Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik [Reprint 2011 ed.] 9783110935202, 9783484701502

The study takes up the recent Heidegger controversy which has been set off by Victor Farias' book »Heidegger et le

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German Pages 112 [116] Year 1989

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Table of contents :
Vorwort
I. Zur jüngsten Heidegger-Kontroverse
II. Die Rektoratsrede von 1933
III. Heideggers metaphysikkritischer Ansatz und die Grundzüge seiner Kritik am Nationalsozialismus
IV. Heideggers Nietzsche-Lektüre: Kritik der Weltanschauungen und Nihilismusbegriff
V. Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik in den »Beiträgen zur Philosophie« und in der Spätphilosophie
VI. Heidegger und die Tradition der anderen Aufklärung. Heideggers Schweigen
Register
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Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik [Reprint 2011 ed.]
 9783110935202, 9783484701502

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Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik

Silvio Vietta

Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und der Technik

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989

CIP-Titelaufnahme

der Deutschen Bibliothek

Vietta, Silvio: Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik / Silvio Vietta. - Tübingen : Niemeyer, 1989 ISBN 3-484-70150-1

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort

Ich möchte diesem Büchlein zu Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik ein Wort des Dankes vorwegschicken. Ich danke Herrn Professor Dr. Hans-Georg Gadamer. Er hat eine frühe Textstufe dieser Arbeit gesehen und mich ermuntert, den Gedankengang, der sich da zeigte, herauszuarbeiten. Für seine Anregungen und Hinweise mein Dank. Ich danke Herrn Dr. Hermann Heidegger, der mir bereitwillig handschriftliche Texte Heideggers im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach zugänglich machte. So war es möglich, die Entwicklung von Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und über diesen hinaus an der modernen Technik zumindest an einigen genau zu ortenden Textstufen als einen Denkweg kenntlich zu machen. Ich danke auch dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach, insbesondere Frau Dr. Brigitte Schillbach und Herrn Dr. Joachim Storck für freundliche Hilfe bei der Arbeit. Professor Dr. Klaus von Beyme und Professor Dr. Hartmut Melenk kannten eine frühere Stufe des Manuskripts und haben mir durch sachkundigen Rat bei der Ausarbeitung dieses philologisch-philosophischen Essays geholfen. Bad Salzdetfurth, im Juli 1989 Silvio Vietta

Inhalt

Vorwort

V

I. Zur jüngsten Heidegger-Kontroverse

1

II. Die Rektoratsrede von 1933 III. Heideggers metaphysikkritischer Ansatz und Grundzüge seiner Kritik am Nationalsozialismus

10 die 19

IV. Heideggers Nietzsche-Lektüre: Kritik der Weltanschauungen und Nihilismusbegriff

48

V. Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik in den »Beiträgen zur Philosophie« und in der Spätphilosophie

69

VI. Heidegger und die Tradition der anderen Aufklärung. Heideggers Schweigen

95

Register

104

I. Zur jüngsten Heidegger-Kontroverse

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist die öffentliche Diskussion um Heideggers nationalsozialistische Vergangenheit nicht zur Ruhe gekommen. Dabei waren es bekanntlich zunächst vor allem in Frankreich entschieden antifaschistische Widerstandskämpfer wie Jean-Paul Sartre, Rene Char, Jean Beaufret gewesen, die Heidegger - nicht reingewaschen - aber doch so in die öffentliche Diskussion zurückgeführt hatten, daß zweifelsfrei war: trotz des zeitweiligen nationalsozialistischen Engagements Heideggers gingen von seinem Werk zentrale philosophische Impulse aus, die aufgenommen, weitergedacht, allererst entdeckt werden mußten. Die politische Problematik stand so der philosophischen Rezeption Heideggers zunächst nicht nachhaltig im Wege. Auch Fran£ois Fediers Aufsatz »Trois attaques contre Heidegger«, der sich derzeit mit Guido Schneebergers und Paul Hühnerfelds politischen Dokumentationen sowie mit Theodor W. Adornos »Jargon der Eigentlichkeit« auseinandersetzte, konnte über weite Strecken und vor allem in der Auseinandersetzung mit Adorno noch philosophisch argumentieren, mußte allerdings auch Methode und Ergebnisse der politischen Dokumentationen Schneebergers kritisch überprüfen. 1 1

Frangois Fedier: Trois attaques contre Heidegger. Guido Schneeberger: Nachlese zu Heidegger. Bern 1962. Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt 1964. Paul Hühnerfeld: In Sachen Heidegger. München 1961. In: Critique. Revue generale des publications frangaises et etrangeres. N o . 234. Novembre 1966, S. 883 ff. - Die Hauptgesichtspunkte der Argumentation von Fedier hat Beda Allemann in seinem Beitrag: Martin Heidegger und die Politik (Merkur 21. Jg., Η 10, Okt. 1967, S. 962 ff.) aufgegriffen und dabei auch die an Fedier sich anschließende Debatte mitverarbeitet. Ein Hauptgesichtspunkt der Kritik Fediers vor allem an Schneeberger war der Objektivitätsanspruch seiner politischen Dokumentation, wobei Fedier nachweisen konnte, daß hier vielfach nicht nachprüfbare und auch nachträgliche Äußerungen von Personen zu Heidegger in ihrem Sachgehalt wie objektive Tatsachen behandelt wurden. Wir werden sehen, daß in der neuesten Heidegger-

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Die jüngste Kontroverse wurde bekanntlich angestoßen durch Victor Farias Buch »Heidegger und der Nationalsozialismus« und durch Hugo Otts Studie »Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie«.2 Insbesondere das Buch von Farias hatte Furore gemacht und zumindest im deutschen Sprachraum war dies auch mit einem gewissen Erstaunen wahrgenommen worden: war nicht nach den Dokumentationen von Schneeberger und Hühnerfeld das Wichtigste zum »Fall Heidegger« schon offengelegt worden? Die eminente Wirkung insbesondere von Farias' Darstellung im Ausland wurde in der deutschen Öffentlichkeit vielfach beobachtet und kommentiert: »In Frankreich brachte Farias' Darstellung den Philosophenhimmel jäh zum Einsturz. >Heil Heidegger!< raffte die linksalternative Zeitung Liberation die neue Sicht zur fetten Schlagzeile. Inzwischen hat die Diskussion über Heideggers Nazizeit und die >Tragik seines Denkens< (El Pais) die philosophischen Fakultäten in Spanien und Holland, in Italien und in der Schweiz erreicht. Uberall macht sich Ratlosigkeit breit: Soll man jetzt die Philosophie Heideggers ächten, wie linke Wissenschaftler in Spanien verlangen - oder den Denker aufspalten in den bösen Nazi >Mister Hyde< oder den guten Philosophen >Dr. JekyllMit Heidegger wird die Apokalypse denkbarin die Nähe des Nationalsozialismus< geriet, hinderte ihn daran, >jemals wieder wirklich aus dieser Nähe herauszukommen^« 1 1 Also: Heidegger - nicht der Denker, der einmal, kurzzeitig, in die Nähe des Faschismus geriet, sondern: Heidegger, der immerwährende Faschist, einer, der sich aus der Nähe des Faschismus nie befreien konnte und wollte. Wenn dieser Vorwurf, dessen Annahme Habermas selbst eher suggeriert, richtig wäre, hätte dies allerdings für die gesamte weitere Auseinandersetzung mit diesem Denker eminente Folgen. Jeder, der sich auf das Werk Heideggers seit 1929 - mit diesem Jahr setzt Habermas im Verein mit anderen Heidegger-Forschern (Winfried Franzen, Barbara Merker) einen Umbruch zum National-Sozialistisch-Weltanschaulichen im Denken Heideggers fest - einließe, begäbe sich auf ein Terrain, das geistig hochvergiftet ist, auf faschistisches oder zumindest dem Faschismus >nahes< Denkgelände. Ein vernünftiger Mensch könnte sich auf derart vergiftetes Terrain eigentlich nur mit Meßinstrumenten wagen, die ihm das Maß der Intoxikation anzeigen. Habermas räumt dem Heidegger vor 1929/30 Verdienste ein, insbesondere in »Sein und Zeit« sieht er eine »bahnbrechende Leistung«. Sie bestehe darin, »daß Heidegger einen entscheidenden argumentativen Schritt zur Uberwindung des bewußtseinsphilosophischen Ansatzes tut.« 1 2 Aber wenn sein Vorwurf richtig ist, dann 11

Habermas (Anm. 6) S. 22 f. - Habermas bezieht sich hier auf Otto Pöggelers Buch Der Denkweg Martin Heideggers, der sich in einem Nachwort zur zweiten Auflage (Pfullingen 1983) entschieden auch mit der Frage der Politik im Denken Heideggers auseinandersetzt, hier aber auch anmerkt, »daß Heidegger im Gespräch seinen politischen Irrtum von 1933 eingestand und sich entschieden von ihm distanzierte.« (S.335; dieselbe Seite, die auch Habermas zitiert).

12

Ebd., S. 16. - Habermas sieht übrigens das »kritische Moment von Sein und Zeit« noch im »individualistischen Erbe der Existenzphilosophie« wirksam (S. 21). Dieses eben habe der Heidegger nach 1929/30 liquidiert.

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ist von nun an die philosophische Auseinandersetzung mit dem Werk Heideggers seit 1929/30 grundsätzlich blockiert, denn auch das gesamte Nachkriegswerk verfiele dem Verdikt: aus der Nähe zum Faschismus nicht »jemals . . . wirklich« herausgekommen. Die Temporalbestimmung »jemals« weist ja auch weit über die Aussage hinaus, »daß sich Heidegger von seiner anfänglichen politischen Option bis zum Ende des Krieges keineswegs gelöst« habe.13 Habermas' Formulierung schließt jegliche spätere Loslösung Heideggers aus der Nähe des Nationalsozialismus aus. Nun finden sich in der Einleitung von Habermas eine Reihe von Bemerkungen, die seltsam quer zu diesem Befund stehen. Habermas führt nämlich auch aus, Heidegger habe eine »radikalere Umwertung« vorgenommen, »die die >innere Wahrheit< der nationalsozialistischen Bewegung selbst betrifft.« 14 Habermas setzt diese Distanzierung in der Zeit nach 1934 an und erläutert sie: »Während bisher die nationale Revolution mit ihren Führern an der Spitze eine Gegenbewegung zum Nihilismus darstellte, meint Heidegger nun, daß sie ein besonders charakteristischer Ausdruck, also ein bloßes Symptom jenes verhängnisvollen Geschicks der Technik sei, dem sie doch einst entgegenwirken sollte.«15 Hier liegt ein eigentümlicher, offener, nicht vermittelter Widerspruch vor: Entweder: Heidegger ist immer im Kern Nationalsozialist geblieben, nie aus der Nähe zum Nationalsozialismus abgerückt, dann kann er ihn schlecht als einen »Ausdruck« des Nihilismus begriffen haben. Oder wir folgen der zweiten, gegenläufigen Formulierung von Habermas: Eine »radikalere Umwertung« hat stattgefunden, Heidegger begreift seit 1934 ff. den Nationalsozialismus als »Ausdruck« des Nihilismus, dann wird man die erste Formulierung von Habermas nicht aufrechterhalten können, Heideggers Denken habe immer in der Nähe des Nationalsozialismus verharrt. Denn: »Gegenbewegung zum Nihilismus« und »Ausdruck« des Nihilismus sind nicht dasselbe, bedeuten geradezu eine entgegengesetzte Einstellung zum Nationalsozialismus, und wenn Habermas selbst eine Entwicklung des Heideggerschen Denkens von der Position 1 zur Position 2 konstatiert, so scheint damit seine erste Aussage: die Unterstellung Heils Ebd., S. 22. 14

Ebd., S. 26.

is Ebd., S. 26.

5

deggers gleichbleibender Nähe zum nationalsozialistischen Denken - nicht mehr haltbar. Nun hat Habermas seine Aussage über Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus operationalisiert. Er unterscheidet drei Aspekte: »a) die metaphysikhistorische Entfaltung der Vernunftkritik, b) die im wesentlichen unveränderte nationalistische Einschätzung der Deutschen als >Herz der Völker< und c) die Stellung zum Nationalsozialismus. Allein unter diesem dritten Aspekt ergibt sich jene folgenreiche Umdisposition, durch die die Konzeption der Seinsgeschichte erst ihre definitive Gestalt gewinnt.« 1 6 Nun führt Habermas im folgenden zum Punkt a) aus, daß Heidegger sich in der Auseinandersetzung mit Nietzsche als der, wie er Nietzsche nennt, »autoritativen Bezugsfigur auch der offiziellen NS-Philosophie«, erst jene Gesichtspunkte einer Entfaltung der Vernunftkritik erarbeitet habe, von der her er seine Technikkritik entfalten konnte und damit auch des »bürokratisierten Staates, der mechanisierten Kriegführung, des Kulturbetriebs, der Diktatur der Öffentlichkeit«, all jener Motive, die Heidegger ja dann dem Faschismus anlastet. Insofern ist der Punkt a) ein Kernpunkt der sich entfaltenden Faschismuskritik Heideggers, die Habermas allerdings seltsam abwertend beschreibt: »In diese Schablone des Massenzeitalters fügen sich alsbald die totalitären Züge der Politik, einschließlich der NS-Rassenpolitik ein.« Insofern kann man auch nur unter Einschränkung sagen, daß »allein« unter dem Aspekt c) sich eine »Umdisposition« der Heideggerschen Einschätzung ergeben habe. Eine »Umdisposition«, nämlich die »Entfaltung der Vernunftkritik« und die - wenn auch nach Habermas' Meinung - schablonenhafte Anwendung auf den NS-Staat, findet sich auch nach Habermas' Eingeständnis bereits in dem von ihm ausgesonderten Aspektbereich a). Das entscheidende Denkmaterial zu der von Habermas zugestandenen »Umdisposition« stammt sogar aus der »metaphysikhistorischen Entfaltung der Vernunftkritik«, also Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche. Unter den drei Punkten, die Habermas nennt, bleibt so nur der Punkt b), demgemäß Heidegger dem nationalsozialistischen Denken verbunden bliebe, die »im wesentlichen unveränderte nationalistische Einschätzung der Deutschen

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6

Ebd., S. 23. - Auch die folgenden Zitate auf derselben Seite.

als >Herz der VölkerDenkenWiderspruch< zu dem, was >Die Selbstbehauptung der deutschen Universität< (1933) sagt u. fordert. Denn jene Rede ist ein wissenschaftliches Überspringen der >Neuzeit< und der >allzuheutigen Wissenschaft (S. 7), um das Wesen der Wissenschaft aus einem ursprünglicheren Wissen entspringen zu lassen. Dieses Wissen aber ist nur zu gründen in der Auseinandersetzung mit dem ersten Anfang des abendländischen Denkens u. im Ernstnehmen der Frage Nietzsches, die am Ende dieses Denkens u. als sein Ende gestellt wurde (S. 12). Jene Rede geht auf das Wesen der n(eu)z(ei)tl(ichen) Wissenschaft u. d. h. auf Descartes nicht ein. Aber die >metaphysische< Grundstellung, aus der in jener Rede die >Selbstbesinnung< (S. 6) vollzogen wird, ist dieselbe, aus der die vorliegende Besinnung auf die neuzeitliche Wissenschaft sich vollzieht. Dort ist eine künftige Wissenschaft gemeint, die wieder ein Wissen wird, hier ist eine offenbar noch langhin >gegenwärtige< Wissenschaft begriffen, die das Wissen der Wissenschaft aufgelöst hat u. an die Stelle dieses Verlustes die >Weltanschauungen< treten lassen muß u. aus ihr die Stoßkraft ihres Betriebs empfängt. Aber auch für die neuzeitliche Wissenschaft gilt der in jener Rede ausgesprochene Satz: >Alle Wissenschaft ist Philosophie, mag sie es wissen wollen - oder nicht.< Die n.(eu)z.(ei)tl.(iche) Wissenschaft ist Philosophie, indem sie diese verleug-

net.,« Diese Auseinandersetzung enthält eine bemerkenswerte Selbstkritik. Heidegger sieht 1938 den Hauptfehler seiner Rektoratsrede darin, daß er damals - 1933 - glaubte, den gesamten Prozeß der Neuzeit überspringen zu können, um aus den Anfängen des antiken Denkens einen Neuanfang auch in der Gegenwart erwirken zu können. Damals, so können wir ergänzen, hat er diese mit der Philosophie der Antike verbundene Erneuerungshoffnung mit dem »Führer« kurzgeschlossen. Damals sah er offensichtlich noch 32

nicht, wer und was der »Führer« eigentlich war. Damals hat er auch die Macht der neuzeitlichen Seinsgeschichte unterschätzt. Denn: »Jene Rede geht auf das Wesen der n(eu)z(ei)tl(ichen) Wissenschaft u. d. h. auf Descartes nicht ein.«

Erst durch die radikale Kritik des neuzeitlichen Denkens - ihres Systemanspruchs, ihrer Form von >RationalitätKurzschluß< hergestellt hatte. Die Selbstreflexion Heideggers auf seine Rektoratsrede von 1933 rückt denn auch nicht ab von der Hoffnung auf eine »künftige« Gestalt des Wissens, die nicht verdinglichend, nicht systemhaft sei. Aber sie rückt ab von der - kurzschlüssigen und falschen - Identifikation einer anderen Form des Geistes mit dem Führer und der nationalsozialistischen Bewegung. Denn ihn, den NS-Staat, begreift Heidegger nun zunehmend als eine gigantische Ausprägung dieses neuzeitlichen Denkens selbst. Was für eine Faschismustheorie aber steckt hinter dieser Einschätzung Heideggers von 1938? In seinem Buch »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland« hat Ralf Dahrendorf auch die Funktion des Faschismus für die deutsche Geschichte analysiert. Diese Analyse ist unter der Vielzahl von Faschismustheorien bemerkenswert, weil sie den Faschismus nicht primär von seiner Ideologie her faßt, sondern als einen Rationalisierungs-, Technisierungs-, Modernisierungsschub: »Der Nationalsozialismus hat für Deutschland die in den Verwerfungen des kaiserlichen Deutschland verlorengegangene, durch die Wirrnisse der Weimarer Republik aufgehaltene soziale Revolution vollzogen. Der Inhalt dieser Revolution ist die Modernität. . . . Der brutale Bruch mit der Tradition und Stoß in die Modernität i s t . . . das inhaltliche Merkmal der sozialen Revolution des Nationalsozialismus.« 56

Dahrendorf führt das aus: Die forcierte (kriegstechnisch) angeheizte Industrialisierung durch den NS-Staat, die - entgegen der Ideologie - soziale Entwurzelung fast der ganzen Bevölkerung bis hin zur »totalen Mobilmachung«, das systematische Brechen mit 56

Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München 1965. S. 432.

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traditionellen Werten und Normen zugunsten einer totalen Durchrationalisierung der Gesamtgesellschaft, die Durchsetzung und Sicherung der »totalen Macht«, welche »die Zerstörung der Macht aller partiellen Institutionen, aller auch nur halbwegs autonomen Nebenzentren« voraussetze. 57 Und die Ideologie? Das Gerede von »Blut und Boden«, von Germanentum, Heimat, Volk, Rasse? Dahrendorf: »Der Widerspruch zwischen Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus ist ebenso erstaunlich wie verständlich. D o c h darf der Schleier der Ideologie uns nicht täuschen. Sie war Episode und in ihrem Inhalt ein greuliches Gemisch aus allen Halbwahrheiten der Zeit;«. 5 8

Im Totalitären des »Systems«, in der >modernen< Durchrationalisierung, Berechnung, Berechenbarmachung aller Lebensbereiche sieht auch Dahrendorf den Kerngehalt des Faschismus und seiner »Revolution«. Das ist von der Heideggerschen Analyse nicht so weit entfernt, auch wenn Dahrendorf seine Analyse letztlich in andere Kontexte stellt. 59 57

Ebd., S. 433 f. - In diesem Zusammenhang auch der faschistische Begriff der »Gleichschaltung«: »>Gleichschaltung< bedeutet stets die Aufhebung unkontrollierter Selbständigkeit. Wo immer also in sich geschlossene Institutionen oder Organisationen bestehen, müssen diese den auf den einen Selbstzweck und seine Personifizierung im Führer ausgerichteten Organisationen weichen. Die Menschen werden dabei aus überlieferten, eigenen, oft besonders engen und intimen Bindungen herausgelöst und einander gleichgemacht. Man kann dies anders, bildlich formulieren und dadurch noch einmal den Widerspruch zwischen Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus klarlegen, wenn man sagt, daß das Nazi-Regime überall organische Sozialgefüge durch mechanische Gebilde zu ersetzen trachtete.« (Ebd., S. 436) - Es ist anzunehmen, daß Heidegger durch diesen totalitären Gleichschaltungscharakter des NS-Regimes auch der im Ansatz totalitäre Charakter des neuzeitlichen Systemdenkens aufgegangen ist, daß er in ersterem einen Ermöglichungsgrund für das totalitäre politische System erkannte.

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Ebd., S.433. Dazu auch die folgende Formulierung Dahrendorfs: »Der Widerspruch zwischen der nationalsozialistischen Ideologie des Organischen und der Praxis der mechanischen Gleichschaltung bleibt auffällig. Fast möchte man vermuten, daß die Ideologie nicht nur bewußtes Instrument der Vernebelung war. Möglicherweise haben die nationalsozialistischen Führer selbst an einige ihrer rührseligen Traditionsbilder geglaubt...« (S. 437). Dahrendorfs Analyse der Bedeutung des NS-Staates für die deutsche Geschichte hat letztlich dialektische Struktur: Wenn der Kerngehalt des NSStaates der durch die Ideologie nur vernebelte »Stoß in die Modernität« war, so impliziert seiner Meinung nach der humane und mutige »Widerstand gegen das Regime« den »Versuch, den vorrevolutionären Zustand wiederherzustel-

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Heidegger bewegt sich somit auf einer E b e n e der Kritik des Faschismus, die ihn in jenem vor allem den, mit D a h r e n d o r f z u sprechen, Modernisierungsschub sehen läßt, die zunehmend gigantische Vorherrschaft einer alle Bereiche des Lebens durchdringenden und in diesem Sinne >riesenhaftenWissenschaftler< drängt von sich aus notwendig in den Umkreis der Wesensgestalt des Arbeiters u. des Soldaten.« I m Text von 1 9 5 0 : »Der Forscher drängt von sich aus notwendig in den Umkreis der Wesensgestalt des Technikers im wesentlichen Sinne.« Beide Textstufen fahren fort: »So allein bleibt er wirkungsfähig und damit im Sinne seines Zeitalters wirklich.« 6 0 Mit anderen W o r t e n : die Technikkritik Heideggers geht insofern direkt aus der Faschismuskritik hervor, insofern sie die Gleichschaltungstendenz des Faschismus in der durchgehenden U n i f o r mierung, Militarisierung sowie die im Faschismus durchgeführte Bestimmung des Menschen als »Arbeiters«, hinter der natürlich auch E r n s t Jüngers Metaphysik des »Arbeiters« steht, kritisch wendet und in der modernen Technik (des »Technikers im wesentlichen Sinne«) aufgehoben sieht. D a v o n sei auch die Universität durchdrungen, an der sich nur n o c h an »einigen Stellen die immer dünner und leerer werdende R o m a n t i k des Gelehrtentums« halte. 6 1 Die «J Holzwege, S. 78 Ebd., S. 78. - Heidegger hat von dem Zeitpunkt an, da er das totalitäre Herrschaftsdenken des Faschismus zu durchschauen begann, an der oben von Dahrendorf beschriebenen Gleichschaltung der universitären Institutionen durch den Faschismus gelitten. Das geht auch aus den - sehr kritischen und offenen - Äußerungen im erwähnten universitären Arbeitskreis zur Vereinnahmung der Universität und zu geplanten faschistischen Neugründungen von Kaderhochschulen (u. a. am Chiemsee) hervor. Aber auch an den traditionellen Universitäten sah er 1938 die Rolle des »Wissenschaftlers« zunehmend vereinnahmt durch neue Funktionszusammenhänge militärischer und paramilitärischer Arbeitsorganisation. Möglicherweise ist 1938 seine Wahrnehmung dieses Sachverhalts - »Der >Wissenschaftler< drängt von sich aus...« - auch geprägt durch die Beobachtung von Kollegen in den naturwissenschaftlichen Disziplinen, die sich dem System andienten und ihre Arbeit bruchlos von ihm vereinnahmen ließen. Nur so war ja der erwähnte »Modernisierungsschub« im Faschismus möglich. Siehe dazu auch: Peter Lundgren: Hochschulpolitik und Wissenschaft im Dritten Reich. In: P. L. (Hg.): Wissenschaft im Dritten Reich. Frankfurt 1985, dort S.25: »Wenn man die NS-Wissenschaftspolitik in ihrer Gesamtheit bedenkt, dann liegt der eindrücklichste Fall einer Begegnung von Instrumentalisierung und Selbstindienstnahme zweifellos im Bereich der Technik- und Naturwissenschaften. Für Ingenieure etwa ist gezeigt worden, wie hingebungsvoll sie sich den großen >Gemeinschaftsaufgaben< im Rahmen von Rüstungsproduktion

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Anmerkung 9 des Textes der »Holzwege« von 1950 radikalisiert die neuzeitliche Stellung des Menschen zur Gesamtheit des Sein noch einmal in der Formulierung: »Nicht das Anwesende waltet, sondern der Angriff herrscht.« 6 2

Am Faschismus ist offenbar Heidegger das Aggressive der modernen Technologie und des modernen rationellen Denkens überhaupt erst aufgegangen und von dieser Basis aus denkt er seine eigene spätere Technikkritik weiter. Ich möchte aber Heideggers Faschismus- und Technikkritik noch durch einen weiteren Text vertiefen, den er 1951 erstmals mit dem Titel »Seinsverlassenheit und Irrnis« veröffentlicht hat. 6 3 Der Text erschien damals in einem Sonderheft über Ernst Barlach und wurde wiederabgedruckt als das 26. Stück des Beitrages »Uberwindung der Mataphysik« in den »Vorträgen und Aufsätzen« von 1954. 6 4 Der Erstdruck von 1951 nennt die folgene Entstehungszeit im Vorspann: »Der folgende Beitrag stammt aus einer unveröffentlichten Arbeit Martin Heideggers aus den Jahren 1939/40, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs.« 65 Das aber ist nicht möglich. Denn im genannten Beitrag wird ein Faktum erwähnt, das genau datierbar ist und mit der Datierung 1939/40 nicht übereinstimmt: »Die Forschungen des in diesem Jahre mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt ausgezeichneten Chemikers K u h n . . ,« 6 6 Die Vergabe des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt an den Chemiker Richard Kuhn fällt aber in das Jahr 1942. 6 7 Der Text, der einem großen, bisher noch unveröffentlichten Textkonvolut mit dem Titel »Der Anklang« angehört, muß also im Jahre 1942 entstanden sein. Zur Fehldatierung des Herausgebers des Erstdruckes kam es, wie ich mich an einem Typoskript zu »Der Anklang« überzeugen konnte, dadurch, und Kriegstechnik widmeten, wie stark zugleich die Affinitäten zwischen ihrem Gesellschaftsbild und dem Nationalsozialismus waren.« 62 Holzwege, S. 100. - Diese Formulierung noch nicht im Vortrag. 6 3 Erstdruck in: Ernst Barlach. Dramatiker. Bildhauer, Zeichner. Darmstadt 1951, S. 5 - 1 2 . 64 Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954, S. 9 1 - 9 7 : Ich zitiere im folgenden nach der Handschrift und nenne die Seitenzahlen des Erstdrucks (E) und der Vorträge und Aufsätze (VuA). es E, S. 5. E, S. 9, VuA, S. 95. 6 7 Genau am: 28. 8 . 1 9 4 2 . Dieses Datum nennt also den terminus post quem der Entstehungszeit des Textes.

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daß auf diesem Typoskript die Jahreszahl 1939/40 vermerkt war und von hier aus wohl dem Herausgeber des Erstdruckes, Egon Vietta, mitgeteilt worden war. 6 8 Der Text hebt an mit dem Satz: »Die Zeichen der letzten Seinsverlassenheit sind die Ausrufungen der >Ideen< und >WerteTat< und der Unentbehrlichkeit des >GeistesHerrn< des >Elementaren< m a c h t . . . . Die >Weltkriege< und ihre >Totalität< sind bereits Folgen der Seinsverlassenheit. Sie drängen auf die Bestandsicherung einer ständigen Form der Vernutzuung. In diesen Prozeß ist auch der Mensch einbezogen, der seinen Charakter, der wichtigste Rohstoff zu sein, nicht mehr länger verbirgt.« 7 3

Für die Faschismus-Interpretation Heideggers von größtem Interesse ist, daß in diesem Kontext die Kategorie des »Führers« ins Spiel kommt. Dabei ist noch einmal daran zu erinnern, daß 1933 in der Rektoratsrede eben die Amtsübernahme mit der »Verpflichtung zur geistigen Führung« verbunden worden war, mithin dort die Kategorie der »Führung« und auch des »Führers« in diesem Sinne noch positiv besetzt war. Wir haben daran erinnert, daß dieser positive Gebrauch einer geistigen Führerschaft durchaus in der Tradition des messianischen Expressionismus und auch Symbolismus lag. Nun aber heißt es: »Man meint die Führer hätten von sich aus, in der blinden Raserei einer selbstischen Eigensucht, alles sich angemaßt u. nach ihrem Eigensinn sich eingerichtet. In Wahrheit sind sie die notwendigen Folgen dessen, daß das Seiende in die Weise der Irrnis übergegangen ist, in der sich die Leere ausbreitet, die eine einzige Ordnung u. Sicherung des Seienden verlangt. Darin ist die Notwendigkeit der >FührungFührer< sind die maßgebenden Rüstungsarbeiter, die alle Sektoren der Sicherung der Vernutzung des Seienden übersehen, weil sie das Ganze der Umzirkung durchschauen u. so die Irrnis in ihrer Berechenbarkeit beherrschen.« 7 4

Das Wortfeld: sichern, beherrschen, berechnen, Rüstung - zeigt an, daß Heidegger hier nicht mehr von Führung im Kontext eines geistigen Aufbruchs spricht. Gemeint ist nun - 1942 - eine der »geistigen Führung« ganz entgegengesetzte Form von Führung im Sinne einer Spitzenagententätigkeit im Rahmen der neuzeitlichen Berechnung und Ausbeutung der Welt, im Rahmen der Dialektik 73 E, S.6, VuA, S. 91 f. 7 4 E,S.8, VuA, S. 93 f. 40

von Herrschaftsdenken und Verdinglichung des Menschen, deren brutale Auswirkungen Heidegger eben und offenbar überhaupt erst durch den Faschismus aufgegangen sind. Heideggers Pointe liegt dabei gerade in der These, daß die »Führer« keine autarken Führer sind. Er hält solchen Führerkult nun für die »fatalste Form der ständigen Würdigung« . 7 5 Vielmehr sind sie, wie die Ideologie selbst, Funktionsträger eines anderen geworden: jener destruktiven »Vernutzung« von Subjekt und Objekt, wie es die »Rüstung« zum Weltkrieg vorbereitet hatte und der »Weltkrieg« realisierte. In diesen, im »Weltkrieg« kulminierenden Gesamtprozeß der totalen Vergegenständlichung und Verdinglichung der Welt gehört aber, daß alles der totalitären »Rechnung und Planung unterworfen wird (Gesundheitsführung, Züchtung)«, daß der Mensch selbst zum »wichtigsten Rohstoff« wird - »der Bedarf an Menschenmaterial unterliegt derselben Regelung des rüstungsmäßigen Ordnens wie der Bedarf an Unterhaltungsbüchern und Gedichten...« - daß, mit einem Wort, Wissenschaft, Technik, Ökonomie und Kultur nur mehr noch Funktionsträger des totalitären Prozesses der Rechnung und Vernutzung des Seienden sind. 76 Die vielleicht weitreichendste der am NS-Staat entwickelten kritischen Zukunftsvisionen Heideggers: »Da der Mensch der wichtigste Rohstoff ist, darf damit gerechnet werden, daß auf Grund der heutigen chemischen Forschung eines Tages Fabriken zur Zeugung von Menschenmaterial errichtet werden.« 7 7

Konkreter Hinweis in diese Richtung für Heidegger war die bereits erwähnte Preisverleihung an den Chemiker Richard Kuhn, dessen Forschungen die Möglichkeit eröffne, »die Erzeugung von männlichen u. weiblichen Lebewesen planmäßig nach Bedarf zu steuern.« 7 8

75 E, S. 7, VuA, S. 93. ™ Zitate E, S. 9, VuA, S. 94 f. π Ε, S. 9, VuA, S. 95. 7 8 E, S. 9, VuA, S. 95. Der »Chemiker Kuhn«, den Heidegger hier nennt, ist der Chemiker Richard Johann Kuhn (3. 12. 1 9 0 0 - 3 1 . 7. 1967), der seit 1929 als Direktor des Instituts für Chemie am Kaiser-Wilhelm-Institut (seit 1948 Max-Planck-Institut) für medizinische Forschung in Heidelberg arbeitete und 1938 für seine Forschungen den Nobelpreis erhielt.

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Damit berührt Heidegger die Eugenik im Dritten Reich. Dazu schreibt Peter Lundgren: »Unter den in diesem Band vertretenen Wissenschaften stellt die Eugenik den Extremfall dar. Als angewandte Wissenschaft unterstützt sie die Realisierung der eugenischen Utopie im Dritten Reich sowohl legitimatorisch als auch instrumentell Die Exzesse einer >negativen EugenikAusmerzeerklärenFrieden< früherer Art, sondern in einen Zustand, in dem das Kriegsmäßige gar nicht mehr als solches erfahren wird, u. das >Friedensmäßige< sinn- und gehaltlos geworden ist.« 80

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Lundgren (Anm. 62), S. 25. so E, S. 7, VuA, S. 93.

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Also auch hier der Übergang zur Technikkritik: »Der Angriff herrscht« - . Heidegger sieht im großtechnischen 2. Weltkrieg ein Zerstörungspotential am Werke, das mit dem Ende des Krieges nicht beendet sei. Die Heideggersche Kritik des Nationalsozialismus kann so bruchlos in eine globale Technikkritik übergehen, weil ihm das Wesen dieser Technik an der totalitären Herrschaftsform des Nationalsozialismus aufging. Sie trägt gerade in der Totalität Züge einer radikal-negativen Utopie. Heideggers Theorie der »Seins-Verlassenheit« ist, in ihrer Totalität, geprägt vom Negativbild des Nationalsozialismus und des Weltkrieges, das er vor Augen hatte, als er diese Theorie entwickelte. Nun kann man sagen, daß diese Form der metaphysik-kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu unspezifisch sei, die Geschichte zu distanziert betrachte. Aber die Zuordnung Heideggers zum Nationalsozialismus aufrechterhalten kann man mit guten Gründen nicht. Auf seiner Ebene und mit seinen Denkmitteln hat Heidegger dezidiert zum Nationalsozialismus kritisch Stellung bezogen. Und er begreift ihn zunehmend klarer als eine zugespitzte Form des neuzeitlichen Nihilismus, als dessen besonders charakteristischen Ausdruck, als Kulmination eines globalen Entfremdungsgeschehens. In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf einen der Vorwurfkomplexe kurz eingehen, der im Zusammenhang mit der Faschismusthese zumeist beigebracht wird: Der vorgebliche Antisemitismus Heideggers. Dazu sagt Habermas, schon in Abwehr der z.T. abstrusen Thesen von Farias: »sein Antisemitismus, für den es auch noch aus der Nachkriegszeit Zeugen gibt, war vom üblichen kulturellen Schlage.« 81 Aber kann man das wirklich sagen? Auch die einsichtigen Heidegger-Kritiker sind sich einig, daß Heidegger den kruden Biologismus und Rassismus, das Zucht- und Herrschafts81

Habermas (Anm. 6), S.23. Habermas argumentiert hier auch methodisch ähnlich problematisch wie seinerzeit Schneeberger, der nämlich subjektive und nachträgliche Äußerungen zum angeblichen Antisemitismus Heideggers quasi als Belege für die Sache selbst nahm. Als einziges Dokument für den Antisemitismus hatte Schneeberger die Äußerung von Frau Toni Cassirer aus dem Jahre 1950 zitiert, die von einer Neigung Heideggers zum Antisemitismus im Jahre 1929 sprach. Zur Problematik, solche offensichtlich polemischen und wohl auch maliziösen Äußerungen wie objektive Nachweise der Sache zu behandeln, siehe den Aufsatz von Fedier, bzw. Allemann (Anm. 1).

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d e n k e n des Faschismus nie geteilt habe, auch 1 9 3 3 nicht. W a r d e r A n t i s e m i t i s m u s jemals und ü b e r h a u p t ein K r i t e r i u m der M e n s c h e n beurteilung f ü r Heidegger? Ich glaube nicht. Heidegger hat v o r d e m K r i e g in der M a r b u r g e r Zeit den jüdischen K a r l L ö w i t h habilitiert, sein letzter Assistent, W e r n e r B r o c k , w a r J u d e . 8 2 E r half ihm auch n o c h in der englischen Emigration d u r c h ein G u t a c h t e n . Er u n t e r hielt freundschaftliche Beziehungen zu jüdischen Wissenschaftlerinnen w i e Helene W e i ß , Elisabeth B l o c h m a n n

und

Hannah

A r e n d t . A l s Elisabeth B l o c h m a n n ihres A m t e s enthoben w u r d e , versuchte Heidegger in Berlin persönlich z u intervenieren. Ist das » A n t i s e m i t i s m u s . . . v o m üblichen . . . Schlage«? D a s vorliegende d o k u m e n t a r i s c h e Material spricht eindeutig d a f ü r , daß Heidegger M e n s c h e n nicht nach dem p r i m i t i v e n Schema des A n t i s e m i t i s m u s beurteilt hat, s o n d e r n nach d e m philosophischen M a ß s t a b der inneren N ä h e b z w . Ferne dieser M e n s c h e n z u seinem Begriff v o n P h i l o sophie u n d W i s s e n s c h a f t . 8 3 82

83

44

Wenn Jaspers anmerkt, Heidegger habe bei Einstellung von Brock als Assistent gar nicht gewußt, daß dieser Jude sei (zit. bei Ott, S. 315), scheint dies eher dafür zu sprechen, daß der Tatbestand der Rassenzugehörigkeit bei solchen Dingen für Heidegger nicht von Interesse war. In seiner gutachterlichen Äußerung vom 22. 12.1945 attestiert Jaspers Heidegger: »Nach Mitteilungen Brocks, die ich damals unmittelbar mündlich erhielt, hat sich Heidegger ihm gegenüber einwandfrei benommen. Er hat ihm durch freundliche Zeugnisse das Fortkommen in England erleichtert.« (Zit. ebd., S. 315f). Auch Löwiths Emigration nach Italien und Japan hat Heidegger mit Gutachten unterstützt. Nun wird als Belastung gegen Heidegger immer wieder sein Verhalten gegenüber dem jüdischen Lehrer Edmund Husserl vorgetragen. Nach der vierten Auflage von »Sein und Zeit« von 1935 hatte er ja die Widmung »Edmund Husserl/in Verehrung und Freundschaft/zugeeignet« vorangestellt. Angesichts des Antisemitismus der Zeit ja doch ein erhebliches Maß an Privatkühnheit. Wenn Heidegger diese Widmung in der Ausgabe von 1941 auf Drängen des Verlegers Niemeyer herausnehmen mußte, um den Druck insgesamt nicht zu gefährden, so bestand er bekanntlich auf dem sachlichen Dank an Husserl auf Seite 38 der Ausgabe. Es scheint sehr problematisch, an die Analyse der Beziehungen Heideggers zu Husserl so heranzugehen, wie es Hugo Ott (Anm. 1) tut, nämlich so, daß hier der Historiker die Aussagen Heideggers in Frage stellt, die Aussagen Husserls aber wie Dokumente der authentischen Tatsachen behandelt. Gerade in der Darstellung dieser Beziehung zeigt sich das hohe Maß an Voreingenommenheit der Studie von Ott. Das Verhältnis Heideggers zu Husserl hatte sich schon mit »Sein und Zeit« abgekühlt, vollends nach 1931. Husserl selbst, der Lehrer, war tief enttäuscht über die eigenen philosophischen Bahnen, die Heidegger zunehmend deutlich beschritt. Zur bitteren Bilanz Husserls gehörte, daß Heidegger »den

H a l t e n wir als Zwischenergebnis (1)

fest:

H e i d e g g e r entwickelt spätestens seit 1 9 3 5 / 3 6 ein I n t e r p r e t a -

tionsraster, in d e m er das Erscheinungsbild des Faschismus kritisch orten kann. E r deutet den Faschismus aus d e m K o n t e x t der neuzeitlichen Metaphysikgeschichte, verstanden als eine G e s c h i c h t e des z u n e h m e n d e n Subjektivismus, des »Willens z u r M a c h t « , des planetarischen Herrschaftsanspruchs des M e n s c h e n . Dieser G e s c h i c h t s p r o z e ß erscheint seinsgeschichtlich als eine F o r m der radikalen »Seinsverlassenheit«, » O d n i s « , »Verwüstung«, »Vernutzung« der Welt. H e i d e g g e r gebraucht dafür auch den

Nietzscheanischen

Begriff des »Nihilismus«. (2)

Jener

Geschichtsprozeß,

der im

Faschismus

besonders

brutal, aber auch klar an die O b e r f l ä c h e der Geschichte tritt, ist denen, die ihn vollziehen, selbst nicht begrifflich durchsichtig. Die Geschichte wird von M a c h t h a b e r n vollzogen, ist jenen aber in den geschichtsphilosophischen Voraussetzungen selbst nicht transparent.

Daher

erscheint

der

»Führer«

nurmehr

als eine

Art

geschichtsblinder Vollzugsagent eines Geschehens, das er selbst, radikalen wissenschaftlichen Grundsinn meiner Lebensarbeit in sein Gegenteil« verkehrt habe und »diese selbst als etwas ganz Überwundenes« darstelle, »als etwas, das jetzt noch zu studieren überflüssig sei« (Ott, S. 178). Wie immer es mit diesen menschlichen Dingen stand, sicher ist, daß bei der Klärung der Beziehung Heideggers zu Husserls, auch übrigens zu Jaspers, viele Faktoren eingehen und berücksichtigt werden müssen, auch und gerade das Konkurrenzverhältnis zwischen diesen Philosophen. Wie vorurteilsbeladen Ott dieses Verhältnis und die ganze Biographie Heideggers sieht, zeigen die vielen impliziten und expliziten Wertungen, zeigt die Auswahl der Daten und Fakten, die er bringt, zeigt auch ein Detail wie das folgende: Die »Legendenbildung um ein angebliches Bibliotheksverbot« Husserls. In Wahrheit handelt es sich bei dieser »Legendenbildung« um eine böse Nachrede, denn, das erkennt auch Ott, ein solches Bibliotheksverbot, ausgesprochen durch den Rektor Heidegger gegenüber seinem jüdischen Lehrer Husserl, hat es nie gegeben. Das sind die Fakten. Zur »Legende« meint aber der Historiker Ott: »Ich meine: >Geschichten< können zum Element der Wirklichkeit werden - spiegeln vielleicht in einem tieferen Sinn die Wahrheit.« (S. 172) Es ist schon seltsam, wenn ein Historiker der üblen Nachrede den höheren Wahrheitsgehalt einräumt als der von ihm selbst eingesehenen faktischen Wirklichkeit. Siehe dazu auch Heideggers SPIEGEL-Gespräch vom 23. Sept. 1966, wieder abgedruckt in Antwort (Anm. 4), S. 87. In diesem u. a. von Rudolf Augstein mit Heidegger geführten Gespräch werden einige der hier angesprochenen Sachverhalte durchaus kritisch, aber mit Verständnis für den philosophischen Problemhorizont Heideggers erfragt und offen gelegt. 45

der »Führer«, aktiv anleitet und vorantreibt, aber selbst nicht in seinen nihilistischen Voraussetzungen und Implikationen durchschaut. (3)

D i e Kategorie der »Weltanschauung«, auch der faschisti-

schen Ideologien, ist gegenüber (1) sekundär. Weltanschauungen, »Ideen«, »Werte« erfüllen nach Heidegger nurmehr noch eine Mobilisierungsfunktion im Kontext von (1) als herrschaftsbegründende, bzw. -stabilisierende Faktoren. Die Proklamation solcher Weltanschauungen, »Ideen« und »Werte« wird so selbst als eine Erscheinungs- und Ausdrucksform des Nihilismus begriffen. (4)

Das, was Heidegger als Kerngehalt des Faschismus ansieht,

gehört in einen Langzeitprozeß der Neuzeit, der mit dem Ende des Faschismus selbst nicht aufgehört hat, sondern offenbar oder verdeckt in der modernen technisch-ökonomischen Weltausbeutung sich fortsetzt und somit auch über die Grenze des Kriegsendes hinaus wirksam bleibt. Heidegger nimmt sogar an, daß die technisch-ökonomische Vernutzungsphase ein besonders langwieriger Prozeß der Verfallsgeschichte der abendländischen Metaphysik sein wird. Man kann ergänzen, daß er davon ausging, daß diese Phase die Philosophie als Wissensform abstreifen, abstoßen würde, weil sie die Philosophie als Wissensform nicht mehr braucht. U n d sie braucht sie nicht mehr, weil diese bereits in jener aufgehoben wird. (5)

Als Gesamtergebnis kann festgehalten werden: der von

Habermas und anderen vorgebrachte Vorwurf einer gleichbleibenden Nähe Heideggers zum Faschismus ist nicht haltbar. Der Vorwurf ist durch die Texte widerlegt. Ich möchte zur Ergänzung und als Exkurs noch eine Tagebuchaufzeichnung mitteilen, die mir der Pädagoge Heribert Heinrichs mitgeteilt hat:

»Tagebuchaufzeichnung Heribert Heinrichs

Am 14. Oktober 1959 von 14.00 Uhr bis 16.30 Uhr Wanderung durch den Hils bei Grünenplan/Alfeld mit Martin Heidegger. Nach einem Gespräch über den katholischen Pädagogen Anton Heinen (1896-1934) und dessen >Hoffnungsirrtum< in seinen Schriften zur pädagogischen Erneuerung in den Jahren 1931-1933 betr. Hitlers >wegverbessernder Überwindung< einer, wie Anton Heinen glaubte, zunehmenden völkischen und religiösen Dekadenz in der Weimarer Republik, kam Heidegger von sich aus, was er bei mir bisher nie getan hatte, auf seine eigene tragisch-falsche Einschätzung des Nationalsozialismus und das Bohrende im Denken heute bei ihm wegen seiner Rektoratsrede vom 27. Mai 1933. Er sprach davon, die Kümmernisse auszuloten, die ihn in

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dieser Rückschau immer wieder bewegten, sei niemand anders möglich als ihm selbst. Mit Nachdruck formulierte er jedoch seine absolute Nichtmitwirkung am folgenreichen Badischen Hochschulerlaß vom 21. 8. 1933. Sodann sagte Μ. H., die meisten Deutschen hätten den Räuber und Verbrecher des Jahrhunderts, Adolf Hitler, erst mit der Katastrophe von Stalingrad und dem Desaster des Luftkrieges durchschauen gelernt. Er selbst habe, wenn er seine Antworten unabdingbar vor den Gewissensrichter stelle, seit 1938 das totale Verhängnis erkannt und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus radikal revidiert. Er habe die ihm häufig vorgeworfene »Verstrickung« entschieden entwirrt, sowie seine ganz eigenen, persönlichen Hoffnungen auf die Erneuerung der Universität im Dritten Reich, wie sie ihm selbst vorgeschwebt hätte, schon 1938 (!) im Ganzen aufgegeben. Wörtlich: >1938 war ein Wendejahr in meinem Leben. 1938! Man bedenke, das war noch vor Hitlers großen Triumphen?< (Demnach muß das etwa im Januar/Februar 1938 gewesen sein; denn Hitlers Triumphe begannen im eigentlichen mit dem 16. März 1938 bei der Eingliederung Österreichs in das Dritte Reich.) ... In Gerzen bei Alfeld erwartete uns Frau Heidegger und zeigte uns das Haus, in dem sie gewohnt hatte in ihrer Jugend.«

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IV. Heideggers Nietzsche-Lektüre: Kritik der Weltanschauungen und Nihilismusbegriff

Nationalsozialismus - dieser Begriff ist einer der politisch raffiniertesten Firmierungen des 20. Jahrhunderts. Suggeriert ja doch der Titel die Möglichkeit einer großen Synthese von nationalem und sozialistischem Gedankengut. Auch das bereits zitierte Gutachten des politischen Bereinigungsausschusses von 1945 hat ja diese Erwartungshaltung auch bei dem damals eher unpolitischen Heidegger belegt: »Der Philosoph Professor Martin Heidegger lebte vor dem Umbruch von 1933 in einer völlig unpolitisch geistigen Welt... Von der nationalsozialistischen Revolution erwartete er eine geistige Erneuerung des deutschen Lebens auf völkischer Grundlage, gleichzeitig, wie sehr viele deutsche Gebildete, eine Aussöhnung der sozialen Gegensätze und eine Rettung der abendländischen Kultur von den Gefahren des Kommunismus.«84 In Heideggers späterer Kritik am Nationalsozialismus aber steckt die Einsicht, daß hier die politischen Weltanschauungen selbst zu Ideologien im Sinne des falschen Bewußtseins verkommen sind, daß sie in Wahrheit etwas anderes kaschieren: den schieren Willen zur Macht. Heideggers Kritik der Weltanschauungen und der politischen Schlagworte hat in diesem Sinne selbst ideologiekritische Funktion. Sie erkennt gerade im Propagieren der Ideologien das Zeichen der »Seinsverlassenheit«, des Nihilismus. 1933 aber hatte er sich selbst noch von der politischen Rhetorik ein Stück weit verführen lassen. Durch welche Erfahrung des Denkens ist eigentlich der Umbruch auch in der Beurteilung der politischen Ideen im Denken Heideggers erfolgt? Der Umbruch erfolgte - wenn nicht allein, so doch entscheidend auch durch die erneute und vertiefte Auseinandersetzung mit dem 8" Zitiert bei Ott (Anm. 1), S. 305.

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Denken Nietzsches. 85 Erst durch Nietzsche hat Heidegger den Nihilismus seiner Zeitgeschichte erkannt, die zwar »Ideen« und »Werte« propagierte, in Wahrheit aber nur die militarisierte und totalitäre Form des »Willens zur Macht« darstellte. Umgekehrt aber auch: erst durch die realgeschichtliche Entwicklung des Nationalsozialismus hat Heidegger begriffen, was Nihilismus realgeschichtlich bedeuten kann. Insofern vollzieht sich in Heideggers Begegnung mit Nietzsche jene Vergeschichtlichung und Politisierung seines Denkens, die wir bereits beobachtet haben. Dies markiert auch eine entscheidende Differenz zur Philosophie von »Sein und Zeit«. Denn der Aufweis der »Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit« im fünften Kapitel des Zweiten Abschnittes von »Sein und Zeit« hatte damals einen noch sehr abstrakten, existential-ontologischen Charakter. In »Sein und Zeit« ging es um eine formale Ableitung von Geschichtlichkeit aus der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins und aus dieser heraus um die Abwehr eines »vulgären Verständnisses der Geschichte« als etwas quasi objektiv Gegebenem, in dem sich das menschliche Dasein vorfindet.86 Umgekehrt, so argumentiert Heidegger 1927, rückt der Sachverhalt ins richtige Licht: das menschliche Dasein ist aus sich selbst heraus zeitlich und somit geschichtlich, ist aus sich selbst heraus der expansive Entwurf von Zeit und Geschichte. So tiefgründig dieser fundamentalontologische Nachweis der grundlegenden Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins in »Sein und Zeit« war, so enthielt er doch, wie wir bereits sahen, überhaupt noch keine explizite Theorie der modernen Epochengeschichte und somit kein Instrumentarium, um konkrete Zeiterscheinungen der eigenen Epoche zu 85

86

Zum Begriff der Auseinandersetzung siehe Heideggers Vorwort zur zweibändigen Ausgabe seiner Nietzsche-Vorlesungen (Pfullingen 1961): »Woher die Auseinandersetzung mit der Sache Nietzsches kommt, wohin sie geht, möchte sich dem Leser zeigen, wenn er sich auf den Weg begibt, den die folgenden Texte eingeschlagen haben.« (S. 10). Sein und Zeit, § 7 3 ff »Das vulgäre Verständnis der Geschichte und das Geschehen des Daseins.« Hier die Formulierung: »Wir nennen das nichtdaseinsmäßige Seiende, das auf Grund seiner Weltzugehörigkeit geschichtlich ist, das Weltgeschichtliche. Es läßt sich zeigen, daß der vulgäre Begriff der >Weltgeschichte< gerade aus der Orientierung an diesem sekundär Geschichtlichen entspringt. Das Weltgeschichtliche ist nicht etwa erst geschichtlich auf Grund einer historischen Objektivierung, sondern als das Seiende, das es, innerweltlich begegnend, an ihm selbst ist.« (Sein und Zeit. Erste Hälfte. Halle 4 1935,S. 381).

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begreifen. Nur hinter dem Rücken des Autors von »Sein und Zeit« hatte sich in Begriffen wie »Angst«, Furcht«, »Sorge« eine spezifisch moderne Befindlichkeit in die Analyse eingeschlichen, deren zeitgeschichtlichen Gehalt aber Heidegger mit der Begrifflichkeit von »Sein und Zeit« selbst nicht auflösen konnte. Insofern ist »Sein und Zeit« eines der komplexesten philosophischen Dokumente der Moderne, noch nicht aber ihre verstehende Analyse. Gerade weil der Philosoph von »Sein und Zeit« zwar den existentialen Grund von Geschichtlichkeit aufzeigte, selbst aber realgeschichtlich so abstrakt und unpolitisch dachte, konnte es 1933 zu der politisch so falschen Besetzung seiner Philosophie kommen. Das aber wird, durch die Begegnung mit Nietzsche, anders. Mit Nietzsche erkennt Heidegger den Nihilismus des realen Nationalsozialismus. Umgekehrt: Heidegger greift während des Nationalsozialismus vor allem nach Nietzsche, weil seine konkreten Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus ihn dafür disponierten, sich durch einen Denker wie Nietzsche die Erkenntnis in den realen Nihilismus seiner eigenen Geschichtsepoche vermitteln zu lassen. Dieser Umbruch zur Einsicht in den Nihilismus des Nationalsozialismus wird sich vermutlich ansatzweise schon in der Rektoratszeit vollzogen haben, in der Heidegger eben bewußt wurde, »daß ein unüberwindlicher Zwiespalt bestehe zwischen der nationalsozialistischen Auffassung von Universität und Wissenschaft und der meinigen.«87 Bereits in der Rektoratszeit muß es Heidegger bewußt geworden sein, daß die »nationalsozialistische Auffassung« eben nicht jene geistige Erneuerung von Universität und Wissenschaft bringen konnte, die Heidegger seinerseits als Zielvorstellung verfolgt hatte. Auch in der Rektoratsrede von 1933 wurde ja das Nietzsche-Wort vom Tod Gottes bereits zitiert, die »Verlassenheit des heutigen Menschen« als ein Faktum vorausgesetzt.88 Damals aber hatte Heidegger noch in der Bindung an das Volk, an Nation, an die geistige Tradition und in einer forcierten Kampf- und Pflichtethik das Heil gesucht. Daß er dies selbst später (1938) für eine Fehleinschätzung hielt, haben wir gesehen. Wie falsch aber diese Einschätzung war, wie nihilistisch in Wahrheit der Nationalsozialismus, ging ihm wohl doch erst durch dessen reale EntwicklungsgeDas Rektorat, S. 38. 8 Ebd., S. 13.

87 8

50

schichte und durch das Studium jenes Denkers auf, der eben die geschichtlichen Erscheinungsformen des neuzeitlichen Nihilismus als erster grundlegend analysiert hatte, Nietzsche. Von 1936 an bis Kriegsende ist daher Nietzsche Heideggers vielleicht wichtigster Wegbegleiter. Ab 1936 hält Heidegger eine Reihe großer Vorlesungen über Nietzsche mit den Titeln: »Der Wille zur Macht als Kunst« (1936/37), »Die ewige Wiederkehr des Gleichen« (1937), »Der Wille zur Macht als Erkenntnis« (1939), »Der europäische Nihilismus« (1940). Diesen Vorlesungen schließen sich eine Reihe von »Abhandlungen«89 an, die ebenfalls um Nietzsche als einen Letztvollender und Erfüller der abendländischen Metaphysikgeschichte kreisen. Schon die Tatsache, daß Heidegger 1936 ff über Nietzsche las und dabei immer deutlicher, immer markanter die Nihilismus-Analyse Nietzsches herausstellte, daß er 1940 - in der Frühphase des II. Weltkriegs also - den Nihilismusbegriff sogar in den Titel der Vorlesung einrückte, ist ein politischer Akt ersten Ranges von Seiten eines Philosophen im totalitäten System des Nationalsozialismus gewesen. Heidegger hat eben den nationalsozialistischen Mißbrauch Nietzsches nicht nur nie mitgemacht, sondern im Gegenteil aus Nietzsche das ideologiekritische Potential abgeschöpft, um den realen Nihilismus des Faschismus zu erkennen und aufzudecken. Bevor wir darauf eingehen, noch ein Wort zu der unterschiedlichen Herkunft und Denkweise jener Philosophen, die hier in eine produktive Auseinandersetzung geraten: Heidegger kommt aus einem von der Herkunft her eher ungeschichtlichen systemhaften Denken: er hatte Theologie studiert, u.a. bei dem Dogmatik-Professor Carl Braig Systematische Theologie, und seine frühen Arbeiten, so die Dissertation »Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-positiver Beitrag zur Logik« von 1914 und die Habilitation »Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus« von 1916 sind ausgesprochen kategorial-systematische Studien. Auch die Phänomenologie Edmund Husserls, der 1916 als Nachfolger von Heinrich Rickert nach Freiburg kam und dessen Assistent Heidegger 1919 wurde, war vom Verständnis ihres Autors her eine eher ungeschichtliche, systematische Wissenschaft. Heideggers Weg in die Philosophiegeschichte erfolgte also von systematischen 89 Vorwort (Anm. 85), S. 9.

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Denkformen her, und noch »Sein und Zeit« ist, wie gesagt, eine systematische Studie der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins, nicht der konkreten Epochengeschichte. Wir können vermuten, daß Heidegger überhaupt erst durch den Schock der Einsicht, daß er politisch und geschichtlich sich falsch verhalten hat, zum geschichtlichen Denken durchgestoßen ist, daß er nun vehement diesen Mangel seines Denkens verspürte und daß er in Nietzsche jenen Denker erkannte, der ihm Stütze sein konnte auf dem Weg zum semsgeschichtlichen Denken. Heidegger seinerseits brachte die ganze Tiefe und Kraft seines Denkens in die Auseinandersetzung mit Nietzsche ein und hat ihn so gründlich auf seine metaphysik-geschichtlichen Implikationen hin befragt, wie kein anderer Denker des 20. Jahrhunderts. Nietzsche dagegen ist von der Struktur seines Denkens her kein systemhafter, sondern ein ästhetischer Denker. Ästhetisch im genau verstandenen Sinne: nicht als Schöngeisterei, sondern im Sinne einer künstlerisch sensiblen Wahrnehmung für die Erscheinungen der Kulturgeschichte: die Probleme der modernen Philosophie, der modernen Kunst, der modernen Ideologien, die er auf eine eigene psychologisch-geistesgeschichtliche Weise auf die in ihnen verdeckten inneren Voraussetzungen und Machtansprüche hin befragt und diese in jenen offenlegt. Nietzsche praktiziert bereits ein Verfahren der Tiefenhermeneutik, das es ermöglichte, Ideologien als Ideologien zu erkennen und das in ihnen verdeckte Machtmoment aufzudecken. Von der sprachlichen Form her meidet Nietzsche, selbst gezeichnet von Krankheitssymptomen der Moderne, systemhafte Darstellungsformen und philosophiert auf eine genuin modernliterarische Art: fragmentarisch, aphoristisch, häufig widersprüchlich und auch in ironischer Brechung des Gesagten. Zugleich aber und im Gegenzug zu dem von ihm erkannten Nihilismus der Moderne propagiert Nietzsche neue Mythologeme, eine neue Wertsetzung, und gerade diese Schichten seines Denkens, insbesondere die Lehre vom »Ubermenschen«, wurden in einer rassistischen Vergröberung vom Nationalsozialismus begierig aufgegriffen und ideologisch mißbraucht.90 90

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Siehe zur Nietzsche-Rezeption im 3. Reich: Alfredo Guzzoni (Hg.): Neunzig Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption. Königstein 1979, auch: Wolfgang Müller-Lauter: Aufnahme und Auseinandersetzung: Nietzsche im 20. Jahrhundert. Berlin 1982.

Heideggers Nietzsche-Rezeption läuft von Anfang an diesem Trend der nationalsozialistischen ideologischen Ausbeutung Nietzsches entgegen. In seiner ersten Nietzsche-Vorlesung, »Der Wille zur Macht als Kunst« (1936/37) kritisiert Heidegger Alfred Baeumlers Nietzsche-Deutung von 1931.91 Baeumler hatte in dem, wie er meinte, Widerspruch der Lehren von der ewigen Wiederkehr und vom Willen zur Macht sich für die Machtphilosophie entschieden, die er gerade nicht, wie Heidegger, als ein Mittel der Ideologiekritik erkannte, sondern die er affirmativ las. Für Baeumler war die »neue Wertsetzung« an Nietzsche das Wichtigste, für Heidegger dagegen Nietzsches Kritik der Wertsetzungen. 92 Daß Nietzsche den Nihilismus als »Grundtatsache der abendländischen Geschichte« erkannt habe, erscheint Heidegger als die wohl bedeutsamste Einsicht Nietzsches und - darin folgt er ihm auch und gerade dort, wo scheinbar das Gegenteil der Fall zu sein scheint, wo Pseudo-Ideen und - Wert propagiert werden: »Das Werk soll demnach beginnen mit einer umfassenden Darstellung der von Nietzsche erstmals in dieser Schärfe und Tragweite erkannten Grundtatsache der abendländischen Geschichte, des Nihilismus. Nihilismus ist für Nietzsche nicht eine Weltanschauung, die irgendwo und 91

92

Alfred Baeumler: Nietzsche. Der Philosoph und Politiker (Leipzig 1931) hatte Nietzsches Lehre der »ewigen Wiederkehr« als »Agyptisierung der heraklitischen Welt« gedeutet, also als eine Form der Stillstellung. Heidegger kommentiert diesen »Entscheid ... Auslegung Nietzsches kann man das beim besten Willen nicht nennen« als grobes Mißverständnis sowohl Nietzsches wie Heraklits und bewertet Baeumlers Nietzsche-Buch insgesamt: »Baeumlers ganze Überlegungen über das Verhältnis der beiden Lehren (der Lehre der »ewigen Wiederkehr« und des »Willens zur Macht« Verf.) dringen von keiner Seite her in den Bereich wirklichen Fragens« (Martin Heidegger: Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst. Gesamtausgabe. II. Abt. Bd. 43. Hg. v. Bernd Heimbüchel. Frankfurt 1985, S. 25). So Baeumler auch im Nachwort Nietzsches zu Der Wille zur Macht (Leipzig 1939, "1930): »Nicht im >ZarathustraWillen zur Macht< gipfelt die Philosophie Nietzsches.« (S. 700) Zu diesem Ansatz Baeumlers schreibt Heidegger a.a.O., S.26: »Die Lehre Nietzsches von der ewigen Wiederkehr paßt Baeumler nicht in seine Politik, oder er meint mindestens, sie passe nicht dazu. Also ist die Lehre für das System Nietzsches >ohne BelangGott ist todt< ist keine Verneinung, sondern das innerste Ja zum Kommenden. In diesem Wissen und Fragen hat Nietzsche sein Dasein aufgerieben, während man in den gleichzeitigen Gründerjahren sehr bierfröhlich im Spruch >Gott, Freiheit und Vaterland< den lieben Gott für alle möglichen Dinge bemühte. Diese Leere und Verlogenheit aber erreichte erst ihr wahres Ausmaß, als zwischen 1914 und 1918 das >christliche< Abendland bei Freund und Feind für seine Unternehmun93 94

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Heidegger: Der Wille zur Macht als Kunst (Anm. 91), S. 30. Es handelt sich hier um die Seiten 191-193 erster Absatz inclusive, die in den MefzscAe-Bänden von 1961 getilgt wurden (dort Bd. I, S. 183). Insgesamt gilt für die Philologie der Heideggerschen Nietzsche-Auslegung, daß sie sowohl die Bände von 1961 als auch die Neuausgabe der Nietzsche Vorlesungen im Rahmen der Gesamtausgabe heranziehen muß, da solche Tilgungen natürlich ihrerseits semantisch relevant sind, der späte Heidegger auch Formulierungen merklich geglättet und entschärft hat. Die deutlich existentiell betroffenere, affektivere Sprache ist die der Originalvorlesungen der Jahre 1936-1940. Dies genau zu untersuchen, wäre Aufgabe einer philologisch-philosophischen Analyse der Heideggerschen Nietzsche-Vorlesungen.

gen denselben lieben Gott für sich in Anspruch n a h m . . N i e t z s c h e war redlich genug, sich selbst einen Nihilisten zu nennen, das heißt nicht: einer, der nur >nein< sagt und alles ins Nichts überführen will, sondern einer, der im Ereignis des sterbenden Gottes steht und sich nichts vormacht, der allerdings >nein< sagt zu der allgemeinen Verlogenheit, der aber >nein< sagt, weil er schon >ja< gesagt hat, früher und strenger und ernster als seine >christlichen< Zeitgenossen, die mit einem Tremolo in der Stimme in Festreden sich auf das Wahre, Gute und Schöne beriefen.« 9 5

Zunächst ist bemerkenswert, daß Heidegger den Satz nicht einfach als Bekenntnis zu einer Art Atheismus liest, sondern - in der Negation - Nietzsches »Ja zum Kommenden« herausstellt. Die Überwindung des Nihilismus wird in Heideggers eigener späterer Philosophie das »Ereignis« heißen und als Uberwindung der Metaphysikgeschichte und in der Ankunft des »Gevierts« gedacht werden. Davon wird noch zu sprechen sein. In der genannten Vorlesung allerdings bleibt Heidegger noch soweit in Nietzsches Fahrwasser, daß er sie im Appell an den »Schaffenden« ausklingen läßt. 9 6 In unserem Kontext von besonderem Interesse ist die ideologiekritische Passage des Textes. In ihm steckt die Einsicht in die Entleerung der politischen Schlagworte des Nationalismus - »Gott, Freiheit und Vaterland« - dort, wo in Wahrheit das »Ereignis des sterbenden Gottes« stattgefunden hat, die Ausmerzung des Religiösen und auch der Freiheit durch die imperialistische Politik des Nationalismus. Es ist bemerkenswert, wie nahe Heidegger hier der politischen Phrasenkritik eines Karl Kraus ist, der eben jenen Mißbrauch der religiösen und pseudo-idealistischen Schlagwörter in der Nationalpolitik des I. Weltkrieges mit nicht zu überbietender satirischer Schärfe analysiert und gegeißelt hat. U n d auch Karl Kraus hat schon in der »kriegerischen Verblödung der Menschheit« eine Art »Versuchsstation des Weltuntergangs« gesehen, der technisch um so 95 Der Wille zur Macht als Kunst, S. 191 f. Auch hier übrigens mit bemerkenswerten Varianten: Der letzte Satz der Vorlesung in der Ausgabe Nietzsche I (1961, S. 254) lautet: »>Der Ubermensch« ist der Mensch, der das Sein neu gründet - in der Strenge des Wissens und im großen Stil des Schaffens.« Die Vorlesung von 1936/37 schreibt diesen Satz: »Der >Übermensch< ist der Mensch, der das Sein neu gründet, in der Strenge des Wissens und der Härte des Schaffens.« (S. 274). Die ursprüngliche Fassung ist also noch stärker dem Härte- und Willenspathos verpflichtet, führt dies auch noch in einigen Sätzen aus, die die Edition von 1961 gestrichen hat.

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reibungsloser funktionierte, als das Kollektivbdwußtsein eben von den pseudoreligiösen und pseudoidealistischen Phrasen benebelt worden war. 9 7 Heidegger Einsicht in die »Leere und Verlogenheit« dieser nationalistischen Phraseologie entspricht bei Karl Kraus die Einsicht: »Das Übel gedeiht hinter dem Ideal am besten.«98 Die Nähe der Heideggerschen Kritik der nationalistischen, in Wahrheit imperialistisch mißbrauchten Phraseologie zu Karl Kraus' Phrasenkritik ist allerdings kein Zufall. Beide Autoren stehen hier in Abhängigkeit von Einsichten desselben Autors, Nietzsche. Dabei allerdings stieß Karl Kraus in andere Richtungen vor als Heidegger. Lag doch der Hauptakzent von Karl Kraus auf der Kritik der öffentlichen Meinung und der Presse, des Kapitalismus und Geschäftsdenkens dort, wo Pseudoideale vorgeschoben wurden. Heideggers Kritik dagegen stieß in die Tiefenanalyse der abendländischen Metaphysikgeschichte vor, um von hier aus die inneren Voraussetzungen der Neuzeit und ihres Werteverlustes, ihres Nihilismus, aufzudecken. An der besagten Stelle in Heideggers Nietzsche-Vorlesung referiert Heidegger allerdings auch Nietzsches Kritik am Sozialismus und an den modernen Demokratien. 9 9 Nietzsche hatte, so in »Jenseits von Gut und Böse«, im Sozialismus wie in der Demokratisierung Europas eine heraufkommende, verkappte Form von Herrschaftsdenken gesehen, das sich erst voll entfalten würde, wenn »der jetzt noch wüthende Sturm und Drang des >NationalGefühlsGott ist toter Wille ZHr Macht als Kunst, S. 193. »Denn die Demokratie ist, wie Nietzsche klar sah, nur eine Abart des Nihilismus...«. 102

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terer basiert, wie die »Anmerkungen« zu den »Holzwegen« mitteilen, auf den Nietzsche-Vorlesungen und wurde in »kleineren Kreisen« 1943 »wiederholt vorgetragen«. 105 In Heideggers Vorlesung »Der europäische Nihilismus« von 1940 geht Heidegger aus von den »fünf Haupttiteln« der Nietzscheanischen Philosophie: »Nihilismus«, »Umwertung aller bisherigen Werte«, »Wille zur Macht«, »Ewige Wiederkehr des Gleichen«, »Ubermensch«. 1 0 6 Dabei werde, was »Nihilismus« heiße, nur im Kontext der anderen Begriffe erkennbar, umgekehrt aber auch die anderen Leitbegriffe der Philosophie Nietzsches nur vor dem Hintergrund des Nihilismusbegriffs verständlich. In gewissem Sinne aber ist nun für Heidegger Nietzsches Nihilismusbegriff entscheidend und leitend geworden, sowohl für das Verständnis dieses Denkers als auch der abendländischen Geistes- und Realgeschichte. »Was bedeutet Nihilismus? - Daß die obersten Werte sich entwerten. fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das >Warum?ZweckEinheitSeinPrinzip einer neuen Wertsetzung', das sagt jetzt: Der Wille zur Macht ist nicht etwa nur die Art und Weise, wie, und das Mittel, wodurch die Wertsetzung geschieht, der Wille zur Macht ist als das Wesen der Macht der einzige Grundwert, nach dem jegliches, was entweder Wert haben soll oder was keinen Wert beanspruchen darf, abgeschätzt wird.« 1 1 5

In diesem Sinne hat der Wille zur Macht auch alle weltanschaulichen Ziele und Ideen umfunktioniert zu bloßen »Kampfmitteln« der Machtsteigerung und Machterhaltung selbst: »Um was gekämpft wird, ist, wenn es als besonderes inhaltliches Ziel gedacht und gewünscht wird, stets von nachgeordneter Bedeutung. Alle Kampfziele und Kampfparolen sind immer nur und immer noch Kampfmittel. U m was gekämpft wird, ist im voraus entschieden. Es ist die Macht selbst, die keiner Ziele bedarf. Sie ist ziel-los, so wie das Ganze des Seienden wert-los ist. Diese Ziel-losigkeit gehört zum metaphysischen Wesen der Macht.« 1 1 6

Diese Machtanalyse Heideggers von 1940 ist bemerkenswert und enthält auch ein bemerkenswertes Maß an Privatkühnheit. Sagt sie 115 116

Nietzsche II, S. 124 f, Gesamtausgabe, S. 131. Nietzsche II, S. 125, Gesamtausgabe, S. 131. 61

doch im politischen Klartext aus, daß alles ideologische Gebaren des NS-Staates nur mehr Ausdruck des schieren und im Grunde »ziel-losen« Machtdenkens selbst ist und nichts sonst. Auch die Kategorie des »Ubermenschen«, mit der sich die rassistische Ideologie des Faschismus brüstete, wird in diese ideologiekritische Analyse einbezogen: »Der Mensch dieser Herrschaft ist der Über-mensch. Man pflegt N i e t z sche oft vorzuhalten, sein Bild v o m Übermenschen sei unbestimmt, die Gestalt dieses Menschen sei ungreifbar. Zu solchen Urteilen kommt es nur, weil man nicht begreift, daß das Wesen des Über-menschen im Hinausgehen >über< den bisherigen Menschen besteht. Der bisherige Mensch ist aber jener, der >über< sich noch ein Ideal und Wünschbarkeiten brauchte und suchte. Der Übermensch dagegen bedarf nicht mehr dieses >Über< dem und >Jenseits< des Menschen weil er einzig den Menschen selbst will, und zwar nicht in irgendeiner besonderen Hinsicht, sondern schlechthin als den Herrn der unbedingten Machtvollstreckung mit den vollständig erschlossenen Machtmitteln dieser Erde.« 1 1 7

Mit anderen Worten: Auch die Kategorie des »Ubermenschen« hat alle Ideen, Werte, Zielsetzungen für sich funktionalisiert als reines Machtmittel der Befestigung und Ausweitung seiner Herrschaft. Nichts anderes, als das Herrschaftsdenken selbst, zählt noch für ihn: das macht ihn - den »Ubermenschen« - zum Repräsentanten des modernen Nihilismus selbst. Mit anderen Worten: das Herrschaftsdenken des Nationalsozialismus, die Rede vom »Ubermenschen« ist selbst die Erscheinungsform des reinen Nihilismus, nichts sonst. Allerdings wird man inmitten eines totalitären Staates, in dem Heidegger 1940 seine Vorlesung hielt, nicht erwarten können, daß er dies linear ausdrückt in Sätzen vom Typ: »Hitlers Politik ist die Verkörperung des Nihilismus.« Die Sprache Heideggers ist klar genug, aber darf auch ein Minimum an Tarnung nicht vernachlässigen. So erfolgt die ganze Analyse des Macht- und Herrschaftsdenkens des NS-Staates über die ideologiekritische Analyse der Nietzscheanischen Metaphysik des Macht- und Herrschaftsdenkens. Dabei liegen die ideologiekritischen Bezüge zur Zeitgeschichte allerdings so offen auf der Hand, daß sie kein wacher Hörer der Vorlesung nicht gehört haben dürfte, zugleich aber auch eingebettet in der Argumentationsebene der Metaphysikkritik, die Heidegger 117

62

Nietzsche II, S. 125, Gesamtausgabe,

S. 131.

im Notfalle für sich ins Feld hätte führen können, vielleicht auch geführt hat. Gleichwohl: Heidegger sieht und sagt 1940 auch offen, daß das Herrschafts- und Machtdenken als »Kampf« - die Assoziation zu »Mein Kampf« wird kaum einem Hörer entgangen s e i n - e i n im Grund von allen Sinnkategorien verlassenes Herrschaftsgebaren ist, im Kern eben nichts anderes als Nihilismus, der auch die Kategorie der Wahrheit nur mehr noch als Funktion von Macht und Kampf begreifen kann: »>Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, als ein Kampf.. .< Was in diesem Kampf unterliegt, ist, weil es unterliegt, im Unrecht und unwahr. Was in diesem Kampf oben bleibt, ist, weil es siegt, im Recht und wahr.« 1 1 8

Wille zur Macht als letzte Ideologie, die alle anderen Ideen und Sinnsetzungen, auch den Wahrheitsbegriff, umfunktioniert hat in Faktoren der Macht und ihrer Durchsetzung - dies ist Heideggers radikal ideologiekritische Deutung von »Nietzsches >moralischer< Auslegung der Metaphysik«, aber mit Nietzsche und zugleich gegen ihn eben auch die radikal ideologiekritische Deutung seiner Zeit, der Zeit um 1940. Aber Heidegger wird in dieser Vorlesung in bezug auf die Zeitereignisse noch expliziter: »In diesen Tagen sind wir selbst die Zeugen eines geheimnisvollen Gesetzes der Geschichte, daß ein Volk eines Tages der Metaphysik, die aus seiner eigenen Geschichte entsprungen, nicht mehr gewachsen ist in dem Augenblick, da diese Metaphysik sich in das Unbedingte gewandelt hat.« 1 1 9

Was Heidegger hier im Blick hat, wird den zeitgeschichtlichen Hörern der Vorlesung sofort klar gewesen sein: der Beginn des II. Weltkrieges. Einerseits ist das eine Phase der Geschichte, in der »diese Metaphysik sich in das Unbedingte gewandelt hat«: in die Herrschaft des radikalen Herrschaftsdenkens selbst nämlich. Andererseits entgleitet nach Einsicht Heideggers der Herrschaft des Nationalsozialismus die Herrschaft über das von ihm selbst Angezettelte. Er ist diesem »nicht mehr gewachsen«. Der Text fährt fort:

118 119

Nietzsche II, S. 125, Gesamtausgabe, S. 131. Nietzsche II, S. 165, Gesamtausgabe, S.205.

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»Jetzt zeigt sich, was Nietzsche bereits metaphysisch erkannte, daß die neuzeitliche >machinale Ökonomie^ die maschinenmäßige Durchrechnung alles Handelns und Planens in ihrer unbedingten Gestalt ein neues Menschentum fordert, das über den bisherigen Menschen hinausgeht. . . . Es genügt nicht, daß man Panzerwagen, Flugzeuge und Nachrichtengeräte besitzt; es genügt auch nicht, daß man über Menschen verfügt, die dergleichen bedienen können; es genügt nicht einmal, daß der Mensch die Technik nur beherrscht, als sei diese etwas an sich Gleichgültiges jenseits von Nutzen und Schaden, Aufbau und Zerstörung, beliebig von irgendwem zu beliebigen Zwecken brauchbar. Es bedarf eines Menschentums, das von Grund aus dem einzigartigen Grundwesen der neuzeitlichen Technik und ihrer metaphysischen Wahrheit gemäß ist, d.h. vom Wesen der Technik sich ganz beherrschen läßt, um so gerade selbst die einzelnen technischen Vorgänge und Möglichkeiten zu lenken und zu nützen. Der unbedingten »machinalen Ökonomie< ist nur der Uber-mensch gemäß, und umgekehrt: dieser bedarf jener zur Einrichtung der unbedingten Herrschaft über die E r d e . « 1 2 0

Mit anderen Worten: In der losgetretenen Kriegstechnik ist ein so ungeheuerer, großtechnischer Prozeß in Gang gekommen, daß er von den Menschen, die diesen Krieg angezettelt haben, selbst nicht mehr kontrollierbar ist. Daher fordert Nietzsche zur Beherrschung der »machinalen Ökonomie«, wie sie im II. Weltkrieg in Form einer neuen Panzertechnik, Luft-, Kriegs- und Nachrichtentechnik in Erscheinung trat, den »Ubermenschen«. Für Heidegger ist aber gerade dieser »Ubermensch« selbst noch die letzte Verkörperung des nihilistischen Herrschaftsdenkens. Nach Heidegger hat somit Nietzsche einen Geschichtsprozeß vorhergesehen, dessen Zeitgenosse er und die Zuhörer seiner Vorlesung waren: Die Herrschaft einer »machinalen Ökonomie«, wie sie der II. Weltkrieg in Form einer entfesselten Kriegstechnik mit sich brachte. Einer Entfesselungsstufe der Metaphysik der »neuzeitlichen Technik«, die sich aber vom Menschen selbst nicht mehr beherrschen läßt. Daher Nietzsches Ruf nach dem »Ubermenschen«, dem aber Heidegger gerade nicht folgt. Somit ist dieser ganze Prozeß der Entfesselung eines großtechnischen Weltkrieges gerade von jenen, die sich für »Ubermenschen« hielten, den faschistischen Machthabern, ein Ereignis, das sich nach Heideggers Einschätzung von 1940 ihrer 120 Nietzsche II, S. 165 f, Gesamtausgabe, S. 205. Varianten in Nietzsche II: »nutzbar« für »brauchbar«, »Der unbedingten >machinalen Okonomie< ist im Sinne der Metaphysik Nietzsches...«.

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Kontrolle entziehen wird. Die neuzeitliche Metaphysik des Herrschaftsdenkens ist - in diesem Weltkrieg - in eine aggressive und unkontrollierte Phase der Geschichte eingetreten. Aber - sie ist damit auch nicht am Ende. Zu den beunruhigendsten Faktoren der Heideggerschen Philosophie gehört, daß er - mitten im NS-Staat und inmitten des II. Weltkrieges - nie nur diesen NS-Staat und den Weltkrieg kritisiert, sondern auf diese nur als Erscheinungsformen des neuzeitlichen Nihilismus anspielt, der aber mit ihrem Ende nicht abgegolten sei. Die destruktive Phase des neuzeitlichen Nihilismus wäre demnach - so die Prognose Heideggers in den Anfängen der vierziger Jahre - auch nach dem Ende des Faschismus und des Weltkrieges nicht abgegolten. Der Weltkrieg würde, so prognostizierte Heidegger, wie wir sahen, 1942, nicht in einen »Frieden früherer Art« übergehen.« »...der Angriff herrscht«, schrieb er 1950. Mit anderen Worten: auch der Weltkrieg ist metaphysikgeschichtlich nur eine Ausformung eines anderen seinsgeschichtlichen Geschehens: des seinsverlassenen Herrschafts- und Ausbeutungsdenkens der Menschheit, wie es sich brutal und rücksichtslos im NS-Staat verkörperte, wie es aber auch nach diesem Staat und dem von ihm losgebrochenen Weltkrieg nicht beendet sein würde. Bevor wir auf diesen Ubergang der Kritik am Herrschaftsdenken zur Technikkritik Heideggers kommen, noch ein Wort zu Heideggers Nietzsche-Aufsatz aus den »Holzwegen« von 1950. In diesem Aufsatz radikalisiert Heidegger seine Einsicht in die »katastrophale« Wendung des abendländischen Nihilismus: »Der Nihilismus ist, in seinem Wesen gedacht, vielmehr die Grundbewegung der Geschichte des Abendlandes. Sie zeigt einen solchen Tiefgang, daß ihre Entfaltung nur noch Weltkatastrophen zur Folge haben kann.« 1 2 1

Auch hier der Aufweis des Nihilismus schon im Wertedenken der traditionellen Metaphysik, des Willens zur Macht, der, als Herschaftsdenken, etwas Seinstötendes habe: »Das Wertdenken der Metaphysik des Willens zur Macht ist in einem äußersten Sinne tödlich, weil es überhaupt das Sein selbst nicht in den Aufgang und d.h. in die Lebendigkeit seines Wesen

i2i Holzwege, S.201.

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kommen läßt. Das Denken nach Werten lijßt im vorhinein das Sein selbst nicht dahin gelangen, in seiner Wahrheit zu wesen.« 1 2 2

Dies aber ist gerade auch in der Technik und ihrem Zugriff auf die Welt der Fall: »Die Natur erscheint überall, weil aus dem Wesen des Seins gewillt, als der Gegenstand der Technik.« 1 2 3

Der Schluß dieses Aufsatzes lautet: »Das Denken beginnt erst dann, wenn wir erfahren haben, daß die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens ist.« 1 2 4

Freilich ist das - bei aller Tradition der Vernunftkritik auch schon in der Aufklärung - eine Radikalisierung der Kritik der Aufklärung, wie sie so in der Tradition der Aufklärung selbst sich nicht findet. Es ist eben die Erfahrung der destruktiven Wirkung der instrumentellen Vernunft und ihrer Technologie, die Heidegger auch noch nach dem Weltkrieg und in der von ihrem Selbstverständnis eher harmlosen Aufbauphase der Bundesrepublik Deutschland solche Sätze in den Mund legen ließ. Zwischenergebnis: Fassen wir die in unserem Kontext zentralen Aspekte der Heideggerschen Nietzsche-Lektüre zusammen: 1. In der Auseinandersetzung mit Nietzsche vor allem in den Nietzsche-Vorlesungen von 1936-40, aber auch in den auf den Vorlesungen fußenden späteren Nietzsche-Abhandlungen akzentuiert Heidegger gerade nicht jene Seiten des Denkers Nietzsche, die in der nationalsozialistischen Rezeption dominieren: den Gedanken einer neuen Wertsetzung, die Lehre vom Ubermenschen, den Rassismus - , sondern die ideologiekritischen Dimensionen des Denkens Nietzsches, seinen Nihilismusbegriff. Heidegger setzt mit Nietzsche den »Nihilismus als Grundtatsache der abendländischen Geschichte« voraus. Dieser Nihilismus sei begründet in Grundstellungen der abendländischen Denk- und Seinsgeschichte. 2.

Auf dem Boden der Grundlage der Nietzscheanischen Nihi-

Ebd., S. 243. ι 2 3 Ebd., S. 236. 1 2 4 Ebd., S. 247. 122

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lismus-Analyse stößt Heidegger mit Nietzsche in den genannten Vorlesungen vor zu einer ideologiekritischen Analyse auch der politischen Weltanschauungen, so des Nationalismus und Sozialismus, also der ideologischen Bestandteile des Nationalsozialismus. Zu Leerformeln würde die Propagierung solcher Weltanschauungen, würde die Propagierung von Ideen und Werten immer dort, wo in Wahrheit der »Wille zur Macht« herrsche, also das pure Herrschaftsdenken selbst. Heidegger benutzt so den Nietzscheanischen Begriff des »Willens zur Macht« nicht affirmativ, sondern kritisch. Die »neue Wertsetzung« als »Metaphysik des Willens zur Macht« ist seiner Einsicht nach selbst eine zugespitzte Erscheinungsform des neuzeitlichen Nihilismus, der auch die politischen Ideen und Weltanschauungen, auch den Begriff der Wahrheit selbst absorbiere und zu Machtfaktoren umfunktioniere. 3. Uber Nietzsche hinaus geht Heidegger vor allem in drei Punkten: 3.1 Heidegger sieht in Nietzsches Lehre vom »Willen zur Macht« und im »Ubermenschen« nicht, wie Nietzsche selbst, die eigentliche Uberwindung des Nihilismus, sondern dessen Radikalisierung. Er analysiert seinerseits diesen Nihilismusbegriff und seine Ausformung als »Wille zur Macht«, als »Ubermensch« vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Subjektphilosophie, insbesondere Descartes', und deutet diese Begriffe als Radikalisierungen des Herrschaftsdenkens des neuzeitlichen Subjektes. Auch das Wertedenken Nietzsches begreift Heidegger als Ausdruck, nicht als Uberwindung des Nihilismus. 3.2 Mit Nietzsche verfolgt Heidegger den abendländischen Nihilismus bis in die Antike zurück und findet seinen Grund vor allem in metaphysikgeschichtlichen Setzungen Piatons. Über Nietzsche hinaus aber sieht er den Nihilismus in einer Form von Seinsvergessenheit begründet, welche die abendländische Denkund Metaphysikgeschichte insgesamt präge. Diese Seinsvergessenheit habe auch und gerade die Erfahrung des Nichts selbst in der Fixierung des philosophischen und später des wissenschaftlichen Denkens auf die Seiendheit und seine Berechenbarkeit verdrängt. 3.3 Mit Nietzsche, aber über ihn hinaus, sieht Heidegger in der gerade durch den Nationalsozialismus und in dem von ihm begonnenen Weltkrieg mit ihrer sprunghaft entwickelten neuzeitlichen Technik eine bedrohliche Realisierung des neuzeitlichen Herr67

schaftsdenkens und der neuzeitlichen Metaphysik des »Willens zur Macht«. Nach Heidegger ist die »machinale Ökonomie«, die hier zur Herrschaft kommt, und die einen eigenen Typus von »Ubermenschen« fordere, selbst eine radikale, aber gegenüber der Denkgeschichte eigentümlich begriffslose Erscheinung des Nihilismus. Insofern geht auch in Heideggers Nietzsche-Vorlesungen die Kritik des Nationalsozialismus und seiner Ideologie über in die Kritik der Technik, die - Heideggers Einsicht nach - in ihrer letzten Stufe der Philosophie gar nicht mehr bedürfen wird.

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V. Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik in den »Beiträgen zur Philosophie« und in der Spätphilosophie

Die anläßlich des 100. Geburtstages Martin Heideggers veröffentlichten »Beiträge zur Philosophie« sind das wohl wichtigste Hauptwerk Heideggers nach »Sein und Zeit«. Ihr wesentlicher Untertitel lautet: »Vom Ereignis«. 1 2 5 In diesem Werk enthalten sind alle wichtigen Grundzüge der Spätphilosophie Heideggers: seine radikale Abkehr vom Subjektivismus der Neuzeit, dem auch noch die Daseinsphilosophie von »Sein und Zeit« verhaftet war, sein immer sicherer seinsgeschichtlich geleiteter Blick für die machtpolitische Deformation der Weltanschauungen und Ideologien, für das gigantische Anwachsen der modernen Technik, der Wissenschaft und Ökonomie, des - wie er es nennt - »Riesenhaften« der »Machenschaft« der modernen Zivilisation. Gerade die »politische Indienstnahme« von Kultur und Weltanschauung, ihre Deformation zu »Mitteln der Kampftechnik« erscheint Heidegger als der »größte Nihilismus«, als die äußerste N o t der Seinsverlassenheit. Und »das große Entsetzen« befällt ihn angesichts der im Nationalsozialismus sich anzeigenden, aber über ihn hinausweisenden totalitären Herrschaft der Technik und einer von ihr angerichteten »metaphysi125

Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Bd. 65. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt 1989, S. 3: »Der öffentliche Titel muß jetzt notwendig blaß und gewöhnlich und nichtssagend lauten und den Anschein erwecken, daß es sich um >wissenschaftliche< Beiträge zum >Fortschritt< der Philosophie handle. Die Philosophie kann öffentlich nicht anders angemeldet werden, da alle wesentlichen Titel durch die Vernutzung aller Grundworte und die Zerstörung des echten Bezuges zum Wort unmöglich geworden sind... Die gemäße Uberschrift lautet daher Vom Ereignis. Und das sagt nicht, daß davon und darüber berichtet werde, sondern will heißen: Vom Ereignis er-eignet ein denkerisch-sagendes Zugehören zum Seyn und in das Wort >des< Seyns.«

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sehen Verkleinerung der Welt« und korrelativen »Aushöhlung des Menschen« in der ins Riesenhafte anwachsenden technisch-ökonomisch-wissenschaftlichen Beherrschung und Ausbeutung der Erde. Doch auch hier müssen wir, bevor wir auf die zentralen Gedanken Heideggers zugehen, Philologisches klären. Zunächst zur Entstehungszeit: Auf dem Titelblatt des handschriftlichen Textkonvoiutes steht in Heideggers Schrift: »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) 1936/37.«

Nach Auskunft des Herausgebers bezieht sich diese Zeitangabe nur auf den Abschnitt »Vorblick« und einen sechsteiligen Aufriß. 126 Der Manuskriptteil »Das Seyn« dagegen ist nach Mitteilung des Herausgebers im Jahre 1938 verfaßt worden, »so daß sich«, wie der Herausgeber folgert, »als Entstehungszeit für das gesamte Manuskript der >Beiträge zur Philosophie< die Jahresangabe 1936-1938 ergibt.« 127 Diese Schlußfolgerung des Herausgebers setzt allerdings voraus, daß der Manuskriptteil »Das Seyn« der zuletzt fertiggestellte Teil der »Beiträge« ist. Auf dem Textkonvolut »Das Seyn« findet sich keine Seitenzahl. Im ersten der beiden Textschuber, der die Handschrift Heideggers verwahrt, findet sich aber ein handschriftlicher Zettel Heideggers, den auch der Herausgeber mitteilt: »Diese >Beiträge zur Philosophie< sind in fünf Schreibmaschinenabschriften vervielfältigt; u. die Abschriften mit der Urschrift verglichen. Fbg. 3. Juni 39. H.«

In jedem Falle muß also bis spätestens Frühjahr 1939 das Manuskript der »Beiträge« in der handschriftlichen Fassung vorgelegen haben. Ob das schon, wie der Herausgeber annimmt, 1938 der Fall war, oder erst Anfang 1939, kann ich aus dem Manuskript und dem, was der Herausgeber dazu mitteilt, nicht eindeutig erkennen.128

126 127 128

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Nachwort des Herausgebers, S. 515. Ebda., S. 515. Dazu teilte mir aber Herr Hermann Heidegger brieflich mit, daß im SS 1938 Martin Heidegger ein Freisemester hatte und »bis zu Beginn des Wintersemesters« die Beiträge bereits »abgeschlossen« gewesen seien.

Das Manuskript der »Beiträge« besteht aus einer Folge von losen Zetteln im Format DIN A 4 und auch DIN A 5, die von in der Mitte gefalteten Blättern DIN A 4 zu Konvoluten gebündelt sind. Heidegger hat diese Zettel für die Abschrift durch seinen Bruder Fritz Heidegger mit Bleistift durchnumeriert und dabei eine Vielzahl von Zetteln auch nicht in die Abschrift aufgenommen. Diese wurden auch in der Gesamtausgabe nicht mitgeteilt. Das durchpaginierte Konvolut bildet Sinngruppen, nicht aber folgt das Ganze der »Beiträge« einer systemhaften Gliederung. Bezeichnend ist, daß das Textkonvolut »Das Seyn« ursprünglich die zweite Textgruppe der »Beiträge« bilden sollte, dort auch im Typoskript zunächst piaziert wurde, dann aber von Heidegger an den Schluß der »Beiträge« verwiesen wurde.129 Die handschriftliche Durchpaginierung folgt noch dem alten Entwurf. Die Seitenzahlen von »Das Seyn« schließt hier an die Seitenzahl des »Vorblicks« an. Erst danach folgt der Abschnitt »Der Anklang«, der nach der Umdisposition Heideggers nun in der Gesamtanlage die Gruppe II bildet. Die aphoristische Form der Einzeltexte und die offene Form ihrer Sinngruppierung unter Leitworte macht eine solche Umschichtung eines Textkonvoluts möglich, die ein systemhaft aufgebautes Werk nur schwer erlaubt hätte. Die Darstellungsform der »Beiträge« ist eben - ihrem Gehalt gemäß - von der systematischen Durchgliederung nach Paragraphen, der noch »Sein und Zeit« gefolgt war, abgerückt und nähert sich dabei einer philosophisch-literarischen Form an, wie sie bereits Nietzsche in seinen Aphorismus-Sammlungen entwickelt hatte. Die Unterteilung der »Beiträge« erfolgt jetzt nach acht Hauptabteilungen: I. Vorblick, II. Der Anklang, III. Das Zuspiel, IV. Der Sprung, V. Die Gründung, VI. Die Zu-Künftigen, VII. Der letzte Gott, VIII. Das Seyn. Diese acht Hauptgruppen untergliedern sich im Manuskript aber ζ. T. noch einmal in kleine Sinngruppen. Für die 129

Dazu teilt der Herausgeber (S. 514) mit: »Am Schluß der maschinenschriftlichen Abschrift des >Inhaltsverzeichnisses< findet sich jedoch eine Notiz Heideggers vom 8. 5. 1939: »>Das Seyn< als Abschnitt II (Teil II) ist nicht richtig eingereiht; als Versuch, das Ganze noch einmal zu fassen, gehört er nicht an diese StelleDas Seyn< an den Schluß, also hinter den letzten Teil des >Aufrisses< gesetzt.« In dem Schuber, der Heideggers Handschrift verwahrt, befindet sich das Textkonvolut »Das Seyn« noch an der ursprünglichen Stelle hinter dem Textteil »Vorblick«.

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Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik von besonderer Wichtigkeit ist das Kapitel I I : »Der Anklang«. Dieses gliedert sich im Manuskript in folgende, durch eigene Titel und eigene Bündelung voneinander abgehobene fünf Sinngruppen: »Anklang«

(lfd. Nr. der Gesamtausgabe: 5 0 - 6 0 )

»Machenschaft und Erlebnis« (lfd. Nr. 61-69) »Das Riesenhafte/u/das Seyn als Machenschaft« (lfd.Nr. 70-72) »Sätze/über/>die Wissenschaft« (lfd. Nr. 73-76) »experiri-experimentum/u./'Experiment' i.(m) n.(eu) ztl. (zeitlichen) S.(inn).« (lfd. Nr. 77-80). Anzumerken ist noch, daß die Sinngruppe »Sätze über >die Wissenschaft.die Wissenschaft.Schaffens< verschließen; d.h. ihr Schaffen kann nie ins Wesen kommen und zum Uber-sich-hinaus-schaffen werden, weil die totale Weltanschauung damit sich seihst in Frage stellen müßte. Die Folge ist die: das Schaffen wird im vorhinein ersetzt durch den Betrieb. Die Wege und Wagnisse einstmaligen Schaffens werden in das Riesenhafte der Machenschaft eingerichtet, und dieses Machenschaftliche ist der Anschein der Lebendigkeit des Schöpferischen.« 135 Dabei hat Heidegger an dieser Stelle auch ein konkretes politisches Ereignis im Blick: »Daß nun aber der totale politische Glaube und der ebenso totale christliche Glaube bei ihrer Unvereinbarkeit dennoch auf den Ausgleich und die Taktik sich einlassen, darf nicht verwundern.« 136 Das »nun« scheint sich auf das Konkordat zwischen Hitler und Papst Pius X I . vom Juli 1933 zu beziehen, also die Verbindung der totalen Ideologie des Nationalsozialismus mit dem »ebenso totalen christlichen Glauben«. Dazu ein kurzer Exkurs: An dem zwischen der Deutschen Reichsregierung und dem Heiligen Stuhl ausgehandelten Reichskonkordat war als offizielles Mitglied des deutschen Episkopats auch der Erzbischof von Freiburg, Conrad Gröber (1872—1948), beteiligt. Gröber hatte, damals noch Pfarrer in Konstanz und Leiter des dortigen erzbischöflichen Gymnasialkonvikts, an dem auch Heidegger zur Schule ging, diesen in seiner Schulzeit nach Kräften gefördert. Es wird also - bei aller Abwendung Heideggers von der katholischen Kirche - auch für ihn 1933 eine Bedeutung gehabt haben, daß dieser ehemalige Förderer und Mentor an den ausgleichenden Verhandlungen zwischen Staat und Kirche aktiv mitwirkte. Dabei lag wohl auch bei Gröber, ähnlich wie bei Heidegger, 1933 eine Verkennung der Machtverhältnisse und der Herrschaftsmethoden des NS-Staates vor. Gröber hatte vor allem aus ordnungspolitischen Gründen einen Rechtsschutz für die Kirche angestrebt. Am Beginn steht bei Gröber »das dezidierte Ja zum >neuen Staat< nach der Regierungserklärung vom 23.3. 1933, wie es in seinem >Hirtenwort an die kath. Jugend< vom März 1933 und vor allem in seiner Ansprache auf der Diözesan-Synode (25.4. 1933) zum Ausdruck kommt, das sich, besonders nach dem Abschluß des Reichskonkordates, steigert zum idealen Ziel der kraftvollen Durchdringung von Deutschtum und Christentum - so im Bekenntnis vor der großen Katholiken-Versammlung in 135 136

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Beiträge, S. 40 f. Beiträge, S. 41.

Karlsruhe am 9.10. 1933...« (Clemens Bauer: Erzbischof Gröber und das Reichskonkordat. In: Alemannisches Jahrbuch 1970, S. 328). Der Freiburger Erzbischof Gröber stand zunächst fest hinter der Reichsregierung und dem neuen Reich. Spätestens 1935 muß ihm diese positive Einschätzung fraglich geworden sein. »Die Desillusionierung des Erzbischofs nahm in den folgenden Jahren zu, innerhalb des deutschen Episkopates aber galt er wohl weiterhin als Mann, dessen kirchenpolitisches Rezept sich als falsch erwiesen hatte. (Ebd., S. 330). Später, so in einer von einem Theologiestudenten und einem Nazispitzel mitgeschriebenen Silvesterpredigt von 1937 hat Bischof Gröber sich auch mutig »gegen die Vergewaltigung des deutschen Glaubens« und gegen das staatliche Erziehungsmonopol zur Wehr gesetzt. Dieser spätere Widerstand Gröbers gegen das NS-Regime gaben ihm auch bei der französischen Militärregierung nach Ende des Krieges einen guten Stand. Daher wandte sich Heidegger 1946 an Gröber mit der Bitte um Hilfe, denn, so schreibt Hugo Ott in seiner Heidegger-Biographie: »der Freiburger Oberhirte galt als Eckpfeiler des kirchlichen Widerstands in der Zeit des nationalsozialistischen Unrechtsstaates und war jetzt unerschütterliche Autorität, gerade der französischen Militärregierung gegenüber.« (Ott, siehe Anm. 1, S. 319) Diese Darstellung des Sachverhalts ist aber einmal mehr ein Beleg für die verzerrte Sicht der Dinge bei Ott. Denn so eindeutig, wie Ott dies darstellt, war Gröber gerade nicht als »Eckpfeiler des kirchlichen Widerstands in der Zeit des nationalsozialistischen Unrechtsstaates« hervorgetreten, hatte vielmehr zunächst an maßgeblicher Stelle daran mitgewirkt, daß der NS-Staat auch von kirchlicher Seite anerkannt wurde und damit auch für Christen wählbar wurde. Gröbers Rolle im Prozeß um den am 14. Oktober 1943 vom deutschen Volksgerichtshof zum Tode verurteilten Priester Max Josef Metzger war zumindest problematisch, auch wenn Gröber sich um eine Begnadigung des Mannes bemüht hatte. So einseitig, wie Ott die Dinge darstellt, waren sie jedenfalls nicht. Man wird sich also auch hier um eine neuerliche, ausgewogenere Darstellung der Sachverhalte bemühen müssen. Weiterführende Literatur dazu: Bruno Schwalbach: Erzbischof Conrad Gröber und die nationalsozialistische Diktatur. Karlsruhe 1986. Zum Fall Metzger hat Ott selbst eine Dokumentation zusammengestellt (veröffentlicht im Freiburger Diözesan-Archiv 90, 1970), in dem er das Taktieren Gröbers immerhin benennt: »Gröbers Distanzierung hatte, so dürfen wir annehmen, primär taktische Funktion.« (S. 308). Daß Heidegger die Verbindung zwischen Staat und Kirche äußerst kritisch sah, wird bei seiner Einsicht in die Entleerung sowohl der politischen Ideologien wie auch der Religion - Nietzsches Satz »Gott ist tot« hatte er ja bereits in der Rektoratsrede zustimmend zitiert - nicht mehr überraschen. Gerade im totalitären Moment der

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Weltanschauungen sieht Heidegger die Zerstörung des Fragens und damit des Denkens und in diesem Sinne des wahrhaft Schöpferischen: »Denn sie sind desselben Wesens. Als totalen Haltungen liegt ihnen der Verzicht auf wesentliche Entscheidungen zugrunde. Ihr Kampf ist kein schöpferischer Kampf, sondern >Propaganda< und >Apologetikglücklich< ist, wo man dazu übergeht, die bisher den >Meisten< verschlossenen >Kulturgüter< (Kinos und Seebadereisen) allem >Volke< gleichmäßig zugänglich zu machen, eben da, in dieser lärmenden >ErlebnisZivilisation< dasjenige der £ « i - z a u b e r u n g zu nennen, und diese scheint eher, ja allein mit der völligen Fraglosigkeit zusammen zu gehen. Gleichwohl ist es umgekehrt. . . . Die Behexung durch die Technik und ihre sich ständig überholenden Fortschritte ist nur ein Zeichen dieser Verzauberung, der zufolge alles auf Berechnung, N u t z u n g , Züchtung, Handlichkeit und Regelung d r ä n g t . « 1 4 6

Die faschistische Züchtungsideologie wird hier nur noch beiläufig als ein Verfallssymptom genannt. Leitend aber sind andere Kategorien, die der »Berechnung«, »Nutzung«, »Regelung«. Sie waren in dem oben erwähnten Modernisierungsschub des NS-Staates zur Herrschaft gelangt, weisen aber über diesen hinaus. Nach Heidegger sind es wenige grundlegende Faktoren, die das neue Zeitalter als eines der »Seinsverlassenheit« prägen. Vor allem aber und allen voran: die Kategorie der »Berechnung«. Damit gemeint ist nicht nur die Mathematik im engen Sinne, sondern das »Grundgesetz des Verhaltens«, alle Seinsvorgänge, die Gesamtheit der Natur, aber auch die gesellschaftlichen Prozesse auf Berechenbarkeit und damit auf Beherrschbarkeit und Steuerbarkeit hin festzulegen. Die »Berechnung«, das »Mathematische« im weiteren Sinn als eine »Grundstellung zum Sein überhaupt und zu der Weise, wie das Seiende als solches offenbar ist«, hatte Heidegger schon in der Vorlesung »Die Frage nach dem Ding« von 1935/36 erforscht und dabei kenntlich gemacht, daß diese Grundstellung die neuzeitliche i « Beiträge, S. 107. 146

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Beiträge, S. 124. - Günter Seubolds Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik (München 1986) konnte die Beiträge noch nicht berücksichtigen.

Konzeption von Wissen und Wissenschaft durch und durch präge. In diesem Zusammenhang wurde Descartes' Philosophie als Modellfall einer Festlegung von Wahrheit auf Gewißheit, von Denken auf Rechnen im weiteren Sinn - »mathesis universalis« - sichtbar gemacht. 147 Berechnung von allem und jedem, das heißt Herrschaft über alles und jedes, und dies in Form der modernen Wissenschaft, Technik und Ökonomie im planetarischen Ausmaß. Heidegger benutzt zur Kennzeichnung der gigantischen, weltweiten Dimension dieses Prozesses der Ausbreitung dieses wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Denk- und Herrschaftstypus über die Welt auch den seltsamen Begriff des »Riesenhaften«. E r begegnete uns schon im Vortrag von 1938 und spielt eine zentrale Rolle auch in den »Beiträgen«. Das aus der »Leere der Seinsverlassenheit« herauswuchernde »Riesenhafte« der modernen Wissenschaft, Technik und Ökonomie ist letztlich die totale Herrschaft der Kategorie der Quantität selbst, der Rechnung und Berechenbarkeit: »Das Quantitative wird zur Qualität, heißt daher: . . . d a ß das Quantitative alles Seiende beherrscht.« 1 4 8

Die Herrschaft des Herrschaftsdenkens in der Form des quantitativen Denkens über die Welt, die Natur, den Menschen, das Reich der Ideen, alles was ist - die totale Berechenbarmachung von Welt hat aber eine eigentümliche Schrumpfung der Welt selbst zufolge. Diese korrelative Bewegung: Ausbreitung der Weltherrschaft des Menschen und zunehmendes Verschwinden der Welt durch ihre Bere147

Dabei wird zuweilen in der Descartes-Forschung angemerkt, daß in Descartes' Denkansatz noch ein mittelalterliches Erbe wirksam sei. In den Gottesbeweisen der »Meditationes« ist das ja auch direkt greifbar. Andererseits hat die Forschung nachgewiesen, daß der Gottesbeweis in Descartes' neuzeitlichem Denkansatz eine gänzlich gewandelte Funktion hat, nämlich die, den Wahrheits- und Realitätsanspruch der in der Abstraktheit der Egoität der Vernunft gewonnenen Erkenntnisse zu garantieren. Dabei bewegt sich Descartes in einem Zirkel. Der rationale Gottesbeweis soll »die Wahrheit von Logik und Mathematik sichern und ist doch selbst eine Erkenntnis nach deren Regeln.« (Dieter Henrich: Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. Tübingen 1960, S.22). Zur Konzeption der »mathesis universalis« siehe auch: Silvio Vietta: Neuzeitliche Rationalität und moderne literarische Sprachkritik. München 1981, S. 10 ff.

148

Beiträge, S. 137.

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chenbarmachung gehört zu den unheimlichsten Erscheinungsformen des »Riesenhaften« der modernen Zivilisation. Ihre zugespitztesten Formulierungen finden sich in dem Schlußabschnitt, »Das Seyn«. Zunächst noch einmal: »Das Riesenhafte gründet in der Entschiedenheit und Ausnahmslosigkeit der >Rechnung< und wurzelt in einem Ausgriff des subjekthaften Vor-stellens auf das Ganze des Seienden.« 1 4 9

Dann aber der genannte Zusammenhang, der zu den aufschrekkendsten Passagen des ganzen Buches zählt: »Die planende Berechnung macht das Seiende immer vor-stelliger, in jeder möglichen Erklärungshinsicht zugänglicher, so zwar, daß sich diese Beherrschbarkeiten ihrerseits unter sich einigen und gängiger werden und so das Seiende in das scheinbar Grenzenlose erweitern; doch eben nur scheinbar. In Wahrheit vollzieht sich mit dem zunehmenden Ausgriff der Forschung (der Historie im weitesten Sinn) eine Verlagerung des Riesigen von dem der Planung Unterworfenen in die Planung selbst. Und in dem Augenblick, da die Planung und Berechnung riesenhaft geworden, beginnt das Seiende im Ganzen zu schrumpfen. Die >Welt< wird immer kleiner, nicht etwa nur im quantitativen Sinne, sondern in der metaphysischen Bedeutung, das Seiende als Seiendes, d.i. als Gegenständliches wird schließlich soweit in die Beherrschbarkeit aufgelöst, daß der Seinscharakter des Seienden gleichsam verschwindet und die Seinsverlassenheit des Seienden sich vollendet.« 1 5 0

Man muß, um Heideggers Einsicht in das, was hier waltet, gerecht zu werden, auf die metaphysische Dimension seiner Analyse achten. Es geht nicht einfach um den empirischen Nachweis, daß mit der Ausbreitung der technischen Zivilisation Welt vereinnahmt, beherrschbar gemacht und so in ihrer Eigenheit zum Ver-schwinden gebracht würde. Das Moment der Weltvernichtung, das hier waltet, steckt im Denkentwurf der Neuzeit selbst: in dem Maße wie Seiendes nur mehr noch unter dem Gesichtspunkt von Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit erkannt und anerkannt werden kann, ist es schon in seiner Seiendheit vernichtet, zum Verschwinden gebracht worden. In der Kategorie der »Berechnung«, der Leitkategorie des neuzeitlichen Denkens, steckt bereits das Verschwinden der Welt, dies eben nicht nur im quantitativen Sinne, sondern in der »metaphysischen Bedeutung«, daß das Seiende als Seiendes in die Beiträge, S. 441. 150 Beiträge, S. 494 ff. 149

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formelhafte Berechenbarkeit übergegangen und damit in seiner Eigenheit getilgt worden ist. Als Rene Descartes im 17. Jahrhundert die Denkform einer universalen Mathematik als Universalwissenschaft forderte, als T h o mas Hobbes den Satz aussprach: »Wissenschaft dient nur der Macht! Die T h e o r i e . . . dient nur der Konstruktion! Und alle Spekulation geht am Ende auf eine Handlung oder Leistung aus.« 1 5 1 ,

hatte sich bereits dieses Schicksal der Neuzeit in nuce vollzogen. Das in der modernen Technik, Wissenschaft, Ökonomie zur Herrschaft gekommene rechnende Planungsdenken hatte sich als Entwurf einer totalen Seinsbemächtigung artikuliert. Dabei hat Heidegger deutlich erkannt, daß dieses Herrschaftsdenken bereits im Entwurfshorizont der abendländischen Denkgeschichte seit der Antike steckt, in seine virulente Phase aber erst in der neuzeitlichen Subjektphilosophie und durch sie getreten ist. Zur totalen Herrschaft kam das Herrschaftsdenken der Berechnung und Berechenbarkeit der Welt eben durch das Konzept der neuzeitlichen, systemhaften Subjektivität, der Zentrierung von Erkenntnis auf die menschliche Vernunft und die Interpretation dieser menschlichen Vernunft als eines universalen, systemhaften Meßinstrumentes. Diese Einsichten hatte sich Heidegger vor allem in den großen Vorlesungen der Jahre 1935/36 erarbeitet. Nun aber sieht Heidegger etwas Seltsames derart, daß gerade durch die totale Ausweitung der Kategorie der Berechnung und Berechenbarkeit das Subjekt, das diesen Prozeß anleitet, der Herrscher sozusagen, durch den von ihm selbst angezettelten Prozeß ausgehöhlt, getilgt, zum Verschwinden gebracht wird:

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Thomas Hobbes: Vom Körper. Elemente der Philosophie I. Übers, v. M. Frischeisen-Köhler. Hamburg 1967, S. 9. Im englischen Original: »The end of knowledge is power; and the use fo the theorems . . . is for the reconstruction of problems; and, lastly, the scope of all speculation is the performing of some action, or thing to be done.« (Elements of Philosophy. The First Section, Concerning the Body. English Works. Vol. I. Ed. by Sir W. Molesworth. London 1839, S. 7.) Bei Hobbes auch der Satz: »Unter rationeller Erkenntnis verstehe ich Berechnung« (a.a.O., S. 6).

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»Die metaphysische Verkleinerung der >Welt< erzeugt eine Aushöhlung des Menschen.« 1 5 2

Die metaphysische Verkleinerung der Welt im »Riesenhaften« der planetarischen Ausweitung der Berechenbarkeit der Welt durch den Menschen scheint diesen auf eigentümliche Weise zu >entsubstantialisierenMassenSentimentalitätErlebnisSubjektObjekt< seines eigenen Herrschafts- und Planungsdenkens geworden, sucht Ersatzformen von Erlebnissen, die die innere Leere vertreiben soll. Gerade das Fehlen jeder wesentlichen Erfahrung, das Signum der »Seinsverlassenheit«, ist aber von innerer Unruhe umgetrieben, von »Angst«. Angst ist nach Heidegger der Motor der organisierten Erlebnismaschinerie, für die ihm damals die »Kraft durch Freude«Bewegung des Nationalsozialismus vor Augen stand. Aber die »Jagd nach Erlebnissen« 1 6 2 ist nur die Kompensationsform der wie ungenau auch immer wahrgenommenen »Seinsverlassenheit«. Das aus den wesentlichen Bezügen herausgefallene Subjekt, selbst verobjektiviert, berechenbar gemacht und massenhaft geworden, sucht suchtartig die eigene Entleerung zu übertönen. In diese kritische Analyse einbezogen ist auch jede Form des »Kulturbetriebs«, der nicht wirklich Bewußtsein der Lage schafft, sondern nur verdeckende, kompensatorische Funktion hat. Dieser Kulturbetrieb dient nach Heidegger nur mehr noch der »Dekoration«, nicht mehr irgendeiner wesentlichen Besinnung. Eine Reihe von Texten aus den »Beiträgen« trägt so den Titel »Machenschaft und Erlebnis«. »Machenschaft« meint die »Herrschaft des Machens ι«» Beiträge, S. 139 und S. 123. i « Beiträge, S. 139. ι « Beiträge, S. 124.

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und des Gemächtes«, 163 also die Herrschaft des subjektiven Herrschaftsdenkens selbst, insbesondere der Kategorie der Berechnung und der daraus folgenden Konzeption, die Wirklichkeit selbst konstruieren, >machen< zu können. »Erlebnis«-Sucht ist die Kompensation des durch das eigene Denken entselbsteten Subjekts. Beide aber, »Machenschaft und Erlebnis« wurzeln nach Heidegger im selben metaphysischen Grund: der »Seinsverlassenheit« der Moderne. Auf der Grundlage dieser Analyse beschreibt Heidegger noch eine weitere wichtige Erscheinungsform der modernen »Seinsverlassenheit«: die »Schnelligkeit«. Gemeint ist damit zunächst eine Art von mechanischer Steigerung der technischen >Geschwindigkeithistorischen< E n t w i c k l u n g u n d ihrer Vorwegnahmen.«165

Wenn zunehmende Langeweile, Odnis das Signum des Verlustes eines echten Seinsbezuges ist, so kaschiert die »Schnelligkeit« diese innere Entleerung.166 Die Kategorie der »Schnelligkeit« meint aber darüber hinaus und letztlich die zunehmende Dynamisierung des wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Prozesses selbst, wobei nach Heidegger gerade in der zunehmenden Dynamik und Hektik ι « Beiträge, S. 131. 164 Beiträge, S. 121. Beiträge, S. 441. 166

Historisch tritt die Kategorie der Langeweile als eine Erfahrung der Sinnentleerung und korrespondierenden Gleichgültigkeit auf im Zusammenhang mit der modernen Mechanisierung des Denkapparates, des Staates und der Lebensprozesse. Eine symptomatische Funktion hat hier Georg Büchners D r a m a Leonce und Lena, in dem es ironisch heißt: »Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich an der Langeweile und - und das ist der H u m o r davon Alles mit den wichtigsten Gesichtern...« (Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. H g . v. Werner Lehmann. I. Band. H a m b u r g 1967, S. 106). Büchner kannte übrigens recht genau die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Moderne durch seine intensiven Descartes- und Spinozastudien (Bd. II, S. 137 ff) und natürlich seine naturwissenschaftlichen Studien. 85

das in ihr Versteckte und Verborgene sich zeigt: die »Seinsverlassenheit«. Je weniger substantiell das noch ist, was geschieht, desto hektischer muß es sich gerieren. Am Ende steht die in sich sinnlose Bewegung der Bewegung selbst. Das »reine In-Bewegung-setzen« als die »Aushöhlung aller bisherigen Gehalte der noch bestehenden Bildung« 167 . Heidegger hat den Ernst Jüngerschen Begriff der »totalen Mobilmachung« ebenfalls als eine solche typische Erscheinungsform der Moderne gesehen, die ihrerseits die gesamte Analyse der Berechnung, der Herrschaft, der Ideologien voraussetzt und die mehrfach genannte spezifische »Entwurzelung« des modernen Menschen. 168 Welche Rolle aber spielt in all diesen Prozessen die Wissenschaft, welche Chance gibt ihr Heidegger noch in den »Beiträgen zur Philosophie«? Auf der Wissenschaft, so erinnern wir uns, hatten Heideggers Hoffnungen in der Rektoratsrede von 1933 geruht. In seinem Vortrag von 1938 hat Heidegger diese eigene Fehleinschätzung selbst kritisch analysiert. Die inneren Voraussetzungen zu dieser Selbstkritik liefern die eben erst viel später erschienenen »Beiträge zur Philosophie«. Heidegger läßt hier keinen Zweifel daran, daß er auch die Wissenschaft voll und ganz integriert sieht in den Prozeß einer zunehmend bewußtloseren Akzeleration des technisch-ökonomischen Fortschritts, ja, gerade sie, die Wissenschaft, wird in dieser Fortschrittsideologie der Moderne selbst zunehmend eine entscheidende Leitfunktion einnehmen. Je mehr sie dies tut, desto mehr wird sie nach Heidegger ihre Ergebnisse selbst wie »Geschäftsgeheimnisse« handeln, d.h. sich in eine »betriebsmäßige Unauffälligkeit« kleiden. 169 In einer Phase der Geschichte, 1936-38, als der nationalsozialistische Staat zu umfangreichen »Industrieanalysen« ansetzte und daranging, die Ergebnisse vor allem der Naturwissenschaften wie »Geschäftsgeheimnisse« zu behandeln und sie für eine »umfassende Wehrwirtschaft« militärisch zu nutzen 170 , in dieser Phase setzt Heidegger an zu einer umfassen167 168

169 170

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Beiträge, S. 143. Beiträge, S. 143. Ernst Jüngers Essay Die totale Mobilmachung war 1931 erschienen. Beiträge, S. 157. Der deutsche Faschismus (Köln 1987), S.309ff. Dort eine Vielzahl von Dokumenten für den genannten Prozeß.

den Prognostik der Zukunftsgestalt der neuzeitlichen Wissenschaft. Was sieht er: »Kommt es, wie es kommen muß, zur Anerkennung des vorbestimmten Wesens der neuzeitlichen Wissenschaft, ihres reinen und notwendig dienstbaren Betriebscharakters und der hierzu benötigten Einrichtungen, dann muß im Gesichtskreis dieser Anerkennung künftig ein riesiger Fortschritt der Wissenschaften zu erwarten, ja sogar zu errechnen sein. Diese Fortschritte werden die Ausbeutung und Nutzung der Erde, die Züchtung und Abrichtung des Menschen in heute noch unvorstellbare Zustände bringen, deren Eintritt durch keine romantische Erinnerung an Früheres und Anderes verhindert oder auch nur aufgehalten werden kann. Aber diese Fortschritte werden auch immer seltener noch als ein Überraschendes und Auffälliges, etwa als Kulturleistungen, verzeichnet werden, sondern reihenweise und gleichsam als Geschäftsgeheimnisse erfolgen und verbraucht und in ihren Ergebnissen vertrieben werden. Erst wenn die Wissenschaft diese betriebsmäßige Unauffälligkeit des Abrollens erreicht hat, ist sie dort, wo sie selbst hintreibt: sie löst sich dann in die Auflösung alles Seienden selbst mit auf. Im Ausblick auf dieses Ende, das ein sehr dauerhafter Endzustand sein wird, der immer wie ein Anfang aussieht, steht die Wissenschaft heute in ihrem besten Beginn.« 171 Die Phase der totalen Herrschaft des Nihilismus als einer Phase der gänzlichen »Seinsverlassenheit« wird so, nach Heidegger, ein »sehr dauerhafter Endzustand« sein, der Endzustand der abendländischen Seins-und Denkgeschichte, der sich in einem langen, zweitausendjährigen Geschichtsprozeß vorbereitet hat. Die letzte Phase dieses Geschichtsprozesses wird nach Heidegger eine eigentümliche Bewußt-

und Fraglosigkeit

kennzeichnen,

dies auch und gerade trotz der gewaltigen, >riesenhaften< Zunahme an Wissenschaft. Denn das »große Entsetzen«, das Heidegger selbst angesichts dieser Entwicklung überfiel, zeigt den Absturz der Hoffnung dieses Denkers an. Wenn Heidegger noch 1933 an einen weltverändernden Aufbruch der Wissenschaft geglaubt hatte, wenn er im Durchgang durch die Wissenschaftsgeschichte der Frühneuzeit vor allem seit 1935 zunehmend erkennen mußte, daß neuzeitliche Wissenschaft selbst der Hauptagent des modernen

Herr-

schafts-, Planungs-, Rechnungs-, Ausbeutungsdenkens ist, was übrigens die Philosophie des Frührationalismus in ihren Hauptvertretern noch mit großer Naivität und großem Optimismus ausspra171

Beiträge, S. 156 f. 87

chen, so ist nun für Heidegger angesichts der gigantischen Entwicklung der Wissenschaft und angesichts der unheimlichen Vertreibung ihrer Ergebnisse als »Geschäftsgeheimnisse« ein Punkt der Desillusionierung erreicht, der Heidegger ab 1936 auf die Wissenschaft keine Hoffnung mehr bauen ließ. Wie weit Heidegger über die Vereinnahmung der Wissenschaft, auch und gerade der Naturwissenschaften, durch den NS-Staat informiert war, wissen wir nicht genau. Es ist an diesem Punkt der geschichtsphilosophischen Analyse der Zukunft der Wissenschaft auch nicht mehr von zentraler Bedeutung. Die Analyse Heideggers und die daraus folgende Zukunftsprognose der Wissenschaft verläuft ja letztlich auf einer rein metaphysikgeschichtlichen Ebene. Die Wissenschaft und ihre spezifische Form der Bewußtlosigkeit ist eben nach Heidegger selbst jener Ausdruck der »Seinsverlassenheit«, die sich als ein nur mehr noch auf Berechnung, Beherrschung ausgerichtetes Denken zeigt. Die Wissenschaft ist so eine, die Erscheinungsform der Moderne, als eines »Zeitalters der völligen Fraglosigkeit«: »Die >Wissenschaft< betreibt so die Sicherstellung des Zustandes einer völligen Bedürfnislosigkeit im Wissen und bleibt deshalb im Zeitalter der völligen Fraglosigkeit stets das >ModernsteVorstellungenEinfachesDie Technik< (Die vermeintliche Neutralität der Technik) Daß sich die Erfindungen der Technik zum Aufbau und zur Vernichtung, zum Nutzen und zum Verderb verwenden und überhaupt betreiben lassen, erweckt den Anschein, als stünde die Technik samt ihren Produkten >eigentlich< außerhalb der Parteiung jener Gegensätze. Man sagt, die Technik sei neutral. Nur der Mensch dränge sie in die Richtung des Segens und des Unsegens. Doch was ist das - der Mensch? Was ist das - die Technik? Ist denn der neuzeitliche Mensch etwas anderes als das durch die Technik, das sichernde vorstellende Herstellen seiner selbst und >des Seiendendie Technik< etwas anderes als die Wahrheit des Seienden im Sinne der zustellbaren Gewißheit der Gegenstände und Zustände, welche Wahrheit im Menschenwesen sich angesiedelt hat, indem sie zugleich dessen Aufenthaltsbereich wurde? Wer sagt, daß der Nutzen, den die Technik aufbauend biete, ein Heil sei und der Verderb ein Unheil? Vielleicht ist der Aufbau, worin der metaphysische Egoismus des Menschen sich austobt und angebliche Nutzwerte schafft, das Unheil seines Wesens. Vielleicht ist aber auch die Vernichtung, in die der Mensch, ohne es zu ahnen, von der >neutralen< Technik gestoßen wird, ein Heil, sofern sie die Nichtigkeit des Seienden an den Tag bringt. Vielleicht ist der Anschein der Neutralität, den die Technik um sich legt und den der Mensch gierig aufnimmt, um ja in der Verzauberung durch die Technik bleiben zu können, die letzte Täuschung, die von der Metaphysik ausgeht und den Willen zum Willen in seinen unbedingten Machenschaften bestätigt. Vielleicht ist der Anschein der Neutralität der Technik und der gierige Glaube an sie das Kennzeichen der Ahnungslosigkeit des metaphysischen Menschen hinsichtlich der Metaphysik. Vielleicht reizt der Anschein der Neutralität der Technik allen menschlichen Scharfsinn dazu, alle Möglichkeiten der Technik und der techni93

sehen Eroberung der Natur und der technischen Organisation der Geschichte zu versuchen, um auf diesem Wege eine Welteinrichtung herzustellen, die vom Menschen gemacht das Wohlergehen und den Wohlstand der Menschen sichern soll. - Vielleicht wird durch diese Aufreizung der metaphysische Mensch in die letzten Tollheiten des planetarischen Egoismus gestoßen.«

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VI. Heidegger und die Tradition der anderen Aufklärung. Heideggers Schweigen

Vielleicht ist das Erschreckendste an Heideggers Kritik des Nationalsozialismus, daß er - mitten im sogenannten »Dritten Reich«, mitten im II. Weltkrieg sogar - nicht nur den Nihilismus dieser Verwüstungserscheinungen der Weltgeschichte erkannte, sondern daß er, da doch das Schlimmste schon zu geschehen schien, Schlimmeres vorhersah. 1942 prognostiziert Heidegger, daß dieser »lange Krieg in seiner Länge« übergehe »nicht in einen >Frieden< früherer Art, sondern in einen Zustand, in dem das Kriegsmäßige gar nicht mehr als solches erfahren wird, u. das >Friedensmäßige< sinn- und gehaltlos geworden ist.« 1 7 7 Das Erschreckende der Heideggerschen Zukunftsvision ist die Vorhersage eines permanenten Kriegszustandes auch in Friedenszeiten. Spätestens 1938 hat Heidegger mit Nietzsche den verlogenen Fassadencharakter der faschistischen Ideologie, auch der »Vergötzung« des Völkischen durchschaut und den Zerfall der Ideologien selbst als einen Prozeß, der sich zwangsläufig in dem Maße einstellt, wie »Weltanschauungen«, wie »Ideen« und »Werte« nur mehr noch als Propagandamittel für reine Machtpolitik gebraucht würden. Gerade in ihrer totalisierten Form fungiert nach Einsicht Heideggers politische Weltanschauung nur mehr noch als »Propaganda« und »Apologetik« und ist in der Verdeckung des real herrschenden Nihilismus eine der heimtückischsten Formen seiner Erscheinung in der Geschichte. »Weltanschauung«, so sah Heidegger, »ist immer ein Ende, meist ein langhingezogenes und als solches nicht gewußtes.« 1 7 8 Aber inmitten dieser Endphase einer in Wahrheit nihilistischen 177 178

Siehe Anm. 80. Beiträge zur Philosophie, S. 37.

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Propagandamaschine sah Heidegger etwas anderes, Bedrohlicheres heraufkommen: die scheinbar ideologiefreie, weltanschauungsneutrale Herrschaft der Technik im weiteren Sinne: als Herrschaft eines planetarischen Denk- und Handlungstypus der totalen Berechenbarmachung und Ausbeutung der Welt, »Berechnung« verstanden als ein »Grundgesetz des Verhaltens«, nach dem alle Seinsvorgänge, die Gesamtheit des Seienden auf Nutzbarkeit hin gestellt werden soll, berechenbar gemacht und vernutzt. Daher auch der spätere Begriff des »Gestells« für diesen globalen, aggressiven wissenschaftlich-technologischen-ökonomischen Angriff auf das Seiende. Als Herrschaft der Technik, des »Gestells« vollzieht sich nach Heidegger die Endphase der abendländischen Metaphysik- und Seinsgeschichte. Eine Endphase auch der Aufklärung, insofern sie, als Prozeß der Entmythisierung, der »Entzauberung«, nun um so fragloser einer anderen »Verzauberung« verfiel, »dieser Verzauberung, der zufolge alles auf Berechnung, Nutzung, Züchtung, Handlichkeit und Regelung drängt.« 1 7 9 Diese Geschichtsphase der neuzeitlichen Metaphysik hat nach Heidegger eine eigentümlich ambivalente Struktur: zunehmende Akzeleration der technischen Geschwindigkeit und zugleich: Verlust an echter Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, zunehmend >riesenhafte< technische Inbesitznahme der Welt und zugleich ihr Verschwinden, ihre Auflösung in Berechenbarkeit, zunehmende massenhafte Ausbreitung des Menschen auf der Erde und zugleich dessen Aushöhlung - das »Riesending Mensch« wird »je riesiger um so kleiner« 1 8 0 - , zunehmende Herrschaft des Herrschaftsdenkens der Berechnung und korrelatives Verschwinden des Fragens, des Hören-könnens, des anderen, nicht auf technische Herrschaft ausgerichteten Denkens. Angesichts dieser Einsichten Heideggers schon in der nationalsozialistischen Ära war es vollkommen konsequent, daß Heidegger, auch nach dieser Ära, die Gedanken seiner Technikkritik weiterentwickelte und daß er fortfuhr zu mahnen. Der Aufsatz »Die Zeit des Weltbildes« von 1950 enthält sogar den schon mehrfach zitierten Satz, den die Vortragsfassung des Aufsatzes von 1938 noch nicht enthalten hatte: 179 Beiträge, S. 124. « ο Beiträge, S. 278.

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»Nicht das Anwesende waltet, sondern der Angriff herrscht.« 181 Welcher Angriff? Der Satz wurde offensichtlich in einer Phase der deutschen Geschichte geschreiben, als der Faschismus besiegt war, die Bundesrepublik Deutschland gegründet und der Wiederaufbau eingeleitet.

Also

eine

höchst

>konstruktive
grüne Hölle< wucherte, wird zur Wüste. Die Menschen aber ziehen weiter, roden ein neues Stück Regenwald.«

Wie waren diese denkend-philosophischen Prognostizierungen der Verwüstung schon bei Nietzsche und dann bei Heidegger und dies zu einem Zeitpunkt, als diese Prozesse für die meisten Zeitgenossen noch nicht sichtbar waren, möglich? Sie waren möglich, weil diese Denker hier selbst eine Geschichtslogik erkannten und am Werk sahen: die Inthronisierung und zunehmende Herrschaft jenes neuzeitlichen Denk- und Handlungstypus der Berechnung, Ausbeutung, Vernutzung der Erde, der letztlich alle Ideologien auflöst und als letzte scheinbar ideologiefreie Gestalt der abendländischen Seinsgeschichte um so fragloser sich ausbreiten würde. Gegen Ende der achtziger Jahre dieses Jahrhunderts ist die Literatur voll von Zeichen der Bedrohung. Ein Stück wie Harald Muellers »Totenfloß«, Enzensbergers »Der Untergang der Titanic«, die »Kassandra« der Christa Wolf, in jüngster Zeit Günter Grass' Rede vor dem Club of Rome »Calcutta wird über uns kommen« gehören zu den warnenden Stimmen in unserer Zeit. 182 182

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Zum Ansteigen der Weltbevölkerung und zum unkontrollierten Ausufern der Städte in der Dritten Welt sagte Günter Grass vor dem Club of Rome: »Die Zukunft der Menschheit, vormals Spielraum für widersprüchlichste

Ist solche Kritik, sind Heideggers Befürchtungen angesichts der globalen Ausbreitung der Technik und ihrer »machinalen Ökonomie« irrational? Man kann Heideggers Kritik der Technik, die ja eine Analyse der in der Technik aufgehobenen Geschichte der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft mit einschließt, als eine radikalisierte Aufklärung lesen. Voraussetzung dafür allerdings ist, daß der Begriff der Aufklärung nicht mit der neuzeitlichen Vernunft- und Subjektphilosophie - gleichsam als deren Apologie gleichgesetzt wird, sondern dieser Begriff auch die kritische Analyse der Voraussetzungen und Folgelasten dieser Philosophie der Subjektivität mit einschließt. In diesem Sinne ist nicht erst Heidegger, sondern eben schon Nietzsche ein aufklärerischer Kritiker der Aufklärung. Beide, Nietzsche und Heidegger, stehen in einer Tradition der - wie ich sie nennen möchte - anderen Aufklärung, die über die Romantik, Herder zurückreicht bis zu Vico, Shaftesbury und Pascal. Die falsche und ganz irreführende Opposition von Rationalismus und Irrationalismus, von Vernunft und Widervernunft in der europäischen Geistesgeschichte hat lange Zeit den Blick dafür verstellt, daß die Absolutsetzung der neuzeitlich instrumentellen Vernunft selbstkritisch hinterfragt werden muß. Die Philosophie der genannten >anderen Aufklärer< hat, vor allem in der Form der Descartes-Kritik, von Anfang an dieses Unbehagen an dem Herrschaftsanspruch der neuzeitlichen Vernunft artikuliert.183

183

Utopien, ist von katastrophalen Abläufen vordatiert. Die Zeit der Warnungen ist vorbei, weil eine Vielzahl katastrophaler Entwicklungen, die sich vormals notfalls als isolierte Vorgänge begreifen ließen, miteinander verquickt sind und sich so potenzieren. Denn wie die Verelendung der Dritten Welt und der nach wie vor wirksame Rüstungswettlauf einander bedingen, so ist auch die ungehemmte industrielle Expansion mit wachsender Umweltzerstörung und klimatischen Veränderungen als insgesamt zerstörerischer Zusammenhang zu begreifen.« (In: F A Z 13. Juni 1989). Zur Entwicklung der Großstädte der Welt und ihrem prognostizierten Wachstum siehe: Gerhard Schweizer: Zeitbombe Stadt. Die weltweite Krise der Ballnngszentren. Stuttgart 1987. Die Prognosen für einige Städte in den Jahren 2000 und 2025 lauten (in Millionen): Mexico City 27,6 auf 36,7; Shanghai 25,9 auf 36,1 . . . Kalkutta 15,9 auf 26,4. Unter den fünfzehn größten Städten kommt dieser Prognose nach eine europäische Stadt gar nicht mehr vor. New York fällt mit etwa konstant 19,5 Millionen im Jahr 2000 und 2025 von Rang 6 auf Rang 14 der weltweit größten Städte (S. 334). Es wäre eine komplexe eigene Untersuchung, diese Tradition der >andren Aufklärung< und ihr Nachwirken im Werk Heideggers zu analysieren. Ich muß diese Analyse hier aussparen.

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Aber Heidegger, der in dieser Tradition steht, hat die Akzente radikal verschoben. In dem Maße, wie die Folgelast des neuzeitlichen Denkens, des rechnenden Denkens, in der Form der Technik zu einer eher unphilosophischen, d.h. jeder expliziten Philosophie entsagenden Herrschaft gekommen ist, hat Heideggers Denken, mit Nietzsche, aber über ihn hinaus, die Dimension der Wissenschaftskritik um die der Technikkritik erweitert. Zum anderen hat Heidegger inmitten der Phase der »Weltverdüsterung und Erdzerstörung«, die er im Faschismus schon am Werk, aber in schlimmerer Form noch kommen sah, eine Wende vollzogen, die sogenannte »Kehre«: weg von dem alles auf sich beziehenden Standpunkt der Subjektivität, des Menschen, hin zu einem Denken der Seins-Zugehörigkeit, vor dessen Maßgabe die Herrschaft des Subjektdenkens selbst als eine Form des Nihilismus, der »Seinsverlassenheit« erschien. Es ist in diesem Zusammenhang interessant und erwähnenswert, daß Heidegger bereits in den dreißiger Jahren gesellschaftskritische Phänomene analysiert hat, die aus der eigentümlichen Egozentrik des neuzeitlichen Denkens folgen und die erst wieder die heutige Psychologie - und nun zumeist unter dem Begriff des »Narzißmus« - erkannt und analysiert hat. 1 8 4 Der Standortwechsel weg von der egozentrischen Vernunft hin zu einem Seinsdenken unterscheidet aber Heideggers Kritik radikal auch von der genannten Tradition der >anderen Aufklärung