Heideggers Kierkegaard (Nomos Universitatsschriften - Philosophie, 2) (German Edition) 384873429X, 9783848734290

Der Autor legt mit diesem Titel eine ebenso frische wie originelle Analyse des philosophischen Verhaltnisses Kierkegaard

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Heideggers Kierkegaard (Nomos Universitatsschriften - Philosophie, 2) (German Edition)
 384873429X, 9783848734290

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UniversitätsSchriften

Philosophie

Paul Kuder

Heideggers Kierkegaard

Nomos

2

Nomos Universitätsschriften Philosophie Band 2

Paul Kuder

Heideggers Kierkegaard

Nomos

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Dresden, TU., Diss., 2015 u.d.T.: Heideggers Kierkegaard. Wie „man“ mit Heidegger Heideggers Kierkegaard rehabilitiert ISBN 978-3-8487-3429-0 (Print) ISBN 978-3-8452-7764-6 (ePDF)

1. Auflage 2016 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2016. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Lieber Herr Kittsteiner*, ich möchte Ihnen hiermit meinen in Worten nicht zu fassenden Dank für alles aussprechen. Vielleicht schauen Sie mal hinein, wenn es sich ergibt… Mit herzlichsten Grüßen! (* Professor Heinz Dieter Kittsteiner, der 2008 so plötzlich verstarb.)

Inhaltsverzeichnis

1.

Einleitung

2.

„Existenzphilosophische“ Wenden

28

3.

Kierkegaards existenziales Paradigma in Die Krankheit zum Tode

57

Kierkegaards ambivalentes Entweder-Oder – eine existenziale Lektüre

74

4. 5. 6. 7. 8. 9.

9

Kierkegaard und Heidegger: Verschränkung der Ebenen vernunft- und verstandeskritisch sowie pragmatisch

105

Sein und Zeit als Daseinsanalyse mit pragmatischexistenzialistischen Implikationen

137

Gelebte Zeitlichkeit, Augenblickserwartung, Angstbereitschaft – der präsentische Fokus der Eigentlichkeit

157

Existenzialistische Missverständnisse – Heideggers ambivalente Rhetorik, Kierkegaards Rhetorik der Ambivalenz

185

Fazit

212

10. Bibliographie

219

7

1. Einleitung

Wer längere Zeit mit Sören Kierkegaard verbracht hat, wird sich bei der Tagebuchaufzeichnung Albert Camus‘ ein Lächeln nicht verkneifen können. Camus notierte: „Kierkegaard stieß Hegel gegenüber eine furchtbare Drohung aus: ihm einen jungen Mann zu schicken, der ihn um Ratschläge bittet.“1 Camus illustriert hier mit seinem feinen Sinn für das Absurde die vermeintliche Lebensfremdheit des zu Lebzeiten schon berühmten Hegel. Genauer noch spiegelt das Zitat Camus‘ Sicht auf einen Hegel, wie ihn Kierkegaard sah. Als Leser Kierkegaards sind einem die bissigen Bemerkungen des Kopenhagener „Dandys“ gegenüber Hegel vertraut. Es sei mal dahingestellt, ob Hegel nicht vielleicht doch dem jungen Mann hilfreiche Orientierung gegeben hätte. Vielleicht hätte er ihm sogar geraten, dass er in dieser schwierigen Situation am besten selbst über seine Zukunft entscheiden müsse. Möglicherweise wäre der Kierkegaard der indirekten Mitteilung auch nicht der richtige Ansprechpartner des jungen Mannes gewesen. Folgt man blind dem Bild, das Kierkegaard über Hegel und dessen Philosophie zeichnet, kommen wir schnell zu dem Schluss: Dort haben wir es mit einem über das Leben dozierenden Philosophieprofessor zu tun, der über seine komplexen und kaum verständlichen Gedankengebäude seine eigene Existenz in ein intellektuelles Nichts wegabstrahiert habe. Hier haben wir es mit einem „Mann“ zu tun, der nicht nur mitten im Leben und außerhalb des akademischen Betriebs steht, sondern der zudem auch als Autor des Tagebuch eines Verführers erklären kann, was über das Leben zu sagen und wie darüber zu sprechen ist. Dass es Kierkegaard an Selbstbewusstsein nicht mangelte, davon zeugt die Aussage eines seiner Pseudonyme am Ende der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken: „Mein lieber Leser! Daß ich es selbst sage: Ich bin nichts weniger als ein Teufelskerl in der Philosophie, dazu berufen, eine neue Richtung zu schaffen.“2

1 Zitiert aus: Michel Onfray: Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus, München, 2013, S. 13. 2 Sören Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, in: Sören Kierkegaard. Philosophische Schriften, in der Über-

9

1. Einleitung

Davos, März/April 1929: Das philosophisch interessierte Publikum erwartet gespannt den Höhepunkt der 2. Davoser Hochschultagung – eine Podiumsdiskussion zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger. Dort der geschätzte und etablierte, das gediegene Bildungsbürgertum repräsentierende Kulturphilosoph, der mit seiner Philosophie der symbolischen Formen für ein Denken steht, das gegen verabsolutierende kulturelle Entfremdungsbefunde gebaut ist und in dessen Texten sich ein traditionell aufklärerischer und versöhnender Geist ausspricht. Hier der im Alter von 39 Jahren vergleichsweise junge philosophische Newcomer, der mit seinem 1927 veröffentlichten Sein und Zeit für Furore sorgte, dem entschlossenen „Vorlaufen zum Tode“ das Wort redet und der während der besagten Debatte provokativ in Gestalt einer Frage fordert: „Wie weit hat die Philosophie die Aufgabe, frei werden zu lassen von der Angst? Oder hat sie nicht die Aufgabe, den Menschen gerade radikal der Angst auszuliefern?“3 Nach überlieferten Berichten beeindruckte Heidegger sein Publikum nicht nur intellektuell, da er schon zuvor nach einer Ski-Tour ins Hotel heimkehrend, in lässiger Pose, sportlich adrett gekleidet seine Naturverbundenheit und Virilität den Tagungsteilnehmern demonstrierte – wohlwissend, neugierige Blicke auf sich zu ziehen. Die beiden Passagen exemplifizieren nicht nur einen beiden Autoren gemeinen Hang zur Selbstinszenierung. Kierkegaard und Heidegger profilieren ihr Denken gegen den akademischen Status quo, gegen leitende Diskurse und den Zeitgeist prägende philosophische Entwürfe und Theorien. Sowohl Kierkegaard als auch Heidegger tragen den nicht wenig bescheidenen Anspruch voran, im Namen der „Existenz“ bzw. im Namen des „Seins“ „unverstellt“ zu denken und – im Gegensatz zu allen Anderen – offenzulegen, was ist. Beide stammen aus bürgerlichem Hause und kokettieren mit einem antibürgerlichen Habitus. Sie gefallen sich in ihrem revolutionären Gestus und zugleich prägt sie ein genuiner Konservatismus – ob es nun die Wiederentdeckung und Wiederbefragung des vorsokratischen „Seins“ ist oder die Reformulierung eines nachhegelschen Christentums unter existenziellen Vorzeichen, das sich auf seinen „wahren“ Ursprung beruft. Der eine sinniert über ein radikal existenziell gewendetes

setzung von Christoph Schrempf, Wolfgang Pfleiderer und Hermann Gottsched, Frankfurt am Main, 2007, S. 1137 (im Folgenden: AuN, Seitenzahl). 3 Zitiert aus dem Protokoll der Davoser Disputation, in: Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, 2. Auflage, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main, 2010, S. 274-296, hier S. 285f.

10

1. Einleitung

Gottesverständnis, der andere reflektiert darüber, wie über den „anderen Anfang“ ein neuartiger Bezug zum „Sein“ gestiftet werden kann. Beide erzählen auch – um mit Milan Kundera zu sprechen – von der unerträglichen Leichtigkeit des Seins, genauer von der unerträglichen Leichtigkeit des Daseins. Beide tragen – Kierkegaard mit der Konzeption der „religiösen Existenz“, Heidegger mit seiner Konzeption der „Eigentlichkeit“ – einen enorm hohen, nahezu unerfüllbaren Anspruch an das Dasein heran. Beide schreiben bezüglich dieser Modi von einem Existieren, das dem Dasein eine unerbittliche Strenge, eine permanente Selbstkontrolle und einen absoluten Ernst abverlangt. Hier haben weder Spiel, noch Amüsement Platz. Vor Gott ist mit Kierkegaard keine Leichtigkeit zu haben. Ebenso wenig wie für das heideggersche Dasein angesichts der in Vergessenheit geratenen Seinsfrage. Hannah Arendt hatte mit Blick auf die Philosophiegeschichte gemeint, dass das Existieren für das Dasein nach Hegel problematisch geworden sei.4 Insbesondere nach Hegel werden Daseinskonzeptionen populär, die den prekären Status menschlicher Existenz in den Vordergrund stellen. Der von Karl Löwith erklärte „revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts“ konstatiert auf der einen Seite eine mit Marx in Verbindung gebrachte Veräußerlichungstendenz, auf der anderen Seite eine Kierkegaard zugeschriebene Verinnerlichungsbewegung. Zudem manifestiert sich dieser „Bruch“ auch in extremen Entfremdungsbefunden, die sich in den Daseinskonzeptionen posthegelscher Philosophie verschiedenster Couleur spiegeln. In philosophiegeschichtlichen Abhandlungen begegnet uns ein Kierkegaard, der als „Vater des Existentialismus“ bzw. der „Existenzphilosophie“5 firmiert. Nach meiner Kenntnis tauchen die Begriffe Existenzialismus und Existenzphilosophie in den Texten Kierke-

4 Hannah Arendt: Was ist Existenzphilosophie, Frankfurt am Main, 1999, S. 17. 5 Siehe: Richard Purkarthofer: Kierkegaard, Leipzig, 2005, S. 11 (im Folgenden: Purkarthofer, Kierkegaard, Seitenzahl); sowie Klaus Harms: Vor Gott ohne Gott, Berlin, 2009, S. 36; ebenso bei Josef Rattner/Gerhard Danzer: Dänemark und Norwegen in Europa: Geistesgeschichtliche und literarische Essays, Würzburg, 2004, S. 73; siehe auch: Rainer Thurnher: Sören Kierkegaard, in: Rainer Thurnher, Wolfgang Röd, Heinrich Schmidinger: Geschichte der Philosophie. Band 13. Die Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts und 20. Jahrhunderts. 3. Lebensphilosophie und Existenzphilosophie, München, 2002, S. 15-59, S. 17 (im Folgenden: Thurnher, Kierkegaard, Seitenzahl); so auch zum Beispiel der mehrteilige Beitrag von Rüdiger Achenbach im Deutschlandfunk vom 16.04.2013: „Sören Kierkegaard – Vater der Existenzphilosophie", siehe auf: http://www.deutschlandfunk.de/

11

1. Einleitung

gaards nicht auf. Heidegger dagegen verwendet den Terminus „Existenzphilosophie“, um sich vor allem gegenüber einem Karl Jaspers zugeschriebenen „existenzphilosophischen Denken“ abzugrenzen, dessen Ursprünge er in Kierkegaards Texten ausmacht. Kierkegaard steht – mit Richard Purkarthofer gesprochen – mit seinen Schriften und seinem persönlichen Wirken als „Arrivé“6 Pate für die Widersprüchlichkeit, Ambivalenz und Komplexität des Lebens in der Moderne. Seine Werke kreisen um die Lebenswirklichkeit zwischen höherem Streben und Leidenschaft, Alltäglichkeit und Abgründen des Menschen und dessen fragiler Konstitution in einer radikal sich wandelnden und beschleunigenden Welt. Kierkegaard geht es nicht um die Ausdifferenzierung erkenntnistheoretischer Fragestellungen; er wirft nichts weniger als den sinnsuchenden Menschen in seiner Unvertretbarkeit, Totalität und Individualität in die Waagschale. Dass es von hier aus nicht weit zum Nihilismus ist, beschreibt Kierkegaard alias Constantin Constantius: „Mich ekelt das Dasein, es ist geschmacklos, ohne Salz und Sinn. Wenn ich hungriger als Pierrot wäre, möchte ich doch die Erklärung, die die Menschen bieten, nicht essen. Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen – es riecht nach gar nichts. Wo bin ich? Was will das heißen: Welt? Was bedeutet dieses Wort? Wer hat mich in das Ganze hineingelockt und läßt mich nun da stehen? Wer bin ich? […] Gibt’s da einen Dirigenten?“7 Die radikale Frag-Würdigkeit im Hinblick auf die Existenz des Menschen beschäftigt auch Heidegger, der diese Thematik an die Frage nach dem „Sein“ koppelt und aus einer dezidiert vernunftkritischen, transrationalen und transkategorialen Perspektive die Philosophie und das Denken insgesamt neu zu verhandeln beansprucht. Heidegger hatte Kierkegaard intensiv gelesen. Die Signa seiner Kierkegaardlektüre sind vor allem in Sein und Zeit omnipräsent. Kierkegaards beträchtlicher Einfluss auf Heidegger lässt sich allerdings nicht am Maßstab der darin enthaltenen

jugendjahre-und-das-romantische-lebensgefuehl.886.de.html?dram:article_id =243688. 6 Richard Purkarthofer: Denker am existenziellen Abgrund. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard. Adelbert Reif im Gespräch mit Richard Purkarthofer, in: die Drei. Zeitschrift für Anthroposophie in Wissenschaft, Kunst und sozialem Leben, Heft 3, 2006, S. 29-33, hier S. 29 (im Folgenden: Purkarthofer, Denker am existenziellen Abgrund, Seitenzahl). 7 Sören Kierkegaard: Die Wiederholung, in: Sören Kierkegaard, Philosophische Schriften 2, in der Übersetzung von Christoph Schrempf, Wolfgang Pfleiderer und Hermann Gottsched, Frankfurt am Main, 2009, S. 154.

12

1. Einleitung

Kierkegaardreferenzen messen. In Sein und Zeit findet Kierkegaard lediglich in drei spärlichen Fußnoten Erwähnung – in denen distanziert sich Heidegger von Kierkegaard zudem auffällig scharf. Es irritiert nicht nur allein der Umstand, dass Heidegger Kierkegaard in seinen Texten äußerst selten zitiert bzw. kaum auf ihn als Gedankengeber verweist. Wenn er dies tut, dann in abgrenzender Absicht, um seine eigenen Überlegungen auf Kosten Kierkegaards zu profilieren. So konstatiert Vincent McCarthy: „Heidegger never explicitly acknowledges a direct or significant influence on Being and Time, and he is grudging, at best, in crediting Kierkegaard with a role in his intellectual development […]. Heidegger almost always takes back with the one hand what he has just seemed to give with the other.”8 Heideggers Distanzierungsbemühungen gegenüber Kierkegaard stehen in einem Missverhältnis zu dem, wie und in welchem Maße er ihn rezipiert hat bzw. wie er diese Rezeption transparent macht. Zugleich zeigt sich die Absenz der Kierkegaardreferenzen bei offensichtlicher gedanklicher Nähe umso aufdringlicher als Leerstelle. Roger Poole hält diesbezüglich zu Recht fest: „The closeness of Heidegger’s imitations should be a matter for a little embarrassment.“9 Ist man einmal auf diese Fährte gestoßen, dann fügt sich auch folgende kuriose Sentenz zu einem eigenartigen Puzzle zusammen. Als die Teilnehmer auf einer Pariser Tagung von 1964 zum Thema „Kierkegaard vivant“ einen Vortrag von Heidegger erwarteten, mussten sie sich nicht nur über dessen Abwesenheit auf der Veranstaltung wundern. Jean Beaufret, der in Vertretung den Beitrag Heideggers las, bemerkte in der anschließenden Diskussion selbst überrascht, dass Heidegger „sprach, ohne über Kierkegaard zu sprechen“ – seltsam, angesichts einer Tagung, die ihrem Titel nach gerade das von ihm wünschte.10

8 Vincent McCarthy: Martin Heidegger: Kierkegaard’s Influence Hidden and in Full View, in: Jon Stewart (Hg.): Kierkegaard and Existentialism, Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Jahrgang 9, Kopenhagen, 2011, S. 95f. (im Folgenden: McCarthy, Kierkegaard’s Influence Hidden and in Full View, Seitenzahl). 9 Roger Poole: The Unknown Kierkegaard: Twentieth Century Receptions, in: Alastair Hannay/Gordon D. Marino (Hg.): The Cambridge Companion to Kierkegaard, Cambridge, 1998, S. 48-75, hier S. 52. 10 Siehe dazu: Clare Carlisle: Kierkegaard and Heidegger, in: John Lippitt and George Pattison (Hg.): The Oxford Handbook of Kierkegaard, 2013, S. 421-439, hier S. 421 (im Folgenden: Carlisle, Kierkegaard and Heidegger, Seitenzahl).

13

1. Einleitung

Neben dem rezeptionsgeschichtlichen Aspekt des philosophischen Verhältnisses Kierkegaard-Heidegger impliziert dieses eine damit verknüpfte systematische Ebene. Heidegger interessierten Kierkegaards Reflexionen, die die Existenz des Menschen in den Mittelpunkt stellen und von diesem Standpunkt aus das bisherige Denken zu revolutionieren beabsichtigten. Heidegger knüpft an diesen revolutionären Anspruch an und behauptet zugleich Kierkegaards Denken, das er als existenziell charakterisiert, mit seiner existenzialen Analyse Grund zu legen. Kierkegaards Texte lieferten, so Heidegger, ein breit gestreutes Panorama von Stimmungs-, Gefühls- und Grenzerfahrungsanalysen und blieben damit einer subjektivistischen, auf das Dasein des Menschen beschränkten Ebene, verhaftet. Bemerkenswert ist – und das bildet Anlass und Ausgangspunkt meiner Studie – dass auch die Forschung in der Bewertung des philosophischen Verhältnisses Kierkegaard-Heidegger bis auf wenige Ausnahmen in der Grundtendenz der heideggerschen Argumentation folgt: Hier der existenzielle Kierkegaard, dort der philosophisch anspruchsvollere existenziale Heidegger.11 Ich gehe im Folgenden zunächst auf die Forschungsliteratur ein, um den Einsatzpunkt meiner Studie zu verorten.

11 Als paradigmatisch für eine Deutungsperspektive, die Heidegger unbedingt von „existenzphilosophischen“ und existenzialistischen Interpretationen fernhalten will, können die Arbeiten von Friedrich-Wilhelm von Herrmann angeführt werden. So konstatiert von Herrmann: „Die denkende Aneignung der Fundamentalontologie des Daseins jenseits des Bewusstseins- und Subjektivitäts-Ansatzes und in Abgrenzung gegen die Husserlsche Phänomenologie einerseits und die Existenzphilosophie andererseits ist trotz der gehäuften Auslegungsversuche keinesfalls schon geleistet, sondern bleibt Aufgabe der Zukunft. An der Bewältigung dieser Aufgabe mitzuarbeiten, ist das Bemühen dieser Schrift. Was sie leistet, hält sich noch ganz im Vorläufigen. Sie versucht, dem Leser von ‚Sein und Zeit’ nur Leitlinien und einige Anleitungen für die eigene Auslegungsarbeit an die Hand zu geben. Sie sollen ihn vor den angesprochenen Gefahren der bewußtseins- und existenzphilosophischen Fehldeutungen bewahren und ihn hinführen zum recht verstandenen fundamental-ontologischen Sachverhalt des Daseins.“ Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Subjekt und Dasein. Interpretationen zu ‚Sein und Zeit’, Frankfurt am Main, 1985, S. 13; Charles Guignon erklärt: „Even more important, however, there is no reason to suppose that Kierkegaard’s work should be expected to meet the requirements of an investigation called ‘fundamental ontology’. Both the power and beauty of Kierkegaard’ writing depend in part on his ability to put in question such grandiose projects and to insist on the intensely ‘subjective’ and personal nature of the truth we are seeking about life-defining matters.” Guignon, The Existentiell and the Existential, S. 201; Huntington spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ontologisierung des kierkegaardschen Existenzials-

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1. Einleitung

Forschungsstand Trotz des maßgeblichen Einflusses beider Autoren auf verschiedenste philosophische Diskurse, trotz einer überbordenden Forschungsliteratur, die jeweils separat zu den Autoren immer noch ungebrochen in den Bibliotheksbeständen neu aufgenommen wird, trotz der vielfach zitierten intellektuellen Nähe zwischen beiden, sind bis zu diesem Zeitpunkt wichtige Aspekte des „philosophischen Verhältnisses“ Kierkegaard-Heidegger unterbelichtet geblieben. Richard Purkarthofer hat, ebenso wie Vincent McCarthy und Dan Magurshak, bezüglich einer Analyse der Konstellation Kierkegaard-Heidegger auf die noch zu entdeckenden Potenziale hingewiesen. Purkarthofer bemerkt: „Der Einfluss, den Kierkegaard auf Heidegger ausübte, ist bei weitem noch nicht ausgelotet“12. Ganz ähnlich resümiert McCarthy: „Heideggers relationship and debt to Kierkegaard is thus highly complex, nuanced and in need of additional detective work.”13 Magurshak hatte schon frühzeitig keinen Zweifel daran gelassen „that one of the most important influences on the existential analytic of Being and Time was Kierkegaard”14. Er radikalisiert diese Einschätzung, indem er behauptet: „Heidegger, deeply influenced by the work of this ‘religious writer’ made this work his own to such an extent that he failed to realize how much his own existential reflections relied upon Kierkegaard‘s writings.“15 Die Mehrzahl der vorhandenen wissenschaftlichen Abhandlungen bilden komparatistisch angelegte Einzelstudien zu Phänomenen, die sowohl bei Kierkegaard als auch bei Heidegger von systematischer Relevanz sind;

12 13 14

15

mus“, siehe dazu: Huntington, Heidegger’s Reading of Kierkegaard Revisited, S. 44ff. Purkarthofer, Denker am existenziellen Abgrund, S. 30. McCarthy, Kierkegaard’s Influence Hidden and in Full View, hier S. 96. Dan Magurshak: The Concept of Anxiety: The Keystone of the Kierkegaard-Heidegger Relationship, in: Robert L. Perkins (Hg.): International Kierkegaard Commentary. The Concept of Anxiety, Jahrgang 8, Georgia, 1985, S. 167-195, hier S. 191 (im Folgenden: Magurshak, The Concept of Anxiety, Seitenzahl). Dan Magurshak: Despair and Everydayness: Kierkegaard’s Corrective Contribution to Heidegger’s Notion of Fallen Everydayness, in: Robert L. Perkins (Hg.): International Kierkegaard Commentary. The Sickness unto Death, Macon, 1987, S. 209-237, hier S. 20 (im Folgenden: Magurshak, Despair and Everydayness, Seitenzahl).

15

1. Einleitung

so zum Beispiel Untersuchungen zu „Angst“16, „Augenblick“17, „Tod“18, „Wiederholung“19, „Entscheidung“20 und „Erbe“21. Oftmals zeichnen sich

16 Magurshak sieht in Der Begriff der Angst gar den entscheidenden Schlüssel, der das Verhältnis Kierkegaard und Heidegger bestimmt: „It would even seem that […] The Concept of Anxiety is the cornerstone of the relationship between the two thinkers.” Magurshak, The Concept of Anxiety, S. 191; siehe auch: Vincent McCarthy, Kierkegaard’s Influence Hidden and in Full View, besonders S. 106-114; siehe ebenfalls: Joachim Ringleben: Freiheit und Angst. Heidegger zwischen Schelling und Kierkegaard, in: Norbert Fischer/Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Heidegger und die christliche Tradition, Hamburg, 2007, S. 219-244; siehe ebenso: Edith Düsing: Die in Angst verlorene Freiheit bei Kierkegaard und Heidegger mit Ausblick auf Freud, in: Edith und Klaus Düsing/Hans-Dieter Klein (Hg.): Angst und Willensfreiheit. Klassische Theorien von der Antike bis zur Moderne, Würzburg, 2006, S. 185-206; sowie: Edith Düsing: Der Begriff der Angst bei Kierkegaard und Heidegger, in: Manfred Baum (Hg.): Transzendenz und Existenz. Idealistische Grundlagen und moderne Perspektiven des transzendentalen Gedankens, Amsterdam/Atlanta, 2001, S. 21-60. Sehr inspirierend hier ist der im Anschluss an die Tagung „Aspekte der Angst“ herausgegebene gleichnamige Sammelband von 1965, der Aufsätze aus verschiedenen Forschungsrichtungen wie der Soziologie, Psychologie, Biologie/Verhaltensforschung zusammenführt und eine ausdrücklich interdisziplinäre Perspektive gibt. Hoimar von Dithfurt (Hg.): Aspekte der Angst – Starnberger Gespräche 1964, Stuttgart, 1965. 17 Hier hervorzuheben: Katharina von Falkenhayn: Augenblick und Kairos: Zeitlichkeit im Frühwerk Martin Heideggers, Berlin, 2003; Koral Ward: The Concept of the ‚Decisive Moment’ in the 19th and 20th Century Western Philosophy, Ashgate, 2008; Felix Murchadha: The Time of Revolution: Kairos and Chronos in Heidegger, Bloomsbury, 2013; sowie: Felix Murchadha: Zeit des Handelns und Möglichkeit der Verwandlung: Kairologie und Chronologie bei Heidegger im Jahrzehnt nach "Sein und Zeit", Würzburg, 1999; sowie: Alf Christophersen: Kairos: protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen, 2008. 18 Siehe dazu: Michael Theunissen: Das Erbauliche im Gedanken an den Tod. Traditionale Elemente, innovative Ideen und unausgeschöpfte Potentiale in Kierkegaards Rede An einem Grabe, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2000, herausgegeben Niels Cappelörn, Hermann Deuser und Jon Stewart, Berlin/New York, 2000, S. 40-73; sowie: Julia Watkin: Kierkegaard’s View of Death, in: History of Europeon Ideas, Jahrgang 12, 1990, 65-78; sowie: George Hunsinger: Kierkegaard, Heidegger and the Concept of Death, Stanford, 1969. 19 Zum Beispiel: Louis Reimer: Die Wiederholung als Problem bei Kierkegaard, in: Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg.): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main, 1979, S. 302-346, insbesondere S. 326ff. 20 Siehe dazu: Gerhard Treiber: Philosophie der Existenz. Das Entscheidungsproblem bei Kierkegaard, Jaspers, Heidegger, Sartre, Camus; Literarische Erkundungen bei Kundera, Céline, Broch, Musil, Frankfurt am Main, 2000; sowie: William

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1. Einleitung

diese Beiträge durch ihren holistischen Charakter aus. Die fruchtbaren Binnenanalysen erfolgen so weitestgehend zu Ungunsten einer zusammenhangsstiftenden Interpretation. Wenn die existenziale Problematik thematisiert wird, dann insofern, als dass hier ein Deutungsmuster favorisiert wird, das sich in der Etikettierung Kierkegaards als „Vater des Existentialismus“ ausspricht und einen existenzialistischen Kierkegaard festschreibt. Häufigster Anknüpfungspunkt für solch existenzialistische Deutungen ist Kierkegaards 1843 erschienenes Entweder-Oder, das aus Perspektive des dort auftretenden Protagonisten „Wilhelm“ interpretiert wird. Ausgehend von dem sehr vielseitig auszulegenden Titel Kierkegaards wird – im Rahmen solcher Lektüren – die Überlegenheit der ethischen Existenz hervorgehoben. Nicht nur das: Diese Deutung übernimmt „eins zu eins“ die Argumentation und Sichtweise Wilhelms – Wilhelm wird dann zu Kierkegaard und umgekehrt.22 Michael Theunissen hat in seinen Texten auf zentrale gemeinsame Bezugspunkte der beiden Autoren hingewiesen und inspirierende kontextualisierende Perspektiven aufgezeigt.23 Das gilt insbesondere für seine in

L. McBride: Existentialist Background: Kierkegaard, Dostoevsky, Nietzsche, Jaspers, Heidegger, New York, 1996. 21 Stephen Mulhall: Inheritance and Originality: Wittgenstein, Heidegger, Kierkegaard, Oxford, 2001. 22 Dies ist die gängige Entweder-Oder-Deutung, die zudem nicht selten mit der sogenannten „Stadientheorie“ argumentiert. Paradigmatisch bei: Thurnher, Kierkegaard, S. 49ff.; siehe auch: Annemarie Pieper: Sören Kierkegaard, München, 2000, S. 61ff.; Walter Dietz: Sören Kierkegaard. Existenz und Freiheit, Frankfurt am Main, 1993, S. 235ff.; Paul Thomas Erne: Lebenskunst. Aneignung ästhetischer Erfahrung. Ein theologischer Beitrag zur Ästhetik im Anschluss an Kierkegaard, Kampen, 1994, S. 102ff.; Wilfried Greve: Kierkegaards maieutische Ethik, Frankfurt am Main, 1990, S. 41ff.; sowie: Wilfried Greve: Das erste Stadium der Existenz und seine Kritik. Zur Analyse des Ästhetischen in Kierkegaards „Entweder/ Oder II“, in: Michael Theunissen/Wilfired Greve (Hg.): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main, 1979, S. 177-216; sowie durchgängig in: Helmut Fahrenbach: Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt am Main, 1968; sowie: Helmuth Vetter: Stadien der Existenz. Eine Untersuchung zum Existenzbegriff Sören Kierkegaards, Wien, 1979. 23 Siehe dazu vor allem: Michael Theunissen: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt am Main, 1993, insbesondere S. 45-51 (im Folgenden: Theunissen, Der Begriff Verzweiflung, Seitenzahl). Theunissen erläutert hier die in der Krankheit zum Tode vorgezeichnete proto-existenziale Perspektive, die dann bei Heidegger existenzial-ontologisch ausdifferenziert wird. Zugleich deutet

17

1. Einleitung

Bezug auf Kierkegaard konstatierte „existentiale These“24, die in der vorliegenden Untersuchung aufgenommen und weiterentwickelt wird. Er weist hier entschieden darauf hin, dass Kierkegaards Daseinskonzeption – entgegen der von Heidegger behaupteten „bloß“ existentiellen Dimension – sehr wohl existenzialen Status beanspruchen kann. Theunissen behandelt bevorzugt Kierkegaards Krankheit zum Tode, einen Text, der unbestritten einen zentralen Stellenwert in Kierkegaards Gesamtwerk einnimmt.25 Berthold-Bond legt einen Beitrag vor, der Heideggers Eigentlichkeitsbegriff mit Kierkegaard kritisiert und somit die etablierte „Einbahnstraße der Interpretation“ gegen den Strich bürstet. Überzeugend zeigt er, dass Heideggers Erläuterungen zum Verhältnis von Eigentlichkeit und Unei-

er auf den inhaltsleeren, formalistischen Charakter der heideggerschen Existenzanalyse. Siehe: Theunissen, Der Begriff Verzweiflung, S. 50. 24 Michael Theunissen: Kierkegaards philosophisches Profil, in: Kierkegaardiana 18, herausgegeben von Joakim Garff, Arne Grön u. a., Kopenhagen, 1996, S. 6-27 (im Folgenden: Theunissen, Kierkegaards philosophisches Profil, Seitenzahl). 25 Auch Dan Magurshak hat jene Spuren offengelegt, die Kierkegaards Krankheit zum Tode in Sein und Zeit hinterlassen hat. Siehe: Magurshak, Despair and Everydayness, S. 209-237. Dagegen weist Poul Lübcke in seinem Aufsatz zu Kierkegaard und Heidegger eine existenziale Lektüre Kierkegaards ab. Sein grundsätzlicher Einwand lautet, dass Kierkegaards Analysen um das Selbstsein zirkulierten, während Heideggers Überlegungen immer und eigentlich auf die Seinsfrage zielten. Siehe dazu: Poul Lübcke: Modalität und Zeit bei Kierkegaard und Heidegger, in: Text & Kontext, Sonderreihe Band 15, herausgegeben von Heinrich Anz und Poul Lübcke, Kopenhagen/München, 1983, S. 114-135, insbesondere S. 131ff. Damit hat er Recht und Unrecht zugleich. Denn wie wohl Heidegger sehr wohl die Seinsfrage zentral beschäftigte, bleibt Sein und Zeit eine Daseinsanalyse, die den Übergang zur Seinsfrage nicht leistet. Zugleich übersieht Lübcke die in den kierkegaardschen Texten angelegte existenziale Dimension – die im Verlauf dieser Arbeit noch präzisiert und erläutert wird. Auch Tsutomu Yagi, der die Daseinskonzeption Kierkegaards und Heideggers analysiert, folgt tendenziell, ebenso wie Lübcke, der heideggerschen Kierkegaardinterpretation, die Kierkegaard allein als existenziellen Denker liest. Yagi argumentiert, dass Kierkegaard die Unterscheidung von existenziell und existenzial nicht kenne, und dass Heideggers Konzept des Daseins eine Radikalisierung und implizite „Existenzialisierung“ des kierkegaardschen Selbst darstelle. Yagi konstatiert: „I conclude that Kierkegaard is still partly confined to the metaphysical conception when he fails to distinguish the existentiell aspect of the self from the existential aspect. I contend that Heidegger’s Dasein is a further radicalisation over Kierkegaard’s self in that the former is uniquely characterised by the openness of its way of Being.” Tsutomu Yagi: Beyond Subjectivity: Kierkegaard’s Self and Heidegger’s Dasein, in: Perspectives: International Postgraduate Journal of Philosophy, Dublin, 2009, S. 60-77, hier S. 60.

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1. Einleitung

gentlichkeit widersprüchlich sind. Diese Widersprüchlichkeit artikuliert sich meines Erachtens in einer mal graduellen, mal dualistisch-dichotomischen Verhältnisbestimmung der beiden Existenzmodi. Bertold-Bond meint, dass man von Kierkegaards Texten in dieser Hinsicht mehr lernen könne, da diese den Formalismus Heideggers überwänden.26 Ebenfalls in diese Richtung zielt der Text von Patricia Huntington, der die ethische Dimension der kierkegaardschen und heideggerschen Analysen ausleuchtet. In diesem Kontext spricht sie von einer durch Heideggers Existenzialanalyse vollzogenen „De-Ethicization“ Kierkegaards, die – so Huntington – in einer abstrakten Eigentlichkeitskonzeption finalisiert wird.27 Vor allem in jüngster Zeit erschienen Aufsätze, die sich explizit dem philosophischen Verhältnis Kierkegaard-Heidegger widmen – ein Umstand, der auf das entsprechende forschungsrelevante Desiderat verweist.28 Besonders hervorzuheben sind hier die Arbeiten von Bartels29, Thonhauser30, Guignon31, Buben32 und Carlisle33 sowie die des schon zitierten McCarthy, die sowohl rezeptionsgeschichtlich umfassende als auch inhalt26 Berthold-Bond schreibt: „As such, Kierkegaard's theory of the sublimation of the aesthetic through authentic repetition presents a way to resolve the abstract and formal character of Heidegger's phenomenology of authentic being while still allowing for a clear line of distinction between authenticity and inauthenticity.” Daniel Berthold-Bond: A Kierkegaardian Critique of Heidegger’s Concept of Authenticity, in: John M. Anderson (Hg.): Man and World, Jahrgang 24, Heft 2, Dordrecht, 1991, S. 119-142, hier S. 138 (im Folgenden: Bertold-Bond, A Kierkegaardian Critique, Seitentahl). 27 Patricia J. Huntington: Heidegger’s Reading of Kierkegaard Revisited: From Ontological Abstraction to Ethical Concretion, in: Joseph Matustik/Merold Westphal (Hg.): Kierkegaard in Post/Modernity, Bloomington, 1995, S. 43-66, hier S. 47. 28 Eine umfassende Publikationsliste zu den das Verhältnis der beiden Autoren thematisierenden Arbeiten hat Vincent McCarthy zusammengestellt, die nicht weniger als 118 Abhandlungen enthält, siehe: Vincent McCarthy, Kierkegaard’s Influence Hidden and in Full View, S. 117-125. 29 Cora Barthels: Kierkegaard receptus II: die theologiegeschichtliche Bedeutung der Kierkegaard-Rezeption Rudolf Bultmanns, Göttingen, 2011( im Folgenden: Bartels, Kierkegaard receptus, Seitenzahl). 30 Siehe dazu: Gerhard Thonhauser: Über das Konzept der Zeitlichkeit bei Sören Kierkegaard mit ständigem Hinblick auf Martin Heidegger, Freiburg, 2011, S. 58f. (im Folgenden: Thonhauser, Über das Konzept der Zeitlichkeit bei Sören Kierkegaard, Seitenzahl). 31 Charles Guignon: Heidegger and Kierkegaard on Death: The Existentiell and the Existential, in: Patrick Stokes/Adam Buben (Hg.): Kierkegaard and Death, Bloomington, 2011, S. 184-203, (im Folgenden: Guignon, The Existentiell and the Existential, Seitenzahl).

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lich-systematische Perspektiven aufzeigen. Cora Bartels arbeitet in ihrer umfangreichen Studie über Bultmanns Kierkegaardrezeption wichtige Verbindungslinien zwischen Heidegger und Kierkegaard heraus. Das betrifft insbesondere Heideggers auffällige Distanzierungsbemühungen gegenüber Kierkegaard, die hier kritisch befragt und gegen Heidegger selbst gewendet werden. Dabei vergleicht Bartels – ebenso wie schon Günter Figal – die kierkegaardschen Überlegungen zur unbewussten Verzweiflung in der Krankheit zum Tode mit Heideggers Uneigentlichkeitsbegriff aus Sein und Zeit.34 Sie bezieht in ihren Analysen – und damit zählt sie zu den wenigen Ausnahmen – auch Heideggers Vorlesung zur Metaphysik des Deutschen Idealismus ein, in der Heidegger sich vergleichsweise ausführlich mit Kierkegaard auseinandersetzt. Gerhard Thonhauser untersucht beide Autoren vor dem Hintergrund ihrer Zeitlichkeitskonzeption. Dabei legt er in seiner umfangreichen, als Magisterarbeit veröffentlichten Abhandlung den Fokus auf Kierkegaard und versteht seinen Text „nur“ als ein „vorläufige(s) Zwischenergebnis“35. McCarthys Aufsatz beleuchtet ebenfalls Heideggers Kierkegaardlektüre. Er liefert einen umfassenden Einblick in Heideggers Kierkegaardrezeption und skizziert stichpunktartig Heideggers Interpretationslinien. Ausführlich widmet er sich dem Angstbegriff und erläutert hier systematische Parallelen in Bezug auf die Konzeptionierung des Selbst bei beiden Autoren.36 McCarthy resümiert, dass Heidegger Kierkegaards Einsichten systematisiert und säkularisiert habe, da seine Eigentlichkeitskonzeption, im Gegensatz zur kierkegaardschen religiösen Existenz, nicht an eine Gnadenwirkung gebunden sei.37 Charles Guignon zeichnet in seinem Aufsatz die

32 Adam Buben: The Perils of Overcoming ‘Worldliness’ in Kierkegaard and Heidegger, in: Gatherings: The Heidegger Circle Annual, Band 2, herausgegeben von Andrew J. Mitchell, Atlanta, 2012, S. 65-88. 33 Carlisle, Kierkegaard and Heidegger, S. 421-439. 34 Siehe Bartels, Kierkegaard receptus, S. 87ff.; sowie: Günter Figal: Verzweiflung und Uneigentlichkeit. Zum Problem von Selbstbegründung und mißlingender Existenz bei Sören Kierkegaard und Martin Heidegger, in: Heinrich Anz/Poul Lübcke (Hg.): Text & Kontext, Sonderreihe Band 15, Kopenhagen/München, 1981, S. 135-151 (im Folgenden: Figal, Verzweiflung und Uneigentlichkeit, Seitenzahl). 35 Thonhauser, Über das Konzept der Zeitlichkeit bei Sören Kierkegaard, S. 5. 36 McCarthy erläutert, dass Kierkegaard und Heidegger in ihrer Angstkonzeption auf die Konstitution des Selbst in seinem Möglichkeitscharakter abheben. Vgl. McCarthy, Kierkegaard’s Influence Hidden and in Full View, S. 109. 37 McCarthy, Kierkegaard’s Influence Hidden and in Full View, S. 114.

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„Existenzialisierung“ des „existenziellen“ Kierkegaards durch Heidegger nach. Die existenziale Dimension der kierkegaardschen Texte bleibt allerdings unterbelichtet, was seinen Aufsatz in die herrschende Kierkegaarddeutung einreiht.38 Dass unter vielerlei Gesichtspunkten Heidegger an Kierkegaard anknüpft, legt auch Clare Carlisle in ihrem rezeptionsgeschichtlich orientierten Beitrag dar. Sie konturiert die Spuren Kierkegaards in Heideggers Werk und zeigt, dass Heidegger in seiner Konzeption der Wiederholung, des Augenblicks sowie der Uneigentlichkeit auf Kierkegaards Analysen zurückgreift. Ihre Studie behandelt Kierkegaard in erster Linie mit Blick auf seine Rezeption durch Heidegger, ohne diese Rezeptionslinien selbst weiter zu interpretieren.39 Ersichtlich wird über diesen fragmentarischen Streifzug durch die Forschungsliteratur ein allgemeiner Konsens darüber, dass Schnittmengen zwischen Kierkegaard und Heidegger bestehen. Allerdings gehen die Meinungen weit auseinander, wie diese Schnittmengen im Hinblick auf das philosophische Verhältnis der beiden zu interpretieren sind. Im Folgenden möchte ich den Einsatzpunkt meiner Studie darlegen. Einsatzpunkt der vorliegenden Arbeit Ausgehend von Heideggers Kierkegaardrezeption analysiert die Arbeit die meines Erachtens nach entscheidende systematische Schnittstelle des philosophischen Verhältnisses beider Autoren, die sich in dem ausspricht, was ich als das existenziale Paradigma Heideggers bezeichne. Heideggers Fundamentalunterscheidung von existenziell und existenzial dient mir methodisch als kritisches Paradigma, das ich sowohl auf die kierkegaardschen als auch auf die heideggerschen Texte beziehe. Hier liegt das Scharnier, das die beiden Autoren systematisch miteinander verbindet. Dieses Scharnier herauszustellen, zu beleuchten und auf beide Autoren wiederum kritisch zu beziehen, kann die Studie gegenüber der bisher vorliegenden Forschung als Alleinstellungsmerkmal für sich beanspruchen. Das existenzialen Paradigma meint die von Heidegger gesetzte und in zweifache Richtung zielende Fundamentalunterscheidung von existenzialkategorial sowie existenzial-existenziell, die er schon in seinen „frühen“

38 Guignon, The Existentiell and the Existential, S. 201. 39 Carlisle, Kierkegaard und Heidegger, S. 421-439.

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Texten, wie zum Beispiel in der Phänomenologie des religiösen Lebens, angedacht und in Sein und Zeit dann explizit gemacht hat. Unter anderem mit dieser Differenz begründet Heidegger den Originalitätsanspruch seines Denkens – und tatsächlich ist sie nicht „nur“ mit Perspektive auf die Binnenanalyse von Sein und Zeit von wesentlicher Bedeutung. Sie ist für das Verständnis des heideggerschen Ansatzes insgesamt – das Sein (neu) zu denken – tragend. Legt man Sein und Zeit zugrunde, zeigt sich, dass das existenziale Paradigma zwei Differenzkriterien beinhaltet, von denen aus es seinen positiven Gehalt bezieht. Zum einen setzt Heidegger seine Abgrenzung gegenüber einem als klassisch befundenen kategorialen Denken, das im Zuge der Verhandlung der Seinsfrage, einschließlich der diese vorbereitenden existenzialen Analytik, überwunden werden müsse. Existenzial behauptet – als Kriterium 1 – einen in Bezug auf das Denken des Denkens von Existenz/Dasein/Sein transkategorialen Status und beansprucht gegenüber einem kategorialen Reflexionsmodus, das Dasein/Sein angemessener zu denken. Im Umkehrschluss spricht Heidegger einem Denken in Kategorien die Möglichkeit ab, die Lebenswelt des Menschen und die Frage der Existenz bzw. die Seinsfrage sinnvoll zu erfassen. Zum anderen – Kriterium 2 – markiert Heidegger das existenziale Paradigma als eine Trennlinie gegenüber einem existenziellen Denken, zu dessen entscheidenden Vertretern er Kierkegaard, Jaspers und Sartre zählt. Die Untersuchungen jener Autoren behauptet Heidegger, über seine existenziale Analytik – auch wiederum vor dem Hintergrund der Seinsfrage – zu erden. Das zweitgenannte Kriterium des existenzialen Paradigmas wendet Heidegger explizit gegen Kierkegaard, den er durch das Prisma seiner Fundamentalunterscheidung von existenziell und existenzial liest. Allerdings pflegt Heidegger mit dem existenzialen Paradigma als Differenzkriterium einen äußerst „flexiblen“ Umgang. Zum einen denkt Heidegger das Verhältnis existenzial-existenziell als ein verknüpfend-fundierendes, um auf die Verklammerung, Verwoben- und Bedingtheit der beiden Ebenen zu verweisen. Diese Bestimmung erfolgt im Kontext der eigenen Analysen, zum Beispiel in Sein und Zeit, um seine Konzeptionen und Überlegungen systematisch zu rahmen. Zum anderen verwendet er das Begriffspaar existenzial-existenziell in einem abgrenzenden, polarisierenden Sinne und zwar immer dann, wenn er sich gegenüber anderen Autoren, vor allem gegenüber Kierkegaard, abheben will. Fasst man die heideggerschen Verweise und Kommentierungen hinsichtlich seiner Kierkegaardlektüre auf ihren Kern hin zusammen, kristal22

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lisiert sich die schon angerissene Deutungsperspektive heraus, die sich auch als akademisches und philosophiegeschichtlich etabliertes Mantra durchgesetzt hat: Durch Heidegger sei eine philosophische Grundlegung der kierkegaardschen Überlegungen erfolgt; Heidegger sei also über Kierkegaard, der auf der existenziellen Ebene steckengeblieben sei, hinausgegangen. Es ist unbestritten, dass Heidegger die kierkegaardschen Überlegungen systematischer und komplexer denkt, sie weiterentwickelt und vor allem begrifflich schärft. Dennoch ist die skizzierte Sicht sehr plakativ, weil sie meiner Ansicht nach allzu gefällig der Argumentation Heideggers folgt. Ich möchte sie als heideggersche Deutung Kierkegaards bezeichnen und aufzeigen, dass diese in ihren Grundzügen sowohl eine teilweise reduktionistische Kierkegaardlektüre impliziert als auch signifikante Aspekte in Heideggers Denken ausklammert. Auffällig ist, dass Theunissens Ansatz einer existenzialen Lektüre Kierkegaards40 in der Forschung bisher nicht angemessen ausgearbeitet worden ist. Zwar hebt Theunissen die existenziale Dimension kierkegaardscher Texte hervor und bezieht sich hier auf die in der Krankheit zum Tode durchdeklinierte Daseinskonzeption als mehrdimensionales Verhältnis und Synthesestruktur. Allerdings führt er seine These einer genetisch-systematischen Nähe beider Autoren im Hinblick auf das existenziale Paradigma nicht weiter aus. Auch weisen Annemarie Pieper und Herrmann Deuser auf diese existenziale Ebene, wenn sie von durch Kierkegaard entfalteten „Existenzkategorien“41 sprechen. Ebenso hatte Wolfgang Janke Kierke-

40 Theunissen erläutert: „Kierkegaard nennt sein Denken ‚existentiell’. […] Es ist allerdings nicht in dem Sinne existentiell, in dem Heidegger dieses Wort verwendet, um es dem entgegenzusetzen, was er, Heidegger, ‚existential’ nennt. Existential ist nach dem Verständnis Heideggers die Verfassung oder Struktur des menschlichen Daseins, und dementsprechend will Heideggers eigene Existentialontologie eine reine Strukturanalyse sein. Diese Entgegensetzung von ‚existentiell’ und ‚existential’ ist insofern irreführend, als sie den Schein erzeugt, dass Kierkegaard keinen Beitrag zur Freilegung der Struktur unserer menschlichen Existenz geleistet hätte. Das Gegenteil ist der Fall: Zum Beispiel seine grundlegende These, dass das Menschsein eine Synthese von Notwendigkeit und Möglichkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit sei […], ist eine These über die Verfassung oder eben die Struktur unserer Existenz, also in der Sprache Heideggers ausgedrückt: eine ‚existentiale’ These.“ Theunissen, Kierkegaards philosophisches Profil, S. 9. 41 Siehe dazu ausführlicher: Annemarie Pieper: Die Bedeutung des Begriffs „Existenzkategorie“ in Kierkegaards Denken, in: Zeitschrift für philosophische For-

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gaards Interessebegriff als ein „Existenzial“42 bezeichnet, jedoch wird dieser Gedanke von den drei genannten Autoren nicht weiter systematisch verfolgt und ebenso wenig auf Heideggers Texte bezogen. Auch Dan Magurshak sieht den existenzialen Charakter der kierkegaardschen Analysen, der von Heidegger ebenso wie von zahlreichen anderen Interpreten unterschlagen wird. Margurshak betont die Vielschichtigkeit und Komplexität des philosophischen Verhältnisses der beiden Autoren, er fokussiert sich allerdings in seiner Studie auf das Angstphänomen.43 John Caputo bemerkt keine signifikante qualitative Verschiedenheit zwischen Heideggers und Kierkegaards philosophischen Entwürfen. Heideggers existenziale Abgrenzung gegenüber Kierkegaard gehe in ihrem Ansatz fehl, da Kierkegaard diese Perspektive mitdenke. Die Differenz zwischen beiden sei gradueller Natur, Heideggers Analysen seien feingliedriger und umfassender, was nicht heiße, dass Kierkegaard bloß auf der ontisch-existenziellen Ebene verharre, wie es Heidegger immer wieder nahelegt.44 Auch McCarthy liest Kierkegaard und Heidegger auf ihre genuine Nähe hin, wenn er erklärt: „Heidegger used many existential categories already seen in Kierkegaard […]. Kierkegaard, well in advance of Heidegger, makes many distinctive contributions to a phenomenology of human existence.“45

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schung, Nr. 25, 1971, S. 187-201; sowie Hermann Deuser: Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, Darmstadt, 1985, S. 110ff. Siehe: Wolfgang Janke: Existenzphilosophie, Berlin/New York, 1977, S. 380. Magurshak stellt fest: „some of Kierkegaard’s reflections […] even in their Christian context, are often as fundamental and sometimes richer than Heidegger‘s. Finally […] any complete study of the relationship between the thinkers must acknowledge the multi-leveled complexity of that relationship.” Magurshak, The Concept of Anxiety, S. 168. Caputo schreibt: „Heidegger differs from Kierkegaard, not as an ontological thinker from an ontic, as he likes to make out, but principally in terms of the degree to which Heidegger has formalized and articulated Kierkegaard’s ontology in a more systematic, professional manner.” John Caputo: Radical Hermeneutics: Repetition, Deconstruction and the Hermeneutic Project, Bloomington, 1987, S. 82f. McCarthy, Kierkegaard’s Influence Hidden and in Full View, S. 98. An anderer Stelle erklärt er: „Heidegger is more systematic, a professor who has mined Kierkegaard insights and concepts […] sometimes presented them with greater clarity und cohesiveness. As such, Heidegger’s use of Kierkegaard can be viewed as a clarification of, and systematization of Kierkegaard’s insights.” McCarthy, Kierkegaard’s Influence Hidden and in Full View, S. 98.

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Eben diesen Ansatz von Theunissen, der auch von anderen Autoren wie Bartels, Thonhauser, Caputo und McCarthy angedacht aber nicht weitreichend ausgeführt ist, will ich vertiefen, um anschließend Überlegungen bezüglich eines in den Texten sowohl Kierkegaards als auch Heideggers angelegten Spannungsfeldes auszuführen. Ein Spannungsfeld, das sowohl Explikationen existenzieller Phänomene und existenzialistische Deutungspotenziale als auch Analysen existenzialer Strukturzusammenhänge birgt. Beide Ebenen kennzeichnen die Texte beider Autoren. Dabei will ich Kontinuitätsaspekte herausarbeiten und nicht einen zwischen den Autoren liegenden „unendlich breiten Graben“ stark machen, wie Heidegger ihn immer wieder bemüht. Die Untersuchung folgt einer Zangenbewegung. Sie nähert sich von beiden Seiten der zweiteiligen Fragestellung, die lautet: Wo liegen die existenzialen Potenziale der kierkegaardschen Reflexionen und wo die existenziellen Dimensionen der heideggerschen Analysen? Der Aufbau gliedert sich wie folgt. In Kapitel 1 möchte ich zeigen, dass sich sowohl in den Texten Kierkegaards als auch in denen Heideggers ein grundsätzlich revolutionärer Anspruch artikuliert: das Denken der „Existenz“ sowie das Denken insgesamt neu zu denken. Ich spreche in diesem Zusammenhang von einer durch beide Autoren vollzogenen „existenzphilosophischen Wende“. Dass Kierkegaard sich als „religiöser Schriftsteller“ versteht, soll einer philosophischen Lektüre Kierkegaards an dieser Stelle nicht im Wege stehen. Heidegger erweitert und vertieft den kierkegaardschen Einsatzpunkt und richtet diese radikalisierte Perspektive wiederum auch gegen Kierkegaard, dem er ein existenziales Defizit unterstellt. In dem Kapitel werde ich Heideggers Kierkegaardrezeption und -interpretation rekonstruieren und die Implikationen seines existenzialen Paradigmas ausdifferenzieren. Kapitel 2 wendet die aus der Ausdifferenzierung hervorgegangenen Kriterien auf Kierkegaard an und legt anhand einer Analyse von Die Krankheit zum Tode dar, dass Kierkegaard hier sehr wohl eine existenziale Dimension andenkt, die er als solche jedoch nicht artikuliert. Kapitel 3 widmet sich Kierkegaards Entweder-Oder. Hier beabsichtige ich eine Lektüre des Titels stark zu machen, die nicht nur einer dezisionistischen Deutung das Wasser abgräbt, sondern weiter gedacht als eine Rhetorik der Ambivalenz (auf die ich in Kapitel 7 eigens eingehe) interpretiert werden kann. Kapitel 4 argumentiert, dass sich durch das kierkegaardsche und heideggersche Denken ein verstandes- und vernunftkritischer sowie ein pragmatischer Strang zieht, der eine spezifische Haltung und Handlung 25

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des Daseins thematisiert. Eine Analyse dieser Stränge kann plausibilisieren, warum gegensätzliche Deutungsperspektiven – zum Beispiel ein existenzialistischer Heidegger/ein nicht-existenzialistischer Heidegger – möglich sind. Geht es mir in Kapitel 2 darum, die existenziale Ebene der kierkegaardschen Reflexionen zu bestimmen, werde ich in Kapitel 5 – über einen näheren Blick auf Sein und Zeit – die unter der Oberfläche der Existenzialanalyse liegende existenziell-existenzialistische Schicht fokussieren. Auch diese Überlegungen möchte ich auf die Konstellation KierkegaardHeidegger rückbeziehen. Kapitel 6 führt die These aus, dass Heideggers Eigentlichkeitskonzeption von einem präsentischen Fokus zehrt, der im Sinne eines „inneren Handelns“ als stetige Augenblicks- und Angstbereitschaft charakterisiert ist. Auch in dieser Hinsicht ist Heidegger enger an Kierkegaard „dran“, als er es in seinen Reflexionen nahelegt. In Kapitel 7 nehme ich Andreas Luckners Überlegungen zum „existenzialistischen Missverständnis“ (der Leser Heideggers) als Ausgangspunkt, um die bisherigen Ausführungen aufeinander zu beziehen. Heidegger hat dieses „existenzialistische Missverständnis“ über seine ambivalente Rhetorik und Eigentlichkeitskonzeption forciert – so meine These – während Kierkegaard wiederum eine existenzialistische Deutung seiner Texte über eine Rhetorik der Ambivalenz in Frage stellt und bei seinen Lesern eine unbequeme Unentschiedenheit provoziert. Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, jenes Interpretationsmuster in Form der schematischen Gleichung „Kierkegaard = existenziell/Heidegger = existenzial“ aufzubrechen. Sie wendet sich gegen diese einseitige Interpretationslinie und plädiert für eine ausgewogenere und differenziertere Deutung dieses philosophischen Verhältnisses. Das Resultat der Überlegungen dieser Arbeit ist nicht ein endgültiges Urteil, es versteht sich vielmehr als ein Angebot einer neuen Verhältnisbestimmung KierkegaardHeidegger im Hinblick auf die existenziale Problematik, ein Angebot, das als solches streitbar ist und eine Diskussion weitertreiben soll, die bisher einseitig zu Gunsten Heideggers geführt wurde. Textgrundlagen Kierkegaard zitiere ich nach der bei Zweitausendeins erschienenen Ausgabe Kierkegaard – Philosophische Schriften, die Kierkegaards Texte nach der im Diederichs Verlag erschienenen Ausgabe Gesammelte Werke in der 26

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Übersetzung von Christoph Schrempf, Hermann Gottsched und Wolfgang Pfleiderer wiedergibt. Aus mehreren Gründen habe ich mich für diese Übersetzung entschieden. Grundsätzlich ist zu bemerken, dass bisher noch keine kritische Gesamtausgabe der kierkegaardschen Texte in deutscher Sprache vorliegt.46 Der vorliegenden Schrempfübersetzung gab ich den Vorzug, weil Heidegger unter anderem auch selbst die Schrempfausgabe in erster und zweiter Auflage nachweislich nutzte. Zweitens zitiert Heidegger Kierkegaard, wenn er überhaupt auf ihn verweist, in der Regel indirekt. Das ist paradigmatisch für seinen Quellenumgang bezüglich der von ihm gelesenen kierkegaardschen Texte. Es gab also hier keine konkreten Sinngehalte, die hätten „verloren“ gehen können hinsichtlich einer Zitatübersetzung. Außerdem: Heideggers Kierkegaardrezeption erfolgte und vollzog sich unabhängig vom „dänischsprachigen Kierkegaard“. Drittens habe ich zudem einschlägige Kierkegaardzitate mit verschiedenen Übersetzungen verglichen. Trotz bestehender Unterschiede konnte ich in keinem Fall erkennen, dass sich etwas an Kierkegaards Grundthesen geändert hätte. Viertens kann auch eine von Seiten des Autors philologisch vermeintlich präzise Übersetzung des Original-Kierkegaards – angesichts einer fehlenden kritischen Gesamtausgabe auf Deutsch – in ein illusorisches „So-hat-es-Kierkegaard-wirklich-gemeint-Deutsch“ eine grundsätzliche hermeneutische Lücke nicht schließen. Diese Lücke bleibt bei der Interpretation von Texten im Allgemeinen, im Besonderen bei der Arbeit mit Übersetzungen, zwangsläufig immer bestehen. Heidegger gebe ich standardmäßig nach der bei Klostermann erschienenen Gesamtausgabe wieder, mit Ausnahme von Sein und Zeit. Hier greife ich auf die Tübinger Ausgabe (Niemeyer Verlag, 2001) zurück. Die in den Zitaten enthaltenen Hervorhebungen der Autoren habe ich unverändert übernommen, Änderungen des Originalzitats sind extra als solche kenntlich gemacht.

46 Im Rahmen des in Arbeit befindlichen Editionsprojekts Deutsche Sören Kierkegaard Edition, die sich an der dänischen, auf 55 Bände angelegten ersten vollständigen, historisch-kritischen Ausgabe der kierkegaardschen Schriften orientiert, wurden bisher 5 Bände übersetzt. Bleibt das bisherige Preisniveau bestehen, würde die Gesamtausgabe mindestens 7.000 Euro kosten – wer sollte diesem „Schnäppchen“ widerstehen können?

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2. „Existenzphilosophische“ Wenden

Die Kapitelüberschrift nimmt den von Heidegger in kritischer Absicht verwendeten Begriff „existenzphilosophisch“ bewusst auf, um mit ihm auf ein bei Kierkegaard und Heidegger umrissenes philosophisches Problembewusstsein zu weisen. Dieses entspinnt sich an der Frage nach dem Denken von „Existenz“ sowie an der Frage einer adäquaten Vergegenwärtigungsweise der Existenzsituation des Menschen, die sich über ein behauptetes „Verhältnis“ zu Gott (Kierkegaard) bzw. zum „Sein“ (Heidegger) auszeichne. Ich möchte von einer durch beide Autoren vollzogenen existenzphilosophischen Wende sprechen, weil sowohl Kierkegaard als auch Heidegger an ihr Denken einen fundamental revolutionären Anspruch knüpfen, den die kursiv gesetzte Wendung einfängt. Die Überwindung verengt-rationaler sowie holistisch-kategorialer Reflexionsmodi ist an ein Kernanliegen geknüpft, das beide Autoren teilen. Bei aller Differenz ist ihnen der Anspruch gemein, das Existieren, das Dasein in seinem Verhältnis zu Gott bzw. zum Sein in den vorgeblichen Verschränkungen, Bezügen, Dimensionen umfassender zu denken. Dabei reicht der Status der Reflexionen so weit, dass bei beiden Autoren in unterschiedlicher Gewichtung von einer durch sie geleisteten Kritik der Existenz im Sinne einer Analyse existenzermöglichender Bedingungen gesprochen werden kann. Im Folgenden sollen nun diese existenzphilosophischen Wenden beider Autoren rekonstruiert und näher erläutert werden. Nach einer kurzen Bezugnahme auf die begriffsgeschichtliche Entwicklung des Existenzbegriffs werde ich nachfolgend den existenzphilosophischen Impuls der kierkegaardschen Reflexionen bündeln, um daran anschließend Heideggers Position aus seiner Kierkegaardrezeption und -interpretation heraus darzulegen. Die in der zweiten Kapitelhälfte im „Heidegger-Teil“ eingeschlagene Perspektive, insbesondere die Überlegungen zu dem von ihm gesetzten existenzialen Paradigma, bildet den Leitfaden, an dem sich die nachgehenden Abschnitte der vorliegenden Arbeit methodisch orientieren.

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2. „Existenzphilosophische“ Wenden

Begriffsgeschichtlicher Einschub Aus begriffsgeschichtlicher Perspektive lässt sich zunächst holzschnittartig festhalten, dass der Existenzbegriff bei Thomas von Aquin umfänglicher ausdifferenziert, mit Kant erkenntniskritisch radikalisiert und dann von Kierkegaard in vollem Umfang neu ausgehandelt wird. Die im Zusammenhang mit dem Existenzbegriff sich zeigenden epistemischen Potenziale sind ebenso weitreichend wie komplex und reißen fundamentale theologische, ontologische und erkenntnistheoretische Problemstellungen auf. Der erstmals bei Victorinus (ca. 360 n. Chr.) als Übersetzung des griechischen uparxis gebrauchte lateinische Begriff existentia wird bis zu seiner Präzisierung in der Scholastik zunächst unscharf und in unterschiedlichen, teils gegenläufigen Bedeutungen verwendet. Alois Guggenberger macht drei Stufen in der Entwicklung des Existenzbegriffs aus.47 Eine bis zu Descartes währende „Vernachlässigung“ des Existenzbegriffs zu Gunsten der essentia (Ausnahme bei Thomas von Aquin), im Anschluss daran eine bis zu Kant reichende ontologisch-begriffsdeduzierende Periode (teilweise fällt darunter auch „der“ deutsche Idealismus) sowie eine dritte, mit Kierkegaard einsetzende Phase, in der der Existenz ein eigener epistemischer Status zugesprochen wird. Bei Victorinus steht existentia für ein unbestimmtes und prädikatloses Sein, das in Opposition zur substantia (griechisch: ousia, upastasis), dem bestimmten, schon in Form gebrachten Etwas/Sein gedacht ist. In der kirchlichen Überlieferung des ausgehenden 4. Jahrhunderts kehrt sich die Bedeutung von existentia um. Das allgemeine Sein wird als substantia, das konkrete Sein als existentia bezeichnet. In einer dritten Verwendung fallen existentia und substantia im Sinne eines konkreten, bestimmten Seins zusammen, beide Begriffe werden statt antonym nun synonym verwendet.48 Franz Peter Burkhard zeigt auf, wie in der weiteren begriffsgeschichtlichen Entwicklung mit der existentia zunehmend ein Herausgetretensein in die Wirklichkeit betont und so der Gegensatz zur possibilitas als

47 Alois Guggenberger: Beitrag „Existenz, existentia“, in: Joachim Ritter u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Basel/Stuttgart, 1972, S. 854 -860 (im Folgenden: Guggenberger, Existenz, Seitenzahl). 48 Guggenberger, Existenz, S. 854.

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2. „Existenzphilosophische“ Wenden

einer noch nicht realisierten Möglichkeit markiert wird.49 In dieser Verwendung entspricht existentia dem Sein als actualitas im Sinne eines Wirkens. Aristoteles hatte mit der actus/potentia-Konzeption eine ähnliche Differenzierung im Kontext seiner Stoff-Form-Analysen vorgenommen. Durch einen actus essendi wird ein potentiell Seiendes (ens in potentia) in ein wirklich Seiendes (actu ens) überführt. Auf der einen Seite steht essentia als esse essentiae, als esse in mente oder als esse intentionale für ein Sein im Denken bzw. für ein Sein im Bewusstsein, auf der anderen Seite steht existentia als esse existentiae oder esse reale per se für ein Sein in der Wirklichkeit, für ein reales Sein.50 In der Auseinandersetzung mit der Ontologie des Thomas von Aquin erfolgt dann über seine unmittelbaren Rezipienten und Interpreten (Johannes Scotus, Heinrich von Gent, Gottfried von Fontaines) eine Zuspitzung der schon oben erwähnten Unterscheidung zwischen essentia und existentia, die sich im weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte durchsetzt und auf die sich die nachfolgenden Generationen beziehen.51 Während essentia ein So-sein bzw. Was-sein meint und als ein Sein im Denken bzw. als Sein im Bewusstsein, das einen spezifischen irreduziblen „sachlichen“ Inhalt definiert, bestimmt wird, bedeutet existentia ein Dass-sein im Sinne von Vorhandenheit. Existentia bezeichnet so ein In-der-Wirklichkeit-existieren, ein Sein in der Realität, ein „faktisches Existieren“52. Mit der „kopernikanischen Wende“, die Kant als „Umänderung der Denkart“53 bezeichnet, löst Kant sein transzendentalphilosophisches Programm ein, indem er die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, Moral und Glauben auslotet. Der in der thomistischen Scholastik erstmals

49 Siehe dazu: Franz-Peter Burkhard: Beitrag „existentia“, in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkhard (Hg.): Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen, Stuttgart/Weimar, 1996, S. 156 (im Folgenden: Burkhard, Existentia, Seitenzahl). 50 Siehe dazu: Alexander Lohner: Beitrag „Existenz“ in: Petra Kolmer/Armin G. Wildfeuer (Hg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 1, Freiburg, 2011, S. 743-757, hier S. 743; sowie: Oswald Schwemmer: Beitrag „existentia“ in: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 1, Mannheim/Wien/Zürich, 1980, S. 618; sowie: Guggenberger, Existenz, S. 858. 51 Siehe dazu: Guggenberger, Existenz, S. 858. 52 Guggenberger, Existenz, S. 858. 53 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Band 1, Frankfurt am Main, 1974, S. 25/B XVI (im Folgenden: KdV, Seitenzahl).

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2. „Existenzphilosophische“ Wenden

scharf konturierte Unterschied zwischen existentia und essentia wird von Kant radikalisiert und im Hinblick auf die fundamentalen erkenntnistheoretischen Konsequenzen in seinen drei Kritiken erörtert. Im Rahmen seiner Deduktion der reinen Verstandesbegriffe denkt Kant zunächst die Existenz, neben der Möglichkeit und Notwendigkeit, als eine nicht weiter ableitbare Kategorie. Im weiteren Verlauf der Kritik der reinen Vernunft destruiert er mit dem Verweis auf die unmögliche Beweisbarkeit einer „Existenz“ allein aus dem Begriff „Gott“ heraus den ontologischen Gottesbeweis.54 Mit Kant setzt sich das Paradigma der vermittelten Wirklichkeit durch. Lässt sich Kants kopernikanische Wende als Entwurf beschreiben, der die Begründungsdefizite überlieferter rationalistischer und empiristischer Konzeptionen hin zu seinem transzendentalphilosophischen Ansatz neu zusammenführt, kann Kierkegaards Denken als eine Bewegung wieder weg von der transzendentalphilosophischen Prämisse, weg von einem „spekulativen“ Denken, hin zu einer vor einem christlich-religiösen Horizont entfalteten Reflexion verstanden werden, die das Existieren neu und angemessen zu fassen versucht. Erfolgt die transzendentalphilosophische Verlagerung in Richtung Innenwelt des Menschen als eine kritische Untersuchung der erkenntnisermöglichenden Bedingungen, setzt Kierkegaard beim Leben und dessen spezifischer Vollzugsdimension an.

54 Kant operiert mit der Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit, Begriff und Existenz. Demnach sind Aussagen über die Existenz oder Nichtexistenz von empirisch fassbaren Gegenständen/Dingen möglich. Für Bereiche/Objekte, die sich der Erfahrung entziehen, also zum Beispiel „Gott“, lassen sich aus Perspektive der theoretischen reinen Vernunft keine Rückschlüsse auf deren Existenz ziehen. Kant schreibt: „Unser Begriff von einem Gegenstande mag also enthalten, was und wie viel er wolle, so müssen wir doch aus ihm herausgehen, um diesem die Existenz zu erteilen. Bei Gegenständen der Sinne geschieht dies durch den Zusammenhang mit irgend einer meiner Wahrnehmungen nach empirischen Gesetzen; aber für Objekte des reinen Denkens ist ganz und gar kein Mittel, ihr Dasein zu erkennen, weil es gänzlich a priori erkannt werden müsste, unser Bewusstsein aller Existenz aber […] gehöret ganz und gar zur Einheit der Erfahrung, und eine Existenz außer diesem Felde kann zwar nicht schlechterdings für unmöglich erklärt werden, sie ist aber eine Voraussetzung, die wir durch nichts rechtfertigen können.“ KdV S. 535/B 629f. Später schreibt Kant, dass sich ein „dialektischer Schein“ als Zwang der Vernunft entpuppt, „welcher die Begriffe der Notwendigkeit und der höchsten Realität verknüpft, und dasjenige, was doch nur Idee sein kann, realisiert und hypostasiert.“ KdV, S. 544/B 643.

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Halten wir uns in diesem Kontext eine Tagebuchaufzeichnung Kierkegaards vor Augen: „Mein Verdienst um die Literatur bleibt immer, die entscheidenden Bestimmungen des ganzen Umfangs des Existentiellen so dialektisch scharf und so ursprünglich dargelegt zu haben, wie es zumindest meines Wissens in keiner anderen Literatur geschehen ist.“55 Kierkegaards Rede von den „entscheidenden Bestimmungen des ganzen Umfangs des Existenziellen“ liefert einen deutlichen Hinweis darauf, dass Kierkegaards Anspruch weiter reicht, als „nur“ extreme Stimmungen sowie in einem existenziell holistischen Rahmen fixierte „Grenzsituationen“ zu beschreiben. Paul Ricoeur hatte die Tragweite der kierkegaardschen Reflexionen angedeutet, indem er von einer durch Kierkegaard initiierten „Kritik der existenziellen Möglichkeiten“56 schreibt. Legen wir einen solchen Kritikbegriff zugrunde, dann soll in der Arbeit auch untersucht werden, inwieweit Kierkegaard Ansätze einer kritischen Analyse hinsichtlich der Bedingungen der Möglichkeit von Existenz/der Existenzsituation des Menschen liefert. Kierkegaards Texte bergen Konstitutionsanalysen menschlicher Existenz, die Transzendenz- und Unverfügbarkeitsaspekte offenlegen und die das Eingelassensein des Menschen in vorgängige Sinnkontexte thematisch einkreisen. Kierkegaard schlägt dem Existieren als einem spannungsreichen und problematischen Vollzug einen philosophisch eigens zu erörternden Status zu. Er nimmt die in der Theologie- und Philosophiegeschichte bis dato gängige Unterscheidung von essentia und existentia auf und bestimmt sie als grundlegend explikationsbedürftig und -würdig. Dabei beansprucht Kierkegaard nun erstmals den Bereich der existentia andersartig zu fassen: Er fokussiert den Menschen, dessen Selbst- und Weltverhältnis über ein allein erkenntnistheoretisches, transzendentalphilosophisches oder spekulatives Paradigma hinaus.

55 Sören Kierkegaard: Journale und Aufzeichnungen. Deutsche Sören Kierkegaard Edition, Band 4, Journale NB - NB 5, herausgegeben von Herrmann Deuser, Joachim Grage und Markus Kleinert, Berlin/Boston, 2013, S. 38. 56 Paul Ricoeur: Philosophieren nach Sören Kierkegaard, in: Michael Theunissen/ Wilfried Greve (Hg.): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main, 1979, S. 579-596, hier S. 583 (im Folgenden: Ricoeur, Philosophieren nach Sören Kierkegaard, Seitenzahl).

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Gegen die systematische Einspannung des Daseins und Reflexion der Vollzugsdimension Die Konturen der „existenzphilosophischen Wende“ Kierkegaards werden über seine Hegelkritik scharf. Sein Verhältnis zur hegelschen Philosophie ist in der Forschung ausführlich analysiert worden.57 Die Skizzierung des meiner Ansicht nach entscheidenden kritischen Arguments gegen Hegel soll den kierkegaardschen Impuls schärfer hervortreten lassen. Im Folgenden wird jener Aspekt der kierkegaardschen Hegelkritik behandelt, der die anvisierte existenzphilosophische Wende in ihrem Kern umreißt. Aus diesem Blickwinkel richtet sich Kierkegaards wichtigster Einwand gegen eine Hegel zugeschriebene systematisch-begriffslogische Einspannung des Daseins, das bei Hegel – so Kierkegaard – seine inkommensurable Qualität einbüßt. Eine vergleichsweise zusammenhängende Auseinandersetzung mit Hegel führt Kierkegaard in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift – insbesondere in Kapitel II des ersten Teils sowie Kapitel III und IV des zweiten Teils.58 Die Hegelkenntnisse Kierkegaards sind einerseits über die in Dänemark in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkenden renommierten Hegelianer Johan Ludvig Heiberg59 und Hans Lassen Mar-

57 Einschlägig hierzu: Jon Stewart: Kierkegaard‘s Relations to Hegel Reconsidered, Cambridge, 2007; Heiko Schulz: Kierkegaard über Hegel. Umrisse einer kritischpolemischen Aneignung, in: Kierkegaardiana 21, herausgegeben von Stacey Ake, Darío González u. a., Kopenhagen, 2000, S. 152-178 (im Folgenden: Schulz, Hegel, Seitenzahl); Niels Thulstrup: Kierkegaards Verhältnis zu Hegel und zum spekulativen Idealismus, Stuttgart, 1972; sowie: Hermann Schweppenhäuser: Kierkegaards Angriff auf die Spekulation, Frankfurt am Main, 1967. 58 Siehe dazu auch die Vorworte in Furcht und Zittern, Der Begriff der Angst sowie in Die Krankheit zum Tode. 59 Bezüglich des Einflusses von Heiberg schreibt Stewart: „much what has previously been seen as part of Kierkegaard’s criticism of Hegel in fact lands more on Heiberg than on Hegel himself“. Jon Stewart: Johan Ludvig Heiberg: Kierkegaard’s Criticism of Hegel’s Danish Apologist, in: Kierkegaard and His Danish Contemporaries – Philosophy, Politics and Social Theory, Jahrgang 7, Band 1, Ashgate, 2009, S. 35-76, hier S. 71.

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tensen60, andererseits über Friedrich Adolf Trendelenburg61 und Schelling vermittelt. Auch wenn seine Hegelkritik wenig systematisch und in wesentlichen Punkten reduktionistisch ist62, beinhaltet sie einen Kern, der

60 Martensen und Heiberg trugen in den 1830er Jahren in Kopenhagen maßgeblich zur Popularisierung der hegelschen Philosophie bei. Vieles von dem, was dänische Studenten – darunter Kierkegaard – anfangs der 1830er Jahre über Hegel lernten, war über Heiberg vermittelt. Kierkegaard hatte in dem Zeitraum zwischen 1830 und 1840 an der Kopenhagener Universität zahlreiche Seminare zu Ästhetik und Theologie besucht. Zu den damals schillerndsten Persönlichkeiten im akademischen Betrieb gehörte neben Johan Ludvig Heiberg der Theologe und spätere Bischof Hans Lassen Martensen, bei dem Kierkegaard im Sommersemester 1838 und Wintersemester 1838/39 hörte. Studenten berichteten über die außergewöhnliche Atmosphäre, die in den philosophischen Seminaren herrschte. Ein kurzer Auszug einer Tagebuchaufzeichnung eines Seminaristen namens F. Nielsen veranschaulicht das akademische Klima zu Kierkegaards Studienzeiten: „Auf allen Gebieten gärte es, und es war deutlich, daß eine neue Zeit im Anbruch war […]. Mit der Anstellung Martensens zog das philosophische Zeitalter herauf, und sein lebhafter Vortrag ergriff nicht nur die Theologen. [Dabei kam es immer wieder] zu einer [regelrechten] philosophischen Glossolalie, die [alle zulässigen] Grenzen zu überschreiten drohte und in ein Lirumlarum philosophischer Kunstwörter ausartete […]. Das Absolute war gekommen; es gab kein Geheimnis mehr, weder im Himmel noch auf Erden. [So] wurden die Studenten von einem bis dato unbekannten Leben ergriffen, und wie immer sie sich trafen, […] ereiferte [man] sich in Trilogien, Kategorien, Negationen, Mediationen, Immanenz und Transzendenz.“ Zitiert nach: Schulz, Hegel, S. 155. 61 Nach Thomas Heywood hatte Kierkegaard insbesondere Trendelenburgs Die logische Frage in Hegels System und Logische Untersuchungen studiert. Siehe dazu: Thomas Heywood: Logik und Existenz bei Kierkegaard, in: Michael Theunissen/ Wilfried Greve (Hg.): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main, 1979, S. 408-424, hier S. 422. 62 Lore Hühn zeigt am Beispiel der hegelschen Wissenschaft der Logik, insbesondere anhand der Abschnitte zum reinen Sein und Nichts auf, dass Kierkegaard hier an den einschlägigen Punkten vorbei argumentiert. Hühn schreibt: „Es kann nicht unerwähnt bleiben, dass Kierkegaard Hegel in der spekulativen Selbstüberforderung seines Systems vorführt und es sich nicht gerade um eine faire Interpretation handelt, die er unterbreitet. Zudem hat er die Wissenschaft der Logik nur sehr selektiv wahrgenommen, vieles aus zweiter Hand gewissermaßen vom späten Schelling übernommen, was er besser in einer eigenen Lektüre der Quellen überprüft und sich kritisch angeeignet hätte. Um es kurz zu machen: Kierkegaard bleibt in seiner Kritik an Hegel, zumal in seiner Kritik an der in der Wissenschaft der Logik gleich zu Anfang exponierten These, wonach Sein und Nichts ununterscheidbar seien und ihre Vermittlung je schon vollzogen hätten, weit hinter dem zurück, ja er unterbietet dasjenige, was er eigentlich zu kritisieren vorgibt.“ Lore Hühn: Kierkegaard und der Deutsche Idealismus, Tübingen, 2009, S. 2f. Nachgewiesen ist, dass

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nicht übergangen werden kann. Natürlich bemisst sich Kierkegaards Originalität nicht am Maßstab seiner Hegelkenntnisse und so zeigt sich vor allem, dass Kierkegaards Hegelrezeption „wesentlich produktiver Art“63 war. Kierkegaards Positionierung gegen Hegel ist demnach eng an die Schärfung des eigenen philosophischen Profils geknüpft. Kierkegaard übernimmt in diesem Zusammenhang zentrale Argumente Schellings, um diese dann gegen Hegel ins Feld zu führen. Von daher täuschen seine hämischen Kommentare in Bezug auf Schelling über die philosophische Relevanz hinweg, die Schellings Hegelkritik für Kierkegaard besaß.64 Der generelle Vorwurf Kierkegaards an die von ihm als überwiegend einheitlich wahrgenommene „spekulative Philosophie“ behauptet,

Kierkegaard sich insbesondere mit Hegels Phänomenologie des Geistes, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Vorlesungen über die Ästhetik, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Vorlesungen über die Philosophie der Religion intensiver befasste. Außerdem besaß er sämtliche Hauptwerke Kants, Trendelenburgs und Spinozas. Siehe dazu: Schulz, Hegel, S. 158.; siehe auch: Helmut Vetter: Stadien der Existenz. Eine Untersuchung zum Existenzbegriff Sören Kierkegaards, Wien, 1979. S. 17, Anmerkung 21. 63 Schulz, Hegel, S. 153. 64 Kierkegaard kommt 1841 nach Berlin, um Schellings Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung zu besuchen. Es hatte sich herumgesprochen, dass der in die Jahre gekommene Schelling die hegelsche Philosophie aus den Angeln zu heben gedachte. Schelling hatte Hegel vorgehalten, dass dessen Philosophie das reine Sein zum Ausgangspunkt nehme und nicht den Übergang von der Idee zur Natur leisten könne. In seiner „positiven“ Philosophie will sich Schelling schon begrifflich zur hegelschen Philosophie abgegrenzt wissen, die er als „negativ“, weil wirklichkeitsfremd, bezeichnet. Einen guten Einblick in Kierkegaards Schelling- und Hegelkritik bieten nach wie vor die Arbeiten von Löwith; siehe hierzu: Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg, 1995, S. 130ff. Ausführlich zu Kierkegaards Schellingrezeption und dem diesbezüglichen Forschungsstand: Tonny Asgaard Olesen: Kierkegaards Schelling, in: Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit, Kierkegaard Studies. Monograph Series 8, herausgegeben von Jon Stewart und Jochen Hennigfeld, Berlin/Boston, 2003, S 1-103. Allerdings wendet sich Kierkegaard bald enttäuscht von Schelling ab. So hält Kierkegaard in seinem Tagebuch sarkastisch fest: „Schelling schwätzt ganz unerträglich. […] Meine Zeit gestattet mir nicht tropfenweise einzunehmen, was ich auf einmal verschlingen kann, wenn ich nur den Mund ein bisschen aufmachte. Ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, ebenso wie Schelling zu alt ist, sie zu halten. Seine ganze Lehre über Potenzen verrät die äußerste Impotenz.“ Zitiert nach: Annemarie Pieper: Sören Kierkegaard, München, 2000, S. 10.

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dass diese Denken und Sein zu Gunsten des Denkens zusammengeführt hätte. Jenes die menschliche Existenz inkludierende „spekulative System“ mache unberechtigterweise einen selbsterklärenden Status sowie einen allein aus der Entwicklungslogik der Vernunft heraus entfalteten Ansatz geltend. Was Kierkegaard gegen Hegel in Anschlag bringt, lässt sich polemisch als Vorwurf der „Existenzdemenz“ beschreiben. Kierkegaards Kritik richtet sich vor allem gegen Hegels hypostasierte Vernunftkonzeption, mit der das menschliche Dasein dem spekulativen System „geopfert“ werde.65 Aus Kierkegaards Perspektive ist das hegelsche System überfrachtet. Denn Hegels Anspruch, so Kierkegaard, eine Ontologie des Daseins und der Wirklichkeit geben zu wollen, sei von vornherein verfehlt. Und so ließe sich – mit Heiko Schulz – von einer „gedanklichen Inkonsequenz“66 sprechen, die Kierkegaard Hegel vorhält. Haufniensis-Kierkegaard bemerkt in Anspielung auf Hegels Wissenschaft der Logik in Der Begriff der Angst: „Überschreibt man so den letzten Abschnitt der Logik ‚die Wirklichkeit‘, so gewinnt man damit den Vorteil, daß man den Schein erregt, als sei man in der Logik schon zu dem Höchsten, oder wenn man so will, zu dem Niedrigsten gekommen. Indessen fällt der Nachteil in die Augen: es ist weder der Logik noch der Wirklichkeit damit gedient. Nicht der Wirklichkeit: denn die Zufälligkeit, welche zur Wirklichkeit wesentlich mitgehört, kann die Logik nicht passieren lassen. Der Logik nicht: denn wenn sie die Wirklichkeit gedacht hat, so hat sie etwas in sich aufgenommen, daß sie nicht assimilieren kann“67. Nach Kierkegaard ließe sich wohl ein System der Logik ausdifferenzieren. Nur könnte die „Logik“ nicht beanspruchen, das „existierende Dasein“ und die „Wirklichkeit“ aus einer Wissenschaft der Logik heraus zu denken. Unvermittelbare Widersprüche, Leidenschaften, Grenzerfahrungen, die den Vollzug des Daseins als Existenz ausmachten, würden von Hegel über die „Selbstbewegung des Be-

65 Michael Theunissen hebt vier grundlegende Aspekte der Hegelkritik Kierkegaards hervor: „die Integration der Bewegung in die Logik, die identitätsphilosophische Auflösung des Seins ins Denken, die Hypertrophie einer als Allheilmittel angebotenen Vermittlung und die Degradierung des Glaubens.“ Theunissen, Kierkegaards philosophisches Profil, S. 10. 66 Schulz, Hegel, S. 164. 67 Sören Kierkegaard: Der Begriff der Angst, in: Sören Kierkegaard. Philosophische Schriften 2, in der Übersetzung von Christoph Schrempf, Wolfgang Pfleiderer und Hermann Gottsched, Frankfurt am Main, 2009, S. 205 (im Folgenden: BA, Seitenzahl).

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griffs“ in ein um Geschlossenheit bemühtes System gezwängt und damit aufgehoben: „Die systematische Abbreviatur der pathologischen Lebensmomente ist die reine Lächerlichkeit, sobald sie eine andere als metaphysische Bedeutung haben will. Das System ist also Metaphysik und nichts anderes. So ist es auch in seiner Ordnung. Aber dann ist es eben kein System, das das Dasein umfasst.“68 Kierkegaard beansprucht also ein Denken im Namen der Wirklichkeit, die einen eigenen irreduziblen ontologischen Status fordert und die er zugleich an das Existieren des Einzelnen bindet. Kierkegaard koppelt den Wirklichkeitsbegriff an die „reale“ Wirklichkeit des Einzelnen, der immer diese Wirklichkeit auch ist. Diese als Vollzug und in ihrem ausgezeichneten Sein zu reflektieren, ist Kierkegaards zentrales Anliegen. Kierkegaard fordert, wie Hermann Deuser konstatiert, eine „kategoriale Eigenständigkeit“69 dieser Vollzugsdimension. Sein entscheidender Einwand gegenüber Hegels Programm der Phänomenologie und Enzyklopädie zielt auf den darin – so Kierkegaard – artikulierten Anspruch, eine Systematik des Daseins liefern zu können: „Ein System des Daseins kann nicht gegeben werden […] System und Abgeschlossenheit entsprechen einander, aber Dasein ist gerade das Entgegengesetzte. Abstrakt gesehen läßt sich System und Dasein nicht zusammen denken, weil der systematische Gedanke, um das Dasein zu denken, es als aufgehoben, also nicht als daseiend denken muss. Das Dasein ist das Spatiierende, das auseinander hält: das Systematische ist die Abgeschlossenheit, die zusammenschließt.“70 Existenz bezeichnet bei Kierkegaard nicht nur ein kritisch-polemisches Schlagwort gegen einen mit Hegel in Verbindung gebrachten hypostasier-

68 Sören Kierkegaard: Stadien auf dem Lebensweg, in: Sören Kierkegaard. Philosophische Schriften 2, in der Übersetzung von Christoph Schrempf, Wolfgang Pfleiderer und Hermann Gottsched, Frankfurt am Main, 2009, S. 624. (im Folgenden: SLW, Seitenzahl). 69 Deuser schreibt: „Verlangt wird die kategoriale Eigenständigkeit des notwendig personalen Erschließungsvollzugs im Blick auf die Wirklichkeit, an der dieselbe Subjektivität faktisch, d. h. existierend bereits beteiligt ist.“ Hermann Deuser: Warum immer wieder Kierkegaard, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2010, herausgegeben von Niels Jörgen Cappelörn, Hermann Deuser, Brian Soderquist, Berlin/New York, 2010, S. 3-22, hier S. 9 (im Folgenden: Deuser, Warum immer wieder Kierkegaard, Seitenzahl). 70 AuN, S. 758. Weiter heißt es: „Also gibt es ein solches nicht? Keineswegs. Das liegt auch nicht in diesen Worten. Das Dasein ist selbst ein System für Gott, aber kann es nicht für ein existierenden Geist sein.“ AuN, S. 758.

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ten Vernunftbegriff sowie gegen ein als überstrapaziert charakterisiertes „Identitätsdenken“ und der damit verbundenen Verhältnisbestimmung von Denken und Wirklichkeit/Sein. Mit Existenz wird von Kierkegaard das Menschsein, das Leben des Menschen in seinem Werden, Wirken, Vergehen als Vollzugsgeschehen fokussiert. Anti-Climacus-Kierkegaard bestimmt in der Krankheit zum Tode das Dasein als sich-zu-sich-selbst-verhaltendes Verhältnis (dies werde ich im folgenden Kapitel ausführlich erörtern). Das Dasein ist Vollzug und dieser Vollzugscharakter kann weder streng systematisch deduziert oder hergeleitet, noch schematisch-schlusslogisch entfächert werden. Und eben jene Vollzugsdimension des Existierens „wegabstrahiert“ – also systematisch eingespannt – zu haben, hält Kierkegaard Hegel vor. Odo Marquard hatte mit Blick auf „die“ Existenzphilosophie bemerkt, dass diese „emphatische Philosophie des Einzelnen“71 sei, der als „Ernststätte […] die Dinge lebensweltlich auszubaden hat“72. Zugleich hebt Marquard auf die mit der existenzphilosophischen Wende einsetzende reflexive Radikalisierung der Existenzproblematik ab. Diese führe wiederum, im Unterschied zu lebensphilosophischen Entwürfen, einen Rationalitätsanspruch mit sich, der sich darin ausspreche, die Frage der Existenz rational einzuhegen und nicht, mit dem Irrationalismus-Etikett versiegelt, ins philosophische Niemandsland zu bannen. Während Schopenhauer, Nietzsche und in der Folge Simmel, Theodor Lessing, Klages etc. das Leben als irrationale, sich jeder Reflexion entziehende Kraft in einen LebenForm- oder Leben-Geist-Dualismus einspannen, sucht Kierkegaard (und auch Heidegger) Existenz über das bloße Dass-sein hinaus zu denken. Kierkegaard verknüpft die Vollzugsdimension des Existierens mit der „Kategorie“ des Einzelnen und verdichtet diesen Gedanken zu einem Individualitäts- und Unvertretbarkeitsparadigma. Wenn Kierkegaard dem System und der Abgeschlossenheit das Dasein entgegensetzt, dann steht dieses für das Unabgeschlossene, für das Nichtabstrahierbare, für Spontaneität sowie für die Nichtbe- und Nichtverrechenbarkeit – kurz: für das Inkommensurable, dessen Reflexion die existenzphilosophische Wende in ihrem Kern ausmacht. Das Dasein kann sich zu „der“ Wirklichkeit und zu „seiner“ Wirklichkeit nur bedingt abstrahierend, niemals aber suspendierend verhalten. 71 Odo Marquard: Der Einzelne. Vorlesungen zur Existenzphilosophie, Stuttgart, 2013, S. 12 (im Folgenden: Marquard, Der Einzelne, Seitenzahl). 72 Marquard, Der Einzelne, S. 15.

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Es ist unbestritten, dass „der Einzelne“ als existenzphilosophisches Scharnier bei Kierkegaard eine zentrale Rolle spielt und er damit auch wichtige Analysen zur, so Liessmann, „Konstitution von Subjektivität durch Leidenschaft“73 liefert. Allerdings gehen Kierkegaards Reflexionen über eine subjektivistische Perspektive hinaus. Er denkt diesen Vollzug als ein vortheoretisches Geschehen, zu dem sich das Dasein, wie Franz Zimmermann schreibt, nicht erst im Sinne eines „nachträgliche(n) in-Beziehung-Treten“ verhält.74 Als Menschen sind wir in diesen vortheoretischen Zusammenhang schon immer eingebunden und konstituieren ihn mit, ohne über ihn zu verfügen. Zugleich bildet dieser Lebenszusammenhang die Bedingung der Möglichkeit eines theoretischen Verhältnisses zur Welt und zur Wirklichkeit überhaupt. Führt man sich den hierin artikulierenden Anspruch einer sinnvollen Reflexion über Existenz vor Augen, dann zeichnet sich deutlich der eigenständige Status der kierkegaaschen Analysen ab, an den Heidegger dann anknüpft. Heideggers Kierkegaard: Rezeption bis Sein und Zeit Mit dem Erscheinen der durch Christoph Schrempf75 edierten Gesammelte Werke auf Deutsch entfaltet Kierkegaard insbesondere in den 1920er Jahren – ob innerhalb des akademischen Betriebs oder in Kreisen dessen intellektueller Kritiker – eine enorme Wirkung. Ob von „links“ oder „rechts“, „Religiösen“ oder „konservativen Revolutionären“ – Kierkegaard wird rezipiert. Zu den aufmerksamen Lesern Kierkegaards zählt Heidegger. Auch er beschäftigt sich mit ihm – und zwar wesentlich intensiver, als es seine Aussagen oder Zitate nahelegen. Lassen wir im Folgenden Heidegger zu Wort kommen. Was „macht“ Heidegger aus Kierkegaard? Wie liest und deutet er ihn? Woran knüpft er an? Die hier ausgeführte These legt dar, dass die in Sein und Zeit erfolgte Ausarbeitung der Existenzialien die Umsetzung einer revolutionär-philosophischen Agenda 73 Konrad Paul Liessmann: Kierkegaard zur Einführung, Hamburg, 1993, S. 66 (im Folgenden: Liessmann, Kierkegaard, Seitenzahl). 74 Franz Zimmermann: Einführung in die Existenzphilosophie, Darmstadt, 1977, S. 16, siehe hierzu besonders S. 14-18. 75 Die Gesammelten Werke erschienen seit 1909 im Eugen Diederichs Verlag in Jena, herausgegeben und übersetzt von Christoph Schrempf, Hermann Gottsched und Wolfgang Pfleiderer. Kierkegaards Schriften umfassen in dieser Version 12 Bände, publiziert in den Jahren 1909-1922.

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darstellt, die Kierkegaards existenzphilosophische Wende radikalisiert und ausdifferenziert. Der nachfolgende Abschnitt zeichnet anhand einer Auswahl paradigmatischer Verweise Heideggers dessen eigenwillige Kierkegaardrezeption nach und arbeitet heraus, dass Heideggers Kierkegaardinterpretation über das von ihm gesetzte Differenzkriterium des existenzialen Paradigmas ihren systematischen Fokus findet. Wir wissen, dass Heidegger sich spätestens seit 1914 mit Kierkegaard intensiv auseinandersetzte76 und er nachweislich noch in Freiburg dessen Entweder-Oder gelesen hatte.77 Eine besonders intensive Kierkegaardrezeption durch Heidegger erfolgte in seiner Zeit in Marburg zwischen den Jahren 1923 und 1927, als er mit Bultmann Bekanntschaft machte. Beide trafen sich hier regelmäßig zu einer gemeinsamen Kierkegaardlektüre. Dazu gehörten die Philosophischen Brocken sowie Der Begriff der Angst. In seiner Ontologie-Vorlesung Hermeneutik der Faktizität von 1923 äußert sich Heidegger über Kierkegaard folgendermaßen: „In der öffentlichen Ausgelegtheit des Heute sollen spezifische Kategorien des Daseins zur Sicht gebracht werden, für die es gilt, wach zu werden […]. Starke Anstöße für die hier vorgelegte Explikation kommen von der Arbeit Kierkegaards. Aber Voraussetzungen, Ansatz, Art der Durchführung und das Ziel sind grundsätzlich verschieden, weil er es sich zu leicht macht. Im Grunde war für ihn nichts fraglich als die eigene Reflexion, die er betrieb. Er war Theologe und stand innerhalb des Glaubens, grundsätzlich außer-

76 Heidegger schreibt 1972 in einem Vorwort zur Herausgabe seiner „Frühen Schriften“: „Was die erregenden Jahre zwischen 1910 und 1914 brachten, läßt sich gebührend nicht sagen, sondern nur durch eine Weniges auswählende Aufzählung andeuten: Die zweite um das Doppelte vermehrte Ausgabe von Nietzsches ,Willen zur Macht', die Übersetzung der Werke Kierkegaards und Dostojewskis, das erwachende Interesse für Hegel und Schelling, Rilkes Dichtungen und Trakls Gedichte, Diltheys ,Gesammelte Schriften'.“ Martin Heidegger: Frühe Schriften (1912– 1916), herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main, HGA 1, 1978, S. 56. 77 Heidegger zitiert in seiner Vorlesung zum Wintersemester 1921/22 aus dem Ekstatischen Vortrag des A aus Entweder-Oder: „Was dagegen der Philosophie und dem Philosophen schwer fällt, das ist das Aufhören“. Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, Wintersemester 1921/22, herausgegeben von Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns, HGA 61, Frankfurt am Main, 1985, S. 182.

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halb der Philosophie. Die heutige Lage ist eine andere.“78 Zu Beginn der erwähnten Passage weist Heidegger, darauf werde ich noch zurückkommen, auf die wesentliche Bedeutung der von ihm selbst in Angriff genommenen Herausarbeitung der Existenzialien, die nicht Ergebnis eines Konstrukts theoretischer Vorannahmen seien, sondern aus dem faktischen Leben selbst bzw. aus der Alltäglichkeit des Daseins heraus gewonnen würden. Nicht mittels einer „theoretischen“ Ableitungs- und Bezugslogik79 sondern über die angemessene „Ausgelegtheit des Heute“ beabsichtigt Heidegger, die „Kategorien des Daseins“ freizulegen. Zugleich deutet er mit dem im Auszug bemerkten „wach [zu] werden“ auf eine existenzielle Dimension der eigenen Analysen (das wird noch eigens in Kapitel 7 thematisiert werden). Heidegger distanziert sich von Kierkegaard in zweifacher Hinsicht. Einmal im Hinblick auf die theologischen Prämissen der kierkegaardschen Schriften und einmal im Hinblick auf die historisch bedingte Andersartigkeit der Gegenwart. Eine genuin theologische Einstellung, wie Heidegger sie Kierkegaard zuschreibt, stünden Heideggers eigenem Ansatz, zum Beispiel einer formalen Anzeige diametral entgegen, die als Schlüssel und „methodische Geheimwaffe“80, wie es Theodor Kisiel plakativ formuliert, die Aufdeckung lebensweltlicher Phänomene/Existenziale von neutralem Boden aus in Angriff nehme – eben formal und nicht theologisch gestimmt.81 Die „theologische Stempelung“ übergeht allerdings die Tatsa-

78 Martin Heidegger: Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, Sommersemester 1923, herausgegeben von Käte Bröcker-Oltmanns, HGA 63, Frankfurt am Main, 1988, S. 30 (im Folgenden HdF, Seitenzahl). 79 Heidegger schreibt: „Alle Kategorien sind als solche, nicht in Bezug und aus Bezug zueinander, Existenzialien.“ HdF, S. 43. 80 Theodor Kisiel: Die formale Anzeige als Schlüssel zu Heideggers Logik der philosophischen Begriffsbildung, in: Alfred Denker/Holger Zaborowski (Hg.): Heidegger und die Logik, Elementa Band 79, Amsterdam, 2006, S. 49-65, besonders 51ff. Siehe auch: Theodor Kisiel: Die formale Anzeige. Die methodische Geheimwaffe des frühen Heideggers. Heidegger als Lehrer: Begriffsskizzen an der Tafel, in: Markus Happel (Hg.): Heidegger neu gelesen, Würzburg, 1997, S. 22-40. 81 Die Frage nach dem Status von philosophischer Rede und ihrem „Gegenstand“ beschäftigen sowohl Heideggers das Ereignis denkenden Beiträge als auch seine frühen Vorlesungen, zum Beispiel die Phänomenologie des religiösen Lebens mit den Ausführungen zur begrifflichen Fixierung und Explizierbarkeit faktischer Lebenserfahrung. Der hierin verhandelte Zugriff durch die formale Anzeige – Heidegger steht zu diesem Zeitpunkt ganz im Kontext der husserlschen Phänome-

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che, dass sich Kierkegaard dezidiert nicht als Theologe verstanden wissen wollte.82 Zum anderen täuscht die Aussage über die in den heideggerschen Texten selbst strukturell angelegten theologischen Perspektiven. Diese lassen sich in Heideggers gesamtem Werk nachzeichnen – auch in seinem einflussreichen Sein und Zeit.83 In diesen Zusammenhang fügt sich das

nologie – ermöglicht es ihm, fundamentale philosophische Fragestellungen fruchtbar anzugehen. Dazu zählt neben der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Denken die Erfassung der faktischen Lebenserfahrung, der existentiellen Praxis schlechthin. Heidegger schreibt: „Das Problem des Selbstverständnisses der Philosophie wurde immer zu leicht genommen. Fasst man dieses Problem radikal, so findet man, dass die Philosophie der praktischen Lebenserfahrung entspringt. Und dann springt sie in der faktischen Lebenserfahrung in diese selbst zurück. Der Begriff der faktischen Lebenserfahrung ist fundamental.“ Martin Heidegger. Phänomenologie des religiösen Lebens. 1. Einleitung in die Phänomenologie der Religion, Wintersemester 1920/21, herausgegeben von Matthias Jung und Thomas Regehly, HGA 60, 2. Auflage, Frankfurt am Main, 2011, S. 8 (im Folgenden: PrL, Seitenzahl). 82 Dieses Urteil relativiert Heidegger später, indem er auf den besonderen Status des kierkegaardschen Denkens weist: „Kierkegaard ist ein »religiöser Denker«; d. h. nicht Theologe und nicht »christlicher Philosoph« (Unbegriff); Kierkegaard ist theologischer denn je ein christlicher Theologe und unphilosophischer als je ein Metaphysiker sein könnte […] er muß in sich stehenbleiben; weder die Theologie noch die Philosophie kann ihn in ihre Geschichte einreihen.“ Martin Heidegger: Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), Sommersemester 1941, herausgegeben von Günter Seubold, HGA 49, Frankfurt am Main, 1991, S. 19 (im Folgenden: MdI, Seitenzahl). Kierkegaard versteht sich als „religiöser Schriftsteller“ und „subjektiver Denker“. Sein Konzept der indirekten Mitteilung ist ein bewusster Gegenentwurf gegen jede Form von „Lehren“. Hier schließe ich mich Paul Ricoeur an, der meinte: „Ja, Kierkegaard ist eine ‚Ausnahme‘. Doch wiederholen wir diese Überzeugung nicht nur, sondern untersuchen wir sie eingehender: lesen wir Kierkegaard und lassen ihn dann den sein, der er ist: außerhalb von Philosophie und Theologie.“ Ricoeur, Philosophieren nach Sören Kierkegaard, S. 583. An anderer Stelle schreibt Ricoeur: „Jeder spürt, dass Kierkegaard nicht – oder nicht nur – der Nicht-Philosoph ist. Kierkegaard bringt uns in Verlegenheit, weil er im Verhältnis zur Philosophie sich zugleich außerhalb und innerhalb ihrer befindet.“ Ricoeur, Philosophieren nach Sören Kierkegaard, S. 585. 83 Thomas Rentsch zählt zu den zentralen Sein und Zeit-Ebenen ausdrücklich auch die „existenziell-religiöse bzw. theologische Schicht“. Rentsch liefert in dem folgend aufgeführten Aufsatz eine umfassend systematische Überblicksdarstellung zu Sein und Zeit. Thomas Rentsch: „Sein und Zeit“. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 2003, S. 51-80, hier S. 56 (im Folgenden:

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von Habermas in Bezug auf die in Sein und Zeit explizierte Todes- und Zeitlichkeitsanalyse gesprochene Wort vom „Protestantismus auf dem Nullpunkt der Säkularisierung“84 ebenso wie die Charakterisierung von Thomas Rentsch, der vor allem im Hinblick auf Heideggers spätere Texte von einer sich darin artikulierenden „gottlosen Theologie“85 spricht. Mit dem Verweis auf eine andersartige Gegenwart („die heutige Lage ist eine andere“) führt Heidegger ein historisierendes, allerdings auch triviales Argument ins Feld, das er nicht ausführt. Frag-würdig ist allerdings schon, warum die breit gestreute Kierkegaardrezeption gerade in den Zwischenkriegsjahren einen Höhepunkt erreicht. Das Erscheinen der Kierkegaard-Gesamtausgabe hat diese Tendenz zwar vorangetrieben, aber es erklärt nicht, dass und warum Kierkegaard sich einer solchen Popularität erfreute. Die radikalen Erfahrungen der „Generation 1. Weltkrieg“ bilden den idealen Boden für die Empfänglichkeit existenzieller Rhetorik, auf deren Klaviatur wiederum Kierkegaards Texte meisterhaft spielen. Kierkegaards Popularität resultiert nicht zuletzt aus seinen Ausführungen zum Begriff des Augenblicks (darauf werde ich in Kapitel 6 zurückkommen). Sie geriert dann zu dem, was Adorno mit „Sieg als Niederlage“ treffend bezeichnete.86 Dass es an ebenso verkürzten wie vielfältigen Kairosinter-

Rentsch, Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, Seitenzahl). Siehe auch: Thomas Rentsch: Gott, Berlin/New York, 2005. Siehe außerdem: Norbert Fischer/Friedrich Wilhelm von Herrmann (Hg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, Hamburg, 2011; sowie: Norbert Fischer/Friedrich Wilhelm von Hermann (Hg.): Heidegger und die christliche Tradition, Hamburg, 2007; ebenso: Otto Pöggeler: Philosophie und hermeneutische Theologie: Heidegger, Bultmann und die Folgen, Paderborn/München, 2009; sowie: Alberto Anelli: Heidegger und die Theologie: Prolegomena zur zukünftigen theologischen Nutzung des Denkens Martin Heideggers, Würzburg, 2008; sowie: Matthias Jung: Das Denken des Seins und der Glaube an Gott: zum Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Martin Heidegger, Würzburg, 1990. 84 Jürgen Habermas: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt am Main, 1971, S. 81. 85 Rentsch, Das Sein und der Tod, S. 147. 86 Adorno erklärt: „Kierkegaard ist in knapp hundert Jahren durch einen seiner berühmtesten Adepten nicht weniger eingeebnet, vom bürgerlichen Normalbewusstsein verschluckt worden wie, nach Kierkegaards eigener These, das Christentum nach zwei Jahrtausenden. Anregende Kraft, Größe wie die eines Bismarckdenkmals, Weltgeschichte – just das, was Kierkegaard verachtete, blieb von ihm übrig und wurde glorifiziert. Aus jenem Einzelnen ist das verlogene Gerede geworden, das damit sich brüstet, die anderen seien uneigentlich und dem Gerede verfallen. Besiegelt wurde das, als ihn in Deutschland vor 1933 der Nationalsozialist Emanu-

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pretationen nicht mangelte, sagt weniger über das kierkegaardsche Denken als über den herrschenden Zeitgeist aus, in dem die gesellschaftspolitische „Lage“ durch eine quasi-religiöse Totale gedeutet und eschatologisch-apokalyptisch überformt wird. Eine Tendenz, die auch bei Heidegger nicht von der Hand zu weisen ist. Möglicherweise war die „Lage“ doch ähnlicher als es Heidegger meint – so zumindest sehen es Karl Löwith, Carl Schmitt und Heinz Dieter Kittsteiner.87 McCarthy schreibt: „Being and Time has the stamp of Kierkegaard all over it”88 – allerdings wird Kierkegaard in dem Werk von 1927 insgesamt nur dreimal erwähnt, jeweils in Fußnoten. Ich hatte behauptet, dass Heidegger Kierkegaard durch die „existenziale Brille“ liest und deutet. Schauen wir uns diese drei Anmerkungen Heideggers an, um dies zu plausibilisieren. Im Kontext seiner Ausführungen zur Angst schreibt Heidegger: „Noch seltener als das existenzielle Faktum der eigentlichen Angst sind die Versuche, dieses Phänomen in seiner grundsätzlichen existenzial-ontologischen Konstitution und Funktion zu interpretieren. Die Gründe hierfür liegen zum Teil in der Vernachlässigung der existenzialen Analytik des Daseins überhaupt“89. Diese Passage versieht Heidegger mit einer Fußnote, in der er Bezug auf Kierkegaard nimmt: „Am weitesten ist S. Kierkegaard vorgedrungen in der Analyse des Angstphänomens und

el Hirsch in Generalpacht nahm: Sieg als Niederlage.“ Theodor W. Adorno: Kierkegaard noch einmal, in: Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg.): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main, 1979, S. 557-578, hier S. 561. 87 Aus geschichtsphilosophischer Perspektive ist sehr wohl auf bestehende Parallelen verwiesen worden. Siehe hier: Heinz Dieter Kittsteiner: Mit Marx für Heidegger. Mit Heidegger für Marx, München, 2004, S. 79ff. Auch Jacob Taubes hatte Carl Schmitt zitierend darauf aufmerksam gemacht, „dass‚ wer die Tiefen des europäischen Gedankenganges von 1830 bis 1848 kennt, auf das meiste vorbereitet ist, was heute in Ost und West laut wird.“ Jakob Taubes: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin, 1980, S. 8. Und auch Karl Löwith bestätigt in diesem Punkt eine Analogie zwischen einem für die 1920er Jahre typischen Denken und dem Kierkegaards, da Kierkegaard, so Löwith, „in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts Erfahrungen beschrieb, die erst heute allgemeine Erfahrungen geworden sind“. Zitiert nach: Ralph Ludwig: Der Philosoph mit dem zu kurzen Hosenbein, Publik-Forum, Heft 12, 2004, S. 63. 88 McCarthy, Kierkegaard’s Influence Hidden and in Full View, S. 96. 89 Martin Heidegger: Sein und Zeit, 18. Auflage, Tübingen, 2001, S. 190 (im Folgenden SuZ, Seitenzahl).

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zwar wiederum im theologischen Zusammenhang einer »psychologischen« Exposition des Problems der Erbsünde.“90 Wie in der Hermeneutik der Faktizität verweist Heidegger auch in dieser Bemerkung auf den theologischen Zugriff Kierkegaards, um damit das eigene Programm – das einer „unvoreingenommenen“ Existenzialanalyse – hervorzuheben. Die erwähnte Kierkegaardreferenz platziert Heidegger im Angstparagraphen 40, mit dem er den Übergang zur Ausarbeitung der Eigentlichkeit einleitet, bei deren Analyse die Angst eine zentrale Rolle spielt (ausführlich in Kapitel 6). Heidegger betont in dem kurzen Auszug den originären Status seiner existenzialen Analyse. In diesem Kontext profiliert er sich auch gegenüber Kierkegaard, der Angst „bloß“ aus „psychologischer“ – sprich: existenzieller – Perspektive analysierte, während er – Heidegger – nun eine existenziale Grundlegung gibt. Wir sehen: Heidegger führt gegen Kierkegaard das Argument des existenzialen Defizits an. Dort der existenzielle Kierkegaard, hier der existenziale Heidegger. In einem zu Beginn des Zweiten Abschnitts von Sein und Zeit dargelegten Vorausblick zum Aufriss der Ausarbeitung der Zeitlichkeitsstrukturen fügt Heidegger ebenfalls eine Fußnote zu Kierkegaard ein. Diese steht seltsam losgelöst für sich, aber auch sie spiegelt Heideggers Kierkegaarddeutung idealtypisch: „Im 19. Jahrhundert hat S. Kierkegaard das Existenzproblem als existenzielles ausdrücklich ergriffen und eindringlich durchdacht. Die existenziale Problematik ist ihm aber so fremd, daß er in ontologischer Hinsicht ganz unter der Botmäßigkeit Hegels und der durch diesen gesehenen antiken Philosophie steht.“91 Wie schon zuvor bezieht sich Heidegger auch hier auf das von ihm gesetzte und das gesamte Sein und Zeit-Werk prägende existenziale Argument. Er führt es gegen einen Kierkegaard an, dem „die existenziale Problematik […] so fremd“ sei, um sich vom (vermeintlich oberflächlicheren) Status der kierkegaardschen Reflexionen abzugrenzen. Auch die dritte Kierkegaardbemerkung in Sein und Zeit rekurriert auf das existenziale Differenzkriterium. In seiner Ausarbeitung einer ursprünglichen bzw. eigentlichen Zeitlichkeit deutet Heidegger anerkennend auf die Vorarbeiten Kierkegaards, um ihn dann abermals mit einem grundsätzlichen Einwand zu konfrontieren: „S. Kierkegaard hat das existenzielle Phänomen des Augenblicks wohl am eindringlichsten gesehen, was nicht

90 SuZ, S. 190, Anmerkung 1. 91 SuZ, S. 235.

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schon bedeutet, daß ihm die existenziale Interpretation entsprechend gelungen ist.“92 Die Argumentation Heideggers bleibt die gleiche – Kierkegaard sei die „existenziale Interpretation“ nicht „gelungen“, die nun von Heidegger nachgelegt wird. In den angeführten Zitaten kristallisiert sich ein durchgängiges Muster der Kierkegaardinterpretation Heideggers heraus. Sowohl Zuspruch als auch Distanzierung sind ineinander verklammert – auf der einen Seite steht ein Kierkegaard, dem Heidegger anerkennend ein doch beachtliches Reflexionsniveau zugesteht. Auf der anderen Seite steht ein für einen vermeintlichen Mangel an existenzialem Bewusstsein kritisierter Kierkegaard, den Heidegger noch einmal philosophisch erdet. Heideggers Kierkegaardkritik als Selbstkritik: Überwindung des Subjektzentrismus nach Sein und Zeit und Kritik am existenziellen Existenzbegriff Heideggers Kierkegaardverweise nach Sein und Zeit dokumentieren zwei Auffälligkeiten, die in einem Zusammenhang zu sehen sind. Erstens erscheinen die späteren Bezugnahmen Heideggers im Kontext einer Auseinandersetzung mit „der“ Existenzphilosophie.93 Heidegger nutzt hier das

92 SuZ, S. 338, Anmerkung 1. 93 Bis in die frühen 1940er Jahre bezieht Heidegger die „Existenzphilosophie“ noch hauptsächlich auf Jaspers: „Die Existenzphilosophie ist, einschließlich des Namens, allein das Werk von K. Jaspers“. MdI, S. 18. Später distanziert sich Heidegger mit einer ähnlichen Argumentation gegenüber Sartre. „Existenzialismus“ und „Existenzphilosophie“ werden von Heidegger vom selben Standpunkt aus kritisiert. Mit Erscheinen von Sartres Das Sein und das Nichts 1943 sowie seinem publikumswirksamen Vortrag Der Existentialismus ist ein Humanismus von 1945 wird der französische Intellektuelle Heideggers zweiter Reibungspunkt, wenn es um die Abgrenzung gegen „die“ Existenzphilosophie und „den“ Existenzialismus geht. Vor allem im Brief über den „Humanismus“ und in der Metaphysik des deutschen Idealismus spricht sich Heidegger ausführlich gegen „existenzphilosophische“ Vereinnahmungen aus. Seine Kritik an Jaspers zielt auf dessen Thesen in Die geistige Situation der Zeit, wo Jaspers schreibt: „Existenzphilosophie ist das alle Sachkunde nutzende, aber überschreitende Denken, durch das der Mensch er selbst werden möchte. Dieses Denken erkennt nicht Gegenstände, sondern erhellt und erwirkt in einem das Sein dessen, der so denkt. In die Schwebe gebracht durch Überschreiten aller das Sein fixierenden Weltkenntnis (als philosophische Weltorientierung), appelliert es an seine Freiheit (als Existenzerhellung) und schafft den Raum seines unbedingten Tuns im Beschwören der Transzendenz

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existenziale Argument, um sich gegen „existenzphilosophische“ Vereinnahmungen durch Jaspers und Sartre zu immunisieren. Die zweite Auffälligkeit besteht darin, dass Heidegger im Rahmen seiner Abgrenzung gegenüber „der“ Existenzphilosophie das Kriterium der Bezüglichkeit, genauer: des Bezugs zum Sein, eigens akzentuiert. Fehle dieser, erfolge also die Entfaltung der Existenzproblematik nicht vor dem Horizont der Seinsfrage, bleibe ein solches Denken – wie jenes der Existenzphilosophie – allein auf das Selbst/den Menschen/das Dasein bezogen. Es verharre in einem aus Heideggers Perspektive für reduktionistisch befundenen Subjektzentrismus. Ein Zitat aus dem Brief über den „Humanismus“ verdeutlicht modellhaft den Sinn des von Heidegger beanspruchten Existenzbegriffs, wie er ihn im Anschluss an Sein und Zeit verstanden wissen will. Heidegger führt in diesem Kontext sein Verständnis von „Ek-sistenz“ ins Feld: „Der Mensch west so, dass er das »Da«, das heißt die Lichtung des Seins, ist. Dieses »Sein« des Da, und nur dieses, hat den Grundzug der Ek-sistenz, das heißt des ekstatischen Innestehens in der Wahrheit des Seins. Das ekstatische Wesen des Menschen beruht in der Existenz, die von der metaphysisch verstandenen existentia verschieden bleibt.“94 Heidegger argumentiert, dass das Dasein als das „ekstatische Wesen des Menschen“ ein ausgezeichnetes ist, weil es ein Verhältnis zum Sein habe, weil es „in der Wahrheit des Seins“ stünde. Allein im Hinblick auf diesen Bezug zum „Sein“ erschlösse sich das Wesen des Daseins. Heideggers Verweis auf die „metaphysisch verstandene“ existentia erfolgt in der Absicht, mit der existenzphilosophischen Auslegung des Begriffs zu brechen. Sowohl Jas-

(als Metaphysik)." Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, Berlin, 1949, S. 176. Heidegger bezieht sich in seiner Kritik an Sartre auf den zentralen Satz aus Der Existentialismus ist ein Humanismus: „Der atheistische Existentialismus […] erklärt: wenn Gott nicht existiert, so gibt es zumindest ein Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dieses Wesen ist der Mensch oder, wie Heidegger sagt, das Dasein. Was bedeutet hier, dass die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, dass der Mensch erst existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann definiert. Der Mensch, wie ihn der Existentialist versteht, ist nicht definierbar, weil er zunächst nichts ist.“ Jean-Paul Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus, in: Der Existentialismus ist ein Humanismus – und andere philosophische Essays, Reinbek bei Hamburg, 2005, 145-192, hier S. 149. 94 Martin Heidegger: Brief über den „Humanismus“, in: Wegmarken, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, HGA 9, Frankfurt am Main, 1976, S. 325 (im Folgenden: BüH, Seitenzahl).

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pers als auch Sartre verwendeten, so Heideggers Kritik, den Existenzbegriff in aristotelisch-scholastischer Tradition und blieben in einem „vorhandenheitsontologischen“ Denken stecken. Sartres’ „Humanismus“ frage „bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen nicht nur nicht nach dem Bezug des Seins zum Menschenwesen“ er „verhindert sogar diese Frage“95. Aufgrund eines solchen auf die „Menschlichkeit des Menschen“ fokussierten subjektzentristischen Ansatzes bliebe dem sartreschen „Humanismus“ die Einsicht in die Verschränktheit und Aufeinanderbezogenheit von Dasein und Sein verwehrt. Die von Heidegger mit Nachdruck und einer gewissen Unversöhnlichkeit geführte Auseinandersetzung mit Jaspers und Sartre impliziert eine grundlegende Kierkegaardkritik, die er in seinem Nietzschebuch sowie in der Vorlesung Die Metaphysik des deutschen Idealismus von 1941 konkretisiert. Im Nietzschebuch zeichnet Heidegger eine in der Philosophie Schellings angelegte Tendenz nach, die dann durch Kierkegaard weitergeführt und später in Nietzsche vollendet werde: Die Ineinssetzung von Existenz und Wirklichkeit, sowie eine damit einhergehende Koppelung des Wirklichkeitsbegriffs an den des Selbstseins. Diese Fokussierung auf das Selbstsein habe Kierkegaard radikalisiert und zudem religiös-christlich enggeführt: „Die […] vorgezeichnete Auszeichnung der Existenz im Sinne der Wirklichkeit als Selbstsein gelangt auf dem Umweg über Kierkegaard […] in eine eigentümliche Verengung.“96 In einem knappen Abschnitt von sechs Seiten spricht Heidegger zweimal von der „Verengung“97 des Existenzbegriffs durch Kierkegaard sowie zweimal davon, dass jener diesen „eingeschränkt“98 habe.

95 BüH, S. 321. Solche „Humanismen“ – Heidegger generalisiert an dieser Stelle und disqualifiziert Sartre zu einem Advokaten einer „seinsvergessenen“ subjektivistischen Modephilosophie, die letztlich auf antiken Trümmern sich neu schmücke – gingen von einem vorgefertigten antiken Menschenbild aus, das als das aristotelische zoon logon echon das abendländische Denken bestimme. Menschen „in der Dimension der Animalitas“ (BüH, S. 323) zu denken, verstelle den Blick auf das Wesentliche. Mit bloßer „Lebendigkeit“ „wird das Wesen des Menschen zu gering geachtet und nicht seiner Herkunft gedacht“. (BüH, S. 323) Sartres Wendung, dass „die Existenz der Essenz vorausgeht“, zeuge von einem biologistischen Kurzschluss, der Dasein als bloße physische Präsenz deute. 96 Martin Heidegger: Nietzsche. Zweiter Band, HGA 6.2, herausgegeben von Brigitte Schillbach, Frankfurt am Main, 1997, S. 430 (im Folgenden: N II, Seitenzahl). 97 N II, S. 430 und S. 434. 98 N II, S. 433 und S. 435.

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Heidegger argumentiert weiter, Kierkegaard habe in einem nächsten Schritt die Wirklichkeit an das glaubende Dasein gebunden, das allein der christlichen Wahrheit verpflichtet bliebe. Nietzsches unter anti-christlichen Vorzeichen betriebene Philosophie sei dann der Kulminationspunkt einer Entwicklung, die Heidegger als „Vollendung der Metaphysik“ bezeichnet. Jene Tendenz eines subjektzentristischen Denkens stellt Heidegger wiederum in einen Zusammenhang mit einer über den Köpfen der Menschen hinweg sich vollziehenden Seinsgeschichte, die sich in dieser geistesgeschichtlichen Episode als Seinsvergessenheit bzw. Seinsverlassenheit zeigt: „Indem das Denken […] in der Geschichte des Seins sich vortastet zu einer ersten Erinnerung in das Sein, muß es die Herrschaft des Menschenwesens zumal durchlaufen und außer sich lassen.“99 In der Vergegenwärtigung der Zitate ist nicht nur Heideggers einseitiger Blick auf Kierkegaard auffällig. Bemerkenswert ist auch, dass die von Heidegger geführte „existenzphilosophische Debatte“ von einer Positionierung gegenüber seinen eigenen Texten, vor allem gegenüber Sein und Zeit, flankiert wird. Ausgeprägt ist zudem Heideggers Bemühen, seinen existenzialanalytischen Ansatz in ein rechtes, durch die Kehre erhelltes Licht zu rücken. So will Heidegger in seinem Nietzschebuch klargestellt wissen: „Existenz als Charakter des Da-seins in Sein und Zeit (Seinsgeschichte). Hier ist weder Kierkegaards Begriff noch derjenige der Existenzphilosophie im Spiel. Vielmehr wird Existenz im Rückgang auf das Ekstatische des Daseins gedacht aus der Absicht auf eine Auslegung des Da-seins in seinem Bezug zur Wahrheit des Seins. […] Dies alles steht außerhalb der Existenzphilosophie und des Existenzialismus, bleibt abgründig verschieden von der im Grunde theologischen Leidenschaft Kierkegaards“100. Das im Nietzschebuch und im Humanismusbrief angeführte Kriterium der Bezüglichkeit zum Sein ist auch in der Vorlesung Die Metaphysik des deutschen Idealismus vom Sommersemester 1941 als ausschlaggebendes Differenzkriterium tragend. Heidegger bindet den vorhandenheitsontologischen Einwand an eine an Jaspers gerichtete Subjektivismuskritik, die ebenso auf Kierkegaard zielt. Heidegger hält Jaspers vor, den Existenzbegriff allein vom Dasein her und allein auf dieses bezogen gedacht zu haben. Jaspers‘ Existenzphilosophie bewege sich schematisch in einem Sub-

99 N II, S. 430. 100 N II, S. 435.

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jekt-Objekt-Dualismus, der seit Descartes das neuzeitliche Denken präge. Eine gedankliche Nähe zwischen dem eigenen Seinsdenken und den jaspersschen Transzendenzanalysen negiert Heidegger strikt. Unerwähnt lässt er dabei zudem offensichtliche Parallelen zwischen seiner Todes- und Angstanalyse und Jaspers‘ Explikation der Grenzerfahrungen. Die in der Idealismusvorlesung von 1941 geführte existenzphilosophische Debatte finalisiert Heidegger mittels einer paradigmatischen Unterscheidung zwischen einem existenziellen und einem existenzialen Existenzbegriff. Wie Jaspers gehe Kierkegaard von einem Existenzbegriff aus, der sich allein auf das Selbst des Daseins beziehe und damit hinter dem zurückbleibe, was eigentlich Existenz meine: „Der »existenzielle« Existenzbegriff (Kierkegaards und Jaspers’) meint das selbstseiende Selbst des Menschen, sofern es für sich als dieses Seiende interessiert ist. Der »existenziale« Existenzbegriff meint das Selbstsein des Menschen, sofern es sich nicht auf das seiende Selbst, sondern auf das Sein und dem Bezug zum Sein bezieht.“101 Heideggers Kriterium ist das der Bezogenheit – einer existenziell verstandenen Selbstbezogenheit auf der einen Seite sowie einer existenzial verstandenen Seinsbezogenheit auf der anderen Seite. Die Kritik deckt sich nahezu eins zu eins mit den oben zitierten Vorbehalten gegenüber Sartre. Heidegger stellt in diesen Ausführungen wiederholt einen Zusammenhang zu Sein und Zeit her. Seine vehemente Kritik an „existenzphilosophisch“ gescholtenen Entwürfen verklammert er mit einer Rechtfertigung seiner fundamentalontologischen Existenzialanalyse aus einer Position nach der „Kehre“ heraus: „Der Existenzbegriff in »Sein und Zeit« entspringt einer Fragestellung, die der »Existenzphilosophie« völlig fremd, aber auch Kierkegaard unbekannt ist.“102 Auch hier werden Kierkegaard und „Existenzphilosophie“ zusammengedacht und als jenes philosophisches Territorium markiert, von dem es sich abzugrenzen gilt. Zwar gesteht Heidegger – mal mehr, mal weniger explizit – ein, dass Sein und Zeit eine daseinszentristische Perspektive einnehme.103 Und trotzdem erklärt er

101 MdI, S. 39. 102 MdI, S. 45. 103 Heidegger schreibt: „Schellings Existenzbegriff […] ist ohne jeden Bezug zum Existenzbegriff zu »Sein und Zeit« zu denken. Trotzdem besteht ein Anklang des Existenzbegriffs von »Sein und Zeit« zu Kierkegaard und Existenzphilosophie: 1. Insofern auch in »Sein und Zeit« Existenz auf den Menschen bzw. das Da-sein beschränkt ist.“ MdI, S. 75f.

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zugleich wiederholt, dass Sein und Zeit aus einer – im Hinblick auf Kierkegaard, Jaspers und Sartre – vollkommen andersartigen, seinsbezogenen Sicht geschrieben und zu begreifen sei. Der wesentliche Unterschied liege, so Heidegger, am Fluchtpunkt, an dem sich der grundsätzlich verschiedene Charakter des Denkens festmachen ließe. Hier ein das Dasein und Selbstsein „vom Seinsverständnis“104 her reflektierendes angemessenes Denken, das die „Inständigkeit in der Lichtung des Seins, im Bezug zu diesem, nicht zum Seienden, als Ich selbst“105 in den Fragebereich hineinnimmt; dort die unangemessene solipsistische, existenzphilosophische Erörterung, die „bloß“ das „Selbst des Menschen, sofern es für sich als dieses Seiende interessiert ist“106, thematisiert. Von einem Standpunkt nach Sein und Zeit heraus argumentierend sucht Heidegger den eigentlichen Charakter seiner dortigen Analysen im Nachhinein zu erläutern und in eine bestimmte Richtung auszulegen. Plakativ gesprochen: Alles, was in den späteren Texten zur Sprache komme, sei auch schon in den früheren Schriften gesagt worden – nur anders. Offensichtlich ist, dass Heideggers Denken nicht erst in seiner „späten“ Phase eine gänzlich andersartige Entwicklung einschlägt. Sowohl der Fragehorizont als auch der grundsätzlich vernunft- und sprachkritische Grundzug seiner Reflexionen prägen signifikant schon seine frühen Schriften. Allerdings ist ebenso deutlich eine Akzentverschiebung in Heideggers Daseinskonzeption erkennbar. Grob lässt sich diese so skizzieren: Heidegger fokussiert in der ersten Hälfte der 1920er Jahre eine daseinsbezogene Hermeneutik der Faktizität, die dann in Sein und Zeit in eine Existenzialanalyse des Daseins mündet. Im Anschluss daran treiben seine Reflexionen einem Ereignisdenken zu, das dann in ein (zu Teilen) dichtendes Andenken des „Seyns“ überleitet. Damit einhergehend erfolgt eine Schwerpunktverlagerung innerhalb der Daseinskonzeption: weg von einer autonomistischen, die ein „eigens ergriffene(s) Selbst“107 als möglich denkt, hin zu einer heteronomistischen

104 105 106 107

MdI, S. 75. MdI, S. 75. MdI, S. 39. Heidegger konstatiert in Sein und Zeit: „Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden.“ SuZ, S. 129.

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Daseinskonzeption108, die eine an die Entfaltung des existenzialen Existenzbegriffs gekoppelte Unverfügbarkeitsdimension bezüglich einer rational-kognitivistischen Seinsvergegenwärtigung stark macht. Heideggers Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie zeugt auch von einem Rechtfertigungsbedürfnis, das wiederum im Sinne einer Selbstverständigung und Selbstverortung bezüglich des eigenen Denkens verstanden werden kann. Auffällig ist Heideggers Bestreben, um jeden Preis seinen Originalitätsanspruch zu wahren. Einfach gesagt: Seit den 1930er Jahren kann Heidegger Kierkegaard „besser“ kritisieren, weil er selbst eine Akzentverschiebung innerhalb der Daseinskonzeption vollzogen hat. Erst vor diesem Hintergrund wird zum einen seine Kierkegaardkritik belastbarer. Zum anderen wird Heideggers Kritik an existenzphilosophischen Entwürfen von einer Auseinandersetzung mit der Grundausrichtung von Sein und Zeit – also mit der eigenen Position vor der Kehre – begleitet. Mit seiner Kierkegaardkritik führt Heidegger demnach immer auch ein Selbstgespräch, in dem er vor allem auch die Existenzkonzeption von Sein und Zeit neu verhandelt und uminterpretiert. Heideggers existenziales Paradigma – Abgrenzung gegenüber kategorialem und existenziellem Denken Im Folgenden möchte ich die Konzeption des heideggerschen existenzialen Paradigmas konkretisieren. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich in Sein und Zeit keine Passage findet, die das existenziale Paradigma zusammenhängend erläutert. Dessen Charakteristika lassen sich nur über eine Analyse des gesamten Sein und Zeit-Fragments herauslösen. Wenn

108 Dirk Mende weist auf den streng formalistischen Charakter des durch Heidegger im Humanismusbrief entfalteten Ek-sistenzbegriffs, der an eine „Heteronomie durch das Sein“ gebunden wird: „Die Ek-sistenz ist eine rein formale Bestimmung. Der Mensch gleicht in der Spätphilosophie einem Gefäß, das seine ‚inhaltliche Füllung‘ erst vom Sein zugewiesen bekommt.“ Dirk Mende: Brief über den „Humanismus“. Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 2003, S. 247-258, hier S. 252 (im Folgenden: Mende, Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie, Seitenzahl). Weiter schreibt Mende: „Während in Sein und Zeit der verstehende Entwurf durchaus eine Leistung des Menschen, des Daseins war, wird der Entwurf des Menschen nun seinerseits vom Sein selbst ‚durchworfen‘.“ Mende, Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie, S. 253.

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Heidegger von der Existenzialität spricht, dann verwendet er diesen Terminus, um sich in eine zweifache Richtung abzugrenzen. Einmal fungiert das existenziale Paradigma als Differenzkriterium gegenüber einem kategorialen Denken (Differenzkriterium 1), einmal gegenüber einem existenziellen Denken (Differenzkriterium 2). Beginnen wir mit dem Differenzkriterium 1: Heidegger geht es in Sein und Zeit um die Freilegung der das Sein des Daseins bestimmenden Zusammenhänge. Deren Zergliederung hat vorbereitenden Charakter, da Heidegger grundsätzlich die Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein anvisiert. Wir hatten eingangs des Kapitels von einem „revolutionären“ Programm gesprochen, das Heidegger mit seiner Fundamentalontologie in Angriff nimmt. Was will Heidegger revolutionieren? – Diese Frage ist unmittelbar mit der Klärung des Existenzialitätsparadigmas verknüpft. Es geht Heidegger um die Überwindung eines als defizitär befundenen kategorialen Denkens, das – so Heidegger – die Seinsfrage nicht angemessen reflektieren könne. Nach Heidegger verenge sich das kategoriale Denken in aristotelischer, kantscher und neukantianischer Prägung auf einen selbstreferenziellen Reflexionsholismus, der sich „nur“ auf das Wie des Denkens bezöge und von daher nicht ursprünglich und umgreifend genug sei – „man“ könnte auch sagen, Heidegger vermisst den „ganzheitlichen“ Ansatz. Schon in der Vorlesung Phänomenologie des religiösen Lebens von 1919 hatte Heidegger seinen radikalen Anspruch klar vorgezeichnet: „Es wird sich aber zeigen, dass durch die Explikation des faktischen Daseins das gesamte traditionelle Kategoriensystem gesprengt wird: so radikal neu werden die Kategorien des faktischen Daseins sein.“109 Diese „Sprengung“ des „traditionelle(n) Kategoriensystem(s)“ erfolgt dann in Sein und Zeit – ausreichend vorbereitet durch seine Arbeiten in den Jahren davor. Heidegger fixiert in Sein und Zeit die „Kategorien des faktischen Daseins“ begrifflich als Existenzialien und arbeitet diese feinanalytisch aus. In diesem Rahmen trifft er eine Unterscheidung (die er in seinen Untersuchungen zuvor gedacht, aber nicht in dieser Konsequenz postuliert hatte), deren Relevanz und Tragweite nicht überschätzt werden kann: „Alle Explikate, die der Analytik des Daseins entspringen, sind gewonnen im Hinblick auf seine Existenzstruktur. Weil sie sich aus der Existenzialität bestimmen, nennen wir die Seinscharaktere des Daseins Existenzialien. Sie

109 PrL, S. 54.

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sind scharf zu trennen von den Seinsbestimmungen des nicht daseinsmäßigen Seienden, die wir Kategorien nennen.“110 Heidegger unterscheidet also zwischen zwei „Grundmöglichkeiten von Seinscharakteren“111 – zwischen einer auf nicht daseinsmäßig Seiendes bezogenen Kategorialität sowie einer auf das Dasein bezogenen Existenzialität. Die Daseinssituation des Menschen, der spezifische Charakter der menschlichen Existenz (darauf wird in Kapitel 5 noch einmal gesondert eingegangen) – nach Heidegger hat nur der Mensch Existenz, während nicht daseinsmäßig Seiendes „vorhanden“ ist – lässt sich nur als Existenzialität fassen und reflektieren. An diesem Punkt konkretisiert sich die systematische Nähe zu Kierkegaard. Heidegger zieht mit dem Existenzialitätsparadigma eine scharfe Trennlinie, über die er an die kierkegaardsche existenzphilosophische Wende anknüpft und sie zugleich weiterführt. Beiden geht es darum, ein neues Denken zu denken – ein Denken, das die Vollzugsdimension und konstitutive „Strukturen“ des „faktischen Daseins“, der „Existenz“ (des „Seins“) freilegt. Die Notwendigkeit eines transkategorialen Reflexionsmodus‘ im Hinblick auf die Existenz des Menschen hatte auch Kierkegaard gefordert. Erinnern wir uns an Climacus-Kierkegaards wiederholtes Insistieren auf dem Standpunkt, dass kein „System des Daseins“ gegeben werden könne. Bezüglich des Differenzkriteriums 1 können wir zunächst festhalten, dass Heidegger hier an Kierkegaard andockt und dessen Programm einer transkategorialen Reflexion weiterführt. Im Differenzkriterium 1 geht also Heidegger mit Kierkegaard mit. Kommen wir nun zum Differenzkriterium 2, mit dem Heidegger sich von einem existenziellen Denken – und damit auch von Kierkegaard – distanziert. Die Scheidelinie zu einem existenziellen Denken markiert Heidegger wiederum vierfach, wobei die vier Ebenen ineinander verschränkt sind, wie im Folgenden erläutert wird. Zum einen (2a) bezeichnet Heidegger mit existenzial die basale „Matrix“ der Existenz im Sinne eines Strukturzusammenhangs, der das Dasein konstituiert. So schreibt Heidegger: „Die Frage nach dieser (nach „der theoretischen Durchsichtigkeit der ontologischen Struktur der Existenz“ – P. K.) zielt auf die Ausein-

110 SuZ, S. 44. 111 SuZ, S. 45.

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anderlegung dessen, was Existenz konstituiert. Den Zusammenhang dieser Strukturen nennen wir die Existenzialität.“112 Zum zweiten (2b) bestimmt Heidegger mit existenzial die daran gekoppelte begriffliche Fassung, die terminologische Fixierung der phänomenal aufgewiesenen Strukturen des Daseins. Die von ihm beanspruchte Existenzialität meint also auch das Entwickeln und Bereitstellen einer Sprache, in der sich sinnvoll über Existenz sprechen lässt. Dass Heidegger auch schon auf eine angemessene Rede über Existenz in seinen früheren Schriften reflektiert, lässt sich anhand der Hermeneutik der Faktizität zeigen, wo Heidegger die Existenzialien als die „begrifflichen Explikate“113 jener daseinsbezogenen Hermeneutik bezeichnet.114 Zudem lässt sich eine dritte Abgrenzungsebene (2c) festhalten. Wie zuvor schon erläutert, definiert Heidegger in der Vorlesung zur Metaphysik des deutschen Idealismus von 1941 einen „existenzialen Existenzbegriff“, den er gegen einen „existenziellen Existenzbegriff“ in Stellung bringt. Der existenziale Existenzbegriff ist charakterisiert durch seinen Bezug zum Sein, der existenzielle Existenzbegriff durch seinen Bezug zum Selbst des Daseins. Heidegger macht also folgende Gleichungen auf: „existenzial = Seinsbezogenheit/existenziell = Selbstbezogenheit“ sowie „existenzial = Seinsdenken/existenziell = Existenzphilosophie à la Kierkegaard, Jaspers und Sartre“.

112 SuZ, S. 12. Diese „Definition“ wird auch in den einschlägigen philosophischen Lexika wiedergegeben. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie heißt es dazu: „Heideggers Unterscheidung von ‚existenzial‘ (eine Struktur des Menschen als Dasein ausmachend, aber in neuem Sinn ontologisch gemeint) und ‚existenziell‘ (eine konkrete Haltung des Menschen auf Grund einer existentialen Struktur ausdrückend) legte die Bezeichnung der (frühen) heideggerschen Philosophie als Existentialphilosophie nahe.“ Klaus Hartmann: Beitrag „Existenzphilosophie“, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Basel/Stuttgart, 1972, S. 863. Im Metzler Philosophie Lexikon ist zu lesen: „Das Adjektiv ‚existenzial‘ meint somit die Seinsbestimmungen des Daseins als solches betreffend, während ‚existenziell‘ sich auf die aufgrund dieser existenzialen Verfaßtheit möglichen konkreten Erfahrungen und das jeweilige Sich-zu-sich-selbstVerhalten eines einzelnen Individuums bezieht.“ Burkhard, Existentia, S. 157. 113 HdF, S. 16. 114 Thomas Rentsch nennt diese Schicht die „ontologisch-existenziale, begriffliche Rekonstruktionsebene der paradigmatischen Explikationsebene“. Nach Rentsch handelt es sich bei diesem Verständnis von Existenzialität um die terminologische Fassung der die Existenzialität ausmachenden Strukturen und Phänomene. Rentsch, Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, S. 78.

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Die vierte Binnendifferenzierung (2d) lässt sich aus dem tiefenhermeneutischen Anspruch ableiten, den Heidegger an seine eigenen Reflexionen heranträgt. Er möchte das am Existieren aufzeigen, von dem andere Autoren wie zum Beispiel Kierkegaard, Jaspers und Sartre vermeintlich unreflektiert ausgingen. An diesem Punkt verschränken sich die Punkte 2a und c miteinander und führen zum Punkt 2d: Heideggers Existenzialanalyse will ihrem Selbstverständnis nach die Bedingungen der Möglichkeit von konkreten Existenzentwürfen offenlegen. Das behauptete Fundierungsverhältnis von existenzial und existenziell (2d) impliziert demnach eine beabsichtigte Grundlegung der Existenzsituation des Daseins (2a) sowie die Reflexion der die Daseinskonstitution auszeichnenden Seinsbezogenheit (2c). Halten wir also fest: Mit dem Differenzkriterium 2 setzt sich Heidegger von den kierkegaardschen Analysen ab, hier wendet er das existenziale Paradigma gegen Kierkegaard. Vor dem Hintergrund der Erläuterungen zu den das existenziale Paradigma näher bestimmenden Aspekten 1, 2a, b, c und d möchte ich von einer durch Heidegger vollzogenen existenzphilosophischen Wende zweiten Grades sprechen – wohl wissend, dass sich das heideggersche Denken insgesamt nicht als „Existenzphilosophie“ auf den Begriff bringen lässt. Heidegger greift also – so lässt sich resümieren – in seiner existenzialen Analytik in bedeutendem Maße auf Ansätze Kierkegaards zurück, die er als originell, jedoch nicht ausreichend entwickelt befindet. Mit der Setzung des existenzialen Paradigmas legt Heidegger sein Denken auf einer tieferen Analyseebene an, indem er dem von Kierkegaard ausgehenden Impuls eine weitreichende philosophische Fundierung gibt. In diesem Kontext deutet er allerdings Kierkegaard so selektiv, dass seine Kierkegaardinterpretation als vereinseitigend bezeichnet werden muss – die Gründe für diese These werde ich in den folgenden Kapiteln darlegen.

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3. Kierkegaards existenziales Paradigma in Die Krankheit zum Tode

Der vorliegende Abschnitt verfolgt die Absicht, mittels einer Rekonstruktion der kierkegaardschen Daseins- bzw. Selbstkonzeption zu zeigen, dass Heideggers Kritik am kierkegaardschen Existenzbegriff reduktionistisch ist und von daher, zumindest partiell, zurückgewiesen werden muss. Heidegger verkürzt Kierkegaards Reflexionen zur Daseinsverfasstheit. Sein Vorhalt, Kierkegaards existenzieller Existenzbegriff sei selbstbezogen und solipsistisch gedacht, übergeht den Kerngedanken der kierkegaardschen Konzeption. Im Anschluss an die nun folgenden rahmenden Gedanken zum Aufbau von Die Krankheit zum Tode werde ich in einer Binnenanalyse die Anti-Climacussche Daseinsdefinition erläutern, um die gewonnenen Einsichten mit den Kriterien des existenzialen Paradigmas in Beziehung zu setzen. Anhand einer selektiven Analyse von Die Krankheit zum Tode lässt sich, so meine These, der existenziale Status der kierkegaardschen Ausführungen plausibilisieren. Die Krankheit zum Tode: Verzweiflungsbegriff und die theologische Einklammerung der Verzweiflungsphänomenologie Die 1849 erschienene Schrift Die Krankheit zum Tode115 wird von Kierkegaard im Zuge seiner „religiösen Schriftstellerei“ veröffentlicht und enthält eine im Vergleich zu anderen Texten komprimierte und zusammenhängende Konstitutionsbeschreibung des Daseins. Anti-Climacus nimmt in diesem Titel die Ansätze früherer Schriften auf und spitzt sie theologisch zu. Zeichneten sich die kierkegaardschen Daseinskonzeptionen bis zum Erscheinen dieses Buches durch ihren überwiegend fragmentarischen Charakter aus, werden sie nun zu einem auf die Verzweiflungsthese hin radikalisierten Gesamtentwurf unter theologischen Vorzeichen zusammen-

115 Im Folgenden zitiere ich aus: Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, in: Sören Kierkegaard. Philosophische Schriften 2, in der Übersetzung von Christoph Schrempf, Wolfgang Pfleiderer und Hermann Gottsched, Frankfurt am Main, 2009 (im Folgenden: KzT, Seitenzahl).

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geführt. Die in dem Text „durchdeklinierte“ Konstitutionsanalyse des Daseins entfaltet Anti-Climacus über eine daran geknüpfte Phänomenologie der Verzweiflung. Die in der Krankheit zum Tode fokussierte Synthese-Struktur des Daseins war, ebenso wie das Phänomen der Verzweiflung, auch in vorhergehenden Titeln Kierkegaards thematisch angerissen. So bestimmte schon Vigilius Haufniensis in Der Begriff der Angst das Selbst als Synthese.116 In Entweder-Oder spielen der Verzweiflungsbegriff sowie die Konzeption des Selbst als Verhalten in der Argumentation des „B“ eine zentrale Rolle. Dieser hatte ja gegenüber „A“ (wenig sokratisch-maieutisch) mit dem Imperativ „Verzweifle!“117 die Überwindung der ästhetischen Existenz im Namen des Ethischen gefordert (dazu ausführlich im folgenden Kapitel 3). Das wiederkehrende Auftreten der an den Verzweiflungsbegriff gekoppelten Daseinskonstitutionsbeschreibungen und -narrative durch Kierkegaards Pseudonyme weist auf den systematisch entscheidenden Stellenwert dieser für das kierkegaardsche Denken insgesamt. Joachim Ringleben hat darauf verwiesen, dass der Untertitel der Krankheit zum Tode (wie so oft bei Kierkegaard) einen wichtigen Hinweis zum Status des Textes liefert. Demnach müsse die „christlich-psychologische Entwicklung“ (so der Untertitel) als eine, so Ringleben, „Begriffsentwick-

116 In der Angstabhandlung wurde der Mensch vor dem Sündenfall als „träumender Geist“ (BA, S. 205) bestimmt, der „in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit“ existiert (BA, S. 203). Seine konkrete Bestimmung als Geist erlangt der Mensch durch den Sündenfall. Die im Sündenfall erfolgte Selbstsetzung des Geistes ist nach Haufniensis-Kierkegaard die Scharnierstelle, die den Menschen zum Menschen macht, „da der Geist sich selbst setzt“ (BA, S. 209). Aus theologischer Perspektive nimmt damit die Geschichte des (schuldigen) Menschen ihren Anfang. Der Sündenfall wiederum lässt sich – so Haufniensis-Kierkegaard – nicht deduktiv ableiten, syllogistisch herleiten oder rationalistisch durchdringen. Er kommt durch einen „qualitativen Sprung“ (BA, S. 208) in die Welt, dessen Erklärung der Dogmatik zu überlassen sei. Diese argumentiere aus christlicher Perspektive und könne Wahrheit beanspruchen, die, aufgrund des anders gelagerten epistemischen Status‘, weder von der Psychologie, noch von der spekulativen Philosophie oder irgendeiner Wissenschaft verifiziert werden müsste oder sollte. In der Einleitung aus Der Begriff der Angst entfaltet Haufniensis das Programm einer „zweiten Ethik“, die „die Wirklichkeit der Sünde“ berücksichtigt. Siehe hier: BA, S. 189. 117 Sören Kierkegaard: Entweder-Oder, in: Sören Kierkegaard: Philosophische Schriften, in der Übersetzung von Christoph Schrempf, Wolfgang Pfleiderer und Hermann Gottsched, Frankfurt am Main, 2007, S. 479 (im Folgenden: E-O, Seitenzahl).

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lung“118 verstanden werden, mittels der die verschiedenen Facetten von Verzweiflung entfaltet würden. Ringlebens Hinweis ist hilfreich und zugleich gibt er einen Fingerzeig auf die in der Krankheit zum Tode mitgeführte Ambivalenz. Denn Kierkegaard ausschließlich mit einer Begriffsentwicklung von Verzweiflung in Verbindung zu bringen, aus der „Logik des Begriffs“ heraus zu denken, liefe Gefahr, ihn unfreiwillig zu „hegelianisieren“. Kierkegaards existenziell-christlicher Impuls sowie sein existenzphilosophischer Einspruch – aus dem „Existieren“ heraus und in dieses wieder hinein zu denken – muss als Hintergrundfolie präsent bleiben. Das Buch lässt sich in einen „anthropologischen“ sowie in einen theologischen Teil untergliedern.119 Letzterer bildet die übergeordnete Rahmung, aus der heraus sich der Sinn des ersten Parts angemessen erschließt. Im Mittelpunkt steht die von Anti-Climacus vielschichtig analysierte Verzweiflung, die als eine unabdingbar mit dem Existenzvollzug120 des Menschen gegebene „Krankheit zum Tode“121 beschrieben ist. Sie wird im „anthropologischen“ Teil aus zwei verschiedenen Blickwinkeln analysiert. 118 Ringleben überstrapaziert aus meiner Sicht das im Untertitel benannte Programm der Begriffsentwicklung, weil er Anspruch und Intention Kierkegaards Schriftstellerei, existenzielle Mitteilung sein zu wollen, ausblendet. So schreibt Ringleben bezüglich der Krankheit zum Tode: „Daher gehorcht auch der Aufbau einer solchen Abhandlung allein dem Gesetz der Sache selber; d. h. die verschiedenen Gesichtspunkte des Themas, seine Untergliederung und die Reihenfolge der Erörterung sollen nicht äußerlich motiviert sein – etwa nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit oder subjektiver Wahl –, sondern alles soll in klarer Konsequenz aus dem Thema selber notwendig folgen. Mit diesem Terminus Udvikling (Begriffsentwicklung) erhebt Kierkegaard also den streng wissenschaftlichen Anspruch einer nur ihrer eigenen Logik gehorchenden, geschlossenen Untersuchung.“ Joachim Ringleben: Zur Aufbaulogik der Krankheit zum Tode, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 1997, herausgegeben von Niels Cappelörn und Hermann Deuser, Berlin/New York, 1997, S. 100-116, hier S. 101 (im Folgenden: Ringleben, Aufbaulogik, Seitenzahl). 119 Siehe dazu: Theunissen, Der Begriff Verzweiflung, S. 16f. Joachim Ringeleben untergliedert die Schrift in einen „psychologischen“ und theologischen Teil. Siehe: Ringleben, Aufbaulogik, S. 101. 120 So schreibt Anti-Climacus: „Und auf jeden Fall hat außerhalb der Christenheit kein Mensch gelebt und lebt kein Mensch, ohne verzweifelt zu sein“. KzT, S. 673. 121 Anti-Climacus hält fest: „So ist Verzweiflung, diese Krankheit im Selbst, die Krankheit zum Tode. Der Verzweifelte ist todkrank. In ganz anderer Weise, als man es sonst von einer Krankheit sagen kann, hat die Krankheit die edelsten Teile angegriffen, und doch kann er nicht sterben. Der Tod ist nicht das Letzte der Krankheit, sondern der Tod ist fortwährend das Letzte. Von dieser Krankheit

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Zum einen erläutert der Autor jene Verzweiflungsmodi, die sich aus der erwähnten Synthese-Struktur des Selbst ergeben. Anti-Climacus veranschaulicht diese Verzweiflungsformen dann anhand von Beispielen.122 Zum anderen wird Verzweiflung auf ihre verschiedenen Bewusstseinsabstufungen hin untersucht: a) als Nicht-Bewusstsein, ein Selbst zu haben, diese Form bezeichnet Anti-Climacus als „verzweifelte Unwissenheit davon, daß man ein Selbst und ein ewiges Selbst hat“123; b) als bewusste Nedurch den Tod gerettet zu werden ist eine Unmöglichkeit, denn die Krankheit und ihre Qual, und der Tod ist gerade, dass man nicht sterben kann.“ KzT, S. 672. 122 Siehe hier: KzT, S. 678-687. Sehr anschaulich auch erläutert bei: Liessmann, Kierkegaard, S. 130ff. 123 KzT, S. 688ff. Cora Bartels und Günter Figal haben Heideggers Uneigentlichkeit und Kierkegaards in der Krankheitsschrift beschriebene unbewusste Verzweiflung analysiert. In ihrer umfangreichen und sehr lesenswerten Studie zu Bultmanns Heidegger- und Kierkegaardrezeption geht Bartels der Frage nach, inwieweit den beiden Modi konzeptionelle Parallelen gemein sind. Sie führt zunächst an, dass bei beiden das Dasein als Verhältnis bestimmt wird – als vorläufiges Selbstverhältnis bei Kierkegaard und Seinsverhältnis bei Heidegger. Während Kierkegaard allerdings diesem Selbstverhältnis ein Gottesverhältnis zugrunde legt und damit einen theologischen Aspekt in den Mittelpunkt rücke, ginge es Heidegger um eine Ontologisierung der Existenz- und Daseinskonzeption, die immer an die Frage nach dem Sein geknüpft bleibt und nicht – wie bei Kierkegaard – auf Gott zurückweist. Bartels resümiert, dass „Heideggers Absicht nicht darin [liegt], seinen Lesern zu zeigen, worin das wahre Gottesverhältnis besteht, sondern ihnen klarzumachen, wie innerhalb der Existenz ein wahres Selbstverhältnis zu gewinnen sei. Heidegger koppelt also im Unterschied zu Kierkegaard die Selbsterkenntnis von der Gotteserkenntnis bzw. vom Erkanntsein durch Gott ab.“ (Bartels, Kierkegaard receptus, S. 98) Bartels sieht, und dies ist auch eine der Hauptthesen der vorliegenden Arbeit, dass Heideggers Kierkegaardkritik in seiner Idealismusvorlesung vom Sommersemester 1941 nicht überzeugt. Sie argumentiert auch hier wie Theunissen mit dem Verweis auf eine nicht-theologische Ebene der kierkegaardschen Analysen, die zum Beispiel die Zeitlichkeit des Daseins fokussieren (vgl. Bartels, Kierkegaard receptus, S. 87). Auch Figal setzt – ausgehend von dem an der Idee des Guten bei Platon ausgerichteten Handelns – Heideggers Begriff der Uneigentlichkeit mit dem der uneigentlichen Verzweiflung Kierkegaards in Beziehung und sucht an den Konzeptionen des „mißlingenden Handelns“ Aufschluss hinsichtlich des Verhältnisses beider Autoren zu finden. Figal sieht die Gemeinsamkeit in der Einsicht beider Autoren, „gelingende Lebenspraxis“ sei nur noch „fassbar als das Verstehen der mißlingenden“ (Figal, Verzweiflung und Uneigentlichkeit, S. 136). Meiner Ansicht nach ist die Rede von „mißlingender Lebenspraxis“ vor allem im Kontext der heideggerschen Existenzialanalyse unangemessen, da Heidegger die Uneigentlichkeit als Alltäglichkeit identifiziert und das „Man-selbst“ als Existenzmodus konzipiert. Sowohl Kierkegaard als auch Heidegger sähen – so Figal – das Selbst des Daseins in einer „prekären Si-

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gation des Selbst, an der das Dasein daran leidet, in der Form „verzweifelt, nicht (es) selbst“124 sein zu wollen; c) als unbedingter Wille des Daseins „verzweifelt (es) selbst sein“ zu wollen.125 Die Modi b und c charakterisiert Anti-Climacus als „eigentliche Verzweiflung“126, die grundsätzliche Verzweiflungsfähigkeit als ein „Vorzug“127 des Menschen vor anderen Daseinsformen, da sie Ausdruck eines prinzipiell höheren Bewusstseins sei. Die im zweiten Abschnitt der Schrift eingenommene christlich-religiöse Perspektive knüpft an die im ersten Abschnitt verhandelte neutrale Verzweiflungsphänomenologie an, die Tilo Wesche als „negative Anthropologie“128 bezeichnet. Die Analysen im ersten Teil der Schrift werden im zweiten Abschnitt durch das religiöse Prisma reformuliert. Die Verzweiflung vom Standpunkt des Christen definiert Anti-Climacus dann als „Sünde“.129 Der Autor rückt das „theologische Selbst“130 in den Mittelpunkt, „das Selbst Gott gegenüber“, wodurch es eine „neue Qualität und Qualifi-

124 125 126

127 128 129 130

tuation“, da es die Gründung seines Daß-seins nicht aus eigener Kraft vollziehen und gleichzeitig die Frage nach dem Grund und das Bedürfnis nach Selbst(be-)gründung nicht abweisen kann. Während bei Kierkegaard der Gläubige die „prekäre Situation“ im Sündenbewusstsein und im Verzicht auf Selbstbegründung überwinden könne, diese Überwindung aber immer wieder vollziehen müsse, lässt Figal die Frage nach dem Status der Eigentlichkeit und ihrem Verhältnis zur Uneigentlichkeit unbeantwortet, ebenso wie die methodische Vorentscheidung, beide Autoren aus dem Blickwinkel der platonischen Konzeption des Guten heraus zu analysieren. Siehe dazu: Figal, Verzweiflung und Uneigentlichkeit, S. 135-151; sowie ausführlich: Günther Figal: Lebensverstricktheit und Abstandnahme. “Verhalten zu sich” im Anschluß an Heidegger, Kierkegaard und Hegel, Tübingen, 2001. KzT, S. 693ff. KzT, S. 707ff. So schreibt Anti-Climacus: „Solch ein abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und sich in diesem Zusichselbstverhalten zu einem anderen verhält. Daher kommt es, dass es zwei Formen eigentlicher Verzweiflung geben kann.“ KzT, S. 666. KzT, S. 667. Tilo Wesche: Kierkegaard, Stuttgart, 2003, S. 138 (im Folgenden: Wesche, Kierkegaard, Seitenzahl). Anti-Climacus hält fest: „Sünde ist: daß man vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein will, oder daß man vor Gott verzweifelt man selbst sein will.“ KzT, S. 716. KzT, S. 714.

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kation bekommt“.131 Die im „anthropologischen Teil“ untersuchten drei Formen der Verzweiflung unter dem Aspekt des Bewusstseins werden im zweiten theologischen Teil als Phänomenologie der Sünde ausbuchstabiert, um dann die Möglichkeiten nicht angemessener Sündenverständnisse und -auslegungen auszuloten.132 Das theologische Dasein, so argumentiert der Autor, weiß sich einerseits in einen sündentheologischen Kontext eingebunden, zugleich wehrt es sich, die radikalen Konsequenzen abzuleiten. Das Dasein verweigert die Einsicht in die heteronome Verfasstheit seines eigenen Grundes, die Einsicht in das Gesetztsein durch Gott. Dieses Nicht-Anerkennen seines theogenetischen Grundes treibt das Dasein in eine Verzweiflungsspirale, der es sich nicht entziehen kann, solange es sich nicht dieser spezifischen Konstitution des Selbst „durchsichtig“ wird. Wenn Anti-Climacus von der Sünde als „Potenzierung der Verzweiflung“133 spricht, bezieht er sich auf ein Selbst, das sich vor Gott weiß und mit der Erkenntnis vor Gott zu sein verzweifelt: „Sünde ist, daß man vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott

131 Anti-Climacus schreibt: „Im vorigen Abschnitt wurde eine beständige Steigerung im Selbstbewusstsein nachgewiesen […]. Diese ganze Betrachtung muss nun eine neue dialektische Wendung bekommen. Die Sache verhält sich so: Die Steigerung des Selbstbewusstseins, mit der wir uns bis jetzt beschäftigt haben, findet innerhalb der Bestimmung ‚das menschliche Selbst‘ statt, oder ‚das Selbst, dessen Maßstab der Mensch ist‘. Aber eine neue Qualität und Qualifikation bekommt dieses Selbst dadurch, dass es das Selbst Gott gegenüber ist. Dieses Selbst ist nicht mehr das bloß menschliche Selbst, sondern ist […] das theologische Selbst, das Selbst Gott gegenüber.“ KzT, S. 714f. 132 Theunissen weist auf die eingangs sich anzeigende theologische Perspektive in der Krankheit zum Tode, die sich allerdings im ersten Abschnitt der Schrift hinter der anthropologischen Analyse vorerst versteckt hält: „Der scheinbar rein anthropologische Anfang dieser Schrift, der es sogar vermeidet, das Andere, welches das menschliche Selbst gesetzt hat, Gott zu nennen, erweist sich bei näherem Hinsehen als abgeleitet aus einer Theologie, die erst im Nachhinein, durch die Auslegung der Verzweiflung als Sünde, zur Sprache kommt.“ Theunissen, Kierkegaards philosophisches Profil, S. 23. Auch Ringleben argumentiert hier ähnlich: „Damit ist gesagt: die theologische Hälfte des Buches wird anthropologisch vorbereitet und so in ihrer spezifisch christlichen Thematik verständlich gemacht. Kierkegaard benutzt also die Verzweiflung als hermeneutischen Schlüssel für den dogmatischen Begriff der Sünde. Diese Aufbaulogik entspricht methodisch dem Weg, auf dem Gott ein Selbst zur Erkenntnis seiner Bezogenheit auf ihn führt.“ Ringleben, Aufbaulogik, S. 114. 133 KzT, S. 713.

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verzweifelt nicht man selbst, oder verzweifelt man selbst sein will.“134 Die Anti-Climacusschen Analysen des zweiten Teils der Krankheitsschrift können so auch als Phänomenologie nicht angemessener Glaubensverständnisse verstanden werden. Am Ende des Buches wird der Leser an die Paradox-Problematik heran geführt.135 Hier markiert Anti-Climacus die Schnittstelle, an der sich der christliche Glaube, die religiöse Existenz, zu bewähren hat. An diesem Übergang zu einer Position des Glaubens brechen die Reflexionen der Krankheitsschrift ab. Die drei Ebenen der Daseinsformel und Negativitätsaspekte Im Folgenden werde ich die bekannte Passage vom Anfang der Krankheit zum Tode gesondert untersuchen, weil sich hier musterhaft die Existenzialität der Analysen Anti-Climacus-Kierkegaards aufzeigen lässt. Der Auszug enthält eine differenzierte Konstitutionsbeschreibung des Daseins, das in seiner Konzeption eine extreme interne Komplexität aufweist, die im weiteren Verlauf der Schrift vom Autor mit dem Verzweiflungsbegriff in Beziehung gesetzt wird. Das Dasein zeichne sich – so lässt sich die Anti-Climacussche Konzeption übergreifend rahmen – durch ein mehrdimensionales Sein aus, das mindestens drei Ebenen beinhaltet. Anti-Climacus beschreibt erstens das Dasein als Synthese, zweitens bestimmt er das Dasein als ein sich zu sich selbst verhaltendes Verhältnis, drittens definiert er das Dasein als ein Gottesverhältnis. Erst in den Bezügen und der Verklammerung der drei Ebenen zueinander zeigt sich die vielschichtige Verfassung des Daseins in ihren verschiedenen Facetten. Legen wir nun das zu besprechende Zitat (mit den von mir hinzugefügten Zeilenangaben) zugrunde, eingangs in der Krankheit zum Tode heißt es: 1) „Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das im Verhältnis, daß sich das Verhältnis zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß sich das Verhältnis zu sich selbst 5) verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, vom Zeitlichen und Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese. Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen zweien. So betrachtet ist der

134 KzT, S. 713. 135 KzT, S. 740ff.

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Mensch noch kein Selbst. In dem Verhältnis zwischen zweien ist als negative Einheit das Verhältnis das Dritte, und die zwei verhalten sich zum 10) Verhältnis, und im Verhältnis zum Verhältnis; so ist unter der Bestimmung Seele das Verhältnis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis. Verhält sich dagegen das Verhältnis zu sich selbst, so ist dieses Verhältnis das positive Dritte, und dies ist das Selbst. Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muss sich entweder selbst gesetzt haben oder durch 15) ein anderes gesetzt sein. Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein anderes gesetzt, so ist das Verhältnis freilich das Dritte, aber dieses Verhältnis, das Dritte, ist so doch wieder ein Verhältnis und verhält sich zu dem, was das ganze Verhältnis gesetzt hat. Solch ein abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst 20) verhält und sich in diesem Zusichselbstverhalten zu einem anderen verhält.“136

Zu Beginn der Passage muss der Leser zunächst einmal irritiert feststellen, dass die anfangs konstatierte Gleichstellung von Mensch, Geist und Selbst (Zeile 1) durch die Aussagen „Der Mensch ist eine Synthese“ (5) und „So betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst“ (7/8) aufgehoben wird. Aus dem Zusammenhang des gesamten Zitats wird dann allerdings deutlich, dass das Menschsein nach Anti-Climacus mehr ausmacht als das bloße Synthese-Sein. Von daher werden wir schon eingangs auf die interne Komplexität des Daseins- und Selbstbegriffs vorbereitet. Dasein ist Synthese, aber nicht ausschließlich. Zentral für die Daseins- bzw. Selbstkonzeption ist ihre Bestimmung als Verhältnis, das Anti-Climacus weder als abgeschlossene Entität noch als ein der Außenwelt gegenübertretendes holistisches „Subjekt“ denkt, sondern als ein binnendifferenziertes mehrdimensionales Sein. Drei Ebenen können im Hinblick auf die Daseinskonstitution näher charakterisiert werden. Statisch-relationale Ebene: Synthese-Struktur und ihre Realisationsformen Die Synthese-Struktur des Daseins als „Unendlichkeit und Endlichkeit […] Zeitliche(s) und Ewige(s) […] Freiheit und Notwendigkeit“ (5/6) ist ein wesentlicher Aspekt der Anti-Climacusschen Selbstkonzeption. Ebene 1 lässt sich konkreter fassen als ein Gefüge dreier Teilverhältnisse von Unendlichkeit/Endlichkeit, Zeitlichkeit/Ewigkeit, Freiheit/Notwendigkeit.

136 KzT, S. 666.

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Der Autor führt in seiner Verzweiflungsphänomenologie verschiedene Formen jener „Krankheit zum Tode“ auf und erläutert diese Formen im Hinblick auf die Synthese-Struktur – in den Worten des pseudonymen Verfassers – „so daß man bloß auf die Momente der Synthese achtet“137. Das Dasein ist demnach als ein zusammengesetztes zu verstehen, genauer als ein Sein, das sich zwischen gegensätzlichen, jedoch aufeinander verwiesenen Polen aufspannt. Das Dasein bewegt sich zwangsläufig innerhalb dieses Spannungsfeldes auf jeweils einen dieser Pole zu, so dass der andere Teil der Synthese nicht „gelebt“ wird. Daraus ergibt sich für das Dasein ein Leidens- und Verzweiflungsmoment, da das Selbst an der Verwirklichung des je einen Pols zu Ungunsten des je anderen Synthese-Teils krankt.138 Ich möchte diese Ebene als die statisch-relationale bezeichnen. Statisch, weil hier vorerst das Synthese-sein als unhintergehbarer Zustand beschrieben und erläutert wird – ein Zustand, der je nach spezifischer Synthese-Realisation (relational) verschiedene Ausprägungen haben kann. Vollzugsanzeigende Ebene: das Selbst als das sich zu sich selbst verhaltende Verhältnis Anti-Climacus erklärt weiter dann, dass das Selbst – und zwar in der Eigenschaft als ein sich zu sich selbst verhaltenes Verhältnis – über die Synthese-Struktur als „Verhältnis zwischen zweien“ (7) hinausweist. Damit steigert sich die Vielschichtigkeit der bisher erläuterten Daseinskonstitution. Als Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ist die oben beschriebene Synthese „nur“ ein Teil des mehrdimensionalen Selbst-Verhältnisses insgesamt. Um sich zu sich selbst zu verhalten, muss sich das „Verhältnis zwischen zweien“ objektivieren.139 Erst in der Spiegelung der Synthese-

137 KzT, S. 678. 138 Diese Formen der Verzweiflung untersucht Anti-Climacus im ersten Abschnitt unter A „Verzweiflung, so betrachtet, dass man nicht darauf achtet, ob sie bewusst oder unbewusst ist, so dass man bloß auf die Momente der Synthese achtet“. KzT, S. 678ff. 139 Auch Joachim Ringleben bringt den Aspekt des sich Objektivierens ins Spiel, insofern ist die Selbstobjektivation in Form eines „Sich-Wissens“ die Bedingung der Möglichkeit des Sich-zu-sich-Verhaltens. Siehe: Joachim Ringleben: Die Krankheit zum Tode von Sören Kierkegaard. Erklärung und Kommentar, Göttingen, 1995, S. 55 (im Folgenden: Ringleben, Krankheit, Seitenzahl). Anti-Climacus verwendet nicht den Begriff der „Objektivation“. Meiner Ansicht nach er-

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Struktur kann sich das Selbst zum Objekt werden. In der bloßen Objektivation des Synthese-Verhältnisses bildet das objektivierte Verhältnis als „negative Einheit“ (8/9) ein Drittes. Ein Verhalten zu sich selbst wird dann erst vollends realisiert, wenn sich die Objektivation (negative Einheit) und das, von dem objektiviert wurde (Synthese-Struktur), aufeinander beziehen. Mit diesem Aufeinander-beziehen („dass sich das Verhältnis zu sich selbst verhält“) – ist erst der entscheidende Aspekt dessen gegeben, was Anti-Climacus mit „Selbst“ als das „positive Dritte“ (12/13) beschreibt. Diese zweite Ebene bezeichne ich als die vollzugsanzeigende. Dass sich das Dasein zu sich verhält, wird als nicht hintergehbares uneinholbares Faktum gedeutet und weist auf die im Dasein als Existenz angelegte Vollzugsbestimmung.140 Als „Verhältnis“ ist das Selbst ein fixiertes, es hat dieses Verhältnis zu sein, ist sich als dieses irreduzibel gegeben. Als „Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ (2) kann es sich nicht nicht zu sich verhalten. An diesem Punkt lässt sich das existenzphilosophische Charakteristikum der kierkegaardschen Reflexionen aufzeigen. Das Dasein kann den Vollzug seiner Existenz nicht loswerden, es muss mit ihm leben. Es ist dieser Vollzug im Sinne einer basalen Seinsweise des immer sich zu sich Verhalten-müssens. Das als Verhältnis und Verhalten charakterisierte Selbst ist ein unabgeschlossenes, in verschiedenen Modi mögliches und sich potenziell veränderndes. Mit der Fokussierung auf die Vollzugsdimension unterminiert Anti-Climacus-Kierkegaard die tradierte Auslegung des Selbst als Substanz, diese zweite Ebene der Daseinskonstitutionsbeschreibung steht paradigmatisch für Kierkegaards existenzphilosophische Wende.

scheint es mir sinnvoll, die beschriebene Dynamik als eine solche zu bezeichnen, da sie eben genau das treffend artikuliert, was Anti-Climacus in dem Zitat kryptisch „erklärt“. 140 Ringleben spricht ebenfalls in diesem Kontext von dem in der „Formel“ durch Anti-Climacus artikulierten Vollzugscharakter: „Kierkegaards Formulierung‚ ‚daß sich das Verhältnis zu sich selbst verhält‘ […] hebt gerade hervor, daß es sich dabei um einen Vollzug handelt, in dessen Aktualität bzw. als dessen Aktualität das Selbst ein Selbst ist.“ Ringleben, Krankheit, 61f.

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Fundierungsebene: das durch Gott gesetzte Verhältnis, Negativität als negativ-theologische Dimension Das in Zeile 18/19 angesprochene „gesetzte Verhältnis“ stellt die konstitutive Ebene dar. Hier setzt Anti-Climacus die theologische Rahmung und Klammerung, die auf den zweiten Abschnitt der Schrift deutet. Jenes Verhältnis ist durch ein „anderes“ gesetzt. Erst im weiteren Verlauf des Textes wird deutlich, dass Anti-Climacus die konstitutive Ebene als eine Setzung durch Gott konkretisiert. Die Grundlegung des Selbst als ein durch Gott gesetztes zeigt zunächst einmal eine grundsätzliche Unverfügbarkeits- und Negativitätsdimension an, da hier eine heteronome Konstitution beschrieben wird. Der Autor integriert und verlagert eine transzendente Fundierungsdimension in die Konstitution des Selbst. Die schon mit Ebene 2 konstatierte Komplexitätserweiterung wird hier noch einmal weitergetrieben. Das als Synthese existierende Dasein verhält sich in seinem Verhältnis zu sich und zudem zu Gott. Auch dieses Verhältnis kann es nicht loswerden. Daraus ergibt sich, folgt man der Argumentation von Anti-Climacus, ein konstitutiv bedingter problematisch-leidenskonnotierter Existenzmodus für den Menschen, der beständig versucht ist, sich „von der Macht, die es setzte, loszureißen“, die ihn jedoch „zwingt […] das Selbst zu sein, das er nicht will“141. Das Dasein ist gezwungen mit einem Selbst, das als „fremd“ wahrgenommen wird, zu leben, mit einem Selbst, das es anzunehmen prinzipiell nicht bereit ist.142 Anti-Climacus spricht von einer anhaltenden „Qual […] sich selbst nicht loswerden“143 zu können. Einer Qual,

141 KzT, S. 671f. 142 Theunissen hat die beiden Formen der eigentlichen Verzweiflung als Verzweiflung b und c bezeichnet und sehr anschaulich auf den Nenner gebracht; zur Verzweiflung b: „Wir wollen unmittelbar nicht sein, was wir sind“ sowie zur Verzweiflung c: „Wir wollen unmittelbar sein, was wir nicht sind“. Siehe dazu: Michael Theunissen: Für einen rationaleren Kierkegaard. Zu Einwänden von Arne Grön und Alastair Hannay, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 1996, herausgegeben von Niels Cappelörn und Herrmann Deuser, Berlin/New York, 1996, S. 61-90, hier S. 65f. 143 Im Zusammenhang heißt es bei Anti-Climacus: „Das Selbst, das er (der Verzweifelnde – P. K.) verzweifelt sein will, ist ein Selbst, das er nicht ist (denn das Selbst sein zu wollen, das er in Wahrheit ist, ist ja gerade das Gegenteil von Verzweiflung), er will sein Selbst nämlich von der Macht, die es setzte, losreißen. Dieses vermag er aber trotz allem Verzweifeln nicht; trotz aller Anstrengung der Verzweiflung ist jene Macht die stärkere und zwingt ihn das Selbst zu sein, das er

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der das Dasein permanent ausgesetzt ist und der es sich nicht entziehen kann. Arne Grön spricht in Bezug auf die Verzweiflungsphänomenologie des Anti-Climacus von einer „Negativität“ auf dreifacher Ebene – von einer „negativen Vorgehensweise“, von einer „strukturellen Negativität“ sowie von einer Negativität im Sinne der „faktischen Erfahrungen des Mißlingens“.144 Die Negativitäts-These kann auch im Hinblick auf die Dramaturgie des Textes bezogen werden bzw. auf das, was Anti-Climacus nicht sagt. Zwar wird die Möglichkeit gelingender Existenz zwar am Anfang und Ende der Schrift konstatiert, allerdings verweigert der Autor dem Leser eine positive Entfaltung dieser. Anstatt dessen wird diese ex negativo konturiert, und zwar über die Darstellung ausführlicher Entfremdungsbefunde und nicht angemessener Gottesvorstellungen und Glaubenskonzeptionen. Der Leser kann daraus die Botschaft des Anti-Climacus entnehmen: Ein individuelles Gottesverhältnis lässt sich in seiner Unvertretbarkeit nicht als ein objektiviertes fixieren und darstellen. Das „Programm“ der Krankheit zum Tode folgt damit einer Logik, die im Sinne wesentlicher Einsichten der Negativen Theologie interpretiert werden kann. Mit dem Ende der Schrift ist eine Grenze markiert, an welcher der Umschlag zu einer positiven Theologie erfolgen könnte, den aber Anti-Climacus-Kierkegaard dem

nicht will […] gezwungen ein Selbst zu sein, wie er es nicht sein will, das ist seine Qual, die Qual, dass er sich selbst nicht loswerden kann.“ KzT, S. 671f. 144 Da der von Grön verfasste Text nur auf Dänisch vorliegt, beziehe ich mich hier auf einen Vortrag Hermann Deusers, der Gröns Erläuterungen einer „Tiefenphänomenologie“ übersetzt und als interpretatorischen Ansatz im Hinblick auf Kierkegaard kommentiert: „(1) Es geht um das Verfahren der vorgeführten negativen Phänomene, über die sich Kierkegaard dem menschlichen Selbst nähert. Negativität ist zu verstehen als die ‚negative Vorgehensweise‘ […], wie sie vor allem für die Krankheit zum Tode, aber nicht nur dort, kennzeichnend ist. (2) Als ‚strukturelle Negativität‘ […] gilt das im Selbstverhältnis (der ‚Synthesis‘) angelegte Fremdwerden sich selbst und anderen gegenüber […] (3) Der dritte und eigentlich offensichtlichste Fall negativer Phänomene aber ist begrifflich nicht in gleicher Weise mit dem Attribut ‚negativ‘ zu fassen. Es handelt sich um die faktischen Erfahrungen des Mißlingens, wie sie sich das Selbstverhältnis – gemäß dem Konzept der Krankheit zum Tode – immer wieder akut zuzieht.“ Hermann Deuser: Kierkegaards Phänomenologie der humanen Existenzverhältnisse. Oppositionsvortrag zu Arne Gröns Disputation über: Subjektivitet og negativitet, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 1997, herausgegeben von Jon Stewart und Jochen Hennigfeld, Berlin/New York, 1997, S. 270-281, hier S. 274.

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Leser in der Überzeugung der Nichtdarstellbarkeit verweigert. Neben den drei von Grön festgehaltenen Ebenen ließe sich demnach eine vierte Form der Negativität hinzufügen. Eine den Einsichten der Negativen Theologie folgende Darstellungslogik, die die Konzeption und Analyse eines angemessenen, nicht objektivierten Glaubens- und Gottesverständnisses aus der Explikation der Entfremdungsbefunde heraus vorbereitet, die Entfaltung eines solchen als Position aber verweigert. Aus der Verzweiflung heraus: Freilegung des theogenetischen Grundes, seine Anerkennung und der unausgesprochene Vollzugsimperativ Die theologische Pointe der Krankheit zum Tode besteht darin, dass das Dasein die Verzweiflung nicht überwinden kann, so lange es nicht seine Wurzeln als „Gesetzt-sein durch Gott“ anerkennt. Der Ursprung dieser Verzweiflungsdynamik liegt in der nicht erkannten und nicht anerkannten transzendenten Provenienz („durch ein anderes gesetzt sein“) des eigenen Grundes. Das Dasein stößt als sich zu sich selbst verhaltendes Verhältnis auf einen „fremden“ Teil seiner selbst, den es nicht abweisen kann, der aber als Unbekanntes und Unerkanntes eine Störung darstellt, an der sich das Dasein abarbeitet. Das Nicht-anerkennen-wollen eines durch Gott gesetzten Selbst, die permanente Negation eines Verhältnisses zu einer die Zeitlichkeit transzendierenden Ewigkeit145 verursacht ein Leiden, eine Verzweiflung, die als „Krankheit zum Tode“ das Dasein begleitet. Zugleich ist mit dieser „eigentümlich und prekären Verfassung des Selbstseins“146 als Gesetztsein durch Gott, der als entzogener Grund und unbekannte Chiffre im Selbst sich bemerkbar macht, die Möglichkeit der Verzweiflung überhaupt gegeben. Joachim Ringleben spricht von einem für das Dasein immer deutlicheren Gewahrwerden eines „bei sich selbst nicht mit sich allein Sein(s)“ und weist auf den für das Dasein seltsamen Umstand, „immer auf die rätselhafte Spur des Andern zu stoßen“147. Erst 145 Ringleben hat die Verzweiflungsdynamik mit der Zeitlichkeitsdimension verknüpft: „Die Verzweiflung ist so etwas wie ein verzweifeltes An-sich-Festhalten des Zeitlichen als solchen, ein Verstellen des Ewigkeitsbezuges in ihm durch das zeitliche Selbst. Die Sünde ist das verzweifelte Sichbehaupten des Zeitlichen explizit gegen die Ewigkeit, ein ausdrückliches Negieren des Ewigkeitsbezuges in ihm durch das zeitliche Selbst.“ Ringleben, Aufbaulogik, 115f. 146 Ringleben, Krankheit, S. 72. 147 Ringleben, Aufbaulogik, S. 106.

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3. Kierkegaards existenziales Paradigma in Die Krankheit zum Tode

als sich transzendierendes, die anthropozentrische Richtung der Selbstbezüglichkeit überschreitendes findet das Dasein seinen Weg aus der Verzweiflung: „Je mehr Vorstellung von Gott, umso mehr Selbst; je mehr Selbst, umso mehr Vorstellung von Gott.“148 Die „Spur“ wird als göttliche Macht freigelegt, indem sich das Selbst als „theologisches Selbst“149 versteht. Dieser theologisch kolorierte Transzendenzbezug weist eine wesentliche Negativitätsdimension auf, insofern, als dass sich das Gesetzt-sein durch Gott als unverfügbarer, nicht rationalisierbarer Bezug darstellt, zu dem sich das Dasein immer verhält und verhalten muss. Hier setzt der zweite Abschnitt der Krankheitsschrift an, in dem AntiClimacus den Leser über eine Analyse fehlgeleiteter christlich-religiöser Glaubensvorstellungen an ein angemessenes Verständnis („theologisches Selbst“) heranführt, ohne dieses begrifflich zu fixieren. Selbst- und Gottesverständnis fallen so zusammen. Nur als glaubendes kann das Dasein seine Verzweiflung überwinden („von dieser Krankheit geheilt zu sein ist des Christen Seligkeit“150) und diesen Vollzug überlässt der Autor dem Leser. Die Krankheit zum Tode schildert also eine sich in Verzweiflungsmodi vollziehende Selbstbewusstwerdung des Daseins hinsichtlich der eigenen partial-transzendenten Verfasstheit. In der Anti-Climacusschen Konzeption erscheint dieses Transzendente vorerst als anonyme Chiffre, die das um Selbstgründung und -verstehen bemühte Dasein in die Verzweiflung treibt. Erst die Erkenntnis des theogenetischen Grundes eröffnet die Perspektive eines nicht-entfremdeten Selbstverständnisses, mit dem auch die Verzweiflung überwunden werden kann. Entscheidend ist, hier argumentiert Anti-Climacus offenbarungstheologisch, dass das Dasein die durch die Offenbarung kommunizierte Sündhaftigkeit annimmt.151 Diesen Erkenntnisprozess leistet das Dasein, das hatte auch Theunissen richtig bemerkt,152

148 149 150 151

KzT, S. 716. KzT, S. 715. KzT, S. 667. Anti-Climacus schreibt: „Sünde ist, daß man, nachdem man durch eine Offenbarung Gottes darüber aufgeklärt worden ist, worin Sünde besteht, vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein will oder verzweifelt man selbst sein will.“ KzT, S. 727. 152 Theunissen erklärt: „In immer tiefere Verzweiflung versinken wir nur dann, wenn keine Hilfe von oben kommt. Zur Freiheit von der Verzweiflung bedarf es einer Hilfe von oben, das heißt: eines göttlichen Eingriffs.“ Theunissen, Der Begriff Verzweiflung, S. 40.

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3. Kierkegaards existenziales Paradigma in Die Krankheit zum Tode

nicht aus eigener Kraft. Hier spielt die für das Verständnis der kierkegaardschen Glaubenskonzeption und durch Kierkegaard selbst wiederbelebte Denkfigur des Augenblicks/Kairos‘ eine zentrale Rolle, auf die noch in Kapitel 6 eigens eingegangen wird. Folgt man der Binnenlogik des Textes, treibt er gegen Ende wieder zu seinem Anfang zurück, an dem es heißt: „Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz ausgerottet ist: im Verhalten zu sich selbst, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig auf die Macht, die es setzte.“153 Tilo Wesche charakterisiert die Ausführungen der Krankheit zum Tode als „Klärung des Verfahrens einer erfolgreichen Lebensverständigung“, das „anthropologische Strukturen aus der Analyse ihres Verfehlens“154 offenlegt. Nur stellt sich die Frage, inwieweit „Strukturen“ „verfehlt“ werden können, denn das Dasein ist ja eben seine „Struktur“. Anti-Climacus zielt vielmehr darauf, sich dieser Strukturen durchsichtig werden, diese anzuerkennen, die anonyme, fremde Chiffre „lesen“ (und damit leben) zu lernen. Das ist der Punkt, an dem der Leser vor den direkt nicht kommunizierbaren existenziellen Vollzug gestellt ist. Diesen soll und muss der Leser während oder im Anschluss der Lektüre selbst als „Sprung in den Glauben“ leisten. Existenziale Dimension: Krankheit zum Tode als Offenlegung der Bedingungen der Möglichkeit von Lebensentwürfen vor dem Hintergrund der Verzweiflungsprämisse Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die im Kapitel zuvor durch Heidegger an Kierkegaard gerichteten Einwände. Heidegger hatte Kierkegaard unter anderem dafür kritisiert, einem existenziellen Existenzbegriff verhaftet geblieben zu sein.155 Diese Binnendifferenzierung innerhalb der Abgrenzung gegenüber einem existenziellen Denken nimmt Heidegger, auch das wurde erläutert, im Anschluss seiner vollzogenen „Kehre“ vor. Heideggers Kriterium des existenzialen Existenzbegriffs ist das der Bezogenheit („auf das Sein“), das er gegen einen existenziellen Existenzbegriff ausspielt, der ein Selbst fokussiert, das eben „nur“ „für sich als dieses Sei-

153 KzT, S. 667. 154 Wesche, Kierkegaard, S. 138. 155 MdI, S. 39.

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3. Kierkegaards existenziales Paradigma in Die Krankheit zum Tode

ende interessiert ist“. Fassen wir die Abgrenzung genauer als einen sich anzeigenden „Bezug“ sowie einen mit diesem Bezug anvisiertes „Anderes/Etwas“, auf das sich dieser Bezug bezieht („auf das Sein und den Bezug zum Sein“), so kann gezeigt werden, dass Kierkegaards auf das Dasein und Selbst zielenden Konstitutionsanalysen das von Heidegger in abgrenzender Absicht gesetzte Kriterium der Bezogenheit strukturell enthalten. Nun ließe sich einwenden, dass Kierkegaard in diesem Kontext nicht von „Existenz“ spricht, sondern von „Selbst“, „Mensch“ oder „Dasein“. Allerdings: Auch Heidegger hatte in Sein und Zeit den Existenzbegriff an den des Daseins gekoppelt und eine synonyme Verwendung impliziert, wenn er dort schreibt: „Das »Wesen« des Daseins liegt in seiner Existenz.“156 Kierkegaards Existenz/Daseinskonzeption kann, entgegen Heideggers Behauptung, eine existenziale Grundierung beanspruchen, denn der Bezug auf ein „Anderes“ ist mit der theologischen Grundlegung des Selbst als ein durch Gott gesetztes gegeben. Das „Andere“, wie zuvor erläutert, zeigt sich als in die Konstitution des Selbst verlagerte transzendente göttliche Instanz. Die kierkegaardschen Analysen zeigen sich so in ihrem Doppelcharakter. Einerseits haben wir es bei der Krankheit zum Tode mit einer Phänomenologie der Verzweiflungsmodi zu tun, die Lebensentwürfe aus der Perspektive der Verzweiflungsthese aufzeigt, also konkrete Entwürfe in ihrer Entfremdungsdimension vorstellt (existenzielle Ebene). Im Hinblick auf Heideggers Abgrenzung gegenüber Kierkegaard können wir also präzisieren: In der Krankheit zum Tode ist die existenzielle Ebene durchgehend präsent, einerseits, weil verschiedene Verzweiflungsmodi als Möglichkeiten konkreter Selbstentwürfe von Anti-Climacus durchgespielt werden. Sie ist andererseits dahingehend präsent, als dass der Autor den erbaulich-existenzialistischen Charakter dieser Schrift hervorhebt, die „nicht verstimmend, im Gegenteil erhebend, da sie jeden unter die höchste Anforderung gestellt sieht, die an ihn gerichtet wird, dass er Geist sein soll“157. Andererseits behauptet Anti-Climacus ebenso sehr eine Grundlagenreflexion zu leisten, die als „konsequent geführte Grundanschauung“158 mehr sein will als christlich-existenzialistische Erbauungsliteratur. Ziehen wir die heideggerschen Kriterien der Existenzialität heran, so sehen wir, 156 SuZ, S. 42. 157 KzT, S. 673. 158 KzT, S. 673.

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3. Kierkegaards existenziales Paradigma in Die Krankheit zum Tode

dass es sich bei den Passagen der Krankheit zum Tode nicht nur um das Aufzeigen existenziell faktischer Möglichkeiten der Lebensführung bzw. um eine Phänomenologie der sich als Verzweiflung artikulierenden Selbst- und Lebensentwürfe handelt, sondern auch und zugleich um Konstitutionsanalysen des Selbst/Daseins, die grundlegende Daseins- und Existenzparadigmen beschreiben (existenziales Paradigma Kriterium 2a und 2d). Anti-Climacus-Kierkegaard konzipiert das Dasein als eines, das sich auf seine eigenen Möglichkeiten – in Gestalt der beschriebenen Formen der Verzweiflung – hin entfaltet. Das betrifft sowohl die konkreten Entwürfe hin auf die Synthese-Pole Unendlichkeit/Endlichkeit, Zeitliches/ Ewiges, Freiheit/Notwendigkeit als auch jene, die sich aus den verschiedenen graduellen Abstufungen des „Selbstbewusstseins“ ergeben. Beiden „Fällen“ liegt eine existenziale Existenzkonzeption zugrunde, die AntiClimacus den konkret skizzierten Entwurfsmöglichkeiten vorlagert. Das meint: Diese konkreten Entwürfe sind nur möglich, weil das Dasein Synthese ist und weil es ein sich zu sich selbst verhaltendes Verhältnis ist. Mit der Selbstkonzeption als Synthese sowie der Grundlegung des Selbst als sich zu sich selbst verhaltendes Verhältnis einschließlich der daran geknüpften Verzweiflungsmodi liefert Kierkegaard die Bedingung der Möglichkeit von (entfremdungskonnotierten) Lebensentwürfen. Gerade weil die Setzung durch ein „Anderes“ als konstitutiv-transzendentes Signum die Selbstkonzeption genuin ausmacht, sind die Formen fehlgehender Selbstdeutungen überhaupt möglich. Anti-Climacus beschreibt hier Strukturen menschlicher Existenz, die konkret existenziellen Entwürfen vorgängig sind. Diese Strukturen sind dem Dasein mit seiner Existenzhaftigkeit gegeben. Das Dasein ist in seinem Sein nur als dieses mehrdimensionale Verhältnis angemessen zu fassen. Die zu Beginn der Verzweiflungsschrift zitierte „Daseinsformel“ als dreidimensionale Selbst-Konzeption, a) als Synthese, b) als sich zu sich selbst verhaltenes Verhältnis und c) als Gottesverhältnis weist auf die darin sich aussprechende existenziale Dimension. Zudem konnte gezeigt werden, dass der durch Heidegger an Kierkegaard gerichtete Einwand des „bloßen“ Selbstbezugs und der alleinigen Selbstbezogenheit die kierkegaardsche Konzeption nicht ausreichend einfängt. Anti-Climacus-Kierkegaards Daseinskonzeption ist ein Transzendenzbezug in Form eines durch Gott gesetzten theologischen Selbst inhärent, der über die Immanenz eines allein anthropologisch gedachten Selbst und Daseins hinausweist (existenziales Paradigma 2c). 73

4. Kierkegaards ambivalentes Entweder-Oder – eine existenziale Lektüre

Die in der Einleitung bezeichnete heideggersche und heideggerianische Deutung Kierkegaards wendet, das wurde erläutert, das existenziale Paradigma gegen Kierkegaard und argumentiert, dass dieser, so die Zusammenführung der Kritik, ein facettenreiches Spektrum konkret faktischer und praktischer Lebensentwürfe darlegte, während Heidegger diesen existenziellen Kierkegaard im Nachgang existenzial geerdet habe. Diese existenzielle Rahmung des kierkegaardschen Denkens wird häufig zudem an eine existenzialistisch-dezisionistische Kierkegaardinterpretation gekoppelt. Exponiert bei Sartre, der bei seinem Existenzialismuskonzept im Rahmen der Entfaltung seines „atheistischen Humanismus“ explizit auf Kierkegaard rekurriert.159 Radikalisiert wird die existenzialistische Deutung, indem Kierkegaard für einen Dezisionismus160 vereinnahmt wird –

159 Sartre führt Kierkegaards Angstkonzeption mit Silentios Überlegungen in Furcht und Zittern zusammen, um so die Radikalität der absoluten Verantwortlichkeit eines jeden Einzelnen bei seinen Handlungsentscheidungen hervorzuheben. Siehe hier: Jean-Paul Sartre. Der Existentialismus ist ein Humanismus, in: Jean-Paul Sartre. Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays, Reinbek bei Hamburg, 2005, S. 152f. (im Folgenden: Sartre, Humanismus, Seitenzahl). Besonders in seinen Ausführungen zum Primat des Wählens sind die Parallelen zu den Ausführungen des prominenten Entweder-Oder-Protagonisten „B“ offensichtlich. Sartre schreibt: „Ich kann immer wählen, doch muss ich wissen: wenn ich nicht wähle, wähle ich immer noch. […] Für uns dagegen befindet sich der Mensch in einer organisierten Situation, in die er selbst engagiert ist, er engagiert durch seine Wahl die gesamte Menschheit, und er kann nicht umhin zu wählen: entweder bleibt er keusch, oder er heiratet, ohne Kinder zu haben, oder er heiratet und hat Kinder; was er auch tut, es ist ihm in jedem Fall unmöglich, nicht die totale Verantwortung angesichts dieses Problems auf sich zu nehmen.“ In diesem Zusammenhang definiert Sartre „die Situation des Menschen als freie Wahl, ohne Entschuldigung und ohne Zuflucht“. Sartre, Humanismus, S. 171. 160 Vgl: Peter Prechtl: Beitrag „Dezisionismus“, in: Peter Prechtl/Franz Peter Burkhard (Hg.): Metzler Philosophie Lexikon. Definitionen und Begriffe, Stuttgart/ Weimar, 1996, S. 99f. Eine solch dezisionistische Verortung Kierkegaards findet sich in: Günther Ortmann: Kür und Willkür. Jenseits der Unentscheidbarkeit, in: Arno Scherzberg (Hg.): Kluges Entscheiden, Tübingen, 2006, S. 167-194, hier S. 170f. Auch Schönherr-Mann unterstellt Kierkegaard eine genuine Nähe zum

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4. Kierkegaards ambivalentes Entweder-Oder – eine existenziale Lektüre

prominent durch Carl Schmitt in seiner Politischen Theologie ausgeführt, der sich zudem auf dessen Reflexionen zur „Ausnahme“ beruft.161 Ebenso erfolgte von „neomarxistischer“ Seite, wie zum Beispiel bei Georg Lukács, der Kierkegaard mit einem Irrationalismus in Verbindung bringt162, als auch durch Vertreter nationalsozialistischer „Philosophie“ (Bäumler) eine stark dezisionistische Auslegung Kierkegaards, die von Andreas Luckner paradigmatisch kritisiert wurde.163 Festzuhalten ist, dass im Kontext der Kierkegaarddeutung dem 1843 erschienenen EntwederOder eine signifikante Rolle zugeschlagen wird – gerade weil der Buchtitel eine vermeintlich eindeutige existenzialistisch-dezisionistische Losung voranträgt.164

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Dezisionismus, wenn er schreibt: „Kierkegaard ebnet den Weg in den Dezisionismus, den Schmitt an die Stelle der Begründung des politischen Handelns setzt.“ Hans-Martin Schönherr-Mann: Was ist Politische Philosophie? Frankfurt am Main/New York, 2012, S. 78. Jens Hacke bemerkt, dass der „moderne Dezisionismus“ in Kierkegaard einen Gedankengeber findet, siehe: Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit, Göttingen, 2008, S. 180. Vergleiche dazu auch Bernhard Schleißheimer, der mit Verweis auf Kierkegaards Entweder-Oder bemerkt: „Den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard […] hat seine Opposition gegen die idealistische Philosophie, vor allem Hegels, dazu bewogen, einzig und allein Wahl und Entscheidung als Grund dafür gelten zu lassen, dass ein Mensch sein Leben ändert.“ Bernhard Schleißheimer: Ethik heute. Eine Antwort auf die Frage nach dem guten Leben, Würzburg, 2003, S. 55. Siehe zum Beispiel: Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel von der Lehre zur Souveränität, Berlin, 1934, S. 22; oder auch: Carl Schmitt: Glossarium, herausgegeben von Eberhard von Meden, Berlin, 1991, S. 80. Siehe hierzu: Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft, Berlin, 1954. Siehe: Andreas Luckner: Wie man zu sich kommt – Versuch über Authentizität, in: Julius Kuhl/Andreas Luckner (Hg.): Freies Selbstsein. Authentizität und Regression, Göttingen, 2007, S. 9-48, hier S. 33, besonders Fußnote 12 sowie S. 35. So bemerkt Phillip Schwab, dass der „Werktitel Entweder/Oder nachgerade zum Schlagwort avanciert [ist], das die Person und das Werk Kierkegaards gleichermaßen bezeichnet.“ Schwab zitiert zudem in diesem Kontext Walter Rest (Herausgeber zahlreicher Werke Kierkegaards), der konstatiert: „Nun, dieser erste Titel ‚Entweder – Oder‘ steht über seinem ganzen Leben und ist die Devise seiner Publikationen.“ Phillip Schwab: „Ein altes, seltsames Buch kommt uns aus dem Dänischen zu…“. Grundlinien der deutschsprachigen Rezeptionsgeschichte von Entweder/Oder, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2008, herausgegeben von Niels Cappelörn, Hermann Deuser und Brian Soderquist, Berlin/New York, 2008, S. 365-427, hier S. 366 (im Folgenden: Schwab, Rezeptionsgeschichte, Seitenzahl).

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4. Kierkegaards ambivalentes Entweder-Oder – eine existenziale Lektüre

Im Folgenden möchte ich eine kurze, selektive und textbasierte Rekonstruktion der durch die Entweder-Oder-Protagonisten „A“ und „B“ repräsentierten Lebensformen ästhetisch und ethisch vornehmen. Und zwar deshalb, weil der überwiegende Teil der Sekundärliteratur – meines Erachtens zu Unrecht – die „Bsche“ Perspektive übernimmt und sich äußerst „parteiisch“ zu Ungunsten des „A“ positioniert.165 Dieser Deutung werde ich eine alternative Interpretation anheimstellen. Darauf aufbauend argumentiere ich gegen eine vereinseitigende existenzialistisch-dezisionistische Auslegung Kierkegaards und biete eine Lektüre an, die die interpretative Ambivalenz und Unentschiedenheit des Titels stark macht und die existenzialen Potenziale von Entweder-Oder aufzeigt. Ich meine, dass sowohl das ästhetische als auch das ethische Dasein als Existenzkonzeptionen gelesen werden können, die die Bedingungen der Möglichkeit nachgehender Lebensentwürfe literarisch exemplifizieren. Damit wird die mit dem existenzialen Mangel argumentierende Kierkegaardkritik mit Kierkegaard selbst entkräftet und eine neue Interpretationsperspektive zur Disposition gestellt. Eine seltsame Freundschaft zwischen A und B Werfen wir einen kurzen Blick in das Buch und lassen wir die für die vorliegende Arbeit relevanten inhaltlichen Aspekte zu Wort kommen. Der Aufbau des zweibändigen Entweder-Oder und die handelnden Protagonisten sind wie folgt skizziert: Band 1 enthält, das erfahren wir vom Herausgeber Victor Eremita166, die Aufzeichnungen eines gewissen „A“, die 165 Achim Kinter weist als einer der wenigen Autoren auf diese Auffälligkeit: „Es ist ein rätselhaftes Faktum, daß die ethische Position Bs von der Forschung als die entscheidende und überlegene verstanden wurde.“ Achim Kinter: Rezeption und Existenz. Untersuchungen zu Sören Kierkegaards „Entweder-Oder“, Frankfurt am Main u. a., 1991, S. 3. 166 Wilfried Greve und Michael Theunissen ziehen für die Erklärung des Namens „Victor Eremita“ Kierkegaards Äußerungen heran, laut deren „Eremita“ im Sinne der maieutischen Methode auf die bezweckte Vereinzelung des Lesers hinweise, während „Victor“ für die Selbstverwirklichung der Existenz stünde. Wilfried Greve/Michael Theunissen: S. Kierkegaard. Post-Scriptum zu „Entweder-Oder, in: Wilfried Greve/Michael Theunissen (Hg.) Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main, 1979, S. 119-120, hier S. 119. Emanuel Hirsch stellt dagegen einen biographischen Bezug her: „Das als Herausgeber des Werks zeichnende Pseudonym, Victor Eremita, ist eigentlich eine verhüllte Selbstbe-

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4. Kierkegaards ambivalentes Entweder-Oder – eine existenziale Lektüre

sich aus unterschiedlichen Texten und Textgenres wie Aphorismen, essayistischen Abhandlungen167 und Stimmungsporträts zusammensetzen. Diesen folgt das von einem gewissen „Johannes“ verfasste Tagebuch des Verführers, dessen Herausgeberschaft wahrscheinlich, so Eremita, auf A zurückgeht. Band 2 von Entweder-Oder beinhaltet drei Briefe eines „Gerichtsrats Wilhelm“, der wahlweise knapp als „B“ bezeichnet wird, sowie eine als Anhang des dritten Briefes beigelegte Predigt (mit Ultimatum betitelt) eines B bekannten Pfarrers. Sowohl das Vorwort Eremitas, als auch die Briefe Bs lassen keine Rückschlüsse hinsichtlich der Frage zu, ob A die im zweiten Teil von Entweder-Oder aufgeführten Briefe des B zur Kenntnis genommen hat. Im Gegensatz zu den Briefen Wilhelms, die sich direkt an A richten, wird der Leser zudem im Unklaren darüber gelassen, an wen sich A mit seinen Aufzeichnungen wendet bzw. ob A überhaupt einen Adressaten anvisierte.168 Über das Verhältnis der beiden Protagonisten A und B erfährt der Leser allein über die Aussagen Bs etwas. B redet A in seinen beiden Briefen mit „Lieber Freund!“169 und „Mein Freund!“170 an, „den ich trotz seines bizarren Wesens liebe wie einen Sohn, wie einen Bruder […], den ich

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zeichnung. Kierkegaard drückt mit ihr aus, dass er durch den Bruch mit Regine (Gemeint ist Regine Olsen. Kierkegaard löste nach elf Monaten die Verlobung mit ihr auf, indem er ihr den Verlobungsring per Brief zurückschickte. – P. K.) ein von der Welt abgeschiedener Einzelner geworden ist. Nötig war die Zwischenschiebung eines Pseudonyms zwischen sich und dem Leser nicht etwa, um Kierkegaards Verfasserschaft vor der Öffentlichkeit zu verhüllen. Es hat so gut wie jeder Leser gewusst und wissen dürfen, wer hinter Victor Eremita sich verbarg. Der eigentliche Grund für die Pseudonymsetzung liegt in der Absicht, die eigene Persönlichkeit so weit wie nur möglich von dem dichterischen und denkerischen Schaffen abzurücken und so den erdichteten Persönlichkeiten A und B selber die Verantwortung für ihre Aussagen zu überlassen.“ Emanuel Hirsch: Geschichtliche Einleitung zur ersten und zweiten Abteilung, in: Sören Kierkegaard: Entweder/Oder. Erster Teil, übersetzt von Emanuel Hirsch, Gesammelte Werke, Abteilung 1, Düsseldorf, 1964, S. XV. A reflektiert zum Beispiel vor dem Hintergrund seiner ästhetischen Deutung des Lebens in seinem Text Die Stadien des Erotischen oder das Musikalisch-Erotische anhand dreier Mozartopern ausführlich über die Formen der Verführung und Liebe. In einer anderen Abhandlung sinniert A über die Protagonisten Marie Beaumarchais (Goethes Clavigo), Donna Elvira (Mozarts Don Giovanni) und Gretchen (Goethes Faust). Die Diapsalmata sind mit dem Untertitel ad se ipsum versehen. E-O, S. 341. E-O, S. 443.

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4. Kierkegaards ambivalentes Entweder-Oder – eine existenziale Lektüre

liebe mit dem heiligen Ernst einer religiösen Liebe“171. Nahegelegt wird ein enges freundschaftliches Verhältnis zwischen B zu A, zumindest aus Sicht Bs. Zudem kann der Leser eine schon lange währende Bekanntschaft vermuten: „Du kennst mich und meine Frau seit Jahren“172. Wie A zu B steht, darüber kann der Leser angesichts der allein über B gefilterten Äußerungen nur mutmaßen. Nachdem Eremita in dem Vorwort ausschweifend darlegt, wie er in den Besitz der Aufzeichnungen gelangt ist, erfährt der Leser darin auch einiges zu den angeblichen Autoren der Texte. Eremita bezeichnet hier A als einen „Ästhetiker“, dessen aufgefundene Papiere „mannigfaltige Anläufe zu einer ästhetischen Lebensanschauung“173 enthielten, während Bs Briefe eine „ethische Lebensanschauung“174 repräsentierten. Damit nimmt Eremita eine musterhafte Charakterisierung der Personen A und B vorweg.175 Die Termini „ästhetisch“ und „ethisch“ werden sowohl von Eremita als auch von dem sich als „Ethiker“ verstehenden Protagonisten Wilhelm verwendet. Während A in seinen über 200 Seiten umfassenden Texten über ein „ästhetisches Leben“ sinniert, beabsichtigt Wilhelm seinen „Freund“ auf über 250 Seiten von der Überlegenheit der ethischen Existenz gegenüber der ästhetischen zu überzeugen. Ob Bs Vorhaben erfolgreich war, wissen wir als Leser auch nach der Lektüre des Buches nicht. Schon in der Einleitung bereitet Eremita uns auf diesen offenen Ausgang vor: „ob A wirklich von B überzeugt wurde und bereute; ob B siegte; oder ob die Sache vielleicht damit endete, daß B zu As Ansicht überging“, schreibt Eremita, darüber fänden „die Papiere nämlich kein Ende“176. B sieht sich darüber hinaus in der Verantwortung gegenüber seinem „Freund“ und behauptet Einfluss auf A zu haben und ihm Autorität zu sein: „So rede ich vielleicht auch jetzt zu mild zu dir; sollte vielleicht die Autorität besser gebrauchen, die ich, so stolz und unbeugsam du bist, doch über dich habe“177. Der emotionale Ton der Briefe bewegt sich zwischen 171 172 173 174 175

E-O, S. 341f. E-O, S. 344. E-O, S. 21. E-O, S. 21. Allerdings stellt Eremita auch die Überlegung an, dass die Papiere von einer Person verfasst sein könnten, von einem Menschen „der in seinem Leben beide Bewegungen durchlaufen oder durchdacht hat“. E-O, S. 21. 176 E-O, S. 21. 177 E-O, S. 342.

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Fürsorge, Mitleid, Forderung und jovialer Anklage. Der Leser wird bei der Lektüre der Briefe Zeuge einer feingliedrigen psychologischen Vivisektion As durch B. Und schon bald lässt B kein gutes Haar mehr an seinem „Freund“, was wiederum dem Leser zu denken gibt: Spricht hier ein selbstloser, fürsorgend-besorgter B, der sich aufopfernd um A bemüht? Oder haben wir es mit einem B zu tun, der sich gönnerhaft gebend in dem Verfassen seiner vergifteten Charakterstudie des A aufzuwerten versucht? Soviel sei an dieser Stelle schon vorweggenommen: Über diese meiner Ansicht nach entscheidende Ambivalenz des B wird in der Sekundärliteratur in der Regel, wenn nicht geschwiegen, so doch zügig hinweggeschrieben. Geben wir nun A und B das Wort, nehmen wir sie beim Wort und lassen wir im Folgenden die Konturen der „ästhetischen Existenz“ schärfer hervortreten, um anschließend daran die Bsche Konzeption der „ethischen Existenz“ zu skizzieren. Entweder-Oder: Schwermut der Diapsalmata? Leichtigkeit der WechselWirtschaft? Beides? Ambivalenter A: die Diapsalmata Einen komprimierten Einblick in die Lebenswelt des A bieten dessen Diapsalmata sowie dessen Wechsel-Wirtschaft, beide Texte geben verhältnismäßig direkte Auskunft über As Selbst- und Weltverständnis, über seine Gefühlslage(n) und seine Lebensansichten. Die zwei Manuskripte eignen sich also als handhabbare Textbasis, um grundlegende Merkmale der durch A repräsentierten ästhetischen Existenz herauszustellen. In den Diapsalmata kommt eine persönlichkeitsprägende Eigenschaft des A zum Vorschein, die sich im weitesten Sinne als Schwermut bezeichnen lässt. Zahlreiche Passagen legen ein Leiden As am Leben nahe: „Ich kann von meinem Kummer sagen, was der Engländer von seinem Haus sagt: Mein Kummer is my castle“178. Ein Leiden, gepaart mit dem Gefühl einer fesselnden Determiniertheit und Lähmung: „Es ist mir zumute wie einer Schachfigur, von der der Gegenspieler sagt: Mit der Figur kannst du nicht ziehen“179. Zuweilen zeugen As Aufzeichnungen von einer latenten Todessehnsucht und dem Eindruck einer subtilen Fremdgesteuertheit: „Ich bin also nicht Herr meines Lebens! Ich bin nur einer der vielen Fäden, aus 178 E-O, S. 26. 179 E-O, S. 26.

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denen das Leben gewoben wird! Nun, wenn ich auch nicht weben kann, so kann ich den Faden doch abreißen“180. Eine ähnliche Stimmung spiegeln auch die folgenden Zeilen: „Elendes Schicksal! Vergebens schminkst du wie eine alte Metze gleich deine durchfurchten Wangen […]. Komm Schlaf, komm Tod, du versprichst nichts, du hältst alles“181. Darüber hinaus lässt sich aus seinen Äußerungen eine radikale Orientierungslosigkeit herauslesen: „Soviel ich das Leben betrachte, ich kann keinen Sinn hineinbringen. Ich glaube, mir hat ein böser Geist eine Brille auf die Nase gesetzt, von deren Gläsern das eine in ungeheurem Maßstab vergrößert, während das andere im selben Maßstab verkleinert“182. Weiter erfahren wir, dass A nicht am alltäglichen, „wirklichen“ Leben teilnimmt – ob aus Unwillen, aus Unfähigkeit, oder wegen beidem bleibt offen: „Mein Kummer ist meine Ritterburg, sie liegt wie ein Adlerhorst auf der Spitze eines Berges und ragt hoch in die Wolken. Niemand kann sie stürmen. Von diesem Wohnsitz fliege ich hinunter in die Wirklichkeit und ergreife meine Beute. Aber ich halte mich unten nicht auf, ich trage sie heim auf mein Schloss. Was ich erbeute sind Bilder, die wirke ich in eine Tapete und bekleide damit die Wände meiner Zimmer. So lebe ich wie ein Abgeschiedener“183. A ist, so suggeriert es diese Notiz, nicht in der Wirklichkeit „heimisch“. Vielmehr nimmt er die Wirklichkeit fragmentiert, dualistisch wahr – nahezu schematistisch getrennt in „oben“ und „unten“ bzw. „innen“ und „außen“. As Verhältnis zur Wirklichkeit ist, das spiegeln die fragmentarischen Texte der Diapsalmata in Form und Inhalt, ein distanziertes, es ist eines durch Phantasie und Reflexion vermitteltes. Er lebt seine Wirklichkeit an einem anderen Ort, er erlebt sie bruchstückhaft, betrachtet sie als „Beute“. Er fristet sein trostlos anmutendes Dasein als Beobachter in seinem hermetisch abgeschlossenen „Adlerhorst“, und er existiert, um im Bild zu bleiben, „abgehoben“, über und entrückt der gewöhnlich-alltäglichen Lebenswelt. Fassen wir den in den Diapsalmata sich reflektierenden Gefühls- und Deutungshorizont des A knapp, so lassen sich Schwermut, Nihilismus, empfundene Fremdgesteuertheit, Lähmung, Orientierungslosigkeit, latente Todessehnsucht sowie eine extrem individualistisch-isolationistische Lebensführung darin ausmachen.

180 181 182 183

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E-O, S. 34. E-O, S. 33. E-O, S. 29. E-O, S. 42.

4. Kierkegaards ambivalentes Entweder-Oder – eine existenziale Lektüre

Ambivalenter A: die Wechsel-Wirtschaft Individualismus und ein bewusst-reflektiert vermittelter Zugang zur Wirklichkeit sind auch charakteristisch für den A der Wechsel-Wirtschaft. Ganz anders allerdings stellt sich dem Leser der daran gekoppelte emotionale Grundzustand dar – vergegenwärtigen wir uns, dass es sich um dieselbe Person handelt. Während in den Diapsalmata As ästhetisches Dasein eine Existenz im Rückzug ist, mehr Überleben als Leben nahelegt, stellt sich der A der Wechsel-Wirtschaft als ironisch-schnippischer Protagonist dar. Als aufgeweckte, expressionistische Persönlichkeit, der es an Lebensenergie nicht mangelt und welche die als trist und lästig empfundene Alltäglichkeit phantastisch umformt und dieser eine eigens geschaffene Wirklichkeit entgegensetzt. Der Versuch in einer sozialen Klugheitslehre, so der Untertitel der Wechsel-Wirtschaft, zeigt A als einen Protagonisten, der zwar (ebenso wie der A der Diapsalmata) eine nihilismusaffine Lebensanschauung vertritt, aber unter dieser mitnichten leidet. Während der A der Diapsalmata an seinem Nihilismus zu „brechen“ droht, gestaltet sich As ästhetisches Dasein in der Wechsel-Wirtschaft als aktivistischer, selbstbestimmter Lebensentwurf. Erinnern wir uns der durch A empfundenen Fremdbestimmtheit in den Diapsalmata, so wird A nun in seinem anderen Extrem vorgestellt; dort passiv-heteronom, hier aktiv-autonom. In der Wechsel-Wirtschaft deklariert A lakonisch die „Langeweile“184 als Motor der kulturellen Entwicklung der Menschheit und dementsprechend berge die Welt sowie das Leben auch keinen tieferen Sinn. Von dieser Prämisse ausgehend entwickelt A eine ausgefeilte Strategie der Lebensführung. Eine raffiniert gelebte „Wechsel-Wirtschaft“ ermögliche dauerhaft das, was A als zentral für seine ästhetische Existenz erachtet – sich Genuss zu verschaffen: „Das Prinzip, durch intensive Steigerung, nicht durch extensive Ausdehnung des Lebens, zur Befriedigung zu gelangen, ist hier auf die Spitze getrieben“185. Dieses ästhetische Lebensprinzip gelte es zu vervollkommnen, es bildet den Kern der ästhetischen Existenz. Das Genießen erfolgt allerdings mittelbar, A pflegt eine reflektierte Distanz zum „Objekt“, entscheidend sei das „Prinzip der Beschränkung“186. A einen Hedonismus zuzuschreiben, wie es in der Entweder-Oder-Literatur

184 E-O, S. 224. 185 E-O, S. 226. 186 E-O, S. 226.

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immer wieder getan wurde187, läuft Gefahr, As ästhetische Lebensform zu vereinseitigen. Denn in dem vermittelten Verhältnis zur Realität ist er ebenso Asket wie Hedonist: „Man zügle von Anfang an den Genuss; man fahre nicht mit allen Segeln darauf los“188. Die Wirklichkeit als unmittelbar erlebte Realität will A durch eine „poetische Brille“ nach seinen Vorstellungen gestalten und umformen: „Wenn man sich auf Willkür versteht, genießt man nicht mehr unmittelbar; man genießt nicht die Wirklichkeit, sondern was man in die Wirklichkeit hineinlegt. […] Man genießt etwas rein Zufälliges, betrachtet das ganze Dasein als zufällig und läßt seine Realität daran scheitern.“189 Die Umsetzung der „Wechsel-Wirtschaft“, so A, erfolge über einen bewussten Umgang mit der Zeitlichkeit. Über eine eigens gesetzte Beziehung zu Zeit und Erfahrung könne das Dasein die Wirklichkeit in seinem Sinne gestalten und somit selbstbestimmt Genuss herbeiführen. Über die Fähigkeit einer bewusst-selektiven Erinnerung und dem gezielten Vergessen erhielte das Dasein Macht über die Zeitlichkeit: „keine Waffe ist so gefährlich wie die Kunst, sich zu erinnern, um zu vergessen“190. Weiter schreibt A: „Vergessen heißt wegschneiden, was man nicht brauchen kann, aber wohlgemerkt, unter allerhöchster Aufsicht der Erinnerung“191. Der Begriff „Wechsel-Wirtschaft“ weist auf die grundlegende Alltagsüberwältigungsformel des A hin: Eine dauerhafte Bindung an etwas oder jemanden führe früher oder später unweigerlich zu Langeweile. Die Lösung: gezielte Abwechslung. Vor allem müsse der Mensch sich von der Illusion verabschieden, dass die unmittelbare Wirklichkeit Erfüllung bringen könne. Es gibt keine „Erlösung“ von außen, es gilt sämtliche „Hoff-

187 Siehe paradigmatisch bei Wilfried Greve: „Und so ist das Programm der künstlerischen Existenz als ein hedonistisches Programm einzuschätzen, Programm sogar eines Hedonismus von höchster Potenz.“ Wilfried Greve: Das erste Stadium der Existenz und seine Kritik. Zur Analyse des Ästhetischen in Kierkegaards „Entweder/Oder II“, in: Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg.): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main, 1979, S. 177-216, hier S. 186 (im Folgenden: Greve, Zur Analyse des Ästhetischen, Seitenzahl). 188 E-O, S. 227. 189 E-O, S. 231. 190 E-O, S. 227. 191 E-O, S. 228. A spielt hier mit dem Paradoxon eines gesteuerten und bewussten Vergessens und er deutet dies als ein die Lebensqualität ungemein steigerndes Vermögen.

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nung über Bord“192 zu werfen und allein in der eigens geschaffenen, inneren Wirklichkeit zu existieren. Einzig „künstlerisch zu leben“193 verspreche Sinn, und „wer sich in dieser Kunst perfektioniert hat, kann mit dem ganzen Leben Fangball spielen“194. Das in der praktizierten „Wechsel-Wirtschaft“ reflektierte Genießen ermöglicht A Freiheit. Ehe, Freundschaft, Beruf – all jenes, für das B im zweiten Teil von Entweder-Oder in seinen Briefen mit seiner ethischen Existenz einsteht – erweisen sich für A als nicht gangbare Wege, die aus seiner Perspektive zu einer vorprogrammierten Selbstentwirklichung führen. Freiheit bedeutet für A – negativ – Freiheit von sozialen Bindungen: „Man soll sich nicht auf die Ehe einlassen“195, „Man soll sich nicht auf Freundschaft einlassen“196, „Man hüte sich vor jedem Beruf“197. Diese negative Freiheit ermöglicht A die positive Freiheit zu sich, die – hier gleicht er sich aus den Diapsalmata – mit einer extrem isolationistischen Lebensführung zusammengeht. Eine perfektionierte Wechsel-Wirtschaft könne „die Welt aus den Angeln heben“198, um „das ganze Leben in der Schwebe“199 zu halten. Halten wir fest: Während die Diapsalmata eine Sammlung von Aphorismen und tagebuchähnlichen Fragmenten darstellen, die die Gefühlswelt des A in ihrem überwiegend melancholisch-depressiven und phlegmatisch-reflektierenden Charakter beschreiben, kommt in der Wechsel-Wirtschaft eine aktivistische, optimistische Lebenseinstellung zum Ausdruck, die nicht mehr, wie in den Diapsalmata, an einer vermeintlichen Sinnlosigkeit der Welt sich bricht. Der A der Diapsalmata lebt vom ästhetischen Rückzug aus der Welt, der A der Wechsel-Wirtschaft „propagiert“ – in diesem Duktus ist der Text verfasst – die ästhetische Umformung als Überwindung, als Sieg über eine als sinnlos befundene Welt. Diese Zwiespältigkeit ist ein wesentliches Charakteristikum der Persönlichkeit As – davon zeugen sowohl dessen eigene Texte als auch die Be- und Zuschreibungen Bs bezüglich seines Freundes A. Die Bildsprache spiegelt und ver-

192 193 194 195 196 197 198 199

E-O, S. 226. E-O, S. 226. E-O, S. 227. E-O, S. 230. E-O, S. 228. E-O, S. 230. E-O, S. 228. E-O, S. 228.

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stärkt das Empfinden des Lesers – hier der schwermütige A der Diapsalmata, da die Leichtigkeit („Schwebe“, „aus den Angeln heben“, „Fangball“) des A der Wechsel-Wirtschaft. Sowohl in den Diapsalmata als auch in der Wechsel-Wirtschaft zeichnet sich die ästhetische Existenz als eine Form der Wahrnehmung und Lebensführung aus, deren Maßstab und Stärke – ganz in romantischer Tradition – sich darin misst, in welchem Maße das Dasein die „Wirklichkeit“ zu filtern, zu formen, umzudeuten, zu „poetisieren“ im Stande ist. Sowohl in den Diapsalmata als auch in der Wechsel-Wirtschaft lässt sich das übersteigert-gebrochene Verhältnis des A zur Wirklichkeit herauslesen. Die Konzeption der ästhetischen Existenz wird in den Diapsalmata und in der Wechsel-Wirtschaft von einem Dualismus getragen. Auf der einen Seite steht eine auf das Dasein einwirkende „äußere“ Realität, der dann eine – durch das „ästhetische“ Dasein umgeformte und damit neu geschaffene – „innere“ Realität entgegengesetzt wird. Dem Leser wird A in dieser Kontrastierung als ein wandelbarer, launischer und in jedem Falle komplex-vielschichtiger Charakter vorgestellt, der sich einer eindeutigen und vorschnellen Beurteilung entzieht. Während sich im Stimmungsporträt der Diapsalmata ein Leiden artikuliert, das schwer und destruktiv auf As Lebensenergie wirkt, setzt der A der Wechsel-Wirtschaft seine nihilistische Grundanschauung produktiv in eine „soziale Klugheitslehre“ um – als ein aktivistisches Lebensprinzip, das von Leichtigkeit, Humor und einem genussverschaffenden Poetisieren der Wirklichkeit zehrt. Ambivalenter B: Fürsorgender Freund? Neidender Konkurrent? Beides? Der Leser erhält im Anschluss an die von Eremita herausgegebenen Texte As Einblick in die explizit an A gerichteten Briefe des Gerichtsrats Wilhelm. Nach eigener Aussage Bs liegt die übergeordnete Intention der umfangreichen Briefe darin, A „zu zeigen, wie sich in einer ethischen Lebensanschauung die Persönlichkeit und das Leben und dessen Bedeutung darstellt“200. Schon bald wird allerdings klar, dass B weniger eine neutrale Position einnimmt, sondern sehr persönlich in diese Angelegenheit involviert ist. Der angesprochene A erfährt ebenso wie der Leser: Hier spricht

200 E-O, S. 492.

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ein „Ehemann“201, reif an Lebenserfahrung und fest im Leben stehend, für jede Konfrontation gewappnet. B gibt sich konfrontativ, wenn er klarstellt: „ich kämpfe als Ehemann für die Ehe, pro aris et focis“202. B will A von der Unzulänglichkeit der ästhetischen Existenz und der damit korrespondierenden Überlegenheit eines ethischen Daseins überzeugen. Seine Ausführungen laufen auf ein alles entscheidendes Lebensmotto zu, über das sich A bewusst werden und zu dem sich A verhalten müsse: „Entweder soll man ästhetisch leben oder man soll ethisch leben“203. Während der Lektüre wird der Leser allmählich Zeuge einer paradoxen Konstellation. B spricht zu A als einem, „den ich liebe mit dem heiligen Ernst einer religiösen Liebe“204 und erzeugt so eine Sphäre der Intimität, Vertrautheit, gar Sakralität. Zugleich lehnt er As Lebensweise grundsätzlich ab und schafft so eine unüberbrückbare Distanz. Wurde zu Beginn erwähnt (siehe oben), dass A den Begriff „ethisch“ nicht verwendet und seine Ausführungen auch nicht explizit in Abgrenzung zu anderen Lebensentwürfen erfolgen, zeigt sich in den Briefen Bs eine gegenteilige Strategie. B macht hinsichtlich seines Selbstverständnisses eine radikale Differenz zu A auf. Er grenzt sich sowohl bezüglich seiner Stellung im Leben sowie seiner Ansichten als auch hinsichtlich seines Charakters fundamental von A und dem als „ästhetisch“ bezeichneten Dasein seines Freundes ab. Dieses dient ihm vielmehr als Negativfolie, um seine eigenen Ansichten darin zu kontrastieren. B stellt seinen eigenen Äußerungen häufig Bemerkungen des A voran („Du sagst…“205, „Du wirst mir entgegnen…“206), um diese daraufhin nach eingehender Zergliederung zu widerlegen, zu kritisieren, zurückzuweisen. As zum Lebensprinzip erhobene ästhetische Existenz deutet B als unzulänglich und entfremdet. B erhebt jedoch nicht nur den Zeigefinger bezüglich der ästhetischen Existenz seines „Freundes“. Zugleich wertet er As

201 B schreibt: „Du weißt, ich habe mich nie für einen Philosophen ausgegeben, am allerwenigsten in der Unterhaltung mit dir. Ich pflege als Ehemann aufzutreten […], weil das wirklich meine liebste und teuerste, bedeutungsvollste Stellung im Leben ist. Ich habe mein Leben nicht der Kunst und Wissenschaft geopfert; an so hohe Dinge wage ich mich nicht. Ich opfere mich für mein Beruf, mein Weib, meine Kinder.“ E-O, S. 451f. 202 E-O, S. 343. 203 E-O, S. 450. 204 E-O, S. 341f. 205 E-O, S. 346. 206 E-O, S. 342.

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Charakter und meint, ohne jeglichen Zweifel den Gefühlszustand seines „Freundes“ deuten zu können. Er spricht von der „Haltlosigkeit deiner Seele“207, von „Verlorenheit“208, hält A „krankhafte Neugier“209, „sarkastische Bemerkungen“210 sowie unmoralisches Verhalten vor: „treibst hochmütig deinen Spott mit den Menschen“211. B befindet zudem: „Du bist in mancher Hinsicht ein schlimmer Mensch und um so schlimmer, je mehr man sich mit dir einläßt“212. Er konstatiert weiter: „Laune ist dein Wesen und Treulosigkeit“213 sowie: „Du siehst das Lächerliche in deiner Existenz sehr gut“214. Außerdem resümiert er: „Nun ja, du hast immer eine Ausrede“215 und wünscht seinem Freund, „dass das Leben einmal die Daumenschrauben anlege, um aus dir herauszupressen, was in dir ist, dass es dich dem peinlichen Examen unterziehe, in dem Geschwätz und faule Witze nichts mehr helfen“216. In seinen zwischenmenschlichen Beziehungen, schreibt B weiter, verwende A seine gesamte Energie darauf, sich Anderen durch ein subtiles Selbstverrätselungsspiel interessant zu machen. Eine solche Inszenierung der Ambivalenz, der permanente Zwang zur Verstellung sei A wesenseigen: „du treibst es als ein mutwilliges Spiel, dich mit Kunst andern zum Rätsel zu machen“217, „Nur unter der Maske kannst du atmen“218. Wilhelm identifiziert in A eine Exaltiertheit, einen Narzissmus, eine beauhafte Attitüde, die letztendlich Ausdruck mangelnden inneren Halts seien. A fehle es an Struktur und Stringenz im Leben: „Dein Leben löst sich in lauter interessanten Einzelheiten auf“219. B moniert, dass es A an nötigem Ernst im Leben vermissen lasse und attestiert ihm einen notorischen Hang zur Realitätsflucht: „Du schwebst beständig über dir selbst […] aber der höhere Äther, das feinere Sublimat, worin du dich verflüchtigst, das ist das

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E-O, S. 444. E-O, S. 445. E-O, S. 343. E-O, S. 343. E-O, S. 449. E-O, S. 342. E-O, S. 347. E-O, S. 449. E-O, S. 342. E-O, S. 444. E-O, S. 445. E-O, S. 444. E-O, S. 345.

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Nichts der Verzweiflung […] So hast du denn auch den Einfall: Das Leben ist ein Märchen.“220 Während der Lektüre der Briefe des B mehrt sich die Irritation beim Leser und es drängen sich zunehmend Fragen auf: Spricht man so zu einem Freund? Wer ist A? Wer ist B? Sozialität als Wirklichkeit: entweder ästhetisch möglich oder ethisch wirklich B setzt in seiner Argumentation mit Blick auf die Lebensformen ethisch und ästhetisch einen strengen Dualismus von Möglichkeit und Wirklichkeit. A habe sich dem Spiel mit Möglichkeiten verschrieben und sich auf eine bloß beobachtende Perspektive zurückgezogen: „Vor lauter Beobachten kommst du nicht zum Leben, kommst nicht über Anläufe zum Leben hinaus.“221 Sein prinzipieller Einwand an A ist, dass dieser es nicht über das Möglichsein in die Wirklichkeit gebracht habe. Er entzöge sich der Wirklichkeit, indem er sie zum Spielball seiner rücksichtslosen Launen mache und sie als eine beliebig verfügbare Versuchsanordnung verstünde: „Du willst ja gar nicht wirken, du willst experimentieren, und von diesem Gesichtspunkt aus betrachtest du alles.“222 Hierhin habe es A soweit gebracht, dass er sich selbst gewissermaßen entmenschlicht habe: „Du hast etwas von einem Clown, der mit seinen kecken Bewegungen und Drehungen alle Gesetze des menschlichen Gehens und Stehens aufhebt.“223 B sucht das Ethische demgegenüber an die Wirklichkeit zu binden. Im Gegensatz zu einem ästhetischen Dasein sei ein ethisch Existierender „sich nicht eine bloße Möglichkeit, mit der er willkürlich sein Spiel treiben“ 224 dürfe. Der Wirklichkeitsbegriff des B ist an den der Bürgerlichkeit gekoppelt, im Zentrum steht für B die Bildung der Persönlichkeit. Selbstgründung verwendet B synonym mit Persönlichkeitsbildung und diese knüpft er an den Pflichtbegriff. Unübersehbar ist hier Kierkegaards Kantrezeption. Der ethisch Existierende begebe sich freiwillig unter das mit „Pflicht“ überschriebene Sittengesetz: „Das wahre ethische Individu-

220 E-O, S. 473. An anderer Stelle schreibt B: „Also lässt du dich überhaupt nicht mit dem wirklichen Leben ein“. E-O, S. 449. 221 E-O, S. 342. 222 E-O, S. 347. 223 E-O, S. 348. 224 E-O, S. 516.

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um ruht mit Sicherheit in sich selbst, […] weil die Pflicht sich ihm nicht von außen aufdrängt als bloßes Gebot, sondern von innen als der Ausdruck seines innersten Wesens.“225 B setzt den Fokus auf die Verbindung von Pflichtbewusstsein und Innerlichkeit: „Das ethische Individuum hat also die Pflicht nicht außerhalb seiner selbst, sondern in sich selbst“226. Sogleich denkt B die ethische Existenz als eine dialektische Bewegung, die über einen Isolationsakt der Selbstwahl (dazu später) hin zu einer Konkretion im Allgemeinen verläuft: „Erst wenn das Individuum selbst das Allgemeine wird, lässt sich das Ethische realisieren […] wer ethisch lebt, drückt in seinem Leben das Allgemeine aus.“227 B expliziert die wesentlichen Pfeiler dieses Allgemeinen, indem er A die ethische Existenz als Verwirklichung des Selbst in Beruf, Ehe und Freundschaft darlegt. Diese Verwirklichung im Allgemeinen deutet B wiederum als Konkretwerden des Selbst. Ethisch zu existieren hieße nicht, sich im Allgemeinen zu verflüchtigen, sondern das individuelle Selbst durch das Allgemeine hindurch bzw. im Allgemeinen zu entfalten. Die Teilnahme am sozialen Leben setzt er mit Wirklichkeit in eins, die Entkoppelung vom sozialen Leben interpretiert B als Verbleiben in der Möglichkeit. Das ethische Selbst, so B, „ist nicht ein abstraktes Selbst, das überall passte und darum nirgends, sondern ein konkretes Selbst, das in lebendiger Wechselwirkung steht mit dieser bestimmten Umgebung, diesen Lebensverhältnissen, dieser Weltordnung; es ist nicht bloß ein persönliches, sondern ein soziales, ein bürgerliches Selbst.“228 Während A daran gelegen sei, über Schlagfertigkeit und Witz zu glänzen, über Verrätselung zu irritieren, über Expressivität und Inszenierung aufzufallen, sei gerade das Ethische in seiner Tiefe und Unauffälligkeit erstrebsam. Am Ende des zweiten Briefes beschreibt B pathetisch die vermeintliche Anmut der ethischen Existenz. Ihre Dignität, ihre Ausnahme liege in der Unauffälligkeit „zu leben, wie ‚man‘ eben lebt […]. Insofern ist es gleich wahr, dass jeder Mensch das Allgemein-Menschliche repräsentiert und dass er eine Ausnahme ist. Indem der Ausnahmemensch das versteht, versöhnt er sich wieder mit dem Dasein.“229 Höchstes Ziel sei es,

225 226 227 228 229

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E-O, S. 514. E-O, S. 515. E-O, S. 514. E-O, S. 519. E-O, S. 570f. Zudem bemerkt B: „Wenn das ethische Individuum seine Aufgabe beendet, den guten Kampf gekämpft hat, so ist es dahin gekommen, dass es der

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das Allgemein-Menschliche in seiner Trivialität, Gewöhnlichkeit zu leben, das Allgemein-Menschliche in der Lebenspraxis auszudrücken. Ethisch zu existieren hieße, die „Vergötterung der trivialsten Mittelmäßigkeit“230 zu leben. Die Selbstwahl als „ursprüngliche Wahl“ Die ausschweifenden Ausführungen des B über Das ästhetische Recht der Ehe (erster Brief) sowie über Das Gleichgewicht des Ästhetischen und des Ethischen in der Ausarbeitung der Persönlichkeit (zweiter Brief) haben die Konzeption der Selbstwahl zum Mittelpunkt. Nach B wird das Ethische über einen Akt des Wählens wirklich, der den Übergang von ästhetisch zu ethisch markiert. Das Wählen wird so zur ethischen Bestimmung schlechthin. Genauer handelt es sich bei dieser Wahl nicht um eine zwischen verschiedenen Dingen, sondern um eine ausgezeichnete: die Selbstwahl. Der Vollzug der Wahl stellt sich so als die Bedingung der Möglichkeit praktischer Verwirklichungsfacetten ethischer Existenz dar. B weist nahezu manisch insistierend auf den für die ethische Lebenspraxis zentralen Stellenwert der Wahl und stellt die Bedeutung eines alles entscheidenden Entweder-Oder in den Mittelpunkt. An A sich richtend beschwört er: „Wie ein Cato ruf ich dir mein Entweder-Oder zu […]. Entweder soll man ästhetisch leben oder man soll ethisch leben.“231 Das im Erkennen und Vollziehen der Wahl sich manifestierende Ethische wird der A zugeschriebenen Gleichgültigkeit (bezogen auf den Akt des Wählens) entgegengestellt. B schreibt: „Das Entweder-Oder, das ich aufstelle, ist also in gewissem Sinn absolut; denn es tritt sich darin gegenüber, ob man wählen will oder nicht wählen will. Das ist eine absolute Wahl, also ist das Entweder-Oder absolut.“232 Wird die Wahl vollzogen, bildet sie sich als vorgängige Wahl in allen zukünftigen

einzelne Mensch geworden ist: ein durchaus individueller Mensch, ohne seinesgleichen, und zugleich der allgemeine Mensch. Der einzelne zu sein, ist an und für sich nichts so Großes: das hat jeder Mensch mit jedem Naturprodukt gemein; aber der einzelne so zu sein, dass man zugleich das Allgemeine ist, das ist die wahre Lebenskunst“. E-O, S 515. 230 E-O, S. 570. 231 E-O, S. 450. 232 E-O, S. 457.

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Entscheidungen ab. Bs Konzeption der absoluten Wahl weist demnach zwei wesentliche und ineinander verschränkte Aspekte auf. Erstens hat die an ein Entweder (oder!) Oder geknüpfte absolute Wahl fundierend-konstituierenden Charakter. Sie ist allen weiteren Wahlen und Entscheidungen vorgängig, weil jene nur durch das Prisma dieser „absoluten“ Wahl bedeutsam sind. Die „ursprüngliche Wahl“ ist in allen weiteren Entscheidungen und Handlungen präsent: „Die ursprüngliche Wahl wiederholt sich in jeder folgenden Wahl.“233 Wer absolut wählt, so B, existiert ethisch und hat damit seine ethische Existenz unwiderruflich gesetzt. Diese Wahl stellt dann die Basis für die ethische „Praxis“, sie hat dementsprechend nicht formalistischen Charakter, denn sie „vergegenständlicht“ sich in Ehe, Freundschaft und Beruf. So die Theorie des B. Zweitens ist die „ursprüngliche Wahl“ schöpferisch, durch sie gibt sich das ethische Selbst seine Freiheit. Dieser transkreatorische Aspekt erweist sich als Bewegung hin zum „eigentlichen“ Selbst des Daseins und impliziert das Anerkennen der eigenen Endlichkeit, Verletzlichkeit und Bedingtheit. In diesem Bewusstsein gewinnt das Dasein seine Freiheit, die sich sogar retrospektiv verwirklicht, indem „meine eigene Tat […] das bloß zufällige Begegnis […] aus der Sphäre der Notwendigkeit in die der Freiheit überführt“234. B spricht im Kontext dieser absoluten Wahl von einer „Metamorphose“, die das Dasein durchläuft. Mit dem Vollzug der Wahl wählt sich das Dasein seine Freiheit, es ist ein anderes geworden, indem es sein Selbst gewählt hat: „Das Ästhetische ist das im Menschen, wodurch er unmittelbar der ist, der er ist. Das Ethische ist das, wodurch der Mensch wird, der er wird. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass, wer ästhetisch lebt, sich nicht entwickle; aber er entwickelt sich mit Notwendigkeit, nicht mit Freiheit. Es vollzieht sich mit ihm keine Metamorphose.“235 Diese Selbstwahl als Dreh- und Angelpunkt der Übernahme einer ethischen Existenz beruht auf der Zuspitzung und Anerkennung eines fundamentalen Verzweiflungszustands, den B als Ergebnis einer ästhetischen Existenz, wie sie A führt, ausmacht. Also wendet sich B mit einem Imperativ an seinen Freund: „Was sollst du also tun? Ich habe nur eine Antwort: ‚Verzweifle‘!“236. Denn: „In der Wahl der Verzweiflung wähle ich

233 234 235 236

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E-O, S. 487. E-O, S. 510. E-O, S. 492. E-O, S. 449.

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mich selbst.“237 Wählen soll sich das Selbst als fundamental verzweifeltes; gewählt wird also etwas, was wesenhaft schon da ist.238 Die einseitige Deutungsperspektive von Entweder-Oder In seinem Aufsatz zur Rezeptionsgeschichte von Entweder-Oder unterscheidet Philipp Schwab in der Forschungsliteratur insgesamt vier Interpretationszugänge. Er differenziert zwischen einer – erstens – „biographisch-genetischen Herangehensweise“ sowie einem – zweitens – „sachlich-rekonstruktiven Verfahren mit Schwerpunkt auf der Ethik des zweiten Teils“. Drittens identifiziert er ein „immanent-strukturelle(s) literaturwissenschaftliche(s) Verfahren mit Fokus auf der ‚fiktionalen‘ Struktur des Werks“; viertens lokalisiert er „eine maieutisch-ethische bzw. mitteilungstheoretische Herangehensweise.“239 Auffällig ist, dass sowohl Überblicksdarstellungen als auch systematische Interpretationen in der Regel die Perspektive des B adaptieren. Hier werden überwiegend die oben genannten Zugänge 1, 2 und 4 favorisiert. Die dritte Variante bildet eine absolute Minderheit. Kierkegaards Entweder-Oder wird in der Mehrheit als ein Plädoyer für die ethische Lebensform gelesen.240 Die in Entweder-Oder dargelegten Lebensformen folgten 237 E-O, S. 487. 238 Helmut Fahrenbach deutet diese Wahl als subjektivitätskonstituierenden Akt: „In diesem Aspekt zeigt sich: in der radikalen (gewählten) Verzweiflung wird das (unendliche) Selbst gewählt, weil es das Wählende und Vollziehende dieser Verzweiflung selbst schon ist. Das Selbst ist (wählendes) Subjekt dieser Verzweiflung – und nicht Objekt bzw. etwas, das als das Resultat der Wahl aus ihr herausspringt – und nur so ist es zugleich das Gewählte (d. h. Angeeignete und Gewonnene) dieser Wahl.“ Helmut Fahrenbach: Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt am Main, 1968, S. 71. 239 Siehe hierzu ausführlich: Schwab, Rezeptionsgeschichte, insbesondere S. 400-427, Zitat hier S. 427. 240 Siehe paradigmatisch bei Smail Rapic und Paul Thomas Erne. Rapic beruft sich auf das Vorwort Eremitas: „Dass Eremita sich auf das Sprichwort: ‚Wer A gesagt hat, muss auch B sagen‘ beruft, legt die Schlussfolgerung nahe, dass anhand der Kontroverse zwischen A und B eine Entwicklungsgeschichte dargestellt werden soll, die von der ästhetischen zur ethischen ‚Lebensanschauung‘ hinführt.“ Smail Rapic: Ethische Selbstverständigung. Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Ethik Kants und der Rechtsphilosophie Hegels, Kierkegaard Studies. Monograph Series, Band 16, Berlin/Boston, 2007, S. 11 (im Folgenden: Rapic, Ethische Selbstverständigung, Seitenzahl). Gerade die im Vorwort angelegte Ambivalenz

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einer teleologischen Konzeption, die eine Hierarchie impliziere: ethisch „besser“ als ästhetisch. Nicht nur das: Die durch B repräsentierte Losung wird dann nicht selten in einem weiteren Schritt auf den „gesamten“ Kierkegaard übertragen. Das Entweder-Oder im Bschen Sinne wird nicht nur zum Leitmotiv des Buches, sondern auch zur grundlegenden „Formel“ des kierkegaardschen Denkens erklärt. Die so aufgemachte Gleichung „B =

und Unentschiedenheit Eremitas im Sinne eines offenen Entweder-Oder, vereinseitigt Rapic zu Gunsten einer pro-ethischen Position, wenn er kurz darauf anmerkt: „Der Anschein eines Widerspruchs lässt sich auflösen, wenn man die gegensätzlichen Aussagen Eremitas dahingehend interpretiert, dass die Papiere des A und B hierüber keinen Aufschluss geben, solange man sie isoliert betrachtet, wogegen in ihnen eine Entwicklungsgeschichte erkennbar ist, wenn man den inneren Bezügen ihrer Papiere und damit den Kompositionsprinzipien des Buches nachgeht.“ Rapic, Ethische Selbstverständigung, S. 11. Erne konstatiert: „Die Aufhebung der ästhetischen in der ethischen Lebensanschauung lässt sich so als Dialektik von Form und Inhalt verständlich machen. Das Ethische negiert das Ästhetische als die Form unmittelbarer Aneignung der Wirklichkeit, rekonstruiert aber die ästhetischen Gehalte. Anders gesagt: Im Ethischen wird das Ästhetische vernichtet als unangemessene Lebensanschauung, aber bewahrt hinsichtlich der Inhalte. In dieser Dialektik von Form und Inhalt lässt sich die Grundstruktur erkennen für Kierkegaards Konzept einer identitätsbildenden Aufstufung des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen zur individuellen Persönlichkeit.“ Paul Thomas Erne: Lebenskunst. Aneignung ästhetischer Erfahrung. Ein theologischer Beitrag zur Ästhetik im Anschluss an Kierkegaard, Kampen, 1994, S. 103. Thomas Miles setzt das ethische Konzept Bs mit dem platonischen sowie aristotelischen Ethikverständnis in Beziehung. Hierbei legt er eine implizite Teleologie von ästhetisch-etisch-religiös nahe: „Of course we should not lose sight of the fact that nowhere in Either/Or does Kierkegaard draw an evaluative conclusion about which way of life is best. The internal collapse of the aesthetic life is apparent in the writings of A and is openly discussed in the letters of Judge Wilhelm.” Thomas P. Miles: Either/Or: Reintroducing an Ancient Approach to Ethics, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2008, herausgegeben von Niels Cappelörn, Hermann Deuser und Brian Soderquist, Berlin/New York, 2008, S. 158-178, hier S. 175. Einer die Ethik Bs favorisierenden Interpretation folgen auch sämtliche Einführungen zu Kierkegaard: Liessmann, Kierkegaard, 1993; Annemarie Pieper: Sören Kierkegaard, München, 2000; Patrick Gardiner: Kierkegaard, Freiburg, 2004. Siehe ausführlich dazu bei: Greve, Zur Analyse des Ästhetischen, S. 177-216; sowie: Wilfried Greve: Künstler versus Bürger. Kierkegaards Schrift Entweder-Oder, in: Jörg Splett/Herbert Fronhofen (Hg.): Herausgefordert durch Kierkegaard, Frankfurt am Main, 1988, S. 38-62 (im Folgenden: Greve, Künstler, Seitenzahl); ausführlich diesbezüglich: Wilfried Greve: Kierkegaards maieutische Ethik. Von Entweder-Oder II zu den Stadien, Frankfurt am Main, 1990; sowie: Helmut Fahrenbach: Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt am Main, 1968.

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Kierkegaard“ mündet im Endeffekt in eine werkübergreifende existenzialistisch-dezisionistische Interpretation Kierkegaards. An diese Lesweise wird nicht selten die „Stadientheorie“241 oder „Stadienlehre“242 gekoppelt, die die Aussage eines Protagonisten aus dem Titel Stadien auf dem Lebensweg aufnimmt: „Es gibt drei Existenzsphären: die ästhetische, die ethische, die religiöse.“243 Zwar verwendet Kierkegaard den Terminus „Stadien“. Der Begriff „Stadientheorie“ führt allerdings in zweifacher Hinsicht in die Irre. Zum einen, weil Kierkegaard keine Theorie im Sinne eines Systems in sich kohärenter Begründungssätze liefern wollte. Zum anderen suggeriert der Begriff „Stadien“ eine schematisch-teleologische Daseinskonzeption, die eine hierarchische Folge von

241 Zum Begriff siehe: Purkarthofer, Kierkegaard, S. 120. So gehen zum Beispiel Edith Düsing und Helmut Vetter von einer solchen Stadientheorie aus. Düsing schreibt: „Kierkegaards Problemorientierung in seiner Frage nach den Bedingungen des Überwechselns von der ästhetischen zur ethischen Sphäre bekundet atmosphärische Nähe zu Kants Erörterung eines möglichen Übergangs von der Natur zur Freiheit und zum idealistischen Programm einer systematischen Geschichte des Selbstbewusstseins. Beide Problemdimensionen verbindet er in seiner Stadientheorie.“ Edith Düsing: Sittliche Bewusstwerdung und Sich-Finden des Selbst in Gott bei Fichte und Kierkegaard, in: Kierkegaard und Fichte. Praktische und religiöse Subjektivität, Kierkegaard Studies. Monograph Series, Band 22, herausgegeben von Jürgen Stolzenberg und Smail Rapic, Berlin/New York, 2010, S. 155-208, hier S. 176. Ich halte die Analogiebildung von „ästhetisch“ und „Natur“ auf der einen sowie „ethisch“ und „Freiheit“ auf der anderen Seite für nicht tragbar, da vor allem die ästhetische Existenzkonzeption wenig mit dem kantschen „Reich der Notwendigkeit“ gemein hat. A repräsentiert durch sein Programm der Poetisierung der Welt eine geradezu anti-deterministische Lebenseinstellung. Helmut Vetter behandelt in seiner Monographie das Verhältnis der drei „Sphären“ als teleologisch konzipierte Folge ausführlich, siehe: Helmut Vetter: Stadien der Existenz. Eine Untersuchung zum Existenzbegriff Sören Kierkegaards, Wien/Freiburg/Basel, 1979. Dieser Ansatz wird auch durchgängig von Emanuel Hirsch in den Kierkegaard-Studien vertreten, siehe: Emanuel Hirsch: Kierkegaard-Studien, Vaduz, 1978. Zur Rezeption Kierkegaards durch Hirsch siehe: Matthias Wilke: Die Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs, Tübingen, 2005. 242 Siehe dazu: Hermann Deuser: Die Frage nach dem Glück in Kierkegaards Stadienlehre (Ästhetik, Ethik, Religion), in: Hermann Deuser: Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee. Kierkegaards Existenzdenken und die Inspiration des Pragmatismus. Gesammelte Aufsätze zur Theologie und Religionsphilosophie, Berlin/New York, 2011, S. 40-61. 243 Sören Kierkegaard: Stadien auf dem Lebensweg, in: Sören Kierkegaard. Philosophische Schriften 2, in der Übersetzung von Christoph Schrempf, Wolfgang Pfleiderer und Hermann Gottsched, Frankfurt am Main, 2009, S. 647.

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ästhetisch-ethisch-religiös zugrunde legt. Eine solche Interpretation ist möglich. Meiner Ansicht nach nimmt sie jedoch vor allem Kierkegaards Entweder-Oder die Ambivalenz und Vielschichtigkeit – und damit jene Eigenschaften, die ich für zentral erachte. Hiroshi Fujino hat berechtigterweise auf diese vereinseitigende, verabsolutierende Begriffsbildung in der Stadientheorie hingewiesen244, ebenso wie Edward Mooney, der meint: „Kierkegaardian perspectives do not collapse into a single abstract theory of selves, stages, or stage-shifts.”245 Kritische Einwände gegen die Überlegenheit des Bschen Position An der Frage, inwieweit es plausibel und berechtigt ist, die Überzeugung Bs als Botschaft des Werks zu lesen, entscheidet sich auch die Richtung der Interpretation von Entweder-Oder und weiterführend auch die Tendenz der Kierkegaarddeutung. Die Bsche Argumentationslinie ist eine Möglichkeit. Prinzipiell kann auch eine B-kritische Interpretation plausibilisiert werden. Wenn das vom Protagonisten B proklamierte EntwederOder-Entscheidungsmantra auch als ein ironisch gebrochenes gelesen werden kann, verwässert die Substanz einer teleologischen Deutung, die eine ethische Existenz zu Ungunsten der ästhetischen ausspielt. Ich möchte im Folgenden ein paar Gedanken zur Disposition stellen, die einer teleologischen Deutung entgegenstehen. Intoleranter Moralismus des B? Der Leser kann nur den Äußerungen Bs entnehmen, dass A sich in seinen ironischen Bemerkungen irgendwie abständig und distanziert zum Ethischen verhält. B hatte ja A, mit Verweis auf dessen Maskenspiel, eine Authentizitätsverweigerung als Lebensprinzip vorgeworfen. Selbst wenn wir B seine Beobachtungen bezüglich A abnehmen, ist A derjenige, der Bs

244 Siehe: Hiroshi Fujino: Kontemplativ-ästhetisch oder existentiell-ethisch. Zur Kritik der auf der Stadienlehre basierenden Kierkegaardinterpretation, in: Kierkegaardiana 17, herausgegeben von Joakim Garff, Arne Grön u. a., Kopenhagen, 1994, S. 66-82. 245 Edward Mooney: Selves in Discord and Resolve: Kierkegaard's Moral-Religious Psychology From Either/Or to Sickness Unto Death, New York, 1996, S. 12.

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ethische Existenz im Prinzip gelten lässt. Der feine Unterschied zu B besteht darin, dass A nicht als derjenige auftritt, der B von der prinzipiellen Überlegenheit der ästhetischen Lebensform zu überzeugen sucht. Ironischerweise ist es B, der im Namen des Ethischen sowohl As Persönlichkeit als auch dessen ästhetische Existenz prinzipiell ablehnt. A teilt nicht Bs moralische Wertvorstellungen, aber es lassen sich im gesamten Buch keine Belege dafür finden, dass A B offen kritisiert. B verfällt, so gesehen, nicht nur einem Sollens-Präskriptivismus, indem er grundlegende Lebensformen wie die der ästhetischen Existenz disqualifiziert.246 B lässt As ästhetische Existenz nicht gleichberechtigt gelten. Er verortet sie im Namen der Ethik auf einer niederen Stufe – und erniedrigt damit auch A als Person. A lebt mit einer gewissen Offenheit und spezifischen Unentschiedenheit als Lebensprinzip eine tolerantere Lebensanschauung, denn, hier stimme ich vollkommen mit Erika Deiss überein, „was nämlich A am wenigsten will, ist – herrschen.“247 Demgegenüber scheint es B nicht ernst um die Ansichten des A zu sein. Er lässt seinen „Freund“ A, in behaupteter Sorge, nicht sein, was er ist und sein will. Er lässt das ästhetische Prinzip im Namen der Gemeinschaft, der Liebe, der Freundschaft und Gottes nicht gelten. Sokrates mit der Peitsche? Eine pro-Bsche Interpretation von Entweder-Oder argumentiert unter anderem mit dem Verweis auf die im Werk angelegte sokratische Kommunikationssituation248: Der als Freund sich verstehende B betrete per Brief als 246 Die von B beigelegte Predigt am Ende des Buches könnte ebenso als Überzeichnung des Bschen Moralismus gesehen werden, dem sich A zu unterwerfen hat. 247 Erika Deiss: Entweder-Oder? oder: Kierkegaards Rache. Einladung an die Verächter des Ästhetischen sich fortzubilden oder fortzumachen, Heidelberg, 1984, S. 2 (im Folgenden: Deiss, Kierkegaards Rache, Seitenzahl). 248 Siehe hier die Interpretation Wilfried Greves, der konstatiert: „Die Forderung, die eigenen Ausführungen in Bezug auf A ebenso maieutisch auszulegen, wie das ganze Werk ‚Entweder/Oder‘ maieutisch angelegt sein soll in Bezug auf den Leser, diese Forderung scheint B in der eigenen Praxis einzulösen: Keinen Zweifel lässt er daran, dass er den A mit seinen Ausführungen persönlich und existentiell treffen und so zur Reflexion über sich anregen will […]. Inhaltlich entspricht solcher Form des persönlichen Schreibens die Anknüpfung bei den Interessenssphären des A […], maieutisch ist vor allem die Strategie, den Ästhetiker bei dessen Selbstverständnis als Ästhetiker zu nehmen und aufzuzeigen, wie nicht die ästhe-

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„Geburtshelfer“ die literarische Bühne und verhelfe A in seinen ausführlichen Briefen zu Wahrheit und Einsicht. Diese Interpretation verweist dann auch auf Kierkegaards Programm der „indirekten Mitteilung“ und schließt, dass Kierkegaard mit B den Leser von der Überlegenheit der ethischen Lebensanschauung überzeugen wolle. Doch hier stellen sich mir Fragen. B weist des Öfteren explizit, man möchte sagen „plump“ und ganz unsokratisch, auf die Überlegenheit der ethischen Lebensform. Er profiliert diese auf Kosten der ästhetischen Existenz und zu Lasten As, dem er psychologisierend attestiert: „du unbeständiges, launisches Wesen“249, „Lüge über Lüge!“ 250, „So ins Blaue hinein zu handeln, wie du es tust, grenzt ja an Wahnwitz“251, „krankhafte Spitzfindigkeit“252, „Da haben wir wieder deine gewöhnliche, empörende Frechheit“253. Es fällt nicht leicht, B nicht Selbstgerechtigkeit zu unterstellen, wenn er konstatiert: „Das ethische Individuum ist wie das stille Wasser, das einen tiefen Grund hat; wer ästhetisch lebt, ist immer nur oberflächlich bewegt“254. B lässt seinem „Freund“ A in seiner stählernen Umarmung keine Luft zum Atmen. Auch der an A gerichtete Verzweiflungsimperativ ist befremdlich. Rät man einem Freund, „richtig“ zu verzweifeln? Und das auch noch angesichts des Zustands, wie er sich bei A in den Diapsalmata artikuliert? Zudem kann jemand so nur sprechen, der von der existenziellen Ohnmacht abstrahieren zu vermag, die durch die absolute

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tische Anschauung diesem Selbstverständnis gerecht wird, sondern vielmehr die ethische.“ Wilfried Greve: Kierkegaard maieutische Ethik, Frankfurt am Main, 1990, S. 42 (im Folgenden: Greve, Ethik, Seitenzahl). Greve bemerkt zwar, dass B in seinem unverblümt lehrerhaften Auftreten die sokratische Situation ad absurdum führt, allerdings nicht, um wie Deiss, auf die dahinterliege Ironie zu weisen. Greve sieht die Ursachen einer solchen Konzeption in Kierkegaards noch unterentwickelten Verständnis des eigenen maieutischen Ansatzes, der erst in den Folgejahren zur Reife gekommen sei: „Vermuten ließe sich, dass diese Unzulänglichkeit auf Kierkegaards eigenes Konto geht, zumal ein klares Bewusstsein von Sinn und Funktion indirekter Mitteilung erst am Ende der pseudonymen Periode feststellbar war.“ Greve, Ethik, S. 44. E-O, S. 346. E-O, S. 347. E-O, S. 347. E-O, S. 346. E-O, S. 347. E-O, S. 515.

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Verzweiflung, wie B sie fordert, sich einstellen muss.255 Ist das die Maieutik, die Kierkegaard als sokratisches Prinzip so schätzte? Können wir hier die Gleichung „Kierkegaard = B“ aufmachen, die Gleichung von einem Kierkegaard, der Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates seine Doktorarbeit verfasste? Auf das Problem der Kommunikation ethischer Inhalte zielend, hatte Kierkegaard in seinem Tagebuch bemerkt, dass „das Ethische nicht doziert werden kann, denn es dozieren heißt, es unethisch mitzuteilen“256. Aus dieser Einsicht heraus verfolgt Kierkegaard das Programm seiner indirekten Mitteilung, die den Leser vereinzeln und existenziell treffen möchte. Ethisch in diesem Sinne meint dann, dass es einer besonderen Kommunikationsform bedarf, um eine ethische Botschaft an den Rezipienten zu bringen. Aber müsste nicht genau dann die Rolle des zu Teilen überschwänglich dozierenden Bs äußerst verdächtig sein, da er seine ethische Botschaft eben sehr „unethisch“ mitteilt? Bs Beurteilung der ästhetischen Existenz, seine Betrachtungen über das Leben sind von streng dualistisch-schematistischen Rastern durchzogen. Bs Ethik ist plakativ, polarisierend und er kommuniziert seine Grundsätze und Ansichten im Sinne des oben zitierten Tagebucheintrags ganz direkt und unsokratisch. Wendet sich nicht eben genau jener Einwand Kierkegaards, das Ethische nicht „dozieren“ zu können, gegen eine Kommunikationssituation, wie sie sich in Entweder-Oder darstellt – und hier einer Einbahnstraße gleicht? Hier nur einige Beispiele der schematischen Zuschreibungen und Ansichten, die der moralisch gefestigte B an A heranträgt: Ästhetisch Möglichkeit Uneigentlich wählen Selbstverrätselung/Maske

Ethisch Wirklichkeit Eigentlich wählen – Selbstwahl Authentizität

255 Romano Pocai schreibt: „Ein solcher Ratschlag kann nur erteilt werden, wenn man von der grundlegenden Verzweiflung abstrahiert, die sich in den Diapsalmata artikuliert. Evidentermaßen lässt sich zwar […] an der Möglichkeit an einer sinnerfüllten Existenz zweifeln, nicht aber willentlich der Verlust von Sinn erleiden.“ Romano Pocai: Kierkegaard. Die existenzielle Bedeutung von Emotionen, in: Hilge Landweer/Ursula Renz (Hg.): Klassische Emotionstheorien, Berlin, 2008, S. 501-524, hier S. 510. 256 Sören Kierkegaard: Tagebücher, Band 2, herausgegeben von Hajo Gerdes, Köln/ Düsseldorf, 1963, S. 114.

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Selbstverlust – narzisstische Isolation Nicht „richtig“ verzweifeln Spiel/Experiment Zufall/Willkür/Laune Hedonismus/Egoismus

Selbstwerdung – Beruf, Freundschaft, Ehe Absolut verzweifeln Ernst/Pathos Kontinuität/Geschichte Pflicht

As anderes Entweder-Oder als Differenzialismus Die von B angeführten Erläuterungen beziehen sich sowohl auf den Charakter als auch auf die persönliche Lebensführung des A. B meint, dass A sich dem alles entscheidenden Entweder-Oder entziehe, denn, so B, „das Ästhetische ist […] die Indifferenz“257. Weiter schreibt B: „du sagst: ‚Ich kann entweder dies tun oder das tun; aber was ich auch tue, es ist alles gleich verrückt; ergo: ich tue gar nichts‘.“258 B bezieht sich hier offensichtlich auf einen Aphorismus der Diapsalmata, der insofern einen Sonderstatus besitzt, als dass er – erstens – eigens mit einem Titel versehen ist und – zweitens – der Titel zudem lautet: Entweder-Oder. Ein ekstatischer Vortrag. Im Folgenden sei die Anfangspassage vollständig zitiert; hier zeigt sich, dass A ein grundsätzlich anderes Verhältnis zum titelgebenden Motto pflegt. Entweder-Oder. Ein ekstatischer Vortrag „Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es auch bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen; entweder heiratest du oder du heiratest nicht, bereuen wirst du beides. Lache über die Torheit der Welt, du wirst es bereuen; weine darüber, du wirst es auch bereuen; lache oder weine über die Torheit der Welt, du wirst beides bereuen; entweder du lachst über die Torheit der Welt oder du weinst darüber, bereuen wirst du beides. Traue einem Mädchen, du wirst es bereuen; trau ihr nicht, du wirst es auch bereuen; trau ihr oder trau ihr nicht, du wirst beides bereuen; entweder du traust einem Mädchen, oder du traust ihr nicht, bereuen wirst du beides. Hänge dich, du wirst es bereuen; hänge dich nicht, du wirst es auch bereuen; häng‘ dich oder häng‘ dich nicht, du wirst beides bereuen. Dies, meine Herren, ist der Inbe-

257 E-O, S. 451. 258 E-O, S. 452.

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griff aller Lebensweisheit. Ich betrachte alles, wie Spinoza sagt, sub specie aeternitas, und zwar nicht nur in einzelnen Augenblicken, nein, ich bin sub specie aeternitas.“259

B sucht A zu zeigen, dass dessen ästhetisches Lebensprinzip der Illusion erlegen sei, sich in einer philosophischen Spielerei verflüchtigen zu können: „Dein ceterum censeo, worin du über das Dasein triumphierst, hat nämlich eine wunderliche Ähnlichkeit mit der Lieblingstheorie der neueren Philosophie, dass der Satz des Widerspruchs aufgehoben sei.“260 Wenn A schreibt „ich bin sub specie aeternitas“, ist die ironische Brechung der Wendung offensichtlich, denn das eine ist, die Welt unter dem Blickwinkel der Ewigkeit zu betrachten, die andere – eine Unmöglichkeit – es zu sein. Vergegenwärtigen wir uns knapp noch einmal den für B zentralen Stellenwert der Wahl. Bs Konzeption der „ursprünglichen Wahl“ wertet das Nicht-Treffen dieser als Flucht, als Ausdruck von Unreife etc. B spitzt seine Konzeption der persönlichkeitsbildenden Wahl dahingehend zu, dass er A abspricht, überhaupt zu wählen: „eine ästhetische Wahl ist keine Wahl“261; weiter erläutert er: „eigentlich hast du gar nicht gewählt, oder nur in uneigentlichem Sinne“262 (jeder Heidegger-Leser spitzt hier die Ohren). An anderer Stelle veranschaulicht B die Bedeutung des Entweder-Oder am Beispiel der Schifffahrt, um dann zu schlussfolgern: „So auch mit der Fahrt durch das Meer des Lebens. Vergißt man, daß sie während der Überlegung über den einzuschlagenden Kurs fortgeht, so kommt letztlich ein Augenblick, da sich’s um ein Entweder-Oder freilich nicht mehr handelt: nicht weil man gewählt, sondern weil man nicht gewählt hat, weil man (darauf läuft’s immer hinaus) andere für sich hat wählen lassen, weil man sich selbst verloren hat.“263 Nun sehen wir allerdings in der Wechsel-Wirtschaft, dass A durchaus eine bewusste Lebensführung anpreist und somit mitnichten „nichts“ tut, mitnichten nicht wählt, mitnichten nicht gewählt hat. Auch A schildert

259 E-O, S. 39. Angeblich soll Sokrates auf die Frage seines Gegenüber, ob er denn heiraten solle, geantwortet haben: „Was du auch tust, du wirst es bereuen.“ Siehe dazu: Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen im Alltag und Denken, München, 2005, S. 30. 260 E-O, S. 452. 261 E-O, S. 449. 262 E-O, S. 449. 263 E-O, S. 447.

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und repräsentiert mit der ästhetischen Lebensanschauung ein bewusst gewähltes Lebenskonzept. Es ließe sich auch behaupten: A hat sich für seine ästhetische Existenz bewusst entschieden, er hat sie gewählt. A entscheidet sich im Sinne des Ekstatischen Vortrags für das Weder-Noch bzw. das Sowohl-als-Auch. Würden wir diese Perspektive starkmachen, ließe sich das Asche Lebenskonzept als eines lesen lassen, das ein Entweder-Oder im Bschen Sinne zwar gelten lässt, für sich aber ablehnt. A stellt dann dem exklusiven Entweder-Oder des B ein inklusives, als Konjunktion verstandenes Entweder-Oder gegenüber. Das Verwerfen eines solch exklusiv-dichotomisch verstandenen Bschen Entweder-Oder könnte so als Einsicht in die Komplexität und in den Facettenreichtum des Lebens gedeutet werden. Aus dieser Perspektive wird das Bsche Entweder-Oder zu einem komplexitätsreduzierten „Entweder weiß – Oder schwarz“. Die vermeintliche ästhetische Indifferenz, wie sie B herbeizitiert, zeigt sich so als ein ästhetischer Differenzialismus, der vereinseitigende dichotomisch-schematistische Daseinskonzeptionen und Konstruktionen ablehnt. Ambivalenz als angemessene Kommunikation des existenzialen Paradigmas Die Arbeiten von Karin Pulmer264 und Erika Deiss265 haben die Position des Ästhetikers starkgemacht und so eine Interpretationslinie von Entweder-Oder (siehe oben: dritte Lesart bei Schwab) zur Disposition gestellt, die sie gegen den Mainstream der Sekundärliteratur profilieren. In der Konsequenz wird so sowohl die „Stadientheorie“ Kierkegaards als auch die herkömmliche existenzialistische Deutung erodiert. Pulmer weist in ihrer Dissertation auf den im Rahmen einer Interpretation von EntwederOder immer wieder zu vergegenwärtigenden Aspekt hin, dass es sich um einen fiktionalen Text handelt. Pulmer spricht in diesem Kontext von einer „nicht-pragmatischen Kommunikationssituation“266. Während non-fiktio-

264 Karin Pulmer: Die dementierte Alternative. Gesellschaft und Geschichte in der ästhetischen Konstruktion von Sören Kierkegaards „Entweder-Oder“, Bern/ Frankfurt am Main, 1982 (im Folgenden: Pulmer, Die dementierte Alternative, Seitenzahl). 265 Deiss, Kierkegaards Rache, 1984. 266 Pulmer, Die dementierte Alternative, S. 17.

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nale philosophische Text den Mitteilungssinn direkt kommunizieren, müssten philosophische Passagen eines fiktionalen Textes immer an eine Reflexion im Hinblick auf die ästhetische Konstruktion und Struktur des gesamten Textes gebunden werden. Die Fiktionalisierung Entweder-Oders hatte wiederum Adorno in seiner Dissertation über Kierkegaard kritisiert, indem er Entweder-Oder als philosophische Abhandlung im Hinblick auf eine „Konstruktion des Ästhetischen“ hin untersuchte.267 Auch Wilfried Greve charakterisiert die Fiktionalisierung von Entweder-Oder als fehlgeleitet im Sinne einer strategischen Flucht, sich mit dem „Denken“ des Autors nicht auseinandersetzen zu müssen.268 Ein solcher, auf einen vermeintlichen intellektuellen Phlegmatismus zielender Generalvorwurf ist allerdings wenig seriös, in jedem Falle verfehlt er sein Ziel. Ebenso ließe sich mit selbigem Recht aus umgekehrter Richtung behaupten, die diffizil komplexe Erzählstruktur des Werkes zu übergehen hieße, es sich „zu einfach“ zu machen. Die Beantwortung der Frage, wie dieses Verhältnis zu interpretieren ist, muss allerdings unter anderen Vorzeichen erfolgen als bei der klassischen Lektüre philosophischer Texte. Soweit Pulmer zu Recht die gewohnten Entweder-Oder-Interpretationsmuster aufbricht und das Ausspielen des Ästhetischen zu Gunsten des Ethischen verwirft, so schnell schließt sie wieder die von ihr „geöffnete Tür“. Pulmer sucht ihrerseits Entweder-Oder als ein Plädoyer an die „ästhetische Rationalität als Erkenntnismedium von Wirklichkeit“269, als kulturkritischen Protest gegen eine entfremdende „verblendete“ Wirklichkeit im Namen des Ästhetischen zu lesen.270 Mit der Verabsolutierung dieser

267 So schreibt Adorno: „Wann immer man die Schriften von Philosophen als Dichtungen betrachtet, hat man ihren Wahrheitsgehalt verfehlt.“ Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, in: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, Band 2, herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main, 1979, S. 9 (im Folgenden: Adorno, Kierkegaard, Seitenzahl). Damit sei „das erste Anliegen einer Konstruktion des Ästhetischen in Kierkegaards Philosophie, von Dichtung sie zu scheiden“. Adorno, Kierkegaard, S. 11. 268 Adornos Ansicht teilt auch Greve in seinem Kierkegaardbuch. Siehe dazu: Greve, Ethik, 40ff. Diese Argumentation ist auch insofern interessant, weil sie behauptet, Kierkegaard habe Entweder-Oder als Philosoph geschrieben. Ausgehend von dieser nicht begründbaren These wird dann darauf geschlossen: EntwederOder als fiktionalen Text zu behandeln, würde heißen, Autor und Text nicht ernst zu nehmen. 269 Pulmer, Die dementierte Alternative, S. 18 270 So wenn sie resümiert: „Im Fragmentcharakter der Schriften des Ästhetikers wird erkennbar, wie in der strukturellen Angleichung an die Realität zugleich ein Pro-

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Perspektive nimmt sie meines Erachtens dem Text die entscheidende Pointe und holt Adorno über die „Hintertür“ wieder rein. Auch Erika Deiss wendet sich in ihrer Arbeit gegen die vorherrschende Tendenz der Entweder-Oder-Rezeption, nach der das Ethische als überlegen zu deuten sei.271 Sie plädiert dafür, Entweder-Oder als „Künstlerroman“272 zu lesen und liefert einen messerscharfen Verriss sämtlicher Interpretationen, die die Ansichten des Protagonisten B „eins zu eins“ übernehmen und als normatives Ideal einer ethischen Existenz teleologisch deuten. Eine Interpretation, die, so Deiss, Kierkegaard als „Trottel“273 dastehen lässt. Sowohl Pulmer als auch Deiss sehen in der Konzeption des Protagonisten B eine ironische Replik auf die Ideale und Werte der bürgerlichen Lebenswelt.274 Der Ansatz Pulmers, besonders der Beitrag von Deiss, ist als kritisches Korrektiv sehr fruchtbar. Festzuhalten ist, dass das viel zitierte „Entweder-Oder“ die Schlüsselformel des Buches darstellt. Ihre ganze Kraft, ihr Potenzial entfaltet sie vor allem dann, wenn sie in ihrer Ambivalenz gehalten wird. In der Mög-

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test gegen die Realität, gegen ihren Zwangscharakter als gesellschaftliche Totalität, dem alles Besondere sich unterzuordnen hat, wirksam wird.“ Pulmer, Die dementierte Alternative, S. 231. Erika Deiss schreibt: „Entweder/Oder kam zu seinem Ruf und Ruhm von einer Magna Charta der Ästhetizismusschelte wie die Jungfrau zum Kind […] obgleich er sogar heute noch als ‚Hauptwerk’ Kierkegaards gehandelt wird, ist er gleichwohl bis heute unentdeckt. Weil haarscharf an dem vorbeigelesen wird, was er IST und WILL […] Ich ginge, finden Sie, zu weit? Irrtum; ich habe nur polemisch dargestellt, was ist. Und mich, dies eingestanden, wütend macht. Sind die von mir gestellten Fragen doch seit 1843, und zwar implizit, durch den Konsens der Rezeptionsgeschichte, immer wieder mit der gleichen alten Antwort abgefertigt worden. Mit der Antwort, dass die Sache, die ENTWEDER/ODER diskutiert, entschieden sei. Und diese Antwort, dazu stehe ich, macht Kierkegaard zum Trottel. Indem sie ihn, in schönster ‚Gleichgestimmtheit’ mit Intimfeind Hegel, abkommandiert zum ‚Grabschaufler des Ästhetischen’. Abkommandiert durch eben jenen angemaßten Urteilsspruch des Ethikers […] dass das Ästhetische zu überwinden sei.“ Deiss, Kierkegaards Rache, S. 365f. Deiss, Kierkegaards Rache, S. 384. Deiss, Kierkegaards Rache, S. 366. Auch Wilfried Greve hatte diese Perspektive anvisiert. In seinem Aufsatz Künstler versus Bürger fügt er den erwähnten beiden Interpretationsmöglichkeiten (B ernst – B ironisch) eine dritte hinzu. In diesem Falle ist die Zweideutigkeit Bs in Entweder/Oder angelegt, um in den darauffolgenden Werken (Kierkegaards) mit der Heranführung an die religiöse Existenz über die Konzeption des Ethischen hinauszugehen. Vgl. Greve, Künstler, S. 60f.

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lichkeit, das schon in sich selbst mehrdeutige Entweder-Oder zudem noch auf verschiedene und entgegengesetzte Perspektiven beziehen zu können, liegt ihre ganze Stärke. Um welches Entweder-Oder handelt es sich überhaupt im Titel? Um das wilhelmsche Lebensmotto, in dem das EntwederOder disjunktiv-ausschließenden Charakter hat – sich vor die Entscheidung für das ethische und gegen das ästhetische Dasein zu bringen? Um den vermeintlichen Indifferenzialismus des A, der das Entweder-Oder als Konjunktion verbindend zu einem Weder-Noch denkt – oder vielleicht zu einem Sowohl-als-Auch (siehe As Ekstatischer Vortrag)? Um jenes Entweder-Oder Eremitas, der im Vorwort dem Leser anheimstellt, sich eigens ein Bild zu machen – ein Entweder-Oder, das dazu drängt, sich zu positionieren? Bezieht sich das Entweder-Oder auf die Frage, ob eine Positionsbestimmung oder Parteinahme seitens des Lesers überhaupt gewollt ist? Ist es ein Entweder-Oder Kierkegaards, das Buch entweder teleologisch oder als Panoptikum gleichursprünglicher Daseinsmöglichkeiten zu lesen? Bezieht es sich auf die Frage entweder eine oder mehrere Deutungen zuzulassen? Es ließen sich noch weitere Bezugsebenen und Interpretationsspielräume hinzufügen, die die Möglichkeiten des titelgebenden Entweder-Oder aufzeigen. Objektive Kriterien für die eine plausible Interpretation können bei diesem Werk nicht sinnvoll angelegt werden, auf die Befragung des Textes hin würden sie verlässliche Antworten nicht liefern. Wie mit dieser Ambivalenz umgehen? Ich halte es für fruchtbar, eben diese angesprochene Ambivalenz in den Mittelpunkt des Deutungshorizonts zu stellen, um die Komplexität und Vielschichtigkeit des Buches als Botschaft zu konservieren. Ich halte es für nicht angemessen, die ethische Existenz als nachfolgende Stufe einer ästhetischen Existenz im Sinne einer Teleologie zu lesen. Gleiches gilt für eine vermeintlich teleologische Konzeption des Ästhetischen. Die Begriffe ästhetisch und ethisch werden sowohl vom Herausgeber Eremita als auch von B als grundsätzliche Existenzmodi erläutert. Auch A versteht das ästhetische Dasein als paradigmatisch. Vor diesem Hintergrund lassen sich die „Formen“ des ästhetischen und ethischen Existierens als gleichursprüngliche Möglichkeiten menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses lesen, die ihrerseits einem Variantenreichtum an konkret-praktischen Entwürfen vorausgehen. Man kann hierhingehend noch präzisieren: A und B spiegeln als individuelle „lebendige“ Protagonisten in ihren Ansichten vorgängige Daseinsstrukturen. In ihren Haltungen drücken sich unhintergehbare Existenzbedingungen aus, die sich darin artikulieren, dass es dem Dasein in seinem 103

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Sein immer auch um sein Selbst geht. Gezeigt wird, dass das Dasein sein Vollzug ist und sich im Hinblick auf das Selbstverhältnis Fragen nach Entfremdung bzw. Authentizität stellen. Die geschilderten Modi von ästhetisch und ethisch –so mein Deutungsvorschlag – exemplifizieren literarisch die Möglichkeiten von Seinsweisen einer unhintergehbaren Daseinssituation, sich so oder so zu sich als Selbst verhalten zu müssen. Eine Daseinssituation, die in ihrer Prozesshaftigkeit, in ihrem Vollzugscharakter und in ihrer sinnerfragenden Dimension über die Ansichten der Protagonisten offengelegt wird. Die ästhetische und ethische Existenz aus Entweder-Oder können als elementare Weisen zu-sein gedacht werden. Hier artikulieren sich zugleich in den Ansichten der Protagonisten eingelassene Konstitutionsanalysen des menschlichen Daseins.275 Entweder-Oder lässt sich so als ein Titel lesen, der – in Bezug auf die Wertung des Verhältnisses von ethisch und ästhetisch – aus einer antitotalisierenden Perspektive im Sinne einer Mehrdeutigkeit, Vielschichtigkeit und bewussten Unentschiedenheit geschrieben ist. Erst über das dezidierte Offenhalten dieser Ambivalenz erschließt sich der Titel (als Überschrift und als Werk) in seiner Radikalität. Damit tritt auch die Frage nach einer teleologischen Deutung der einen oder anderen Existenzform in den Hintergrund. Die Fiktionalität des Textes sollte allerdings kein Ausschlusskriterium für eine philosophische Rückbindung sein. Ich lese Entweder-Oder als einen Titel, der eine Grundlagenreflexion über die irreduzibel gegebenen Daseinsbedingungen des Menschen in die Aussagen der handelnden Protagonisten einbettet. In Bezug auf die in Kapitel 1 aufgezeigten Kriterien des existenzialen Paradigmas lässt sich so eine existenziale Lektüre von Entweder-Oder plausibilisieren. Der Titel beschreibt sowohl „Strukturen“ des menschlichen Daseins (Kriterium 2a) ebenso wie er eine innovative Darstellung, im weiteren Sinne eine Sprache bereitstellt, diese Existenzreflexionen terminologisch zu fixieren und angemessen zu kommunizieren (Kriterium 2b).

275 Auch hier gibt Eremita einen Hinweis: „Wenn man das Buch gelesen hat, so sind A und B vergessen; nur die Anschauungen stehen einander gegenüber, und warten nicht darauf, daß ihr Schicksal sich in der Entwicklung bestimmter Personen entscheide.“ E-O, S. 21.

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5. Kierkegaard und Heidegger: Verschränkung der Ebenen vernunft- und verstandeskritisch sowie pragmatisch

Vor dem Hintergrund der kritischen Befragung der Texte Kierkegaards und Heideggers auf das existenziale Paradigma hin ist eine in den Reflexionen beider Autoren systematisch-strukturelle Gemeinsamkeit auszumachen – die signifikante Verschränkung einer vernunftkritischen sowie einer pragmatischen Perspektive. Weder Kierkegaard noch Heidegger haben eine Erkenntnis- oder Handlungstheorie entwickeln wollen. Allerdings lässt sich in ihren Texten eine Dimension lokalisieren, die genauer als Grenzreflexionen in verstandes- und vernunftkritischer Absicht bestimmt werden kann. Kapitel 1 zeigte, dass die von Kierkegaard vollzogene existenzphilosophische Wende durch Heidegger ausdifferenziert wird. Der damit verknüpfte Anspruch, ein angemessenes Denken zu denken, das dem Existieren, dem Leben, dem Sein einen eigenen epistemischen Status zuspricht, weist schon auf einen genuin vernunftkritischen Impetus. Zielt man auf die entscheidenden Fragestellungen beider Autoren, zum Beispiel was das Christentum ist, was den christlichen Glauben ausmacht (Kierkegaard) bzw. was der Sinn von Sein (Heidegger) ist, sind sich sowohl Kierkegaard als auch Heidegger darin einig, dass diese Fragen nicht im Sinne eines objektivistisch-begründbaren Wissens über logische Rekonstruktion, Ableitung, Herleitung etc. beantwortet werden können. Diese epistemischen Zugänge werden abgewiesen. Zugleich ist die verstandes- und vernunftkritische Stoßrichtung bei beiden Autoren an ein Ausloten der Frage nach den Möglichkeiten des Verhaltens bzw. einer Haltung des Daseins zu seinen transzendenten, ihm selbst unverfügbaren Bedingungen geknüpft. Beide Autoren konstatieren eine Vollzugsebene des Daseins nicht allein als „existenzphilosophisches“ Faktum; sie radikalisieren und erweitern diese „Tatsache“ in Gestalt einer Analyse dieser Vollzugsebene und der darin angelegten vernunftkritischen und pragmatischen Implikationen. Im Zusammenhang mit Kierkegaard wurde dieser Bezug in den Kapiteln 2 und 3 aufgezeigt. Er soll im Folgenden noch einmal – gemeinsam mit der verstandes- bzw. vernunftkritischen Dimension – am Beispiel der Konzeption der Religiosität B erläutert werden. Mit Blick auf Heidegger werden wir die Analyse des pragmatischen – im Sinne eines die Handlung und Haltung des Daseins fokussierenden – 105

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Strangs hier vorbereiten und anschließend in Kapitel 5 und 6 eigens behandeln. Die Unterscheidung der zwei Dimensionen vernunftkritisch- und verstandeskritisch sowie pragmatisch darf nicht als starre, dualistische Schematik verstanden werden. Sie ist jedoch hilfreich und weiterführend, weil sie erklären kann, warum so gegensätzliche Deutungsperspektiven wie zum Beispiel im Rahmen einer Befragung auf existenzialistische Potenziale der kierkegaardschen und heideggerschen Reflexionen möglich sind. Die systematische Verflechtung der zwei genannten Stränge im Denken beider Autoren soll in diesem Kapitel konkretisiert und erläutert werden. Climacus-Kierkegaards Kritik an objektivistischen und einseitig subjektivistischen Glaubenskonzeptionen Wie die einleitenden Zeilen sowie die Überschrift des hiesigen Abschnitts nahelegen, werde ich argumentieren, dass sich hinter Climacus-Kierkegaards Kritik an bestehenden Glaubens- bzw. Christentumskonzeptionen und -verständnissen auch eine „philosophische“ Verstandeskritik verbirgt, die zu Teilen eine erweiterte Vernunftkritik andeutet. Kierkegaards Reflexionen ähneln auf den ersten Blick sehr dem bewusstseinsphilosophischen cartesischen Paradigma, das schematisch zwischen einem erkennenden Subjekt und einer diesem Subjekt gegenüberstehenden Außenwelt unterscheidet. Man verkennt wiederum den Status der kierkegaardschen Überlegungen, wollte man es auf diesem Blick bewenden lassen. Kierkegaards Denken kann als religions- und vernunftkritisch gedeutet werden, dahingehend motiviert, einen christlichen Glauben stark zu machen, der jedwede Rückversicherung im Sinne eines objektivistisch „handhabbaren“ Kriteriums ablehnt – Religionskritik im Namen der Religion, Kritik am Christentum im Namen des Christentums. Diese spezifisch kierkegaardsche Bewegung impliziert eine überwiegend verstandeskritische Perspektive, die dann nicht zu einer umfassenden Vernunftkritik, sondern in eine paradoxe Konzeption des Glaubens überleitet. Kierkegaards Rede vom paradoxen Glauben spielt die Begrenztheit des Verstandes gegen die Transzendenz Gottes aus, insofern bleiben Kierkegaards Analysen aus vernunftkritischer Perspektive teilweise hinter jenen Kants und Hegels zurück, weil er die scharfe kantsche Trennung von

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Verstand und Vernunft so konsequent nicht denkt.276 Allerdings lässt sich auch bei Kierkegaard zeigen, dass sein Verstandesbegriff sich partiell mit dem der Vernunft deckt – sprich: er meint des Öfteren Vernunft, wenn er von Verstand redet. Die Konzeption der religiösen Existenz und insbesondere die Ausführungen zur Religiosität B in der Nachschrift argumentieren, dass die Aneignung der christlichen Wahrheit nicht über ein kognitivrational rekonstruierbares Erschließen erfolgen kann. Climacus-Kierkegaard wendet sich in der Nachschrift gegen eine objektivistische Glaubensvorstellung, indem er gegen eine „Verifikation“ der Wahrheit des Glaubens in der Historie anschreibt, die immer nur „Approximation“ sein könne und – mit dem Bedürfnis einer empirischen Verankerung – den eigentlichen Status des Christentums verkenne. Er profiliert die religiöse Existenz gegen eine fides historica, die über eine Orientierung an historischen Fakten eine „objektive“ Rückversicherung der christlichen Wahrheit zu stiften suche.277 Darüber hinaus polemisiert Climacus gegen ein Christentum, das durch die Kirche als ein vermitteltes monopolisiertes „Wissen“ an den Menschen herangetragen und als solches fraglos übernommen wird.278 Auch mit der Herausgabe des Augenblicks – Texte, in denen Kierkegaard in eigener Regie ganz direkt die dänische Staatskirche angreift – schreibt Kierkegaard gegen ein solches Christentum an. Zugleich liegt dem Augenblick auch eine grundsätzliche Kritik an einem Glaubensverständnis zugrunde, das sich in Offizialität, in äußerlichem Bekenntnis erschöpft und eine existenzielle Aneignung verweigert. Weiterhin argumentiert Climacus gegen einen christlichen Glauben, der über eine höhere Stufe im Wissen sich rekonstruieren und rationalistisch vermitteln ließe. Diese Kritik ClimacusKierkegaards zielt insbesondere gegen Hegels „systemphilosophischen“ Ansatz.279 Seine Polemiken gegen Hegel können auch als Vernunftkritik ex negativo verstanden werden. Denn Climacus-Kierkegaard verdichtet seinen eigenen Ansatz in hohem Maße über den Umweg einer Hegelkritik,

276 Thomas Rentsch hat im Hinblick auf eine bei Kierkegaard ausbleibende Vernunftkritik bemerkt: „Es ist auffällig, dass Kierkegaard nicht von Vernunft spricht, sondern immer nur von Verstand – vielleicht, um nie in Gefahr zu geraten, auf die hegelsche Ebene der rationalen Reflexion zu geraten.“ Rentsch, Gott, S. 147. 277 AuN, S. 688-708. 278 AuN, S. 697-706. 279 AuN, S. 708-717.

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die sich implizit durch die gesamte Nachschrift zieht. Mit Blick auf Kierkegaards Entwurf eines existenziellen Christentums und seinem Bestreben, dieses auch angemessen zu kommunizieren, ist es die durch Hegel aufwendig und tiefsinnig exerzierte Rechtfertigung des Christentums im Namen der Philosophie, die Kierkegaard als Anzeichen der größten Gefahr des deutet.280 Seine Selbstbezeichnung als „subjektiver Denker“ und die Fokussierung auf das „subjektive Denken“ flankieren schon terminologisch sein Abarbeiten an einem objektivistischen Glaubenskonzept. Climacus-Kierkegaards Reflexionen zum Pantheismusstreit enthalten allerdings auch eine Kritik an subjektivistisch verkürzten Glaubenskonzeptionen. Climacus kommentiert in der Nachschrift die von Jacobi 1785 anonym veröffentlichte Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, in der dieser einen Dialog mit Lessing rekonstruiert hatte. Lessing outet sich in diesem Gespräch über das noch unveröffentlichte Prometheus-Gedicht Goethes mit der Formel hen kai pan281 als Anhänger 280 Thomas Seibert sieht sowohl in Hegels als auch in Kierkegaards Konzeptionen einen „Rettungsversuch“ des Christentums, dem eine kritische Gegenwartsdiagnose vorausgeht, allerdings beurteilt Kierkegaard Hegels Entwurf als endgültiges Begräbnis contra intionem. So schreibt Seibert: „Wie für Hegel gründet die Krise der Gegenwart auch für Kierkegaard im Verlust des Glaubens, auch für ihn ist ein Leben ohne den Glauben ein ‚unwesentliches‘ Leben, das der Bedeutungslosigkeit der Willkür und der Begierde ausgeliefert ist und von ihr aufgezehrt wird. Deshalb kreist auch seine Dialektik um das Problem, wie der bedrohte Glaube gerettet werden kann. Dass er aber dann zum schärfsten Kritiker Hegels wird, hat seinen Grund darin, daß er gerade im Hegelschen Rettungsversuch die heftigste Attacke gegen den Glauben sieht. Hegel will die Religion bewahren, indem er die aufklärerische Trennung von Wissen und Glauben revidiert. Das im System der Philosophie zusammengeschlossene Wissen soll sich gerade in seiner Emanzipation von der Religion als Vollendung des Glaubens verstehen. Für Kierkegaard ist diese ‚Rettung‘ der Religion ihre äußerste Entmächtigung. Deshalb beharrt er auf der Trennung von Glauben und Wissen […] Dabei geht es ihm nicht um die Wiederherstellung der traditionellen Vorherrschaft der Religion über die Philosophie, sondern vielmehr um ihre endgültige Trennung. Thomas Seibert: Existenzphilosophie, Stuttgart/Weimar, 1997, S. 19. 281 In jenem aus dem Munde Jacobis überlieferten Gespräch heißt es: „LESSING: Ich mein es anders […]. Der Gesichtspunkt, aus welchem das Gedicht (gemeint ist Goethes Prometheus – P. K.) genommen ist, das ist mein eigener Gesichtspunkt […]. Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. Hen kai Pan! Ich weiß nichts anderes. Dahin geht auch dies Gedicht; und ich muss bekennen, es gefällt mir sehr. ICH: Da wären sie ja mit Spinoza ziemlich einverstanden. LESSING: Wenn ich mich nach jemand

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der des Atheismus verdächtigten spinozistischen Philosophie. Aus Sicht Jacobis, der Lessings hen kai pan mit dem deus sive natura Spinozas assoziierte, stand mit diesem Bekenntnis die menschliche Freiheit auf dem Spiel, die er im weiteren Gesprächsverlauf mit Vehemenz zu verteidigen sucht.282

nennen soll, so weiß ich keinen andern.“ Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, in: Paul Rilla (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Gesammelte Werke, Band 8, Berlin, 1954, S. 617f. (im Folgenden: Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, Seitenzahl). Jan Assmann sieht die Ursprünge des von Lessing über Spinoza „recycelten“ Schlagworts hen kai pan in der ägyptischen Geheimtheologie: „Pantheismus und all die anderen Träume oder Alpträume der Zeit weisen nach Ägypten als der Heimat des Kosmotheismus. Hen kai pan ist das Credo eines neuen Kosmotheismus, der als ein Ausgang aus der Mosaischen Unterscheidung erschien und aus den Konfrontationen von Vernunft und Offenbarung, Irrtum und Wahrheit, Erbsünde und Erlösung, Unglaube und Glauben, und der einen Weg wies in den Raum der Schau, Evidenz und Unschuld. Der Kosmotheismus der deutschen Frühromantik ist eine Wiederkehr des verdrängten ‚Heidentums’, der Verehrung des göttlich beseelten Kosmos. In gewisser Weise ist er eine Rückkehr nach Ägypten.“ Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München, 1999, S. 209. Hen kai pan kann übersetzt werden als „ein und alles“, oder auch als „All-Einheit“. 282 Die Positionen Spinozas sowie Leibnizens führten, so Jacobi, in einen Skeptizismus, an dessen Ende konsequenterweise Determinismus und Fatalismus stünden. Jacobi will an der Vorstellung eines persönlichen Schöpfergottes festhalten und sieht darin den Garanten für die Existenz eines vernünftigen, hinter allem Handeln und Geschehen stehenden Urhebers. Die spinozistische Substanz rekurriert nach Jacobi nicht mehr auf einen persönlichen Schöpfergott als Endursache (Jacobi: „Ich glaube an eine verständige persönliche Ursache der Welt.“ Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, S. 621), der die Welt als creatio emaniert, sondern sie stelle ein wirkendes Prinzip dar, bar jeden Bewusstseins und Willens. Jacobis Argumentation unterliegt einem strengen Dualismus, an dessen Polen einerseits ein persönlicher Schöpfergott, Vernunft und Freiheit in eins gesetzt sind und andererseits die spinozistische Substanz als ein der Vernunft vorgängiges, blind wirkendes Prinzip steht. Was bei Spinoza – so Jacobis Interpretation – für das Ganze des Weltzusammenhangs stünde, müsse auch für den einzelnen Menschen und sein Denken und Handeln gelten. Jede Spontaneität, jeder Entschluss zur Tat sei dann kein durch das Individuum gesetzter Akt der Freiheit, sondern bloße Folge eines im Menschen mechanisch wirkenden Modus‘ der alles durchdringenden Substanz. Der konsequente Rationalismus Spinozas führe in eine Sackgasse, an deren Ende auch der Mensch als substantialistisch-determiniertes Wesen stünde. Nur ein „Salto mortale […] aus dem Fatalismus gegen den Fatalismus“ (Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, S. 621) sei der einzige Weg, das „Etwas, das von

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Die Positionierung von Climacus gegen Jacobi in der Nachschrift erscheint verwunderlich, weil Climacus selbst es ist, der den „Sprung“, den Lessing gerade nicht vollziehen will – auch nicht über den in der Beweisschrift283 erwähnten „garstigen breiten Graben“284, der zwischen „historischen Wahrheiten“ und „Vernunftwahrheiten“ sich auftut – als entscheidende Kategorie gegen die hegelsche Philosophie in Stellung bringt. So sei der Sprung „die Entscheidung schlechthin“, die „weder durch die schellingsche intellektuelle Anschauung noch durch das zu gewinnen ist, was Hegel […] an die Stelle setzen will: nämlich die Methode, weil der Sprung gerade der entscheidendste Protest gegen den inversen Gang der Methode ist.“285 Die Parteinahme zugunsten Lessings bei gleichzeitiger Fokussierung der Sprungmetapher weist auf den systematischen Ort der climacusschen Glaubenskonzeption. Climacus‘ Kritik an Jacobi zielt in eine zweifache Richtung. Erstens bringt Climacus-Kierkegaard seine maieutisch motivierte Kommunikationsphilosophie der indirekten Mitteilung ins Spiel, um sich damit von Jacobis „Salto mortale“ abzugrenzen. Jacobis Aufforderung an Lessing, diesen „Salto mortale“ ebenfalls zu vollziehen, zeige, dass Jacobi die existenzielle Problematik nicht verstanden habe. Der „Sprung“, so Climacus, könne gerade nicht im Sinne einer Forderung direkt mitgeteilt werden.286 Der Impuls eines solchen „Sprunges“ müsse vom Einzelnen selbst ausgehen – ohne Anleitung, ohne Rückversicherung. Zweitens laufen Climacus‘ Überlegungen in ihrem Kern darauf hinaus, Jacobis „Salto mortale“ als

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all dem nichts weiß“ (Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, S. 622) nicht annehmen zu müssen. Die Rede ist von Lessings 1777 verfassten Text Über den Beweis des Geistes und der Kraft. Gotthold Ephraim Lessing: Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Paul Rilla (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Gesammelte Werke, Band 8, Berlin, 1954, S. 14. AuN, S. 748. AuN S. 745. Climacus schreibt: „Dann ist er über den Sprung auch nicht dialektisch klar darüber, dass dieser sich nicht direkt dozieren oder mitteilen lässt. Er ist ja der Isolationsakt, indem er bei dem, was sich nicht denken lässt, es dem Einzelnen anheimgibt, ob er sich kraft des Absurden entschließen will, es gläubig anzunehmen. Jacobi will einem durch seine Beredsamkeit helfen den Sprung zu machen. Aber das ist ein Widerspruch, und alles direkte Antreiben hindert gerade wirklich zu springen“. AuN, S. 745.

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kurzgeschlossenen Reflex, als „Subjektivierungsakt gegenüber der Objektivität Spinozas“287 zu entqualifizieren. Seine Kritik an Jacobi wird verständlich vor dem Hintergrund der Entfaltung seiner Konzeption der Religiosität B. Wenn er einwendet, dass Jacobis „Salto mortale“ nicht den „Übergang vom Geschichtlichen zum Ewigen“288 leiste, fokussiert er ein besonderes Christentumsverständnis. Was Climacus Jacobi vorhält ist, dass dieser bei seiner Rede vom „Salto mortale“ dem Verstand keine aktive Rolle zuschreibt. Jacobis Sprung erfolge aus Trotz und aus Verzweiflung. Eben damit verkenne Jacobi das Wesen des „christlichen“ Sprunges, der sich am Christentum als Paradox abarbeitet und gerade als Verstandesleistung289 zu denken sei. Zuspitzung der Doppelstruktur der paradoxen Religiosität In Entweder-Oder erhalten wir vom Gerichtsrat Wilhelm einen Fingerzeig, der sicherlich Kierkegaards nachweislicher Fichte-Rezeption geschuldet ist. B erläutert die fundamentale Bedeutung des „inneren Handelns“ für den Menschen, nicht ohne zuvor eine klare Trennlinie zur Philosophie (die Philosophie Hegels) zu ziehen: „Was ist die rechtmäßige Sphäre der Philosophie? Alles, was nur für den Gedanken ist; also das Logische, die Natur, die Geschichte. Hier herrscht die Notwendigkeit, hier hat also die Mediation ihre Gültigkeit.“290 Demgegenüber mache das „innere Handeln“ den Kern des individuell einzelnen Daseins aus – die Frei-

287 AuN, S. 745. 288 AuN, S. 745. 289 Climacus schreibt in den Brocken: „und so ist es auch des Verstandes höchste Leidenschaft, dass er den Anstoß will, obgleich der Anstoß auf die eine oder andere Weise sein Untergang werden muss. Dies ist also das höchste Paradox des Denkens, etwas zu entdecken, das es selbst nicht denken kann“. Sören Kierkegaard: Philosophische Brocken, in: Sören Kierkegaard: Philosophische Schriften, in der Übersetzung von Christoph Schrempf, Wolfgang Pfleiderer und Hermann Gottsched, Frankfurt am Main, 2007, S. 617 (im Folgenden: PB, Seitenzahl). Climacus akzentuiert diese spezifische „Leistung“ in seiner Konzeption der Religiosität B, die – so Climacus – das Wesen des christlichen Glaubens ausmache. Demnach fordere das Christentum „zu verstehen, was es heißt, so mit dem Verstande und dem Denken und der Immanenz zu brechen, daß man hinter sich die Ewigkeit, den letzte Boden der Immanenz verliert und in das Äußerste der Existenz gestellt, kraft des Absurden existiert.“ AuN, S. 1097. 290 E-O, S. 454.

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heit des Einzelnen, sein Leben über ein stetiges Entweder-Oder zu gestalten: „Was man das innere Handeln nennen könnte, geht die Philosophie gar nichts an; aber dieses innere Handeln ist das wahre Leben der Freiheit. […] In dieser Welt herrscht ein absolutes Entweder-Oder“291. Dieser abermals unausgesprochene Einwand gegen Hegel zielt darauf ab, die Subjektivität als Sphäre der Freiheit des Einzelnen zu bestimmen – von daher spricht Wilhelm hier von einer „Doppelexistenz“292 des Menschen. Das in Entweder-Oder angesprochene, auf das Selbst bezogene innere Handeln wird in der Nachschrift über die Analyse der religiösen Existenz hin radikalisiert. Die Philosophischen Brocken fokussieren, ebenso wie die Nachschrift, die christliche Botschaft als Paradox, das sich als Herausforderung an den Einzelnen stellt. Climacus will auf folgende Botschaft hinaus: Weil das Christentum da ist und sich an das Dasein richtet, muss sich der Verstand an diesem „Ärgernis“293 auf höchster Reflexionsstufe brechen. Die Paradoxalität bezieht sich auf den konkreten Gehalt der christlichen Botschaft, in diesem Kontext auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Climacus macht hier einen dreifachen Widerspruch aus: 1. „eine ewige Seligkeit in der Zeit durch Verhältnis zu etwas anderem in der Zeit zu erwarten“294, 2. „daß eine ewige Seligkeit auf das Verhältnis zu etwas Geschichtlichem gegründet wird“295, 3. „daß das Geschichtliche, von dem hier die Rede ist, nicht einfach Geschichtliches, sondern von dem gebildet ist, was nur entgegen seinem Wesen, also kraft des Absurden, geschichtlich werden kann.“296 Dass das Ewige gegen sein Wesen zeitlich wird, ohne seine Qualität der Ewigkeit zu verlieren und im christlichen Verständnis das Verhältnis des Menschen zu einem historischen Ereignis über die eigene Ewigkeit entscheidet, muss sich dem menschlichen Verstand als ein Paradox ausweisen. An diesem Punkt greifen Verstandes- und implizite Vernunftkritik sowie die pragmatische Perspektive des kierkegaardschen Denkens ineinan-

291 E-O, S. 455. 292 Wilhelm schreibt: „Selbst das geringste Individuum hat in diesem Sinne eine Doppelexistenz. Auch es hat eine Geschichte, und diese ist nicht das bloße Produkt seiner freien Handlung. Die innere Handlung aber gehört ihm selbst zu und soll ihm in alle Ewigkeit zugehören; die nimmt ihm weder seine noch der Welt Geschichte ab.“ E-O, S. 455. 293 AuN, S. 1110. 294 AuN, S. 1097. 295 AuN, S. 1000. 296 AuN, S. 1104.

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der. Climacus-Kierkegaard fordert, „seinen Verstand zu kreuzigen“297 – diese „Kreuzigung“ ist im Sinne einer „inneren Handlung“ zu verstehen, die Gerichtsrat Wilhelm in Entweder-Oder angesprochen hatte. Der Verstand übernimmt hierbei eine dezidiert aktive Rolle, indem er das Christentum in seinem genuin paradoxalen Charakter wahrnimmt. Diese „Erkenntnis“ erfasst, dass das Christentum paradox ist. Sie weiß zugleich auch, dass sie dieses Paradox nicht logisch auflösen kann, ohne den Kern der christlichen Wahrheit preiszugeben.298 Diesem Spannungsfeld muss und soll sich – so Climacus‘ Diktum – der werdende Christ permanent aussetzen. In der Konzeption der Religiosität B wird die Schnittstelle zu einseitig subjektivistischen Entwürfen deutlich. Das Paradox im kierkegaardschen Sinne ist insofern als theologische Kategorie zu verstehen, als dass es sich auf theologische Kontexte bezieht, die wiederum auf eine „höhere“ – die christliche – Wahrheit verweisen. Deren Gehalt lässt sich über den Verstand nicht prüfen, verifizieren oder ableiten. Und auch nicht – darauf insistieren die kierkegaardschen Pseudonyme wiederholt – über eine „mediierende“ Vernunft (hier spielt Kierkegaard wieder auf Hegel an) einholen und vermitteln.299 Den prekären und revolutionären Charakter der religiösen Existenz unter christlichen Vorzeichen und vor dem Horizont der Paradoxthematik stark zu machen, muss als eine der zentralen Absichten der kierkegaardschen Überlegungen betrachtet werden. So liegt auch die Intention von Furcht und Zittern darin, am Beispiel der biblischen Episode zu Abraham das Prekäre am Christentum – seinen Paradoxcharakter – offenzulegen. Nicht um einer Ethik der Grausamkeit

297 AuN, S. 1089. 298 Climacus schreibt, davon, dass das Dasein sich mit dem Paradox gewissermaßen arrangieren müsse: „das will nicht heißen, daß er das Paradox verstünde, sondern nur, daß er versteht: dies ist das Paradox“. PB, S. 633. 299 Kurt Wuchterl bemerkt eine Abschwächung des Paradoxen bei Hegel und spricht von einer „Aufwertung“ bei Kierkegaard: „Hegel betrachtet die Antinomienproblematik bei Kant als Vorstufe zu seiner Dialektik, die über die rein antinomische Behauptung von These und Antithese hinaus zur spekulativen Vermittlung zu kommen sucht. Während bei Hegel die Abschwächung des Paradoxen zur reinen Antithetik bestehen bleibt, erfolgt bei Kierkegaard eine Aufwertung. Das Paradoxe betrifft die Grenze des Denk- und Sagbaren und die Frage nach der Mitteilbarkeit des Eigentlichen und wird so konstitutiv in dem angegebenen Sinn der Anzeige einer höheren Wahrheit.“ Kurt Wuchterl: Beitrag „Paradox I. Philosophisch“ in: Gerard Müller u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Band 15, Berlin, 1995, S. 726-731, hier S. 728.

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das Wort zu reden, vielmehr um die Unbedingtheit des Anspruchs an den Einzelnen zu exemplifizieren, der sein „inneres Handeln“ gerade nicht über die „Anwendung“ von vernünftigen Rationalitätskriterien rechtfertigen kann.300 In Furcht und Zittern argumentiert Silentio, dass das Paradox im theologischen Kontext einen eigenen epistemischen Status beansprucht. Die Frage: „Gibt es eine besondere theologische Logik, deren Verhältnis zur allgemeinen Logik oder zu spezifischen Logiken dann erklärt werden müßte?“301, würde Silentio mit einem klarem „Ja“ beantworten. Subjektivität als Wahrheit und Unwahrheit Silentio charakterisiert in Furcht und Zittern die religiöse Existenz als „Glaube in kraft des Absurden“302, der bar jeder Rückversicherung zu „vollziehen“ ist. Nach Silentio exemplifiziere die biblische Szene mit Abraham, von dem Gott fordert, seinen Sohn zu opfern, dieses in seiner Spannungsgeladenheit nicht zu überbietende prekäre Moment einer Grenzüberschreitung, die Silentio als die „Suspension des Ethischen“303

300 In diese Richtung argumentiert auch Joachim Boldt: „Das Verhältnis von Zurückweisung der Objektivität und Zurückgewinnung der Wirklichkeit und des Anderen im subjektiven Zugang zu ihr wird anhand des Opferwillens Abrahams in bildhafter Form zum Ausdruck gebracht. […] Der abschreckenden Wirkung, die diese Darstellung haben muss, kann man, zusammen mit der als gegeben vorausgesetzten Vorbildhaftigkeit Abrahams für den Leser, die Funktion zusprechen, zu einer dauernden Beschäftigung mit dem Glaubensbegriff zu führen und die selbstgewisse Annahme, dieser Begriff sei leicht verständlich und die zugehörige Haltung leicht zu praktizieren, erschüttern zu sollen.“ Joachim Boldt: Das Abrahamsopfer in Furcht und Zittern als Bild für Kierkegaards Glaubensbegriff, in: Joakim Garff/Jon Stewart (Hg.): Kierkegaard Studies. Yearbook 2006, Berlin/New York, 2006, S. 219–240, hier S. 240 (im Folgenden: Boldt, Abrahamsopfer, Seitenzahl). 301 Henning Schröer: Beitrag „Paradox II. Theologisch“, in: Gerard Müller u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Band 15, Berlin, 1995, S. 731-737, hier S. 731(im Folgenden: Schröer, Seitenzahl). 302 FuZ, S. 36. 303 Die von Silentio im Kapitel Problemata I als Untertitel Gibt es eine teleologische Suspension des Ethischen? formuliert Frage, beantwortet er eindeutig mit „Ja“: „Abrahams Geschichte enthält also eine teleologische Suspension des Ethischen. Er ist als der Einzelne emporgehoben worden über das Allgemeine. Das ist das Paradox, welches sich nicht vermitteln lässt.“ FuZ, S. 60.

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bezeichnet. Auch hier haben wir es mit einer Bewegung zu tun, die eine weitere Facette der zuvor als „inneres Handeln“ beschriebenen pragmatischen Dimension darstellt. Insbesondere aus dieser Suspensionskategorie heraus ergibt sich das Problematische der kierkegaardschen Glaubenskonzeption – für Buber stellt sich mit diesem Suspensionsgedanken „die Frage der Fragen, die den Vortritt vor jeder anderen hat: ob du wirklich vom Absoluten angesprochen wirst oder von einem seiner Affen.“304 Nach ethischen Maßstäben handelnd müsste Abraham die Forderung von sich weisen. Das häufig in Predigten angeführte Argument der „Prüfung“ lässt Silentio nicht gelten, da mit dem Hinweis auf eine „Prüfung“ die Handlungsmotivation Abrahams – und diese ist es, die Silentio zu ergründen sucht – eben nicht plausibilisierbar gemacht werden könne. Gerade das fundamentale Alleingestelltsein, das Nichtwissen darüber, ob Gott ihn denn „nur“ prüfe, das Nichtwissen, ob es wirklich Gott war, der zu ihm sprach, die Unmöglichkeit mit anderen darüber zu sprechen, seien die entscheidenden Momente dieser außergewöhnlichen Situation.305 Handlungsinitiierend für Abraham kann also nach Silentio kein wie auch immer geartetes Wissen gewesen sein, sondern ein Glaube, der sich einem rationalen Nachvollzug verschließt, der in „kraft des Absurden“ keine Rationalitätskriterien als handlungserklärend anführen kann.306

304 Martin Buber: Werke. Schriften zur Philosophie, Band 1, München, 1962, S. 592. 305 Tilo Wesche hebt treffend hervor, dass gerade „jeder Versuch des Wissens, das Hervorgehen der Lebensverständigung aus Unbestimmtheit einzuholen, an dessen Paradoxalität abprallt.“ Wesche, Kierkegaard, S. 105. 306 Die von Silentio mantraartig am Beispiel Abrahams wiederholte Losung, dass der christliche Glaube als Paradox aufzufassen sei, wendet sich gegen Hegels These von einem über dem Glauben stehenden absoluten Wissen. Gleichermaßen kann sie als ein provozierender Gegenentwurf zur kantschen Absolutsetzung des Kategorischen Imperativs gelesen werden. Darüber hinaus hatte Kant im Streit der Fakultäten sowie in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft dargelegt, dass Abraham gerade nicht hätte auf die „Stimme“ hören sollen, weil sie von ihm ein nicht zu rechtfertigendes Außerkraftsetzen des Ethischen forderte. Da es dem Angesprochenen unmöglich sei, Sicherheit darüber zu bekommen, ob es auch wahrhaftig Gottes Stimme sei, welche der Angesprochene vernehme, hätte Abraham den „Auftrag“ nicht ausführen dürfen. Im Streit der Fakultäten heißt es: „Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ‚Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; dass aber du, der du mir erscheinst Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden, wenn sie (die Stimme – P.K.) auch vom sichtbaren Himmel herabschallte.“ Immanuel Kant: Streit der Fakultäten, in: Immanuel Kants sämtliche Werke, herausgegeben von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert, Band 10,

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Der in Furcht und Zittern exemplifizierte „Glaube in kraft des Absurden“ wird als Isolationsmodus entfaltet, der in letzter und auf die Spitze getriebener Konsequenz das Ethische transzendieren und suspendieren kann. Im Unterschied zu einem „tragischen Helden“307, der seine Handlung durch die Gemeinschaft anerkannt und gerechtfertigt weiß, muss der „Ritter des Glaubens“308, der somit zum Verwandten im Geiste Abrahams wird, auf diesen Beistand verzichten. Die von Silentio ausschweifend umschriebenen Charakteristika der Unvermittelbarkeit, der Nichtbegründbarund Nichtableitbarkeit einer religiösen Dimension, in der die Möglichkeit eines radikalen ethischen Konflikts angelegt ist, bilden für ihn den Schlüssel zum Verständnis der von ihm besprochenen Bibelpassage: „Entweder gibt es also ein solches Paradox, daß der einzelne in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht, oder Abraham ist verloren.“309 Die revolutionäre Volte eines Christentums im kierkegaardschen Sinne besteht darin, dass Gott sich nicht durch die Kategorie des Allgemeinen

Leipzig, 1983, S. 321. Auch in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft argumentiert Kant gegen einen theistischen Wunderglauben: „wenn etwas als von Gott in einer unmittelbaren Erscheinung desselben geboten vorgestellt wird, das doch geradezu der Moralität widerstreitet, bei allem Anschein eines göttlichen Wunders es doch nicht ein solches seyn könne (z. B. wenn einem Vater befohlen würde, er solle seinen, so viel er weiß, ganz unschuldigen Sohn tödten).“ Immanuel Kant: Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, in: Immanuel Kants sämtliche Werke, herausgegeben von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert, Band 10, Leipzig, 1983, S. 102 (im Folgenden: Kant, Religion, Seitenzahl). An anderer Stelle schreibt er: „Die wahre alleinige Religion enthält nichts als Gesetze, d. i. solche praktischen Prinzipien, deren unbedingter Nothwendigkeit wir uns bewußt werden können, die wir also durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart anerkennen.“ Kant, Religion, S. 202. 307 Silentio schreibt: „Der tragische Held bleibt noch in den Grenzen des Ethischen. Er läßt seinen Ausdruck des Ethischen sein Telos in einem höheren Ausdruck des Ethischen finden.“ FuZ, S. 54. Später bemerkt er: „Der eigentlich tragische Held opfert sich selbst und all das Seine für das Allgemeine. Sein Tun, jede Regung seines Herzens gehört dem Allgemeinen, er ist offenbar und in diesem Offenbarsein der Ethik lieber Sohn. Das paßt nicht auf Abraham, er tut nichts für das Allgemeine, und er ist verborgen.“ FuZ, S. 96. 308 Silentio kommentiert: „Mit Abraham verhält es sich anders. Er überschritt mit seiner Tat die Grenzen des ganzen ethischen Gebietes. Sein Telos lag höher, außerhalb des Ethischen; im Hinblick auf dieses Telos suspendierte er das Ethische.“ FuZ S. 54f. An anderer Stelle heißt es: „Der wahre Glaubensritter ist immer die absolute Isolation […] ist das Paradox, er ist der einzelne, absolut nur der einzelne, ohne alle Konnexionen und Weltläufigkeiten.“ FuZ, S. 70. 309 FuZ, S. 102.

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und Ethischen einfangen läßt. Als absoluter Bezugspunkt transzendiert der Status des christlichen Gottes – nach Silentio-Kierkegaard – den noch unter dem Primat des Ethischen/Allgemeinen stehenden antik-griechischen Bezugsrahmen. Für Silentio bewegt sich das „Ethische“ im Rahmen des „Allgemeinen“ als Kategorie der Gesellschaft bzw. der Gemeinschaftlichkeit. Der tragische Held – Silentio führt hier den Mythos vom mykenischen König Agamemnon an, der seine Tochter Iphigenie opferte – kann seine Tat, so grausam sie auch sein mag, nach ethischen Maßstäben rechtfertigen. Das „Allgemeine“ als Staatsräson, Polis, Gesetz, gesellschaftliche Norm usw. steht hier über dem Einzelnen. Agamemnon stellt sich mit seiner Opferung in den Dienst seines Volkes/Staates. Unter dieser Prämisse erscheint die Opferung als hinnehm- und vermittelbare Verletzung ethischer Grundsätze zu Gunsten eines höheren ethischen Prinzips. Im Falle Abrahams, so Silentio, kehrt sich das Verhältnis um: Der Einzelne setzt sich über das Allgemeine hinweg und vollzieht dadurch den Bruch mit dem Allgemeinen. Die sich daran abzeichnende Grenzlinie markiert der von Silentio häufig angeführte Telos-Begriff. Agamemnon findet für sein Handeln Rückversicherung in der Gemeinschaft, er soll sogar so agieren, und somit bleibt das Allgemeine gültig und durch dieses wird er zum tragischen Helden. Aus Perspektive Silentios zeigt die biblische Episode, dass die Kategorie des Besonderen, exemplifiziert in Abraham als der Einzelne, systematisch nicht eingehegt werden kann.310 Allerdings geht es Silentio nicht

310 Silentio setzt seine Überlegungen ausdrücklich in kontrastierenden Bezug zu Hegel, wenn er schreibt: „Die Liebe hat wenigstens in den Dichtern ihre Priester, und zuweilen hört man eine Stimme, welche sie in Ehre zu halten versteht. Doch über den Glauben hört man kein Wort, wer redet zur Ehre dieser Leidenschaft? Die Philosophie geht darüber hinaus. Die Theologie sitzt geschminkt am Fenster und buhlt um ihre Gunst, bietet der Philosophie ihre Schönheit feil. Es soll schwierig sein, Hegel zu verstehen, doch Abraham zu verstehen, das ist eine Kleinigkeit. Über Hegel hinauszugehen, das ist ein Wunderwerk, aber über Abraham hinauszukommen, nichts leichter als das!“ FuZ, S. 33. Slök kommentiert folgendermaßen die Überlegungen zur Suspension des Ethischen: „Das ist offenbar der entscheidende Punkt; im Grunde genommen schafft eben diese Idee von Gott als außerhalb stehender Instanz alle Schwierigkeiten. Wenn Gott sich nicht innerhalb des Systems befindet und nicht Ausdruck der Gültigkeit des Systems ist, dann ist in jedem Augenblick eine Möglichkeit vorhanden, die nicht aus dem System selbst hervorgeht. Steht man aber selbst innerhalb dieses Systems und betrachtet die Möglichkeit einer solchen Möglichkeit, so muss sie begreiflicherweise als das Unmögliche erscheinen, als das, was sich nicht denken lässt. Johannes‘

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darum, Ethik und Glauben gegeneinander auszuspielen und als unvereinbar zu konfrontieren. Vielmehr veranschaulicht er die grundsätzlich verschiedenen „Epistemologien“311 beider Bereiche. Die immer wiederkehrende Rede von der paradoxalen Grundstruktur des Glaubens macht vielmehr das rationale Scheitern zur Bedingung, ohne die sich die religiöse Existenz nicht „verstehen“ lässt. Das rationale Begründungsdefizit im Sinne der Unmöglichkeit einer Plausibilisierbarkeit und rationalen Rekonstruktion ex ante oder ex post wird somit konzeptionell festgeschrieben. Die von Johannes de Silentio in Furcht und Zittern veranschaulichte Radikalität des Christentums und dessen enormer Anspruch an das Dasein – eine „Suspension des Ethischen“ denken zu sollen, um daran zu scheitern und trotzdem das Christentum als „Glaube in kraft des Absurden“ zu wollen – wird von Climacus in der Nachschrift mit veränderter Nuancierung analytisch vertieft. Die in dieser Schrift umfassend präsente religiöse Existenz findet ihre prägnante Form in der von Climacus beschriebenen Religiosität B. Die für das kierkegaardsche Denken paradigmatische Verschränkung der beiden Ebenen verstandes- und vernunftkritisch sowie pragmatisch tritt am deutlichsten in der Konzeption der Religiosität B hervor. Climacus behauptet in der Nachschrift eine Dialektik zwischen einer Religiosität A, die für ein allgemein unkonkretes religiöses Verhältnis des Daseins steht, sowie einer speziell im Christentum sich konkretisierenden Religiosität B. Religiosität A steht für die emotive Dimension des Glaubens, für das „Pathetische“ – das Dasein wird hier als engagiertes, involviertes und als nicht allein interessenlos reflektierendes gedacht. Religiosität A deutet damit auf die existenzielle Dimension des Glaubens.312 In Abgrenzung zu ra-

bekannte Formel des Glaubens, dass der Glaube kraft des Absurden sei, erhält von hier aus ihren Bedeutungsgehalt.“ Johannes Slök: Die griechische Philosophie als Bezugsrahmen für Constantin Constantius und Johannes de Silentio, in: Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg.): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main, 1979, S. 280-302, hier S. 299f. 311 Boldt, Abrahamsopfer, S. 221. 312 Wilhelm Anz hat hier – meines Erachtens etwas vereinseitigend – den Rückschluss gezogen, dass Kierkegaard das „Wie“ des Glaubens über den Inhalt, das Was, gestellt habe. Anz bemerkt: „Es bleibt nicht bei dem schlichten Gehorsam des Glaubens im Verhältnis zum Wort, sondern es kommt hinzu die dialektische Erwägung, was am Wort Gegenstand sein kann und was nicht. Die Aneignung enthält also in sich eine kritische Reflexion, von der Luther nichts weiß. Sie reflektiert nicht nur auf den Gehalt des Dogmas, sondern zugleich darauf, dass nur

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tionalistischen und idealistischen Entwürfen behauptet die Religiosität A einen grundlegenden Bezug zum „Existenzproblem“313 und weist auf die fundamentale Bedeutung des Christentums, „Existenzmitteilung“314 zu sein, als dem „entschiedensten Ausdruck des existenziellen Pathos zu einer ewigen Seligkeit“315, als „Dialektik der Verinnerlichung“316. Mit anderen Worten: Wo die Existenz auf dem Spiel steht, muss das Dasein mit vollem Einsatz dabei sein. Es kann sich dazu nicht neutral, im Medium der Abstraktion“317 räsonierend verhalten. In diesem Kontext ist Climacus‘ Aussage „die Subjektivität ist die Wahrheit“318 zu verorten. Wahrheit wird an die Subjektivität des Daseins sowie an dessen existenzielles Eingebundensein gekoppelt: „Hier ist eine solche Definition von Wahrheit: die objektive Ungewißheit, in der Aneignung der leidenschaftlichsten Innerlichkeit festgehalten, das ist die Wahrheit, die höchste Wahrheit, die es für einen Existierenden gibt.“319 Während Religiosität A sich prinzipiell auf jede religiöse Praxis beziehen lässt, bleibt Religiosität B – nach Climacus – allein an das Christentum gebunden. Die Religiosität A ist allerdings in der Religiosität B enthalten und mitgeführt.320 In der Religiosität B verklammern sich die emotive und kognitive Dimension des Glaubens.

313 314 315 316 317 318 319 320

die existentielle Dimension des Dogmas Gegenstand des Glaubens sein kann […]. Zeigt sich nicht hier, daß der Glaubensakt (fides qua creditur) Herr wird über den Glaubensinhalt (fides quae creditur)? Das Was des Glaubens wird durch das Wie der Existenz gesetzt. Gewinnt nicht die ontologische Souveränität der Subjektivität ein Übergewicht gegenüber der Glaubenswahrheit? Soweit ich Kierkegaard verstehe: ja!“ Wilhelm Anz: Kierkegaard und der deutsche Idealismus, Tübingen, 1956, S. 68. Allerdings betont Climacus mit der Religiosität B ja gerade das Ineinssetzen beider Momente – des Wie und des Was. Climacus bindet die existenzielle Dimension an das Christentum, in seinem paradoxen Charakter. Insofern ist auch das Was von entscheidender Bedeutung. AuN, S. 1087. AuN, S. 1089. AuN, S. 1087. Dies ist abermals als Kritik an Hegel zu verstehen. Kurz darauf spezifiziert er die ewige Seligkeit als „Unsterblichkeit“ und „ewiges Leben“ – siehe dazu: AuN, S. 1089. AuN, S. 1087. AuN, S. 1087. AuN, S. 819. AuN, S. 819. Climacus schreibt: „Die Religiosität A muß beim Individuum erst zur Stelle sein, ehe davon die Rede sein kann, daß es auf das dialektische B aufmerksam werde.“ AuN, S. 1087.

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Die entscheidende Zuspitzung erfolgt mit der Qualifizierung der Religiosität B als paradoxe Glaubensstruktur. Im Scheitern des Verstandes anerkennt das Dasein, was Climacus schon in den Philosophischen Brocken im Hinblick auf den Glauben und die Konstitution der christlichen Wahrheit, die der Mensch von „außen“ erst bekomme, erläutert hatte: „Die Subjektivität ist die Unwahrheit“321.

321 AuN, S. 822. Emanuel Hirsch hat ganz richtig darauf hingewiesen, dass Kierkegaard den Subjektivitätsbegriff unterschiedlich verwendet. Zum einen kann sich „Subjektivität“ auf das Pathos bzw. die emotive Dimension beziehen – hier erläutert als Religiosität A. Zum anderen auf die christliche Dogmatik – hier steht der Mensch aufgrund des Sündenfalls außerhalb der Wahrheit. Vgl. dazu: Emanuel Hirsch: Anmerkungen zur Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift, in: Sören Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachricht, übersetzt von Hans Martin Junghans, Gesammelte Werke, 16. Abteilung, Düsseldorf/Köln, 1957, S. 303. Die beiden Sätze von der Subjektivität als Wahrheit und Unwahrheit zugleich erscheinen als Widerspruch. Dazu schreibt Rasmussen: „Die Grundgedanken Kierkegaards gehören gleichzeitig einer idealistischen wie auch einer nachidealistischen Theorietradition an, und gerade diese Gleichzeitigkeit in ihrer vollen Widersprüchlichkeit ist […] der Witz des kierkegaardschen Textes.“ Anders Moe Rasmussen: Dialektik und Paradox. Theorie oder Mitteilungsform. Koreferat zu Vagn Andersen, in: Kierkegaardiana 16, herausgegeben von Joakim Garff, Arne Grön, Eberhard Harbsmeier und Julia Watkin, Kopenhagen, 1993, S. 71-78, hier S. 71. Man könnte es auch so formulieren, dass das Christentum für Climacus nur über beide Seiten zu haben ist. Das Pathos (Wahrheit der Subjektivität) ist ebenso entscheidend wie das Paradox (Unwahrheit der Subjektivität, weil der menschliche Verstand bzw. die menschliche Vernunft das Paradox nicht unaufgelöst stehen lassen kann, aber an dem Bemühen, es zu „lösen“ scheitern muss). In diesem Kontext ist Kierkegaards Anliegen, liest man ihn hier mit den Analysen in Die Krankheit zum Tode zusammen, mit einer vermeintlichen „Vernichtung“ der Subjektivität in Verbindung gebrachte worden. So bei Canan: „Aus dieser Bestimmung des Dialektischen ergibt sich dann Kierkegaards Strategie, die selbstsichere, auf sich gestellte Subjektivität des modernen Menschen zu ‚vernichten‘“. Alberto Carillo Canan: Verzweiflung und Reue bei Kierkegaard, in: Kierkegaardiana 21, herausgegeben von Stacey Ake, Darío González u. a., Kopenhagen, 2000, S. 116-127, hier S. 116. Siehe auch S. 120, wo er konstatiert: „Daraus wächst die programmatische Forderung Kierkegaards, nach der ‚das Selbst gebrochen‘ […] werden muss – das ist knapp formuliert das Programm, das moderne, auf sich gestellte Subjekt zu vernichten.“ Diese These ist problematisch, da das in der Religiosität A vorausgesetzte Pathos, ebenso wie die Paradoxalität der christlichen Wahrheit, nur im Kontext der Aneignung dieser Wahrheit seinen vollen Sinn entfaltet. Das Problem der Aneignung bleibt an die Subjektivität des Einzelnen gebunden, insofern wird diese in der Religiosität B auch nicht „vernichtet“.

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Die paradoxale Konzeption der Religiosität B ist so auch als Grenzbestimmung zu lesen, die weniger eine Absage an reflexive Bemühungen bedeutet. Erst über diese Grenzbestimmung wird die eigenwillige climacussche Glaubenskonzeption sinnkritisch verstehbar. Die Religiosität B fordert vom Dasein, so Climacus, die christliche Wahrheit als Paradox zu denken, als einen unauflösbaren Widerspruch, zu dem sich das Dasein existierend zu verhalten hat. Sie trägt einen unendlich hohen Anspruch an das Dasein heran, denn sie „will dem Glaubenden auch nicht einmal das Paradoxe sein […] denn das Martyrium des Glaubens (seinen Verstand zu kreuzigen) ist nicht das Martyrium eines Augenblicks, sondern gerade der Fortdauer“322. In dem von Climacus beschriebenen Akt der „Kreuzigung des Verstandes bei dem Glauben“323 lässt sich die Zusammenführung der beiden Stränge verstandes- und vernunftkritisch sowie pragmatisch paradigmatisch aufzeigen. Religiosität A steht für die emotive, handlungs- und haltungsbezogene Dimension. Mit der in der Religiosität B festgeschriebenen Konzeption eines paradox-christlichen Glaubens erfolgt eine erkenntniskritisch gewendete Zuspitzung der Religiosität A. Zudem beschreibt die Religiosität B die Finalisierung und Neubestimmung einer „existenzphilosophisch“ und existenziell grundierten Glaubenskonzeption, die eine Verstandes- sowie eine partielle Vernunftkritik impliziert. Heideggers ontologische Differenz, Kritik an rationalistischen Vernunftkonzeptionen Der folgende Abschnitt zeigt, dass sich auch im Rahmen der durch Heidegger behandelten Seinsfrage eine den heideggerschen Texten inhärente Binnenstruktur ausmachen lässt, die als eine ineinander verschraubte Helix zweier Stränge beschrieben werden kann. Ebenso wie bei Kierkegaard winden sich auch bei Heidegger entlang der von ihm fokussierten

322 AuN, S. 1089. In diesem Kontext hat Eberhard Harbsmeier recht, wenn er von Kierkegaard als „Philosoph der Tat“ redet, denn um die eben angesprochene Aneignung der Wahrheit dreht sich die gesamte Nachschrift. Siehe: Eberhard Harbsmeier: Der Begriff der Innerlichkeit bei Sören Kierkegaard, in: Kierkegaardiana 20, herausgegeben von Joakim Garff, Arne Grön und Eberhard Harbsmeier, Kopenhagen, 1999, S. 31-50, hier S. 32. 323 AuN, S. 1093.

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Seinsthematik ein vernunftkritischer sowie ein pragmatischer Strang. Beide sind aneinander verwiesen und bilden nur einen Ausschnitt eines aus mehreren Schichten bestehenden komplexen Binnengefüges systematischer Ebenen im Werk Heideggers.324 Es wurde in Kapitel 1 auf Heideggers grundsätzlich vernunftkritischen Anspruch verwiesen, den er mit der Setzung des existenzialen Paradigmas einschließlich der damit beabsichtigten Ausarbeitung der Existenzialien voranträgt. Heidegger knüpft nachweislich an Fragestellungen an, die seit der klassisch-antiken Ontologie präsent sind – dazu zählt auch die Frage nach dem Status bzw. nach den Gründen von Sein bzw. Seiendem. Diese Bezugnahme ist zugleich der Einsatzpunkt einer umfassenden Neubestimmung überlieferter philosophischer Konzeptionen durch Heidegger, da es ihm um die Destruktion dieser Positionen geht. Diese Destruktion der Ontologie325 impliziert eine vernunftkritische Stoßrichtung, die er, zieht man weitere Texte Heideggers hinzu, als Technik-, Metaphysik-, Wissenschafts-, Logikkritik etc. ausdifferenziert und zugleich in einem Zusam-

324 Thomas Rentsch unterscheidet zum Beispiel allein in Sein und Zeit fünf sich überlagernde, ineinander greifende Schichten. Neben einer Ontologie-/Metaphysik-Schicht und einer phänomenologischen Ebene weist Rentsch auf eine an Kants Schematismuskapitel anschließende transzendentalphilosophische Perspektive sowie eine durch Dilthey, Simmel und Lask inspirierte lebensphilosophisch-hermeneutische Dimension. Als fünfte Schicht wird eine existenziell-religiöse bzw. theologische Schicht genannt, ohne die Heideggers Überlegungen zu Angst, Tod, Schuld und Gewissen unverständlich blieben. Siehe: Thomas Rentsch: „Sein und Zeit“. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 2003, S. 51-80, hier insbesondere S. 53-57. Diese Schichten bestimmen mit unterschiedlicher Gewichtung auch das spätere Werk Heideggers, in dem ein sprachkritischer Grundzug verstärkt zum Ausdruck kommt. Das betrifft insbesondere Heideggers Hölderlinvorlesungen, auch die Tatsache der verschiedenen Schreibweisen eines nicht-objektivierbaren „Seins“, ebenso wie seine eigenen späten kryptischen Texte, die gleichermaßen als systematische „Folge“ seiner sprachkritischen Reflexionen zu verstehen sind. 325 Siehe der Aufriss auf S. 39f. von Sein und Zeit. Zudem zeigt schon § 6 „Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie“ diese Richtung an, der gesamte 2., nicht erschienene Teil beabsichtigte eine Kritik der aristotelischen, cartesischen und kantschen Positionen. So hält Emil Angehrn fest: „Heideggers Werk ist […] wesentlich Kritik der Überlieferung“ und „Heideggers Philosophieren vollzieht sich wesentlich in Form historischer Kritik“. Emil Angehrn: Kritik der Metaphysik und der Technik, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 2003, S. 268-297, hier S. 268.

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menhang denkt. Damit pulverisiert sich der argumentative Kern sämtlicher Interpretationen, die den „gesamten“ Heidegger existenzialistisch kurzschließen. Diese vernunftkritisch-kognitivistische Perspektive im Denken Heideggers soll im Folgenden am Beispiel der ontologischen Differenz umrissen werden. Heideggers Vorhaben, den besonderen Status des Seins auszuloten und angemessen zu denken, fußt auf seiner These der „ontologischen Differenz“326 von Sein und Seiendem. Obwohl diese Unterscheidung Sein und Zeit anleitet, ist die einschlägige Wendung erst in der Vorlesung zum Sommersemester 1927 Die Grundprobleme der Phänomenologie327 so expliziert. Heißt es in Sein und Zeit: „Das Sein des Seienden »ist« nicht selbst ein Seiendes“328, erklärt Heidegger in der erwähnten Vorlesung: „Wie ist dieser Unterschied von Sein und Seiendem zu fassen? […] Wir müssen den Unterschied zwischen Sein und Seiendem eindeutig vollziehen können, um dergleichen wie Sein zum Thema der Untersuchung zu machen. […] Wir bezeichnen sie als die ontologische Differenz, d. h. als die Scheidung zwischen Sein und Seiendem.“329 Der Umstand, so Heideggers grundsätzliche These, dass dieses Sein nur verdinglicht, objektiviert, vergegenwärtigt werden kann, sprich: dass wir das Sein als Seiendes denken und darüber sprechen, als ob es Seiendes ist, hat Heidegger gleichermaßen als „Auszeichnung“ und „Ausweglosigkeit“ des Daseins charakterisiert. So schreibt er: „Also nehmen wir doch die Ausweglosigkeit als das Prädikat, mit dessen Hilfe die entscheidende Aussage über das Sein gewonnen wird. Sie lautet: Das Sein wird jedesmal bei jedem Versuch, es zu denken, in ein Seiendes verkehrt und so im Wesen zerstört; und das Sein lässt sich dennoch als das von allem Seienden Unterschiedene nicht verleugnen. Das Sein selbst hat die Wesensart, das

326 Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, Sommersemester 1927, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, HGA 24, Frankfurt am Main, 3. Auflage, 1997, S. 22 (im Folgenden: GdP, Seitenzahl). 327 Nicht zu verwechseln mit der Vorlesung aus dem Wintersemester 1919/20, die ohne Artikel als Band 58 der Heidegger-Gesamtausgabe unter dem Titel Grundprobleme der Phänomenologie erscheint. 328 SuZ, S. 6. 329 GdP, S. 22. An anderer Stelle hält er fest: „Das Problem des Unterschieds von Sein überhaupt und Seiendem steht nicht ohne Grund an erster Stelle. Denn die Erörterung dieses Unterschieds soll erst ermöglichen, eindeutig und methodisch sicher dergleichen wie Sein im Unterschied von Seiendem thematisch zu sehen.“ GdP, S. 322.

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menschliche Denken in diese Ausweglosigkeit zu bringen. Wenn wir das wissen, wissen wir doch schon Wesentliches über das Sein.“330 Die angeführten Zitate stehen für eine thematische Verlagerung der heideggerschen Reflexionen. Nach Sein und Zeit, in dem es um das Sein des Daseins geht (dazu im Anschlusskapitel mehr), spricht Heidegger, insbesondere seit den 1930er Jahren, über das Sein als solches bzw. über die (Un-)Möglichkeit, es „an sich“ denken zu können. Er reflektiert die Notwendigkeit und Nichthintergehbarkeit des Objektivierens im Sprechen über das Sein sowie im Denken des Seins. Die in ihrer Konsequenz und Radikalität behauptete und reflektierte Unmöglichkeit, auf ein solches Sein unmittelbar „zugreifen“ zu können, ist ein zentraler Aspekt des heideggerschen Denkens, das vor einem transkategorialen und transrationalen Horizont entfaltet wird. Der skizzierte Ansatz kann verstanden werden als vernunftkritische Reflexion im Hinblick auf unser Selbst- und Weltverhältnis, im Hinblick auf unser Verstehen, im Hinblick auf unser Verhältnis zum „Sein“ und der (Un-)Möglichkeit, das Sein (unverstellt) vergegenwärtigen zu können. „Sein“ zeichne sich eben gerade in seiner kategorialen Nichtfassbarkeit sowie epistemischen Entzogenheit aus. Insofern haben wir es hier mit einem radikal vernunftkritischen Ansatz zu tun, der die Grenzen der Rationalität und Vernunft mit der Fokussierung auf die ontologische Differenz und auf das Sein bezogen zieht. Mit der Absicht eine Reflexionsdimension zu bestimmen, von der aus dieses Sein irgendwie sinnvoll gedacht werden kann, knüpft Heidegger bekanntermaßen bei den Vorsokratikern an. Er skizziert in den Beiträgen sein Vorhaben, über den ersten Anfang mittels Sprung zum anderen Anfang, die tradierten Denktraditionen aufzubrechen. Mit seiner fundamentalen Fragerichtung nimmt Heidegger auch eine der Fragen der Philosophie – „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“331 – neu in den Blickfang. Eine Frage, von der Heidegger meint, sie sei zunehmend nicht mehr gestellt bzw. falsch beantwortet worden. Diese scharfe These 330 Martin Heidegger: Grundbegriffe, Sommersemester 1941, herausgegeben von Petra Jaeger, HGA 51, Frankfurt am Main, 2. Auflage, 1991, S. 82 (im Folgenden: Gb, Seitenzahl). 331 Martin Heidegger: Was ist Metaphysik, in: Wegmarken, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, HGA 9, Frankfurt am Main, 3. Auflage, 2004, S. 122 (im Folgenden: WiM, Seitenzahl). Zu einer umfassenderen Darstellung siehe: Daniel Schubbe/Jens Lemanski/Rico Hauswald (Hg.): Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage, Hamburg, 2013.

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begründet er mit einer in der fortschreitenden Philosophiegeschichte sich vollziehenden rationalistischen Verengung des Denkens. So habe zum Beispiel Kant die Vernunft rationalistisch festgeschrieben und damit ihrem ursprünglichen Wesen grundlegend entfremdet: „Kants Hauptwerk, die »Kritik der reinen Vernunft«, erörtert die Kritik der reinen Vernunft auf dem Wege einer Logik und Dialektik. […] Mit dem Aufkommen der Herrschaft der ratio kehren sich alle Verhältnisse um. Die ratio wird zur Vernunft“332. Heidegger spricht der im akademischen Betrieb hochgehaltenen Disziplin der Logik die Möglichkeit ab, im „eigentlichen“ Sinne zu denken. Die von ihm anvisierte Seinsfrage könne mittels der Logik nicht adäquat angegangen werden.333 Sie repräsentiere „nur“ – verabsolutiert – eine reduktionistische Form des Denkens, die allerdings auf dem Weg sei, sich als „die“ Philosophie auszugeben: „Das Denken über das Denken hat sich im Abendland als »Logik« entfaltet. Sie hat besondere Kenntnisse über eine besondere Art des Denkens zusammengebracht. Die Logistik gilt jetzt vielerorts, vor allem in den angelsächsischen Ländern, schon als die einzig mögliche Gestalt der strengen Philosophie, weil ihre Ergebnisse und ihr Verfahren sogleich einen sicheren Nutzen für den Bau der technischen

332 Martin Heidegger: Was heißt Denken, herausgegeben von Paola-Ludovica Coriando, HGA 8, Frankfurt am Main, 2002, S. 214 (im Folgenden: WhD, Seitenzahl). 333 Walter Bröcker meint diesbezüglich: „Heideggers Angriff gegen die Logik wird gerade deswegen geführt, weil sie nach seiner Meinung nur eine ganz bestimmte, und zwar technische Auslegung des Denkens ist und das eigentliche, ursprüngliche und wahre Wesen des Denkens mehr verhüllt und verstellt als offenbar macht.“ Walter Bröcker: Heidegger und die Logik, in: Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Königstein, 1984, S. 298-304, hier S. 300 (im Folgenden: Bröcker, Heidegger und die Logik, Seitenzahl). Bröcker argumentiert weiter, dass Heideggers Logikverständnis fehlgleitet sei, da er fälschlicherweise den „Gegenstandsbereich“ der Logik auf das „Vorhandene“ reduziere und Heideggers Thesen somit in einen „Kampf gegen die Logik“ mündeten: „Da aber Heidegger nicht sieht, daß die formallogische Struktur des Denkens vom Reichtum oder der Armut der bedachten Welt und des menschlichen Selbstbezuges gar nicht abhängt, da er vielmehr die Logik deutet als die Auslegung des Denkens der auf das Vorhandene reduzierten Welt, wird das Bemühen, den Begriff der Welt als des Alls des Vorhandenen zu überwinden, zu einem Kampf gegen die Logik.“ Bröcker, Heidegger und die Logik, S. 303. Diese Sicht Bröckers übersieht meines Erachtens, dass Heidegger der Logik weniger ihren formallogischen Charakter abspricht, als dass er eben aufgrund ihres formallogischen Charakter abspricht, die ontologische Differenz zu denken.

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Welt abwerfen. Die Logistik beginnt daher heute in Amerika und anderswo als die eigentliche Philosophie der Zukunft die Herrschaft über den Geist zu übernehmen.“334 Heidegger präsentiert hier seine umfassende Kritik an einem vermeintlich rationalistisch-überfrachteten Anspruch der Logik, alles – und damit auch das „Sein“ – fassen, erklären, ableiten zu können335: „Der schlechteste Weg zu dieser Einübung im Denken aber wäre eine akademische Vorlesung über »Logik«; die übliche schulmäßige »Logik« denkt, falls sie überhaupt denkt, höchstens »über« das Denken […] Dieses wesentliche Denken lernen wir durch keine »Logik«.“336 Ein angemessenes Denken des Seins dürfe nach Heidegger nicht den Schemata der Logik folgen: ob nun in aristotelischer, leibnizscher, kantscher, fregescher, neukantianischer, neopositivistischer Ausprägung. Dementgegen setzt Heidegger eine esoterisch anmutende Metaphorik, in der – um eines der zahlreichen Beispiele hier zu nennen – von einem „Erwachen“ die Rede ist. Zugleich ist er darauf aus, sich gegenüber mystischen Erschließungsmodi abzugrenzen: „Um das Sein zu denken, bedarf es nicht der feierlichen Auffahrt des Aufwandes einer verzwickten Gelehrsamkeit, aber auch nicht absonderlicher und ausnahmehafter Zustände nach Art der mystischen Versenkungen und Schwelgereien in einem Tiefsinn. Es bedarf nur des einfachen Erwachens in der Nähe jedes beliebigen und unscheinbaren Seienden, welches Erwachen plötzlich sieht, daß das Seiende »ist«“.337 Das letztgenannte Zitat zeigt deutlich, wie nahezu sämtliche Reflexionen Heideggers – verlassen sie ihren kritischen „Raum“ und gehen sie bezüglich der Seinsfrage in eine Position über – den wissenschaftlich-rationalen Diskursrahmen sprengen, nach eigenem Anspruch sprengen müssen. Sie bilden dann einen freischwebend-ungesicherten eigenen (Heidegger-)Kosmos, der sich jedem kritischen Zugriff mit dem Argument einer rationalistischen Verengung entzieht.

334 WhD, S. 23. 335 Systematisch deckt sich diese Kritik mit dem kierkegaardschen, gegen Hegel gerichteten Einwand, dass „ein System des Daseins“ nicht gegeben werden könne. 336 Gb, S. 19. 337 Martin Heidegger: Parmenides, Wintersemester 1942/43, herausgegeben von Martin S. Frings, HGA 54, Frankfurt am Main, 2. Auflage, 1992, S. 222.

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Das Sein und die Frage der Letztbegründung Mit dem erklärten Paradigma der ontologischen Differenz verknüpft Heidegger die in der Philosophiegeschichte stetig gestellte Frage nach dem letzten Grund. Wir gehen damit auf eine dritte vernunftkritische Abzweigung ein. Hatten wir in Kapitel 1 Heideggers revolutionären Anspruch erläutert, der mit dem Denken und der Explikation der Existenzialien einhergeht, und soeben die vernunftkritischen Implikationen der ontologischen Differenz erläutert, lässt sich diese Perspektive in Heideggers Analysen zu einem behaupteten „grundlosen“ Sein weiterverfolgen. Die schon in der Antike thematisierte Frage der Letztbegründung, zum Beispiel in den aristotelischen Untersuchungen zu den vier Gründen des Seienden und dessen Überlegungen zum „unbewegten Beweger“, findet durch Leibnizens Postulierung des Satzes vom zureichenden Grund (Monadologie, § 32) eine rationalistische Festschreibung. Heidegger argumentiert, dass mit diesem bestimmenden und identifizierenden „Denkstil“ alles als Seiendes gedacht und kausallogisch verknüpft würde – zum Preis einer Einebnung der alles tragenden ontologischen Differenz. Das Sein sei gerade durch seine „Grundlosigkeit“ ausgezeichnet, die nicht im Sinne eines tradierten ratio-Verständnisses fassbar ist: „Insofern Sein als Grund west, hat es selber keinen Grund. Dies jedoch nicht deshalb, weil es sich selbst begründet, sondern weil jede Begründung, auch und gerade diejenige durch sich selbst, dem Sein als Grund ungemäß bleibt. Jede Begründung und schon jeder Anschein einer Begründung müßte das Sein zu etwas Seiendem herabsetzen. Sein bleibt als Sein grundlos“.338 Heidegger macht hier eine transrationale bzw. vorrationale339 Vernunftkonzeption stark. Das in der ontologischen Differenz gedachte Sein entzieht sich nach Heidegger einer solchen kausallogischen Verankerung: „Sein »ist« im Wesen: Grund. Darum kann Sein nie erst noch einen Grund haben, der es begründen sollte. Demgemäß bleibt der Grund vom Sein weg. Der Grund bleibt ab vom Sein […] Insofern das Sein als solches in sich gründend ist, bleibt es selbst grundlos. Das ‚Sein‘ fällt nicht in den Machtbereich des Satzes vom Grund, sondern nur das

338 Martin Heidegger: Der Satz vom Grund, Pfullingen, 1965, S. 185 (im Folgenden: SG, Seitenzahl). 339 Siehe hierzu: Christian Iber: Interpretationen zum Deutschen Idealismus. Vernunftkritik im Namen des Seins, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 2003, S. 194-202, hier S. 200f.

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Seiende“340; an anderer Stelle konstatiert er: „Sein und Grund – das Selbe“.341 Die Problematik der Letztbegründung bezieht Heidegger auch auf die von ihm als solche bezeichneten „ontotheologischen“ Gotteskonzeptionen, die Ausdruck eines kategorienbezogenen, „vorhandenheitsontologischen“ Denkens seien. Gott werde in prominenten theologischen Entwürfen als causa sui gesetzt und somit einem objektivierten Verständnis preisgegeben. Dass sich Heideggers Denken diffus zwischen Theologie und Philosophie bewegt und religiöse Züge zeitigt, wird deutlich, wenn er einen „göttlichen Gott“ andenkt: „Demgemäß ist das gott-lose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher“.342 Das letzte, siebente Kapitel seiner Beiträge („Der letzte Gott“) weist auf die krypto-theologische Dimension, auf die der Titel hin finalisiert wird. Und nicht von Ungefähr spricht Heidegger in dem zehn Jahre nach seinem Tod veröffentlichten Spiegel-Interview ebenfalls von diesem letzten Gott.343 Rico Gutschmidt hat in diesem Kontext sehr überzeugend gezeigt, dass Heideggers Konzept des „göttlichen Gottes“ als eine „post-theistische Religiosität“ verstanden werden kann, die eine (kognitivistische) Kritik an ontotheologischen, theistischen Gottesvorstellungen impliziert und trotzdem nicht (nonkognitivistisch) als „bloße“ Haltung bzw. Einstellung zur Welt profiliert wird.344

340 SG, S. 93. 341 SG, S. 129. 342 Martin Heidegger: Identität und Differenz, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, HGA 11, Frankfurt am Main, 2. Auflage, 2006, S. 70. 343 Siehe zur Konzeption des letzten Gottes: Figal, Zu Heidegger, S. 145-162. 344 Siehe dazu: Rico Gutschmidt: Sein ohne Grund. Die post-theistische Religiosität im Spätwerk Martin Heideggers, Habilitationsschrift zur Erlangung des Grades eines habilitierten Doktors der Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden, eingereicht 2015, noch nicht publiziert; sowie: Rico Gutschmidt: Aufklärung der Aufklärung. Heideggers Spätphilosophie und die philosophische Theologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 60/2, Berlin/Boston, 2012, S. 193-211. In diesem Kontext liegen wichtige Beiträge vor, die die Potenziale des heideggerschen Ansatzes, insbesondere seiner Spätphilosophie, für eine moderne, kritische Philosophische Theologie ausloten und fruchtbar machen. Zu einer umfassenden Konzeption einer Philosophischen Theologie siehe: Rentsch, Gott, 2005. Siehe auch: Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld: Philosophische Theologie im Umbruch: Ortsbestimmung. Philosophische Theologie inmitten von Theologie und Philosophie, Wien/Köln, 2011; sowie: Zenon Tsikrikas: Der Sohn des Menschen: Theodizee oder Theogonie des christlichen

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Heideggers Fokussierung der ontologischen Differenz ist, ebenso wie seine Reflexion über die Unmöglichkeit einer Letztbegründung von Sein, die systematische Schnittstelle, von der aus er seine Vernunftkritik als Kritik an rationalistischen, instrumentalistischen, „logistischen“ Vernunftentwürfen mit totalisierenden Deutungsansprüchen entfaltet. Solche „Denkformen“ würden die Frage nach dem Sein entweder abweisen oder die ontologische Differenz nicht bedenken und damit eine rationalistische Perspektive festschreiben. Die ontologische Differenz ist der Einsatzpunkt, von dem aus Heidegger sein Denken in die Waagschale wirft. Seine produktiven Ansätze, nehmen wir hier die Rede vom „Andenken“345, der „Anwesung“346, seine Reflexionen über (Hölderlins) Dichtung oder seine eigenen kryptischen Sprachspiele347, sind vor allem erst vor dem Hintergrund der Akzentuierung der ontologischen Differenz angemessen verstehbar. Seinsvollzug – seinsgeschickte Verborgenheit der ontologischen Differenz und seinsgeschickte Selbstgründung Im Rahmen seines dekonstruktiven Ansatzes entwirft Heidegger das kulturkritisch aufgeladene Narrativ einer intellektuellen Verfallsgeschichte

Gottes?, Paderborn u. a., 2012, hier das Kapitel: M. Heideggers theogonische Theologie als Darstellung seiner Wahrheitsidee, S. 215-220. 345 Martin Heidegger: Der Spruch des Anaximander, in: Holzwege, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, HGA 5, Frankfurt am Main, 2. Auflage, 2003, S. 365 (im Folgenden: SdA, Seitenzahl). 346 Martin Heidegger: Die Geschichte des Seyns, in: Die Geschichte des Seyns, herausgegeben von Peter Trawny, HGA 69, Frankfurt am Main, 2. Auflage, 2012, S. 60 (im Folgenden: GdS, Seitenzahl). 347 So wenn Heidegger schreibt: „Was Ding wird ereignet sich aus dem Gering des Spiegel-Spiels der Welt. Erst wenn, jäh vermutlich, Welt als Welt weltet, glänzt der Ring, dem sich das Gering von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen in das Ringe seiner Einfalt entringt. Diesem Geringen gemäß ist das Dingen selbst gering und das je weilige Ding ring unscheinbar fügsam seinem Wesen. Ring ist das Ding: der Krug und die Bank, der Steg und der Pflug.“ Martin Heidegger: Das Ding, in: Bremer und Freiburger Vorträge, herausgegeben von Petra Jaeger, HGA 79, Frankfurt am Main, 2. Auflage, 2005, S. 21. Auch wenn es mir nicht leichtfällt, enthalte ich mich an dieser Stelle eines Kommentars.

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der „bisherigen abendländischen Philosophie von Platon bis Nietzsche“348, nach dem jenes Sein, die Wahrheit des Seins etc. unangemessen als „Schema der durchgängigen Erklärbarkeit, wodurch jegliches mit jedem gleichmäßig zusammenrückt“349 gedacht wird. In seinen Texten der 1930er Jahre sieht Heidegger die Ursache dafür in einem dem Dasein entzogenen Vollzug eines übergeordneten Seinsgeschehens, das als Ge-stell in Die Frage nach der Technik oder auch als Machenschaft in den Beiträgen waltet. Heidegger deutet diese Tendenz als totalen Entfremdungsbefund, der in der „Not der Notlosigkeit“350, also in seiner Unbemerktheit und Unscheinbarkeit, umso dominanter seine Herrschaft ausübt: „Der UrsacheWirkungszusammenhang wird zum allbeherrschenden (Gott als causa sui). Das ist […] zugleich der Übergang zum Hervorkommen der Machenschaft als Wesen der Seiendheit im neuzeitlichen Denken. Die mechanistische und biologistische Denkweise sind immer nur Folgen der verborgenden machenschaftlichen Auslegung des Seienden.“351 Heidegger zeichnet mit der Machenschaft das pseudo-apokalyptische Szenario einer allumfassenden, alles durchherrschenden instrumentellen Vernunft, das sich problemlos mit dem kulturkritischen Verfallsnarrativ „von links“ – konkret der Frankfurter Schule – zusammenlesen lässt: „Dieses Wort (die Machenschaft – P. K.) nennt jenes Wesen des Seins, das alles Seiende in die Machbarkeit und Machsamkeit entscheidet. Sein besagt: Sicheinrichten auf die Machsamkeit, so zwar, daß diese selbst das Sicheinrichten in der Mache hält. Metaphysikgeschichtlich erläutert sich

348 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, HGA 65, Frankfurt am Main, 1989, S. 127 (im Folgenden: BzP, Seitenzahl). 349 BzP, S. 132. 350 Heidegger schreibt: „Die Frage nach dem »Sinn«, d. h. nach der Erläuterung in »Sein und Zeit«, die Frage nach der Gründung des Entwurfsbereichs, kurz nach der Wahrheit des Seyns ist und bleibt meine Frage und ist meine einzige, denn sie gilt ja dem Einzigsten. […] Im Zeitalter des endlosen Bedürfens aus der verborgenen Not der Notlosigkeit muß diese Frage notwendig als das nutzloseste Gerede erscheinen, über das man auch schon rechtzeitig hinweggegangen ist.“ BzP, S. 10f. Adornos Kritik an einer instrumentellen Vernunft, seine griffige Wendung des „Verblendungszusammenhangs“ ist hier ganz nah bei Heideggers „Not der Notlosigkeit“. Siehe dazu: Herrmann Mörchen: Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsverweigerung, Stuttgart, 1981. 351 BzP, S. 127.

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die Machenschaft durch die Seiendheit als Vorgestelltheit, in der es auf Herstellbarkeit in jeder Abartung abgesehen ist.“352 Heidegger bindet seine kulturkritisch aufgeladenen, vernunftkritischen Reflexionen in einen Zusammenhang mit dem Seinsgeschick ein. Das Übergehen der ontologischen Differenz, die Herrschaft sich verabsolutierender, rationalistischer, instrumenteller, szientistischer, logistischer Vernunft- und Wissenschaftskonzeptionen sind, so Heidegger, weniger vom Menschen selbstverschuldet. Diese Entwicklung wird als vom Sein geschickt gedacht – als Seinsgeschick. Der von Seubold bezeichnete Übergang von einer ersten transzendentalphilosophischen hin zu einer zweiten, seinsgeschichtlichen Phase353 mag schematisch erscheinen. Aber er markiert eine deutliche Tendenz Heideggers, eine Vollzugsdynamik des Seins, das mit personalen Eigenschaften als Quasi-Akteur ausgestattet wird, in Szene zu setzen. Heidegger legt das Sein bzw. die Wahrheit des Seins vom griechischen aletheia-Verständnis als Unverborgenheit354 aus; das Sein sei allerdings nur negativ erfahrbar – als Abwesenheit bzw. als Verborgenheit in Seiendem: „Das Griechische, das Christentum, das Neuzeitliche, das Planetarische und das im angedeuteten Sinne Abend-Ländische denken wir aus einem Grundzug des Seins, den es […] eher verbirgt als enthüllt. […] Das Sein entzieht sich, indem es sich in das Seiende entbirgt.“355 Dieter Thomä hat mit Blick auf Heideggers Textentwicklung zwischen einer ersten sowie einer zweiten „Totalisierung“ gesprochen. Während die erste Phase sich Auskunft vom Sein über den Selbstbezug des Daseins erhofft, stellt sich die zweite Totalisierung als ein Denken dar, das diese Nähe zum Sein

352 GdS, S. 46. 353 Seubold, Ereignis, S. 303. 354 Heidegger schreibt: „Sein ist als versammelnd-bergendes Aufgehenlassen jenes Erste, von woher Jegliches erst als das Jeweilige seines Versammelten aufgeht, hervorgeht ins aufgegangen-Unverborgene.“ SG, S. 182. 355 SdA, S. 336f. Heidegger sieht in Homers Ilias, speziell in Gestalt des dort als Seher auftretenden Protagonisten, eine angemessene Konzeption von Wahrheit, das sich als Wahrheits- und Seinsgeschehen dem Seher (dem Da-sein) offenbart: „Der Seher steht im Angesicht des Anwesenden, in dessen Unverborgenheit, die zugleich die Verborgenheit des Abwesenden als des Abwesenden gelichtet hat.“ SdA, S. 347.

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nicht mehr „gründen“ könne, sondern diese unvermittelt und plötzlich vom Sein initiiert sich herstellt.356 Das Nichtbedenken der ontologischen Differenz ist beim „späteren“ Heidegger nicht mehr eine phänomenologisch-hermeneutische Nachlässigkeit des denkenden Daseins, die als solche auch mittels des richtigen Zugriffs behoben werden könnte. Vielmehr zeichnet Heidegger hier eine vom Sein selbst überantwortete Seinsvergessenheit, die sich jenseits der Verfügungsgewalt des Daseins vollzieht. In der Vergessenheit der ontologischen Differenz sieht Heidegger ein Ereignis des Seins, das sich als Abwesendes in seiner Verborgenheit offenbart: „Die Seinsvergessenheit ist die Vergessenheit des Unterschiedes des Seins zum Seienden. […] Die Vergessenheit des Unterschiedes, mit der das Geschick des Seins beginnt, um in ihm sich zu vollenden, ist gleichwohl kein Mangel, sondern das reichste und weiteste Ereignis […] Was jetzt ist, steht im Schatten des schon vorausgegangenen Geschickes der Seinsvergessenheit. Der Unterschied des Seins zum Seienden kann jedoch nur dann als ein vergessener in eine Erfahrung kommen“357. Gleichwohl das Ereignis zwar in gewisser Weise ein anamnetisches Wiedererinnern bedeutet, gerade wenn das Sein als Vergessenes in „Erfahrung“ kommt, präge sie (die Vergessenheit) unser gesamtes Denken und Tun, Theorie und Praxis. In zunehmendem Maße radikalisiert Heidegger den Entzug der Verfügungsgewalt des Daseins über das Denken zugunsten eines seinsgeschickten Denkens, das sich über fehlgeleitete Theorie- und Praxiskonzeptionen artikuliert. Dies geht so weit, dass Heidegger ein Seinsgeschick denkt, das über die menschliche Freiheit –

356 Thomä schreibt: „Ein auffälliges Zeichen für die neue Phase seines Denkens ist der fast völlige Verzicht auf die z. B. in den ‚Beiträgen‘ zentrale Frage, wie in jenes ‚andere Denken‘ zu gelangen sei, wie der ‚Übergang‘ und die ‚Gründung‘ gelingen könnten. […] An dessen Stelle tritt der ‚Einblick in das was ist‘, der nicht mehr vom metaphysischen Status quo auszugehen hat. Die ‚seinsgeschichtliche‘ Vorverständigung wird abgelöst durch die Beschreibung eines ‚Ereignisses‘, das nicht mehr vorgedacht oder ‚gegründet‘ werden kann, sondern sich schlagartig, unvermittelt offenlegt. […] Die späten Texte zum ‚Ereignis‘ zeichnen sich dadurch aus, das die Brücken zu der Vergangenheit abgerissen sind, auf denen ein noch ‚übergängliches Denken‘ […] sich einst zum ‚anderen Anfang‘ vorwagen wollte“. Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910-1976, Frankfurt am Main, 1990, S. 777f. 357 SdA, S. 365.

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so, wie Heidegger sie versteht – entscheidet, das Seinsgeschick wird bei Heidegger zur Bedingung der Möglichkeit unseres Freiseins: „Das Geschick des Seins ist als Zuspruch und Anspruch der Spruch, aus dem alles menschliche Sprechen spricht. Spruch heißt lateinisch fatum. Aber das Fatum ist als der Spruch des Seins im Sinne des sich entziehenden Geschickes nichts Fatalistisches […], weil Sein, indem es sich zuschickt, […] den Menschen erst ins Freie seiner jeweils schicklichen Wesensmöglichkeiten befreit.“358 Der Möglichkeit menschlicher Freiheit, Entfaltung, Verwirklichung stellt Heidegger demnach eine Aktivität des Seins voran. Erst auf den Impuls durch das Sein kommt der Mensch zu sich und zu der Möglichkeit der Entfaltung der in ihm angelegten Potenziale. Verlagerung der Verfügungsgewalt im Kontext der „Kehre“ In seinen Schriften nach Sein und Zeit zeigt sich deutlich, wie Heidegger immer nachdrücklicher ein Vollzugsgeschehen des Seins fokussiert, das geschieht, sich „lichtet“, „entbirgt“ – die in Sein und Zeit durchgehend latenten, zu Teilen expliziten existenzialistischen Tendenzen treten, angesichts eines in seinen späteren Texten autodynamischen Seinsgeschehens, in den Hintergrund. Zugleich artikuliert sich die Akzentuierung dieses Seinsvollzugs in überwiegend passivistischen Konzeptionen menschlichen Seins. Das Da-sein „existiert“ nicht mehr, wie in Sein und Zeit, als ein auf sein eigenes Sein bezogenes, es „ek-sisitiert“ angesichts eines entkoppelten Seinsgeschehens, das sich diesem Da-sein als Entzogenes „offenbart“. Handelt Sein und Zeit noch von der „Existenz“, bevorzugt Heidegger später den Begriff der „Ek-sistenz“ und „Ek-stasis“, um dieses Ausstehen (oder auch Innestehen) sowie die Entrücktheit und den passiven Charakter des Da-seins hervorzuheben. Die Transformation zum „Dasein“, samt der darin mitgeführten „ganz anderen Bedeutung als der üblichen“359, zeigt die mit der Kehrenthematik deutlich werdende Verlagerung der Verfügungsdimension – weg vom Dasein – an; so schreibt Heidegger im Brief über den „Humanismus“: „Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins ‚geworfen‘, daß er ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte […] ob und wie der Gott und die Götter, die Ge-

358 SG, S. 158. 359 MdI, S. 61.

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schichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch.“360 Gegenüber der in Sein und Zeit beschriebenen „Definition“ des Daseins erweist sich der Charakter des später favorisierten Da-seins als signifikant anderer. Hatte das Dasein in Sein und Zeit prinzipiell humane Züge, wandelt es sich nun zu einem entmenschlichten Ort, der allein auf das Sein bezogener seinen eigentlichen Sinn erfüllt: „Das bedeutet: nur solange die Lichtung des Seins sich ereignet, übereignet sich Sein dem Menschen. Daß aber das Da, die Lichtung als Wahrheit des Seins selbst, sich ereignet, ist die Schickung des Seins selbst.“361 War in Sein und Zeit von einem Dasein die Rede, das sich im „Wählen der Wahl […] sein eigentliches Seinkönnen“362 aneignet, tritt später vermehrt eine heteronome Konstitution zu Tage; so heißt es in Unterwegs zur Sprache: „Das Ereignis ereignet den Menschen in den Brauch für es selbst.“363 Während Sein und Zeit dem Sein bzw. dem Sinn von Sein nachgeht, ist in Heideggers späteren Schriften sowohl eine nuancierte Änderung seiner „Grundfrage“ erkenntlich als eben auch die erwähnte Änderung der Schreibweise zentraler Begriffe. Das betrifft auch die Terminologie des zentralen systematischen Bezugspunktes: Das „Sein“ weicht dem „Seyn“ oder einem gekreuzt durchgestrichenen Sein.364 Diese Begriffsmodifikationen sind im Zusammenhang mit dem, was Heidegger als „Kehre“ bezeichnete, zu betrachten, wobei an dieser Stelle nicht diskutiert wird, ob Heidegger eine, zwei oder überhaupt (k)eine

360 BüH, S. 331. In den Beiträgen häufen sich solche radikalisierten passivistischen Daseinsentwürfe, so spricht er zum Beispiel kryptisch von der „Gründung des Da-seins, die Bereitung der Bereitschaft zur berückenden Entrückung in die Wahrheit des Seyns“. BzP, S. 407. 361 BüH, S. 336. 362 SuZ, S. 268. 363 Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen, 1959, S. 261. 364 In der Schrift Zur Seinsfrage von 1955 erläutert er den sowohl negativen als auch positiven Sinn dieser Schreibweise: „Die kreuzweise Durchstreichung wehrt zunächst nur ab, nämlich die fast unausrottbare Gewöhnung, ‚das Sein‘ wie ein für sich stehendes und dann auf den Menschen erst bisweilen zukommendes Gegenüber vorzustellen. […] Das Zeichen der Durchkreuzung kann nach dem Gesagten allerdings kein bloß negatives Zeichen sein. Es zeigt vielmehr in die vier Gegenden des Gevierts (Himmel, Erde, die Sterblichen, die Göttlichen – P. K.) und deren Versammlung im Ort der Durchkreuzung.“ Martin Heidegger: Zur Seinsfrage, in: Wegmarken, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, HGA 9, Frankfurt am Main, 3. Auflage, 2004. S. 411.

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„Kehre“ vollzog.365 Unstrittig ist, dass Heidegger seinen Lesern eine über die Zeitlichkeit des Daseins hinausgehende Analyse in Sein und Zeit – eine, die das Sein aus der Temporalität her versteht – zwar angekündigt, aber nicht eingelöst hat. Das Schwinden einer quasi aktivistischen Daseinskonzeption zu Gunsten einer gesteigerten Passivität im Sinne eines Entzugs einer ambivalenten Verfügungsgewalt ist ein wesentlicher Zug Heideggers späterer Texte. Dirk Mende hatte treffend festgehalten, dass Heidegger im Kontext seiner „Kehre“ die Ausarbeitung einer „positiv verstandenen Heteronomie durch das Sein“366 forciert habe. Diese – polemisch ausgedrückt – schleichende Entmachtung des Daseins wird auch deutlich, wenn Heidegger vom Menschen als „de(m) ek-sistierende(n) Gegenwurf des Seins“367 spricht. Das anders gewichtete Verhältnis von Entwurf-Geworfenheit in Heideggers Schriften nach Sein und Zeit dokumentiert diese Neubestimmung des Daseins hin zu einer heteronomistischen Konzeption. Auffällig ist zudem, dass Heidegger die Deutung seiner „Kehre“ im Zusammenhang mit abgrenzenden Erläuterungen gegen eine Vereinnahmung durch Sartre (und damit auch Kierkegaard) ausdifferenziert, speziell in seinem Brief über den „Humanismus“. In diesem Text werden paradigmatische Begriffsmodifikationen, die teilweise schon früher erfolgten, im Rahmen der Kehrenproblematik von Heidegger kontextualisiert. Heidegger ist hier entschieden daran gelegen sein Denken von jedweden „Humanismen“, die er als fehlgeleitete Subjektivitätsphilosophie charakterisiert, fernzuhalten. Seyn und Da-sein des „späteren“ Heideggers bleiben aneinander verwiesen und stehen in ihrem jeweiligen Vollzug in Bezug zueinander. Dasein wird zum Da-sein als „Platzhalter des Nichts“368, es ek-sistiert als „Sucher, Wahrer, Wächter“369 des Seins, es steht zur „Verfügung den Göttern“370, wobei ihm „die Flucht der Götter, in ihrer weitesten Entziehung

365 Siehe hierzu: Dieter Thomä: Stichwort: Kehre. Was wäre, wenn es sie nicht gäbe, in: Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 2003, S. 134-141. 366 Dirk Mende: Brief über den „Humanismus“. Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 2003, S. 247-258, hier S. 251. 367 BüH, S. 342. 368 WiM, S. 118. 369 BzP, S. 17. 370 BzP, S. 18.

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5. Kierkegaard und Heidegger: Verschränkung der Ebenen

das Nächste bleibt371“. Die Verschränkung von Seinsgeschehen bzw. Seinsvollzug und einem darin verklammerten Daseinsvollzug, die zunehmende Abwendung von aktivistischen hin zu passivistischen Daseinskonzeptionen verklammern sich zu der Diskussion nach einem bestimmten „Denkweg“ Heideggers. Eine in der Forschung immer wieder berührte Debatte, die Heidegger vor dem Hintergrund der eigens konstatierten „Kehre“ mitentfacht und zu der er selbst Widersprüchliches beigesteuert hat. Diese genannten komplexen Verwicklungen und Verklammerungen führen vor allem auch – und das ist für die hier bearbeitete Thematik relevant – zu diametral entgegengesetzten Deutungsmöglichkeiten seiner Texte. Denn wie Karl Löwith hier ganz treffen formuliert, geht es um die entscheidende „Frage nach der Begründung des menschlichen Daseins: entweder aus seinem eigenem, ‚eigentlichem‘ Sein, oder aus dem ganz andern ‚Sein‘. Das von sich aus das Dasein des Menschenwesens ‚ereignet.‘“372 Wir werden sehen, dass Heidegger in Sein und Zeit eine andere Perspektive einnimmt als die eben skizzierte und für seine Texte seit den 1930er Jahren so bestimmende.

371 BzP, S. 18. 372 Siehe: Karl Löwith: Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, in: Karl Löwith. Sämtliche Schriften, herausgegeben von Klaus Stichweh, Marc B. de Launay, Bernd Lutz und Henning Ritter, Band 8, Stuttgart, 1984, S. 124-235, hier S. 125.

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Widmeten sich die vorangestellten Kapitel dem Aufzeigen der existenzialen Schichten und Potenziale der kierkegaardschen Reflexionen, geht es in den kommenden Abschnitten darum, die existenziell-existenzialistischen Dimensionen des heideggerschen Denkens vor dem Hintergrund seiner Kierkegaardkritik zu erläutern. Zu diesem Zwecke werden wir Sein und Zeit heranziehen. In der Einleitung sowie in Kapitel 1 wurde dargelegt, dass Heidegger mit seiner Setzung des existenzialen Paradigmas einen radikalen Anspruch voranträgt, den ich als existenzphilosophische Wende zweiten Grades bezeichnet hatte. Analysiert man die „Anwendung“ dieses existenzialen Paradigmas in Sein und Zeit, kann gezeigt werden, dass Heidegger diesen Anspruch nicht konsequent einlöst. In seine Existenzialanalyse bettet er einen existenzialistischen Binnenhorizont ein und unterläuft so sein eigenes gegenüber Kierkegaard profiliertes Differenzkriterium. Heideggers Existenzbegriff und die darin angelegte existenzialistische Perspektive Gerät in Heideggers späteren Texten ein mehr und mehr der Verfügungsgewalt des Daseins entzogenes, sich ereignendes Seinsgeschehen373 in den

373 Walter Schulz stellt die von Heidegger immer wieder betonte Vollzugsdimension des Seins in einen Zusammenhang mit der begriffsgeschichtlichen Entwicklung von „Sein“ in der Philosophie, um mit Heidegger auf die unhintergehbare Faktizität des Seins zu weisen: „Gerade unsere Interpretation, die das Sein als einen durch die geschichtliche Entwicklung allererst konzipierbaren Begriff aufzeigte, suchte dies als Ergebnis herauszustellen: daß die Überbietung von Prinzipien dort zu Ende ist, wo sich die Philosophie der Subjektivität selbst zu Ende geführt hat: das hier und jetzt erscheinende Sein ist kein Prinzip. Es ist weder für sich vorkommend noch in meiner Subjektivität aufhebbar. Dieses Sein ist nichts vor dem Denken Stehendes, das objiziert werden kann. Es ist nur dort, wo das denkende Subjekt seine Ohnmacht erfährt, und zugleich seine Macht: daß es sich selbst nicht setzen und begründen kann, sondern sich hinzunehmen hat in seinem Da-

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thematischen Fokus, ist bis einschließlich Sein und Zeit – und vor allem dort – das Sein des Daseins der zentrale „Gegenstand“ seiner Reflexionen. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Tatsache, dass die Existenzialanalyse in Sein und Zeit die Frage nach dem Sinn von Sein vorbereiten soll: „Die ausdrückliche und durchsichtige Fragstellung nach dem Sinn von Sein verlangt eine vorgängige angemessene Explikation eines Seienden (Dasein) hinsichtlich seines Seins“.374 Um die Seinsfrage angemessen angehen zu können, differenziert Heidegger Schritt für Schritt die daseinsspezifischen Phänomene des „Inder-Welt-seins“, der „Sorge“, des „Mitseins mit Anderen“, der „Geschichtlichkeit“ sowie der als zentral aufzufassenden „Zeitlichkeit“375 aus, die als basale, nicht weiter reduzier- und ableitbare Zusammenhänge des Lebens gedacht werden. Damit ist erst einmal der „Untersuchungsbereich“ von Sein und Zeit abgesteckt: Die verhandelten Existenzialien beziehen sich auf das Sein des Daseins, von dessen Klärung Heidegger sich anschließend Aufhellung über das Sein als solches verspricht. Schauen wir im Folgenden auf die Verschränkungen und inhaltlichen Implikationen, die Heidegger in die zentralen Begriffe von Existenz, Dasein, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit hineinlegt. Denn an eben jene „Phänomene“

sein, welches sich immer schon vollzieht aus dem Sein, das alles Seiende seinem eigenem Vollzug überantwortet hat.“ Walter Schulz: Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers, in: Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Königstein, 1984, S. 95-136, hier S. 136 (im Folgenden: Schulz, Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers, Seitenzahl). 374 SuZ, S. 7. Auch in der kurz darauf erschienen Schrift Die Grundprobleme der Phänomenologie folgt Heidegger noch dem über die Analyse des Daseins eingeschlagenen methodischen Weg: „Sein und der Unterschied desselben von Seiendem kann nur fixiert werden, wenn wir das Verständnis von Sein als solches in den Griff bekommen. Das Seinsverständnis begreifen heißt aber, das Seiende zunächst verstehen, zu dessen Seinsverfassung das Seinsverständnis gehört, das Dasein. Die Herausstellung der Grundverfassung des Daseins, d. h. seiner Existenzverfassung, ist die Aufgabe der vorbereitenden ontologischen Analytik der Existenzverfassung des Daseins. Diese muss darauf zielen, ans Licht zu bringen, worin die Grundstrukturen des Daseins in ihrer Einheit und Ganzheit gründen.“ GdP, S. 322. 375 Heidegger schreibt: „Was die existenziale Analytik umfaßt, habe ich nach den wesentlichen Ergebnissen in meiner Abhandlung über ‚Sein und Zeit‘ vorgelegt. Das Ergebnis der existenzialen Analytik, d. h. der Herausstellung der Seinsverfassung des Daseins in ihrem Grunde lautet: Die Seinsverfassung des Daseins gründet in der Zeitlichkeit.“ GdP, S. 322.

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knüpft sich, so die hier ausgeführte These, eine existenzialistische Dimension, die für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung von Interesse ist. Heidegger weist auf die zwei entscheidenden Implikationen des von ihm verwendeten Existenzbegriffs. Zum einen grenzt er sich vom traditionellen existentia-Begriff ab. Die traditionelle existentia-Konzeption akzentuiert ein „Dass-sein“ im Sinne eines Wirklich-seins oder Real-seins. „Existenz“ dagegen mache „mehr“ als dieses bloß faktische Dass-sein aus. Heidegger bindet den Existenzbegriff an den des Daseins, womit er eine folgenreiche Weichenstellung vornimmt, mit der er sich eben so viel Erläuterungsbedarf wie Missverständnisse und unterschiedliche Lesarten einhandelte. In Sein und Zeit definiert Heidegger: „Das »Wesen« des Daseins liegt in seiner Existenz. Die an diesem Seienden herausstellbaren Charaktere sind daher nicht vorhandene »Eigenschaften« eines so und so »aussehenden« vorhandenen Seienden, sondern je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das“376. Heidegger führt hier, so Walter Schulz, den Weg des deutschen Idealismus weiter, mit dem die Subjektivität als eine fortschreitende Entsubstanzialisierung der Substanz konzipiert wird.377 „Existenz“ ist nach Heidegger eine besondere Auszeichnung des Daseins und muss sich ausschließlich – so die Konsequenz – auf das Dasein beziehen, während Heidegger den traditionellen existentia-Begriff ab sofort dem kategorial zu fassenden, nichtdaseinsmäßigen Seienden vorbehält: „existentia besagt ontologisch soviel wie Vorhandensein, eine Seinsart, die dem Seienden vom Charakter des Daseins wesensmäßig nicht zukommt. Eine Verwirrung wird dadurch vermieden, daß wir für den Titel existentia immer den interpretierenden Ausdruck Vorhandenheit gebrauchen und Existenz als Seinsbestimmung allein dem Dasein zuweisen.“378 Neben der Koppelung des Existenzbegriffs an den des Daseins weist Heidegger mit dem von ihm eingeführten Begriff der Jemeinigkeit auf die phänomenologische Eigenart des Daseins. Diese bestünde darin, dass a) das Dasein in verschiedenen Modi existieren kann, und b) die möglichen Seinsmodi des Daseins immer als zur Grundverfassung des Daseins gehörig betrachtet werden müssen – und nicht als ihm nicht wesenhafte Möglichkeiten. Dasein sei existierend immer eine Möglichkeit seiner selbst. Es 376 SuZ, S. 44. 377 Schulz, Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers, S. 99. 378 SuZ, S. 44.

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kann also nicht anders, als in möglichen Weisen seiner selbst zu existieren. In diesem Rahmen erhält Heideggers Konzeption der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit ihre systematische Fundierung. Mit dieser vorangestellten begrifflichen Klärung und „Definition“ des Existenzbegriffs führt Heidegger das vieldiskutierte Begriffspaar von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit ein, mit dem er abermals eine entscheidende zweite Weichenstellung vornimmt: „Und weil Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst »wählen«, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur »scheinbar« gewinnen. Verloren haben kann es sich nur und noch nicht sich gewonnen haben kann es nur, sofern es seinem Wesen nach mögliches eigentliches, das heißt sich zueigen ist. Die beiden Seinsmodi der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit […] gründen darin, daß Dasein überhaupt durch Jemeinigkeit bestimmt ist.“379 Existenz und Jemeinigkeit sind in der heideggerschen Konzeption so als Bedingungen der Möglichkeit eigentlichen und uneigentlichen Daseins zu verstehen. Zugleich schreibt Heidegger mit der Eigentlichkeitskonzeption eine implizite Teleologie in seine Existenzialanalyse ein, die sich an der Uneigentlichkeit als einem entfremdeten Daseinsmodus abarbeitet. Das Man(-selbst) und das Verfallen – „anthropologische“ Grundlegung der Entfremdung als Selbstentfremdung und ambivalenter Status der Alltäglichkeit Bezüglich der Antwort auf die Frage nach dem spezifischen Status und dem Verhältnis von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit möchte ich mich im Folgenden von einer Sein und Zeit geleiteten Perspektive aus nähern. In § 26 beschreibt Heidegger das, was wir als „soziale Welt“ oder „Sozialität“ beschreiben würden, als Existenzial des „Mitsein(s) mit Anderen“. Unvoreingenommen konstatiert Heidegger: „Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mit-welt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.“380 Würde man Sein und Zeit bis einschließlich zum § 26 lesen und hier halt machen, gewönne man zu Recht den Eindruck, als habe Heidegger hier 379 SuZ, S. 42f. 380 SuZ, S. 118.

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eine wertungsfreie Analyse des menschlichen Welt- und Mitweltverhältnisses vorgenommen.381 Nach § 26 folgt allerdings § 27 und hier führt Heidegger den Leser in die „schlechte“ Welt des „Man“ ein. Wir können nun nicht den gesamten Abschnitt 27 zitieren – die Phänomenologie der Uneigentlichkeit birst vor kulturkritischer Rhetorik. Auffallend ist, dass Heidegger das „Man“ vorerst als einen dem Dasein äußerlichen Akteur in Szene setzt: „Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus. Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon immer davongeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab.“382 Und Heidegger spitzt zu: „In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur.“383 Der Leser versichert sich bis zu dieser Passage des § 27 seiner Exklusivität und Individualität, denn das Man sind ja immer die Anderen. Dann jedoch kommt Heideggers Pointe, indem er das Man wiederum in die Selbstwelt des Daseins verlegt und darlegt, dass das Man „wir alle“ sind: „Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins. […] Zunächst »bin« nicht »ich« im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir »selbst« zunächst »gegeben«. Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so.“384 An diesem Punkt wird der hybride Charakter der heideggerschen Man-Konzeption sichtbar. Einerseits erscheint das Man als anonyme, dem Dasein äußerliche Instanz. Andererseits wird das Man als das Man-selbst in das Dasein verlegt und so zum alltäglichen Daseinsmodus und zur „anthropologischen Konstante“ erklärt.

381 Die Perspektive eines vorgängigen sinnermöglichenden Eingebundenseins in eine Welt, in eine soziale sowie in eine allen theoretischen, individualisierenden Entwürfen vorausgehende praktische Lebenswelt, ist von Rentsch als Paradigma der „Interexistentialität“ ausdifferenziert und weitergeführt worden. Siehe dazu: Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt am Main, 1990, insbesondere S. 155-165 (im Folgenden: Rentsch, Konstitution der Moralität, Seitenzahl). 382 SuZ, S. 127. 383 SuZ, S. 127. 384 SuZ, S. 129.

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Hinsichtlich Heideggers Differenzierung zwischen einem eigentlichen Selbst bzw. der Eigentlichkeit und einem alltäglichen Man-selbst bzw. der Uneigentlichkeit ließe sich polemisch psychologisierend von einer anthropologisch grundgelegten, multiplen bzw. schizophrenen Daseinskonzeption sprechen. Insbesondere im Kontext der Analysen zur Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit ist Heideggers Terminologie verwirrend, da hier eine verkappte Paradoxalität transportiert wird. Das heideggersche Dasein ist sich am nächsten im Modus der Uneigentlichkeit – also dann, wenn es nicht sein eigenes Selbst ist: „Zunächst ist das faktische Dasein in der durchschnittlich entdeckten Mitwelt. Zunächst »bin« nicht »ich« im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir »selbst« zunächst »gegeben«. Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so.“ 385 In diesem Kontext sollte sich vor Augen gehalten werden, dass Heideggers Existenzialanalyse bei der „durchschnittlichen Alltäglichkeit“386 ansetzt, die er wahlweise auch als „alltägliche Indifferenz“387 und „Durchschnittlichkeit“388 bezeichnet. In § 38 erläutert Heidegger das Verfallen als eine „Grundart des Seins der Alltäglichkeit“389. Es scheint vorerst so, als habe Heidegger der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit mit der „alltäglichen Indifferenz“ einen dritten Existenzmodus beiseite gestellt.390 Tobias Henschen und Michael Zimmermann bemerken hierzu ganz richtig, dass Heideggers Analysen zum alltäglichen Dasein Widersprüchlichkeiten aufweisen.391 Auch Dan Magurshak und Daniel Berthold-Bond

385 386 387 388 389 390

SuZ, S. 129. SuZ, S. 43. SuZ, S. 43. SuZ, S. 43. SuZ, S. 175. Zum Beispiel wenn Heidegger schreibt „auch in ihr (durchschnittliche Alltäglichkeit – P. K.) und selbst im Modus der Uneigentlichkeit liegt a priori die Struktur der Existenzialität.“ (SuZ, S. 44) Die Formulierung „und selbst“ legt nahe, dass es sich um eine derivierte Seinsweise bzw. gar um einen separierten Modus handeln könnte. 391 Henschen schreibt: „Es wird also bisweilen übersehen, dass der Text von Sein und Zeit in der Frage der Disparität der Alltäglichkeit mal als ein von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit unabhängiger Modus dargestellt ist, mal werden Alltäglichkeit und Uneigentlichkeit einfach identifiziert.“ Tobias Henschen: Gebrauch oder Herstellung. Heidegger über Eigentlichkeit. Wahrheit und phänomenologische Methode, Paderborn, 2010, S. 165. Michael Zimmermann bemerkt dazu: „correctly we must begin by distinguishing between everydayness and in-

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weisen auf eine eklatante Inkonsistenz im Hinblick auf die Frage nach dem systematischen Status der „Indifferenz“ und „Durchschnittlichkeit“. Betrachtet man Sein und Zeit in seiner Gesamtkonzeption und vergegenwärtigt man sich Heideggers Erläuterungen zum Existenzbegriff, speziell zur Jemeinigkeit, muss von einer grundsätzlich dualistischen Konzeption im Hinblick auf die Seinsmodi des Daseins ausgegangen werden. Heidegger setzt seine Untersuchung bei der durchschnittlichen Alltäglichkeit an, um von dieser ausgehend eine Daseinsstruktur aufzuzeigen, die

authenticity […], unfortunately […] Heidegger himself does not always distinguish adequately between these two phenomena." Michael Zimmerman: Eclipse of the Self. The Development of Heidegger's Concept of Authenticity, Athen, 1981, S. 44. Magurshak meint: „Being and Time, however, does not provide an analysis of this indifference. While it separates indifferent day-to-day existence and genuine inauthenticity, it nonetheless confuses these phenomena with one another. For example, the analysis of the One (das Man) as the mode of everyday existence says that in everydayness a person has neither found nor lost himself; yet the next statement identifies this indifference as ‘inauthenticity’. The same inconsistency emerges in the analysis of idle talk (Gerede) and curiosity (Neugier) as everyday modes of discourse and sight. Again, the reader expects an explication of the difference between ‘average’, ‘everyday’ discourse and sight and modes of these phenomena genuinely inauthentic since the text provides hints in that direction. Nonetheless, it finally asserts that both idle talk and curiosity characterize everyday disclosedness even as they constitute inauthentic existence.” Magurshak, Despair and Everydayness, S. 219. Einmal erscheint die Durchschnittlichkeit als eine dritte, neben Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit mögliche Seinsweise. Andererseits lassen sich eindeutige Textbelege anführen, die die „Durchschnittlichkeit“ als ein Attribut des „Man“ und der Uneigentlichkeit charakterisieren. Zum Beispiel wenn Heidegger im § 27 festhält: „In den herausgestellten Seinscharakteren des alltäglichen Untereinanderseins, Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung, Öffentlichkeit, Seinsentlastung und Entgegenkommen liegt die nächste ‚Ständigkeit‘ des Daseins. Diese Ständigkeit betrifft nicht das fortwährende Vorhandensein von etwas, sondern die Seinsart des Daseins als Mitsein. In den genannten Modi seiend hat das Selbst des eigenen Daseins und das Selbst des Andern sich noch nicht gefunden bzw. verloren. Man ist in der Weise der Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit.“ SuZ, S. 128. Bertold Bond weist ebenfalls auf diese Ambivalenz hin, wenn er festhält: „On the one hand, Heidegger insists that authentic Dasein is not cut off from its everyday being-in-the-world: ‘authentic existence,’ he writes, ‘is not something which floats above falling everydayness’. But on the other hand, notwithstanding Heidegger's claim to be presenting a completely neutral, non-pejorative phenomenology of Dasein's everyday world […], virtually all commentators conclude that he tends to fall into equating the everyday with inauthentic being.” Berthold-Bond, A Kierkegaardian Critique, S. 119.

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sich dann in die Modi Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit ausdifferenzieren lässt. In den § 27 und 38 koppelt er die Durchschnittlichkeit und das Man unmissverständlich aneinander und verwendet beide Termini synonym. In diesem Zusammenhang stimme ich nicht mit Dieter Thomä überein, der das Man als eine bloß kommunikative Instanz deutet392, denn das Man bezeichnet Heidegger als Daseinsverfassung, als Seinsart, die damit eine allein kommunikative Ebene sprengt.393 Heidegger identifiziert im weiteren Verlauf von Sein und Zeit also zunehmend die durchschnittliche Alltäglichkeit als Uneigentlichkeit: „Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst“394. In § 38 erfolgt durch Heidegger eine Ausdifferenzierung und systematische Einrahmung der Uneigentlichkeit im Kontext der Entfaltung seiner Fundamentalontologie. Die in diesem Paragraph enthaltenen Ausführungen zum Verfallen spiegeln die in Sein und Zeit sich durchziehende zwiespältige Rhetorik. Einerseits spricht er wertungsfrei und neutral von der Alltäglichkeit des Daseins, zugleich wird die Uneigentlichkeit, vor allem in den § 27 sowie § 35-38, unzweifelhaft in abschätziger und abwertender Rhetorik abgehandelt – ganz im Zeichen zeitgenössisch-konventioneller Kultur- und Zivilisationskritik. Eine fundamentale Ambivalenz liegt so auf einer zweifachen Ebene vor.

392 Dieter Thomä meint: „Dadurch, daß das ‚Man‘ auf Kommunikation beschränkt bleibt, ist über seine Bedeutung schon entschieden […]. Man kann also sagen, daß Heidegger mit dem Man eine Analyse moderner Massenkommunikation liefert.“ Thomä, Die Zeit des Selbst, S. 331f. 393 Im Folgenden zwei Zitate aus Sein und Zeit, die den über den kommunikativen Rahmen hinausweisenden Charakter des Man belegen: „Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins.“ SuZ, S. 129. § 38 beginnt mit den Sätzen: „Gerede, Neugier und Zweideutigkeit charakterisieren die Weise, in der das Dasein alltäglich sein »Da«, die Erschlossenheit des In-der-Welt-seins ist. Diese Charaktere sind als existenziale Bestimmtheiten am Dasein nicht vorhanden, sie machen dessen Sein mit aus. In ihnen und in ihrem seinsmäßigen Zusammenhang enthüllt sich eine Grundart des Seins der Alltäglichkeit, die wir das Verfallen des Daseins nennen.“ SuZ, S. 175. 394 SuZ, S. 129. Ein weiteres Beispiel für diese Aneinanderkoppelung bzw. Ineinssetzung: „Die genannte Tendenz des Mitseins, die wir die Abständigkeit nannten, gründet darin, daß das Miteinandersein als solches die Durchschnittlichkeit besorgt. Sie ist ein existenzialer Charakter des Man.“ SuZ, S. 127 Auch in der Hermeneutik der Faktizität erklärt Heidegger: „Zur Alltäglichkeit gehört eine gewisse Durchschnittlichkeit des Daseins, das »Man«, das worin die Eigenheit und mögliche Eigentlichkeit des Daseins sich verdeckt hält.“ HdF, S. 85.

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Zum einen lässt sie sich auf den nicht eindeutigen Status der Alltäglichkeit beziehen, die zu Beginn von Sein und Zeit als eigenständige, dritte Seinsweise angedeutet wird, zunehmend aber von Heidegger mit der Uneigentlichkeit ineinsgesetzt wird. Zum anderen bezieht sich die Ambivalenz auf die Rhetorik Heideggers (dazu mehr in Kapitel 8). Wiederholt weist Heidegger auf den grundlegenden „natürlichen“ Charakter des „Verfallens“, das die Alltäglichkeit des Man ausmacht und die „daher auch nicht als »Fall« aus einem reineren und höheren »Urstand« aufgefaßt werden“395 dürfe. Ebenso wäre die „ontologisch-existenziale Struktur des Verfallens […] auch mißverstanden, wollte man ihr den Sinn einer schlechten und beklagenswerten ontischen Eigenschaft beilegen, die vielleicht in fortgeschrittenen Stadien der Menschheitskultur beseitigt werden könnte“396. Andererseits belegt Heidegger die Verfallenheit und Uneigentlichkeit mit deutlich pejorativen Attributen (siehe fast durchgängig die § 27, 35-37), womit sich die Frage nach einer impliziten Teleologie stellt. Selbstentfremdungsdynamik mit variablem Richtungssinn Schon in der Hermeneutik der Faktizität legte Heidegger dar, dass das Dasein durch das Man „gelebt“397 werde. In dieser Hinsicht sagt auch Sein und Zeit nichts anderes: „Das Dasein wird als Man-selbst von der verständigen Zweideutigkeit der Öffentlichkeit »gelebt«, in der sich niemand entschließt, und die doch schon immer beschlossen hat.“398 Insbesondere in Sein und Zeit artikuliert Heidegger einen komplexen Entfremdungsbefund des Daseins: Er verankert die Entfremdungsdimension „anthropologisch“, er bestimmt „Entfremdung“ als einen daseinskonstitutiven Zustand. Zugleich erörtert er eine Entfremdungsdynamik. Die Ausführungen Heideggers erfolgen einerseits auf einer inhaltlich systematischen Ebene, die explizit den Anspruch einer neutralen Grundlagenreflexion hegt. Andererseits werden die Analysen durch eine kulturkritische Rhetorik unterlegt, die wiederum im Subtext eine teleologisch-normative Suggestionskraft entfaltet. Die in den § 27 sowie 35-37 behandelten Modi der Uneigentlichkeit – Gerede, Neugier und Zweideutigkeit –

395 396 397 398

SuZ, S. 176. SuZ, S. 176. HdF, S. 31. SuZ, S. 299.

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werden in § 38 als Seinsweise der Durchschnittlichkeit, als Verfallen, zusammengefasst. Heidegger gebraucht selbst den Entfremdungsbegriff in § 38 – hier legt er das Entfremdungsparadigma konstitutional grund: „In diesem beruhigten, alles »verstehenden« Sichvergleichen mit allem treibt das Dasein einer Entfremdung zu, in der sich ihm das eigenste Seinkönnen verbirgt. Das verfallende In-der-Welt-sein ist als versuchend-beruhigendes zugleich entfremdend.“399 Kurz darauf schreibt er: „Diese Entfremdung […] liefert es (das Dasein – P. K.) jedoch nicht an Seiendes aus, das es nicht selbst ist, sondern drängt es in seine Uneigentlichkeit, in eine mögliche Seinsart seiner selbst.“400 Der von Heidegger verwendete Entfremdungsbegriff muss im Hinblick auf die Charakterisierung des Verhältnisses von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit irritieren, da die Instanz des Man als dem Dasein wesenhaft – und gerade nicht fremd – erklärt wird. Terminologisch betrachtet zeigt die Rede vom Man-selbst an, dass Heidegger das Man nicht als eine dem Selbst des Daseins „fremde“ Instanz versteht. Im Gegenteil: Das Dasein ist das Man und es existiert „zunächst“ und „zumeist“ in der Seinsweise des Man. Das Dasein versteht und konstituiert seine Selbst- und Mitwelt als das Man-selbst, das es ist. Erstens hält Heidegger fest, dass das Man als eine positive (im Sinne von „gegeben“) Weise des Daseins selbst zu betrachten ist und damit einen „natürlichen“ Seinsmodus des Daseins darstellt; dies betont er sowohl in § 27: „Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins“401 als auch in § 38: „Das Nicht-es-selbst-sein fungiert als positive Möglichkeit des Seienden, das wesenhaft besorgend in einer Welt aufgeht. Dieses Nicht-sein muß als die nächste Seinsart des Daseins begriffen werden, in der es sich zumeist hält.“402 Entfremdet – als Beschreibung eines faktischen Zustands – ist dem Dasein das je eigene Sein, das in der „öffentlichen Ausgelegtheit“ des „Geredes“, dem gewöhnlich-alltäglichen Miteinander als Seinsmöglichkeit verdeckt bleibt. Zweitens ist das Man-selbst nicht nur entfremdete sondern ebenso entfremdende Instanz, weil es dem Dasein das je eigene Sein als Möglichkeit fernhält. Dem Dasein ist sein eigenstes Seinkönnen verschleiert, weil die-

399 400 401 402

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SuZ, S. 178. SuZ, S. 178. SuZ, S. 129. SuZ, S. 176.

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ses ihm – als Man-selbst existierend, das es „zunächst“ und „zumeist“ ist – als Möglichkeit verschleiert ist. Zugleich hegt das Man-selbst die Tendenz, jegliche Erschließungsmöglichkeiten des eigensten Seinkönnens zu verschleiern, indem es in Gerede, Neugier, Zweideutigkeit als Modi aufgeht und zugleich der Angst flieht, die Heidegger als Scharnier eines eigentlichen Seinkönnens konzipiert. Es ist allerdings die im Dasein selbst angelegte spezifische Struktur, die diese Dynamik evoziert. Heidegger attestiert dem Verfallen einen Bewegtheitscharakter und spitzt die erwähnte Entfremdungstendenz als ein in das Innere des Daseins verlegtes Geschehen zu: „Wir nennen diese »Bewegtheit« des Daseins in seinem eigenen Sein den Absturz. Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit.“403 Jene „Bewegtheit“ wird im weiteren Verlauf von Heidegger zu einem stetigen Ringen stilisiert, das wiederum Analogien zu theologischen Kontexten aufweist – als stetige Herausforderung, als eine Prüfung angesichts der aus dem Dasein selbst kommenden „Versuchungen“: „Die aufgezeigten Phänomene der Versuchung, Beruhigung, der Entfremdung und des Sichverfangens (das Verfängnis) charakterisieren die spezifische Seinsart des Verfallens“404. Hatte Heidegger insbesondere in § 27 eine Dynamik angedeutet, die von der Uneigentlichkeit hin zur Eigentlichkeit erfolgt („Zunächst ist das faktische Dasein in der durchschnittlich entdeckten Mitwelt. Zunächst »bin« nicht »ich« im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir »selbst« zunächst »gegeben«. Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so.“405), ändert er in § 38 den Richtungssinn: „Dieses ständige Losreißen von der Eigentlichkeit und doch immer Vortäuschen derselben, in eins mit dem Hineinreißen in das Man charakterisiert die Bewegtheit des Verfallens als Wirbel.“406 Das von Heidegger beschriebene „Losreißen“ suggeriert Gegenteiliges von dem, was er an anderen Stellen immer wieder konstatiert: dass die Uneigentlichkeit als Verfallenheit als die „nächste“ Seinsart des Daseins zu verstehen ist, die das Dasein „zunächst“ und „zumeist“

403 404 405 406

SuZ, S. 178. SuZ, S. 178. SuZ, S. 129. SuZ, S. 178. Kurz zuvor schreibt er: „Die Bewegungsart des Absturzes in die und in der Bodenlosigkeit des uneigentlichen Seins im Man reißt das Verstehen ständig los vom Entwerfen eigentlicher Möglichkeiten.“ SuZ, S. 178.

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ist. Letztgenanntes Zitat beschreibt eine Bewegung, nach der das Dasein immer wieder von seiner Eigentlichkeit gezerrt wird – weg von der Eigentlichkeit, hin zur Uneigentlichkeit: „Diese Entfremdung […] drängt es (das Dasein – P. K.) in seine Uneigentlichkeit, in eine mögliche Seinsart seiner selbst.“407 Auch Heideggers Rede vom „Sturz“ des Daseins „aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit“ (siehe Zitat oben) zeigt diese Richtung – von der Eigentlichkeit hin zur Uneigentlichkeit – an. Es erscheint mir angemessener von einer die heideggersche Daseinskonzeption tragenden Selbstentfremdungs-Struktur zu sprechen. Wir können anhand der zitierten und erläuterten Passagen sehen, dass Heidegger zu der Frage nach dem Richtungssinn der Entfremdungsdynamik konträre Antworten liefert – einmal von der Eigentlichkeit hin zur Uneigentlichkeit, einmal von der Uneigentlichkeit hin zur Eigentlichkeit. Wie lässt sich dieser ambivalente Status von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit angemessen fassen? Versuchen wir uns einer Erklärung zu nähern. Die Verfallenheit konzipiert Heidegger als ein Strukturmerkmal (als „Sein-bei“) eines gleichursprünglichen Zusammenhangs der im weiteren Verlauf von Sein und Zeit offengelegten existenzial-ontologischen Sorgestruktur. Diese konkretisiert Heidegger in einer seiner für ihn typischen Bindestrich-Schöpfungen als „sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“408. Das in der Welt befindliche Dasein existiert und versteht sich aus der Ausgelegtheit der Mitund Umwelt, aus den vorgegebenen Bezügen. Dieser Horizont des Man ist dem Dasein, so Heidegger, vorgegeben und zugleich ist das Selbst des Daseins als „Man-selbst“ Teil dieses Horizonts und erweist sich damit als ein diesen Horizont konstituierendes Dasein. Mit diesem „Horizont“ meint Heidegger nicht ein außerhalb des Selbst befindliches Etwas, sondern eine Weise des Selbst- und Weltverstehens und -auslegens sowie des Befindens. Heidegger bringt an diesem Punkt das Existenzial der Erschlossenheit ins Spiel: „Zur ontologischen Struktur des Daseins gehört Seinsverständnis. Seiend ist es ihm selbst in seinem Sein erschlossen. Befindlichkeit

407 SuZ, S. 178. 408 SuZ, S. 192. Die Verfallenheit bildet hier als „Sein-bei“ das dritte Moment der Sorge (erstes Moment: „sich-vorweg“ als Existenzialität/Entwurfscharakter des Daseins; zweites Moment: schon-sein-in Faktizität/Geworfenheitscharakter des Daseins).

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und Verstehen konstituieren die Seinsart dieser Erschlossenheit.“409 Daraus ergibt sich nach Heidegger folgender Zusammenhang: Eben weil das Dasein grundsätzlich auslegend, verstehend, gestimmt und empfindend existiert, kann es sich demnach auch „uneigentlich“ verstehen. Erschlossenheit ist also die Bedingung der Möglichkeit eines eigentlichen oder uneigentlichen Verstehens und Entwerfens. Dass sich das Dasein also vor sich selbst „verschließt“, sich „losreißt“, „stürzt“, „entschlossen vorläuft“, sich „angstbereit entwirft“ ist möglich, weil es, erstens, grundsätzlich dazu fähig ist und, zweitens, weil es notwendigerweise gar nicht anders kann, als sich immer irgendwie zu verstehen, zu verhalten, zu empfinden. Heidegger ist unbedingt daran gelegen, diesen existenzialen „Sachverhalt“ klarzustellen: „Im Verfallen geht es um nichts anderes als um das Inder-Welt-sein-können, wenngleich im Modus der Uneigentlichkeit. Das Dasein kann nur verfallen, weil es ihm um das verstehend-befindliche Inder-Welt-sein geht. […] Das Verfallen enthüllt eine wesenhafte ontologische Struktur des Daseins selbst, die so wenig die Nachtseite bestimmt, als sie alle seine Tage in ihrer Alltäglichkeit konstituiert.“410 Aus dieser Perspektive heraus kann Heidegger das sich Verschließen, sich Flüchten in das Man als eine „Privation einer Erschlossenheit“ bezeichnen: „Existenziell ist zwar im Verfallen die Eigentlichkeit des Selbst-seins verschlossen und abgedrängt, aber diese Verschlossenheit ist nur die Privation einer Erschlossenheit, die sich phänomenal darin offenbart, daß die Flucht des Daseins Flucht vor ihm selbst ist. Im Wovor der Flucht kommt das Dasein gerade »hinter« ihm her. Nur sofern Dasein ontologisch wesenhaft durch die ihm zugehörende Erschlossenheit überhaupt vor es selbst gebracht ist, kann es vor ihm fliehen.“411 Aufklären lässt sich die zuvor konstatierte vermeintliche Widersprüchlichkeit und Ambivalenz im Hinblick auf den Status von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, indem man sich die hier vorliegenden ineinander verschränkten Ebenen vergegenwärtigt. Systematisch gesehen sind die beiden Modi Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit als „Jemeinigkeit“ bestimmt und vor dem Hintergrund des grundlegenden Existenzials der „Erschlossenheit“ als gleichursprüngliche Seinsweisen definiert. Ontologisch betrachtet ist die Eigentlichkeit dem Dasein „näher“, da es sich hier sein Selbst angeeignet hat und es in diesem Modus sein Sein ist. Phänomenolo409 SuZ, S. 182. 410 SuZ, S. 179. 411 SuZ, S. 184.

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gisch betrachtet ist das Sein des Daseins „zunächst“ und „zumeist“ das Man. Das Dasein agiert in der Regel als uneigentliches, in diesem Modus zeigt es sich überwiegend. Aus dieser phänomenologischen Perspektive ist die Uneigentlichkeit dem Dasein „näher“. Im Hinblick auf die Frage allerdings, wie die Eigentlichkeit „entstehen“ soll, rückt die Thematik der „existenziellen Bezeugung“ der Eigentlichkeit in den Fokus. Heidegger versteht die Eigentlichkeit als eine aus der Uneigentlichkeit bzw. aus der „verfallenden Alltäglichkeit“ heraus ergriffene Selbstaneignung. Das Wählen der Wahl – Existenzialismus par excellence In seiner Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz vom Sommersemester 1928 konstatiert Heidegger: „Nun ist bei Kierkegaard viel die Rede vom Sichselbstwählen und vom Einzelnen, und wenn es mir darauf ankäme, das noch einmal zu sagen, was Kierkegaard gesagt hat, dann wäre das nicht nur ein überflüssiges Unternehmen, sondern ein solches, das gerade im Hinblick auf die Absicht Kierkegaards hinter ihm wesentlich zurückbleiben müsste.“412 Es ist offensichtlich, dass Heidegger hier Entweder-Oder, mit dem er sich nachweislich auseinandersetzte, im Blick hat, genauer die Briefe des Gerichtsrats Wilhelm.413 Heidegger spricht, als wäre Sein und Zeit nie erschienen bzw. von einem Alter ego verfasst. Im Hinblick auf das Zitat und Heideggers existenziale Positionierung gegenüber Kierkegaard ließe sich äußerst polemisch behaupten, dass Sein und Zeit, genauer in seiner Zuspitzung auf die Eigentlichkeitsanalyse hin, eben dieses nach eigener Aussage „überflüssige Unternehmen“ (siehe Zitat oben) darstellt. Zwar nehmen die Passagen zur Wahl in Sein und Zeit einen verschwindend geringen Raum ein. Jedoch platziert er sie an einer

412 Martin Heidegger: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, Sommersemester 1928, herausgegeben von Klaus Held, HGA 26, 2. Auflage, 1990, S. 245f. 413 Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, Wintersemester 1921/22, herausgegeben von Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns, HGA 61, Frankfurt am Main, 1985, S. 182.

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elementaren Schnittstelle: Es geht um die „daseinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens“414. Zitieren wir an dieser Stelle noch einmal aus den Briefen des Gerichtsrats, der an A gerichtet meinte: „Das Entweder-Oder, das ich aufstelle, ist also in gewissem Sinn absolut; denn es tritt sich darin gegenüber, ob man wählen will oder nicht wählen will“415; oder auch: „Die ursprüngliche Wahl wiederholt sich in jeder folgenden Wahl.“416; sowie: „Wer sich selbst gewählt hat, ist eo ipso aktiv.“417 Heidegger macht nun dieses Wahlmotiv für seine Eigentlichkeitskonzeption fruchtbar. Führen wir uns noch einmal zwei paradigmatische Äußerungen Heideggers vor Augen, die eine solche existenzialistische Perspektive unzweideutig einrahmen – Heidegger schreibt auf S. 42 von Sein und Zeit: „Und weil Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst »wählen«, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur »scheinbar« gewinnen“.418 Auf S. 129 heißt es: „Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden.“419 Diese existenzialistische Rahmung wird nun auf Seite 268 von Sein und Zeit konkretisiert. Die Briefe des B aus Entweder-Oder erinnernd und im Hinblick auf die eingangs erwähnte Abgrenzung Heideggers gegenüber Kierkegaard in seiner Vorlesung von 1928 erstaunen die folgenden Sätze, die dergestalt auch von B stammen könnten: „Das Sichzurückholen aus dem Man, das heißt die existenzielle Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein muss sich als Nachholen einer Wahl vollziehen. Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen der Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst. Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnen.“420 Genauer auf diese Passage schauend lassen sich unter anderem folgende Gemeinsamkeiten der Wahlkonzeptionen aus Sein und Zeit und Entweder-Oder ausdifferenzieren: 414 Die Überschrift des zweiten Kapitels des zweiten Abschnitts von Sein und Zeit lautet vollständig: Die daseinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens und die Entschlossenheit. 415 E-O, S. 457. 416 E-O, S. 487. 417 E-O, S. 497. 418 SuZ, S. 42. 419 SuZ, S. 129 420 SuZ, S. 268.

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Die Wahl: – bezieht sich auf den Akt des Wählens; nicht auf ein bestimmtes „nichtdaseinsmäßiges“ Für oder Wider, Dieses oder Jenes, sondern auf den Entschluss, zukünftig bewusst wählend zu existieren; – ist eine Selbstwahl, weil es um das Dasein geht, das sich sein „eigenstes“ Selbst aneignet; – hat ermöglichenden Charakter und ist damit grundlegend; – geht vom Dasein aus, sie liegt in der Verfügungsgewalt des Daseins; – ist im Sinne einer „inneren Handlung“ zu verstehen, weil sie sich auf das Selbst des Daseins und seine Einstellung zu sich und seinem Weltverhältnis bezieht; – gibt dem Dasein seine Freiheit – sie löst das Dasein aus den „Zwängen“ der ästhetischen bzw. uneigentlichen Existenz. Das Dasein lebt damit fortan aus seinem „eigensten“ Selbst (und nicht mehr aus dem ästhetischen bzw. dem Man-selbst heraus) und ermöglicht somit eine selbstbestimmte Existenz.

Heideggers Ausführungen zur Selbstwahl weisen einen genuin aktivistisch-existenzialistischen Charakter auf. Aufgrund der frappierenden Ähnlichkeit zu der Wahlkonzeption des B aus Entweder-Oder ist davon auszugehen, dass Heidegger diese schlichtweg adaptierte. Er überführt also zentrale Gedanken aus Entweder-Oder in die Konzeption der Eigentlichkeit von Sein und Zeit. Daraus ergibt sich hinsichtlich seiner Kierkegaardrezeption eine interessante Konstellation: Heidegger kritisiert Kierkegaard für ein unzureichendes existenziales Bewusstsein, übernimmt dabei jedoch zentrale Argumente des B in seine Existenzialanalyse. Das, was B als „innere Handlung“ gegenüber A so stark macht, profiliert Heidegger als eigentlichkeitsermöglichendes – „Wählen der Wahl“ – gegen ein „beliebig“ wählendes uneigentliches Dasein. Wir hatten darauf verwiesen, dass Heidegger schon auf S. 42 von Sein und Zeit das Wahlmoment als wesentlich für seine Daseins- und Existenzkonzeption bestimmt. Ziehen wir die zitierten Passagen von Seite 42 sowie Seite 268 von Sein und Zeit zusammen („Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnen“), zeigt sich: Heideggers Existenzialanalyse in Sein und Zeit birgt eine existenzialistische Schicht in Reinform, deren systematischer Ort an der Frage nach dem Umschlag von der Uneigentlichkeit hin zur Eigentlichkeit liegt. Inhärent ist ihr eine existenzialistische Grundierung. Ein Denken, das das Dasein als ein autonom wählendes bestimmt; ein Denken, das auf ein Dasein reflektiert, das sich sein Selbst im Sinne einer „inneren Handlung“ aneignet, wählt und „gewinnt“ – ein Denken, das somit eine existenzialistische und

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auch suggestiv teleologische Existenzkonzeption, auf die Eigentlichkeit hin entfaltet, impliziert. Vom Sein abgekoppelter Daseinsvollzug – Sein und Zeit als Existenzialanalyse des Seins des Daseins In der Diskussion um Heideggers „Kehre(n“)421 wird in der Regel von einer Verschiebung bzw. Umakzentuierung eines „früher“ überwiegend daseinsfokussierten hin zu einem „später“ vorrangig seins- und ereignisbezogenen Denken Heideggers gesprochen. Heideggers Programm einer Hermeneutik – wie er sie in seinen Schriften der frühen 20er Jahre entwirft – rückt unzweifelhaft das Selbst- und Weltverhältnis des einzelnen Daseins in ihr Zentrum. So schreibt er in der Hermeneutik der Faktizität, dass das „Thema der hermeneutischen Untersuchung […] je eigenes Dasein selbst“422 sei und es der richtig verstandenen Hermeneutik darum ginge, eine „wurzelhafte Wachheit seiner selbst (des Daseins – P. K.) auszubilden“423 sowie „der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen“424. Den darin entworfenen Ansatz vertieft und modifiziert Heidegger in Sein und Zeit. In diesem Kontext wurde erläutert, dass der in der Hermeneutik der Faktizität erwähnte Entfremdungsgedanke („Selbstentfremdung“) in den Analysen der Modi von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit von Sein und Zeit wiederkehrt, ausdifferenziert und existenzialistisch zugespitzt wird.

421 Siehe hierzu vor allem: Dieter Thomä: Stichwort: Kehre. Was wäre, wenn es sie nicht gäbe, in: Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar, 2003, S. 134-141; Karl Löwith: Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, in: Karl Löwith. Sämtliche Schriften, herausgegeben von Klaus Stichweh, Marc B. de Launay, Bernd Lutz und Henning Ritter, Band 8, Stuttgart, 1984, S. 124-235; Ivan Kordić: Die Kehre, die keine war? Das Denken Martin Heideggers – ein dauerhaftes Unterwegs, in: Damir Barbarić (Hg.): Das Spätwerk Heideggers : Ereignis – Sage – Geviert, Würzburg, 2007, S. 43-58; sowie: Thomas Sheehan: Geschichtlichkeit – Ereignis – Kehre, in: Existentia 11, 2001, S. 241-251; sowie: Ralf Becker: Der blinde Fleck der Anthropologie: Heideggers "Kehre" als unverfügbare Verfügbarkeit, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 3, Tübingen, 2004, S. 233-263. 422 PrL, S. 16. 423 PrL, S. 16. 424 PrL, S. 15.

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Zwar verknüpft Heidegger sein Programm einer Fundamentalontologie in Sein und Zeit mit der Frage nach dem (Sinn von) Sein. Da allerdings der dritte Abschnitt des ersten Teils ebenso wie der gesamte zweite Teil nicht erschien, bleibt Sein und Zeit der Daseinsanalytik verhaftet, ebenso wie die Seinsfrage nach wie vor unausgegoren in der Schwebe hängt. Heidegger hatte behauptet, „daß das, von wo aus Dasein überhaupt so etwas wie Sein unausdrücklich versteht und auslegt, die Zeit ist“425. Die Ausarbeitung einer solchen Zeitanalyse, von dem aus Sein verstehbar wird, erfolgt also nicht unmittelbar, sondern vorerst vermittelt über das Dasein. Den angekündigten Übergang von der Zeitlichkeit des Daseins zur Temporalität des Seins leistet Heidegger nicht. Vielmehr setzt er bei der Zeitlichkeit des Daseins an, denn hier sieht er das Vehikel, um die im Hintergrund stehende Frage nach dem Sein angehen zu können. Heidegger koppelt demnach die Zeitlichkeit des Daseins an eine Temporalitätsstruktur des Seins, die wiederum eigentlich den Fixpunkt von Sein und Zeit bildet: „Die fundamentale ontologische Aufgabe der Interpretation von Sein als solchem begreift daher in sich die Herausarbeitung der Temporalität des Seins. In der Exposition der Problematik der Temporalität ist allererst die konkrete Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins gegeben.“426 Insofern erhebt Sein und Zeit den Anspruch, zwei Zeitinterpretationen zu leisten. Die Temporalitätsanalyse hat Heidegger in Sein und Zeit nicht geliefert – die 437 Seiten des Buches analysieren die Verfasstheit des Daseins, das Sein des Daseins. Hatte Heidegger von Beginn an in Sein und Zeit dem Leser erläutert, die Frage nach dem Sein müsse über ein vorbereitende Analyse des Daseins erfolgen, relativiert er auf der vorletzten Seite die Notwendigkeit einer Umwegnahme über eine Daseinsanalytik: „Die Herausstellung der Seinsverfassung des Daseins bleibt aber gleichwohl nur ein Weg. Das Ziel ist die Ausarbeitung der Seinsfrage überhaupt. Die thematische Analytik der Existenz bedarf ihrerseits erst des Lichtes aus der zuvor geklärten Idee des Seins überhaupt.“427 Wir wissen, dass Heidegger in seinen Texten nach Sein und Zeit bezüglich der Klärung der Seinsfrage diesen Umweg über das Dasein nicht mehr nehmen wird – gleichwohl dann das Da-sein – in veränderter Schreibweise – ebenso wie die Ek-sistenz weiterhin der Ort bleiben, an dem das Sein grundsätzlich erfragbar, 425 SuZ, S. 17. 426 SuZ, S. 19. 427 SuZ, S. 436.

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6. Sein und Zeit als Daseinsanalyse mit pragmatisch-existenzialistischen Implikationen

zugänglich, erfahrbar, verstehbar etc. ist bzw. sich das Sein (überwiegend in seiner Entzogenheit als Seinsvergessenheit, Seinsverlassenheit) zeigt, offenbart etc. Aufgrund des nicht ausgeführten „Rests“ von Sein und Zeit, insgesamt fehlen zwei Drittel des ursprünglichen Plans, hat Heidegger existenzphilosophischen Etikettierungen und existenzialistischen Deutungen geradezu Vorschub geleistet. Was bleibt denn, zugespitzt gefragt, bis auf den im Aufriss und den angekündigten Gedanken zu einer Analyse der Temporalität des Seins von Sein und Zeit? Es bleibt eine Analytik des Daseins als „ontisch-ontologische Bedingung der Möglichkeit aller Ontologien“428, die dessen existenziale Verfasstheit in ihren komplexen Grundlagen und Zusammenhängen expliziert. Heidegger löst seine Ankündigung nicht ein. Mit der Verknüpfung von Existenz und Dasein („Das »Wesen« des Daseins liegt in seiner Existenz.“429) fallen Existenzial- und Daseinsanalytik in eins. Trotz der angekündigten Entfaltung der Seinsfrage bleibt Sein und Zeit damit als Fragment eines ursprünglich geplanten Werks für sich gesehen eine in der Daseinsanalytik steckengebliebene Fundamentalontologie. Das so vorliegende Sein und Zeit kommt nicht über den vorbereitenden Charakter hinaus – eben damit hat sich Heidegger die Rede vom „Scheitern“ von Sein und Zeit eingehandelt.430 Damit erweisen sich auch die Analysen zur Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit im Hinblick auf das Gesamtvorhaben – das Neubedenken der

428 SuZ, S. 13. 429 SuZ, S. 42. 430 Christian Iber schreibt: „Das Scheitern des philosophischen Programms von SuZ liegt nun nicht darin, daß Heidegger die philosophische Seinsfrage auf das vorontologische Seinsverständnis des alltäglichen Daseins zurückführt, wohl aber darin, daß SuZ nicht wirklich über das vorontologische Seinsverständnis des alltäglichen Daseins wieder hinausgelangt, was zur Beantwortung der spezifisch philosophischen Seinsfrage notwendig ist. […] Die Suche nach dem Eigenwert der Zeit gegenüber der Zeitlichkeit des Daseins bleibt vergeblich, weil die Zeit auf die Zeitlichkeit als Grundbewegung des menschlichen Daseins fixiert bleibt. Das eigentliche Dilemma von SuZ ist also die Zeit. Damit bleibt auch die spezifisch philosophische Seinsfrage in SuZ unausgearbeitet.“ Christian Iber: Sein und Zeit oder Zeitlichkeit und Dasein. Probleme von Heideggers Zeitphilosophie, in: Christian Iber/Romano Pocai (Hg.): Selbstbestimmung der philosophischen Moderne. Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Grundbegriffe, Cuxhaven/Dartford, 1998, S. 119-143, hier S. 123 (im Folgenden: Iber, Sein und Zeit oder Zeitlichkeit und Dasein, Seitenzahl).

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6. Sein und Zeit als Daseinsanalyse mit pragmatisch-existenzialistischen Implikationen

Seinsfrage als „leitende Aufgabe“431 – im Ganzen gesehen bezugslos. Heidegger muss sich dafür zu Recht kritisieren lassen, dem formulierten Anspruch von Sein und Zeit, eine „Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses überhaupt“432 zu leisten, nicht gerecht geworden zu sein. Allein der Titel – retrospektiv und als Torso für sich betrachtet – führt in die Irre. Sein und Zeit ist weniger eine Abhandlung zu den Phänomenen Sein und Zeit als zu den Phänomenen Dasein und Zeitlichkeit. Das, was Heidegger zusammendenkt und als verklammertes Verhältnis bestimmt, Sein und Zeit sowie Dasein und Zeitlichkeit, bleibt letztlich entkoppelt als für sich stehende Daseinsanalytik zurück. Dass seine Eigentlichkeitskonzeption auf das einzelne Dasein bezogen ist, gräbt seiner eigens gegenüber Kierkegaard angeführten Subjektivismus-Kritik das Wasser ab. Denn so dezidiert er die Überwindung eines Subjekt-Objekt-Dualismus‘ cartesianischer Prägung fordert – seine Eigentlichkeitskonzeption weist, trotz des von Heidegger in kritischer Absicht etablierten Existenzials des „In-der-Welt-seins“, stark isolationistische Tendenzen auf, die letztendlich in einen „existenzialen Subjektivismus“433 münden.

431 SuZ, S. 17. 432 SuZ, S. 1. 433 Rentsch, Das Sein und der Tod, S. 229.

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7. Gelebte Zeitlichkeit, Augenblickserwartung, Angstbereitschaft – der präsentische Fokus der Eigentlichkeit

Wir hatten im vorangegangenen Kapitel dargelegt, dass Sein und Zeit mit seiner Fokussierung auf das Sein des Daseins einen Subjektivismus über die Hintertür wieder einführt, den Heidegger zu überwinden behauptet. Mit Blick auf Heideggers Erläuterungen zur Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit konnte gezeigt werden, dass er hier einen „Raum“ eröffnet, in den er signifikant existenzialistische Konzeptionen einbettet. Im Folgenden will ich argumentieren, dass diese existenzialistische Perspektive im Rahmen von Heideggers Augenblicks- und Angstanalyse weiter zugespitzt wird. Einmal mehr artikuliert sich damit in Sein und Zeit die pragmatische Dimension, die einen deutlich „präsentischen Grundzug“434 aufweist. Präsentisch, weil der Umschlag zur Eigentlichkeit hin – und das wird als These in diesem Kapitel ausgeführt – von Heidegger als ein in einem ausgezeichneten Moment des „Jetzt“ vollzogener Synergismus von Wirkungen unverfügbarer „Instanzen“ einerseits sowie dem Entschluss des Daseins andererseits konzipiert ist. Ich werde zeigen, dass die bei Kierkegaard speziell – und im theologischen Kontext allgemein – fokussierte Augenblicksbereitschaft als transformierte Angstbereitschaft bei Heidegger wiederkehrt. Sowohl die Angst als auch der Augenblick – so die „Logik“ dieser Denkfiguren – stellen sich dem Dasein als eine „Forderung“ dar, die als eine Möglichkeit herantritt, zu der das Dasein sich verhalten soll und muss. Zusammengeführt werden in diesem Abschnitt die Ergebnisse einer die existenzialistischen Potenziale weiter auslotenden Binnenanalyse von Sein und Zeit, die dann auf das philosophische Verhältnis der beiden Autoren hinsichtlich des existenzialen Paradigmas rückbezogen werden können.

434 Alf Christophersen spricht im Hinblick auf die kairologische Zeitdeutung von einem sich darin artikulierenden „präsentischen Grundzug“. Siehe dazu: Alf Christophersen: Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen, 2008, S. 5. Diese Wendung möchte und werde ich im Folgenden auf die heideggersche Daseinsanalyse beziehen.

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7. Gelebte Zeitlichkeit, Augenblickserwartung, Angstbereitschaft –

Der Kairos als „rechter Augenblick“: occasio und opportunitas Ich beginne zunächst mit einer Erläuterung des griechischen und biblischen Augenblicks und fahre dann fort mit einer knappen Rekonstruktion der kierkegaardschen Augenblickskonzeption. In der griechischen Mythologie agiert Kairos als der jüngste Sohn des Zeus, der ursprünglich als Gott der „maßvollen Mitte“, als Gott der „richtigen Proportion“, „des rechten Maßes“ gilt.435 In den Dichtungen Pindars wird in den Kairos eine Zeitlichkeitsdimension hineingelegt, die für dessen weitere Deutung bestimmend wird. Aus dem Kairos der maßvollen Mitte, der für Proportionalität und Verhältnismäßigkeit steht, geht der Kairos der „rechten Zeit“ bzw. „des rechten Zeitpunkts“, als der „Gott des günstigen Augenblicks“436 hervor. Mit Verschiebung der Bedeutung hin zu einer temporalen Kategorie wird „Kairos“ von da an als „Augenblick“ übersetzt. Als einer unter vielen Protagonisten der griechischen Götterwelt findet der Kairos in der monotheistischen christlichen Welt- und Zeitdeutung als göttlicher Akteur keinen Platz mehr. Als temporale Kategorie wird er in der Bedeutung des „günstigen Augenblicks“ im Christentum allerdings radikal aufgewertet und sakralisiert. Der Augenblick kann sich auf unterschiedliche, in jedem Falle aber heilsgeschichtlich zentrale Ereignisse beziehen – so zum Beispiel auf die Menschwerdung Gottes in Christus oder auch auf die Wiederkehr Christi am Jüngsten Tag (1. Petrus 4, 17).437 Pau-

435 Aus antiken Quellen ist überliefert, dass Lysippos als Hofbildhauer Alexanders des Großen eine Kairos darstellende Bronzestatue schuf, die am Eingang eines olympischen Altars platziert war. Siehe dazu: Katharina von Falkenhayn: Augenblick und Kairos. Zeitlichkeit im Frühwerk Martin Heideggers, Berlin, 2003, S. 28f. (im Folgenden: Falkenhayn, Kairos, Seitenzahl). 436 Siehe dazu: Bruno Sauer: Beitrag „Kairos“, in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Band 2, herausgegeben von Wilhelm Heinrich Roscher, Leipzig, 1894, Sp. 897–901, hier Sp. 897; sowie: Johannes Gründel: Beitrag „Kairos“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Band 5, Freiburg, 1996, Sp. 1129–1131 (im Folgenden: Gründel, Kairos, Spalte). Etymologisch entstammt das Wort der Web-Praxis und bezeichnet den Moment, in dem der Faden durch das nur kurzzeitig geöffnete Webfach gezogen wird. Siehe dazu: Falkenhayn, Kairos, S. 25; sowie: Nachwort von Ralf Konersmann, in: Walter Benjamin. Kairos, Frankfurt am Main, 2007, S. 331 (im Folgenden: Konersmann, Nachwort, Seitenzahl). 437 Die Sakralisierung des Augenblicks im Christentum erfolgt vor dem Hintergrund einer im Vergleich zur antik-griechischen Weltdeutung radikal verschiedenen zyklischen Zeitvorstellung. Die Zyklizität bezieht sich in diesem Zusammenhang

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lus spricht im Neuen Testament von der „Fülle der Zeit“ (Galater 4, 4)438, die „kam“, als Gott den Menschen seinen Sohn sandte, „damit er die loskaufte, die unter Gesetz waren“ (Galater 4, 5). Ebenso wird der Kairos von Paulus zitiert, wenn er hinsichtlich der Verkündigung spricht, Gott habe „zu seiner Zeit“ (Titus 1, 3) sein Wort offenbart. Andere Bibelpassagen beziehen sich auf das aus christologischer Perspektive entscheidende Ereignis der Parusie. Der exakte Zeitpunkt der Parusie ist niemandem bekannt, auch Jesus weiß nicht, wann dieser „Augenblick“ kommen wird, „auch nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn“, denn dieses Wissen ist allein dem „Vater“ vorbehalten (Markus 13, 32). Als plötzliches Ausnahme-Ereignis vollzieht der christliche Kairos den Bruch mit einer sich überlagernden chronologischen Zeitvorstellung, die sich als lineare und beständige Abfolge von „Jetzt-Punkten“ strukturiert. Er ist damit auch Zäsur und Medium – eine Art Transzendenzfenster, das sich öffnet und in dem eine andere Wirklichkeit als göttliche Dimension sich mit der hiesigen Welt verbindet.

sowohl auf astronomische und kosmische Zeitordnungsmuster „der“ Griechen als auch auf die Deutung „ihrer“ Zukunft. Aus kulturhistorischer Perspektive ist der Augenblick „der“ Griechen weniger bedeutsam. Da im hellenischen Götterhimmel qualitativ wesentlich Neues nicht „passiert“, kann auch ein Augenblick nur relative Bedeutung besitzen. Im Gegensatz zur monotheistischen christlichen Heilslehre, in der das Reich Gottes das ganz Andere repräsentiert, und die Zeitrechnung des Christen sich auf die Dauer zwischen der Menschwerdung Gottes in Christi und seiner Wiederkehr am „Jüngsten Tag“ verengt. Beate Fietze bemerkt dazu: „In der Antike wird der Geschichtsprozess der menschlichen Gattung als Abfolge der Generationen unmittelbar mit dem Werden und Vergehen im Kreislauf der Natur identifiziert.“ Beate Fietze: Historische Generationen. Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität, Bielefeld, 2009, S. 24 (im Folgenden: Fietze, Generationen, Seitenzahl). Und weiter heißt es: „Das zyklische Zeiterleben entsprach einer agrarischen Gesellschaft, deren Lebensrhythmus und Lebenssicherung vom Kreislauf der Natur abhängig war und deren Menschen davon ausgingen, dass sich alle Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einander ähneln.“ (Fietze, Generationen, S. 28) Zur zyklischen Zeitvorstellung in antiken Gesellschaften siehe auch: Herwig Gottwald: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien, Würzburg 2007, S. 102ff. Grundlegend zu diesem Thema: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main, 1988. 438 Zitiert nach: Die Bibel, Elberfelder Übersetzung, revidierte Fassung, Paderborn, 2005.

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Ralf Konersmann schreibt, der Kairos sei „occasio und opportunitas zugleich – objektiv und in der Sache begründet, sofern sie sich über die eingetretene Konstellation von sich aus eröffnet, subjektiv und an beteiligte Personen adressiert, sofern die mit der augenblicklichen Konstellation als solche erkannt sein will oder, anderenfalls, unwiederbringlich verloren ist.“439 Im Hinblick auf die occasio findet sich die in der antik-hellenischen Kairosfigur angelegte Entzogenheits- und Unverfügbarkeitsdimension auch im christlichen Kairos wieder. Ebenso wie der Kairos als griechischer Gott unvermittelt und plötzlich kommt, ereignet sich auch die im Kairos erfolgende Menschwerdung Christi bzw. die Wiederkunft Christi jenseits des individuellen Handlungsspielraums der Menschen. Bezüglich der Parusie heißt es in der Bibel: „Denn ihr selbst wißt, daß der Tag des Herrn so kommt wie ein Dieb in der Nacht“ (1 Thessalonicher 5, 2); „Denn in der Stunde, in der ihr es nicht meint, kommt der Sohn des Menschen“ (Matthäus 24, 44). Neben der elementaren Transzendenz- und Unverfügbarkeitsperspektive als occassio birgt der Kairos zugleich eine genuin angelegte Handlungsebene, die Konersmann als opportunitas bezeichnet hatte. Wie schon der hellenische Kairos sich als Forderung an das Subjekt wendet, impliziert auch der christliche Kairos eine Forderung an den Glaubenden: sich für den Augenblick bereitzuhalten.440 Insbesondere wenn es um die Parusie geht, wird permanente Aufmerksamkeit für den entscheidenden „Augenblick“ der nicht herbeizurechnenden Ankunft Christi verlangt. Appelliert wird an eine dauerhafte Bereitschaft – der Christ soll aktiv (er-)warten: „Seht zu, wacht! Denn ihr wißt nicht, wann die Zeit ist.“ (Markus 13, 33); „Was aber ich euch sage, sage ich allen: Wacht!“ (Markus 13, 37); „Wacht also! Denn ihr wißt nicht, an welchem Tag euer Herr kommt […] Deshalb seid auch ihr bereit!“ (Matthäus 24, 42-44). Der Christ hat aufmerksam für den Augenblick der Wiederkunft des Herrn zu sein: „Auch ihr, seid bereit! Denn der Sohn des Menschen kommt in der Stunde, da ihr es nicht meint“ (Lukas 12, 40). In diese Richtung ist auch der Aufruf Paulus’ an die Thessalonicher zu verstehen, „wachsam“ mit Blick auf die

439 Konersmann, Nachwort, S. 333. 440 Koral Ward bemerkt: „The Greek concept of kairos […] underpins the Augenblick, it denotes a decisive, critical point dependent on one who has the skill and wherewithal to act.“ Koral Ward: The Concept of the ‚Decisive Moment’ in the 19th and 20th Century Western Philosophy, Ashgate, 2008, S. 12 (im Folgenden: Ward, Decisive Moment, Seitenzahl).

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7. Gelebte Zeitlichkeit, Augenblickserwartung, Angstbereitschaft –

Wiederkunft Christi zu bleiben: „Also laßt uns nun nicht schlafen wie die übrigen, sondern wachen und nüchtern sein“ (1. Thessalonicher 5, 6). Wir werden sehen, dass die heideggersche Angst- sowie die daran gekoppelte Eigentlichkeitsanalyse diese Verschränkung von occasio und opportunitas ebenfalls aufweist. Kierkegaards Augenblick Kierkegaard entwickelt seine im Folgenden rekonstruierten Gedanken zum Augenblick vor allem in den Philosophischen Brocken. Herausgreifen möchte ich drei Punkte, die die kierkegaardsche Konzeption des Augenblicks charakterisieren, um anschließend zu erläutern, inwieweit Heidegger in diesem Zusammenhang einschlägige Motive übernimmt. Wesentlich für das Verständnis des Augenblicks ist nach Climacus-Kierkegaard die spezifische Wahrheitskonstitution der christlichen Heilsbotschaft, die er in Abgrenzung zur sokratischen Wahrheitskonzeption von Anamnese und Maieutik entfaltet. Vom platonischen Exaiphnes sich distanzierend bestimmt Kierkegaard den christlichen Augenblick als ein in einem bestimmten Moment sich ereignendes Zusammentreffen von Ewigkeit und Zeitlichkeit. Die dem sokratischen Denken zugrunde liegende „Erkenntnistheorie“ beruhe – so Climacus-Kierkegaard – auf der Prämisse, dass erstens, die Wahrheit im Menschen selbst liege und zweitens, der Faktor Zeit keine Relevanz für die zu erschließende Wahrheit besitze. Das in der sokratischen Kommunikationssituation bestehende Lehrer-Schüler-Verhältnis nimmt Climacus als Ausgangspunkt, um auf die Differenzen des Christentums zu reflektieren. Aus sokratischer Perspektive bedürfe es des „menschlichen“ Geburtshelfers, der in einer Art Hilfe zur Selbsthilfe die Wahrheitsfindung im Schüler anleitet. Die Bedingung der Möglichkeit der Wahrheitserkenntnis sei hier im Menschen angelegt. Im Christentum dagegen sei Gott nicht nur „Lehrer“, sondern vor allem „Erretter“ und „Erlöser“441, der seine Wahrheit in und durch Christus offenbart. Das MenschMensch-Verhältnis (Lehrer, Schüler) des sokratischen Gesprächs sei von dem Gott-Mensch-Verhältnis im christlichen Kontext grundsätzlich verschieden: „Der Lehrer ist also Gott; er gibt die Bedingung und gibt die

441 PB, S. 603.

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Wahrheit“442, die darin liege, dass der Mensch in der „Unwahrheit“ – Sünder – ist.443 Die Bedingung der Möglichkeit zur Erkenntnis der Wahrheit werde im Christentum nach „außen“, in Christus, verlagert. Der Mensch könne demnach ohne die Worte Gottes (Verkündigung) und ohne Glauben daran nicht zur Wahrheit gelangen. Ein weiterer wichtiger Aspekt des climacusschen Augenblicksverständnisses lässt sich über dessen Kritik am platonischen „Exaiphnes“ (das „Plötzliche“, der „Augenblick“) herauslösen.444 Climacus-Kierkegaards Bezugnahme auf den platonischen Exaiphnes erfolgt aus funktionaler Absicht in zweifacher Hinsicht. Einerseits übernimmt er für seine Konzeption des Augenblicks die Kategorie des Umschlags von Nicht-Sein in Sein und rechnet Platon an, die Bedeutung des Augenblicks als Übergangskategorie erkannt zu haben. Andererseits verstünde Platon den Exaiphnes „nur“ als abstrakte Kategorie.445 Dementgegen setzt Climacus-Kierkegaard die

442 PB, S. 602. 443 Climacus bemerkt: „Der Lehrer ist also Gott selbst, welcher als Veranlassung wirkend, veranlasst, dass dem Lernenden zum Bewusstsein kommt, er sei die Unwahrheit, und zwar durch eigene Schuld. Dieser Zustand aber, dass er die Unwahrheit ist, und zwar durch eigene Schuld, wie können wir ihn nennen? Wir wollen ihn Sünde nennen.“ PB, S. 601. Die zitierte „Unwahrheit“ entspricht strukturell der sokratischen Unwissenheit. Mit dem Anerkennen der christlichen Wahrheit und dem einhergehenden Sündenbewusstsein wird das vorherige Denken als Unwahrheit qualifiziert. Das sokratische Nichtwissen wird zum Wissen; die Annahme der christlichen Wahrheit fordert, sich als im Stande der Unwahrheit als Sünder zu erkennen. 444 Zu den Bedeutungsebenen des platonischen Exaiphnes siehe: Christoph Ziermann: Platons negative Dialektik. Eine Untersuchung der Dialoge „Sophistes“ und „Parmenides“, Würzburg, 2004, S. 370f. 445 Kierkegaard nimmt hier auf Platons Parmenidis Bezug, wo es heißt: „Ist es also vielleicht jenes Wunderbare und Wundersame, worin es dann ist, wenn es umschlägt? – Welches denn? – Das Plötzliche, der Augenblick. Denn der Ausdruck ‚exaiphnes’ scheint ebenso etwas zu bezeichnen, dass etwas aus einem Zustand in einen anderen umschlägt. Denn aus dem Stillstand schlägt nichts um, solange es stillsteht, noch schlägt etwas aus der Bewegung um, solange es sich bewegt. Sondern dieses wundersame, unbegreifliche und ortlose Wesen liegt zwischen der Bewegung und dem Stillstand. Es ist in keiner Zeit, und in es hinein aus ihm hervor schlägt das sich Bewegende um in den Stillstand und das Stillstehende in die Bewegung.“ Platon: Parmenides, in: Platon: Sämtliche Dialoge, herausgegeben von Otto Apelt, Hamburg, 2004, 156d1-e3. Siehe dazu auch: Falkenhayn, Kairos, S. 182. In der Angstschrift schreibt Haunfniensis-Kierkegaard: „Der Augenblick wird so zur Übergangskategorie überhaupt, denn Plato zeigt, dass auf dieselbe Weise der Augenblick auch im Übergang, von der Einheit zur Mehrheit,

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„Existenzialisierung“ der platonischen Kategorie. Für den Existenzvollzug des Einzelnen, speziell des Christen, müsse dem Augenblick ein exponierte Rolle zukommen. Denn – so Climacus – mit dem Augenblick vollziehe sich das wesentliche Ereignis für den Christen: „Und nun der Augenblick. Ein solcher Augenblick ist eigener Natur. Er ist wohl kurz und zeitlich, wie der Augenblick es ist, vorübergehend, wie der Augenblick es ist, vorbeigegangen, wie der Augenblick im nächsten Augenblick es ist; und doch ist er das Entscheidende, doch ist er erfüllt vom Ewigen. Ein solcher Augenblick muss doch seinen besonderen Namen haben; wir wollen ihn nennen: die Fülle der Zeit.“446 Die Kursivsetzung macht den direkten Bezug zur paulinischen Rede im Galaterbrief (Gal. 4, 4) von der Menschwerdung Gottes in Jesu Christi deutlich. Vor diesem Hintergrund schärft sich das Profil des kierkegaardschen Augenblicks, der sich jedweder quantitativen Bestimmung entzieht. Die in Abgrenzung zum platonischen Exaiphnes eingeführte Zeitlichkeitsdimension bildet für Kierkegaard einen neuartigen Fundierungsgrund, auf dem er nun den Augenblick als Vermittlungselement zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit spezifiziert.447 Gott offenbart sich in der Menschwerdung und gibt den Menschen mit Christus und dem Evangelium die Bedingung der Möglichkeit, die (christliche) Wahrheit zu erkennen. Die Wahrheit hat

oder von der Mehrheit zur Einheit, oder von der Gleichheit zur Ungleichheit usw. eintritt […] aber der Augenblick bleibt doch eine lautlose atomistische Abstraktion, die man auch nicht erklärt, indem man sie ignoriert […]. Diese Kategorie ist für die Abgrenzung gegen die heidnische Philosophie und gegen eine ebenso heidnische Spekulation im Christentum selbst von größter Wichtigkeit. […] In der neusten Philosophie kulminiert die Abstraktion in dem reinen Sein; das reine Sein ist aber der abstrakteste Ausdruck für die Ewigkeit und als Nichts wieder der Augenblick. Hier zeigt sich wieder, wie wichtig der ‚Augenblick‘ ist; denn erst mit dieser Kategorie kann man auch der Ewigkeit die Bedeutung geben, indem Ewigkeit und Augenblick die äußersten Gegensätze werden, während die dialektische Hexerei sie dazu bringt, dasselbe zu bedeuten.“ BA, S. 236. 446 PB, S. 604. 447 Lore Hühn schreibt: „Dass Kierkegaard dem platonischen Exaiphnes als einem in der Zeit sich ereignenden Zeitlosen all das abspricht, was es seinem ganzen transzendierenden Charakter nach zu einem in der Zeit zugleich über die Zeit hinausgehenden Zeitlosen macht, scheint so gesehen strategisch motiviert. Und dies umso mehr, als er ihm bezeichnenderweise das streitig macht, was er als das Eigenste und Einzigartigste nur dem christlichen Augenblick glaubt vorbehalten zu dürfen, nämlich das Paradox einer Vermittlung von Ewigkeit und Zeit.“ Lore Hühn: Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Konstellationen des Übergangs, Tübingen, 2009, S. 94f.

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sich demnach in einem Augenblick als „Fülle der Zeit“ ereignet und ist zu einem bestimmten Zeitpunkt erst zugänglich gemacht worden. Diese Fixierung des Zeitpunktes als Augenblick, als in der Zeit und außerhalb der Verfügungsgewalt des Menschen geschehenen Ereignisses, delegiert die Herkunft, den „Sitz“ der Wahrheit, an die göttliche Instanz. Die spezifische Konstitution des Augenblicks wird nach Climacus erst über die Verschränkung und Gleichzeitigkeit von Transzendenz und Immanenz voll erfasst.448 Mit dem Eintreten des Ewigen in die Immanenz, wie die Wendung von der „Fülle der Zeit“ von Climacus interpretiert wird, erhält der Augenblick die ihm wesenseigene Qualität: „Ist der Augenblick gesetzt, so ist das Ewige, und dieses ist dann sogleich das Zukünftige, welches als das Vergangene wiederkommt […]. Der Begriff, um dem sich im Christentum alles dreht, das, was alles neu machte, ist die Fülle der Zeit; sie ist aber der Augenblick als das Ewige, und doch ist dieses Ewige zugleich das Zukünftige und das Vergangene.“449 Mit dem Augenblick beginnt für den Christen eine andere Zeitrechnung. Der eigene

448 So schreibt Koral Ward in seiner Studie zum Augenblick: „A central idea is the elevation of the Augenblick from its place at the moment in ordinary time to one with the relation with ‚the eternal’ and the notion of escaping or transcending the temporal domain through an immediate and intense experience, or in reflection. Paradoxically, and the Augenblick is nothing if not paradoxical, the temporal domain cannot be escaped completely. Neither can the Augenblick be accessed, in an immediate experience it is over before we can know that in reflection it is already in the past. The Augenblick cannot be located in passing ‘now’ of time, nor can it be identified with itself in time, yet the temporal present is essential to it. As a ‘standing now’ […] the moment can be thought of as time ‘nullified’ or stopped. It has within it all of its past and future elements and as such represents the ‘everlasting’.” Ward, Decisive Moment, S. 12. 449 BA, S. 241. Kurz zuvor heißt es: „Der Augenblick ist jenes Zweideutige, in dem Zeit und Ewigkeit einander berühren, und hiermit ist der Begriff der Zeitlichkeit gesetzt, in der die Zeit die Ewigkeit beständig abreißt und die Ewigkeit beständig die Zeit durchdringt. Erst hier erhält die besprochene Einteilung ihren Sinn: die gegenwärtige Zeit, die vergangene Zeit und die zukünftige Zeit.“ BA, S. 240. Zur spezifischen Konstitution des Augenblicks siehe: Falkenhayn, Kairos, hier S. 185ff. sowie: Felix O. Murchadha: Zeit des Handelns und Möglichkeit der Verwandlung. Kairologie und Chronologie bei Heidegger im Jahrzehnt nach Sein und Zeit, Würzburg, 1999, S. 33ff. und 54ff (im Folgenden: Murchadha, Zeit des Handelns, Seitenzahl); sowie: Louis Reimer: Die Wiederholung als Problem der Erlösung bei Kierkegaard, in : Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg.): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main, 1979, S. 302-346, hier S. 325ff.

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Lebensvollzug ist an die Koordinaten der Verkündigung gekoppelt, zwischen denen sich die „neue“ Geschichte – als in einem heilsgeschichtlichen Vollzug stehend – des Christen aufspannt. Wir sehen an dieser Stelle, dass Kierkegaard an die begriffsgeschichtliche bzw. theologisch überlieferte Verwendung anknüpft, indem er sich auf den Augenblick als die Menschwerdung Gottes bezieht („Fülle der Zeit“ Galater 4, 4). Zugleich erweitert er die Semantik des Augenblicks, indem er eine existenzphilosophische Verankerung vornimmt. Er löst den Augenblick als Exaiphnes aus dem logisch-kategorialen Kontext, in dem Platon ihn verortete, und bezieht ihn auf den Existenzvollzug des Menschen/des Christen, für den sich im Augenblick Entscheidendes ereignet. Zugleich zeigt sich, dass in den Ausführungen Climacus-Kierkegaards eine Zeitlichkeitskonzeption angedacht wird, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht separiert sondern als zusammenhängend versteht.450 Heidegger: Zeitlichkeit des Daseins und gelebte Zeitlichkeit Im Folgenden soll nun die behauptete Überführung und Transformation der herausgearbeiteten semantischen Ebenen des Augenblicks in und durch die heideggersche Existenzialanalyse beleuchtet werden. Ich beabsichtige, einen fundamental präsentischen Grundzug der heideggerschen Eigentlichkeitskonzeption zu plausibilisieren. Um diesen präsentischen Fokus näher zu bestimmen, ist es sinnvoll, einen Blick auf Heideggers Überlegungen zu einer „ursprünglichen Zeit“ sowie zu einer vermeintlich im Urchristentum „gelebten Zeitlichkeit“ zu werfen. Die über eine Phänomenologie des religiösen Lebens aufgezeigte „gelebte Zeitlichkeit“ bildet zugleich das tragende Fundament der Eigentlichkeitskonzeption in Sein und Zeit. Die drei wesentlichen Rezeptionsstränge, auf die Heidegger bei der Ausarbeitung seiner Zeitkonzeption zurückgreift, so sieht es Kurt Flasch, liegen bei Aristoteles, Augustinus, Kant.451 Heideggers Rekurs auf über-

450 Heidegger folgt in Sein und Zeit ebenfalls diesem Ansatz, indem er das Dasein als durch drei gleichursprüngliche „Zeitlichkeitsekstasen“ (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) konstituiertes denkt. 451 Siehe dazu: Kurt Flasch: Was ist Zeit, Frankfurt am Main, 1993, S. 53f. (im Folgenden: Flasch, Was ist Zeit, Seitenzahl). Flasch behandelt in seiner sehr umfangreichen und lesenswerten Monographie vordergründig das 11. Buch der Con-

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lieferte Zeitanalysen erfolgt sowohl in destruktiver als auch konstruktiver Absicht. Heidegger will das vorherrschende und alleinige Geltung beanspruchende „vulgäre“ Zeitverständnis aus den Prämissen der aristotelischen, augustinischen und kantischen Zeitkonzeption heraus erklären. Entscheidend für Heidegger ist die Feststellung, dass es sich hierbei um ein Zeitverständnis handelt, das abgeleitet ist. Zugleich sieht er in den Entwürfen der drei genannten Autoren fruchtbare Ansätze für die Offenlegung dessen enthalten, was Heidegger als „ursprüngliche Zeit“452 bezeichnet. Heideggers kritischer Impuls zielt zum einen auf die aristotelische Konzeption, welche die Zeit „als eine Folge von ständig »vorhandenen«, zugleich vergehenden und ankommenden Jetzt“453 deute. Hier artikuliere sich eine Zeitvorstellung, die als chronologisch-physikalische dem Dasein „äußerlich“ bleibe. Augustinus’ Theorie der Verinnerlichung der Zeit ist für Heidegger bedeutsam, weil sie das „Jetzt“ nicht mehr punktartig begreife, sondern als einen integrativen Zeitraum, in dem sich die Vergangenheit als Erlebtes und die Zukunft als Erwartetes versammelten.454 Kant habe in gewisser Hinsicht eine Subjektivierung bzw. ähnlich wie Augustinus eine Verinnerlichung der Zeit vollzogen, indem er diese neben dem Raum als formale Bedingung der Möglichkeit von sinnlicher Erfahrung interpretierte. In Sein und Zeit heißt es zu Kant anerkennend, er habe in seinen Ausführungen zum Schematismus die entscheidende Problematik erfasst, aber nicht weiterverfolgt. Die existenzialontologische Grundlegung, die Explikation des übergreifenden Zusammenhangs vor allem im Hinblick auf die Seinsfrage, behauptet Heidegger zu leisten.455 Auch Hus-

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fessiones von Augustinus. Flasch liefert eine Übersetzung des Textes und kommentiert diesen detailliert. Darüber hinaus widmet sich ein großes Kapitel den Spuren Augustinus’ in den philosophischen Zeitkonstruktionen des 20. Jahrhunderts. SuZ, S. 329. SuZ, S. 422. Allerdings muss Heideggers Augustinuslektüre vor allem deshalb reduktionistisch bezeichnet werden, da er den schöpfungsgeschichtlichen Rahmen der augustinischen Zeitanalysen unterschlägt und diese vor allem durch das Prisma einer daseinspezifischen Auslegung liest. Siehe zur Kritik an Heideggers Augustinuslektüre: Flasch, Was ist Zeit, S. 58f. Heidegger schreibt: „Der Erste und Einzige, der sich eine Strecke untersuchenden Weges, in der Richtung auf die Dimension der Temporalität bewegte, bzw. sich durch den Zwang der Phänomene selbst dahin drängen ließ, ist Kant. Wenn erst die Problematik der Temporalität fixiert ist, dann kann es gelingen, dem Dunkel

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serls Zeitanalysen hatten – als kritische Reibungsfläche – maßgeblichen Einfluss auf Heidegger. Heideggers wesentlicher Einwand gegen Husserl zielt dahin, dass auch dieser mit einem verengten Zeitbegriff operiere, der allein das Zeitbewusstsein fokussiere und die Frage der Zeitlichkeit als vorgängige, „vulgäre“ Zeitvorstellungen begründende ontologische Ebene ausspare.456

der Schematismuslehre Licht zu verschaffen. Auf diesem Wege lässt sich dann aber auch zeigen, warum für Kant dieses Gebiet in seinen eigentlichen Dimensionen und seiner zentralen ontologischen Funktion verschlossen bleiben mußte […]. Wovor Kant hier gleichsam zurückweicht, das muß thematisch und grundsätzlich ans Licht gebracht werden, wenn anders der Ausdruck „Sein“ einen ausweisbaren Sinn haben soll.“ SuZ, S. 23. Heidegger bezieht sich auf die in Kants Schematismuskapitel thematisierten Zeitstrukturen vor allem in seinem Kantbuch Kant und das Problem der Metaphysik von 1929 sowie in seiner Vorlesung im Wintersemester 1927/28 Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum Schematismus bei Kant heißt es u. a. in der Kritik der reinen Vernunft: „Nun ist klar, dass es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muss, um die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muss rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema.“ (KdV, S. 187f./B, 177) 456 Husserls durch Brentano inspirierte Analysen verfeinern die augustinischen Überlegungen, die den Fokus auf die Verinnerlichung des Zeitphänomens legen. War bei Augustinus noch die Seele als die Zeit konstituierend dieser vorgelagert, weist Husserl auf die wesentliche Bedeutung der Zeit, als eine die Wahrnehmung strukturierende Bedingungskategorie. Die Erfahrungsinhalte werden durch einen temporalen Filter des „Ego“ als eine Abfolge im Sinne eines Nacheinander wahrgenommen. Erst auf Grundlage dieser inneren Zeitlichkeit sowie einer in diesem Rahmen sich vollziehenden Wahrnehmung „von etwas“ sucht Husserl die objektive Realität der Außenwelt und auch die Allgemeingültigkeit der Logik – gegen den Psychologismus – auszuweisen. Zudem folgt Husserl hinsichtlich der Zeitbestimmung einem ähnlich konstruktivistischen Ansatz wie Kant, an dessen Überlegungen zu den Schemata Heidegger explizit anknüpft. Michael Hasenfratz weist in seiner ausführlichen und interdisziplinär ansetzenden Studie zum Thema Zeit auf die Bedeutung Husserls für spätere Zeitkonzeptionen und darüber hinausgehende philosophische Implikationen: „Die Husserlsche Bewusstseinskonzeption eröffnet seinen Nachfolgern […] die Perspektive auf den Menschen als aktiver Gestalter seiner Welt und darauf, dass dieses Gestalten ein Vorgang ist, der aus der Zeiterfahrung des Menschen hervorgeht bzw. dass der Mensch mit diesem Faktum, in der Zeit zu sein und zugleich mit der Zeit zu gehen, umgehen muss.“ Michael Hasenfratz: Wege zur Zeit. Eine konstruktivistische Interpretation objektiver, subjektiver und intersubjektiver Zeit. Interaktionistischer Konstruktivismus, Band 2, Münster, 2003, S. 197f.

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Heideggers grundlegender Einspruch gegen das philosophisch überlieferte, alltäglich „gelebte“, wissenschaftlich-empirische Zeitverständnis argumentiert, dass diesen Entwürfen eine abgeleitete, objektivierte Vorstellung von Zeit zugrunde läge. Jene Vorstellung der Zeit „als ein Nacheinander […] als »Fluß« der Jetzt, als »Lauf der Zeit«“457 habe sich durchgesetzt und leite sowohl die alltägliche als auch die wissenschaftliche Praxis. Unser Leben sei auf diese Form der „besorgten“ Zeit abgestimmt und eingerichtet. Ein solch chronologisches Zeitverständnis sei auch nicht „falsch“: „Die vulgäre Zeitvorstellung hat ihr natürliches Recht […]. Diese Zeitauslegung verliert nur ihr ausschließliches und vorzügliches Recht, wenn sie beansprucht, den »wahren« Begriff der Zeit zu vermitteln und der Zeitinterpretation den einzig möglichen Horizont vorzeichnen zu können.“458 Heidegger begründet die Unausweichlichkeit eines solch abgeleiteten „vulgären“ Zeitverständnisses mit der „natürlichen“ uneigentlichen Existenzverfassung unseres alltäglichen Daseins. Heidegger argumentiert, dass das, was herkömmlich als Zeit beschrieben, wissenschaftlich analysiert und alltäglich „gehandhabt“ werde, sich allein aus der Zeitlichkeit des Daseins verstehen ließe, die vorgelagert sei und andersartige Zeitverständnisse erst ermögliche. Heidegger spricht von einer „ursprünglichen Zeit“, deren Offenlegung zu den zentralen Leitvorhaben von Sein und Zeit zählt: „Das Charakteristische der dem vulgären Verständnis zugänglichen »Zeit« besteht u. a. gerade darin, daß in ihr als einer puren, anfangs- und endlosen Jetzt-folge der ekstatische Charakter der ursprünglichen Zeitlichkeit nivelliert ist. […] Wenn daher die der Verständigkeit des Daseins zugängliche »Zeit« als nicht ursprünglich und vielmehr entspringend aus der eigentlichen Zeitlichkeit nachgewiesen wird, dann rechtfertigt sich […] die Benennung der jetzt freigelegten Zeitlichkeit als ursprüngliche Zeit.“459 Gelebte Zeitlichkeit: die urchristliche Selbst- und Weltdeutung zwischen Verkündigung und Parusie In seiner Abhandlung zu Heideggers Augenblickskonzeption spricht Felix Murchadha zu Recht von einer durch Heidegger vollzogenen existenzial 457 SuZ, S. 422. 458 SuZ, S. 426. 459 SuZ, S. 329.

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unterfütterten „Entchronologisierung der Gegenwart“460. Heidegger beabsichtigt zu zeigen, dass die Zeitlichkeit des Daseins eine chronologische Zeitvorstellung überhaupt erst ermöglicht. Weil das Dasein zeitlich ist, kann es erst in seinem „vulgären“ Zeitverständnis aufgehen. Heidegger will die hinter unserer gewöhnlich-„uneigentlichen“ Zeitvorstellung liegende „ursprüngliche Zeit“ freilegen, die er als Gleichursprünglichkeit einer aus drei Phasen sich konstituierenden ekstatischen Zeitlichkeit denkt. 461 Die Grundzüge einer solchen ursprünglichen Zeit meint Heidegger über eine in der urchristlichen Lebenserfahrung sich artikulierende „gelebte Zeitlichkeit“ aufzeigen zu können. Die „gelebte Zeitlichkeit“ bildet wiederum die Blaupause für die Konzeption der Eigentlichkeit in Sein und Zeit. Deren Charakteristikum ist ein stark kairologisch-präsentischer Fokus. In der Vorlesung zum Wintersemester 1920/21 Einleitung in die Phänomenologie der Religion reflektiert Heidegger über das Verhältnis von urchristlicher Lebenserfahrung und einer sich darin äußernden Zeitlichkeitsvorstellung, die er für seine Untersuchung des faktischen Lebens fruchtbar machen will. Heideggers Überlegungen sind aus inhaltlicher und methodischer Perspektive interessant. Anhand der Ausführungen des Paulus, insbesondere der im 2. Thessalonicherbrief, ließe sich nach Heidegger ein Zusammenhang zwischen der Frohen Botschaft und einem daran geknüpften spezifischen Zeitlichkeitsverständnis aufweisen. Über eine phänomenologische Analyse der urchristlichen Lebenserfahrung will Heidegger den Vollzugscharakter des faktischen Lebens herausstellen und die dadurch gewonnenen Einsichten für eine „säkulare“ hermeneutische Existenzialanalyse einspannen. Plakativ formuliert: Die Untersuchung der urchristlichen Religiosität liefert Heidegger Erkenntnisse für den Charakter des faktischen Lebens an sich. Am Beispiel der urchristlichen Religiosität meint Heidegger basale vortheoretische, „lebensweltliche“ Strukturen aufzeigen zu können. Zugleich macht die Vorlesung deutlich, dass Heidegger um einen angemessenen Reflexionsmodus „ringt“ und er an der Ausarbeitung eines solchen ebenso interessiert ist wie an diesen Struktu-

460 Murchadha, Zeit des Handelns, S. 34. 461 In Sein und Zeit heißt es: „Wir nennen daher die charakterisierten Phänomene Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart die Ekstasen der Zeitlichkeit. Sie ist nicht vordem ein Seiendes, das erst aus sich heraustritt, sondern ihr Wesen ist Zeitigung in der Einheit der Ekstasen.“ SuZ, S. 329.

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ren selbst.462 Am Beispiel der Selbst- und Weltdeutung der urchristlichen Gemeinde, Heidegger legt für die Analyse dieser die neutestamentarischen Briefe des Paulus zugrunde, arbeitet Heidegger die entscheidenden Merkmale einer solchen religiösen Lebenserfahrung aus. Religiöse Lebenserfahrung – so führt Heidegger in der Phänomenologie der Religion aus – könne nicht „theoretisch“ gedeutet werden als „äußerliche“ Wissensaneignung im Sinne einer vorbildlichen Kenntnis der christlichen Heilsgeschichte oder bestehender Dogmen. Sie müsse vielmehr als ein im Hinblick auf die Parusie bezogener Existenzmodus, als Vollzug verstanden werden: „Das Dogma als abgelöster Lehrgehalt in objektiv-erkenntnismäßiger Abhebung kann niemals leitend für die christliche Religiosität gewesen sein, sondern umgekehrt, die Genesis des Dogmas ist nur verständlich aus dem Vollzug der christlichen Lebenserfahrung. Auch der angeblich dogmatische Lehrgehalt des Römerbriefs ist nur verständlich aus dem Vollzug in dem Paulus steht, in dem er an die Römer schreibt.“463 Heidegger legt über seine Paulusexegese das Wesen der urchristlichen Religiosität als Vollzug offen: „Die christliche faktische Lebenserfahrung ist dadurch bestimmt, dass sie entsteht mit der Verkündigung, die den Menschen in einem Moment trifft und dann ständig mitlebig ist im Vollzug des Lebens […]. Die Akzentuierung des christlichen Lebens ist eine vollzugsmäßige.“464 Religiöse Lebenserfahrung müsse verstanden werden als Existenzvollzug, konkret als das „Wie des Sich-Verhaltens“465 im Hin-

462 Von Hermann unterstreicht den umfassend revolutionären Anspruch der heideggerschen Philosophie, den er schon in dieser Vorlesung verfolgt. Hermann spricht in Bezug auf das von Heidegger verfolgte Programm einer „hermeneutischen Phänomenologie“ von einer „neue(n) Grundlegung der Philosophie nach ihrem Gegenstand und ihrer Methode: Philosophie als Urwissenschaft vom vorund atheoretischen Umweltleben und -erleben, deren methodisches Vorgehen zur erstmaligen Gewinnung dieses vortheoretischen Umweltlebens die aus der Abgrenzung gegen die reflexiv-theoretische Phänomenologie Edmund Husserls entspringende hermeneutische Phänomenologie ist.“ Friedrich-Wilhelm von Hermann: Faktische Lebenserfahrung und urchristliche Religiosität. Heideggers phänomenologische Auslegung Paulinischer Briefe, in: Norbert Fischer/Friedrich Wilhelm von Herrmann: Heidegger und die christliche Tradition, Hamburg, 2007, S. 21-32, hier S. 21f. 463 PrL, S. 112. 464 PrL, S. 117. 465 PrL, S. 106.

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blick auf die Parusie.466 Mit dem für den Christen entscheidenden Moment der Verkündigung werde die Zeitlichkeit in den Daseinsvollzug des Einzelnen/der Gemeinde eingeholt, „gelebt“. Der Glaubensvollzug und ein spezifisches Zeitverständnis fallen so ineinander, Heidegger postuliert: „Die faktische Lebenserfahrung ist historisch. Die christliche Lebenserfahrung lebt die Zeitlichkeit als solche.“467 Heidegger meint über den Umweg einer phänomenologischen Untersuchung der im Urchristentum gelebten Zeitlichkeit, die „ursprüngliche Zeit“ aufweisen zu können. Wie lässt sich der Glaubensvollzug, mit dem das aktive Leben der Zeitlichkeit einhergeht, fassen? Heidegger will darauf hinaus, dass dieser nicht objektiv, empirisch nachweisbar ist, denn die Bezüge des glaubenden Christen zur Umwelt und Mitwelt bleiben „formal“ erhalten. Zugleich eröffnet sich mit der urchristlichen Lebenserfahrung jedoch eine fundamental andere Sinndimension468: „Alle Bezüge erfahren jeweils beim Vollzug eine Retardierung […] müssen hindurchgehen durch den Vollzugszusammenhang des Gewordenseins, so daß dieser dann mit da ist, aber die Bezüge selbst und das, worauf sie gehen, in keiner Weise angetastet werden.“469 Die alltägliche Praxis des zum Christen gewendeten bleibt dieselbe („Bei aller Absolutheit der Umbildung des Vollzugs bleibt hinsichtlich der weltlichen Faktizität alles beim Alten“470), allerdings wandelt sich die Selbstwelt des im Kerygma stehenden Christen fundamental. In der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie (Wintersemester 1919/20) spricht Heidegger ganz plakativ von einer im Urchristentum erfolgten „Verlegung des Schwerpunkts des faktischen Lebens und der Lebenswelt in die Selbstwelt“, hier zeige sich: „Die Selbstwelt als solche tritt

466 Diesen Vollzugscharakter betont auch Sandro Gorgone, wenn er hinsichtlich der Parusie schreibt, dass das „Wichtigste nicht Wesen oder der chronologische und berechenbare Augenblick ihres Geschehens ist, sondern die Weise, in der die Verkündigung ihrer immer wieder bevorstehenden Ankunft das Dasein der Gläubigen verwandelt“. Siehe: Sandro Gorgone: Vom kairós zum Ereignis: Martin Heideggers Auseinandersetzung mit dem Urchristentum, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 62, Heft 4, Leiden, 2010, S. 367-383, hier S. 372 (im Folgenden: Gorgone, Ereignis, Seitenzahl). 467 PrL, S. 80. 468 Heidegger spricht hier von einem „neuen Sinn“. PrL, S. 120. 469 PrL, S. 120. 470 PrL, S. 117.

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ins Leben und wird als solche gelebt“471. Nach außen bleibt, einfach gesagt, „alles beim Alten“, nach „innen“ ändert sich alles, weil mit der Verkündigung die Existenz des Menschen als Christ eine „qualitativ“ andere ist. Die conversio des Christen manifestiert sich nicht als Modifikation der bisherigen objektiv feststellbaren Lebenspraxis. Und trotzdem „passiert“ etwas mit ihm – Heidegger spricht im Hinblick auf die Modifikation der lebensweltlichen Bezüge von einem „Tummelplatz geistreicher Paradoxien“472, der sich hier präsentiere. Heidegger konstatiert: „Damit zeigt sich ein eigentümlicher Sinnzusammenhang an: Die Bezüge zur Umwelt bekommen ihren Sinn nicht aus der gehaltlichen Bedeutung, worauf sie gehen, sondern umgekehrt, aus dem ursprünglichen Vollzug bestimmt sich der Bezug und der Sinn der gelebten Bedeutsamkeit. Schematisch: etwas bleibt unverändert, und doch wird es radikal geändert.“473 Zeitverständnis und Existenzvollzug des Christen sind an die Unbestimmtheit des „Wann“ der Parusie geknüpft. Das Leben der urchristlichen Gemeinde, so stellt Heidegger fest, vollzieht sich als permanente Erwartung und Bereitschaft.474 Präsentischer Grundzug: Phänomenologie des Urchristentums und Augenblickskonzeption in Sein und Zeit Wie „lebt“ – gemäß Heidegger – der Christ die Zeitlichkeit? Der Christ glaubt zum einen an sein „Gewordensein“; hier liegt sein Bezugspunkt in einer nicht „vergangenen“ Vergangenheit. Das Gewordensein durch Gott ist in ihm präsent. Zugleich existiert er in die Zukunft. Der Bezugspunkt des Christen ist hier eine präsente Zukunft, die zu jedem Moment sich realisieren kann. Der Christ lebt in Erwartung, im Erharren eines zukünftigen Ereignisses – der Parusie, deren Eintreffen er nicht beeinflussen kann und

471 Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie, Wintersemester 1919/1920, herausgegeben von Hans-Helmuth Gander, 2. Auflage, HGA 58, Frankfurt am Main, 2010, S. 61 (im Folgenden: GdP, Seitenzahl). 472 PrL, S. 118. 473 PrL, S. 118. 474 Vgl. Constantino Esposito: Heidegger. Von der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität, in: Norbert Fischer/Friedrich Wilhelm von Herrmann: Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, Hamburg, 2011, S. 47-68, hier S. 55 (im Folgenden: Esposito, Faktizität, Seitenzahl).

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die von daher das wesentliche Moment der Unverfügbarkeit in sich trägt. Die „gelebte“ Zeitlichkeit bezieht sich auf ein in der Vergangenheit liegendes (der Messias ist gekommen) sowie ein zukünftiges (der Messias wird wiederkommen) Ereignis. Allerdings sei weder das Gewesene vergangen, noch das Zukünftige in weiter Ferne. Die Nichtbe- und Errechenbarkeit des zukünftigen Ereignisses bewirkt, gerade weil es nicht in der Verfügungsgewalt des Glaubenden steht, eine stetige Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und „Bereitschaft“ des Christen: „Das Wann ist bestimmt durch das Wie des Sich-Verhaltens, dies ist bestimmt durch den Vollzug der faktischen Lebenserfahrung in jedem ihrer Momente.“475 Heidegger erläutert unmissverständlich, dass die Haltung, das Verhalten des Christen sowie seine Zeitvorstellung in einem unmittelbaren Bezug zueinander stehen. Der durch die „gelebte Zeitlichkeit“ geprägte Existenzvollzug der Urchristen weise einen radikalen präsentischen Grundzug aus, den Heidegger als „kairos synestalmenos“476 und „zusammengedrängte Zeitlichkeit“477 beschreibt. Wenn Heidegger in seiner Paulusexegese nachdrücklich konstatiert, „die Christen sollen solche sein“478, wird abermals deutlich, dass dieser Glaubensvollzug ein Existenzmodus ist, der sich im Jetzt als Vollzug ausdrückt und vor allem erst vor dem Hintergrund der sich im Kairos ereignenden Parusie verstehbar ist. Retrospektiv betrachtet zeigt sich, dass es Heidegger mit dieser Vorlesung um eine über den religionsphilosophischen Kontext hinausgehende Untersuchung geht. Die Beschäftigung mit dem für die urchristliche Lebenserfahrung so signifikanten Bewusstseins des Gewordenseins – Heidegger argumentiert, dass sich urchristliche Lebenserfahrung in einem übergeordneten Sinn von Gewordensein versteht, als Glaube an das Gewordensein durch Gott479 – führt Heidegger später in Sein und Zeit weiter, vor allem in seiner Analyse der Geschichtlichkeit taucht dieser Aspekt wieder auf. Die von Heidegger in Sein und Zeit ausgearbeiteten Strukturmomente der Faktizität, Existenzialität und Verfallenheit sowie einer horizontalen ekstatischen Zeitlichkeit sind in dem hier besprochenen Text Phänomenologie des religiösen Lebens, den Matthias Jung zu den „Schrif-

475 476 477 478 479

PrL, S. 106. PrL, S. 119, siehe dazu auch S. 150. PrL, S. 119. PrL, S. 119. Deutlich wird hier der Einfluss Diltheys, der mit seiner Kritik im Namen des Historischen gegen den Apriorismus des Neukantianismus anschreibt.

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ten des Übergangs […] mit tentativen […] Begriffsbildungen“480 zählt, schon in ihren Grundzügen offengelegt. Deutlich wird, dass Heidegger bereits in der hier besprochenen Vorlesung die existenzialanalytische Perspektive immer vor Augen hat: „Warum gerade die christliche Religiosität im Blickpunkt unserer Betrachtung liegt, das ist eine schwere Frage; beantwortbar ist sie nur durch die Lösung des Problems der geschichtlichen Zusammenhänge. Es ist Aufgabe, ein echtes und ursprüngliches Verhältnis zur Geschichte zu gewinnen, das aus unserer eigenen geschichtlichen Situation und Faktizität zu explizieren ist. Es kommt darauf an, was der Sinn der Geschichte für uns bedeuten kann, damit die ‚Objektivität‘ des Geschichtlichen ‚an sich‘ verschwindet.“481 Heidegger kann also über die phänomenologische Untersuchung der urchristlichen Lebenserfahrung den „ontologischen Sinn der Faktizität des Lebens und der Geschichtlichkeit“482 herausarbeiten. In Grundprobleme der Phänomenologie hält er fest: „Was im Leben der urchristlichen Gemeinden vorliegt“ sind „Motive für die Ausbildung ganz neuer Ausdruckszusammenhänge, die sich das Leben schafft, sogar bis zu dem, was wir heute Geschichte nennen“483. In Sein und Zeit wird die Geschichtlichkeit des Daseins erst zum Ende hin offengelegt, von der aus Heidegger den Übergang zu einer ursprünglichen Zeitauffassung vordringen will. Vor dem Hintergrund einer messianisch-eschatologisch-kairologischen Perspektive betonten die Paulinischen Schriften – so Heidegger – den historisch-zeitlichen Charakter der für das Dasein unhintergehbaren Faktizität. Die Erkenntnisse der Analyse dieser macht Heidegger wiederum gegen eine objektivierende Zeit- und Geschichtsauffassung stark.

480 Matthias Jung ordnet dieser Schrift einen vorbereitenden Status zu, wenn er schreibt: „Gerecht werden lässt sich diesen Texten nur, wenn man sie als Schriften des Übergangs versteht, mit entsprechend tentativen, von Semester zu Semester variierenden Begriffsbildungen, die gegen die objektgeschichtliche Tendenz der eingeführten Begrifflichkeit nicht selten gewaltsam eine eigene Sprache stellen, mit der der Vollzugscharakter des Verstehens zum Ausdruck kommen soll.“ Matthias Jung: Phänomenologie der Religion. Das frühe Christentum als Schlüssel zum faktischen Leben, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 2003, S. 8-13, hier S. 10 (im Folgenden: Jung, Phänomenologie, Seitenzahl). 481 PrL, S. 124f. 482 Esposito, Faktizität, S. 49. 483 GdP, S. 61.

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Was als gelebte Zeitlichkeit im Urchristentum sichtbar wird, dient Heidegger in Sein und Zeit als Folie für die Ausarbeitung eines eigentlichen Zeitverständnisses, das den christlichen „Überbau“ als Rahmen inhaltlich entbehren kann, als formale Struktur aber mitschleift. Ein wesentlicher Aspekt, den Sandro Gorgone in seinem Aufsatz als Transformation beschreibt, die als „eine ‚Säkularisierung‘ der messianischen Zeit in eine kairologisch-existenzielle Zeit“ verstanden werden könne, „wo der Todesvorlauf, durch den der Mensch seine Eigentlichkeit erreichen kann, die Verkündigung der Parusie ersetzt.“484 Auch Matthias Jung argumentiert in diese Richtung, wenn er hinsichtlich des von Heidegger in Sein und Zeit ausgearbeiteten eigentlichen Zeitlichkeitskonzepts darauf hinweist, dass gerade die von Heidegger beanspruchte und vom christlichen Kontext losgelöste Paradigmatisierung problematisch ist, weil Heideggers Konzeption der eigentlichen Zeitlichkeit genuin „von transzendenten Voraussetzungen“485 durchdrungen ist. Thomas Rentsch hat darauf verwiesen, dass Heidegger im Zusammenhang seiner Ausarbeitung der eigentlichen Zeitlichkeit den „Gehalt“ der kierkegaardschen Augenblicksanalysen deutlich unterbewertet.486 Kierkegaard, so Heidegger in Sein und Zeit, habe es in seinen Überlegungen zum „Augenblick“ zwar weit gebracht, letztendlich verbleibe er aber einem „vulgären Zeitbegriff verhaftet“487. Kierkegaard habe – und an dieser Stelle führt Heidegger seine Fundamentalkritik gegen ihn ins Spiel – die existenzielle Dimension des Augenblicks gesehen aber eine existenziale Bestimmung dessen nicht geleistet. Heidegger beschreibt den Augenblick als „eigentliche Gegenwart“, die „grundsätzlich nicht aus dem Jetzt aufgeklärt werden“488 könne. Weiter konkretisiert Heidegger den Augenblick als Zeitlichkeitsekstase und profiliert ihn als Pendant einer „uneigentlichen“ Gegenwart – dem „Gegenwärtigen“489.

484 Gorgone, Ereignis, S. 377. 485 Jung, Phänomenologie, S. 12. 486 Thomas Rentsch schreibt: „Die Fußnote zu Kierkegaard auf S. 338 (von Sein und Zeit – P. K.) wird dessen Vorarbeit zum Augenblicksbegriff wohl nicht voll gerecht.“ Thomas Rentsch: Zeitlichkeit und Alltäglichkeit, in: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger. Sein und Zeit, Berlin, 2001, S. 199-228, hier S. 202 (im Folgenden: Rentsch, Zeitlichkeit und Alltäglichkeit, Seitenzahl). 487 SuZ, S. 338, Anmerkung unten. 488 SuZ, S. 338. 489 SuZ, S. 338.

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Legen wir im Folgenden für die weiteren Überlegungen Heideggers Definition des Augenblicks zugrunde: „Die in der eigentlichen Zeitlichkeit gehaltene, mithin eigentliche Gegenwart nennen wir den Augenblick. Dieser Terminus muß im aktiven Sinne als Ekstase verstanden werden. Er meint die entschlossene, aber in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet.“490 Der Augenblick wird mit den Attributen „im aktiven Sinne“ und „in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins“ belegt – hier artikuliert sich die pragmatische Konnotation im Sinne eines „Wachseins“ und einer „Bereitschaft“, die in dem begriffsgeschichtlichen Exkurs zum Augenblick herausgearbeitet, in den Passagen zur Hermeneutik der Faktizität aufgezeigt und in Kapitel zuvor erläutert wurde. Die zitierte „in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins“ hat mitnichten theoretischen, passiven Charakter, denn die „Entschlossenheit stellt sich nicht erst, kenntnisnehmend, eine Situation vor, sondern hat sich schon in sie gestellt. Als entschlossenes handelt das Dasein schon.“491 Nehmen wir auf die vorangegangenen Überlegungen des Abschnitts zum Augenblick Bezug, sehen wir, dass Heidegger die in der kierkegaardschen Augenblickkonzeption akzentuierte Bezogenheit auf den Existenzvollzug des Daseins in seine Untersuchung hineinnimmt – augenblicklich kann das Dasein nur als eigentliches sein. Ebenso kehrt der Augenblick als ein besonderer zeitlicher Moment in der heideggerschen Analyse wieder.492 Der pragmatische Strang der heideggerschen Fundamentalontologie lässt sich insbesondere über die darin angelegte Verschränktheit und systematische Verklammerung der Phänomene Augenblick, Angst und Eigentlichkeit aufhellen. Hatten wir oben den Augenblick mit Heidegger „im aktiven Sinne“ als „in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung“ erfasst, der das Dasein auf sein „da“ und „die Situation“ vorbereitet, soll das Gesagte nun mit der heideggerschen Angstkonzeption in einen Zusam490 SuZ, S. 338. 491 SuZ, S. 300. 492 Was sich im Kairos als zu ergreifende Gelegenheit zeigt, bleibt in einer nichtchristlichen Auslegung undefiniert, inhaltslos und bietet von daher willkommene Projektionsfläche für ein breites Spektrum an säkularisierten Deutungsformen. Zum Beispiel eine im Hinblick auf das Eschaton des Heilsgeschehens reformulierte geschichtsphilosophische Deutung des historischen Prozesses, in den nun entsprechend der ideologischen Prämissen im Augenblick handelnd eingegriffen werden kann.

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menhang gestellt werden, um die eingangs des Kapitels behauptete Transformation der Augenblickssemantik in die Konzeption der Angst verständlich zu machen. Ermöglichungs- und Erschließungscharakter der Angst Heideggers und Kierkegaards „Angstdefinitionen“ decken sich in struktureller Hinsicht – darauf haben Autoren wie Joachim Ringleben und Edith Düsing verwiesen.493 In der (hier zugrunde liegenden) Schrempf-Übersetzung beschreibt Haufniensis-Kierkegaard die Angst als „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit vor der Möglichkeit“494. Auch Heidegger deutet die Angst als Ermöglichungsgrund. Hatte Kierkegaard einen Zusammenhang von Angst, Nichts, Möglichkeit und Seinkönnen konstatiert495, stellt Heideggers Angstbestimmung eine säkularisierte und in die Fundamentalontologie überführte Denkfigur dar, die in systematischer

493 Jörg Disse dagegen sieht bis auf die phasenweise Verwendung der gleichen Terminologie keine inhaltlichen Anknüpfungspunkte im Hinblick auf die Angstkonzeption beider Autoren und verweist auf die aus seiner Sicht nicht miteinander zu vereinbarenden anthropologischen Prämissen (teleologisch bei Kierkegaard, ateleologisch bei Heidegger). So resümiert Disse „daß Kierkegaard und Heidegger, was ihr jeweiliges Angstverständnis und die unmittelbar damit zusammenhängenden Existenzmomente betrifft, zwar ständig mit den gleichen Begriffen operieren, dies aber auf dem Hintergrund einer diametral entgegengesetzten inhaltlichen Bestimmung dieser Begriffe. Dabei resultiert die Differenz wesentlich aus dem Gegensatz von teleologischem und a-teleologischem Menschenbild. Aufgrund dieses Gegensatzes kann über die gemeinsame formale Begrifflichkeit hinaus m. E. von einer inhaltlichen Gemeinsamkeit bezüglich dem Angstverständnis der beiden so gut wie nicht die Rede sein“. Jörg Disse: Philosophie der Angst: Kierkegaard und Heidegger im Vergleich, in: Kierkegaardiana 22, herausgegeben von Richard Purkarthofer u. a., Kopenhagen, 2002, S. 64-88, hier S. 87f. Der Ansatz meiner Arbeit führt eine gegenteilige Ansicht aus, zumal ich darüber hinaus behaupte, dass Heideggers Eigentlichkeitskonzeption in Sein und Zeit eine implizite Teleologie mit sich führt. 494 BA, S. 203. 495 Kierkegaards Angstschrift setzt den Fokus auf die psychologische Klärung des Zusammenhangs von Erbsünde, Angst und Geistwerdung. Die Angst tritt an Adam als ein „Nichts“ im Sinne des Unbestimmbaren, Unbekannten, Plötzlichen heran. Hinter dem für Adam eigentlich unverständlichen Verbot Gottes (vom Baum der Erkenntnis zu kosten) scheint allerdings eine undefinierte „Möglichkeit zu können“ hindurch – eine andere Seinsmöglichkeit, jenseits des Zustands der Unschuld.

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Hinsicht zentrale Inhalte der kierkegaardschen Angst- und Augenblicksbzw. Kairoskonzeption zusammenführt. Heidegger definiert die Angst als „Grundbefindlichkeit“496. Über eine Analyse der Angst als einem ausgezeichnetem Phänomen könnten, so Heidegger, die Seinsweisen von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als gleichursprüngliche aufgezeigt werden: „Das Freisein für das eigenste Seinkönnen und damit für die Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zeigt sich in einer ursprünglichen, elementaren Konkretion in der Angst.“497 Ebenso wie über das „Sein zum Ende“ als Tod – hier sei auf das erste Kapitel des zweiten Abschnitts von Sein und Zeit verwiesen498 – kann Heidegger anhand der Angst die Grundverfassung des Daseins (als Geworfenheit und Entwurf) offenlegen. In der „Unheimlichkeit“ der Angst, im mit der Angst sich einstellenden Verlust der dem Dasein vertrauten Zusammenhänge und Bezüge, ist das Dasein auf sich zurückverwiesen. Dieser Rückverweis auf das Selbst des Daseins bewirke – so Heidegger – eine Abspaltung vom Man, aus dem das Dasein in der Angst herausgelöst wird: „Die Angst dagegen holt das Dasein aus seinem verfallenden Aufgehen in der »Welt« zurück. Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen.“499 Die Angst ist in dieser Perspektive eine Störung, die den Modus des Verfallens als „Flucht des Daseins vor ihm selbst als eigentlichem Selbst-sein-können“500 potenziell aufbricht. Dreh- und Angelpunkt der Bezeugung der Eigentlichkeit ist eine radikale Vereinzelungsdynamik; Heidegger beschreibt diese stark isolationistische Tendenz als einen „existenziale(n) »Solipsismus«“501. Die von der objektbezogenen Furcht unterschiedene, gegenstandslose und nicht konkret bestimmbare Angst vor dem „In-der-Welt-sein“ vereinzelt das Dasein und erhellt ihm die eigene Verfassung, die Heidegger als „Möglichsein“ bestimmt: „Mit dem Worum des Sichängstens erschließt daher

496 Der Titel des § 40 lautet: Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins. 497 SuZ, S. 191. 498 Hierzu Heidegger: „Wenn anders der Tod in einem ausgezeichneten Sinne zum Sein des Daseins gehört, dann muß er (bzw. das Sein zum Ende) von diesen Charakteren aus sich bestimmen lassen. Zunächst gilt es, überhaupt einmal vorzeichnend zu verdeutlichen, wie sich am Phänomen des Todes Existenz, Faktizität und Verfallen des Daseins enthüllen.“ SuZ, S. 250. 499 SuZ, S. 189. 500 SuZ, S. 184. 501 SuZ, S. 188.

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die Angst das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann. Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen“ 502. Wenig später fasst Heidegger zusammen: „Diese Vereinzelung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht ihm Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar.“503 Heidegger spricht von der Angst als einer „ausgezeichnete(n) Erschlossenheit des Daseins“, als „Grundbefindlichkeit“ sei die Angst dem Dasein wesenseigen. Nach Heidegger verhält sich das Dasein immer irgendwie zu seiner Angst als Grundbefindlichkeit, indem es vor seiner Grundbefindlichkeit flieht, oder indem es diese zulässt. Das „In-der-Welt-sein“ als solches stellt sich dem Holismus des Man-selbst als fremde, transzendente, bedrohliche Nichtfassbarkeit entgegen. So gesehen wird das Dasein nicht nur vom Man „gelebt“, wie Heidegger im § 27 von Sein und Zeit konstatiert, sondern auch das Man-selbst durch die Angst vor dem In-der-Weltsein an sich der das Dasein ständig flieht. Zwar kann das Dasein die Angst meiden, „loswerden“ kann sie sie jedoch nicht. Als existierendes, sich in der Welt verstehendes, entwerfendes, verhaltendes wurde das Dasein von Heidegger als primär in der Alltäglichkeit des Man sich befindendes beschrieben, das die Angst von sich fernhält und sich an die Vertrautheit der alltäglichen Bezüge bindet. Der von Heidegger wiederholt beschriebene Fluchtcharakter des Daseins – die Tendenz, der Angst zu fliehen – konstituiert den Modus der Uneigentlichkeit. Kommt die Vertrautheit der Uneigenlichkeit ins Wanken, muss eine solche Irritation hervorrufende Angst vom Man-selbst als Bedrohung abgewiesen werden. Gemäß Heidegger ist die Angst als Grundbefindlichkeit immer präsent und als solche in zweifacher Hinsicht richtungsweisend. Sie ist als vorgängige Stimmung einerseits Ursache für die ständige Flucht des Daseins in das Man, eine Dynamik, die Heidegger im § 38 als „Bewegtheit“504, „Absturz“505 und „Wirbel“506 beschreibt. Das Dasein treibt sich in seine Uneigentlichkeit, weil es der Angst, die als „Un-zuhause“507

502 503 504 505 506 507

SuZ, S. 187f. SuZ, S. 190f. SuZ, S. 178. SuZ, S. 178. SuZ, S. 179. SuZ, S. 189.

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bzw. „Unheimlichkeit“508 herantritt, zu entkommen sucht. Aus ontologischer Perspektive kann die Angst anderseits das Dasein in die entgegengesetzte Richtung – hin zur Eigentlichkeit – führen. Lässt das Dasein die Angst zu, zeigt sie ihm gewissermaßen die Möglichkeit seines eigentlichen Seinkönnens an und gibt dem Dasein damit die Bedingung der Möglichkeit des Ergreifens dieser Existenzmöglichkeit. Die oben zuvor erläuterte und durch die Angst initiierte wesentliche Dynamik der Vereinzelung bewirkt zugleich die Möglichkeit eines Erschließens. Die Herauslösung aus vertrauten Bezügen, die Konfrontation mit einem in der Angst sich anzeigenden Nichts, das wiederum nicht nichts ist („Die Aufsässigkeit des innerweltlichen Nichts und Nirgends besagt phänomenal: das Wovor der Angst ist die Welt als solche.“509), ermöglicht, dass sich das Dasein sein Sein in vollem Umfang erschließt – als Möglichkeit, auch eigentlich sein zu können. Allerdings muss das Dasein „mitspielen“ und die Entschlossenheit aufbringen, sich von der Angst führen zu lassen: „Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für... (propensio in...) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist.“510 Die Angst bereitet also den Boden für eine Wahl, die im Kapitel zuvor als „Wählen der Wahl“ näher analysiert wurde. Heidegger liefert eben an jenem Punkt eine genuin existenzialistische Wahlmetaphorik, für die er Sartre – unter dem Schlagwort eines fehlgeleiteten „Humanismus“, den er als verkappten Subjektivismus identifizierte – kritisierte. In der Angst erlangt das Dasein, so die Konzeption Heideggers, Aufklärung über die Verfasstheit seines Seins: „Allein in der Angst liegt die Möglichkeit eines ausgezeichneten Erschließens, weil sie vereinzelt.“511 An anderer Stelle schreibt Heidegger: „Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als »solus ipse«“512. Der ermöglichende Charakter der Angst ist demnach zugleich auch ein erschließender, da sie dem vereinzelten Dasein seine grundsätzlichen Seinsmöglichkeiten, eigentlich bzw. uneigentlich zu existieren, sichtbar

508 509 510 511 512

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SuZ, S. 189. SuZ, S. 186f. SuZ, S. 188. SuZ, S. 190f. SuZ, S. 188.

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macht. Damit erschließt sich das Dasein sein eigenes Sein, das über die Angst erst in seiner ganzen Komplexität sich andeutet. Die Angst ermöglicht dem Dasein Einblick in die eigene Tiefenstruktur, die es sich damit zugleich auch erschließen kann: „Wenn das Dasein die Welt eigens entdeckt und sich nahebringt, wenn es ihm selbst sein eigentliches Sein erschließt, dann vollzieht sich dieses Entdecken von »Welt« und Erschließen von Dasein immer als Wegräumen der Verdeckungen und Verdunkelungen, als Zerbrechen der Verstellungen, mit denen sich das Dasein gegen es selbst abriegelt.“513 Das „Zerbrechen der Verstellungen“ erfolgt durch die Angst, die wiederum das „entschlossene Vorlaufen“ als „Sein zum Tode“514 – als existenziell bezeugter Entwurf – ermöglicht. Die Angst treibt also einerseits das Dasein in seine Uneigentlichkeit, sie weist ihm andererseits als ausgezeichnete Stimmung die Eigentlichkeit als Seinsmöglichkeit auf. Sie hat damit verdeckenden, ermöglichenden und erschließenden Charakter. Nur in dieser Zwiespältigkeit ist das Phänomen der Angst, wie es Heidegger denkt, vollständig erfasst. Strukturelle Spiegelungen: Die Wiederkehr des Augenblicks in der Angst Der für die Eigentlichkeitsthematik zentrale § 40 von Sein und Zeit zeigt, dass auch in der Angstkonzeption die semantischen Ebenen des Kairos bzw. des Augenblicks – konkret die Unverfügbarkeitsperspektive auf der einen sowie die Handlungsoption des einzelnen Daseins auf der anderen Seite – enthalten sind. Heidegger beschreibt die Angst als ein Phänomen, das plötzlich über das Dasein einbricht, er kleidet die Angst in die Gestalt

513 SuZ, S. 129. 514 SuZ, S. 262. Dieses „Sein zum Tode“ und das „entschlossene Vorlaufen“ konkretisiert Heidegger als „Vorlaufen in die Möglichkeit“: „Das Sein zur Möglichkeit als Sein zum Tode soll aber zu ihm sich so verhalten, daß er sich in diesem Sein und für es als Möglichkeit enthüllt. Solches Sein zur Möglichkeit fassen wir terminologisch als Vorlaufen in die Möglichkeit.“ (SuZ, S. 262) Dieser Ermöglichungscharakter ist entscheidend und er zeigt noch einmal die Richtung der existenziellen Modifikation des Daseins an: „Das Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit ermöglicht allererst diese Möglichkeit und macht sie als solche frei. Das Sein zum Tode ist Vorlaufen in ein Seinkönnen des Seienden, dessen Seinsart das Vorlaufen selbst ist. Im vorlaufenden Enthüllen dieses Seinkönnens erschließt sich das Dasein ihm selbst hinsichtlich seiner äußersten Möglichkeit.“ SuZ, S. 262.

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eines eigenständig handelnden Akteurs, der dem Dasein gegenübertritt und der das Dasein mit sich selbst konfrontiert: „Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der »Welt« und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können. Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft.“515 Mit dieser Inszenesetzung der Angst (siehe Zitat die Satzanfänge: „Die Angst benimmt…“, „Sie wirft das Dasein auf das zurück…“, „Die Angst vereinzelt das Dasein…“) als quasi-handelndes Subjekt rückt er ihre Konzeption in die unmittelbare Nähe zu der des Augenblicks. Die Initiation der Irritation des Daseins, die Störung, geht von der Angst aus. Sie kommt plötzlich und unerwartet. Diese autodynamische Perspektive der Angstkonzeption deckt sich mit der im Augenblick angelegten Unverfügbarkeitsdimension. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Angst, vergegenwärtigt man sich zudem ihren zuvor erläuterten Ermöglichungs- und Erschließungscharakter, ebenso wie der Augenblick, auch occasio. Heideggers Rede vom „angstbereiten Sichentwerfen“516 wiederum weist auf die in der Angstkonzeption angelegten pragmatischen Implikationen. Die Eigentlichkeitswerdung des Daseins erfolgt, indem sich das Dasein der Angst aktiv und radikal ausliefert. Das Dasein muss den Moment der sich aufdrängenden Angst nutzen, indem es ihn zulässt. Den Moment der Angst zu nutzen heißt aber auch, für sie bereit zu sein. Wir sehen, dass die oben zitierte Angstbereitschaft sich strukturell mit der Augenblicksbereitschaft deckt. Die Angst stellt sich so auch als Gelegenheit und implizite Forderung an das Dasein dar. Als Gelegenheit, in der sich das Dasein seiner existenzialen Verfasstheit durchsichtig werden kann; als Forderung, sein angezeigtes eigentliches Seinkönnen zu ergreifen. Insofern ist auch die heideggersche Angst opportunitas. Hinsichtlich des Ermöglichungscharakters der Angst und der daran gekoppelten Mitwirkung des Daseins, sich von dieser Angst führen zu lassen, also „mitzuarbeiten“, ergibt sich eine Nähe zur theologischen Konzeption der Gnadenwirkung. Die entscheidende Bedeutung der gratia praeveniens liegt darin, dass sie den Erbsündenbann bricht, indem sie den Menschen zum Glauben an Gott erst befähigt. Sie beeinflusst das Dasein,

515 SuZ, S. 187. 516 Siehe SuZ, S. 297, S. 302, S. 382.

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sie wirkt vorausgehend. Um also Christ zu werden, bedarf es der Hilfe von „außen“, der göttlichen Unterstützung. Im Umkehrschluss heißt dies: Dem Menschen ist es allein aus eigener (menschlicher) Kraft nicht möglich, ein Glaubender zu werden. Auslöser und Wirkursache ist eine durch Gott hervorgerufene „Wesensveränderung“ des Menschen. Die auf den Glauben ausgerichtete Aktivität des menschlichen Willens ist eine Folge der durch Gott wirkenden Gnade.517 517 Das grundlegende Problem des durch die Erbsünde gegangenen Menschen besteht in seiner prinzipiellen „Verdorbenheit“ und Entfremdung und der daraus resultierenden Unfähigkeit, Gott zu erkennen, zu lieben etc. Der Mensch ist also vollständig auf die göttliche Gnade angewiesen, die sich wiederum gänzlich seiner Verfügungsgewalt entzieht. Mit der gratia praeveniens als einer als Geschenk zu verstehenden gratia gratis data setzt aus theologischer Perspektive im weiteren Verlauf der Christwerdung ein Synergismus von göttlicher Gnadenwirkung und menschlichem Handeln ein. Erst mit dieser zuvor erfahrenen Wesensveränderung kann der Einzelne mit seinen beschränkten Einflussmöglichkeiten das Seinige dazutun. Ein Blick in die Theologische Realenzyklopädie verdeutlicht die basalen Gedanken von gratia praeveniens sowie anschließendem Synergismus: „Die Gnade begegnet dem Sünder […] im Bekehrungsruf (vocatio) als zuvorkommende Wortgnade. Der Mensch reagiert unter dem Einfluss der seinen Willen bewegenden gratia gratis data mit dem Glauben, der als erste disponierende Wirkung der Gnade gilt und als solche ein Verdienst begründet, weil Gott angemessen auf diese Öffnung reagiert. Damit bereitet der Mensch sich auf das weitere Gnadenhandeln vor, ohne einen eigenständigen Beitrag dazu zu leisten. […] Durch die von der Gnade eingegossenen Tugenden wird der Christ innerlich so verändert, dass er spontan das Gute vollbringt und so in Freiheit das ‚Gesetz des Evangeliums‘ bzw. ‚Gesetz der Gnade‘ erfüllt. So kommt die Rechtfertigung als effektive Veränderung und Teilhabe an Gott, ‚das größte Werk Gottes‘, zustande. Das neue Sein ermöglicht das neue Handeln; beides ist sowohl ganz Gottes Werk als auch menschlicher Vollzug.“ Henning Graf Reventlow/Robert Goldenberg/Eugen Ruckstuhl/Wolf-Dieter Hauschild/Klaus Otte: Artikel „Gnade“ in: Theologische Realenzyklopädie, Band 13, Gesellschaft /Gesellschaft und Christentum VI – Gottesbeweise, Teil 1, Berlin/New York, 1984, S. 459-511, hier S. 487f. Barbara Steinke beschreibt anhand der Bußtheologie des Georg Falder-Pistoris sehr anschaulich das Zusammenspiel von göttlicher Gnade und menschlichen Bemühen und Willen: „Entscheidend ist zunächst der Einfluss der göttlichen Gnade. Sie bedarf keinerlei Vorbereitung durch den Menschen, sondern gründet allein in der milden Barmherzigkeit Gottes, der an die Herzenstür des Sünders pocht. Die gratia praeveniens bewirkt im menschlichen Herz die Regung zur Reue, vorausgesetzt der Mensch verwehrt sich ihr nicht. Wahre Reue entsteht erst in einem dritten Schritt aus dem Zusammenwirken der Regung zur Reue mit dem menschlichen Willen. Diese führt schließlich zur Vergebung der Sünde.“ Barbara Steinke: Paradiesgarten oder Gefängnis?: das Katharinenkloster zwischen Klosterreform und Reformation, Tübingen, 2006, S. 118ff.

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Bei Heidegger ließe sich – in Anspielung auf den eben geschilderten theologischen Synergismus – von einem „existenzialen Synergismus“ sprechen. Wie aus theologischer Perspektive eine Gnadenwirkung Gottes im Sinne der gratia praeveniens vorausgeht, damit der Glaubende in den Glaubensstand gelangt, wird mit dem Phänomen der Angst die Bedingung der Möglichkeit eines eigentlichen Seinkönnens gegeben. Die Angstwirkung geht der existenziellen Bezeugung der Eigentlichkeit voraus – ohne Angst keine Eigentlichkeit. Auch die Angst bewirkt eine Art Wesensveränderung, indem sie den hermetischen Holismus des Man-selbst aufbricht und so das Dasein massiv im Sinne einer Störung beeinflusst. Zwar definiert Heidegger die Angst als „Grundbefindlichkeit“ und macht sie damit zu einem „Teil“ des Daseins. Zugleich – das wurde dargelegt – setzt Heidegger die Angst als Quasi-Akteur gegen ein sich der Angst verschließendes Man in Szene. Anstelle des Kairos betritt die heideggersche Angst als eigenständiger, latent und subtil unverfügbarer Protagonist die Bühne des existenzialen Dramas. Die Angst wirkt bei Heidegger nach „innen“. Es geht es um das Sein des Daseins, um die Frage eines eigentlichen Existierens. Die von Heidegger über die Phänomenologie der urchristlichen Religiosität bestimmte „gelebte“ Zeitlichkeit kehrt in Sein und Zeit existenzial ausdifferenziert wieder und ist als Hintergrundfolie deutlich präsent. Am Beispiel seiner Erläuterungen zur Angst und zum Augenblick kann gezeigt werden, dass Heidegger mit der Angst- und Augenblickbereitschaft eine präsentisch zu verstehende Haltung des Daseins festschreibt. Hatte der Exkurs zum Kairosbegriff offengelegt, dass der Augenblick als occasio und opportunitas zu verstehen ist, stellt sich auch die heideggersche Angst als Gelegenheit sowie als implizite Forderung an das Dasein dar. Die pragmatische Dimension wird über die an die Angst geknüpfte Eigentlichkeit auf einen präsentischen Aktionsradius hin zusammengeführt und zugespitzt.

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8. Existenzialistische Missverständnisse – Heideggers ambivalente Rhetorik, Kierkegaards Rhetorik der Ambivalenz

In seinem Aufsatz Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit518 befasst sich Andreas Luckner mit Heideggers Konzeption von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit; konkret mit der Frage, in welchem Verhältnis die beiden Modi zueinander stehen und wie das Verhältnis sich genau gestaltet. In diesem Zusammenhang greift Luckner eine „ethische“ Lektüre von Sein und Zeit auf, um diese vehement zurückzuweisen. Wer Heideggers Konzept der Eigentlichkeit normativ und somit als „ethisches Ideal“519 interpretiere – so Luckner –, säße einem „existenzialistischen Missverständnis“520 auf. Die Eigentlichkeit dürfe gerade nicht als eine auf die konkrete Lebenspraxis bezogene ethische Forderung an das Dasein gelesen werden, sich zwischen zwei Lebensformen zu entscheiden bzw. eine optionale Wahl zu treffen, entweder eigentlich oder uneigentlich zu existieren.521 Eine solche Deutung lege einen existenzphilosophisch verkürzten Dezisionismus in Heideggers Analysen hinein und ignoriere die leitende Unterscheidung von „existenziell“ und „existenzial“. Ergo: Eine existenzialistische Sein und Zeit-Lektüre ginge an dem, was Heidegger eigentlich meint, zielsicher vorbei. Luckners Rede vom „existenzialistischen Missverständnis“ der Leser Heideggers möchte ich nun zum Ausgangspunkt für meine anschließenden Überlegungen nehmen. Ich meine, Luckner liegt damit

518 Abgedruckt in: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger. Sein und Zeit, Berlin, 2001, S. 149-169 (im Folgenden: Luckner, Zum Begriff der Eigentlichkeit, Seitenzahl). 519 Luckner, Zum Begriff der Eigentlichkeit, S. 156. 520 Luckner, Zum Begriff der Eigentlichkeit, S. 155. 521 Luckner schreibt: „Wenn man nun die beiden Grundmöglichkeiten personaler Existenz wie zwei wählbare Optionen nebeneinander hält, scheint man schnurschtracks bei einer ‚Ethik der Eigentlichkeit’ zu landen, nach der man, platt gesagt, eigentlich oder authentisch existieren soll, oder noch platter gesagt: nach der ‚eigentlich’ gut und ‚uneigentlich’ schlecht wäre. Genau dies will ich das existentialistische Missverständnis der Leser Heideggers nennen.“ Luckner, Zum Begriff der Eigentlichkeit, S. 155.

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richtig und „falsch“ zugleich. Meine Einschätzung möchte ich in den kommenden Zeilen ausführen und begründen. Normative Eigentlichkeit? – gegensätzliche Deutungen Autoren wie Karl Löwith522, Jiro Witanabe523 und Thomas Rentsch524 weisen darauf hin, dass das Differenzparadigma Eigentlichkeit/Uneigentlichkeit entscheidend für das Verständnis von Sein und Zeit ist. Hinsichtlich des Status‘ der Eigentlichkeit gehen die Meinungen in Rezeption und Forschung auseinander. Ganz besonders betrifft dies die Frage, ob die Eigentlichkeit normativ zu verstehen sei. Siegried Marck zum Beispiel, auf den sich Löwith in seinem Aufsatz Phänomenologische Ontologie und Protestantische Theologie kritisch bezieht, argumentiert, dass Heideggers Ausarbeitung der Eigentlichkeit auf einer weitestgehend „neutralen“ Fundamentalontologie basiere, die dann erst gegen Ende von Sein und Zeit zu kulturkritischen Affekten neige.525 Löwith wendet sich gegen Marcks Interpretation einer erst im weiteren Verlauf von Sein und Zeit vollzogenen normativen Aufladung der anfänglich „neutralen“ Analysen und legt hingegen dar, dass die Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit das Leitmotiv von Sein und Zeit bilde: „mit dieser grundsätzlichen und fragwürdigen Entscheidung eigent-

522 Karl Löwith: Phänomenologische Ontologie und Protestantische Theologie, in: Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Königstein, 1984, S. 54-77, hier S. 56 (im Folgenden: Löwith, Ontologie, Seitenzahl). 523 So schreibt Jiro Witanabe: „Das Problem der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit beherrscht das Ganze der existenzialen Analytik von ‚Sein und Zeit‘ […] Es ginge nicht zu weit, wenn man sagte, das Ganze der in ‚Sein und Zeit‘ vollzogenen Analysen laufe einzig darauf hinaus, Seinsstruktur und Seinssinn des Daseins im Hinblick auf diese zwei Möglichkeiten zu verfolgen und klar herauszustellen.“ Jiro Witanabe: Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bei Heidegger, in: Journal of the Faculty of Letters, Aesthetics, Band 11, Tokyo, 1986, S. 61-75, hier S. 67. 524 Thomas Rentsch spricht im Kontext von grundsätzlichen Überlegungen zu Sein und Zeit von einer „den Gesamtaufbau vertikal strukturierende(n) Fundamentalunterscheidung“. Rentsch, Hermeneutik der Endlichkeit, S. 58. 525 Löwith referiert in diesem Zusammenhang auf die Monographie von Siegfried Marck: Die Dialektik der Philosophie der Gegenwart, Erster Band, Tübingen, 1929, besonders auf S. 144ff.

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lichen und uneigentlichen Daseins […] wird der positiv leitende Existenzbegriff, eben im Sinn einer ‚Eigentlichkeit‘, von vornherein formal angezeigt, und dieser leitet den ganzen Aufbau von Anfang an, wenngleich diese leitende Idee von der Eigentlichkeit der Existenz dem äußeren Fortgang der Darstellung erst am Ende deutlich heraustritt“526. Die aus der anfänglich scheinbar formalen Setzung der Differenz von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit resultierenden Implikationen – so Löwith – seien also folgenreich für das Verständnis des gesamten Titels und mitnichten als neutral zu charakterisieren. Diese paradigmatische Positionierung zu beiden Seiten hin („neutrale“ Existenzialanalyse, normative Aufladung dieser) betrifft nicht nur Löwith und Marck. Während Andreas Luckner (siehe oben) ebenso wie FriedrichWilhelm von Herrmann527 und Sebastian Hübsch528 in Heideggers Analysen der Eigentlichkeit keinen ethisch-normativen Subkontext enthalten sehen, weist Michael Pauen daraufhin, dass im Verlauf von Sein und Zeit „Heideggers normative Urteile zunehmend entschiedener [ausfallen – P. K.], ohne dass der Maßstab, an dem sie sich orientieren, zur Diskussion gestellt würde“529. Auch Ernst Tugendhat sieht – ähnlich wie Löwith, Pauen und ganz prominent auch Sartre – den „offenkundigen“, „normative(n) Charakter“ der heideggerschen Eigentlichkeitskonzeption.530 Welche Lesart ist die „richtige“? Gibt es eine solche „richtige“ Lesart und warum sind diese gegensätzlichen Deutungsperspektiven überhaupt möglich? Ich halte es für unangemessen, die existenzialistischen Potenziale von Sein und Zeit auszublenden. Zugleich läuft die Totalisierung einer normativ-ethischen Eigentlichkeitsinterpretation Gefahr, Heidegger einem ontisch-existenziellen Kurzschluss zu überantworten.531 Denn es ist kaum zu bestreiten, dass Heideggers Reflexionen deutlich tiefer angelegt sind,

526 Löwith, Ontologie, S. 56. 527 Siehe Fußnote 11. 528 Siehe dazu: Sebastian Hübsch: Langeweile bei Heidegger und Kierkegaard. Zum Verhältnis philosophischer und literarischer Darstellung, Tübingen, 2014, S. 132ff. 529 Michael Pauen: Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin, 1994, S. 293. 530 Ernst Tugendhat: Heideggers „Man“ und die Tiefendimensionen der Gründe, in: Reinhard Brunner/Peter Kelbel (Hg.): Anthropologie, Ethik und Gesellschaft. Für Helmut Fahrenbach, Frankfurt am Main, 2000, S. 77-100, hier S. 77. 531 Rentsch, Die Konstitution der Moralität, S. 33.

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als dass sie sich in einer „Ethik der Eigentlichkeit“532 erschöpfen würden. Seine phänomenologisch angeleitete Hermeneutik des Seins des Daseins legt existenziale Strukturen offen (Kriterium 1 sowie 2a am Ende von Kapitel 1). Aus dieser Perspektive geht es Heidegger um die „Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung“533, die erst das Fundament einer möglichen darüber lagernden Ethik bildet.534 Die Frage nach einer ethischen Dimension der heideggerschen Texte, insbesondere von Sein und Zeit, sollte meines Erachtens präzisiert werden, um Heideggers diffiziles Verhältnis dazu angemessener fassen zu können. Hat Heidegger mit Sein und Zeit eine explizite Ethik verfasst? – Nein. Heidegger betont immer wieder, dass seine existenziale Analytik keine „ontische Aussage über die »Verderbnis der Natur«“ treffen will und „daß die Interpretation eine rein ontologische Absicht hat und von einer moralisierenden Kritik des alltäglichen Daseins und von »kulturphilosophischen« Aspirationen weit entfernt ist“535. Vordergründig beansprucht die existenziale Analyse einen neutralen aufzeigenden Charakter. Das Pro532 Luckner, Zum Begriff der Eigentlichkeit, S. 155. 533 Heidegger schreibt: „Die Begegnisart des Seins und der Seinsstrukturen im Modus des Phänomens muß den Gegenständen der Phänomenologie allererst abgewonnen werden. Daher fordern der Ausgang der Analyse ebenso wie der Zugang zum Phänomen und der Durchgang durch die herrschenden Verdeckungen eine eigene methodische Sicherung […]. Der methodische Sinn der phänomenologischen Deskription ist Auslegung […] Sofern nun aber durch die Aufdeckung des Sinnes des Seins und der Grundstrukturen des Daseins überhaupt der Horizont herausgestellt wird für jede weitere ontologische Erforschung des nicht daseinsmäßigen Seienden, wird diese Hermeneutik zugleich »Hermeneutik« im Sinne der Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung.“ SuZ, S. 36f. Diesen radikal kritischen Ansatz von Sein und Zeit untermauert er, wenn er schreibt: „Die Seinsfrage zielt daher auf eine apriorische Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Wissenschaften, die Seiendes als so und so Seiendes durchforschen und sich dabei je schon in einem Seinsverständnis bewegen, sondern auf die Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegenden und sie fundierenden Ontologien selbst.“ SuZ, S. 11. 534 Thomas Rentsch spricht in diesem Kontext vom Charakter einer „Proto-Ethik“: „Dass Heidegger sich auf diese Ebene begibt (der Ethik – P. K.), kann zumindest aus methodologischen Gründen als berechtigt erscheinen: Denn weder haben seine Analysen den Status einer zu seiner Zeit verbreiteten ‚materialen Wertethik‘ im Sinne Schelers, noch haben sie den Status eines formalen Sollens-Präskriptivismus kantscher Prägung.“ In einer dazugehörigen Anmerkung heißt es bei Rentsch: „Man könnte diese Analysen daher auch als Proto-Ethik bezeichnen.“ Rentsch, Zeitlichkeit und Alltäglichkeit, S. 202. 535 SuZ, S. 167.

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gramm einer solchen Phänomenologie erörtert Heidegger in § 7 von Sein und Zeit. Heidegger will offenlegen, was „ist“ und nicht, was sein „soll“. Nur stellt sich die Frage, wie konsequent Heidegger dieses a-normative Programm durchhält.536 Hier möchte ich Zweifel geltend machen. Heideggers Phänomenologie der sozialen Praxis – das Man und die „Kehre“ ins Völkische Andreas Luckner weist daraufhin, dass Heidegger die Möglichkeit eines Entwurfs auf die Uneigentlichkeit hin nicht erwähnt. Der Weg zum eigentlichen Selbstsein sei vielmehr – so Luckner – eine „Wahl ohne Alternati-

536 An diesem Punkt erweist sich ein Zitat Bernard Boelens als passend. Boelen, der die Frage klar beantwortet und gleichzeitig auf den durchaus ambivalenten Charakter der heideggerschen Texte hinweist, schreibt: „Serious readers of the work of Martin Heidegger will discover, that there is apparently no place for ethics in his philosophy […] On the other hand, it cannot be denied, that in the whole of Heidegger’s thougt readers constantly hear ethical undertones.” Bernard Boelen: The Question of Ethics in the Thought of Martin Heidegger, in: Manfred Frings (Hg.): Heidegger and the Quest for Truth, Chicago 1968, S. 76-105, hier S. 76. Daniel Dahlstrom hält kurz und prägnant fest: „Heidegger schrieb keine Ethik“. Daniel Dahlstrom: Seinsvergessenheit oder moralphilosophische Naivität? Heideggers Interpretation der praktischen Philosophie Kants, in: Dietrich Papenfuss/Otto Pöggeler (Hg.): Zur philosophischen Aktualität Heideggers: Symposion der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 24.-28. April 1989 in Bonn-Bad Godesberg. Bd. 1: Philosophie und Politik, Frankfurt am Main, 1991, S. 167-179, hier S. 167. Josef Kreiml spricht in seiner Dissertation vorsichtig von der “Auffassung des Ethischen” und resümiert: „Eine Ethik als normative praktische Wissenschaft ist mit Heidegger nicht möglich. Mit dem frühen Heidegger ist keine Ethik möglich, weil er den Vorrang der Wahrheit außer Kraft setzt. Mit dem späten Heidegger ist keine Ethik möglich, weil er – um mit Kant zu sprechen – die praktische Vernunft suspendiert wird. Der späte Heidegger hat die Freiheit, die Grundbedingung der Möglichkeit sittlichen Handelns ist, auf ein Minimum reduziert.“ Joseph Kreiml: Zwei Auffassungen des Ethischen bei Heidegger. Ein Vergleich von ‚Sein und Zeit‘ und dem ‚Brief über den Humanismus‘, Regensburg, 1987, S. 165. Margaret Weldhen sieht hingegen in der Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit eine deutliche normative Wertung: „In his concept of ‘authentic‘ and ‘inauthentic‘ existence we can see a moral evaluation. Heidegger, however, considers that his work is purely descriptive. But every description at least implies a moral standpoint“. Margaret Weldhen: The Existentialists and Problems of Moral and Religious Education, 1. Bultmann and Heidegger, in: Journal of Moral Education, London, 1971/72, S. 23.

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ve“537, die hinsichtlich der Freiheit des Selbst quasi notwendig zu vollziehen sei. Schon an diesem Punkt stellt sich die Frage, inwieweit eine „Wahl ohne Alternative“ überhaupt dem Wahlbegriff gerecht wird. Richtig ist, dass in Heideggers Ausführungen eine bewusste Entscheidung für die Uneigentlichkeit nicht vorgesehen ist. Zwar kann das Dasein in Sein und Zeit sein eigentliches Selbst über das Nachholen einer Wahl wählen, eine Aneignung des „Man-selbst“ sieht Heidegger nicht vor. Soweit so gut. Dann schlägt Luckners Argumentation meines Erachtens eine irreführende Richtung ein. Denn Luckner charakterisiert im weiteren Verlauf seines Beitrags die heideggersche Eigentlichkeit als reflektierte Aneignung gesellschaftlicher Normen, in einem weiteren Schritt gar als bewusste Übernahme einer „Regelsetzungskompetenz“538 der das Dasein prägenden gesellschaftlichen Institutionen. Diese Lesart ist mir zu „demokratisch“. Luckners Argumentation, die mit der Eigentlichkeit eine „Regelsetzungskompetenz“ in Verbindung bringt, der gemäß „die Eigentlichkeit als existenzielle Modifikation des Daseins […] in einem gewissen (souveränen) Umgang mit Regeln bzw. Institutionen“539 zu deuten sei, ist nur schwer haltbar. Das Konzept einer Eigentlichkeit, in der das Dasein „nicht nur ihnen (den Institutionen – P. K.) gemäß, sondern gleichsam aus ihnen heraus handelt“540, folgt nicht der „Logik“ von Sein und Zeit. Denn – das lässt sich eindeutig rekonstruieren – Heideggers Eigentlichkeitskonzeption setzt auf Vereinzelung und nicht auf eine wie auch immer geartete „Regelsetzungskompetenz“. Über die Möglichkeit der Aneignung von Regeln oder Institutionen gibt Sein und Zeit keine Auskunft. Nicht nur, dass Luckner nicht darlegt, an welcher Stelle und wie im Einzelnen Heidegger den „Sprung“ von einem vereinzelten, entschlossen zum Tode vorlaufenden Dasein hin zu einem gesellschaftlich-institutionsbewussten Dasein leistet. Vielmehr zeichnet sich die Eigentlichkeitskonzeption gerade durch

537 Luckner, Zum Begriff der Eigentlichkeit, S. 158. 538 Luckner, Zum Begriff der Eigentlichkeit, S. 160. Kurz darauf resümiert Luckner: „Zusammenfassend lässt sich sagen: dass eine Person dann ‚eigentlich existiert‘, wenn sie institutionell gegebene – nicht etwa nur gegenwärtig sich anbietende, sondern auch und gerade geschichtlich wiederholbare – Handlungsregeln (oder ‚Maximen‘) in einer ‚existenziellen Modifikation‘ sich so aneignet, dass sie nicht nur ihnen gemäß, sondern gleichsam aus ihnen heraus handelt.“ Luckner, Zum Begriff der Eigentlichkeit, S. 165. 539 Luckner, Zum Begriff der Eigentlichkeit, S. 160. 540 Luckner, Zum Begriff der Eigentlichkeit, S. 166.

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ihren Mangel an einer Phänomenologie der positiv verstandenen sozialen Praxis aus. Zwar deutet Heidegger in § 26 ein eigentliches Miteinander an, wenn er zwischen einer defizitären „einspringenden-beherrschenden“ Fürsorge541, die das soziale Leben überwiegend prägt, sowie einer „vorspringend-befreienden“ und „eigentlichen“ Fürsorge unterscheidet, die dem Dasein die Sorge nicht abnimmt, sondern diese ihm überlässt und das Dasein somit frei werden lässt. Jedoch setzt auch diese Fürsorge-Konzeption auf das vereinzelte Dasein. Die sich hier schon artikulierende isolationistische Tendenz schreibt Heidegger im weiteren Verlauf von Sein und Zeit fort. Was die von Luckner angesprochene Eigentlichkeit im Sinne einer Verwirklichung des einzelnen Daseins in den gesellschaftlichen Institutionen betrifft, ist das Gegenteil der Fall: Sein und Zeit und konkret die Eigentlichkeitskonzeption sind vor allem – wie Thomas Rentsch es formuliert – durch ihre „thanatologische Engführung“542 und das damit verbundene „interexistentielle Defizit“543 geprägt. Wenn Heidegger überhaupt ein eigentliches Miteinander denkt, dann kein „politisch korrektes“. Auf den Seiten 384ff. (der Tübinger Ausgabe von Sein und Zeit) vom „Geschick“ und dem „Geschehen der Gemeinschaft“ als „Volk“544 sprechend vollzieht Heidegger vielmehr eine „Kehre“ ins Völkische. Der § 74 spricht ein „eigentliches Miteinander“ an – und damit eine positiv verstandene soziale Praxis, die Heidegger heroischkryptisch (und für die damalige Zeit ganz „man“-haft) als „schicksalhafte(s) Geschick des Daseins in und mit seiner »Generation«“ konkretisiert, in der „das volle, eigentliche Geschehen des Daseins“545 seinen Platz findet und sich das Dasein „seinen Helden wählt“546. Hatte Heidegger zuvor in § 27 die soziale Praxis – zum damaligen Zeitpunkt ganz „vulgär“-kulturkritisch banal – diffamiert, knüpft er mit seinen Begriffen „Volk“, Gemeinschaft“, „Erbe“ etc. nun an gängige kulturkritische Kommunikationsmuster seiner Zeit an. Insofern spiegeln § 74 Die Grundverfassung der 541 Heidegger erklärt: „In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben. Diese ein-springende, die »Sorge« abnehmende Fürsorge bestimmt das Miteinandersein in weitem Umfang.“ SuZ, S. 122. 542 Rentsch, Die Konstitution der Moralität, S. 153. 543 Rentsch, Die Konstitution der Moralität, S. 154. 544 SuZ, S. 384. 545 SuZ, S. 384. 546 SuZ, S. 385.

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Geschichtlichkeit und § 27 Das alltägliche Selbstsein und das Man Heideggers Beschreibungen der sozialen Praxis von je verschiedenen Seiten – einmal als positiv gewendetes eigentliches Miteinander (Volk), einmal als negativ gewendetes uneigentliches „Gegeneinander“ (Man).547 Zugleich bildet der § 74 eine systematische Nahtstelle, die Sein und Zeit mit den Texten und Reden zwischen 1933-34 verklammert.548 Präparierung auf den handelnden Eingriff in die Geschichte – „augenblicklich sein für ‚seine‘ Zeit“ In Kapitel 6 der vorliegenden Arbeit hatte ich argumentiert, dass sich in Heideggers Analysen die Augenblicks- und Angstsemantik ineinander verschränken. Die im Hinblick auf die Eigentlichkeitskonzeption wesentliche Angstbereitschaft enthält zentrale Aspekte, die im Begriff des Kairos angelegt sind – zum Beispiel die von Konersmann genannte occasio und opportunitas. Zudem hatte ich erläutert, dass der Augenblick („augenblicklich sein“549) als eine der drei Ekstasen der Zeitlichkeit eine präsentische Akzentuierung mit sich führt, die Heidegger schon in der Vorlesung zur Phänomenologie des religiösen Lebens in der Untersuchung zur urchristlichen Religiosität als gelebte Zeitlichkeit beschrieb. Auf das von Luckner konstatierte „existenzialistische Missverständnis der Leser Heideggers“ Bezug nehmend will ich in diesem Abschnitt zeigen, dass Heidegger eine existenzielle bzw. existenzialistische Lesart von Sein und

547 Heidegger schreibt: „Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander, nicht aber aus den zweideutigen und eifersüchtigen Verabredungen und den redseligen Verbrüderungen im Man und dem, was man unternehmen will.“ SuZ, S. 298. 548 Der löwithschen Kritik an Heidegger, nach der dieser kein eigentliches Miteinander kenne ( vgl. Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme, Freiburg/ München, 2013, S. 80f.; siehe dazu auch: Simon Meier: Gesprächsideale. Normative Gesprächsreflexion im 20. Jahrhundert, Berlin/Boston, 2013, S. 120ff.) entgegnet Andreas Luckner mit dem Verweis auf die Unterscheidung zwischen Heideggers persönlicher Meinung und dessen Philosophie (vgl. Luckner, Zum Begriff der Eigentlichkeit, S. 166). Demnach könne also nach Luckner der „private“ Heidegger solche kulturpessimistischen Ansichten hegen, der „öffentliche“ und veröffentlichte – also philosophierende – Heidegger spreche mit der Konzeption der „Fürsorge“ eine andere Sprache. 549 SuZ, S. 385.

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Zeit nahezu provoziert, indem er Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins auf spezifische Weise miteinander verklammert und so ein Vakuum hinterlässt, das eine solche Deutungsperspektive zulässt. Ein für den geschilderten Zusammenhang entscheidendes Charakteristikum von Sein und Zeit besteht darin, dass Heidegger den „Augenblick“ als Ekstase der Zeitlichkeit an die „Situation“, an das „Da“ koppelt, das als geschichtlicher Raum/Ort verstanden werden muss, in dem sich das Dasein schon immer befindet, in dem das Dasein immer schon sein Da ist. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal Heideggers „Definition“ des Augenblicks („Die in der eigentlichen Zeitlichkeit gehaltene, mithin eigentliche Gegenwart nennen wir den Augenblick. Dieser Terminus muß im aktiven Sinne als Ekstase verstanden werden. Er meint die entschlossene, aber in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet.“550) und setzen wir dies in Beziehung zu der im vorangegangenen Abschnitt konstatierten „Kehre ins Völkische“. Interessanterweise erfolgt die Aneinanderkopplung von Eigentlichkeit, Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit auch wieder im § 74. Während dem „Man […] die Situation wesenhaft verschlossen“551 bleibt, schreibt Heidegger im § 74 von einem eigentlichen Miteinander und einem Dasein, das „sich seinen Helden wählt“552, das „a u g e n b l i c k l i c h […] für »seine Zeit«“553 ist, um für die durch das Geschick geschickten „Zufälle der erschlossenen Situation hellsichtig zu werden“554. Das Dasein und „seine Generation“ können im „günstigen Augenblick“, im richtigen Moment in den übermächtigen historischen Prozess handelnd eingreifen und wieder selbst Geschichte „machen“.555 Hier artikuliert sich klar eine kairologische Deutungsperspektive, in der die Bereitschaft des Daseins und der günstige Augenblick als „Blick“ auf

550 551 552 553 554 555

SuZ, S. 338. SuZ, S. 300. SuZ, S. 385. SuZ, S. 385. SuZ, S. 384. Siehe hierzu vor allem Heinz Dieter Kittsteiners Konzept der „heroischen Moderne“ und der darin verklammerten These von der „Angst in der Geschichte“: Heinz Dieter Kittsteiner: Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg, 2006, S. 44-54 sowie S. 103-118; sowie: Heinz Dieter Kittsteiner: Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin/Wien, 2004, S. 13-17 sowie 165-192.

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„die“ Geschichte, auf die „Situation“ zusammenfallen. Was sich im Kairos als zu ergreifende Gelegenheit zeigt, bleibt in einer nicht christlichen Auslegung undefiniert, inhaltslos und bietet von daher willkommene Projektionsfläche für ein breites Spektrum an säkularisierten Deutungsformen – zum Beispiel als geschichtsphilosophisch gewendete krypto-eschatologische Auslegung des historischen Prozesses, in den nun im Kairos handelnd eingegriffen werden kann. Die Geschichte stellt sich dann selbst im Kairos als politische Forderung wieder zur Verfügung.556 Wiederholt konstatiert Heidegger, dass Sein und Zeit keine praktischen Handlungsempfehlungen oder konkret faktische Daseinsentwürfe aufzeigen will. Prominent hier die Stelle, auf die die ironische Bemerkung „Ich bin entschlossen, nur weiß ich nicht wozu“ unter den Marburger Studenten rekurriert: „Wozu soll es sich (das Dasein – P. K.) entschließen? Die Antwort vermag nur der Entschluß selbst zu geben. Es wäre ein völliges Mißverstehen des Phänomens der Entschlossenheit, wollte man meinen, es sei lediglich ein aufnehmendes Zugreifen gegenüber vorgelegten und anempfohlenen Möglichkeiten. Der Entschluß ist gerade erst das erschließende Entwerfen und Bestimmen der jeweiligen faktischen Möglichkeit. Zur Entschlossenheit gehört notwendig die Unbestimmtheit, die jedes faktisch-geworfene Seinkönnen des Daseins charakterisiert.“557 Heidegger

556 Geschichte wird hier im koselleckschen Sinne als Kollektivsingular und als Subjekt gedacht, das eine Eigendynamik entwickelt und welches sich der Verfügungsgewalt des Menschen entzieht. Die kairologische Geschichtsdeutung versteht den Kairos als „günstigen Augenblick“, über den der Mensch auf den prinzipiell unverfügbaren historischen Prozess wieder zugreifen, ihn beeinflussen kann. Einflussreich sind hier vor allem Paul Tillichs Thesen zum „Religiösen Sozialismus“ samt der daran hängenden Kairosinterpretation. Siehe dazu: Paul Tillich: Grundlinien des religiösen Sozialismus, in: Gesammelte Werke, herausgegeben von Renate Albrecht, Band. 2, Stuttgart, 1962, S. 94. Burkhard Conrad spricht mit Blick auf die 1920er Jahre von einer „metaphorischen Funktionalisierung“ des „Augenblicks“: „Gerade der sprunghafte und inkommensurable Charakter des theologisch geprägten Augenblicks der Entscheidung wird im neuzeitlichen politischen Denken metaphorisch funktionalisiert. Der Begriff wird nun von einzelnen Menschen oder Sprechergruppen (…) mittels eines impliziten Verweises auf transzendente Qualitäten rhetorisch gestärkt. Der Augenblick der Entscheidung wird zu einem Begriff für einen politischen Schreckensakt bzw. zum Ausdruck eines innerweltlichen Chiliasmus umgeschrieben, wobei diese nicht ohne eine politisch-theologische Vorgabe, wie sie Kierkegaard liefert, geschehen konnte.“ Burkhard Conrad: Der Augenblick der Entscheidung. Zur Geschichte eines politischen Begriffs, Baden-Baden, 2008, S. 95. 557 SuZ, S. 298.

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legt also nahe, dass die Einstellung, die Gestimmtheit, das Pathos, der Entschlusswille das Phänomen der Entschlossenheit auszeichne.558 Er will die Frage nach dem Was – worauf die Entschlossenheit inhaltlich zielt – nicht beantworten. Die „faktische Möglichkeit“ wird durch den „Entschluss“ erst bestimmt. Indem Heidegger allerdings in § 74 ein eigentliches Miteinander im Sinne des Völkischen andenkt, kippt die formale Existenzialanalyse, da er an diesem Punkt dem Leser eine Anbindung an die ganz reale ontisch-faktische Gegenwart nahelegt. Die Eigentlichkeit mitkonstituierende Entschlossenheit – das Dasein soll sich als entschlossenes bereithalten – bindet Heidegger nun wiederum an das „Augenblicklich-sein“, womit er den präsentischen Fokus seiner Existenzialanalyse untermauert: „Die Entschlossenheit wäre ontologisch mißverstanden, wollte man meinen, sie sei nur so lange als »Erlebnis« wirklich, als der »Akt« der Entschließung »dauert«. In der Entschlossenheit liegt die existenzielle Ständigkeit, die ihrem Wesen nach jeden möglichen, ihr entspringenden Augenblick schon vorweggenommen hat.“559 Heideggers Konzeption einer ekstatischen Zeitlichkeit mündet in eine Analyse der Geschichtlichkeit. Die von Heidegger zahlreich herbei zitierte „Situation“ lässt sich als die geschichtlich-empirische Gegenwart deuten, in die das Dasein als entschlossenes im heideggerschen Sinne handelnd eingreifen kann. Der „Übergang“ zur faktischen Geschichte und konkreten Gegenwart markiert die Scheidelinie, die Grauzone, inmitten der sich Heideggers Denken – zwischen Fundamentalontologie und möglichem Engagement – bewegt. Sein und Zeit mündet im Aufweis der Geschichtlichkeit, die wiederum eng an die Untersuchungen zur Zeitlichkeit sowie zur formalen Sorgestruktur geheftet sind und diese in ihrem inneren Zusammenhang offenlegen. Heideggers Eigentlichkeitskonzeption setzt bei der Angstthematik an, um von da aus die weiteren Binnenmodi eigentlichen Seins des Daseins (Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein, Gewissen-haben-wollen, vorlaufende Entschlossenheit, Wiederholung einer gewesenen Existenz-

558 Eine ähnliche Konzeption hatten wir schon bei Kierkegaard angetroffen. In Entweder-Oder hatte der Protagonist B das Wie des Wählens, den mit dem Akt der Wahl einhergehenden Ernst in den Fokus gerückt. Nach Climacus ist auch die Dimension des christlichen Glaubens erst vollständig erfasst, wenn in ihm zugleich Paradox und absolutes Pathos zusammenfallen und sich gegenseitig antreiben. 559 SuZ, S. 391.

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möglichkeit etc.) als ein holistisches „Handeln“ zu explizieren. Heidegger führt damit seine Konstitutionsanalyse der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins mit einer Haltung des Daseins zu seinem Sein, zu seinem Selbst zusammen. So bezieht sich das „Vorlaufen in den Tod“560 bzw. die „vorlaufende Entschlossenheit“561 auf die Zukunft, die „Wiederholung einer überkommenen Existenzmöglichkeit“562 auf die Vergangenheit und die „in der Entschlossenheit gehaltenen Entrückung“563 auf die Gegenwart, konkreter auf die eigentliche Gegenwart als „Augenblick“. Mit der Entschlossenheit als das Wie der Haltung sowie mit der hinterlassenen Leerstelle hinsichtlich des Was des Entschlusses setzt Heidegger ein Vakuum, das er implizit und suggestiv füllt. Löwith hatte das auf den Punkt gebracht, als er einen Zusammenhang zwischen dem geschichtlichen Augenblick aus Sein und Zeit und der Rektoratsrede herstellte und meinte, dass man „am Ende des Vortrages nicht weiß, ob man Diels’ Vorsokratiker in die Hand nehmen soll oder mit der SA marschieren.“564 Das erwähnte Vakuum fungiert zugleich als Scharnier, das die Anbindung an die konkret faktische Geschichte ermöglicht – und nahezu fordert. Im § 74 zur Grundverfassung der Geschichtlichkeit operiert Heidegger mit den bei seinen Hörern und Lesern so vertrauten Reizwörtern wie „Schicksal“, „Erbe“, „Generation“, „Kampf“. Vor allem in diesen Passagen lässt sich paradigmatisch die Verwässerung des existenzialen Paradigmas aufzeigen, das Heidegger gegenüber Kierkegaard so stark macht. Zugleich verdichten sich die erwähnten Aussagen zu einem Muster, das ich als eine grundsätzliche ambivalente Rhetorik bezeichnen möchte. Eine ambivalente Rhetorik, die mit dem „Namen“ einer neutralen Existenzialanalyse und

560 SuZ, S. 305. 561 SuZ, S. 304. 562 SuZ, S. 385. Auf Seite 339 schreibt er: „Das eigentliche Gewesen-sein nennen wir die Wiederholung.“ 563 SuZ, S. 347. 564 Löwith kommentiert auf die Rektoratsrede rekurrierend: „verstehe sie es doch, die existenzialontologischen Kategorien dem geschichtlichen ‚Augenblick‘ […] in einer Weise dienstbar zu machen, dass sie den Anschein erwecken, als könnten und müssten ihre philosophischen Absichten mit der politischen Lage a priori zusammengehen und die Freiheit des Forschens mit dem staatlichen Zwang. Der ‚Arbeits-’ und ‚Wehrdienst’ wird eins mit dem ‚Wissensdienst’, so dass man am Ende des Vortrages nicht weiß, ob man Diels’ Vorsokratiker in die Hand nehmen soll oder mit der SA marschieren.“ Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, herausgegeben von F. R. Hausmann, Stuttgart/Weimar, 2007, S. 35.

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mit dem Gestus der vermeintlichen Eindeutigkeit an den Leser herantritt und – einfach gesprochen – viel ontisch-existenzieller ist und sein will, als sie es vorgibt. Existenzielle Voraussetzungen der Existenzialanalyse Die Frage nach der existenziellen und auch normativen Dimension seiner Existenzialanalyse beantwortet Heidegger unscharf. Einerseits – und diese Position vertritt und vermittelt Heidegger hauptsächlich – betont er, dass sich seine Existenzialanalyse als Phänomenologie versteht, die offenlegt, was ist und freilegt, was verdeckt ist. Dementsprechend könne seine Fundamentalontologie gerade kein Ideal in die „Wirklichkeit“ hineintragen. Heidegger weist damit eine normativ aufgeladene Existenzbestimmung erst einmal grundsätzlich ab: „Das kann jedoch nicht heißen, das Dasein aus einer konkreten möglichen Idee von Existenz zu konstruieren. Das Dasein soll im Ausgang der Analyse gerade nicht in der Differenz eines bestimmten Existierens interpretiert, sondern in seinem indifferenten Zunächst und Zumeist aufgedeckt werden“565. Andererseits lassen sich zugleich Passagen wie die auf Seite 310 von Sein und Zeit anführen, die Gegenteiliges nahelegen. Hier konstatiert Heidegger: „Aber liegt der durchgeführten ontologischen Interpretation der Existenz des Daseins nicht eine bestimmte ontische Auffassung von eigentlicher Existenz, ein faktisches Ideal des Daseins zugrunde? Das ist in der Tat so. Dieses Faktum darf nicht nur nicht geleugnet und gezwungener Weise zugestanden, es muß in seiner positiven Notwendigkeit aus dem thematischen Gegenstand der Untersuchung begriffen werden. Philosophie wird ihre »Voraussetzungen« nie abstreiten wollen, aber auch nicht bloß zugeben dürfen. Sie begreift die Voraussetzungen, und bringt in eins mit ihnen das, wofür sie Voraussetzungen sind, zu eindringlicherer Entfaltung.“566 Auch wenn Heidegger keine moralisierende Kritik des alltäglichen Daseins leisten will, deutet er mit dem Zitat an, dass auch das Programm seiner existenzialen Analytik von einem Ideal des Daseins geleitet ist und dass die existenziale Analytik wiederum selbst von existenziellen Voraussetzungen zehrt. Das verwundert. Denn damit stellt Heidegger das

565 SuZ, S. 43. 566 SuZ, S. 310.

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zuvor explizierte Fundierungsverhältnis von existenzial und existenziell in Frage (Kapitel eins Kriterium 2d) bzw. konstatiert er unvermittelt ein wechselseitiges Verhältnis der Ebenen existenzial und existenziell. Schon vor Sein und Zeit – in der Hermeneutik der Faktizität – verklammert Heidegger die Analyse der Daseinsstrukturen mit der Überlegung, was eine solche Analyse bewirkt bzw. ob eine solche Reflexion ein Ziel verfolge. In diesem Zusammenhang sieht er die Aufgabe einer diesbezüglichen Reflexion im Gewand der Hermeneutik der Faktizität darin, eine „wurzelhafte Wachheit seiner selbst (des Daseins – P. K.) auszubilden“567, die in ein grundsätzliches „Wachsein“568 des Daseins münde. Wir sehen demnach, dass Heidegger mit seiner Analyse sehr wohl eine existenzielle Zielvorgabe anvisiert. Die damit angeschnittene „Aufweichung“ des existenzialen Paradigmas wird noch einmal weitergetrieben, vergegenwärtigt man sich Heideggers versprengte Äußerungen zum Verhältnis zwischen der (existenziell bezeugten) Eigentlichkeit einschließlich der darin sich artikulierenden Existenzbestimmungen sowie eines diesbezüglichen Reflexionsmodus. Dasein existiert immer als sich verstehend. Es bedürfe eben „nur“ der rechten Auslegung, so Heideggers Argumentation, um sich die existenzialen Strukturen in ihrer Ganzheit unverstellt zu vergegenwärtigen. Auch an diesem wesentlichen Punkt tauchen im fortgeschrittenen Verlauf von Sein und Zeit Erläuterungen auf, die die zuvor nahegelegte entschiedene Trennung von existenziell und existenzial auflösen. Mit der anfänglich in Sein und Zeit erfolgten Setzung des existenzialen Paradigmas hatte Heidegger den Anspruch erhoben, die Bedingungen der Möglichkeit existenzieller Entwürfe/Modi offenzulegen. Vor diesem Hintergrund muss die Lektüre des letzten Drittels von Sein und Zeit irritieren. Hier lesen wir: „Mit der Herausstellung der vorlaufenden Entschlossenheit ist das Dasein hinsichtlich seiner eigentlichen Ganzheit in die Vorhabe gebracht. Die Eigentlichkeit des Selbstseinkönnens verbürgt die Vor-sicht auf die ursprüngliche Existenzialität, und diese sichert die Prägung der angemessenen existenzialen Begrifflichkeit.“569 Damit sagt er nichts anderes, als dass der Möglichkeit der Sichtbarmachung der existenzialen Strukturen die existenzielle Bezeugung der Eigentlichkeit vorausgeht. Hier gelangen wir zu einer grundsätzlichen, die heideggerschen Analysen prägenden Verschränkung. Zum einen legt Heidegger die das Sein des Daseins 567 HdF, S. 16. 568 HdF, S. 15. 569 SuZ, S. 316.

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bestimmenden Existenzialien offen, die in eine Analyse der ekstatischen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins übergehen. Zugleich zehrt die heideggersche Analyse der ekstatischen Zeitlichkeit – als die das herkömmliche chronologische Zeitverständnis fundierende Dimension – von einer existenziellen Rückkoppelung. Die ursprüngliche Zeitlichkeit ist in der heideggerschen Konzeption – das hat auch Christian Iber herausgearbeitet – ist nur über den Vollzug der Eigentlichkeit aufweisbar.570 Erst im Modus der Eigentlichkeit werden die sinnkonstitutiven Bedingungen einer ursprünglichen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit und damit die Ganzheit des Konstitutionszusammenhangs sichtbar. Zwar ist das Dasein ontologisch-existenzial gesehen schon immer ekstatisch-zeitlich und geschichtlich, allerdings sind diese Grundstrukturen dem Dasein ontisch-existenziell „zunächst und zumeist“ im Modus der Verfallenheit verdeckt und erst über den Vollzug der Eigentlichkeit zugänglich. Damit zeigt sich, dass Heidegger in seiner Analyse systematisch eine existenzielle Dimension in dreifacher Hinsicht situiert. Erstens in der Stellung der Philosophie überhaupt, die „ihre »Voraussetzungen« nie abstreiten“ (siehe oben) dürfe und damit „der durchgeführten ontologischen Interpretation der Existenz des Daseins […] eine bestimmte ontische Auffassung von eigentlicher Existenz, ein faktisches Ideal des Daseins zugrunde“ (siehe oben) legt. Zweitens mit der existenziellen Zielvorgabe der existenzialen Untersuchung, eine „wurzelhafte Wachheit seiner selbst (des Daseins – P. K.) auszubilden“571. Drittens im Hinblick auf die Tatsache, dass das Aufzeigen der Strukturganzheit der Existenz sowie einer ursprünglichen Zeitlichkeit erst über die existenzielle Bezeugung der Eigentlichkeit aufweisbar und damit möglich ist.

570 Zum Verhältnis zwischen einer ursprünglichen sowie einer eigentlichen Zeitlichkeit bemerkt Iber: „Die eigentliche Zeitlichkeit ist von der ursprünglichen existenziell ontisch verschieden und zugleich existenzial-ontologisch strukturgleich mit der ursprünglichen Zeitlichkeit. Darin liegt auch, dass die ursprüngliche Zeitlichkeit gar nicht als solche, sondern nur über ihre adäquate existenzielle Realisationsform phänomenal zugänglich wird.“ Iber, Sein und Zeit oder Zeitlichkeit und Dasein, S. 126. 571 HdF, S. 16.

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Ambivalente Rhetorik – implizite Normativität Kommen wir auf die Frage nach einer „Ethik der Eigentlichkeit“ zurück. Heidegger konfrontiert seine Leser nicht mit einem Imperativ „Existiere eigentlich!“. Er verwendet keine moralischen Urteile wie „gut“ oder „schlecht“, er leitet keine apriorischen Prinzipien ab, die in eine Pflichtethik münden, und schon gar nicht birgt Sein und Zeit konsequentialistische Ansätze. Weder lassen sich explizite Handlungsanweisungen und Verhaltensregeln finden, noch Aussagen über das soziale Miteinander regelnde Normen, Ge- bzw. Verbote. Insofern ist es richtig, dass Heidegger „jenseits von Gut und Böse“ denkt.572 Und trotzdem: Heideggers Eigentlichkeit birgt eine implizite Normativität und die von ihm gezogene und stark gemachte Scheidelinie von existenzial und existenziell verwischt sich in Sein und Zeit wesentlich stärker als Heidegger es suggeriert. Befragen wir Sein und Zeit, wie sich konkret das Verhältnis von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bestimmen lässt, gibt uns Heidegger widersprüchliche Hinweise – ohne dass er selbst diese Frage gestellt oder auch ungestellt beantwortet hätte. Einerseits legt Heidegger mit seinen Erläuterungen zur Selbstwahl sowie zur existenzial zu verstehenden Schuld573 eine statisch-dualistische, tendenziell dichotomische Konzeption der beiden Daseinsmodi von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit nahe. In dieser „Logik“ existiert das Dasein in der einen oder anderen Seinsweise – entweder uneigentlich oder eigentlich. Als „Beleg“ für eine solche Konzeption lässt sich die an anderer Stelle schon einmal zitierte Passage anführen, mit der Heidegger die Begriffe Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit einführt: „Und Dasein ist meines wiederum je in dieser oder jener Weise zu sein. Es hat sich schon immer irgendwie entschieden, in welcher Weise Dasein je meines ist. […] Und weil Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst »wählen«, gewinnen, es kann sich verlieren, 572 So urteilt Sloterdijk über Heidegger in Anspielung auf Nietzsche. Siehe: Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Erster Band, Frankfurt am Main, 1983, S. 371. 573 Heidegger erklärt: „Die formal existenziale Idee des »schuldig« bestimmen wir daher also: Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit.“ (SuZ, S. 283) Kurz darauf konkretisiert er: „Die gemeinte Nichtigkeit gehört zum Freisein des Daseins für seine existenziellen Möglichkeiten. Die Freiheit aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen.“ SuZ, S. 285.

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bzw. nie und nur »scheinbar« gewinnen.“574 Eigentlich ist das Dasein, wenn sich „gewählt“ und „im entschlossenen Vorlaufen“ „angstbereit entworfen“ hat; uneigentlich ist das Dasein, wenn es durch das Man „gelebt“ wird und „unwillentlich“ existiert.575 Andererseits betont Heidegger, dass es sich bei der Eigentlichkeit gerade nicht um einen „abgelösten Ausnahmezustand“576 handelt. So legt er eine graduelle Konzeption des Verhältnisses von eigentlich und uneigentlich nahe, wenn er schreibt: „Je eigentlicher sich das Dasein entschließt, das heißt unzweideutig aus seiner eigensten, ausgezeichneten Möglichkeit im Vorlaufen in den Tod sich versteht, um so eindeutiger und unzufälliger ist das wählende Finden der Möglichkeit seiner Existenz.“577 An anderer Stelle erklärt Heidegger, dass der „Grad“ der „Man-haftigkeit“ variiert – und zwar abhängig von der geschichtlichen Situation: „Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins. Es hat selbst wieder verschiedene Möglichkeiten seiner daseinsmäßigen Konkretion. Eindringlichkeit und Ausdrücklichkeit seiner Herrschaft können geschichtlich wechseln.“578 In „direkter Rede“ spricht sich Heidegger wiederholt für den gleichursprünglichen und „gleichwertigen“ Status der beiden Modi Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit aus. Das zeigen noch einmal die folgenden Zitate, die musterhaft für Heideggers Anspruch einer neutralen Existenzialanalyse stehen: „Die Uneigentlichkeit des Daseins bedeutet aber nicht etwa ein »weniger« Sein oder einen »niedrigeren« Seinsgrad.“579 „Die Verfallenheit des Daseins darf daher auch nicht als »Fall« aus einem reineren und höheren »Urstand« aufgefaßt werden. […] Die ontologisch-existenziale Struktur des Verfallens wäre auch mißverstanden, wollte man ihr den Sinn einer schlechten und beklagenswerten ontischen Eigenschaft beilegen, die vielleicht in fortgeschrittenen Stadien der Menschheitskultur beseitigt werden könnte.“580

574 SuZ, S. 42. 575 Nach Heidegger „kann sich das Dasein zu seinen Möglichkeiten auch unwillentlich verhalten, es kann uneigentlich sein und ist faktisch zunächst und zumeist in dieser Weise. Das eigentliche Worumwillen bleibt unergriffen, der Entwurf des Seinkönnens seiner selbst ist der Verfügung des Man überlassen.“ SuZ, S. 193. 576 SuZ, S. 130. 577 SuZ, S. 384. 578 SuZ, S. 129. 579 SuZ, S. 43. 580 SuZ, S. 176.

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„Die existenzial-ontologische Interpretation macht daher auch keine ontische Aussage über die »Verderbnis der menschlichen Natur«, nicht weil die nötigen Beweismittel fehlen, sondern weil ihre Problematik vor jeder Aussage über Verderbnis und Unverdorbenheit liegt. Das Verfallen ist ein ontologischer Bewegungsbegriff. Ontisch wird nicht entschieden, ob der Mensch »in der Sünde ersoffen«, im Status corruptionis ist, ob er im Status integritatis wandelt oder sich in einem Zwischenstadium, dem Status gratiae, befindet.“581 „Zunächst ist gefordert, die Erschlossenheit des Man, das heißt die alltägliche Seinsart von Rede, Sicht und Auslegung, an bestimmten Phänomenen sichtbar zu machen. Mit Bezug auf diese mag die Bemerkung nicht überflüssig sein, daß die Interpretation eine rein ontologische Absicht hat und von einer moralisierenden Kritik des alltäglichen Daseins und von »kulturphilosophischen« Aspirationen weit entfernt ist.“582

Stellen wir den soeben angeführten Beteuerungen Heideggers nun folgende Äußerungen gegenüber, tritt die ambivalente Rhetorik Heideggers schärfer hervor, die Sein und Zeit und damit seine Existenzialanalyse insgesamt charakterisiert. „In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur.“583 „Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon immer davongeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt.“584 „Und weil das Man mit der Seinsentlastung dem jeweiligen Dasein ständig entgegenkommt, behält es und verfestigt es seine hartnäckige Herrschaft. Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.“585 „Zwischen das ursprüngliche Miteinandersein schiebt sich zunächst das Gerede. Jeder paßt zuerst und zunächst auf den Andern auf, wie er sich verhalten, was er dazu sagen wird. Das Miteinandersein im Man ist ganz und gar nicht ein abgeschlossenes, gleichgültiges Nebeneinander, sondern ein gespanntes, zweideutiges Aufeinander-aufpassen, ein heimliches Sich-gegenseitig-abhören. Unter der Maske des Füreinander spielt ein Gegeneinander.“586 „Zweideutig ist das Dasein immer »da«, das heißt in der öffentlichen Erschlossenheit des Miteinanderseins, wo das lauteste Gerede und die findigste

581 582 583 584 585 586

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SuZ, S. 179f. SuZ, S. 167. SuZ, S. 126. SuZ, S. 127. SuZ, S. 128. SuZ, S. 174f.

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Neugier den »Betrieb« im Gang halten, da, wo alltäglich alles und im Grunde nichts geschieht.“587 „Vom eigensten Schuldigsein hat es sich (das Man – P. K.) fortgeschlichen, um desto lauter Fehler zu bereden.“588

Das eigentliche Selbst wird von Heidegger – gegen alle Beteuerungen seinerseits – gegen das „Man“ in Stellung gebracht. In Sein und Zeit erfolgt eine omnipräsente Verengung der sozialen Praxis auf die negativ konnotierte Uneigentlichkeit589 – das Mit-sein-mit-Anderen wird bei Heidegger zunehmend skandalisiert. Jacek Koltan resümiert ganz richtig wenn er bemerkt, dass der „Prozess der Aneignung des eigenen Selbstseins […] in Sein und Zeit streng gegen die soziale Umwelt gerichtet“590 ist, während positive Ansätze des Konzepts der Fürsorge im weiteren Verlauf von Sein und Zeit nicht mehr auftauchen. Die Analyse des Verfallens durchdringt ein pejorativer Duktus, der die „Öffentlichkeit des Man“ durchgängig diffamiert.591 Seine wiederholte Rede vom Verfallen als einer „Grundart des Seins der Alltäglichkeit“ und den darin verklammerten Ausführungen zur Uneigentlichkeit zehren ebenfalls von der zuvor betitelten ambivalenten Rhetorik. Heidegger führt – das zeigen diese Passagen – eine implizite Normativität durch die „Hintertür“ wieder ein und spielt hier ironischerweise – bewusst oder unbewusst – mit eben jener von ihm im § 37 pejorativ belegten Zweideutigkeit. Über seine von kulturkritischen Topoi aufgeladene negative Charakterisierung des „Man“ legt er dem Leser einen „ethischen Rück-

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SuZ, S. 174. SuZ, S. 288. Siehe: Rentsch, Das Sein und der Tod, S. 229. Koltan bemerkt ganz richtig: „Die Hauptproblematik der Existenzialanalytik macht die eingeschränkte Darstellung dessen, was unter ‚Eigenem‘ zu verstehen ist, aus. Der Prozess der Aneignung des eigenen Selbstseins ist in Sein und Zeit streng gegen die soziale Umwelt gerichtet.“ Jacek Koltan: Der Mitmensch: zur Identitätsproblematik des sozialen Selbst ausgehend von der Frühphilosophie Martin Heideggers und Karl Löwiths, Würzburg, 2012, S. 109 (im Folgenden: Koltan, Der Mitmensch, Seitenzahl). 591 Auch hier wieder resümiert Koltan treffend: „Indem der Öffentlichkeitsbegriff als Verfallen des Individuums an ein heteronomes Man-Selbst bezeichnet wird, verliert er seinen wesentlichen sozialen Sinn: er charakterisiert nicht mehr die zunächst neutral verstandene soziale Bedeutungsganzheit, die jedem Selbstverstehen und der individuellen Lebenspraxis zugrunde liegt. Heidegger charakterisiert die soziale Alltäglichkeit abwertend […].“ Koltan, Der Mitmensch, S. 108.

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schluss“ im Namen der Eigentlichkeit nahe, ohne ihn als solchen explizieren zu müssen. Kierkegaards Rhetorik der Ambivalenz Im Folgenden möchte ich der heideggerschen ambivalenten Rhetorik die – wie ich sie nennen will – kierkegaardsche Rhetorik der Ambivalenz gegenüberstellen. Hierfür werde ich auf die spezifische Kommunikationsstrategie Kierkegaards eingehen und die Ausführungen mit den Implikationen des existenzialen Paradigmas (insbesondere 2b – Terminologiebildung bzw. im weiteren Sinne der Sprache über Existenz) in Beziehung setzen sowie im Hinblick auf die Rede vom „existenzialistischen Missverständnis“ diskutieren. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Werk- und Erzählstruktur der kierkegaardschen Texte deutlich komplexer als bei Heidegger gefasst ist. Die Vielschichtigkeit ergibt sich aus der spezifischen von Kierkegaard verfolgten spezifischen Kommunikationsstrategie der indirekten Mitteilung. Mindestens fünf ineinander verschränkte und aufeinander bezogene „Kommunikationskanäle“ lassen sich diesbezüglich bei Kierkegaard herausfiltern, die ich knapp skizzieren will, um anschließend meine These von der kierkegaardschen Rhetorik der Ambivalenz auszuführen. Die Pseudonymität bildet die erste Ebene, die sich noch einmal intern – wenn wir denn den Äußerungen Kierkegaards zu folgen gewillt sind – in die Phase der „ästhetischen“ und darauffolgenden „religiösen“ Schriftstellerei ausdifferenzieren lässt. Signifikant ist hier das im Namen der indirekten Mitteilung inszenierte verschachtelte Spiel mit wechselnden und wiederkehrenden Autoren, Herausgebern und Protagonisten, die gegenseitig aufeinander verweisen – mal zustimmend, mal widersprechend – und so für einen hohen Grad an Undurchsichtigkeit und Komplexität sorgen. Kierkegaard geht dabei nicht wenig selbstbewusst von der Prämisse aus, dass sämtliche seiner Schriften mit ihrem Erscheinen auch gelesen werden. In diesem Zusammenhang verfolgt er das übergeordnete Ziel, seine Leser an das Christentum heranzuführen. Zu diesem Zwecke will er sie mit der bis zur Nachschrift währenden ästhetischen Phase ködern, um sie dann – so präpariert – an das Christentum zu übergeben. Eine zweite Ebene stellen Kierkegaards Erbauliche Reden dar, die parallel zu den pseudonymen Titeln erscheinen. In diesen Quasi-Predigten spricht Kierkegaard direkt und erbaulich zu seinen Lesern. Als wesentlich 204

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unterscheidendes Charakteristikum der beiden „Kommunikationskanäle“ direkt und indirekt ließe sich deren Funktion und Wirkung ausmachen. Während die pseudonyme Schriftstellerei beunruhigen, desorientieren und isolieren, auf das Christentum „aufmerksam“ machen will, kommt den Reden eine gemeinschaftsbildende und religiös-sinnstiftende Rolle zu, die den Leser in seinem Christsein stärken soll. Mit den sogenannten „Journalen“ wird der Leser Kierkegaards mit einer dritten Kommunikationsebene konfrontiert. Diese besitzen fragmentarisch-assoziativen Charakter und sind durchaus im Bewusstsein einer rezipierenden Leserschaft verfasst.592 Hier handelt es sich weniger um Tagebuchaufzeichnungen im herkömmlichen Sinne593 als vielmehr um ein Konvolut aus fragmentarischen Gedankenskizzen, Ideensammlungen, Text- und Predigt-Entwürfen, Seminaraufzeichnungen etc. Eine vierte Ebene ist mit Kierkegaards Schriften gegeben, die über den Status der Pseudonyme und die spezielle Kommunikationsdynamik zwischen Leser, Text und Autor Auskunft geben. So schreibt Philipp Schwab dem posthum veröffentlichten Text Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller eine „Ausnahmestellung“594 innerhalb des kierkegaardschen Werks zu. Hierzu darf auch die Nachschrift gezählt werden, in der Kierkegaard sich in einem anhängenden Abschnitt Eine erste und letzte Erklärung595 als Autor der bis dahin pseudonym erschienenen Titel „bekennt“.

592 Siehe dazu: Hermann Deuser: Sören Kierkegaard. Die paradoxe Dialektik des politischen Christen. Voraussetzungen bei Hegel. Die Reden von 1847/48 im Verhältnis von Politik und Ästhetik, München/Mainz, 1974, S. 79–83. 593 Die in der Übersetzung von Hajo Gerdes im Diederichs Verlag publizierten 5 Bände erscheinen als „Tagebücher“. 594 Philipp Schwab: Direkte Mitteilung des Indirekten? Zum Begriff der Mitteilung in Kierkegaards Gesichtspunkt und Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller. Kierkegaard Studies. Yearbook 2010, herausgegeben von Heiko Schulz, Jon Stewart und Karl Verstrynge, Berlin/New York, 2010, S. 427-456, hier S. 427 (im Folgenden: Schwab, Zum Begriff der Mitteilung, Seitenzahl). 595 Der mit „S. Kierkegaard“ signierte Abschnitt beginnt dementsprechend: „Um der Form und Ordnung willen bekenne ich hiermit, was zu wissen kaum jemand realiter interessieren wird, daß ich, wie man sagt, Verfasser von: Entweder – Oder (Viktor Eremita) Kopenhagen im Februar 1843 bin.“ AuN, S. 1139. Kierkegaard listet im besagten Abschnitt die Werke und deren herausgebende/verfassende Pseudonyme seiner „ästhetischen“ Phase auf, darunter Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Der Begriff der Angst, Philosophische Brocken, Abschließende Nachschrift zu den philosophischen Brocken.

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Die Texte des von Kierkegaard eigens herausgegebenen Augenblicks repräsentieren die fünfte Ebene. Hier sucht Kierkegaard in den letzten Jahren vor seinem Tod die direkte und öffentliche Konfrontation mit der dänischen Staatskirche, finanziert mit dem noch verbliebenen Erbe seines Vaters. Im Augenblick bündelt sich in schärfster Form Kierkegaards Kirchenund Gesellschaftskritik – in Eigenregie verfasst, herausgegeben und verteilt, führt er mit offenem Visier seinen Ein-Personen-Aufstand gegen die klerikale Elite und die damit verbundene offizielle Auslegung des Christentums. Wir hatten eingangs des Abschnitts von einer Rhetorik der Ambivalenz gesprochen, die mit dem heideggerschen existenzialen Paradigma in Beziehung gesetzt werden soll. Vor diesem Hintergrund spielen vor allem die Ebene 1 und die Ebene 4 eine zentrale Rolle. Die Vielschichtigkeit und Ambiguität der kierkegaardschen Texte korrespondieren mit der polyphonen Pseudonymität, die Kierkegaard als strategisches Instrument extrem komplex inszeniert und einsetzt – als „Inkognito und Betrug im Dienste des Christentums“596. Wir hatten in Kapitel 3 dieser Arbeit Kierkegaards Entweder-Oder analysiert. Schon anhand dieses Buchs lässt sich bei entsprechender Interpretation die Mehrdimensionalität, die interpretative Offenheit aufzeigen, die ich nun als „Bestandteil“ einer Rhetorik der Ambivalenz bezeichnen möchte. Im Gesichtspunkt (Ebene 4) stellt Kierkegaard das Programm seiner indirekten Mitteilung vor: „Man kann einen Menschen […] in das Wahre hineinbetrügen. Ja, eigentlich kann man einen Menschen, der in einer Einbildungskraft gefangen ist, nur auf eine einzige Weise in die Wahrheit hineinbringen: indem man ihn betrügt.“597 Und weiter schreibt er: „Was bedeutet hier also das ‚Betrügen‘? Es bedeutet, dass man nicht direkt mit dem anfängt, was man mitteilen will“598. Kierkegaard beschreibt hier sein Schaffen als „Schriftstellerei, die sich um einen Grundgedanken dreht, wie man Christ wird“599 und die sich auf den Leser einstellt und so sich selbst reflektieren muss: „Die Mitteilung geht in Reflexion vor sich, ist also indi-

596 Sören Kierkegaard. Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, in: Sören Kierkegaard: Philosophische Schriften 2, in der Übersetzung von Christoph Schrempf, Wolfgang Pfleiderer und Hermann Gottsched, Frankfurt am Main, 2009. S. 757 (im Folgenden: G, Seitenzahl). 597 G, S. 777. 598 G, S. 777. 599 G. S. 778.

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rekte Mitteilung.“600 Phillip Schwab weist daraufhin, dass der Gesichtspunkt auch von der Kierkegaard-Forschung als ein „Dekodierungsschlüssel“601 genutzt wird, mit dem sich das kierkegaardsche Werk- und Kommunikationsgeflecht auflösen ließe.602 Kierkegaard selbst wiederum hat sich verschiedentlich zum Status des Gesichtspunkts geäußert603 und Schwab weist mit Blick auf einen vermeintlichen „Dekodierungsschlüssel“ zu Recht auf die sich daraus ergebende hermeneutische Problematik hin. Es stellt sich in diesem Zusammenhang nämlich die nicht unwesentliche Frage, ob Kierkegaard mit einem solchen „Dekodierungsschlüssel“ (in Form der direkten Mitteilung des Gesichtspunkts) nicht seine eigene Programmatik der indirekten Mitteilung ad absurdum führt?604 Welchen Sinn macht eine verrätselnde und Verwirrung stiftende Kommunikationsstrategie, die sich im Nachhinein selbst erklärt, sich um ihren klandestinen Charakter bringt und sich damit abschafft?605 In Kapitel 3 hatte ich dargelegt, welche Deutungsperspekti-

600 G. S. 779. 601 Schwab, Zum Begriff der Mitteilung, S. 428. Kurz darauf konstatiert er: „Noch bis in die gegenwärtige Kierkegaardforschung hinein bildet die Perspektive des Gesichtspunkts oftmals den unhinterfragten Ausgangs- und Zielpunkt der Interpretation.“ Schwab, Zum Begriff der Mitteilung, S. 429. 602 Siehe dazu auch: Mariele Nientied: Kierkegaard und Wittgenstein. "Hineintäuschen in das Wahre", Kierkegaard Studies. Monograph Series 7, Berlin/Boston, 2008, besonders S. 21-38. 603 Schwab hält fest: „Erscheint nämlich in der Wirksamkeit die direkte Mitteilung als innewohnendes Ziel und movens der indirekten Mitteilung, heißt es in den späten Journalen und Entwürfen wieder, die indirekte Mitteilung sei die ,höchste Form der Mitteilung‘.“ Schwab, Zum Begriff der Mitteilung, S. 433. 604 So schreibt Kierkegaard: „ich bin überzeugt, daß selten ein Schriftsteller soviel List Schlauheit und Intrige anwandte, um die Welt zu betrügen […] aber im entgegengesetzten Sinne, im Sinne der Wahrheit.“ G, S. 782. 605 In der mit Rechenschaftsbericht überschriebenen Abhandlung Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller (nicht zu verwechseln mit dem oben erwähnten Gesichtspunkt – P. K.) resümiert Kierkegaard seine „Methode“: „Die Bewegung, die meine schriftstellerische Tätigkeit beschreibt, ist diese: vom „Dichter“ (– vom Ästhetischen) aus, von dem „Philosophen“ (– dem Spekulativen) aus zur Andeutung der tiefsten Verinnerlichung in dem Christlichen; von dem pseudonymen ‚Entweder-Oder‘ durch die ‚abschließende Nachschrift‘, die mit meinem, als des Herausgebers Namen bezeichnet war, zu den ‚Abendmahlsreden am Freitag‘ […]. Diese Bewegung ist uno tenore, in einem Atemzug, wenn ich so sagen darf, zurückgelegt oder beschrieben worden, so daß meine Schriftstellerei, als Ganzes betrachtet, von Anfang bis zu Ende eine religiöse ist; was jeder, der sehen kann, auch sehen muß, wenn er sehen will […] so wird der Einsichtige auch an diesen

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ven allein Kierkegaards Entweder-Oder „hergibt“. Hierbei handelt es sich bloß um einen Titel. Im Hinblick auf die zu eingangs des Abschnitts verwiesenen Kommunikationskanäle zeigt sich, dass sich mit der Strategie und „Theorie“ der Pseudonymität die ohnehin schon vorhandene Komplexität über das Hinzukommen der Mitteilungssemantik noch einmal potenziert. Ein Lektürevorschlag: Ich will Kierkegaard beim Wort nehmen, wenn er schreibt: „Meine Pseudonymität oder Polynomität hat keinen zufälligen Grund […] sondern einen wesentlichen in der Produktion selbst. […] Ich bin nämlich unpersönlich oder persönlich ein Souffleur in dritter Person, der dichterisch Verfasser hervorgebracht hat, deren Vorworte, ja deren Namen wieder Produkte sind. So ist in den pseudonymen Büchern nicht ein einziges Wort von mir selbst; ich habe kein Urteil über sie als das eines Dritten, kein Wissen von ihrer Bedeutung als nur als Leser, nicht das entfernteste Privatverhältnis zu ihnen […]“606 – diese „Produkte“ stehen für sich, ihre „Stimmen“ wiederum besitzen einen nicht verrechenbaren Status. Kierkegaard delegiert die „Verantwortung“ für die Texte an seine Pseudonyme und Protagonisten und lässt die sie vertretenen Daseinsentwürfe (zum Beispiel in Entweder-Oder) für sich sprechen. Damit gibt er ihnen die Autorität, die er in Bezug auf sich als Autor relativiert.607 Die fiktiven Akteure sind jedoch nicht beliebig gewählt. Johannes des Silentio, Vigilius Haufniensis, Climacus, Anti-Climacus dienen ihrerseits als Projektionsfläche grundlegender Existenzreflexionen und Konstitutionsanalysen. Der Leser tritt mit der Lektüre der Texte in einen fiktionalen Resonanzraum ein, in dem die Stimmen, Stimmungen und Ansichten der

schriftstellerischen Arbeiten erkennen, daß sie von einem Menschen herrühren müssen, der als Schriftsteller ‚nur Eines wollte‘ […] das Religiöse ganz und gar in Reflexion gesetzt.“ Sören Kierkegaard: Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller, in: Sören Kierkegaard: Philosophische Schriften 2, in der Übersetzung von Christoph Schrempf, Wolfgang Pfleiderer und Hermann Gottsched, Frankfurt am Main, 2009. S. 865f. 606 AuN, S. 1139 607 Joachim Grage bemerkt: „Die Selbstdefinition als religiöser Schriftsteller ist nicht nur eine existentielle Standortbestimmung, sondern auch eine rhetorische Strategie, mit der der Autor einen wesentlichen Bestandteil seiner Autorschaft in Frage stellt: die Autorität.“ Joachim Grage: Selbst-Lektüre als Selbst-Gestaltung. Strategien der Offenheit in Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2010, herausgegeben von Niels Cappelörn, Hermann Deuser und Brian Soderquist. Berlin/New York, 2010, S. 289-303, hier S. 301.

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Protagonisten und Pseudonyme mit ihm ins Gespräch kommen wollen, ihn zum Dialog fordern. Wir können Kierkegaard folgen – wenn wir es denn wollen – und mit einem wie auch immer gearteten „Dekodierungsschlüssel“ aus dem Gesichtspunkt eine bestimmte Systematik, eine vorab en détail geplanten Kommunikationsstrategie konstruieren, um Ordnung, Klarheit und Stringenz „herzustellen“. Die Stärke, die innovative Kraft der kierkegaardschen Darstellungs-„Systematik“608 steckt allerdings meines Erachtens gerade im Spiel mit der Deutung, in der Ambivalenz, im „Dazwischen“, im „Unentschiedenen“. Natürlich liegt es am Leser, Kierkegaards existenzielle Botschaft – auf das Christentum „aufmerksam zu machen“ – anzunehmen (oder auch nicht), in den eigenen Lebensvollzug mit hineinzunehmen. Die Schriften sind darauf angelegt, am Existenzvollzug des Lesers mitzuwirken. So wie Kierkegaard an die Individualität des Lesers appelliert und sich an den Einzelnen wendet, so bindet er moralische Reflexionen an eine Darstellungsform, die ihrerseits die Individualität und Unvertretbarkeit des Einzelnen mit in sich hineinnimmt. Allerdings: Auch jenseits dieser existenziellen Rückkopplung kann Kierkegaards „Methode“ als Möglichkeit gelesen werden, angemessen über Existenz zu reflektieren, ohne zugleich den systematischen Anspruch der Reflexion aufzugeben. Dieser wird anders „verpackt“ – die Analysen zu den (Bedingungen der) Möglichkeiten des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses werden über die Ansichten der Protagonisten und Pseudonyme zur Sprache gebracht. Weiter gedacht: Über diese Autoritätsverlagerung weg vom Autor, hin zu den Protagonisten, Herausgebern, Pseudonymen etc. entgehen die Existenzreflexionen der Gefahr, dass bestimmte Konzeptionen verabsolutiert und normativ „kurzgeschlossen“ werden. So können die Protagonisten aus Entweder-Oder ebenso wie die aus den Stadien auf dem Lebensweg als die ästhetische und ethische Lebensform repräsentierende Akteure verstanden werden, deren „Standpunkte“ irreduzible Geltung beanspruchen und nicht gegeneinander verrechnet werden können. Auch die Verfasser von Furcht und Zittern, der Philosophischen

608 Hier gehe ich voll und ganz mit Walter Dietz mit, der sich dafür ausspricht, die Pseudonyme „als Ausdruck einer vermittelten Gebrochenheit zum jeweiligen Standpunkt zu verstehen, d.h. nicht oder nur bedingt als Zeugnis von KIERKEGAARDS eigener Meinung, sondern als experimentelle Darstellung bestimmter Sichtweisen und Perspektiven, die jedoch in sich konsistent und stringent – und in diesem Sinn 'systematisch' – durchgeführt werden.“ Walter Dietz: Sören Kierkegaard: Existenz und Freiheit, Frankfurt am Main, 1993, S. 48.

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Brocken, der Nachschrift und der Krankheit zum Tode spiegeln ihrerseits Möglichkeiten, Verständnisse und Missverständnisse religiöser Existenz und legen in ihren Reflexionen nicht hintergehbare Strukturen menschlicher Existenz offen, die durchaus den Status einer dahinter liegenden Grundlagenreflexion beanspruchen können. Wilhelm Schapp hatte im Hinblick auf unser Dasein von einem „in Geschichten verstrickt(en)“ irreduziblen Lebenszusammenhang gesprochen, in den wir schon immer verwoben sind und der jedem theoretischen Zugriff vorgelagert und auch verstellt ist.609 Unser Dasein konstituiert sich aus der unendlichen Vielzahl der erfahrenen Lebenssituationen, die immer schon geschehen sind, bevor wir sie reflektieren. Dass dieses Gewordensein uns ausmacht – darauf zielten ja auch nicht zuletzt Heideggers Analysen zur Phänomenologie der urchristlichen Religiosität –, kann wiederum als ein apriorisches „Daseinsmerkmal“ – als Existenzial – verstanden werden. Beziehen wir diese Überlegung auf die Darstellung grundlegender Existenzreflektion: Die Texte Kierkegaards, allen voran Entweder-Oder, die Wiederholung, Stadien auf dem Lebensweg, Furcht und Zittern nehmen diesen grundlegenden narrativen Zug auf, indem sie diesen vorwissenschaftlich-unhintergehbaren Lebenszusammenhang (Schapp) reflektieren, ohne ihn zu theoretisieren. In diesem Zusammenhang weist auch Annemarie Pieper daraufhin, dass Kierkegaard diese ethischen Reflexionen „narrativ in den lebensweltlichen Kontext eingebettet und im Zusammenhang mit der Geschichte einer konkreten Person aus situativen Konstellationen heraus prototypisch entwickelt“610 hat. Auch der aus systematischer Perspektive in den Reflektionen immer wiederkehrende Entwurfscharakter des Daseins, das Möglichkeitsparadigma oder auch die existenzial zu verstehende Freiheitsdimension – so- oder so-sein zu können – wird als grundgelegte Offenheit in die Darstellungssystematik überführt. Zwar ist ein formales Ende der „Erzählungen“ in

609 Bei Wilhelm Schapp heißt es: „Unser vergangenes Leben steht […] in den Geschichten der Vergangenheit ständig in der Weise des Horizonts um uns, ohne dass es uns auch nur möglich ist, aus dieser geschichtlichen Welt den Kopf zu erheben, um sie von außen anzusehen.“ Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt, Frankfurt am Main, 1985, S. 127. Siehe dazu auch: Thomas Rentsch: Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart, 1985, S. 11 ff. 610 Annemarie Pieper: Existenzphilosophie ohne Ethik?, in: Hans Feger/Manuela Hackel (Hg.): Existenzphilosophie und Ethik, Berlin/Boston, 2014, S. 13-31, hier S. 13.

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8. Existenzialistische Missverständnisse

Form von Stimmungsporträts (Entweder-Oder/Wechselwirtschaft, Diapsalmata), Briefen (Entweder-Oder/B, Wiederholung), Dialogen (Stadien), Monologen (Furcht und Zittern), Anekdoten (Entweder-Oder, Furcht und Zittern) etc. als Textabschluss unumgänglich. Die im Text über die Protagonisten und Herausgeber dargelegten Gedanken und Ansichten beanspruchen allerdings aufgrund ihrer polyphon inszenierten Pseudonymität keinen apodiktischen Charakter im normativen Sinne. Zugleich finden sie vor dem Hintergrund der Mitteilungssemantik in einer übergreifenden Darstellungssystematik ihren Platz. Ich möchte dies als den Ansatz einer Möglichkeit angemessener Darstellung der in Gänze nicht objektivierbaren und nicht verabsolutierbaren Existenzzusammenhänge des Daseins verstehen und ein solches Potenzial in diesen hineinlesen. So schiebt Kierkegaard einer theoretischen Objektivierung der Analysen einen Riegel vor, indem er sowohl die Pseudonymität als auch die Narrativität seiner Texte dazwischen legt. Mit dieser komplex inszenierten Rhetorik überführt er nicht nur moralisierende Konzeptionen in einen Deutungshorizont der Ambivalenz. Er trägt zudem der Offenheit, Widersprüchlichkeit und auch Nichtfixierbarkeit der „Existenzsituation“ des Menschen insgesamt Rechnung. Die Fragwürdigkeit des Mitgeteilten wird in die Mitteilung mit eingeholt. Zugleich können die Ansichten, aufgeworfenen Fragen und „Antworten“ der Protagonisten den Status einer existenzialen Grundlagenreflexion beanspruchen, die sich in „theoretischer“ Absicht theoretischen Verabsolutierungen verwahrt wissen will.

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9. Fazit

Die Arbeit wurde von der Intention geleitet, mit einem hartnäckigen, weit verbreiteten Urteil bzw. Vorurteil in der Forschung „aufzuräumen“. Ihr Anliegen war es, Heideggers Kierkegaardrezeption und -kritik auszudifferenzieren, zu systematisieren und auf das existenziale Paradigma hin zugespitzt zu analysieren. Jede systematische Erörterung des philosophischen Verhältnisses beider Autoren geht auf diese Schnittstelle zurück und muss zugleich von ihr den Ausgang nehmen. Die von Heidegger aufgemachte Gleichung – hier existenziale Grundlagenreflexion (Heidegger), dort die darauf fußenden existenziellen Analysen konkreter Phänomene wie „Angst“, „Augenblick“, „Verzweiflung“ etc. (Kierkegaard) – geht nicht auf. Salopp formuliert lautet ein Fazit: Kierkegaard ist existenzialer, als es Heidegger und ein Großteil der Forschung darlegt. Heidegger ist existenzieller, als es Heidegger selbst sowie ein nicht unbedeutendes Lager der Wissenschaft kommuniziert. Zwei Argumentationsrichtungen leiteten die Untersuchung. Zum einen legte sie dar, dass den kierkegaardschen Texten – entgegen Heideggers Behauptungen – sehr wohl eine existenziale Ebene inhärent ist. Zum anderen arbeitete sie die existenzielle Dimension der heideggerschen Reflexionen heraus. Kapitel 1 erläuterte, dass beide Autoren mit ihrem Denken einen revolutionären Anspruch vorantragen, den sie über eine „existenzphilosophische Wende“ auch einlösen. Hierbei vertieft und transformiert Heidegger den durch Kierkegaard initiierten Impuls, weshalb ich von einer durch Heidegger vollzogenen existenzphilosophischen Wende zweiten Grades spreche. Heidegger geht mit Kierkegaard, indem er das überlieferte Kategoriensystem „sprengen“ will und seine Existenzialien an diese Stelle setzt. Zugleich richtet sich seine Wende auch gegen Kierkegaard, weil er die ihm zugeschriebenen existenziellen Reflexionen existenzial fundieren will. Auch Kapitel 4 arbeitete gewissermaßen Gemeinsamkeiten beider Autoren über die Analyse der Struktur ihres Denkens aus. Bei beiden Autoren lässt sich ein vernunft- bzw. verstandeskritischer Reflexionsstrang ausmachen, der im weiteren Sinne die Grenzen der Vernunft/des Verstandes und die Konsequenzen für das menschliche Dasein auslotet und neu vermisst. Überdies lässt sich im Denken Kierkegaards und Heideggers eine

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9. Fazit

pragmatische Perspektive bestimmen, die sich an der Frage nach einem Verhalten zu den sinnkonstitutiven Bedingungen des Daseins bzw. nach dem Wie der Vollzugsdimension des Existierens abarbeitet. Dass das in Sein und Zeit angeführte Kriterium der strukturellen Grundlegung ebenso wie das der Überwindung der subjektzentristischen Perspektive aus der Metaphysik des Deutschen Idealismus als distanzierendes Argument gegenüber Kierkegaard nur partiell tragbar ist, erläutert Kapitel 2 anhand der Krankheit zum Tode. Zwar analysiert und beschreibt Kierkegaard hier das existenzielle Phänomen der Verzweiflung. Allerdings handelt es sich bei der Schrift nicht allein um eine Phänomenologie der Verzweiflung. Dahinter verbirgt sich auch eine Konstitutionsanalyse menschlicher Existenz, die Anti-Climacus-Kierkegaard als mehrdimensionales Daseins- und Selbstverhältnis und transzendent überlagertes Bezugsgefüge bestimmt. Damit zielt sowohl der von Heidegger erhobene Solipsismusvorwurf ins Leere – tatsächlich verklammert Kierkegaard Selbst- und Transzendenzanalyse – als auch die Behauptung, Kierkegaard würde keine Strukturen menschlicher Existenzverhältnisse reflektieren. Die im existenzialen Paradigma enthaltenen Ebenen a und c können demnach auch in der Krankheit zum Tode lokalisiert werden. Mit Ebene b hatte Heidegger die begriffliche Ausarbeitung, die existenziale Terminologiebildung ins Spiel gebracht, die im weiteren Sinne als Frage nach einer angemessenen Sprache, mit der sich sinnvoll über Existenz sprechen lässt, verstanden werden kann. Hier setzte Kapitel 3 an, dessen Ausführungen auf den Kerngedanken hinauslaufen, dass Kierkegaard in Entweder-Oder eine Sprache „entwickelt“, die eine angemessene Reflexion grundlegender Existenzverhältnisse über den „Umweg“ der sich in den Protagonisten reflektierenden Gedanken und Haltungen ermöglicht. Die auftretenden Charaktere spiegeln in ihren Überlegungen und Lebenseinstellungen nicht nur grundsätzliche Existenzmodi, die als gleichursprünglich gelesen werden können. Kierkegaards diffizile und hochkomplexe Erzähl- und Kommunikationsstruktur impliziert einen existenzialen Status, der im Sinne einer angemessenen Rede über Existenz konkretisiert werden kann. Befragten Kapitel 2 und 3 Kierkegaards Texte auf ihre existenziale Dimension hin, befassten sich die Kapitel 5, 6 sowie die erste Hälfte des 7. Kapitels mit Heidegger. Auch hier dient mir Heideggers Abgrenzungskriterium des existenzialen Paradigmas als methodischer Ansatz. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit Heidegger das existenziale Paradigma im Hinblick auf seine eigenen Texte „durchhält“ und konsistent anwendet. 213

9. Fazit

Übergreifend lässt sich konstatieren, dass Heidegger seinen eigenen Anspruch zu Teilen systematisch unterläuft. „Zu Teilen“, weil seine Analyse zwar sehr wohl die eine Hälfte des existenzialen Kriteriums, zum Beispiel mit der Explikation der Existenzialien, erfüllt. Zugleich enthalten seine Untersuchungen eine signifikante existenzielle Dimension, die Heidegger durchgängig „herunterspielt“. Folgende Ergebnisse lassen sich hier festhalten. Zwar bildet, erstens, die Seinsfrage den Rahmen von Sein und Zeit, indem Heidegger zu Beginn und Ende (des erschienen Teils) auf sie rekurriert. Fokus seiner Fundamentalontologie ist allerdings das Sein des Daseins. Hier wiederum bildet die Analyse der Modi der Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit den Leitfaden, wobei vor allem in der zweiten Hälfte letztere in den Mittelpunkt der Untersuchung rückt. Mit der schwerpunktmäßigen Verlagerung der Existenzialanalyse auf die Eigentlichkeit hin, die Heidegger als „daseinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens“ beschreibt, manövriert er seine Fundamentalontologie an bzw. über eine Grenze, die er selbst so strikt, tendenziell dichotomisch, zwischen existenzialer und existenzieller Reflexion zieht. Zweitens greift Heidegger in seiner Analyse der Zeitlichkeit und der Angst sowie eines eigentlichkeitsbezeugenden „Wählens der Wahl“ direkt auf Konzeptionen Kierkegaards zurück, wie Kapitel 6 ausführte. Dieser rezeptionelle Aspekt ist insofern von Relevanz, weil sich damit folgende Konstellation ergibt: Heidegger überführt zentrale Konzeptionen Kierkegaards in seine Existenzialanalyse, in der er zugleich Kierkegaard als einen „bloß“ existenziellen Denker „kleinmacht“. Drittens knüpft Heidegger in Sein und Zeit mit seiner Ausarbeitung der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit an seine „frühe“ Vorlesung zur Phänomenologie des religiösen Lebens an, indem er das Konzept einer unter kairologischen Vorzeichen stehenden „gelebten Zeitlichkeit“ aufgreift und für seine „eigentliche“ bzw. „ursprüngliche Zeitlichkeit“ sowie „Geschichtlichkeit“ nutzt. Auch hier ergibt sich zunächst: Heidegger kritisiert einerseits den „theologischen“ Kierkegaard und lässt andererseits das religiös-theologische Kolorit seiner Existenzialanalyse unerwähnt. Viertens erläuterte Kapitel 7 drei im Hinblick auf das existenziale Paradigma wesentliche Zusammenhänge von Sein und Zeit, aufgrund derer das von Heidegger angeführte Differenzkriterium in seiner schematischen Konstruktion abgewiesen werden muss. Zum einen deutet Heidegger an, dass seine existenziale Analyse selbst existenziell gestimmt ist, weil a) Philosophie grundsätzlich „ihre »Voraus214

9. Fazit

setzungen« nie abstreiten“ (SuZ, S. 310) sollte und b), weil sie mit der Eigentlichkeit ein „Ideal“ (SuZ, S. 310) zugrunde legt. Zum anderen liegt dahingehend eine Verschränkung der Ebenen existenziell und existenzial vor, als dass die vollständige und ursprüngliche, im Modus der Verfallenheit „zunächst und zumeist“ verdeckte Struktur des Daseins erst im Modus der Eigentlichkeit ganz sichtbar wird. Die Konstitutionsanalyse des Daseins und die „daseinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens“ sind so aneinander gekoppelt. Schließlich hinterlässt Heidegger mit seiner im § 74 erfolgten Ausarbeitung der Geschichtlichkeit eine Leerstelle, die der Leser dann „existenziell“ schließt. Über seine Diffamierung der sozialen Praxis („schlecht“ = Man), über die Akzentuierung der Entschlossenheit und der „Leere“ des Entschlusses, über den präsentischen Fokus der Eigentlichkeit sowie über seine Andeutungen eines positiv gewendeten „eigentlichen Miteinanders“ des Volkes („gut“ = Volk) legt Heidegger dem Leser implizit die existenzielle Rückkopplung nahe, eigentlich sein zu sollen. Vor dem Hintergrund der soeben skizzierten Aspekte sprach ich von einer ambivalenten Rhetorik Heideggers. Kapitel 7 griff Andreas Luckners Rede vom „existenzialistischen Missverständnis der Leser Heideggers“ auf und kehrte sie gegen seinen Verfasser. Mit seiner Deutung der heideggerschen Eigentlichkeit als einen Modus, in dem das Dasein eine „Regelsetzungskompetenz“ übernimmt und sich die gesellschaftlichen Institutionen aneignet bzw. diese mitgestaltet, sitzt Luckner selbst einem „existenzialistischen Missverständnis“ auf. Luckner argumentiert im Namen einer kulturphilosophisch inspirierten Ethik gelingender sozialer Praxis und liefert damit eigens eine „Ethik der Eigentlichkeit“, welche er selbst als fehlgeleitete Heideggerlektüre kritisierte. Die Rede vom „existentialistischen Missverständnis“ lässt sich auch auf Heideggers sowie auf die von weiten Teilen der Forschung adaptierte Kierkegaardinterpretation rückbeziehen. Ist man gewillt, der in der vorliegenden Arbeit skizzierten Deutungslinie zu folgen, muss man von einem „existenzialistischen Missverständnis der Leser Kierkegaards“ sprechen, die Kierkegaard existenziell „kurzschließen“. Während Kapitel 3 die Möglichkeit einer „existenzialen Lektüre“ von Entweder-Oder aufzeigte, führte Kapitel 7 diese Überlegung weiter, indem es Kierkegaards Werkstruktur ebenso wie die daran gekoppelten Ebenen der Pseudonymität und der indirekten Mitteilung als eine Rhetorik der Ambivalenz begriff. Am Beispiel von Entweder-Oder wurde erläutert, dass der offene Deutungshorizont des Titels einseitige moralinsaure Lektüren 215

9. Fazit

pulverisiert. Die dramaturgisch komplex inszenierte Erzähl-, Pseudonymund Kommunikationsstruktur des kierkegaardschen Oeuvres kann als Modus einer adäquaten Rede gedeutet werden, sinnvoll über Existenz zu sprechen, ohne dabei normativ oder existenzialistisch aufgeladene Konzeptionen zu vereinseitigen. Insofern lese ich Kierkegaard an diesem Punkt über den theologisch-religiösen Fokus hinaus und auch gegen den Strich. Bei allem Sarkasmus, mit dem sich Kierkegaard gegenüber dem „Dozententum“ äußerte, ist auch eine philosophische, „theoretische“ Lektüre Kierkegaards vielversprechend. Dass er diesbezüglich tiefgreifende Impulse liefert, zeigt allein die intensive Rezeption durch Autoren wie Heidegger, Jaspers, Adorno und Wittgenstein und viele andere. Kierkegaards Einwände gegenüber einer systembildenden Existenzreflexion, seine Inszenierung des „experimentellen“ Denkens, des Ambivalenten, des Spielerischen können als „systematischer“ Standpunkt philosophisch weiter fruchtbar gemacht werden bzw. auch zur Selbstreflexion der Philosophie „insgesamt“ weiter anregen. Das in der vorliegenden Arbeit diskutierte und gegenüber Kierkegaard ins Spiel gebrachte existenziale Argument Heideggers steht exemplarisch für eine grundsätzliche Problematik. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem heideggerschen Denken muss genau diese Schnittstelle ins Auge fassen. Die vor allem mit Victor Farias in den 1980er Jahren angestoßene Debatte um die Frage nach dem Zusammenhang der heideggerschen Philosophie und ihrer Anschlussfähigkeit an die NS-Ideologie schien inzwischen ausgelaufen zu sein. Wer Heidegger als „Nazi“ oder „Antisemit“ bezeichnet hatte und sich damit auf seine Philosophie bezog, stand tendenziell in der „Bringschuld“, dies argumentativ zu plausibilisieren. Dann erschienen seit März 2014 die Schwarzen Hefte, deren Veröffentlichung die Heidegger-Gesamtausgabe abschließen sollte, wie es Heidegger selbst verfügte. In Anbetracht einiger Notizen Heideggers, wie jene von 1941/1942: „Wenn erst das wesenhaft ‚Jüdische‘ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht.“ (HGA 97, Anmerkungen I-IV, Schwarze Hefte 1942-1948, S. 20), hat sich die „Beweislast“ nun umgekehrt. Ich halte diesen neuen, sich an der Frage eines vermeintlichen oder tatsächlichen Antisemitismus‘ Heideggers abarbeitenden Diskurs für nur bedingt weiterführend. Abgesehen davon, dass die Debatte von dem unscharfen und auch vielseitig dehnbaren Antisemitismusbegriff geleitet ist – was haben wir von einem Urteil „Heidegger = Antisemit“? Würde dies heißen, nichts 216

9. Fazit

mehr von Heideggers Texten lernen zu können? Wollen wir so tun, als hätte er nicht maßgeblich die Philosophie geprägt? Was hätten wir andersherum von dem Urteil „Heidegger = kein Antisemit“? Bedeutete dies, über die problematischen und prekären Stellen in Heideggers Texten und Schwarzen Heften hinwegzusehen, als gäbe es sie nicht? Bisher hatten sich etliche Heideggerianer ebenso wie Heidegger selbst auf das existenziale Argument „zurückgezogen“ bzw. berufen und mit diesem einen grundlegenden Analysestatus geltend gemacht, der die Frage bezüglich möglicher Anknüpfungspunkte an empirisch-ontische Kontexte oder faktisch-existierende Ideologien (zu Teilen mit einem äußerst selbstgerechten Gestus) abweisen konnte. Diese Strategie ist nun mit den Äußerungen der Schwarzen Hefte endgültig desavouiert. Vielmehr zeigen die Äußerungen, wie tief die „existenzielle“ Dimension in das heideggersche Denken hineinreicht. Die durch die Notizen ausgelösten massiven Erschütterungen zeugen davon, dass diese existenzielle Ebene der heideggerschen Reflexionen philosophisch vielerorts allzu häufig ausgeklammert wurde. Einmal mehr zeigt die Arbeit – besser: sie insistiert darauf –, dass Heidegger weder allein existenzial noch allein existenziell, sondern nur in diesem Spannungsfeld „zu haben“ ist. Wer Heideggers Sein und Zeit jetzt als antisemitisch charakterisiert und ihn mit „Nazi“ betitelt, fixiert das Brennglas derart einseitig, dass er den „ganzen“ Heidegger gleich mitverbrennt. Im Rahmen der Antisemitismusdebatte um Heidegger lässt sich – wie so oft – auch mit Heidegger gegen Heidegger argumentieren. Denn mit seinem Konzept der Universalisierung der Entfremdung durch das „Man“ in Sein und Zeit und seinen Ausführungen zur Angst-Furcht-Dynamik, die auch als genetische Analyse des Sündenbockmechanismus‘ gelesen werden kann, hat Heidegger gleichermaßen einen wichtigen Impuls zur Erledigung eines immer wiederkehrenden und historisch katastrophal endenden Reflexes geleistet – der elenden Suche nach DEM Schuldigen. Auch wenn es manche nicht glauben möchten – es gibt ebenso einen zivilgesellschaftlich anschlussfähigen Heidegger. So gesehen fällt Heidegger in seinen Schwarzen Heften in erster Linie hinter sich selbst zurück. Nun ließe sich sagen, die Arbeit entlässt einen „zurechtgestutzten“ Heidegger und einen „rehabilitierten“ Kierkegaard – und in gewisser Hinsicht tut sie das auch. Zugleich zeigt sie, dass beide Autoren – zwar über einen unterschiedlichen „Ansatz“ kommend – sowohl die Existenzsituation des Menschen und deren Bedingungen offenlegen als auch um einen angemessenen Reflexions- und Kommunikationsmodus ringen. Kierke217

9. Fazit

gaard und Heidegger sollten von daher nicht gegeneinander gelesen werden. Mit Kierkegaard für Heidegger, mit Heidegger für Kierkegaard. So könnte eine Perspektive und gleichsam – nicht das letzte Wort – so doch der letzte Satz der „Arbeit“ heißen…

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10. Bibliographie Oswald Schwemmer: Beitrag „existentia“ in: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 1, Mannheim/Wien/Zürich, 1980, S. 618. Thomas Seibert: Existenzphilosophie, Stuttgart/Weimar, 1997. Johannes Slök: Die griechische Philosophie als Bezugsrahmen für Constantin Constantius und Johannes de Silentio, in: Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg.): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main, 1979, S. 280-302. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Erster Band, Frankfurt am Main, 1983. Barbara Steinke: Paradiesgarten oder Gefängnis?: das Katharinenkloster zwischen Klosterreform und Reformation, Tübingen, 2006. Jon Stewart: Johan Ludwig Heiberg: Kierkegaard’s Criticism of Hegel’s Danish Apologist, in: Kierkegaard and His Danish Contemporaries – Theology, Jahrgang 7, Band 2, Ashgate, 2009, S. 35-76. Jakob Taubes: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin, 1980. Michael Theunissen: Das Erbauliche im Gedanken an den Tod. Traditionale Elemente, innovative Ideen und unausgeschöpfte Potentiale in Kierkegaards Rede An einem Grabe, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2000, herausgegeben von Niels Cappelörn, Hermann Deuser und Jon Stewart, Berlin/New York, 2000, S. 40-73. Michael Theunissen: Für einen rationaleren Kierkegaard. Zu Einwänden von Arne Grön und Alasair Hannay, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 1996, herausgegeben von Niels Cappelörn und Hermann Deuser, Berlin/New York, 1996, S. 61-90. Michael Theunissen: Kierkegaards philosophisches Profil, in: Kierkegaardiana 18, herausgegeben von Joakim Garff, Arne Grön u. a., Kopenhagen, 1996, S. 6-27. Michael Theunissen: Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, Frankfurt am Main, 1991. Michael Theunissen: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt am Main, 1990. Michael Theunissen/Wilfried Greve: Kierkegaards Werk und Wirkung, in: Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg.): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main, 1979, S. 11-104. Dieter Thomä: Stichwort: Kehre. Was wäre, wenn es sie nicht gäbe, in: HeideggerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 2003, S. 134-141. Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910-1976, Frankfurt am Main, 1990. Gerhard Thonhauser: Über das Konzept der Zeitlichkeit bei Sören Kierkegaard mit ständigem Hinblick auf Martin Heidegger, Freiburg, 2011. Rainer Thurnher: Sören Kierkegaard, in: Rainer Thurnher, Wolfgang Röd, Heinrich Schmidinger: Geschichte der Philosophie. Band VIII. Die Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts und 20. Jahrhunderts, 3. Lebensphilosophie und Existenzphilosophie, München, 2002, S. 15-59. Paul Tillich: Grundlinien des religiösen Sozialismus, in: Gesammelte Werke, herausgegeben von Renate Albrecht, Band. 2, Stuttgart, 1962.

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10. Bibliographie Ernst Tugendhat: Heideggers „Man“ und die Tiefendimensionen der Gründe, in: Reinhard Brunner/Peter Kelbel (Hg.): Anthropologie, Ethik und Gesellschaft. Für Helmut Fahrenbach, Frankfurt am Main, 2000, S. 77-100. Helmut Vetter: Stadien der Existenz. Eine Untersuchung zum Existenzbegriff Sören Kierkegaards, Wien, 1979. Koral Ward: The Concept of the ‚Decisive Moment’ in the 19th and 20th Century Western Philosophy, Ashgate, 2008. Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen im Alltag und Denken, München, 2005. Margaret Weldhen: The Existentialists and Problems of Moral and Religious Education, 1. Bultmann and Heidegger, in: Journal of Moral Education, London, 1971/72. Tilo Wesche: Kierkegaard, Stuttgart, 2003. Matthias Wilke: Die Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs, Tübingen, 2005. Jiro Witanabe: Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bei Heidegger, in: Journal of the Faculty of Letters, Aesthetics, Band 11, Tokyo, 1986, S. 61-75. Kurt Wuchterl: Beitrag „Paradox I. Philosophisch“ in: Gerard Müller u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Band 15, Berlin, 1995, S. 726-731. Tsutomu Yagi: Beyond Subjectivity: Kierkegaard’s Self and Heidegger’s Dasein, in: Perspectives: International Postgraduate Journal of Philosophy, Dublin, 2009, S. 60-77. Christoph Ziermann: Platons negative Dialektik. Eine Untersuchung der Dialoge „Sophistes“ und „Parmenides“, Würzburg, 2004. Franz Zimmermann: Einführung in die Existenzphilosophie, Darmstadt, 1977. Michael Zimmerman: Eclipse of the Self. The Development of Heidegger's Concept of Authenticity, Athen, 1981.

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