, die Kontinuität zwischen Platon und Aristoteles zu zeigen. Trotzdem unterstreicht er mehrmals hinsichtlich dessen, was Aristoteles als die »dianoetischen Tugenden« bezeichnet, dass Platon die Grenzen ihrer Begriffe unbestimmt lasse. Platons Sprachstil sei eher mimetisch und dem Sprachgebrauch verbunden als streng begrifflich, wohingegen Aristoteles von der alltäglichen Rede ausgehe, um die in ihr ausgedrückten Bedeutungen in die Sprache des Begriffs umzusetzen. Deshalb habe Platon »φρόνησις« und »σοφία« als Synonyme verwendet, während sie erst von Aristoteles unterschieden und zu einer begrifflichen Fassung erhoben worden seien (vgl. AiE, 388, 391; IG, 147 f.; PEW, 126; PW, 240; HS, 19; DH, 145 f.; RA, 400). Aristoteles habe jedoch lediglich »die platonische Intention in die vorsichtig tastende Sprache philosophischer Begriffe überführt« (IG, 227). 222 Vgl. IG, 226; N, 63 f.; HpP, 326. Ebenso wie Heidegger versucht Gadamer, hinter die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Wissenschaft zurückzugehen, indem er sie aus einer ontologischen Perspektive betrachtet. In Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles schreibt Gadamer, dass Aristoteles, wenn er den Boden der Ethik verlasse und in die Metaphysik hinüberwechsele, φρόνησις und σοφία einander annähere, indem er ausführe, dass »die Sphäre menschlicher Praxis und Poiesis insgesamt in das Reich der Natur eingeordnet« sei (IG, 224; vgl. 225). 223 IG, 227; vgl. HG, 38 f.; IpP, 240.
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Die πρᾶξις als Auszeichnung des Menschen
Gadamer schließt: »Die Praxis ist selbst die allumfassende Auszeichnung des menschlichen Wesens.« 224 Auf diese Weise entnimmt Gadamer dem aristotelischen Text einen Sinn, der in ihm unter einem streng philologischen Gesichtspunkt nicht vorhanden ist. Er tut das, weil er implizit das Ziel verfolgt, seine These von der Ursprünglichkeit der φρόνησις, d. h. von deren grundlegender Einbeziehung in alle Lebensformen, durch Aristoteles zu bewähren, um damit die universale Leistung eines Verstehens zu belegen, das dieselben Wesenszüge wie das so ausgelegte sittliche Wissen bei Aristoteles besitzt. Davon ausgehend kann er die Universalität seiner Hermeneutik rechtfertigen, die er im Vorwort zur zweiten Auflage von Wahrheit und Methode (1965) auf die »umfassende und universale« »Bewegung des Verstehens« 225 zurückführt. Die Analogien zwischen dem hermeneutischen Verstehen und dem aristotelischen praktischen Wissen liegen auf der Hand, und sie lassen sich auch nicht auf die Universalität ihrer jeweiligen Wirkungsfelder beschränken. Unter den Ähnlichkeiten sind mindestens noch vier weitere zu erwägen. Die erste besteht darin, dass das Verstehen, ebenso wie die sittliche Einsicht, weder »theoretischer« noch »technischer« Art ist, sondern einen ursprünglich »praktischen« Sinn besitzt. Schon für Heidegger war das Verstehen die Seinsart des Daseins als Seinkönnen in der Welt, die sich im »geworfenen« (situationsgebundenen) »Entwurf« gestaltet. 226 Gadamer bringt neben diesem existenzialen Sinn eine begriffsgeschichtliche Dimension des Begriffs des Verstehens zum Vorschein, indem er seine »Urbedeutung« als »Vertreten einer causa vor Gericht« erwähnt und sie als »Stehen für« 227 die behandelte Sache mit dem Anderen im Gespräch interpretiert. Eine zweite Analogie des Verstehens mit dem phronetischen Wissen liegt darin, dass sich das verstehende Auslegen an keinem festen Kriterium messen lässt. Eine Rolle, die ähnlich ist wie die der σπουδαίοι, an denen sich das Verhalten der Bürger nach Aristoteles ausrichten soll, spielen die Klassiker im Bereich der Hermeneutik: Sie setzen sich von selbst durch, kraft ihrer unabweisbaren Wirkung und 224 225 226 227
IG, 22. VzA, 440. Vgl. GA 2, 190–193, ausgelegt in GW 1, 264–267. GW 1, 265, Fn. 173.
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Gadamers Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend«
infolge des Konsenses einer Interpretationsgemeinschaft. Sie müssen jedoch von Mal zu Mal von denjenigen bestätigt werden, die sich an sie binden und sie zugleich produktiv verändern. Denn sie gelten als »Schemata«, die einen Spielraum möglicher Interpretationen abgrenzen. 228 Die dritte Analogie zwischen sittlichem Wissen und Verstehen, die eigentlich die einzige ist, die Gadamer am Ende des Paragrafen von Wahrheit und Methode über die hermeneutische Aktualität des Aristoteles nennt, betrifft die wesentliche Anwendungsbedürftigkeit, der der φρόνιμος sowie der verstehend-auslegende Mensch notwendigerweise gegenüberstehen. Gadamer geht auf diesen Aspekt der Bedeutung der aristotelischen φρόνησις für die Wissenschaften im Nachwort zur dritten Auflage (1972) von Wahrheit und Methode näher ein. Hier vergleicht er Aristoteles’ Auffassung der φρόνησις mit Hegels Konzeption der Urteilskraft und sagt, dass der Wechselbezug zwischen Allgemeinem und Besonderem in beiden begriffen werde. Bei Aristoteles zeige sich nämlich »das konkret Besondere nicht nur als der Ausgangspunkt, sondern als ein immer bestimmendes Moment für den Inhalt des Allgemeinen« 229. Insofern die Ethik des Aristoteles die Konkretisierung des Handlungsziels von dieser Bestimmung abhängen lässt und diese Konkretisierung ihrerseits die Wahl der Mittel bedingt, weist die Angewiesenheit auf die Applikation – die das sittliche Wissen ebenso wie das hermeneutische Verstehen kennzeichnet – auf eine vierte Analogie hin, und zwar auf die Rückwirkung der ausgewählten Mittel auf den Zweck. Gadamer selbst spielt auf diese Analogie an, wenn er sagt, dass die aristotelische φρόνησις »[e]ine der wichtigsten Belehrungen« sei, »die die Geschichte der Philosophie für« das »aktuelle Problem« des Selbstverständnisses »des Menschen im modernen Zeitalter der Wissenschaft« 230 bereithalte. Aus der praktischen Philosophie des Aristo228 Zum »Normcharakter« der Klassiker vgl. ebd., 124 f.; Rosa M. Marafioti: Den Neoklassizismus weiterdenken: Gadamer und die hermeneutische Reichweite des »Klassischen«. In: Perspektiven der Philosophie. 45 (2019) 149 f. Zur Unfeststellbarkeit und zugleich Nicht-Beliebigkeit des Maßstabs der Auslegung vgl. AS, 117 f. Die Frage nach der Beschränkung des Auslegens auf einen Spielraum möglicher Deutungen wird von Gadamer am Beispiel der Orientierung des Richters am »natürlichen Recht« (an der »Natur der Sache«) im Falle einer Entscheidung nach Billigkeit beantwortet (vgl. GW 1, 324 f.; H, 106; HH, 401). 229 NdA, 455; vgl. IG, 221; GW 1, 329. 230 NdA, 454 f.
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Die πρᾶξις als Auszeichnung des Menschen
teles ergebe sich nicht nur, dass »der Einzelne wie die Gesellschaft auf das ›Glück‹ gerichtet« 231 seien. Von ihr könne man auch lernen, dass sich die Verantwortlichkeit des Menschen nicht auf die Entscheidung über den Weg dazu reduzieren lasse. Die praktische Vernünftigkeit solle den Menschen auch vor der leichtfertigen Anpassung an die von den sozialen Lebensordnungen vorgegebenen Zwecke warnen und ihm Folgendes bewusst machen: »Was einem als das Rechte gilt, determiniert den Maßstab [des Vorzüglichen] selber, und zwar nicht nur so, daß kommende Entschließungen dadurch vorentschieden werden, sondern auch so, daß sich dadurch die Entschlossenheit zu bestimmten Handlungszielen selber ausbildet.« 232 Die Rolle der philosophischen Hermeneutik, der eine ursprünglich praktische Vernünftigkeit zugrunde liege, sei es deshalb, den »Sinn für das Tunliche, das Mögliche, das Richtige hier und jetzt« in der heutigen Welt zu wecken und aus dem »Stellen der letzten Fragen« 233, mit denen sich die Philosophie seit jeher befasst habe, keine utopischen oder eschatologischen Visionen entspringen zu lassen. Die so verstandene Hermeneutik erweist sich als praktische Philosophie und bestätigt damit ihre Universalität. 234 Durch die ÜberEbd., 468. Ibidem. Vgl. PpV, 326 f.; EA, 14, wo Gadamer bezüglich seiner Übersetzung des Wortes »φρόνησις« unterstreicht: »Es ist nicht nur Vernünftigkeit, es ist auch eine Art politischer und sozialer Verantwortlichkeit, die hier gemeint ist, und das ist der Grund, warum ich für Phronesis öfters zwei Worte gebrauche, Vernünftigkeit oder Gewissenhaftigkeit.« 233 VzA, 448. Nach Fehér kann Gadamers Interpretation der φρόνησις als ein Wissen, das »das von der jeweiligen Situation geforderte Gute im Zusammenleben zu verwirklichen versucht […], als ein Kommentar zu Kant[s]« Auffassung der Philosophie im Sinne der »Idee einer vollkommenen Weisheit« angesehen werden, »die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt« (István M. Fehér: Gibt es die Hermeneutik? Zur Selbstreflexion und Aktualität der Hermeneutik Gadamerscher Prägung. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie. 2 [1996], 257; Immanuel Kant: Logik. In KW 6, 447). 234 In Wahrheit und Methode wird die Universalität der Hermeneutik in derjenigen der Sprache als Dialog gegründet (vgl. dazu Jean Grondin: Gadamer und Augustin. Zum Ursprung des hermeneutischen Universalitätsanspruches. In: Verstehen und Geschehen. Symposium aus Anlass des 90. Geburtstages von Hans-Georg Gadamer. Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft. Meßkirch 1990, 46–62). In den Schriften nach dem Werk von 1960 rechtfertigt sie Gadamer durch den Hinweis auf die »praktische Universalität […] der Vernünftigkeit« (PpV, 327) oder auch ausgehend von einer Rekonstruktion der Ausweitung der Aufgabe der Interpretation auf das psychische und soziale Leben (vollzogen von der Psychoanalyse und der Ideologiekritik) sowie auf die traditionelle Begrifflichkeit und schließlich auf jegliches 231 232
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Gadamers Umgestaltung der φρόνησις zur »hermeneutischen Grundtugend«
nahme des aristotelischen Erbes in einem hermeneutischen Rahmen leistet Gadamer einen maßgeblichen Beitrag zur »Rehabilitierung« der praktischen Philosophie, derer Idee er neu bestimmt. Gadamers Definition der Hermeneutik als praktischer Philosophie gelangt zu klarer Darstellung in dem Aufsatz, der in dem von Manfred Riedel 1972 veranstalteten Sammelband veröffentlicht ist und auf den auch im Nachwort zur dritten Auflage von Wahrheit und Methode verwiesen wird.
Phänomen (in Heideggers Denken): Auf diesem Weg sei der Zusammenhang der Hermeneutik mit der praktischen Philosophie entstanden (vgl. HpP, 334–339). In den Schriften nach dem Werk von 1960 rechtfertigt Gadamer die Universalität der Hermeneutik durch den Hinweis auf die »praktische Universalität […] der Vernünftigkeit« (PpV, 327) oder auch ausgehend von einer Rekonstruktion der Ausweitung der Aufgabe der Interpretation auf das psychische und soziale Leben (vollzogen von der Psychoanalyse und der Ideologiekritik) sowie auf die traditionelle Begrifflichkeit und schließlich auf jegliches Phänomen (in Heideggers Denken): Auf diesem Weg sei der Zusammenhang der Hermeneutik mit der praktischen Philosophie entstanden (vgl. HpP, 334–339).
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IV. Zur Neubelebung der φρόνησις als »verantwortlicher Vernünftigkeit« Wo ist die Weisheit, die wir im Wissen verloren haben? Wo ist das Wissen, das wir in der Information verloren haben? Thomas Stearns, The Rock
1.
Die »Magd-Funktion« der Ethik des Aristoteles und der Hermeneutik Gadamers
Am Anfang seines Aufsatzes Hermeneutik als praktische Philosophie weist Gadamer darauf hin, dass die neue Aktualität, die die Hermeneutik seit den 1960er Jahren gewonnen habe, in Verbindung mit der Wiederentdeckung der praktischen Philosophie des Aristoteles stehe. 235 Er hebt nämlich hervor, dass der Hermeneutik im 20. Jahrhundert eine universelle Reichweite beigemessen worden sei, besonders seitdem Nietzsche die gesamte abendländische Kultur radikal kritisiert habe. Die Anerkennung der Universalität der Hermeneutik habe sie aus ihrer traditionellen Rolle als Interpretation von Texten oder als Kunstlehre dieser Interpretation heraustreten lassen; und dies habe sie in die Nähe des Anfangs ihrer Geschichte gerückt, als sie als »Kunst« in den Bereich der praktischen Philosophie des Aristoteles eingegliedert gewesen sei, zumal die »Künste« die für die πόλις unerlässlichen Tätigkeiten ausgemacht hätten. Die praktische Philosophie sei im aristotelischen »System« eine einzigartige »Wissenschaft«, verschieden von den »theoretischen« und noch mehr von den »poietischen«, da sie sich durch einen nützlichen und existenziellen Zug auszeichne. Aristoteles’ Ansicht nach müsse sich die praktische Wissenschaft nämlich »aus der Praxis selbst erheben und mit all den typischen Allgemeinheiten, die sie bewußt mach[e], auf die Praxis zurückbeziehen« 236 und könne von der Frage 235 Vgl. HpP, 325. Gadamer verfolgt mit Interesse die Anfang der 1960er Jahre begonnene »Rehabilitierung« der aristotelischen Ethik, auf die er in PD, 22 und in seinen Rezensionen zur Übersetzung der Ethica Nicomachea von Gauthier explizit verweist. Vgl. AE, 302, 304; Aristote: L’Éthique à Nicomaque. Introdution, traduction et commentaire par René A. Gauthier et Jean Y. Jolif. 3 Bde. Nauwelaerts: Louvain u. Paris 1958/59, 21970. 236 HpP, 328.
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Zur Neubelebung der φρόνησις als »verantwortlicher Vernünftigkeit«
nach dem Guten (des Einzelnen ebenso wie des Staates) nicht absehen. Die Hermeneutik sei in die praktische Philosophie einzuordnen, insofern sie, »ähnlich wie Rhetorik«, mit der »natürliche[n] Fähigkeit des Menschen […] zum verständnisvollen Umgang« 237 mit den anderen befasst sei. Auf dieser ersten Analogie zwischen der Hermeneutik und der praktischen Philosophie – der Bezogenheit auf die φρόνησις bzw. die Existenz – aufbauend, behandelt Gadamer andere Ähnlichkeiten, von denen mindestens drei zu nennen und weiter zu erläutern sind. Insofern er den Bezug seiner Hermeneutik zur praktischen Wissenschaft des Aristoteles oft im Impliziten lässt, wobei er jedoch den Zusammenhang der philosophischen Hermeneutik mit der praktischen Philosophie im Allgemeinen ausgehend von seiner Interpretation der Ethica und der Politica des Stagiriten beschreibt, gilt es, die Analogien zwischen den beiden ans Licht zu bringen und sie in der von Gadamer vorgezeichneten Richtung weiterzuführen. Die erste Ähnlichkeit betrifft den Status der aristotelischen praktischen Philosophie und der Hermeneutik: Beide sind »Wissenschaften mit inhaltlichen Voraussetzungen« 238. Auf der einen Seite kann die Ethik – die der praktischen Philosophie zugehört – das tugendhafte Leben nicht beschreiben, wenn sie keinen Bezug auf seine Konkretisierung in einem lebendigen ἦθος nimmt, welches jedoch seinerseits durch das von der φρόνησις gelenkte Handeln modifiziert wird. Auf der anderen Seite braucht die Interpretation, um den Sinn des Verstandenen fortzubilden, eine Applikation, welche ihrerseits die Zugehörigkeit des Interpreten zu einer Überlieferung voraussetzt, die die Auslegung produktiv weiterbildet. 239 237 Ebd., 329. Vgl. HA, 314 f., wo Gadamer auf die σύνεσις als »das griechische Wort für Verstehen und Verständnis« und als Bezeichnung für »eine Modifikation der praktischen Vernünftigkeit« (φρόνησις) verweist, um aufzuzeigen, warum die Hermeneutik »ihren Platz« »in dem Horizont der aristotelischen« praktischen Philosophie »gefunden« habe. 238 Gadamer verwendet diesen Ausdruck in einem anderen Kontext in PpV, 326. Was die Voraussetzungen betrifft, die die aristotelische Ethik und die philosophische Hermeneutik in eine Nähe zueinander bringen, vgl. HpP, 332. 239 Demzufolge schreibt Gadamer: »Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln« (GW 1, 295). Die Tradition ist in Gadamers Hermeneutik die verwandelnde Übertragung des ἦθος, das Gadamer ontologisiert und als eine Art Hintergrund ansieht, der durch alle Brüche hindurch die Kontinuität der Geschichte ermögliche, wenn sie produktiv an-
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Die »Magd-Funktion« der Ethik des Aristoteles
Die zweite Analogie ergibt sich aus der ersten und betrifft die Entstehung und die »dialogische« Selbstbezüglichkeit des Wissens sowohl der Ethik als auch der Hermeneutik, aus der seine Unabgeschlossenheit folgt. Zum einen muss die aristotelische Ethik ausgehend vom ἦθος allgemeine Prinzipien des richtigen Handelns aufstellen und dadurch einer bestimmten Gesellschaft dazu verhelfen, sich einen Begriff von ihrer sittlichen Lebensweise zu machen. 240 Zum anderen soll die Hermeneutik die Situation »ausarbeiten«, in der sich der Interpret befindet, um ihm zu ermöglichen, über die Voraussetzungen seines Verstehens ins Klare zu kommen. 241 Insofern diese Voraussetzungen von der Tradition abhängen, die das geschichtliche Sein des Interpreten prägt, werden sie durch das Gespräch des Auslegers mit der eigenen Vergangenheit so erfahren, dass der Ausleger vermöge ihrer Erfahrung sein eigenes Selbstverständnis erreicht. Dem Interpreten ist aber eine vollständig helle Durchsichtigkeit seiner selbst unweigerlich entzogen, 242 zumal die »Horizontverschmelzung«, in der das Gespräch zwischen Gegenwart und Vergangenheit gipfelt, den Ausleger und das Ausgelegte mit der Entbergung neuer Sinndimensionen ihres Seins bereichert. In ähnlicher geeignet werde. Der alte Begriff des ἦθος klingt nach Gadamer in der Konzeption der Sprache und des Rituals nach, die die Menschen miteinander verbinden (vgl. RS). 240 Gadamer stimmt der Auslegung der ethischen Prinzipien des Aristoteles als Ergebnisse einer empirischen Verallgemeinerung dennoch nicht zu, sondern verweist auf Theodor Litt, der auf den Vorwurf, Aristoteles habe eine »empirische« Ethik entwickelt, wohl ungefähr entgegnet hätte, dass die praktische Philosophie des Stagiriten als »theoretisches Wissenwollen« »nicht von dem abhängen könne, was in der Erfahrung als ein konkret erfülltes Ethos und als praktisch getätigte Vernunft begegne« (PpV, 328). Vgl. dazu Bien: Die menschlichen Meinungen und das Gute. A. a. O., 370 f. 241 Es geht um den Horizont des Interpreten bzw. dessen »hermeneutische Situation«, deren »Ausarbeitung« in der Unterscheidung der »berechtigten« (Verstehen erzeugenden) von den »unberechtigten« (das zu Verstehende verbergenden) »Vor-Urteilen« des Interpreten besteht (vgl. GW 1, 272, 304 und dazu István M. Fehér: Prejudice and Pre-Understanding. In: Niall Keane/Chris Lawn [eds.]: The Blackwell Companion to Hermeneutics. John Wiley & Sons: Chichester 2016, 281–286). 242 Vgl. HpP, 337 f.; GW 1, 306 f., wo Gadamer von dem »Traum« Hegels, ein absolutes Wissen zu gewinnen, Abstand nimmt und betont: »Geschichtlichsein heißt, nie im Sichwissen Aufgehen.« Aus diesem Grund wertet Gadamer den Mythos auf, den er für den Ausdruck eines Selbstverständnisses des Menschen hält, das tiefer ist als dasjenige der Wissenschaft, und kritisiert Webers These von einem nur eine Richtung kennenden Übergang vom μῦθος zum λόγος (vgl. MV, 164; RW, 161; HpP, 338). Zur Würdigung des Mythos im Rahmen der Kritik an der neuzeitlichen Rationalität vgl. Christoph Jamme: Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 2005, 91–150.
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Weise gewährleistet die aristotelische Ethik keine volle Selbsterhellung des sittlichen Seins, da einerseits die Bestimmung der von ihr erfassten Prinzipien keine universelle Gültigkeit besitzt und andererseits sich diese Prinzipien nur in den σπουδαίοι zeigen, d. h. in Beispielen, die sich parallel mit dem sittlichen Zustand der Gesellschaft verändern. Daraus ist eine dritte Analogie zwischen der Hermeneutik und der praktischen Wissenschaft des Aristoteles zu entnehmen, und zwar die »Magd-Funktion« von beiden. Das, worauf es in der philosophischen Hermeneutik und in der praktischen Philosophie ankommt, ist keine abstrakte Erkenntnis, sondern ein Verständnis, das hilfreich für die πρᾶξις sein muss: Während die Hermeneutik Gadamers eine endliche und im Vollzug der Interpretation geschehende Selbsterhellung des Verstehens sein will, die im Dienste der Lebensordnung stehen soll, ist die Ethik des Aristoteles auf das Ziel gerichtet, den Menschen »gut« zu machen und ihm dadurch von Nutzen zu sein. 243 Am Ende des Aufsatzes Hermeneutik als praktische Philosophie geht Gadamer eben auf die »Wechselimplikation zwischen theoretischem Interesse und praktischem Tun« 244 ein, die die aristotelische Ethik mit einer Hermeneutik gemeinsam hat, die man als (praktische) Philosophie bezeichnen kann, insofern sie sich nicht auf eine Kunstlehre im Sinne einer Doktrin für die Anwendung von Regeln zwecks des Textverständnisses reduzieren lässt, sondern zu einem erweiterten und vertieften Selbstverständnis im Hinblick auf die vernünftige Leitung des individuellen und des sozialen Lebens führen soll. Um das »Wechselverhältnis zwischen Theorie und Praxis« in der Philosophie des Aristoteles zum Vorschein zu bringen, vertritt Gadamer die Auffassung, dass die Ethik des Stagiriten als »ein theoretisches Unternehmen« angesehen werden müsse, das jedoch ohne »konkrete praktische Besonnenheit« – d. h. ohne φρόνησις – »nur eine geringe Hilfe« für die konkrete menschliche Lebenserfahrung »sein könne« 245. Er bemerkt, dass die notwendige Praxisbezogenheit der theoretischen Reflexion ein Element der Lehre der aristotelischen Ethik ausmache, Vgl. HpP, 328; IG, 220. Gadamer beruft sich implizit auf Eth. Nic., Β, 1103 b 26– 29, wo Aristoteles das Ziel seiner dortigen Ausführungen darin sieht, dass sie die Menschen gut machen und dadurch nützlich sein sollen. 244 HpP, 343. 245 Ebd., 343 f. 243
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das auch für die philosophische Hermeneutik von großem Belang sei. Denn eine solche Hermeneutik als »eine theoretische Haltung gegenüber der Praxis der Interpretation […] von Texten, aber auch der in ihnen und in der kommunikativ sich entfaltenden Weltorientierung ausgelegten Erfahrungen« könne nur das zum begrifflichen Ausdruck bringen, »was in der praktischen Erfahrung des Verstehens im Spiele« sei. 246 Wenn Gadamer zum Abschluss sagt, dass die »Theorie«, als welche sich die Hermeneutik bezeichnen lasse, ebenso wie das »allgemein[e] Wissenswollen« der aristotelischen Ethik nie von »konkreter praktischer Besonnenheit« 247 zu trennen sei, spielt er auf die Rolle der »phronetischen« Vernünftigkeit in der Hermeneutik an. Er berührt auch einige Schwierigkeiten, deren Lösung für die Neubestimmung der praktischen Philosophie maßgebend sind, und zwar die Frage nach der »theoretischen« Beschaffenheit von Aristoteles’ praktischer Wissenschaft und das Problem des Verhältnisses dieser Disziplin zur φρόνησις. Gadamers Antwort findet sich in einigen Aufsätzen, die das Prinzip und die Methode der praktischen Philosophie anhand einer Auslegung der aristotelischen ἐπιστήμη πρακτική präzisieren und deren wichtigste Thesen nun diskutiert werden sollen.
2.
Die hermeneutische Zirkelhaftigkeit der ἐπιστήμη πρακτική
In dem Aufsatz Zwischen Phänomenologie und Dialektik (1985) erklärt Gadamer, dass er bei der Beantwortung der Frage nach der »wissenschaftstheoretische[n] Eigenart einer philosophischen Hermeneutik« ein Problem wiederaufnehme, mit dem er sich von seinen »allerersten Anfängen an intensiv beschäftigt« habe, und zwar die Definition der praktischen Philosophie – bei der die Schwierigkeit darin bestehe, dass sie eine »Theorie und Reflexion« sei, die sich jedoch »auf den Bereich der Praxis« 248 richte. Um sich vom Standpunkt der modernen Wissenschaft bzw. vom Modell der Anwendung ihrer theoretischen Ergebnisse auf das konkrete Handeln zu befreien, sei er 246 247 248
Ibidem. Ebd., 344. PD, 22; vgl. REI, 253; EE, 364; SA, 375.
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Heidegger gefolgt. Deshalb habe er sich an Aristoteles als den Begründer der praktischen Philosophie und insbesondere der Ethik gewandt. Die aristotelische Grundlegung drehe sich darum, dass der Stagirite die platonische Idee des Guten »überhaupt« als leer kritisiert und die Frage nach dem Guten für den Menschen mit der Bestimmung der Begriffe von »ἦθος« und »ἀρετή« beantwortet habe. 249 In mehreren Aufsätzen vertritt Gadamer die These, dass Aristoteles bei der Definition einer praktischen Philosophie als Wissenschaft in einen Widerspruch geraten sei. Das Problem betreffe die fragliche Vereinbarkeit der Praxis mit der Theorie: Die ἐπιστήμη πρακτική sei eine Disziplin, die die πρᾶξις leiten solle, obwohl sie allgemeine Prinzipien formuliere und deshalb theoretischer Art sei. Gadamers Meinung nach beruht die Lösung des Stagiriten darauf, dass er der ἐπιστήμη πρακτική lediglich eine Erhellungsfunktion zugewiesen habe, ohne jedoch die φρόνησις und die mit ihr zusammengehörende προαίρεσις aus der unausweichlichen Wahl in den jeweiligen Situationen zu entlassen. 250 Im Unterschied zu anderen Aristoteles-Forschern glaubt Gadamer, dass Aristoteles die φρόνησις nicht für äquivalent mit der praktischen Philosophie gehalten habe. 251 Seiner Meinung nach stützt sich die These, dass die Methode der ἐπιστήμη πρακτική lediglich in einer höheren Betätigung der praktischen Vernünftigkeit oder in einer Entfaltung ihres sittlichen Wissens bestehe, auf die eigentümliche aristotelische Begründung der Selbstständigkeit der einzelnen Wissenschaften: Aristoteles habe die methodische Eigenart der Ethik und der Politik nicht eindeutig dargestellt, weil er bei der Abgrenzung der einzelnen Wissenschaften voneinander mehr Wert auf die Differenz ihrer Gegenstandsgebiete als auf den Unterschied ihrer Methoden gelegt habe. Das methodische Verfahren der praktischen Philosophie sei jedoch von der ἀρχή bzw. dem Ausgangspunkt dieser Wissenschaft leicht ableitbar. Denn das Prinzip der ἐπιστήμη πρακτική sehe Aristoteles im »ὅτι«, im »Dass«, welches weder ein universelles Axiom noch eine feststellbare Tatsache im Sinne eines Vgl. PdE, 8; IG, 161; HA, 306; MpE, 177. Vgl. MpE, 186 f.; HA, 316; IG, 221. 251 Vgl. REI, 253; HA, 302 f., 316. Die Diskussion über den Unterschied zwischen φρόνησις und ἐπιστήμη πρακτική bleibt in der Aristoteles-Forschung noch offen. Zu seinen vier wichtigsten Interpretationen vgl. Franco Volpi: Heidegger und der Neoaristotelismus. In: Denker/Figal/Volpi/Zaborowski (Hrsg.): Heidegger und Aristoteles. A. a. O., 231, Fn. 26. 249 250
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Die hermeneutische Zirkelhaftigkeit der ἐπιστήμη πρακτική
»factum brutum« sei. 252 Das »Dass« decke sich vielmehr mit dem ἦθος bzw. mit den Lebensordnungen, die der Mensch als gesellschaftliches und staatsbildendes Wesen vernünftig geschaffen habe und in denen ein lebendiges Bewusstsein dessen, was gut sei, bewahrt werde. Die praktische Philosophie müsse dieses gemeine Verständnis der sittlichen Wirklichkeit durch die Mittel des begrifflichen Denkens klären und schlichten, um den Bürger in die Lage zu versetzen, das ἦθος kraft seiner φρόνησις weiterzubilden, und ihn zugleich an seine eigene Welt zurückzubinden. Offensichtlich legt Gadamer das Prinzip und die Methode der praktischen Wissenschaft des Aristoteles vor dem Hintergrund der heideggerschen Hermeneutik der Faktizität und Daseinsanalytik aus. Denn Heidegger hatte in seinen frühen Freiburger Vorlesungen als »Ausgangspunkt der Philosophie« 253 das »Ur-Faktum« des Lebens, d. h. die faktische Lebenserfahrung, aufgezeigt und betont, dass die Philosophie nicht nur aus dem Erfahrungswissen »entspring[e]«, sondern auch auf es zurückwirke, d. h. dass »die Philosophie […] in der faktischen Lebenserfahrung in diese selbst« 254 zurückspringe. Somit meinte Heidegger, dass die Auslegung der Faktizität das Sein des Lebens, die Existenz, zur Reife zu bringen vermöge. In Sein und Zeit hatte Heidegger weiter präzisiert: Die »Philosophie ist phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.« 255 Ausgangspunkt war für Heidegger das 252 Vgl. IpP, 240, 243; AiE, 385; IG, 219; PpV, 325; HA, 315. Gadamer kommentiert Eth. Nic., Α, 4, 1095 b 6; Α, 7, 1098 b 2. 253 GA 58, 162; vgl. 81 f.; GA 59, 174; GA 60, 15 f. 254 GA 60, 8. Die »performative« Funktion, die der Philosophie bezüglich des Lebens nach Heidegger zukommt, ist der Grund, aus dem sie mit einer Art Nützlichkeit ausgezeichnet sei, die anders als diejenige der Wissenschaften eingeschätzt werden sollte, im Vergleich zu denen sie sich hinsichtlich ihres Forschungsbereiches und ihrer Methode als ursprünglich erweise. Deshalb sei die Definition der phänomenologischen Philosophie als »Urwissenschaft« keine contradictio in adiecto. Vgl. dazu Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug. Heideggers performative Philosophie des faktischen Lebens. Klostermann: Frankfurt am Main 2013, 154–158. 255 GA 2, 51, 575 f. Die Rückbezogenheit aller Vollzugsweisen des faktischen Lebens bzw. des Daseins auf dieses selbst sowie der hermeneutische Zirkel zwischen »Theorie« und »Praxis« finden sich auch in Phänomenologie und Theologie wieder, wo Heidegger schreibt: »Alle theologische Erkenntnis ist […] auf den Glauben selbst gegründet, sie entspringt aus ihm und springt in ihn zurück« (GA 9, 61). Vgl. dazu István M.
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durchschnittliche und uneigentliche (Selbst-)Verständnis des Man, das er »destruieren« wollte, um die phänomenologische Beschreibung der Seinsverfassung des Daseins zu gewinnen. Diese Beschreibung sollte zur existenziellen Modifikation der uneigentlichen in die eigentliche Existenzweise leiten. 256 Sie müsse jedoch durch die »Bezeugung« eines eigentlichen Seinsvollzugs im Ruf desjenigen Gewissens ergänzt werden, das Heidegger in der von Gadamer besuchten Vorlesung als verwandelte Neugestaltung der φρόνησις geschildert hatte. Obzwar Aristoteles die alltäglichen Meinungen über das Gute nicht als »uneigentlich« beurteilt, sondern die ἔνδοξα vielmehr als den Ursprung der Untersuchung und auch als Kriterium für deren Wahrheit geschätzt hatte, 257 beschreibt Gadamer (vor allem in seinen früheren Arbeiten) das Verfahren und das Ziel des Aristoteles mit einem heideggerschen Vokabular. Außerdem behauptet er, dass die Frage nach dem Guten bei Aristoteles darauf ziele, das »faktische Daseinsverständnis in seiner gleichbleibenden Durchschnittlichkeit [zu] erforschen und sichtbar [zu] machen«, ohne zu vergessen, dass »es für den ethischen Begriff und das Begreifen wesentlich« sei, »sich an der sittlichen Realität zu orientieren und auf dieselbe sich zurückbringen.« 258 Neben der »sittlichen Realität« erkennt Gadamer eine zweite Voraussetzung der praktischen Wissenschaft des Aristoteles, die ebenso unaufhebbar sei, wenn die ἐπιστήμη πρακτική ihr Ziel (die ethische Verbesserung des Menschen) erfüllen solle: die φρόνησις. Aristoteles macht darauf aufmerksam, dass nur derjenige, der bereits erzogen und deshalb zur sittlichen Vernünftigkeit fähig sei, die Vorlesungen über die Ethik erfolgreich besuchen könne. 259 Gadamer beFehér: Religion, Theologie und Philosophie auf Heideggers Weg zu Sein und Zeit. In: Heidegger Studies. 24 (2008), 142 f. 256 Vgl. GA 2, 354 f. Zum »Problem der Bezeugung einer eigentlichen existenziellen Möglichkeit« vgl. 355–358; Marafioti: Il ritorno a Kant di Heidegger. A. a. O., 173– 177. 257 Vgl. Eth. Nic., Α, 2, 1095 a 28 – b 4; Α, 8, 1098 b 9–12; Η, 1, 1145 b 2–7. Aristoteles behandelt die »endoxische Methode« ausführlicher in seiner Rhetorik. Zur Zusammengehörigkeit von Ethik und Rhetorik, die Gadamer derart betont, dass er sowohl die Rhetorik als auch die Ethik für eine Form der φρόνησις hält, vgl. D, 57–66 und Stefano Marino: Ermeneutica filosofica e crisi della modernità. Un itinerario nel pensiero di Hans-Georg Gadamer. Mimesis: Milano u. Udine 2009, 169, Fn. 4. 258 PdE, 157, 8. 259 Vgl. Eth. Nic., Α, 4, 1095 b 4–9. Für Gadamers Kommentar vgl. GW 1, 318 f.; PpV,
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Die hermeneutische Zirkelhaftigkeit der ἐπιστήμη πρακτική
ruft sich oft auf die aristotelische Auffassung, dass sich das praktische Wissen nur von denen erwerben lasse, die es kraft der φρόνησις potenziell schon besäßen. Er legt Nachdruck auf diese These, weil er sie sich zu eigen macht und in das hermeneutische Prinzip verwandelt, dass jedem Verstehen ein Vor-Verständnis zugrunde liege. Letzteres spiegele die hermeneutische Situation und müsse in der Auslegung entwickelt werden. Das Vor-Verständnis, das Heidegger in Bezug auf das Dasein, das immer »je meines« sei, beschrieben hatte, 260 gewinnt bei Gadamer infolge der Auseinandersetzung mit Aristoteles eine hauptsächlich soziale Dimension, und zwar mindestens aus zwei Gründen. Zum einen wird der aristotelische Begriff des ἦθος zum gadamerschen Konzept der Überlieferung, die die Situation umgrenze, in welcher sich der verstehende Mensch befinde. Zum anderen ergibt sich das Verstehen nach Gadamer aus der Ausarbeitung des Vorverständnisses durch das Gespräch mit der Tradition, welches in einer bestimmten Gesellschaft von Mal zu Mal geführt werde: In einer ähnlichen Weise stamme das praktische Wissen nach Aristoteles aus der φρόνησις, welche das Handlungsziel ausgehend vom ἦθος konkretisiere und von der σύνεσις als »der sozialen Tugend schlechthin« 261 untrennbar sei.
326; IpP, 239, 241. Wieland bemerkt, dass die praktische Philosophie für eine Erscheinungsform der praktischen Einsicht zu halten sei, sofern sie die φρόνησις analysiere und damit zur Klarheit über sich selbst bringe (vgl. Wolfgang Wieland: Praktische Philosophie und Wissenschaftstheorie. In R1, 505–534, hier 507). 260 Vgl. GA 2, 199–201. Heidegger spricht von einer »Vor-Struktur des Verstehens« und einer »Als-Struktur« der Auslegung; das Wort »Vorverständnis« wird von Rudolf Bultmann eingeführt. Zu Gadamers Umarbeitung von Heideggers Auffassung vgl. GW 1, 270–276. 261 Vgl. Francesco Camera: La riabilitazione della virtù in prospettiva ermeneutica. In: Simona Langella/Maria S. Vaccarezza (a cura di): Emozioni e virtù. Percorsi e prospettive di un tema classico. Orthotes: Napoli 2014, 86. Zur Rolle der gadamerschen Umgestaltung des Zusammenhanges φρόνησις–σύνεσις für den ethischen Aspekt der Hermeneutik vgl. Ilaria Nidasio: La ripresa della filosofia pratica antica nel pensiero di Hans-Georg Gadamer. La razionalità ermeneutica come forma di responsabilità etica. In: Lessico di etica pubblica. 2 (2014), 84–86.
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Zur Neubelebung der φρόνησις als »verantwortlicher Vernünftigkeit«
3.
Konvention versus Konformismus im »Zeitalter der Wissenschaft«
Die Wiederaufnahme der aristotelischen Auffassung, dass die φρόνησις vom schon vorhandenen ἦθος ausgehe, hat zur Folge gehabt, dass Gadamer (sowie Joachim Ritter) Konservatismus vorgeworfen wurde, als ob er vertreten hätte, dass die Ethik in einem blinden Konformismus im Sinne der Anpassung an das jeweils vorherrschende ἦθος wurzeln würde. 262 Gadamer hat jedoch mehrmals betont, dass sich die φρόνησις nach Aristoteles durch eine vernünftige und verwandelnde Aneignung der im ἦθος vorgegebenen Zwecke vollziehe. Wenn auch die phronetische Tugend keine Naturanlage sei und durch Erziehung und Gewöhnung gebildet werde, könne sie nie zur Reife kommen, ohne dass sie in verschiedenen Situationen betätigt werde, die sich ihrerseits von der das praktische Wissen vollendenden προαίρεσις verändert ließen. Parallel dazu sollte man bedenken, dass das Verstehen im Sinne der philosophischen Hermeneutik immer eine »Applikation« einschließt, welche das Verstandene nicht als ein beharrendes »Ding an sich« wiedergibt. Deswegen lässt sich Gadamers Auffassung sowie seine Auslegung der praktischen Philosophie des Aristoteles nicht als »ethisch-politischer Konservatismus« bezeichnen. Gadamer selbst distanziert sich von der »politischen Aktualisierung« des Stagiriten durch den »Neo-Aristotelismus« 263 und verortet die Tragweite des aristotelischen Denkens in der heutigen Gesellschaft anders als jene Auslegungsrichtung. 262 Vgl. Jürgen Habermas: Über Moralität und Sittlichkeit. Was macht eine Lebensform »rational«? In: Herbert Schnädelbach (Hrsg.): Rationalität. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1984, 218–233; Enrico Berti: L’influenza di Heidegger sulla «riabilitazione della filosofia pratica». In: Di Giovanni (a cura di): Heidegger e la filosofia pratica. A. a. O., 322–325. Die jeweiligen Interpretationen von Aristoteles’ praktischer Philosophie durch Gadamer und Ritter (der das ἦθος »rehabilitiert«, indem er Aristoteles’ praktisches Wissen mit Hegels Sittlichkeit vermittelt) stimmen jedenfalls nicht überein. Das Unternehmen, die ideologiekritische Gleichsetzung von Neoaristotelismus, Neohegelianismus und Neokonservatismus einer Prüfung zu unterziehen und ggfls. infrage zu stellen, kann hier jedoch nicht durchgeführt werden. 263 Vgl. PD, 22. Der Begriff des »Neo-Aristotelismus« wurde besonders von KarlOtto Apel und Jürgen Habermas ins Zentrum der Debatte gerückt, um der »aristotelischen« ethisch-politischen Auffassung der Hermeneutik eine Diskursethik entgegenzustellen, die an die universell-normative Ethik Kants anknüpfte. Vgl. dazu Franco Volpi: Che cosa significa neoaristotelismo? La riabilitazione della filosofia pratica e il suo senso nella crisi della modernità. In: Enrico Berti (a cura di): Tradizione e attualità della filosofia pratica. Marietti: Genova 1988, 111–136.
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Konvention versus Konformismus im »Zeitalter der Wissenschaft«
Nach Gadamer weist die Weiterbildung des ἦθος durch die φρόνησις darauf hin, dass eine gemeinsame Welt der Konvention erst kraft der Ausübung dieser dianoetischen Tugend im Zusammenleben entstehen kann. In dem Aufsatz Probleme der praktischen Vernunft (1980) präzisiert er, dass »Konvention« nicht mit »Konformismus« gleichbedeutend sei. Er schreibt: »Konvention meint Übereingekommensein und Geltung von Übereinkommen, meint also nicht die Äußerlichkeit eines bloß von außen vorgeschriebenen Regelsystems, sondern die Identität zwischen dem einzelnen Bewußtsein und den im Bewußtsein der anderen repräsentierten Überzeugungen und damit auch mit den Lebensordnungen, die man sich schafft.« 264 Insofern Aristoteles die Schaffung der Gesellschaft besonders der φρόνησις zugewiesen habe, die in einem Wissen bestehe, das zugleich ein Können sei, erkennt Gadamer in der Ausübung dieser dianoetischen Tugend eine Art Verantwortlichkeit, die in unserem »Zeitalter der Wissenschaften« – der Epoche, in der die wissenschaftlich-technische Beherrschung der Natur bis zur künstlichen Umgestaltung der Umwelt und zur Automatisierung des Lebens der Gesellschaft vorangeschritten sei 265 – die Anwendung der »Theorie« auf die »Praxis« mitbestimmen sollte. Daher verwendet Gadamer bezüglich der φρόνησις den Ausdruck »verantwortliche Vernünftigkeit« und hält sie für das Hauptelement des »vorbildlichen Weg[es]« 266, den der Stagirit gewiesen habe. Gadamer schließt damit, dass »die Lehre der praktischen Philosophie des Aristoteles, die er auch ›Politik‹ nannte«, in Folgendem bestehe: »Die rechte Anwendung unseres Wissens und Könnens verlangt Vernunft«, die technische Lebensgestaltung gemäß den Forschungsergebnissen der Natur- und Sozialwissenschaften
PpV, 326; vgl. 325; PZ, 164. Vgl. TTP, 247–250, wo Gadamer erklärt, warum aus diesen beiden Gründen, auf deren Basis sich die Bezeichnung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als »Zeitalter der Wissenschaften« rechtfertigen lasse, die Menschen der Gefahr der Selbstzerstörung ausgesetzt seien. Marino hält die Frage nach den Grenzen der technischwissenschaftlichen Zivilisation für den Leitfaden, mithilfe dessen die Einheit der verschiedenen Aspekte der philosophischen Hermeneutik Gadamers aufgedeckt und diese gegen den Vorwurf des Traditionalismus und Konservatismus verteidigt werden könne (vgl. Stefano Marino: Gadamer and the Limits of the Modern Techno-Scientific Civilisation. Lang: Bern 2011, 14–18, 62 f., 127, 162–175, 233–240 sowie für die in diesem Kontext wiederaufgenommenen aristotelischen Begriffe der φρόνησις und des ἦθος 219–228, 241). 266 PpV, 327. 264 265
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solle durch »eine höchste Instanz der Verantwortlichkeit« 267 geleitet werden. Die Frage nach der sozialen Verantwortlichkeit wird von Gadamer in dem Aufsatz Theorie, Technik und Praxis (1972) explizit gestellt und ausführlich beantwortet. In ihm wird festgestellt, dass die Selbstgefährdung des Lebens auf der Erde immer mehr ins allgemeine Bewusstsein trete, weswegen sich die Atombombe »mehr und mehr als ein bloßer Spezialfall« enthülle. 268 Gadamers Meinung nach ist die Verantwortung der Wissenschaft, über die angesichts der »Schrecknisse des Atomkrieges« 269 wohl heftig debattiert worden sei, nicht eigentlich in der technischen Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verorten, sondern in der Bestimmung der Forschungsaufgaben und in der Beherrschung der Probleme, die aus der Anwendung jener Erkenntnisse entstehen. Wie und wozu die Entdeckungen der Wissenschaft angewandt werden dürfen, solle die Politik entscheiden. Gadamer plädiert jedoch weder für die platonische Identifikation des Politikers mit dem Weisen noch für die kantische Erhebung des Philosophen zum Berater des Staatsmannes noch für eine kulturkritische schnelle Verurteilung der Wissenschaft als solcher. 270 Er vertritt vielmehr die These einer notIbidem. TTP, 248. Hierbei nennt Gadamer Probleme von höchster Aktualität, z. B. die von der Genetik ermöglichte Erbgutveränderung, die technische Ausbeutung der Naturschätze, die Verringerung der Ressourcen entsprechend der Zunahme der Weltbevölkerung, die Verödung der Erde usw. (vgl. 247 f., 250, 262). Er spielt implizit auf Max Schelers Werk Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) (Nymphenburger Verlagshandlung: München 1947) an und kommentiert, dass die Definition des Menschen als »›Herr der Schöpfung‹ […] eine neue unbiblische Offenbarungskraft in sich« (252; vgl. 250) habe. Gadamer wird wohl auch an Günther Anders’ Kritik an der Macht der Technologie gedacht haben, nach dessen Auffassung die Technik die Erde auf eine »ausbeutbare Mine« reduziert, sodass »[a]n die Stelle der, omnipotenzbezeugenden, creatio ex nihilo« deren »Gegenmacht getreten« ist: »die potestas annihilationis, die reductio ad nihil« (Die Antiquiertheit des Menschen. Beck: München. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], 32010, 239). 269 TTP, 261. 270 An den kantischen »Traum des ewigen Friedens« erinnert Gadamer in AiE, 395 (vgl. den »[g]eheimen Artikel zum ewigen Frieden«: »Die Maximen der Philosophen über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens sollen von den zum Kriege gerüsteten Staaten zu Rate gezogen werden« [Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. In KW 11, 227]). Außerdem geht er näher auf die ungeheure Steigerung der Lebensgefährdung durch den Krieg ein, um gegen sie einen hermeneutischen Weg einzuschlagen, nämlich in VS, 339. Im Vergleich zu Heidegger ist Gadamer viel eher 267 268
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Konvention versus Konformismus im »Zeitalter der Wissenschaft«
wendigen gegenseitigen Angewiesenheit, die die Autonomie von Wissenschaft und Politik nicht tilgen dürfe und gemäß der die Wissenschaftler die Politiker über ihre Entdeckungen und die von diesen ermöglichte Verstärkung des menschlichen Könnens in aufrichtiger Weise informieren sollten. 271 Außerdem sei es wünschenswert, dass die Forschungsergebnisse von Natur- und Sozialwissenschaften in eine »Wissenschaft über den Menschen« 272 einflössen, die dann mit andersartigen Auffassungen des menschlichen Wesens (z. B. derjenigen der Dichtung) zu einem Menschenbild integriert würde, das einem angemessenen Selbstverständnis der heutigen Menschheit dienen und die Anwendung der »Theorie« auf die »Praxis« orientieren könnte. 273 Um das weitere Wirkungsfeld der politischen Entscheidungen zu umgrenzen, verweist Gadamer auf die »antike moralphilosophische Reflexion« (mit der er die praktische Philosophie des Aristoteles meint), die »alle ›Künste‹ der ›Politik‹« 274 eingeordnet habe, und fordert zu ihrer Aneignung auf, um eine Lösung für das heutige Problem der technischen Lenkung der Gesellschaft zu finden. Eben im »Wechselverhältnis zwischen dem Wissen des praktisch Rechten und Guten und dem theoretischen Ideal der Theorie«, das die Frage nach
bereit, das Positive im Technischen nicht zu verschweigen. Auf jeden Fall gesteht er zu, dass »Wissenschaft und Technik für unser Überleben eine unentbehrliche Bedingung« (ebd., 343) seien, und weist die blinde Kritik an der Wissenschaft ebenso wie den Aberglauben daran zurück (vgl. TTP, 248; PZ, 159, 171). Zu Gadamers Einstellung zur Technik vgl. Samuel Jacob: Zwischen Gespräch und Diskurs. Untersuchungen zur sozialhermeneutischen Begründung der Agogik anhand einer Gegenüberstellung von Hans-Georg Gadamer und Jürgen Habermas. Haupt: Bern u. Stuttgart 1985, 104–114. 271 Vgl. TTP, 262 f. 272 Ebd., 264. Vgl. 253, 261; BzW, 236 f., wo die Ausbildung einer solchen Wissenschaft als »sittlich[e] und philosophisch[e] Aufgabe« betrachtet wird. 273 Vgl. TTP, 265. Mit diesem Vorbild meint Gadamer kein festes Kriterium, da es (so wie der σπουδαῖος als sittliches Modell bei Aristoteles) in der »Vielfalt geschichtlicher Erfahrung« seine Wurzeln schlage. Gadamer setzt dem kybernetischen Begriff des Menschen als Maschine ein alternatives Menschenbild entgegen und erwähnt dabei die führende Rolle der Kybernetik im Bereich der Wissenschaften (253 f.). Er beruft sich implizit auf Heideggers Überlegungen zur Technik, unter die diejenigen über die »Herrschaft des Maschinenwesens« fallen, deretwegen der Mensch zu einem »Teil der Maschine« (GA 95, 360, Nr. 1; vgl. GA 97, 34) und der Staat zu einer »machine à gouverner« (GA 89, 537) geworden seien. Zu Heideggers Auffassung der Kybernetik vgl. vor allem GA 89, 457–462. 274 TTP, 261. Aristoteles wird auf S. 243 genannt.
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dem Verhältnis der Rationalität des Praktischen zu derjenigen der Technik einschließe, bestehe eine der beiden wichtigsten Komponenten dessen, was das Buch Ζ der Ethica Nicomachea »zu der gegenwärtigen Situation der Philosophie« 275 zu sagen habe. Gadamer nennt als ersten Baustein der Lehre dieses Buches, das er ins Deutsche übersetzt, die Herausarbeitung einer Art des Wissens und Könnens, das höher als die schlichte Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse sei, zumal es Ethik und Politik miteinander zu verbinden vermöge. Er verweist damit auf die praktische Weisheit der φρόνησις, auf die er am Ende des Vortrages Bürger zweier Welten (1985) anspielt, indem er schreibt, dass »unser wissendes Können in ein besonnenes Wissen zurückzunehmen« sei. 276 Hiermit redet Gadamer keiner wortwörtlichen Wiederholung der Philosophie des Aristoteles das Wort, denn es »wäre gewiß ein Mißverständnis, wenn man glaubte, daß in einer veränderten Welt ein vergangenes Denken als solches erneuert werden könnte«. 277 In dem Vortrag Aristoteles und die imperativische Ethik (1989) fügt er hinzu, dass es im »Zeitalter der Wissenschaft« erforderlich sei, Aristoteles mit Kant bzw. das griechische ἦθος mit der Unbedingtheit des Sollens, die vom christlichen Gewissen abstamme, zu vermitteln. Dadurch könnten die Ansprüche des modernen wissenschaftlichen Denkens begrenzt und unter die Kontrolle einer »überlegene[n] Vernünftigkeit« 278 gebracht werden. Die Aneignung des aristotelischen Begriffs der φρόνησις im Kontext der heutigen Welt, wie sie Gadamer beschreibt, misst dieser Tugend eine zweifache »politische« Eigenschaft bei. Denn einerseits bedeutet das praktische und verantwortliche Wissen ein »hermeneutisches« Verstehen, das die Anwendung der Forschungsergebnisse der Wissenschaft nicht zu einer Verwüstung, sondern zur Bewahrung des Lebens im κόσμος führen lässt. Andererseits liegt die φρόνησις ver275 Z, 21; vgl. 22. Gadamer unterstreicht, dass Heidegger als Erster das praktische Wissen des Aristoteles im »Zeitalter der Technik« fruchtbar gemacht habe. 276 BzW, 236. 277 Ibidem. Gadamer will vielmehr, dass die praktische Philosophie des Aristoteles »als Korrektiv« gegen »die Engpässe des modernen Subjektivitätsdenkens« und den »Voluntarismus« genutzt wird. Zu Gadamers Aufforderung, Aristoteles’ praktische Philosophie anstelle einer vermeintlich allwissenden »Theoria« sowie »der ›anonymen‹ Wissenschaft« der Moderne zum Vorbild zu nehmen, vgl. S, 500. 278 AiE, 394. In WL, 158 spricht sich Gadamer gegen die »Illusion« einer Wissenschaft aus (die Heidegger und Husserl bereits entlarvt hätten), die meint, dass sie »Entscheidungen einer ›universellen Praxis‹ tragen« könne.
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Die συνθήκη als Sprachgeschehen erweiterbarer Horizonte
möge ihrer Wesenseinheit mit der σύνεσις der »Politik« selbst im Sinne des Miteinanderseins, das das Menschenwesen auszeichnet, zugrunde. Beide »politischen« Bedeutungen der φρόνησις werden am Ende des Aufsatzes Aristoteles und die imperativische Ethik angedeutet, nämlich folgendermaßen: »[D]ie eigentliche Lebensfrage der Menschheit [ist]: ob es ihr gelingen wird, die ungeheure Steigerung des menschlichen Könnens an vernünftige Zwecke zu binden und in eine vernünftige Lebensordnung zu fügen. Das wird […] nur durch Einsicht und zwischen den Menschen wachsende Solidarität [gelingen], wie sie als Erbe der praktischen Philosophie des Aristoteles für das Abendland auf den Begriff gebracht worden ist.« 279 Zu diesem Erbe gehört auch der Begriff der »συνθήκη«, den Aristoteles in der Schrift De interpretatione darlegt 280 und auf den sich Gadamer beruft, um den ontologischen Status des Wortes und der Verständigung durch die Sprache klarzumachen.
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Die συνθήκη als Sprachgeschehen erweiterbarer Horizonte
In dem Vortrag Grenzen der Sprache (1985) schreibt Gadamer, Aristoteles habe bereits verstanden, dass die »Sprache […] eine Form des Bezeichnens und des Mitteilens […] nicht von Natur« sei, »sondern aufgrund von Übereinkunft« 281. Die beiden aristotelischen Definitionen des Menschen – als ζῷον λόγον ἔχον (das Lebewesen, das durch die Möglichkeit ausgezeichnet sei, »etwas durch Worte zu zeigen« 282) und als ζῷον πολιτικόν – gehörten deshalb zusammen. Ihre Wesenseinheit leuchte im Begriff der συνθήκη ein, der »irreführend« mit »Konvention« übersetzt werde. Denn »συνθήκη« bedeute vielmehr 279 AiE, 395. Vgl. BzW, 236 sowie Gadamers Brief an Bernstein vom 1. Juni 1982, abgedruckt im Anhang von Richard Bernstein: Beyond Objectivism and Relativism: Science, Hermeneutics, and Praxis. University of Pennsylvania Press: Philadelphia 1983, 261–265, hier 264, wo die Solidarität zwischen Menschen unterschiedlicher Gesellschaften, Klassen, Rassen und Kulturen für wünschenswert erklärt wird. 280 Vgl. De int., 2, 16 a 27; 4, 16 b 31 – 17 a 1. 281 GS, 353. 282 Ebd., 351. Gadamer erinnert sich daran, dass er von Heidegger gelernt hatte, »λόγος« und »λόγον ἔχον« nicht mit »ratio« und »rational« zu übersetzen, sondern mit »Sprache« und »Sprache habend« (vgl. RA, 401).
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den »Vollsinn von Sprache und die volle Menschlichkeit des Lebens«, zumal dieses Wort »die Grundstruktur dessen, was sprachliches Verstehen und sprachliche Verständigung« sei, bezeichne: »Übereinkommen«. 283 Die ethisch-politische Dimension der συνθήκη wurde von Gadamer schon im dritten Teil von Wahrheit und Methode hervorgehoben, nämlich im Zusammenhang mit der Aufweisung des ontologischen Charakters der Sprache. Um den universalen Aspekt der Hermeneutik zu begründen, hatte Gadamer ausgehend von Heidegger 284 die These aufgestellt: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.« 285 Er hatte die Darstellung dieser Auffassung vorbereitet, indem er auf die natürliche Begriffsbildung im spontanen Sprachleben hingewiesen hatte. In diesem Teil seines Werkes hatte Gadamer nochmals auf Aristoteles’ Theorie der ἐπαγωγή zurückgegriffen und ihre im zweiten Teil von Wahrheit und Methode ausgeführte Interpretation durch die Auslegung des Begriffs der συνθήκη ergänzt, 286 indem er Folgendes bemerkt hatte: Wenn es der aristotelischen Auffassung der Begriffsbildung zu entnehmen sei, dass das zum Allgemeinen führe, was sich in der Erfahrung als den erfahrenden Menschen gemeinsam herausstelle, dann solle man annehmen, dass die Erfahrenden in etwas schon immer zusammenkämen, auf dem die GS, 353. Vgl. die Bestimmung der Sprache als »Haus des Seins« in Martin Heidegger: Brief über den »Humanismus«. In GA 9, 333. Gadamer eignet sich Heideggers Sprachbegriff in VS, 343 an, obwohl er den Unterschied seines Konzepts zu demjenigen Heideggers in ErE, 172 f. expliziert. Tsai bemerkt, dass die Sprache sowohl von Gadamer als auch vom späten Heidegger in den Vordergrund gerückt werde, aber diese Philosophen von verschiedenen Standpunkten ausgingen: Gadamer von der φρόνησις bzw. dem Dasein, Heidegger vom sich entziehenden Sein. Insofern Gadamer jedoch seine φρόνησις-Auffassung auf die Aristoteles-Auslegung des früheren Heidegger aufgebaut habe, sei die φρόνησις der »katalytisch[e] Begriff für die gadamersche Horizontverschmelzung der ›beiden Heidegger‹« (Wei-Ding Tsai: Die ontologische Wende der Hermeneutik: Heidegger und Gadamer. Lang: Frankfurt am Main, New York u. Wien 2013, 204; vgl. 197–212). 285 GW 1, 478. Gadamer kommt auf diesen oft missverstandenen Satz zurück in VzA, 445 f. sowie in TI, 334. Zur Auslegung seiner These im Sinne eines »linguistic idealism« (»Idealismus der Sprachlichkeit«), die durch Habermas’ Interpretation vorbereitet wurde und der Gadamer wohl nicht zugestimmt hätte, vgl. Richard Rorty: Being that can be understood is language. In: Bruce Krajewski (ed.): Gadamer’s Repercussions. Reconsidering Philosophical Hermeneutics. University of California Press: Berkeley, Los Angeles u. London 2004, 21–29. 286 Vgl. GW 1, 356–359, 421, 435 f., 450. 283 284
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Einheit zuerst des natürlichen und dann des wissenschaftlichen Begriffes beruhe. 287 Gadamer hatte die aristotelischen Überlegungen auf den Bereich der Wortbildung und der Erlernung der Sprache übertragen, um die Ansicht zu vertreten, dass das Wort und die von ihm bezeichnete Sache nicht zu zwei verschiedenen Welten gehörten, da sie wesensvereinigt seien. Gegen die »instrumentale Zeichentheorie« hatte Gadamer präzisiert, dass »die Übereinkunft, gemäß deren die Sprachlaute oder Schriftzeichen etwas bedeuten, nicht [als] eine Verabredung über Verständigungsmittel« verdeutlicht werden könne, da »eine solche […] immer schon Sprache voraussetz[e]« 288. Diese Übereinkunft bedeute vielmehr »das Übereingekommensein, auf das sich die Gemeinschaft unter Menschen, ihre Übereinstimmung in dem, was gut und recht ist, begründ[e]« 289. Gadamer hatte deshalb dazu aufgefordert, »die terminologischen Aussagen von περὶ ἑρμηνείας« – unter ihnen auch die aristotelische Bestimmung der συνθήκη – »im Lichte der ›Politik‹ [zu] sehen« 290. Damit hatte er auf die enge Verbindung der συνθήκη mit der φρόνησις über die ihr verwandte Tugend der σύνεσις angespielt. Der Zusammenhang dieser drei aristotelischen Begriffe spielt auch in dem Vortrag Grenzen der Sprache eine wichtige Rolle. In ihm hebt Gadamer hervor, dass die Freiheit des sprachbildenden Vermögens des Menschen keine absolute sei. 291 Denn diejenigen, die miteinander leben, verstehen und verständigen sich mit der Zeit zwar 287 Indem Gadamer ebd., 436 schreibt, dass die Begriffsbildung, die spontan im natürlichen Leben geschieht, »am Anfang der Wissenschaft steht, aber noch nicht Wissenschaft ist«, nimmt er implizit Heideggers und Husserls Auffassung der Entstehung der theoretischen Einstellung aus einer ursprünglichen Praxis wieder auf. Zur Bildung des Begriffes auf der Basis der Lebenserfahrung selbst, die das Denken der Griechen ausgezeichnet habe, vgl. RA, 401. 288 GW 1, 435. Vgl. NSD, 74, wo auf die συνθήκη verwiesen wird. 289 GW 1, 435. Um zu belegen, dass das Allgemeine von Gattung, Wort und Begriff nach Aristoteles auf dem gründet, was die Menschen vermöge der Vorausleistung der Sprache gemeinsam haben, verweist Gadamer auf Aristoteles’ Poet., 22, 1459 a 8 und Top., Α 18, 108 b 7–31. 290 GW 1, 435, Fn. 59. Gadamer beruft sich auf Pol., Α, 2. In Α, 2, 1253 a 1–18 stellt Aristoteles fest, dass gerade der λόγος das Nützliche und das Unnützliche, das Rechte und das Unrechte sowie das Gute offenbar werden lasse. 291 Vgl. GS, 354 f. Gadamer beruft sich auf Aristoteles, um zwei Arten von Grenzen der Sprache zu verdeutlichen: die Endlichkeit der Ausdrucksmöglichkeiten einer Gemeinschaft und das Vorsprachliche, unter das auch das Lachen falle, das Aristoteles als dem Menschen eigentümliches Verhalten angesehen habe.
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besser und durch allmählich genauere Begriffe, weswegen sich immer größere Sprachgemeinschaften bilden. Die Kreativität, die es in einer Sprachwelt 292 geben könne, sei jedoch von deren Horizont begrenzt. Deshalb gehöre die innerhalb seiner Sichtweite zugängliche Begrifflichkeit, auch wenn sie bereicherbar sei, notwendigerweise zum Menschen als endlichem Wesen. Eben in der Selbstbeschränkung des eigenen Sprachvermögens liege aber die Möglichkeit eines echten Gesprächs, wenn die Grenzlinie, die jedem Sprechenden gesetzt sei, beweglich wie diejenige eines Horizontes bleibe. 293 Die Grenzen der Sprache würden deshalb in die Lage versetzen, sich gegenüber dem Anderen zu öffnen und den eigenen Horizont mit dem seinen zu »verschmelzen«. Bereits in Wahrheit und Methode hatte Gadamer die Veränderlichkeit des Horizontes einer Sprachgemeinschaft sowie die Verschiebung seiner Grenze im Falle der Begegnung mit Angehörigen anderer Traditionen festgestellt. Mithin hatte er darauf hingewiesen, dass Verstehen und Verständigung auch zwischen Menschen verschiedener Kulturen möglich sei. Er hatte geschrieben: »Gleichwohl ist es immer eine menschliche, d. h. eine sprachverfaßte Welt, die sich, in welcher Überlieferung auch immer, darstellt«, und deshalb »ist eine 292 Der Gebrauch des Begriffs der »Sprachwelt« ist in Wahrheit und Methode noch nicht von der Bedeutung beeinflusst, die Wittgenstein dem Wort »Sprachspiel« in seinen Philosophischen Untersuchungen (1953) gibt, da Gadamer dieses Werk erst Anfang der 1970er Jahre liest (vgl. SD, 347). Die Nähe zwischen seiner und Wittgensteins Auffassung der Sprache wird von Gadamer zugegeben, obwohl er auch die Differenzen klarmacht (vgl. PB, 143 f.; GzJ, 19 f.; S, 507). Für einen Vergleich vgl. Chris Lawn: Wittgenstein and Gadamer. Towards a post-analytic philosophy of language. Continuum: London u. New York 2004. 293 Vgl. GW 1, 307, wo Gadamer seinen Begriff des Horizontes von demjenigen Husserls und Nietzsches abhebt, um den Gesichtskreis der hermeneutischen Situation zu charakterisieren. Er bezeichnet als »Schranken« die Grenzen jeder Gegenwart (jeden Horizontes). Somit entfernt er sich vom Sprachgebrauch Kants, der das Wort »Grenze« als eine Trennlinie verstand und »Schranke« als Synonym von »Sperre« verwendete. Vgl. dazu das Lemma »Grenze« in: Rudolf Eisler: Kant-Lexikon. Olms: Hildesheim 1961 (Nachdruck der Ausg. Berlin 1930), www.textlog.de/32384.html (letzter Zugriff am 28. 02. 2022); Costantino Esposito: Die Schranken der Erfahrung und die Grenzen der Vernunft: Kants Moraltheologie. Ins Deutsche übers. von Sabine Beck. In: Aufklärung. 21 (2009), 117–145. Auf S. 450 greift Gadamer jedoch auf den kantischen Begriff der »Schranke« zurück, um die Erweiterbarkeit jeder Sprachwelt – die deswegen keine Schranke habe – zu behaupten. Zum Begriff des Horizontes bei Husserl, Heidegger und Gadamer vgl. Ralf Elm: Orientierung in Horizonten. Analyse und hermeneutische Folgerungen. In: Werner Stegmaier: Orientierung. Philosophische Perspektiven. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2005, 85–102.
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jede solche Welt von sich aus für jede mögliche Einsicht und damit für jede Erweiterung ihres eigenen Weltbildes offen« 294. Die Erweiterung einer Kulturwelt nicht nur in Richtung ihrer Vergangenheit, sondern auch bis zur Berührung anderer, ihr mitgegenwärtiger Sprachwelten, aus der ein fruchtbares Zusammenwachsen folgen könnte, ermöglicht die »Über-lieferung« von Aristoteles’ Vermächtnis an die zeitgenössische Lebenswelt: an eine multikulturelle Gesellschaft, in der verschiedene Traditionen zusammenlaufen, die einander bereichern und eine Zukunft nicht mehr nur »für das Abendland«, sondern zugunsten einer transkulturellen Gesellschaft eröffnen könnten. 295
294 GW 1, 451; vgl. 450. In späteren Aufsätzen wird Gadamer die Meinung zurückweisen, nach der die »Sprachkraft des Deutschen« (HG, 42; vgl. 44) stärker als diejenige der anderen Sprachen sei. Er wird zugeben, dass »es für die Menschen in allen Sprachen« »[u]rsprüngliche Erfahrungen« gebe (HS, 30), und deshalb seien »Möglichkeiten der Verständigung« (BzW, 237) in allen Sprachwelten angelegt. 295 Da Gadamer das Gespräch zwischen Bewohnern ganz verschiedener Lebenswelten in seinen späteren Schriften nicht nur für möglich hält, sondern auch als wünschenswert einschätzt, ist Wolfgang Welschs Meinung nicht zuzustimmen, dass sich die Auffassung der menschlichen Beziehungen durch die philosophische Hermeneutik mit dem Bild einer interkulturellen und multikulturellen Gesellschaft vergleichen ließe, die als ein aus nebeneinander liegenden Kugeln bestehendes Ganzes dargestellt würde (vgl. Christian Höppner: Transkulturalität – Interview mit Wolfgang Welsch. In: Musikforum. 1 [2010], http://kulturrat.net/druckansicht.php?detail=1763&rubrik =114 [letzter Zugriff am 28. 02. 2022]). Gadamer behauptet gar nicht, dass eine Verständigung nur zwischen Kulturen gleicher Herkunftsgeschichte vorstellbar wäre, zumal er das chinesische »Tao« sogar mit dem deutschen »Weg« und dem griechischen »μέθοδος« in Verbindung bringt (vgl. HG, 41). Gadamers Vorstellung einer »hermeneutischen Gesellschaft« lässt sich dem »Verflechtungsmodell« der Transkulturalität bei Welsch viel mehr annähern, als dieser Philosoph es zugestehen will. Zu diesem Modell vgl. Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Realität – Geschichte – Aufgabe. New Academic Press: Wien 2017.
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Schluss Freundlichkeit ist eine Sprache, die Taube hören und Blinde lesen können. Mark Twain
Die Lehre des Aristoteles und die Erziehung zur Solidarität Es ist nun angebracht, sich intensiver der Frage zuzuwenden, inwiefern der aristotelische Begriff der φρόνησις in der zeitgenössischen Welt wieder zum Leben erweckt werden kann. Der Horizont, der Gadamer und uns umfasst, ist zwar anders als derjenige des Aristoteles: Die πόλις ist nunmehr völlig untergegangen, das den in ihr Lebenden gemeinsame ἦθος hat sich aufgelöst und der weitere kosmologischmetaphysische Rahmen, in dem die aristotelische Ethik und Politik kontextualisiert werden müsste, ist von der Wissenschaft und der Erfahrung widergelegt worden. 296 Demzufolge sind die drei Grundtätigkeiten des Menschen, θεωρία, πρᾶξις und ποίησις, so wie Aristoteles sie aufgefasst hat, heute keineswegs mehr praktizierbar. Zur genaueren Charakterisierung der Degeneration der πρᾶξις in der heutigen Welt ist es nützlich, an die Antwort zu erinnern, die Hannah Arendt auf die Frage gibt, der sie in ihrem Werk Vita Activa oder Vom tätigen Leben (1960) nachgeht, nämlich: »Was tun wir, wenn wir tätig sind?« 297 Statt zu lehren, was eine abstrakte Person machen soll, erforscht sie die geschichtlichen Gestaltungen des Verhältnisses zwischen den drei Grundtätigkeiten, in denen sich die
296 Vgl. Volpis Ansicht über das, was von Aristoteles’ praktischer Philosophie heute »lebendig bleibt«, und das, »was tot ist«, in: Volpi: Heidegger und der Neoaristotelismus. A. a. O., 233 f. Zur Kritik an der Auffassung, die Aporien, die sich in Aristoteles’ Ethik und Politik fänden, seien an deren historischen Kontext gebunden, vgl. Riedel: Über einige Aporien. A. a. O., 95–97. Für die Analyse des »Ruin[s] unserer Denkkategorien und Urteilsmaßstäbe« – einschließlich der Sitten und Gebräuche –, die im 19. Jahrhundert begonnen habe und im Totalitarismus vollendet worden sei, vgl. Hannah Arendt: Verstehen und Politik. In: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hrsg. von Ursula Ludz. Piper: München u. Zürich 1994, 116–122. 297 Arendt: Vita activa. A. a. O., 12.
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»Condition humaine« – ihrer Ansicht nach – vollzieht: das Handeln, das Herstellen, die Arbeit. Hannah Arendt rekonstruiert die Geschichte, wie das Handeln, das sich zusammen mit dem Sprechen unmittelbar zwischen den Menschen vollziehe und sie in der Einzigartigkeit ihres Wesens offenbare, zuerst zum Herstellen als Hervorbringen einer künstlichen Welt und dann zur Arbeit im Sinne des biologischen Prozesses des menschlichen Körpers degeneriert sei. 298 Sie stuft das Handeln als den höchsten Vollzug des Menschen ein, dessen beste Verwirklichung in der griechischen πόλις zu finden sei, welche sich als das Gegenteil der modernen »Gesellschaft von Jobholders« zeige, in der die Arbeit triumphiere. Wo das »animal laborans« siege, sei es das einzige Ziel des Strebens, »das Leben des Einzelnen […] in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrsch[e]«, eintauchen zu lassen und vollständig zu beruhigen, um alles am besten »funktionieren« 299 zu lassen. Arendts Auffassung der Arbeit als Selbstproduktion des Lebens fügt sich in die Konstellation eines Denkens ein, das den Begriff des herstellenden und arbeitenden Menschen in der Nachkriegszeit weiterdenkt und sich – besonders bei den Denkern der Frankfurter Schule – als eine heftige Kritik an der spätkapitalistischen Gesellschaft gestaltet. So schreiben Horkheimer und Adorno, dass heute sogar das »Amusement« wegen der »Kulturindustrie« zur »Verlängerung der Arbeit« 300 geworden sei. Seinerseits hebt Marcuse hervor, dass das »Leistungsprinzip« zur Grundnorm eines Menschen erhoben worden sei, dessen einzige »Dimension« sich als diejenige der Produktion und des Verbrauchs erweise. 301 Ausgehend von diesen Überlegungen und von der gadamerschen Kritik an der neuzeitlichen Auffassung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, die sich Heideggers Besinnung auf die Technik verdankt, 298 Vgl. ebd., 14, 169, 287–312. Es sei bemerkt, dass die von Arendt beschriebenen drei Grundtätigkeiten sich nicht mit πρᾶξις, ποίησις und θεωρία im Sinne des Aristoteles decken, wobei die arendtschen Begriffe der Praxis und der Produktion immerhin eine Aneignung von Aristoteles’ Kategorien im Anschluss an die Vorlesungen Heideggers sind. 299 Ebd., 314; vgl. 312–317. 300 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Fischer: Frankfurt am Main 212013, 145. 301 Vgl. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Luchterhand: Neuwied u. Berlin 61968, 69 f., 96–98.
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lässt sich die folgende Behauptung aufstellen: Es scheint, als ob die drei von Aristoteles beschriebenen Grundtätigkeiten des Menschen in der heutigen Welt derart verunstaltet worden wären, dass sie alle auf ein einziges Verhalten zurückgeführt werden könnten, welches sich als eine ποίησις eigener Art durchsetze. Es gehe um eine Produktion, die nicht mehr ein Hervor-bringen sei, das die den Dingen selbst inhärenten Möglichkeiten zur Entfaltung kommen lasse. 302 Die heutige Version der ποίησις zeige sich vielmehr als Maschinentechnik, durch welche sich die wissenschaftliche »Theorie« in einer »Praxis« verwirkliche, die jegliche Natur in »Rohstoffbestand« verwandle, 303 indem sie den theoretischen Entwurf alles Seienden ausführe, sodass sich Denken, Tun und Herstellen als dasselbe erwiesen. Die Wissenschaft samt der ihr zusammengehörigen Technik ist jedoch nicht uneingeschränkt zu verurteilen. Sie muss keinesfalls verteufelt werden, zumal die Versklavung nur eine ihrer möglichen Auswirkungen ist. Denn ein sachgemäßer Umgang mit der Technik kann auch zur Befreiung und zur Verbesserung des Lebens in Harmonie mit dem unauflösbaren Rätsel des Weltlaufs führen. Ein Beleg dafür ist die Leistung der neuen Technologien im Bereich der Medizin, die Gadamer gerne »Heilkunst« nennt und die er ausgehend von Aristoteles beschreibt. Denn er erkennt in der Medizin »eine eigentümliche Einheit von theoretischer Erkenntnis und praktischem Wissen«, die sie zu »eine[r] eigene[n] Art praktischer Wissenschaft« mache, »für
302 In den 1930er Jahren hat Heidegger die enge Verbindung zwischen der ποίησις bzw. der τέχνη und der φύσις beleuchtet, indem er das Verfahren der τέχνη »gegen die φύσις« um der φύσις willen, d. h. »um das Walten der φύσις in der Unverborgenheit zu halten« (GA 45, 179 f., 189), erläuterte. Vgl. Heidegger: Vom Wesen und Begriff der Φύσις. A. a. O., 289 f.; GA 55, 201–203, 368 f.; GA 65, 190 f. Auch Gadamer verweist auf die griechische Auffassung der Einfügung der τέχνη in die φύσις, indem er betont, dass sich die τέχνη für Aristoteles »darauf beschränkt, die von der Natur offengelassenen Möglichkeiten weiterer Formung auszufüllen« (TTP, 247; vgl. AH, 269). 303 Zum »Bestand« als der der Technik eigenen Entbergungsweise des Seins, die der »Machenschaft« im Sinne jener »Auslegung des Seienden als des Vor-stellbaren« entspreche, dessen Sein für »zugänglich im Meinen und Rechnen; […] vorbringbar in der Her-stellung und Durchführung« (GA 65, 108 f.) gehalten werde, vgl. Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik. In GA 7, 17 f.; Überwindung der Metaphysik. In GA 7, 91, 93 f.; Das Ge-Stell. In GA 79, 28–37. Für Heideggers Widerlegung der These, nach der die Technik angewandte Naturwissenschaft sei (Heidegger beschreibt das Wesen der Technik vielmehr als eine Schickung des vergessenen Seins selbst), vgl. GA 76, 125, 299, 320.
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die im modernen Denken der Begriff abhanden gekommen« 304 sei. Ein anderes Beispiel für einen vorteilhaften Gebrauch der Technik ist die Steigerung an Kommunikations- und Ausdrucksmöglichkeiten sowie an Schnelligkeit und potenzieller Exaktheit der Informationsvermittlung, die das Miteinanderleben und das Zusammenwachsen verschiedener Kulturgemeinschaften auf unserem Planeten fördern kann, zumal die unterschiedlichen Existenzbedingungen in der gegenwärtigen Zeit auf globaler Ebene immer mehr voneinander abhängig sind. Zwar ist mit Heidegger und Gadamer zu betonen, dass sich die Sprache nicht auf ein bloßes Zeichensystem zurückführen lässt, das in der Lage wäre, jeden beliebigen Gehalt augenblicklich auf neutrale Weise durch eine »Computerwelt« 305 – ein anonymes »globales Dorf« – zu vermitteln. Es lässt sich jedoch ebensowenig leugnen, dass die neuen Technologien einen entscheidenden Beitrag zur Schaffung erweiterter Räume leisten können, die es Menschen verschiedener Nationen ermöglichen, sich zu treffen und miteinander ein eigentliches Gespräch zu führen. Wenn die Ursache-Wirkungs-Kette, die die Technik in Gang bringt, auch nur teilweise von den menschlichen Entscheidungen abhängt, kann der Bezug zur Wissenschaft und zu ihrem technischen Können fruchtbar werden, falls er sich von der hermeneutischen Aneignung der aristotelischen Auffassung der φρόνησις die Orientierung geben lässt. Das durch diese Aneignung eröffnete semantische Feld enthält auch die Wiederentdeckung der Begriffe »σύνεσις«, »γνώμη« und »συγγνώμη«. Einer der zugkräftigsten Nachweise für die Anverwandlung dieser Tugenden in der philosophischen Hermeneutik lässt sich aus ihrer umgestaltenden Konvergenz im Begriff der Offenheit entnehmen, die von Gadamer als dritter und »höchste[r]« 306 Charak304 AH, 273. Zu Gadamers Aufwertung des richtigen Gebrauchs der Technik in der Medizin vgl. 269–271; NK, 117 f. 305 Vgl. GS, 358. Zu Heideggers Analyse des »Atomzeitalters« als »Informatikzeitalter« vgl. Günther Neumann: Heidegger und Leibniz (in: Hans-Christian Günther [Hrsg.]: Das Denken Martin Heideggers: Ein Handbuch. Bautz: Nordhausen. 2. Abteilung, Bd. 2, 2020, 82 f.); zur Gestaltung der menschlichen Beziehungen im »Netz« (World Wide Web), das sie in die Gefahr bringe, sich als ein »wesensloses Un-verhältnis« zu verwirklichen, vgl. Ingeborg Schüßler: Kommunikation und Gespräch. Zur Frage des Miteinanderseins im Zeitalter der Globalisierung (in: Daseinsanalyse. 33 [2017], 70–91). 306 GW 1, 367. Zur Offenheit der Erfahrung, die gemäß dem Chiasmus von Schenkung und Entzug strukturiert sei, vgl. Ralf Elm: Schenkung, Entzug und die Kunst
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ter der hermeneutischen Erfahrung – die andersartige Züge aufweist als die naturwissenschaftliche Erfahrung 307 – erläutert wird. Schon in Wahrheit und Methode bestimmt Gadamer die Offenheit sprachlich, indem er sich auf die Erfahrung des »Du« beruft und schreibt: »Im mitmenschlichen Verhalten kommt es darauf an, […] das Du als Du wirklich zu erfahren, d. h. seinen Anspruch nicht zu überhören und sich etwas von ihm sagen zu lassen. Dazu gehört Offenheit […]. Offenheit für den anderen schließt also die Anerkennung ein, daß ich in mir etwas gegen mich gelten lassen muß.« 308 Nur so – könnte man schließen – wird der Umgang der Menschen miteinander von den mit der φρόνησις verwandten Tugenden geleitet werden, die Gadamer in dem Paragrafen Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles ebenfalls darlegt. Denn offen gegenüber dem Anderen kann nur derjenige sein, der bereit ist, sich mit ihm zu verständigen (σύνεσις), d. h., wer sich gegen den Anderen nicht durchsetzen will und sich deshalb zu ihm mit Einsicht (γνώμη) und Nachsicht (συγγνώμη) verhält, auch wenn ihn diese Tugenden zu einem gerechten Urteil oder zur Verzeihung anhalten. Während Gadamer den Dialog zwischen Menschen verschiedener Kulturen in Wahrheit und Methode nicht eigens thematisiert, da er sich in diesem Werk eher auf die Beschreibung eines allumfassenden Überlieferungsgeschehens konzentriert, 309 geht er in seinen späteren Arbeiten genauer auf das Verhältnis von verschiedenen Traditionen ein, das er jedoch ebenso am Modell des Gesprächs zwischen Ich und Du erläutert. In dem Vortrag Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt (1990) vergleicht er die Entfaltung einer Welt mit dem »Aufgehen in offene Horizonte« und umschreibt es folgenschöpferischen Fragens. In: Figal: Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode. A. a. O., 159–169. 307 Vgl. GW 1, 352–355. Zu den drei Bedeutungen, die Gadamer im Begriff der Erfahrung unterscheide, um zu zeigen, dass der Mensch im Medium ungegenständlicher Zusammenhänge lebe, vgl. Csaba Olay: Hans-Georg Gadamer. Phänomenologie der ungegenständlichen Zusammenhänge. Königshausen & Neumann: Würzburg 2007, 129–132, 180. 308 GW 1, 367. 309 Vgl. ebd., 311, wo sich die Rede von der Horizontverschmelzung in der Behauptung der Existenz eines Horizontes zuspitzt, »der seine Grenze in die Tiefe der Überlieferung zurückschiebt«. Zur Kritik an dem in Wahrheit und Methode ausgeführten Traditionsbegriff, der zu umfangreich und deshalb nicht »identitätskonkret« sein könne, vgl. Bernd Auerochs: Gadamer über Tradition. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 49 (1995) 2, 306–308.
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dermaßen: »Das ist zwischen Ich und Du dieselbe Sache wie zwischen den Völkern oder zwischen den Kulturkreisen und Religionsgemeinschaften. Überall stehen wir vor dem gleichen Problem: Wir müssen lernen, daß im Hören auf den anderen der eigentliche Weg sich öffnet, auf dem sich Solidarität bildet.« 310 Gadamer sieht dies als ein ebenso moralisches wie politisches Problem an, für dessen Lösung der erste Schritt »eine primäre Grenzsetzung unserer Eigenliebe und unserer Egozentrik« sei. 311 Um einen »Gemeinschaftsgeist zu entwickeln«, müsse man tatsächlich ein Ziel verfolgen, das entgegengesetzt zum »Wahnideal« der Leute sei, die den Turm zu Babel bauen wollten: Während die Verwirklichung von deren Absicht das Sprachgeschehen auf einen Monolog reduziert hätte, solle man die »Sprache in ihren schöpferischen Möglichkeiten […] entbinden« 312. Dies führe nicht unbedingt zur Verwirrung, sondern könne auch die tiefste Verständigung veranlassen, welche aus der Rücksicht auf den Anderen entstehe. Denn die Förderung des Reichtums jeder Sprache bedeute die »Wahrnehmung« und Bewahrung »der Freiräume des menschlichen Miteinanders, auch über Fremdes hinweg« 313. Die Vielheit der Sprachen könne die Harmonie eines vielstimmigen Gesprächs beleben, insofern der Klang der verschiedenen Aussagen über sich hinaus auf etwas Umfassenderes verweise, und zwar auf »die Einheit von Sinn, die sich aus Wort und Antwort aufbau[e]« 314. Indem Gadamer in dem Vortrag Grenzen der Sprache auf die Einheitlichkeit des Sinnes hindeutet, der sich im Vollzug der Sprache als Gespräch bilde, und hinzufügt, dass die Vereinigung der Bedeutungen »auch für die Sprache der Gesten, der Sitten und Ausdrucksformen verschiedener einander fremder Lebenswelten« 315 gelte, will er ebenso wenig für die Einschmelzung andersartiger Kulturen in eine einzige Sprachgemeinschaft wie für die Anverwandlung fremder 310 VS, 327. Die Solidarität wird von Ágnes Heller als »the character trait of good citizens« definiert (A Philosophy of Morals. Basil Blackwell: Oxford [UK] u. Cambridge [Massachusetts] 1990, 158). Auch diese jüdische Philosophin denkt die aristotelische Ethik weiter, indem sie die »[r]adical tolerance« als »citizen virtue par excellence« (160; vgl. 186) bestimmt, deren Haltung auf das »agreement with others« (159) gerichtet sein müsse. 311 VS, 346. 312 Ebd., 339, 347 f.; vgl. 340; GS, 357. 313 VS, 348. 314 GS, 359. 315 Ibidem.
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Schluss
Lebensformen an eine vorherrschende vermeintlich überlegene Zivilisation plädieren. Er möchte vielmehr, dass sich jede geschichtlich gewachsene Tradition nach ihrer eigenen Identität fragt, damit sie in die Lage versetzt wird, fremde Anregungen anzuerkennen, durch diese sich selbst besser zu verstehen und mit den anderen zusammenzuwachsen. 316 Als Bedingung der Möglichkeit für eine solche gemeinsame Reifung nennt Gadamer die »Erziehung zur Toleranz« 317. Über Gadamer hinaus und dennoch mit ihm sollte man statt von »Toleranz« von »Solidarität« sprechen, zu der jeder erzogen werden kann, da es in Wirklichkeit »weder ›das‹ Ich noch ›das‹ Du« gibt: Man bewegt sich vielmehr schon immer innerhalb sich miteinander verschmelzender Horizonte, und deswegen ist »das Wir-Sein« ein »umfassende[s] Lebensphänom[en]« 318, das jedoch zur Darstellung gebracht werden muss. Gadamer weist der Philosophie im Allgemeinen die Aufgabe der Bewusstmachung des »Wir-Seins« und der Hermeneutik im Besonderen die Erläuterung dieses Phänomens zu. Er bekräftigt, dass das Miteinandersein der Menschen so ursprünglich sei, dass sich vor ihm der Absolutheitsanspruch nicht nur jedweden »Heilswissens« zurückziehen müsse, 319 sondern auch derjenige eines Erklärens, das die durchgängige Selbsterhellung und -herstellung fantasiere, welche von alten und neuen »Aufklärungswellen« 320 mit allen Mitteln angezielt werde. Nach Gadamer soll die philosophische Hermeneutik zeigen, dass es, wenn schon das Selbstverständnis die totale Durchsichtigkeit niemals erreichen könne, noch weniger möglich sei, den Anderen zu durchschauen. Darin liege eben die Stärke des Verstehens, dass es 316 Vgl. AN, 159 f.; PG, 35. Dass Verständigung durch das Verstehen ermöglicht wird, ist der Grund, warum Gadamer von einer »weltpolitische[n] Bedeutung des Verstehens« (WzB, 108) spricht. Ein Versuch, aus Heideggers und Gadamers Hermeneutik Hinweise zu gewinnen, die für die heutige Aufgabe interkulturellen Verstehens und Bildens bedeutsam sind, wird unternommen in Ralf Elm: Hermeneutik und Interkulturalität. Zentrale Dimensionen interkultureller Bildung im Ausgang von der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts. In: Ralf Elm/Ingo Juchler/Jürgen Lackmann/Siegbert Peetz (Hrsg.): Grenzlinien. Interkulturalität und Globalisierung: Fragen an die Sozialund Geisteswissenschaften. Wochenschau: Schwalbach 2010, 18–45. 317 PZ, 172. 318 UH, 223. 319 Vgl. WB, 376. 320 Dieser Ausdruck, der von Gadamer in ML, 170 eingeführt wurde, um die drei Etappen der Entwicklung eines aufklärerischen Geistes in der westlichen Zivilisation zu kennzeichnen, sei hier im weitesten Sinne verwendet.
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»vor dem Unverständlichen« »erst eigentlich zum Wirklichen« gelange. 321 Man solle sich nicht anmaßen, den Anderen »im vorhinein zu verstehen und damit zu begrenzen« 322, was sich ereigne, wenn alles im Voraus innerhalb des alleinigen Horizontes eines einzigen Gesprächspartners gedeutet werde. Nur falls sich jeder von mehreren Dialoganten von den anderen etwas sagen und somit ihren Anspruch gelten lasse, würden alle an echter Selbsterkenntnis gewinnen und sich zugleich aneinander binden. Das Prinzip des »Geltenlassen[s] des anderen gegenüber sich selber« 323, das ein »Handeln« vorschreibe, welches zugleich ein »Lassen« sei, wird darum von Gadamer zum Leitsatz erhoben, am Leitfaden dessen sich ein eigentliches »Wir-« bzw. »Miteinandersein« vollziehen könne, aus dem echte Solidarität erwachse. Die Hermeneutik versucht nicht, die Grenzen des Verstehens, die an die inneren und äußeren Grenzen der Sprache – die ihrerseits die Endlichkeit des menschlichen Wesens markieren – gebunden sind, kraft eines »Willens zur Wahrheit« zu überwinden, der sich letztendlich mit einer Erscheinungsweise des »Willens zur Macht« deckt. Noch weniger stellt sie das Einverständnis, das alle Mitglieder einer Gesellschaft sich gewissermaßen aufeinander einstimmen lässt, wie eine Maske vor, die veräußerlichende Arbeits- und Machtverhältnisse verbirgt. 324 Wenn Gadamer schreibt, dass »man das, was der andere« sagen wolle, »in seinen positiven Intentionen« aufgreifen »sollte« 325, hält er zu einer verantwortlichen Haltung an, die weder der erste Schritt zu einem hinterhältigen Überreden noch die widerstandslose Unterwerfung infolge eines missverständlichen Diskurses sein kann. Einen »guten Willen« gegenüber dem Anderen zu haben 326 bedeutet PG, 35. Ibidem. 323 SH, 183. Vgl. H, 116; ErE, 30. 324 Zu einer Widerlegung dieser beiden Vorwürfe, die von Jacques Derrida bzw. Jürgen Habermas gegen die philosophische Hermeneutik erhoben wurden, und für eine Neubestimmung des Prinzips des »Rechenschaftgebens« über die »hermeneutische Wende« Heideggers und Gadamers hinaus vgl. Riccardo Dottori: Oltre la svolta ermeneutica? Note sul rapporto Gadamer–Derrida. In: Atque. 14/15 (1996/1997), 9–37. Zum kritischen Potenzial, das der Hermeneutik vermöge ihrer Aneignung des aristotelischen Begriffs der φρόνησις zukomme, vgl. Franco Volpi: Praktische Klugheit im Nihilismus der Technik: Hermeneutik, praktische Philosophie, Neoaristotelismus. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie. 1 (1992) 1, 18–20. 325 VS, 349. 326 Der »gute Wille« zum Verstehen ist bekanntlich das, was Gadamer Derridas Vor321 322
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eben das Gegenteil des sophistischen Vernünftelns, zumal es eine demokratiebildende Einstellung charakterisiert, die eine »offene Gesellschaft« 327 vor der Schwärmerei alter und neuer Utopien von einer total verwirklichten Freiheit beschützt. Dieser »hermeneutische Wille« hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein kritisches Bewusstsein gegenüber der modernen Auffassung des ethischen und politischen Handelns erweckt und dadurch eine Art vielseitiger Vernunft zur Geltung gebracht, die dem Menschen praktische Orientierungskraft zurückgeben kann. Darin besteht der Kern von Gadamers Annahme des Erbes des Aristoteles, am Leitfaden deren Paul Ricœur die »kleine Ethik« 328 seiner Hermeneutik entwickelt, deren Prinzip er vermittels einer ergänzenden »Korrektion« der φρόνησις des Aristoteles und der Sittlichkeit Hegels durch die Moralität Kants ausarbeitet, um aufzuzeigen, wie ein »gutes Leben« mit dem Anderen und für ihn in gerechten Institutionen geführt werden kann. 329 wurf entgegensetzt, dass die Hermeneutik eine verborgene Verwirklichung des nietzscheanischen Willens zur Macht sei. Für die Stellungnahmen Gadamers und Derridas seit der »Pariser-Debatte« von 1982 vgl. die Beiträge beider Philosophen in: Philippe Forget (Hrsg.): Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte. Fink: München 1984: Text und Interpretation, 24–55, Und dennoch: Macht des guten Willens, 59–61 (Gadamer); Guter Wille zur Macht I, 56–58, Guter Wille zur Macht II, 62–77 (Derrida). Zur Entwicklung der Meinung Derridas über Gadamers Gesprächstheorie vgl. Jacques Derrida/Hans-Georg Gadamer: Der ununterbrochene Dialog. Hrsg. von Martin Gessmann. Suhrkamp: Frankfurt am Main 42004. 327 Mit diesem Ausdruck sei hier auf das liberal-demokratische Gesellschaftsmodell verwiesen, das Popper der totalitären »geschlossenen Gesellschaft« gegenüberstellt, indem er die ähnliche Entgegensetzung Henri Bergsons wiederaufnimmt – wobei er allerdings kritisch auf Aristoteles eingeht (vgl. Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Francke: München. Bd. 2, 61980, 5–53). 328 Dieser Ausdruck kommt vor in: Paul Ricœur: Soi-même comme un autre. Le Seuil: Montrouge 1990, 337 (ins Deutsche übers. von Jean Greisch: Das Selbst als ein Anderer. Fink: München 2005, 351). Hier führt Ricœur die Überlegungen weiter, die er in: La personne (1983) (in: ders.: Lectures 2. La contrée des philosophes. Seuil: Paris 1992, 190–221) dargestellt hatte (vgl. Annalisa Caputo: Io e tu. Una dialettica fragile e spezzata. Percorsi con Paul Ricœur. Stilo: Bari 2009, 108–121). Er knüpft dabei explizit an Gadamers Aristoteles-Auslegung an und erwähnt dessen Bericht über das Seminar Heideggers, in dem dieser die φρόνησις mit dem Gewissen zusammenfallen ließ (vgl. Soi-même comme un autre. A. a. O., 187, 406; dt. Übers. 193 f., 422), um auf dieser Identifikation aufzubauen. 329 Vgl. Ricœur: Soi-même comme un autre. A. a. O., 199–236, 337 (dt. Übers. 207– 246, 351). Auf S. 342 (dt. Übers. 356) beruft Ricœur sich auf Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979) (Suhrkamp: Frankfurt am Main 52015), um seine eigene Auffassung der Verantwortung zu
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Angesichts der aktuellen Herausforderungen kann man zusammenfassend sagen, dass die wegweisende Umgestaltung der φρόνησις durch die philosophische Hermeneutik in einer Epoche, die sich anders als das »Zeitalter des Totalitarismus« definieren will, eine der weitreichendsten bislang erfolgten Transformationen aristotelischer Denkfiguren ausmacht, deren »Wirkungsgeschichte« in unserer pluralistischen Gesellschaft noch lange nicht an ihr Ende gelangt sein sollte.
verdeutlichen. Für eine Darstellung und Kontextualisierung von Ricœurs späterer Ethik vgl. Andris Breitling/Stefan Orth/Birgit Schaaff (Hrsg.): Das herausgeforderte Selbst. Perspektiven auf Paul Ricœurs Ethik. Königshausen & Neumann: Würzburg 1999.
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Dokumentarischer Anhang Drei unveröffentlichte Briefe von HansGeorg Gadamer an Hermann Heidegger
Dokumentarischer Anhang
Die hier ausgewählten Briefe Hans-Georg Gadamers an Hermann Heidegger – vom 29. März 1989, 16. Juli 1992 und 21. August 2000 – stammen aus dem Nachlass Gadamers und werden im Deutschen Literaturarchiv Marbach unter A: Gadamer; Konvolut: Gadamer, Hans-Georg // Heidegger, Hermann // 37 Br. 43 Bl. mit 1 Umschlag // 1980–2000, Inv.-Nr. HS.0022.10535 aufbewahrt. Sie sind – mit Ausnahme der letzten Zeilen des ersten und des dritten Briefes – auf der Schreibmaschine getippt. Der erste Brief ist zwei Seiten lang, der zweite und der dritte nur eine Seite. Ihr Text wird in dem hier vorgelegten Abdruck unverändert wiedergegeben mit Ausnahme von sechs Stellen im ersten Brief, zwei Stellen im zweiten und einer Stelle im dritten. Im ersten Brief wurden einen Bindestrich (zwischen »Aristoteles« und »Manuskript«) und eine Präposition (»in« vor »diesem Heidegger-Jahr«) hinzugefügt. Zudem wurden im ersten Brief vier Tippfehler verbessert (»Lessingerfüllen«, »wünschtemir«, »den Wunsche«, »jungendlichen«), im zweiten Brief zwei (ein Verb in Plural statt in Singular – in dem Ausdruck: »Es sind genau 67 Jahre her« – und eine Wendung im Akkusativ statt im Nominativ – »Diesen lang erwarteten Text«), im dritten einer (ein groß- statt kleingeschriebenes Personalpronomen, nämlich »Sie«). Die Fußnoten wurden in der vorliegenden Veröffentlichung hinzugefügt. Die drei Briefe tragen zum besseren Verständnis des Einflusses Heideggers auf Gadamer sowie des heideggerschen Denkstils dadurch bei, dass Gadamer sich in ihnen über seine erste Begegnung mit Heidegger und über die langfristige Wirkung von dessen Denken dank der Gesamtausgabe seiner Schriften äußert. Als Doktorand in Marburg bei Natorp hörte Gadamer von Heidegger zum ersten Mal 1921, als Moritz Geiger über den Erfolg seiner Vorlesungen berichtete. 330 Der Ruhm des jungen Freiburger Dozenten, des »kleine[n] Zauberer[s] von Meßkirch«, der alle »in seinen Bann« 331 zog, indem er »die totgeglaubten Bildungsschätze der Vergangenheit« 332 wieder zum Sprechen brachte, verbreitete sich bei den Studenten ebenso schnell wie bei den deutschen Professoren.
Vgl. PL, 212. Hans Jonas: Wissenschaft als persönliches Erlebnis. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1987, 14; PL, 34. Vgl. ExE, 182. 332 Hannah Arendt: Menschen in finsteren Zeiten. Piper: München u. Zürich 1989, 174. 330 331
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Dokumentarischer Anhang
Anfang der 1920er Jahre wurde der Name Heideggers besonders mit demjenigen des Aristoteles in Verbindung gebracht. Hans Jonas bezeichnete Heideggers philosophische Übung über De Anima als »ein ›Urerlebnis‹« 333; Leo Strauss beurteilte Heideggers Auslegung der Physica als »first serious reading« 334 seit der Aufklärung, und bezüglich der Interpretation der Metaphysica gab er zu, dass Max Weber im Vergleich zu Heidegger »ein Waisenknabe« 335 sei: Es könne »no comparison« 336 sogar mit Werner Jaeger geben. Hannah Arendt sprach von einem »heimliche[n] König […] im Reich des Denkens« 337, und Heinrich Schlier bestätigte Jonas’ Betonung des pädagogischen Aspektes von Heideggers Aristoteles-Vorlesungen mit den Worten: »Heidegger […] lehrte uns das Denken im Nach-Denken.« 338 Heidegger widmete jedoch fast all seine Zeit dem lebendigen Philosophieren, deshalb hatte er sehr wenig veröffentlicht. Aus diesem Grund schrieb Paul Natorp, der ihn an seiner Universität als Extraordinarius in der Nachfolge Nicolai Hartmanns wollte, an Edmund Husserl mit der Bitte, ihm einen Bericht über die Lehr- und Forschungstätigkeit seines jungen Assistenten Heidegger zukommen zu lassen. 339 Auf Husserls Anregung hin schrieb Heidegger in drei Wochen eine »›Einleitung‹ (eine sehr verkürzte und propädeutische)« 340 zu seinen Aristoteles-Studien, die als Vorarbeit zu einem 333 Jonas: Wissenschaft als persönliches Erlebnis. A. a. O., 14; vgl. ders.: Erkenntnis und Verantwortung. Gespräch mit Ingo Hermann. Lamuv: Göttingen 1991, 41 f. 334 Ausdruck wiedergegeben in: Peter G. Kielmansegg (ed.): Hannah Arendt and Leo Strauss. German Émigrés and American Political Thought after World War II. Cambridge University Press: Cambridge 1995, 170. 335 Ausdruck wiedergegeben in: Heinrich Meier: Artikel »Leo Strauss«. In: Bernd Lutz (Hrsg.): Metzler Philosophen-Lexikon. J. B. Metzler: Stuttgart 32015, 707. 336 Leo Strauss: Existentialism. In: Interpretation. 22 (1995), 304–320, hier 304. 337 Arendt: Menschen in finsteren Zeiten. A. a. O., 175; vgl. dies.: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt. In: Günther Neske/Emil Kettering (Hrsg.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Neske: Pfullingen 1988, 232 f. 338 Heinrich Schlier: Denken im Nachdenken. In: Günther Neske (Hrsg.): Erinnerungen an Martin Heidegger. Neske: Pfullingen 1977, 218. Zu Heideggers »Pädagogik« vgl. Christophe Perrin (éd.): Qu’appelle-t-on un séminaire? La pédagogie heideggérienne. Zeta Books: Bucarest 2013. 339 Vgl. den Brief Paul Natorps an Husserl vom 22. September 1922, in: Edmund Husserl: Briefwechsel. Hrsg. von Karl Schuhmann und Elisabeth Schuhmann. Bd. V: Die Neukantianer. Kluwer: Dordrecht, Boston u. London 1994, 158 f., und den Brief Georg Mischs an Husserl vom 28. Mai 1922 (mit einer ähnlichen Bitte), ebd., Bd. VI: Philosophenbriefe, 272 f., 503. 340 Brief Heideggers an Löwith vom 20. November 1922, in BL, 63.
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Dokumentarischer Anhang
längeren Werk mit dem Titel Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles dienen sollte, an dem er bis zum Jahre 1924 intensiv arbeitete. 341 Er gab dann sein Vorhaben auf, wahrscheinlich auch aufgrund der Verwandlung seiner Hermeneutik der Faktizität in die Existenzialanalytik als Fundamentalontologie infolge einer wegweisenden Zuwendung zu Kant. Begeistert von Heideggers Skizze, gab Natorp sie an Gadamer weiter, der bereits von den Vorlesungen Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (WS 1921/22) und Phänomenologische Interpretationen (ausgewählte Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik) (SS 1922) erfahren hatte. 342 Während der Lektüre des NatorpBerichts wurde Gadamer wie »von einem elektrischen Schlage« 343 getroffen: Der Text wurde für ihn »zu einer wahren Inspiration« 344 und veranlasste ihn dazu, nach Freiburg zu Heidegger zu gehen. 345 In seinem ersten Brief an den jungen Dozenten (vom 27. September 1922) formulierte Gadamer seine Erwartungen folgendermaßen: »im Sommer oder Winter 1923 in Ihrem Seminar wieder Aristoteles anzutreffen oder persönliche Förderung meines Studiums bei Ihnen zu finden« 346. Beide Wünsche gingen in Erfüllung: Im SS 1923 hielt Heidegger neben der Vorlesung Ontologie. Hermeneutik der Faktizität – an deren Anfang der Assistent Husserls sagte, dass er Aristoteles als 341 Vgl. den Brief Heideggers an Jaspers vom 19. November 1922, in BJ, 33 f., und die Briefe an Löwith vom 22. November 1922, 20. Februar 1923, 21. April 1923, 8. Mai 1923, 30. Juli 1923, 19. März 1924, in BL, 74 f., 83 f., 86, 88, 99, 107. In seinem Brief vom 15. Februar 1923 schrieb Löwith an Heidegger: »Wie steht es mit dem Aristoteles?? Es wäre schad, wenn Sie die Sache auseinanderziehen müssten; was Sie mir zum Lesen gaben, war so kompakt und straff und doch klar […], dass ich mir eine Änderung schwer vorstellen könnte.« Vgl. den Brief Oskar Beckers an Heidegger vom 19. September 1923, in: Oskar Becker: Vier Briefe an Martin Heidegger. In: Annemarie Gethmann-Siefert/Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Die Philosophie und die Wissenschaften. Zum Werk Oskar Beckers. Fink: München 2002, 251. 342 Unter den Zuhörern der Vorlesung vom SS 1922 war auch Bruno Strauss, der begeistert über sie in Marburg berichtete (vgl. den Brief Natorps an Husserl vom 30. Oktober 1922, in: Husserl: Briefwechsel. Bd. V. A. a. O., 161). 343 PL, 212; vgl. 24. 344 NB, 229. 345 Vgl. HG, 32. 346 BH, 13. Heidegger teilt Löwith seinen – nicht durch besondere Hochschätzung geprägten – ersten Eindruck von Gadamer in seinem Brief vom 23. August 1923 mit, und zwar in BL, 103.
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»Vorbild« »im Suchen« genommen habe – vier Seminare, eines davon über das Buch Ζ der Ethica Nicomachea. Die in ihm verwirklichte phänomenologische Umgestaltung der aristotelischen Ethik war für Gadamer »eine Einführung in die fundamentale Bedeutung der Phronesis« 347. Außerdem lud Heidegger Gadamer ein, das Sommersemester über und dann während der Ferien gemeinsam die Metaphysica zu lesen. Die vertiefte Beschäftigung mit den aristotelischen Texten wurde Gadamer durch »die berühmten aristotelischen Frühstücke« 348 erleichtert, die er mit anderen Zuhörern – darunter auch Walter Bröcker und Karl Löwith – nach den Veranstaltungen Heideggers machte, um das philosophische Gespräch gesellig weiterzuführen. In der Begegnung mit dem jungen Heidegger »gingen« Gadamer »die Augen auf« 349, sodass er in seinem Brief an Hermann Heidegger vom 21. August 2000 noch daran erinnert: »Es ist mir unvergeßlich, mit welcher Überraschung ich im Jahre 1923 zum ersten Male Ihrem Vater begegnete und wie mich dieses Auge gepackt hat« 350. In dem Brief vom 16. Juli 1992 schreibt Gadamer, er sehe das im SS 1923 besuchte Seminar als seine »eigentliche Einweihung« 351 an, und betont, mehr als 67 Jahre danach lerne er weiter von Martin Heidegger – wobei das Lernen überhaupt keine Wiedergabe fremder Gedanken eines Lehrers sei. Dies hatte Gadamer sehr früh von Heidegger aufgenommen. Bereits in einem Brief vom 14. Februar 1925 zu Gadamers Habilitationsarbeit hatte Heidegger nämlich hervorgehoben, dass »[d]er Fragepunkt für die Beurteilung« einer wissenschaftlichen Schrift nicht sei, ob sie mit den eigenen Meinungen ihrer Fachgutachter übereinstimme, und dass »so etwas wie Schülerschaft« oder Freundschaft »nicht im mindestens ins Gewicht falle«, da »einzig die wissenschaftliche Qualität entscheide« 352. Der Heidegger, der dies schrieb, war selbst in den Jahren 1923– 1925, als Gadamer bei ihm studierte, ein »Suchend[er]« 353. Trotzdem E, 71. PL, 212. 349 Ebd., 213; vgl. E, 72. 350 In diesem Band, 132. 351 In diesem Band, 131. 352 BG, 27 f. Vgl. Heideggers Brief an Löwith vom 23. August 1923, wo Heidegger schreibt: »Sie sollen selbständig werden – überhaupt will ich keine ›Philosophen‹ erziehen, sondern wirkliche wissenschaftliche Menschen« (BL, 103 f.). In GA 97, 442 f., merkt Heidegger an: »Der echte Lehrer trägt nicht Sätze und Regeln vor. Er läßt lernen […]. Lernen-lassen gibt frei für die Ankunft der Sache.« 353 In diesem Band, 131; vgl. auch E, 67. Heidegger hat zeit seines Lebens betont, dass 347 348
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verfolgte er bereits einen Plan, gemäß dem er schon während der Niederschrift des Natorp-Berichts »die Dinge in einem einheitlichen Stile und lückenlos vor sich« 354 hatte, und zwar so, dass – wie Gadamer in dem Brief vom 29. März 1989 an Hermann Heidegger schreibt – seine Aristoteles-Einleitung ihre Tragweite sogar nach dem vollständigen Erscheinen der früheren Freiburger und der Marburger Vorlesungen in der Gesamtausgabe nicht verloren hat. 355 Die Aneignung der heideggerschen Interpretationen zu Aristoteles trieb Gadamer dazu, seinen eigenen, unabhängigen Weg einzuschlagen. In dem Brief an Hermann Heidegger vom 16. Juli 1992 gibt er bereits zu, dass er schon im WS 1924/25 bei der Vorlesung Platon: Sophistes versucht hat, »die Gewichte zu verschieben« 356. An seine Lernerfahrung erinnernd, verweist Gadamer dann auf die »hermeneutische Wende« der Phänomenologie, die er vollzogen habe, und bemerkt, sie mache deutlich, dass er »am Ende mehr als Ihr Vater der Phronesis und weniger der Sophia gefolgt« sei. »Und doch war das gerade auch eine der Möglichkeiten, mit der fruchtbares Denken andere freigibt.« 357 Durch dieses »sinnschaffende« Denken ist Gadamer nach dem Fund des Aristoteles-Manuskripts und der Veröffentlichung der Vorlesung des WS 1924/25 im Rahmen der Gesamtausgabe von diesen Texten her nochmals angesprochen worden. Mit allem, was es geerbt hat, wendet sich ein solches Denken an jeden Leser, damit er sich die in ihm bewahrten Schätze der Überlieferung zu eigen macht und sie dadurch zu neuem Leben erwachen lässt. Denn »[m]an wird förmlich jung dabei« – schreibt Gadamer in seinem Brief an Hermann Heidegger vom 29. März 1989 –, »indem man gleichzeitig bedauert, nicht mehr jung genug zu sein« 358.
es zwischen Schülern und Lehrern eine Wechselbeziehung gibt. Vgl. dazu GA 97, 230, 308, 362, 463, 471, 510. 354 In diesem Band, 129. 355 Vgl. E, 67; Neumann: Nachwort des Herausgebers. A. a. O., 448. 356 In diesem Band, 131. 357 Ibidem. Gadamers Abweichen von Heideggers Auslegung der Phronesis in der »Sophistes-Vorlesung« wird erläutert in N, 67. Vgl. E, 71, 73 f. 358 In diesem Band, 130.
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[1] PHILOSOPHISCHES SEMINAR DER UNIVERSITÄT · MARSILIUSPLATZ 1 · 6900 HEIDELBERG 1 Prof. Dr. Hans-Georg Gadamer
29. März 1989
Verehrter Herr Heidegger, heute morgen bekam ich das Manuskript 359. Das ist ja wirklich ein unglaublicher Glücksfall! Sozusagen als Auftakt zu den philosophischen Tagungen des Jahres, läßt sich nun der Wunsch Ihres Vaters erfüllen, eine ganz wichtige Lücke zu schließen, die in der Verzögerung der Marburger Sophistes-Vorlesung 360 ja leider noch klafft. Das Manuskript belehrt mich, daß das aus dem Nachlaß aufgefundene ehedem noch 7 Seiten mehr enthielt. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, muß das an Natorp gegangene Papier 7 Seiten mehr enthalten haben. 361 Was sich daran anschließt, das Aristoteles-Manuskript selbst, habe ich bestimmt noch nie gesehen. 362 Das hat Heidegger offenbar 359 Es geht um das Manuskript des Textes Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), das Husserl 1922 nach Göttingen an Georg Misch gesandt hatte, der es seinerseits 1964 seinem Schüler Josef König schenkte, in dessen Nachlass die Schrift Heideggers wiederaufgefunden wurde. Sie ist dann erst im Dilthey-Jahrbuch. 6 (1989) veröffentlicht worden (235–274). 360 Die Vorlesung vom WS 1924/25, in der Heidegger einen »einleitenden Teil« Aristoteles (der Ethica Nicomachea, Ζ und Κ, Kapitel 6–8, und der Metaphysica, Α, Kapitel 1–2) widmet und sich dann auf Platons Dialog Sophistes konzentriert. 361 Das an Misch gesandte Manuskript enthielt ca. sieben Seiten mehr als dasjenige, das Gadamer von Natorp bekam und las. Gadamer kannte nur den ersten Abschnitt, die Anzeige der hermeneutischen Situation, da Natorp ihm wohl den übrigen Entwurf der heideggerschen Auslegungen zu Aristoteles vorenthalten hatte (vgl. E, 68 f.; HS, 18 f.; HG, 33). Das sich im Besitz von Gadamer befindende Manuskript ging während des Krieges (1943) in Leipzig verloren. Für die im Bd. 62 der Gesamtausgabe veröffentlichte Schrift diente das bei Heidegger verbliebene Typoskript zur Textgrundlage, das allerdings durch die »Misch-Version« ergänzt wurde (vgl. Neumann: Nachwort des Herausgebers. A. a. O., 446 f.). Die »Aufzeichnungen und Entwürfe«, die als »Beilagen« in GA 62, 401–411 veröffentlicht sind, sind weder im »Misch-« noch im »Natorp-Exemplar« enthalten. 362 Es handelt sich um das Werk Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, das im 7. und 8. Band des von Husserl herausgegebenen »Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung« ab 1924 im Verlag von Max Niemeyer in Halle veröffentlicht werden sollte (vgl. den Brief Husserls an Roman Ingarden vom 14. De-
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nicht an Natorp mitgeschickt. Das wird mir freilich auf andere Weise keine besonderen Überraschungen bereiten, da das Thema mein erstes Seminar bei Ihrem Vater in Freiburg behandelte und gewiß auch die erste Hälfte der Sophistes-Vorlesung, die ich selber gehört habe, ebenfalls. Aber es ist doch noch etwas anderes, die Dinge in einem einheitlichen Stile und lückenlos vor sich zu haben. Ich werde gern den Wunsch von Herrn Rodi und Lessing erfüllen und eine Einführung schreiben. 363 Vorausgesetzt natürlich, daß Sie Ihre Zustimmung zu dem Vorabdruck geben. Dazu möchte ich aber sehr raten. Es gilt nicht nur den Finder zu ehren, sondern auch in diesem Heidegger-Jahr 364 ein weiteres Glanzstück seines jugendlichen Genies vorzulegen, an das wir nicht einmal im Traume denken konnten, daß wir es so schnell haben werden.
[2] Für die Gesamtausgabe kann der Vorabdruck auch nur erwünscht sein, und nicht nur wegen des Zeitpunkts. Das Bruchstück ist jetzt ein Ganzes, ja sogar durch das Aristoteles-Kapitel selbst bereichert. Die Gesamtausgabe selber kann darüber nur glücklich sein. Freilich wartet für Herrn von Herrmann 365 daraus noch immer eine schwierige Aufgabe, die nicht im Handumdrehen zu erledigen ist: die Entzifferung und Redaktion der auf den ersten 22 Seiten eingetragenen Handnotizen. Ich habe mich gestern mit Hilfe der Lupe nochmals mit diesen Notizen beschäftigt, und sie sind von allererster Bedeutung –
zember 1922, in: Husserl: Briefwechsel. A. a. O., Bd. III: Die Göttinger Schule, 217; E, 69). 363 Frithjof Rodi (der Herausgeber des Dilthey-Jahrbuchs. 6 [1989]) und Hans-Ulrich Lessing (der Herausgeber des in dieser Zeitschrift veröffentlichten heideggerschen Manuskriptes) hatten Gadamer eingeladen, die Schrift Heideggers einzuleiten. Aus diesem Anlass schrieb Gadamer die Einführung Heideggers »theologische« Jugendschrift, erschienen im Dilthey-Jahrbuch. 6 (1989), 228–234. 364 In das Jahr 1989 fiel der 100. Geburtstag Martin Heideggers, der am 26. 09. 1889 geboren wurde. 365 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Privatassistent Martin Heideggers von 1972 bis 1976 und von Heidegger eingesetzter philosophischer Koordinator von dessen Gesamtausgabe.
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soweit ich sie entziffern konnte. 366 Dadurch wird die Gesamtausgabe einen weiteren Vorsprung behalten, zumal, wenn Herr von Herrmann selbst so gute und gründliche Arbeit leistet, wie er offenkundig in den Beiträgen 367 getan hat. Ich las jetzt erst seinen Meßkircher Vortrag und freute mich sehr, daß dieser Vortrag vielen Lesern das Studium der Beiträge erleichtern wird. Man darf doch wohl annehmen, daß dieses Vortragsmanuskript bereits im Druck ist oder mindestens in diesem Jahre erscheint – vielleicht als Jahresgabe der Gesellschaft? 368 Kurz, ich fühle mich sehr belebt und wünschte mir nur das Unmögliche, nochmals als ein erster Leser den Neuerscheinungen dieses Jahres aus Heideggers Hand begegnen zu können. Man wird förmlich jung dabei, indem man gleichzeitig bedauert, nicht mehr jung genug zu sein. Mit herzlichem Dank und Gruß HGG. Herrn von Herrmann zur gleichzeitigen Kenntnisnahme HGG
366 Das im Dilthey-Jahrbuch veröffentlichte Manuskript enthält, ebenso wie das Typoskript Heideggers, mehrere Eintragungen verschiedener Natur, die im Laufe der Zeit hinzugefügt wurden und dem Weiterdenken Heideggers entsprechen, das wahrscheinlich auch dadurch veranlasst wurde, dass die Fertigstellung der an Misch und Natorp zu sendenden Versionen dringlich gewesen war (vgl. Neumann: Nachwort des Herausgebers. A. a. O. 446–448). Die Randnotizen in Heideggers Manuskripten sind im Bd. 62 der Heidegger-Gesamtausgabe als Fußnoten wiedergegeben. 367 Der Bd. 65 der Gesamtausgabe, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), wurde 1989 veröffentlicht und von Friedrich-Wilhelm von Herrmann herausgegeben. 368 Der hier erwähnte Vortrag mit dem Titel Von »Sein und Zeit« zum »Ereignis« wurde von Friedrich-Wilhelm von Herrmann aus Anlass von Heideggers 100. Geburtstag in Meßkirch gehalten und dann als erster Text des Werkes Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie« (Klostermann: Frankfurt am Main 1994, 5–26) veröffentlicht.
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PHILOSOPHISCHES SEMINAR DER UNIVERSITÄT · MARSILIUSPLATZ 1 · 6900 HEIDELBERG 1 Prof. Dr. Hans-Georg Gadamer
16. Juli 1992
Verehrter, lieber Herr Hermann Heidegger, jeder Band der neuen Heidegger-Ausgabe ist für mich eine Freude, aber meistens auch eine Überforderung. Wer wie ich ein Leben lang von Ihrem Vater zu lernen versucht hat, kann nicht mehr allzuviel Mut haben, daß er jetzt noch zu lernen vermag. Aber der neueste Band über den Sophistes 369 ist ja irgendwie auch der älteste. Es ist genau 67 Jahre her, daß ich diese Vorlesung gehört habe, die sich freilich an ein Seminar anschloß, das ich 1923 in Freiburg als meine eigentliche Einweihung ansehe. Dieser lang erwartete Text der zweiten Marburger Vorlesung zeigt Ihren Vater noch ganz als den Suchenden und umso mehr als den, der zu hören verstand und zum Sprechen zu bringen wußte. Jetzt im Rückblick erkenne ich deutlicher denn je, wie ich als der Lernende zugleich die Gewichte zu verschieben versucht habe. Im 10. Band meiner Ausgabe wird der wichtigste Abschnitt »Heidegger im Rückblick« von einem Abschnitt »Die hermeneutische Wende« gefolgt sein. 370 Das wird deutlicher machen, daß ich am Ende mehr als Ihr Vater der Phronesis und weniger der Sophia gefolgt bin. Und doch war das gerade auch eine der Möglichkeiten, mit der fruchtbares Denken andere freigibt. So danke ich diesmal mit besonderem Akzent, daß ich nochmals ins Gespräch mit Martin Heidegger eingeladen werde. Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Ihr HGGadamer
369 Gadamer bezieht sich hier auf das Erscheinen der Vorlesung Heideggers vom WS 1924/25 als Bd. 19 der Gesamtausgabe im Jahre 1992, herausgegeben von Ingeborg Schüßler. Eine zweite Auflage dieses Bandes folgte 2018. 370 Heidegger im Rückblick und Die hermeneutische Wende sind die Titel des ersten und des zweiten Teils des 10. Bandes der Gesammelten Werke Gadamers, betitelt mit Hermeneutik im Rückblick und erschienen erst im Jahre 1995 beim Verlag Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen.
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UNIVERSITÄT HEIDELBERG PHILOSOPHISCHES SEMINAR
69117 HEIDELBERG, Schulgasse 6 Tel.: (0 62 21) 54 22 84; Fax: 54 22 78
Prof. Dr. Hans-Georg Gadamer
21. August 2000
Verehrter Herr Hermann Heidegger, in dem gewaltigen Rummel der Festestage behält man natürlich immer das Gefühl, seine Freunde kaum finden zu können. So hätte ich die Gelegenheit wahrlich rechtzeitig nutzen sollen, als soeben der neue Band von Klostermann eintraf. 371 Das ist doch etwas ganz Neues. Ich habe den gewaltigen Umfang der literarischen Hinterlassenschaft Ihres Vaters nicht ganz ohne Sorge verfolgt. Ihr Vater war eine so lebendige Wirklichkeit für alle seine Schüler, daß das Gewicht dieses Nachlasses kaum noch zu tragen ist. Der neue Band ist nun ganz etwas anderes, da schaut man beinahe auf den Schreibtisch, da sieht man die enorme Energie, mit der Martin Heidegger die Sprache der Dichtung und des lebendigen Wortes bearbeitet hat. Das ist ein Band, den man nicht lesen kann, sondern aus dem man nur lernen kann und der einem ein Vorbild sein muß, wie viel Arbeit dazu gehört, die eigenen Gedanken in lebendigen Worten festzuhalten. Es will mir kaum in den Kopf, daß auch sie inzwischen durch Alter und Präsenz mir abermals in die Nähe gerückt ist. Wir werden das Vorbild solcher Arbeitsleistung wahrlich nie ganz erreichen können. Es ist mir unvergeßlich, mit welcher Überraschung ich im Jahre 1923 zum ersten Male Ihrem Vater begegnete und wie mich dieses Auge gepackt hat, das förmlich eine ganze Welt der Phantasie ausstrahlte. Doch ich will nicht länger meine ganz persönlichen Bezüge verfolgen und statt dessen meiner allgemeinen Dankbarkeit
371 Gadamer spielt auf den Band 75 der Gesamtausgabe an, Zu Hölderlin. Griechenlandreisen, erschienen im Jahr 2000 und herausgegeben von Curd Ochwadt.
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Ausdruck geben, wie Sie das Erbe Ihres großen Vaters in Treue verwalten. Und Grüße von Haus zu Haus Ihr HGGadamer
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Danksagung
Das vorliegende Buch konnte nur aufgrund eines langjährigen »hermeneutischen Gesprächs« zustande kommen. Eine herausragende Bedeutung kam dabei dem am 17. Juni 2021 verstorbenen Prof. Dr. István M. Fehér zu, dem ich wichtige methodische und inhaltliche Vorschläge verdanke: Ihm und Prof. Dr. Csaba Olay, mit dem ich einige Aspekte der Hermeneutik Gadamers diskutiert habe, gilt mein vorzüglichster Dank. Prof. Dr. Christoph Jamme, der ebenfalls noch vor dem Erscheinen dieses Buches am 2. Mai 2021 verstorben ist, bin ich dankbar für die Unterstützung und das Vorwort zu meiner Schrift. Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann danke ich herzlich für die Erläuterung einiger Aspekte der Freiburger Vorlesungen Heideggers und für die Hilfe bei der Kontextualisierung der im Anhang veröffentlichten Briefe von Hans-Georg Gadamer an Hermann Heidegger. Bei Prof. Dr. Günther Neumann bedanke ich mich für wertvolle bibliografische Hinweise und die Klärung einiger Aspekte von Heideggers Auslegung des Aristoteles. Herrn Dietmar Koch und Prof.in Dr. Giuliana Gregorio gebührt mein Dank für die ständige Begleitung meiner Forschung im Bereich der Hermeneutik und der Phänomenologie. Prof. Dr. Hans-Christian Günther verdanke ich den Anlass zur Niederschrift dieser Arbeit sowie die Erörterung einiger Fragen der griechischen Philosophie. Die Professoren Enrico Giannetto, Stefano Marino, Francesco Cattaneo und Pierfrancesco Stagi danke ich für die Diskussion von bestimmten Themen der gegenwärtigen Ethik und deren Verbindung mit dem Denken Aristoteles’, Heideggers und Gadamers. Dr.in Julia Pfefferkorn habe ich für die kritischen Bemerkungen zur Rezeption des griechischen Denkens bei Heidegger zu danken. Frau Andrea Gadamer schulde ich herzlichen Dank für die Genehmigung zur Veröffentlichung des Textes der Briefe Gadamers an Hermann Heidegger. Ich möchte mich auch bei Herrn Arnulf Heidegger für sein Interesse und sein Vertrauen bedanken. Außerdem gilt 135
Danksagung
mein Dank dem Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N., das mir während eines Forschungsaufenthaltes im Februar 2020 die Originale der Briefe zur Verfügung gestellt hat. Dank schulde ich weiterhin Prof. Dr. Harald Seubert für seine Vermittlung beim Verlag Karl Alber und Herrn Dr. Martin Hähnel für seine Bereitschaft, den Band in die Reihe »Philosophie« aufzunehmen. Nicht zuletzt muss ich Herrn Udo Richter für das sorgfältige Lektorat danken. Und schließlich werde ich meiner Familie für ihre vielfältige Förderung immer sehr dankbar sein.
136
Literaturverzeichnis
1.
Primärliteratur
Aristoteles Die Werke des Aristoteles werden unter Angabe der Buch-, Kapitel-, Spaltenund Zeilenzahl zitiert. Die dabei verwendeten Abkürzungen sind die folgenden: An. post. = De an. = De int. = Eth. Nic. = Met. = Poet. = Pol. = Rhet. = Top. =
Analytica posteriora De anima De interpretatione Ethica Nicomachea Metaphysica Poetica Politica Rhetorica Topica
Als Bezugstexte werden die innerhalb der kritischen Ausgabe der Reihe Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana (Teubner Verlagsgesellschaft: Leipzig 1849–1999; Saur: München 2000–2005; Walter De Gruyter: Berlin u. New York 2006 ff.) erschienenen ausgewählt. Sie werden mit den Ausgaben verglichen, auf die sich Heidegger und Gadamer berufen, und zwar: Aristotelis Opera ex recensione Immanuelis Bekkeri edidit Academia Regia Borussica. Georg Reimer: Berlin 1831–1870 Aristoteles’ Werke in der Reihe: Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis. Oxford University Press: Oxford 1894 ff. Die Zählung der Kapitel der Ethica Nicomachea erfolgt nach der Ausgabe: Aristotelis Opera graece et latine, cum indice nominum et rerum absolutissimo. Hrsg. von Firmin Didot. Paris 1848–1874
137
Literaturverzeichnis
Außerdem werden die folgenden Ausgaben mitberücksichtigt: Aristoteles: Nikomachische Ethik VI. Hrsg. und übers. von Hans-Georg Gadamer. Klostermann: Frankfurt am Main 1998 Aristote: L’Éthique à Nicomaque. Introdution, traduction et commentaire par René A. Gauthier et Jean Y. Jolif. 3 Bde. Nauwelaerts: Louvain u. Paris 1958/59 (1. Aufl.), 1970 (2. Aufl.)
Hans-Georg Gadamer Die Werke Gadamers werden nach den bei Mohr (Paul Siebeck) (Tübingen 1985 ff.) erschienen Gesammelten Werken (= GW) mit Band- und Seitenzahl zitiert. Die einzelnen darin enthaltenen Aufsätze und die nicht in den Gesammelten Werken erschienenen Texte werden nach den folgenden Siglen zitiert: GW 1
= Hermeneutik I: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 72010
GW 2
= Hermeneutik II: Wahrheit und Methode: Ergänzungen, Register, 21993, darin enthalten: PD = Zwischen Phänomenologie und Dialektik – Versuch einer Selbstkritik, 3–23 PG = Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie, 27–36 NSD = Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, 66–76 H = Klassische und philosophische Hermeneutik, 92–117 PZ = Über die Planung der Zukunft, 155–173 SH = Semantik und Hermeneutik, 174–183 UH = Die Universalität des hermeneutischen Problems, 219–231 REI = Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik, 251–275 HA = Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe, 301–318 PpV = Probleme der praktischen Vernunft, 319–329 TI = Text und Interpretation, 330–360 DD = Destruktion und Dekonstruktion, 361–372 HH = Hermeneutik und Historismus, 387–424 VzA = Vorwort zur 2. Auflage, 437–448 NdA = Nachwort zur 3. Auflage, 449–478 S = Selbstdarstellung. Hans-Georg Gadamer, 479–508
GW 3
= Neuere Philosophie I: Hegel – Husserl – Heidegger, 1987, darin enthalten: HL = Die Idee der Hegelschen Logik, 65–86 PB = Die phänomenologische Bewegung, 105–146 WL = Die Wissenschaft von der Lebenswelt, 147–159
138
Literaturverzeichnis
ExE MT HJ GP EE RA
= = = = = =
Existentialismus und Existenzphilosophie, 175–185 Die Marburger Theologie, 197–208 Martin Heidegger – 85 Jahre, 262–270 Die Geschichte der Philosophie, 297–307 Ethos und Ethik, 350–374 Auf dem Rückgang zum Anfang, 394–416
GW 4
= Neuere Philosophie II: Probleme, Gestalten, 1987, darin enthalten: GzJ = Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts, 3–22 AN = Das Alte und das Neue, 154–160 MpE = Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, 175–188 WP = Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft, 216–228 (abgedruckt auch in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Suhrkamp: Frankfurt am Main 31991, 54–77) TTP = Theorie, Technik, Praxis, 243–266 (abgedruckt auch in: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Aufsätze und Vorträge. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1993, 11–49) AH = Apologie der Heilkunst, 267–275 (abgedruckt auch in: Über die Verborgenheit der Gesundheit. A. a. O., 50– 64)
GW 5
= Griechische Philosophie I, 1985, darin enthalten: PdE = Platos dialektische Ethik. Phänomenologische Interpretationen zum Philebos, 3–163 (aus dem Vorwort zur ersten Auflage [1931], 158 f.; aus dem Vorwort zur zweiten Auflage [1967], 159 f.; aus dem Vorwort zum Neudruck der ersten Auflage [1982], 160–163) PeE = Der aristotelische »Protreptikos« und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der aristotelischen Ethik, 164–186 PW = Praktisches Wissen, 230–248
GW 6
= Griechische Philosophie II, 1985, darin enthalten: AE = Zur aristotelischen Ethik, 302–306
GW 7
= Griechische Philosophie III: Plato im Dialog, 1991, darin enthalten: PEW = »Platos dialektische Ethik« – beim Wort genommen, 121–127 IG = Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, 128–227 SA = Die sokratische Frage und Aristoteles, 373–380 AiE = Aristoteles und die imperativische Ethik, 381–395
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= Freundschaft und Selbsterkenntnis. Zur Rolle der Freundschaft in der griechischen Ethik, 396–406
= Ästhetik und Poetik I: Kunst als Aussage, 1993, darin enthalten: AS = Die Aktualität des Schönen, 94–142 RW = Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft, 156–162 MV = Mythos und Vernunft, 163–169 ML = Mythos und Logos, 170–173 EK = Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Anti-Kunst von heute, 206–220 VS = Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt, 339–349 GS = Grenzen der Sprache, 350–361 WB = Wort und Bild – »so wahr, so seiend«, 373–399 RS = Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, 400– 440
GW 10 = Hermeneutik im Rückblick, 1995, darin enthalten: EH = Erinnerungen an Heideggers Anfänge, 3–13 HS = Heidegger und die Sprache, 14–30 HG = Heidegger und die Griechen, 31–45 HoD = Hermeneutik und ontologische Differenz, 58–70 KW = Die Kehre des Weges, 71–75 FED = Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus, 125–137 DH = Dekonstruktion und Hermeneutik, 138–147 WG = Vom Wandel in den Geisteswissenschaften, 179–184 HD = Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule, 185–205 BzW = Bürger zweier Welten, 225–237 IpP = Die Idee der praktischen Philosophie, 238–246 SD = Mit der Sprache denken, 346–353 BH
= Sechs Briefe an Martin Heidegger aus der Marburger Zeit. Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft. Meßkirch 1999
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= L’ultimo Dio. Un dialogo filosofico con Riccardo Dottori. Meltemi: Roma 2002
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3.
Abkürzungs- und Siglenverzeichnis
Platon Die Werke Platons werden unter Angabe der Spaltenzahl zitiert. Die dabei verwendeten Abkürzungen sind die folgenden: Prot. Res publ. Theait.
= Protagoras = Res publica (Politeia) = Theaitetos
Als Bezugstexte werden die innerhalb der kritischen Ausgabe der Reihe Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana erschienenen ausgewählt.
Marcus Tullius Cicero Die Werke Ciceros werden unter Angabe der Buch- Kapitel- und Zeilenzahl zitiert. Die dabei verwendeten Abkürzungen sind die folgenden: De inv. = Rhetorici libri duo qui vocantur De inventione De nat. deor. = De natura deorum
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Literaturverzeichnis
Als Bezugstexte werden die innerhalb der folgenden kritischen Ausgabe erschienenen ausgewählt: Cicero: Opera philosophica. Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana. Hrsg. von Carl Friedrich Wilhelm Müller. Teubner Verlagsgesellschaft: Leipzig 1898.
Immanuel Kant Die Werke Kants werden nach den bei Suhrkamp (Frankfurt am Main 1968 ff.) erschienen Gesammelten Werken, hrsg. von Wilhelm Weischedel (= KW), mit Band- und Seitenzahl zitiert. Die dabei verwendeten Abkürzungen sind die folgenden: KW 3
= Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787), 1974, darin enthalten: Vorrede zur zweiten Auflage, B VII–XLIV, 20–42 KW 6 = Schriften zur Metaphysik und Logik 2, 1977, darin enthalten: Logik, 417–582 KW 7 = Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2000, darin enthalten: Kritik der praktischen Vernunft, 107–302 KW 11 = Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, 1977, darin enthalten: Zum ewigen Frieden, 195–251
Andere Autoren R1
R2
154
= Riedel, Manfred (Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Bd. 1: Geschichte, Probleme, Aufgaben. Rombach: Freiburg 1972 = Riedel, Manfred (Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Bd. 2: Rezeption, Argumentation, Diskussion. Rombach: Freiburg 1974
Personenregister*
Ackrill, John L. 62 Adorno, Theodor W. 23, 111 Anders, Günther 102 Apel, Karl-Otto 21, 100 Arendt, Hannah 14 f., 17, 22 f., 24, 26, 54, 110 f., 123, 124 Aubenque, Pierre 42, 86 Auerochs, Bernd 114 Augustinus von Hippo 36 Beck, Sabine 108 Becker, Oskar 125 Bergson, Henri 118 Bernasconi, Robert 58 Bernstein, Richard 105 Berti, Enrico 48, 51, 83, 100 Bien, Günther 47, 93 Bonazzi, Mario 72 Brandt, Horst D. 42 Breitling, Andris 119 Brentano, Franz 31, 37, 38. Brisart, Robert 60 Brogan, Walter 36 Bröcker, Walter 25, 126 Buber, Martin 54 Bultmann, Rudolf 99 Buren, John van 37 Camera, Francesco 99 Caputo, Annalisa 36, 118 Caputo, John 34 Cattaneo, Francesco 73, 80, 135 Cicero 83 Cimino, Antonio 97
Colombo, Raffaella 72 Courtine, Jean-François 42, 50, 55, 65 Culcsár-Szabó, Ernő 75 Denker, Alfred 55, 64 f., 67, 96 Derrida, Jacques 117 f. Descartes, René 22, 35 Di Cesare, Donatella 73 Di Giovanni, Piero 37, 100 Dilthey, Wilhelm 32, 33, 37, 75 Dostojewskij, Fjodor M. 32, 71 Dottori, Riccardo 78, 83, 117 Eisler, Rudolf 108 Elm, Ralf 46, 52, 63, 108, 113, 116 Engels, Friedrich 21 Esposito, Cosantino 108 Etzrodt, Christian 24 Fahrenbach, Helmut 20, 21 Fédier, François 60 Fehér, István M. 34, 54, 75 f., 78, 80, 89, 93, 97, 135 Figal, Günther 35, 54 f., 64 f., 67, 76, 78, 96, 114 Fisher, David H. 84 Forget, Philippe 118 France-Lanord, Hadrien 54 Friedländer, Paul 72 Gadamer, Andrea 135 Gander, Hans-Helmuth 76 Ganter, Martin 83
* Die kursiven Seitenzahlen beziehen sich auf die Anmerkungen.
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Personenregister Gastaldi, Silvia 44 Gauthier, René A. 86, 91 Geiger, Moritz 123 Geisen, Thomas 22 Gentili, Carlo 73, 80 Gessmann, Martin 118 Gethmann, Carl F. 60 Gethmann-Siefert, Annemarie 125 Giannetto, Enrico 135 Gillespie, Michael A. 57 Giordani, Alessandro 58 Goethe, Johann Wolfgang von 7 Gregorio, Giuliana 72, 135 Greisch, Jean 118 Grondin, Jean 74 f., 89 Gutschke, Thomas 18, 26, 35 Günther, Hans-Christian 73, 113, 135 Haar, Michel 42 Habermas, Jürgen 74, 100, 103, 106, 117 Harnack, Adolf von 37 Hartmann, Nicolai 124 Hähnel, Martin 136 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 20, 32, 34, 73, 79 f., 88, 93, 100, 118 Heidegger, Arnulf 135 Heidegger, Hermann 121, 123, 126– 128, 131 f., 135 Heller, Ágnes 115 Hennis, Wilhelm 19 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 24, 33, 50, 129 f., 135 Hirsch, Emanuel 54 Hoerster, Norbert 21 Horkheimer, Max 23, 111 Hosokawa, Ryioichi 50 Höffe, Otfried 62 Hölderlin, Friedrich 49 Höppner, Christian 109 Husserl, Edmund 24, 31 f., 37, 51, 71, 104, 107 f., 124 f., 128 f. Ilting, Karl-Heinz 18 Inciarte, Fernando 20, 21, 47 Ingarden, Roman 128
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Jacob, Samuel 103 Jaeger, Werner 37, 72, 124 Jamme, Christoph 93, 135 Jaspers, Karl 125 Jolif, Jean Y. 91 Jonas, Hans 14, 26, 118, 123, 124 Juchler, Ingo 116 Kant, Immanuel 18–20, 22, 49, 57, 59, 77, 82, 89, 100, 102, 104, 108, 118, 125 Keane, Niall 93 Kettering, Emil 124 Kielmansegg, Peter G. 124 Kierkegaard, Søren 32, 42, 54, 71, 80 Kisiel, Theodore J. 37 Koch, Dietmar 135 Kontos, Pavlos 60 König, Josef 128 Krajewski, Bruce 106 Kuhn, Helmut 20 f. Kühn, Rolf 57 Lackmann, Jürgen 116 Landshut, Siegfried 19 Langella, Simona 99 Langsdorf, Lenore 34 Lawn, Chris 93, 108 Le Moli, Andrea 72 Lenk, Hans 24 Lessing, Gotthold E. 71 Lessing, Hans-Ulrich 129 Lévinas, Emmanuel 54 Litt, Theodor 93 Lo Casto, Claudia 38 Lőrincz, Csongor 75 Löwith, Karl 54, 124 f., 126 Ludz, Ursula 110 Lutz, Bernd 124 Maier, Hans 19 Marafioti, Rosa M. 31, 49, 73, 76, 88, 98 Marassi, Massimo 50 Marcuse, Herbert 111 Marino, Stefano 73 f., 80, 98, 101, 135
Personenregister Marx, Karl 20, 21 f. Massa, Manuela 60 Mattioli, Emilio 50 Meier, Heinrich 124 Melchiorre, Virgilio 48 Messori, Rita 50 Michalski, Mark 36 Michel, Karl M. 34 Minca, Bogdan 65 Misch, Georg 124, 128, 130 Mittelstraß, Jünger 125 Moldenhauer, Eva 34 Molnár, Gábor T. 75 Mootz III, Francis J. 84 Mora, Francesco 65 Natorp, Paul 38, 71, 123 f., 125, 128 f., 130 Neske, Günther 124 Neugebauer, Klaus 67 Neumann, Günther 37 f., 57, 60, 65, 113, 127 f., 130, 135 Nidasio, Ilaria 99 Niemeyer, Max 128 Nietzsche, Friedrich 32, 91, 108 Noveanu, Alina 72 Oberndörfer, Dieter 19 Ochwadt, Curd 132 Oelmüller, Willi 21 Olay, Csaba 76, 78, 114, 135 Orth, Stefan 119 Paulus von Tarsus 36, 42, 53, 84 Peetz, Siegbart 116 Perrin, Christophe 124 Pfefferkorn, Julia 72, 135 Platon 14 f., 35, 38, 44, 49, 50, 56, 67, 71–73, 86, 128 Popper, Karl 118 Regina, Umberto 41 Reibenschuh, Gernot 19 Rendtorff, Trutz 37 Rese, Friederike 46, 55, 78 Richter, Udo 136 Rickert, Heinrich 22, 32
Ricœur, Paul 74, 84, 118, 119 Riedel, Manfred 13, 17, 18, 21 f., 25, 26, 84, 90, 110 Rilke, Rainer M. 17 Ritter, Joachim 17, 19, 21, 22, 24, 26, 46, 100 Rodi, Frithjof 129 Rorty, Richard 106 Ruoppo, Anna P. 67 Schaaff, Birgit 119 Schadewaldt, Wolfgang 85 Scharff, Robert C. 33 Scheler, Max 102 Schleiermacher, Friedrich 32 Schlier, Heinrich 124 Schmidt, Alfred 23 Schnädelbach, Herbert 100 Schneider, Ulrich J. 42 Schuhmann, Elisabeth 124 Schuhmann, Karl 124 Schüßler, Ingeborg 50, 67, 113, 131 Seubert, Harald 136 Silesius, Angelus 31 Sinai, Nicolai 42 Sokrates 47 Spinelli, Antonino 72 Stagi, Pierfrancesco 37, 135 Stearns, Thomas 91 Stegmaier, Werner 108 Sternberger, Dolf 19 Strauss, Bruno 125 Strauss, Leo 26, 124 Szilasi, Wilhelm 25 Taminiaux, Jacques 42 Taylor, George H. 84 Tiedemann, Rolf 23 Tordesillas, Alonso 21 Troeltsch, Ernst 37 Tsai, Wei-Ding 106 Tugendhat, Ernst 74 Twain, Mark 110 Ulmer, Karl 25
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Personenregister Vaccarezza, Maria S. 99 Vattimo, Gianni 57 Vegetti, Mario 62 Vigo, Alejandro G. 45 Voegelin, Eric 19 Volpi, Franco 18, 21, 36 f., 48, 51, 55, 57 f., 64 f., 67, 78, 96, 100, 110, 117 Wallach, John R. 21 Wang, Hongjian 84
158
Weber, Max 23, 93, 124 Weiland, René 21 Weiß, Helene 25 Welsch, Wolfgang 109 Wieland, Wolfgang 99 Winckelmann, Johannes 23 Wiplinger, Fridolin 25 Wittgenstein, Ludwig 108 Zaborowski, Holger 55, 64 f., 67, 96