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German Pages [240] Year 2008
V&R
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz
Band 120
Vandenhoeck & Ruprecht
Gunther Wenz
Hegels Freund und Schillers Beistand Friedrich Immanuel Niethammer (1766-1848)
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit einer Abbildung
Bibliografische I n f o r m a t i o n der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < h t t p : / / d n b . d - n b . d e > abrufbar. I S B N 978-3-525-56348-9
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FRIEDRICH IMMANUEL VON NIETHAMMER
1766-1848 Aus: Bayerische Akademie der Wissenschaften, Geist und Gestalt. Dritter Band. C . H . Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1959, S.64.
Der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern aus Anlass ihrer zweiten Säkularfeier
Inhalt
Vorwort
9
1. Kirchlicher Gründervater und Schulorganisator
13
2. Theologe und Philosoph
17
3. Skizze aktueller Forschungen
24
4. Kants Revolution der Denkungsart
33
5. Kritik metaphysischer Psychologie und Kosmologie
39
6. Kritik rationaler Ontotheologie
43
7. Theoretische Vernunftkritik in praktischer Absicht
46
8. Gott, Freiheitswelt und Unsterblichkeit der Menschenseele als Postúlate praktischer Vernunft
50
9. Tübinger Supranaturalismus
56
10. Wider die supranaturalistische Offenbarungslehre
61
11. De vero revelationis fundamento oder: Uber den Versuch einer Kritik aller Offenbarung
70
12. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
79
13. Über Religion als Wissenschaft
87
14. Storrs Bemerkungen zu Kants Religionsphilosophie
94
15. Jenaer Produktionen
101
16. Jenaer Konstellationen
111
17. Die Freunde Diez und Erhard
126
18. Theorie sittlicher Praxis
130
19. Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten . .
136
20. Religion als moralische Pflicht und die sittliche Unentbehrlichkeit des Offenbarungsglaubens
141
21. Forbergs Aufsatz zur „Entwickelung des Begriffs der Religion" . .
149
8
Inhalt
22. Fichtes Beitrag „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung"
155
23. Der Atheismusstreit
160
24. Kantianismus und Ichphilosophie
169
25. Würzburger Andachtsreden
176
26. Schleiermacher'sche Anleihen
188
27. Philanthropinistischer Humanismus
193
28. Intelligibilität und Sensibilität
199
29. Zurück zu Storr?
207
30. Die Religionsbedürftigkeit praktischer Vernunft
219
31. Reformatorische und sonstige Einsichten
229
Personenregister
233
Vorwort
Auch Theologen und Männern der Kirche kann es passieren, der Verbreitung atheistischen Gedankenguts bezichtigt zu werden. So erging es in den Jahren 1798/99 Friedrich Immanuel Niethammer (26. M ä r z 1766 - 1. April 1848), einem der Gründerväter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Auf die näheren Umstände des Jenaer Atheismusstreits ist an späterer Stelle einzugehen. Hier soll einstweilen nur ein Passus aus der gerichtlichen Verantwortungsschrift zitiert werden, mit der N i e t h a m m e r sich gegen die Anklage zu verteidigen suchte, der Gottlosigkeit absichtlich Vorschub geleistet zu haben. Im Blick auf Texte wissenschaftlicher Theologie und Philosophie, wie er selbst sie produzierte oder als Herausgeber edierte, gibt er Folgendes zu bedenken: „Welche Gefahr sollte man denn von Schriften fürchten, die nur Wenige lesen können, und noch Weniger[e] lesen mögen? M a g also ihr Inhalt seyn, welcher er will; mag er noch soviel Unheil fürchten lassen, wenn er auf die grosse Masse sich verbreitete: es ist nichts zu fürchten, da die Verbreitung nicht zu fürchten ist." 1 Ein Bestsellerautor, dessen literarische Werke ein Massenpublikum las, war N i e t h a m m e r schon zu seiner Zeit nicht. H e u t e sind seine Schriften kaum jemandem bekannt und weithin vergessen. Dass es sich gleichwohl lohnt, sie zu studieren, hat Dieter Henrich in seinen Untersuchungen zur Vorgeschichte des Deutschen Idealismus unlängst auf höchst eindrucksvolle Weise gezeigt. Auf über hundert Seiten wird Niethammers Entwicklung in der Zeit von 1791/92 bis zum Ausgang des Atheismusstreits und dem Wechsel nach W ü r z b u r g Ende August 1804 in einer Weise rekonstruiert, die an Akribie, Detailgenauigkeit und Gedankenklarheit nicht zu überbieten ist. 2 Wichtige Ergebnisse neuerer Niethammerforschung sind ferner in den Vorlesungen von Manfred Frank zu den Anfängen frühromantischer Philosophie enthalten. 3 Sie schließen einerseits an Vorgaben Henrichs an, set1 F.I. N i e t h a m m e r s als Mitherausgeber des philosophischen J o u r n a l s Verantwortungsschrift, in: D e r Herausgeber des philosophischen J o u r n a l s gerichtliche V e r a n t w o r t u n g s s c h r i f ten gegen die A n k l a g e des A t h e i s m u s . Hg. v. J . G . Fichte, Jena 1799, 1 2 1 - 1 9 2 ( = J . G . Fichte Gesamtausgabe 1,6: W e r k e 1 7 9 9 - 1 8 0 0 . Hg. v. R. Lauth u. H. G l i w i t z k y , Stuttgart/Bad C a n n statt 1 9 8 1 , 9 3 - 1 1 9 ) , hier: 1 4 3 ( 1 0 1 ) . 2 D . Henrich, G r u n d l e g u n g aus dem Ich. U n t e r s u c h u n g e n zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen/Jena ( 1 7 9 0 - 1 7 9 4 ) . 2 Bd., F r a n k f u r t a. M . 2 0 0 4 , hier: II, 9 4 5 - 1 0 6 0 : XI. V i e r Phasen in N i e t h a m m e r s Religionstheorie. 3 M. Frank, „Unendliche Annäherung". Die A n f ä n g e der philosophischen F r ü h r o m a n t i k , Frankfurt a.M. 1997.
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Vorwort
zen in ihrer Bewertung andererseits nicht unerheblich abweichende Akzente. Darauf wird in exemplarischen Eingangsnotizen zum erkenntnisleitenden Interesse der beiden wichtigsten Beiträge zur Niethammerforschung aus jüngerer Zeit Bezug genommen. D e r Zweck, der mit einer erneuten Erinnerung an Niethammer verfolgt wird, ist vergleichsweise bescheiden und um Elementarisierung bemüht. Während Henrich und Frank die Kenntnis der Philosophie Kants, durch die Niethammers Denken entscheidend bestimmt war, im Wesentlichen voraussetzen, wird sie im Folgenden im Verein mit der Position des Tübinger Supranaturalismus, von der sich Niethammer abzusetzen trachtete, eingangs ausführlich zur Darstellung gebracht. Damit soll auch dem mit den Argumenten des Königsberger Weltweisen bisher nicht oder nur wenig Vertrauten Gelegenheit gegeben werden, sich über die Grundkonstellation ein eigenständiges Urteil zu bilden, von der die Niethammer'sche Gedankenentwicklungen ihren Ausgang nahmen. Auch ansonsten wird, wenngleich in geringerem U m f a n g als im Falle des philosophischen Hauptgewährsmanns Kant, darauf geachtet, möglichst die nötigen Basisinformationen zu Standpunkten mitzuliefern, von denen Niethammer entscheidend beeinflusst war. D a s gilt etwa für Fichtes Versuch einer Kritik aller O f f e n b a r u n g oder für Reinholds Elementarphilosophie. Was die Stationen von Niethammers eigenem Denken betrifft, so werden sie vor allem anhand der literarischen Hauptwerke namhaft gemacht, die in der Reihenfolge ihres Erscheinens vorgestellt werden, wobei anders als bei Henrich und Frank auch die Schriften der Münchener Zeit Berücksichtigung finden. Dieses chronologische Vorgehen beinhaltet einerseits unbestreitbare methodische Schwächen, dient aber andererseits der raschen Übersicht, wie sie für eine Elementarorientierung unverzichtbar ist. F ü r alle Details der Jenaer Zeit Niethammers und ihrer Phasen sei auf Henrichs und Franks Forschungen verwiesen. Hinweise auf Sekundärliteratur zu späteren Texten und Kontexten des Niethammer'schen Denkens werden jeweils an O r t und Stelle gegeben werden. Einen ersten Uberblick über Biographie und Werkgeschichte insgesamt vermittelt G . Lindners - unter der Anleitung W. Maurers angefertigte - Erlanger Dissertation über Friedrich Immanuel Niethammer als Christ und Theologe. 4 Niethammer war kein Denker der allerersten Klasse und „keine Leuchte vom Range Schillers, Fichtes, Erhards oder auch nur Reinholds" 5 . Z u m
4 G. Lindner, Friedrich Immanuel Niethammer als Christ und Theologe. Seine Entwicklung vom deutschen Idealismus zum konfessionellen Luthertum, Nürnberg 1971. 5 M. Frank, a.a.O., 431. Von den Historiographen der Geistesgeschichte seiner Zeit wird Niethammer daher üblicherweise als bloße Begleitfigur wahrgenommen. Zu bedenken ist allerdings, dass diese Wahrnehmung für die unmittelbaren Zeitgenossen im ausgehenden 18. Jahr-
Vorwort
11
bayerischen Oberkonsistorialrat, so möchte man hinzufügen, hat es gleichwohl gereicht, ja man wird sagen dürfen, dass er unter den Repräsentanten der kirchenleitenden Organe seiner Zeit und seiner Region intellektuell durchaus hervorragte. 6 Aber das ist nicht das Entscheidende; wichtiger für die Würdigung seiner Person und seines Lebenswerkes ist die Wahrnehmung, dass Niethammer unverkennbar ein entwickeltes Bewusstsein seiner eigenen Grenzen hatte. Dieses Bewusstsein unterschied ihn nicht nur wohltuend von Zeitgenossen, die ihre Beschränktheit gerade dadurch unter Be-
hundert alles andere als selbstverständlich war. U m 1798 - das Jahr des Erscheinens der deutschen Fassung von Niethammers theologischer Dissertation - als Bezugsgröße zu wählen: „Hegels Namen kannte die Öffentlichkeit überhaupt noch nicht. Schelling war zwar schon literarisch hervorgetreten, hatte aber noch kein öffentliches A m t inne; er war Hofmeister der in Leipzig studierenden Barone von Riedesel und erhielt erst im Sommer 1798 die Berufung als außerordentlicher Professor der Philosophie nach Jena. . . . N u r Fichte scheint im öffentlichen Bewußtsein vor Niethammer rangiert zu haben. Dagegen stand Niethammer, was das A m t betrifft, über Fichte. Er war gerade . . . von der philosophischen in die theologische Fakultät übergetreten. Die Aufnahme in die theologische Fakultät ist nicht als schlichter Fakultätswechsel, sondern nach den Gepflogenheiten der Zeit durchaus als Aufstieg zu verstehen." (W.G. Jacobs, Offenbarung und Vernunft. U b e r Friedrich Immanuel Niethammers Religionskritik, in: PhJ 88 [1981], 5 0 - 6 9 , hier: 51. Jacobs Studie enthält eine Fülle von Material zur Vorgeschichte von Niethammers theologischer Dissertation und der Rezension, die Schelling ursprünglich zu ihr plante, um den Plan dann allerdings zugunsten einer eigenständigen Abhandlung [„Offenbarung und VolksUnterricht"] aufzugeben. Was den jungen Schelling mit dem an Ansehen und Stellung überlegenen Niethammer sachlich verband, war die gemeinsame Ablehnung des T ü binger Supranaturalismus von Storr und seinen Schülern.) 6 Allerdings hat Niethammer dem Münchener Konsistorium bis zu seiner Emeritierung im J a h r 1845 nie in einem obersten Leitungsamt, sondern stets nur in „untergeordneter F u n k t i o n " ( H . Gürsching, Friedrich Immanuel Niethammer und das bayerische Generalkonsistorium 1808, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 21 [1952], 1 6 5 - 1 8 0 , hier: 166) angehört. Offiziell F u ß gefasst hat er in dem im Spätherbst 1808 errichteten Gremium erst 1818 als zweiter geistlicher Rat. D o c h wurde er in ihm bereits im vorhergehenden Jahrzehnt als Oberkirchenrat (seit 1808) wiederholt tätig und trug erheblich „zur organisatorischen und geistigen Grundrißlegung der bayerischen Landeskirche" (ebd.) bei. Nach seinem Wechsel von Würzburg bzw. Bamberg nach München wirkte Niethammer zunächst als Zentralschulrat im Innenministerium. Die Anstellungsverfügung erfolgte Ende Februar 1807. Die Gründe der für ihn bitteren, ja beschämenden Zurücksetzung bei der Mitgliederbestellung des Generalkonsistoriums, in dem er die erste Stelle einzunehmen berechtigte Aussicht hatte, sind in dem genannten Beitrag von H . Gürsching, dem ein Schreiben Niethammers an den König vom 12. O k t o b e r 1808 beigegeben ist, ausführlich dargelegt. Sie sind nicht zum Geringsten in den damaligen politischen Konstellationen zu suchen. Montgelas hatte 1808 manchen Anlass, „das neue Generalkonsistorium der vielen so verhaßten Protestanten in der unauffälligsten F o r m anzurichten" ( a . a . O . , 174). Dass der hervorragende Niethammer übergangen wurde, hat insofern seine F o l gerichtigkeit. O b w o h l er in der kirchlichen Hierarchie lebenslang nur eine nachgeordnete Stellung einnahm, wuchs er im Laufe der Jahre im Gegensatz zur Schulsektion in das Generalkonsistorium immer mehr hinein, um es mit der „Weite seiner Gedankenwelt" ( a . a . O . , 175) zu erfüllen: „(L)angsam und stetig erfüllte sich sein Schicksal in der vertieften Auffassung der Aufgabe." ( A . a . O . , 173) A m 16. Juli 1829 wurde Niethammer erster geistlicher Oberkonsistorialrat. Die Ernennung zum Geheimrat und Versetzung in den Ruhestand erfolgte 1845.
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Vorwort
weis stellten, dass sie ihre Fähigkeiten für grenzenlos hielten - es ist zugleich die Voraussetzung für das auf Ausgleich bedachte Wesen, das für Niethammer charakteristisch war und ihn nicht nur zu einem Genie der Freundschaft, sondern in Theorie und vor allem in praxi zu einem verständigungsorientierten Strategen von ausgezeichnetem Vermittlungsgeschick werden ließ, der Bleibendes schuf oder doch mitbewirkte. Nicht nur die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern hat guten Grund, seiner in Respekt und Dankbarkeit zu gedenken. Den Herren Florian Amberg und Stefan Dienstbeck danke ich für Korrektur- und Registerarbeiten, Frau Kollegin Christine Axt-Piscalar für die Übernahme des Textes in die gemeinsam herausgegebene Reihe und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für einen großzügigen Druckkostenzuschuss. München, 1. April 2008
Gunther Wenz
1. Kirchlicher Gründervater und Schulorganisator
Der Name Niethammers 1 (der sich nach Ausweis des G r i m m s c h e n W ö r terbuches von dem zu Nietzwecken gebrauchten Hammer des Schlossers herleitet) ist mit der Entstehungsgeschichte der evangelischen Landeskirche in Bayerns aufs Engste verbunden. Kaum einer hatte auf ihre anfängliche
1 Z u r Biographie vgl. im Einzelnen J . Döderlein, U n s e r e Väter. Kirchenrat Christof D ö d e r lein, Oberconsistorialrat I m m a n u e l von N i e t h a m m e r und H o f r a t L u d w i g von Döderlein, Erlangen und Leipzig 1891, 18-37: I m m a n u e l von N i e t h a m m e r (Nach A u f z e i c h n u n g e n von Adolf Freiherr von Lupin). Freiherr von Lupin w a r Gatte der ältesten Enkelin N i e t h a m m e r s , M a g dalena, die aus der Ehe des leiblichen N i e t h a m m e r s o h n e s J u l i u s mit Sophie Freiin von T r o eltsch aus A u g s b u r g s t a m m t e . J u l i u s und seine Familie b e w o h n t e n zeitweise z u s a m m e n mit den Eltern das dreistöckige Haus, das N i e t h a m m e r sen. 1827/28 an der Ecke Karl-/Barerstraße in M ü n c h e n hatte errichten lassen. Die Ehefrau N i e t h a m m e r s w a r Rosine Eleonore Döderlein ( 1 7 7 0 - 1 8 3 2 ) , geb v. Eckardt (vgl. A.L. Bühler, Rosine Eleonore N i e t h a m m e r . 1770-1832, in: Oberbayerisches Archiv 90 [1968], 1 5 8 - 1 6 3 ) . Sie s t a m m t e aus einer J u r i s t e n - und Gutsbesitzerfamilie u n d w a r die W i t w e von N i e t h a m m e r J e a n e r Kollegen J o h . C h r i s t o p h Döderlein ( 1 7 4 6 - 1 7 9 2 ) . Die T r a u u n g fand am 20. O k t o b e r 1797 in J e n a statt. Frau N i e t h a m m e r brachte ihren Sohn L u d w i g (1791-1862; Gymnasialprofessor und R e k t o r in Erlangen) in die Ehe. 1798 w u r d e Adolf J u l i u s geboren (Jurist; gest. 1882). Seine letzte Ruhestätte fand N i e t h a m m e r auf dem Südlichen Friedhof zu M ü n c h e n (vgl. M . J . H u f n a g e l , B e r ü h m t e Tote im Südlichen Friedhof zu M ü n c h e n , M ü n c h e n 4 1983, 1 4 4 f ) . Eine detaillierte S k i z z e der Geschichte seines Privatnachlasses, die zugleich Einblicke gibt in die Geschicke seiner Familie und ihrer N a c h k o m m e n , findet sich in D. H e n r i c h ( H g . ) , I m m a n u e l C a r l Diez. Briefwechsel und Kantische Schriften. W i s s e n s b e g r ü n d u n g in der Glaubenskrise T ü b i n g e n - J e n a ( 1 7 9 0 - 1 7 9 2 ) , Stuttgart 1997, 8 3 2 - 8 5 7 : Verwicklungen in und u m N i e t h a m m e r s Privatnachlass. Eine wichtige Q u e l l e für N i e t h a m m e r s frühe J a h r e ist das „ C u r r i c u l u m vitae", das seiner theologischen Dissertation „De persuasione pro revelatione eiusque stabiliendae m o d o rationis praeceptis consentaneo", J e n a 1797, beigegeben ist. Vgl. ferner N N D X X V I (1848), 291 ff; A D B X X I I I (1886), 6 8 9 f f ; D B E T h 2 (2005), 982 = GBBE 2, 1400f sowie W . G . Jacobs, N i e t h a m m e r , Friedrich Immanuel, in: N e u e Deutsche Biographie. H g . v. d. Historischen Kommission bei der Bayerischen A k a demie der W i s s e n s c h a f t e n . 19. Bd., Berlin 1999, 247. Das G e b u r t s d a t u m N i e t h a m m e r s w i r d in den biographischen N a c h s c h l a g e w e r k e n teils mit dem 6., teils mit d e m 26.3.1766 angegeben. R i c h t i g ist nach A u s w e i s des Taufregisters von Beilstein der 26. M ä r z . (Für einen entsprechenden H i n w e i s danke ich Frau M a r e i k e D r e g e r vom Landeskirchlichen Archiv Stuttgart.) Der im N ü r n b e r g e r Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern vorhandene Nachlass N i e t h a m m e r s besteht im Wesentlichen aus einer einzigen A k t e n e i n h e i t
(Personen 2 [ C : F. Buchrucker, Konsistorialrat] N r . 5), die in drei Einzelvorgänge zerfällt: 1. Kommission für die evangelischen Studienanstalten, 1815-1817; 2. S c h u l r e f o r m und Organisation, ferner Pasigraphik, Philanthropinismus u.a. 1804-1818; 3. Korrespondenz 1808-1819, u.a. mit d e m Kronprinzen von W ü r t t e m b e r g , H e g e l und Jean Paul (Richter). In Personen 51, einer S a m m l u n g kleinerer Nachlässe, finden sich nach H i n w e i s von H e r r n Archivrat Dr. J ü r g e n König noch einige Einzelschriftstücke wie Briefe an Paulus (vgl. Veröffentlichungen aus dem Landeskirchlichen A r c h i v 1,25 f), eine J e n a e r Kriegssteuererklärung N i e t h a m m e r s vom 16.5.1795
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Kirchlicher Gründervater u n d Schulorganisator
Entwicklung und Organisation so maßgeblichen Einfluss wie er. Sein Wirken für die Neuorganisation des evangelischen Kirchenwesens in Bayern begann im Jahre 1804, in dem der gebürtige Württemberger und Tübinger Stiftler von Jena aus, wo er über ein Jahrzehnt lang doziert hatte, nach Würzburg berufen wurde, um im bayerischen Staatsdienst als Theologieprofessor, Oberpfarrer und Konsistorialrat sowie nach geraumer Zeit auch als protestantischer Oberschulkommissär tätig zu sein. Im Würzburger Konsistorium kümmerte er sich intensiv um die Grundlegung einer kirchlichen Organisation der protestantischen Gemeinden im damaligen bayerischen Franken und ließ sich darüber hinaus insbesondere die Gestaltung des evangelischen Religionsunterrichts angelegen sein. Nachdem Würzburg 1806 aus politischen Gründen Bayern vorerst abhanden gekommen und ein Verbleib an der dortigen Universität unmöglich geworden war, wurde Niethammer nach einem Bamberger Zwischenspiel Ende Februar 1807 nach München berufen, wo er bis zu seinem Lebensende verblieb. Der Schwerpunkt seiner beruflichen Aufgaben lag zunächst im schulischen Bereich. Unter Maximilian Graf von Montgelas (1759-1838), der in Bayern seit 1799 als Geheimer Staats- und Konferenzminister die Innen- und Außenpolitik bestimmte und die maßgebende Persönlichkeit der napoleonischen Zeit war, arbeitete er mit hohem persönlichen Engagement an der Reform der öffentlichen Unterrichts- und Erziehungsanstalten. Mit dem „Allgemeinen Normativ für Bayern" von 1808, dessen Programmatik er in einer umfangreichen Begleitschrift theoretisch fundierte, suchte er seine pädagogischen Reformideen im bayerischen Schulwesen zu verwirklichen. Bemerkenswert ist insbesondere sein innovativer Vorschlag, höhere Schulen in einen klassisch humanistischen Gymnasialzweig und in ein sog. Realinstitut zu untergliedern. Allerdings blieben die Regelungen des Allgemeinen Normativs nur eine Etappe auf dem langen Weg bis zum vollständigen, im Wesentlichen durch Friedrich Thiersch errungenen Sieg des N e u humanismus. In der Zeit seit der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 und dem Lehrplan von Thiersch im Jahre 1830 gab es in Bayern nicht weniger als acht Umgestaltungen des Erziehungswesens. Kaum war ein Schulplan eingeführt, wurde er bereits durch den nächsten ersetzt oder grundlegend modifiziert. Dieses Schicksal teilte auch die Niethammer'sche Bildungsreform; kurz nach ihrem Entstehen war sie bereits in Auflösung begriffen. Nicht minder mühsam war Niethammers Wirken als Kirchenorganisator. Auch hier stellte sich der Erfolg erst allmählich und nach mannigfachen Rückschlägen ein. U n t e r der Regierung Maximilians IV. (I.) Joseph (1799-1825; seit 1806 König) und unter der politischen Leitung Montgelas'
sowie ein Mietvertrag mit J.P. Gabler aus dem Jahr 1804. Vorhanden ist ferner der N i e t h a m m e r betreffende Personalakt ( O K M Alte N r . 00584) von 1819 bis 1839.
Kirchlicher Gründervater und Schulorganisator
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(1799-1817) entwickelte sich Bayern fortschreitend von einem spätfeudalen zu einem absolutistischen Gemeinwesen aufgeklärt-liberalen Zuschnitts. Für die Religionspolitik waren die Prinzipien allgemeiner Toleranz einerseits sowie staatlicher Kirchenhoheit im Sinne des Territorialismus andererseits grundlegend. Die Umgestaltung Bayerns zu einem konfessionsparitätischen Staat vollzog sich auf dieser Basis. Durch den Zuwachs traditionell evangelischer Gebiete, wie er vor allem seit dem Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 erfolgte, wurde dieser Transformationsprozess nicht unwesentlich forciert. War das bayerische Kurfürstentum bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein nahezu einheitlich katholisches Land, so betrug der evangelische Anteil der Gesamtbevölkerung 1816 bereits ein knappes Drittel. Die zivile Gleichstellung der evangelischen Bürger war, auch wenn sie sich realpolitisch nur schrittweise verwirklichen ließ, von Anfang an erklärtes Ziel der Konfessionspolitik Montgelas'. Diese den Aufklärungsideen der Gewissens- und Religionsfreiheit verpflichtete Politik kam der evangelischen Bevölkerung naturgemäß sehr entgegen, setzte der Ausbildung eines selbständig verfassten protestantischen Kirchenwesens aber zugleich enge Grenzen, sofern sie im absolutistischen Sinne unbeschränkter Staatssouveränität zu erfolgen hatte. Zwar fand das Recht, das eigene Bekenntnis selbst zu bestimmen und die Religion nach Maßgabe der jeweiligen Konfessionszugehörigkeit ungehindert auszuüben, mehr und mehr Anerkennung. Die Freiheitsgewähr, Mischehen einzugehen oder konfessionsunabhängigen Zugang zu Staatsämtern zu finden, war grundsätzlich gegeben. Auch wurde es den Protestanten seit Sommer 1801 gestattet, sich in Altbayern niederzulassen, nachdem sich zuvor schon im Zuge der Einheirat der lutherischen Prinzessin Karoline Friederike Wilhelmine von Baden, mit welcher der bayerische Kurfürst seit 1797 in zweiter Ehe verbunden war, eine protestantische Hofgemeinde in München gebildet hatte. Mit dem Edikt vom Januar 1803 war noch vor dem Reichsdeputationshauptschluss und der Erhebung Bayerns zum Königreich auf dem Papier volle Religionsfreiheit für die Protestanten erreicht, und der planmäßigen Gestaltung einer gemeinsamen kirchlichen Verfassung für sie stand rechtsgrundsätzlich nichts mehr im Wege. Die Dringlichkeit entsprechender Maßnahmen wurde, wie erwähnt, durch die territoriale Entwicklung mit Zugewinnen überwiegend von Protestanten bevölkerter Ländereien weiter gesteigert. Doch erwies sich der staatliche Absolutismus bei der Durchführung dieser Maßnahmen insofern als ein Hemmnis, als er seinen Anspruch auf uneingeschränkte Souveränität auch in Religionsangelegenheiten im Falle der Protestanten über die äußere Ordnung hinaus auf innere Belange auszudehnen versuchte. Während die volle staatliche Kirchenaufsicht in Bezug auf die katholische Kirche aus realpolitischen Gründen nicht zu erreichen war, suchte man sie im Hinblick auf den bayerischen Protestantismus kon-
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Kirchlicher Gründervater und Schulorganisator
sequent durchzusetzen. Folgerichtig wurde dieser von Seiten der zuständigen Staatsbehörde nur als eine Vereinsgröße betrachtet, die sich aus der Summe örtlicher Religionsgesellschaften ergibt, nicht aber als eine ihrem inneren Wesen gemäß gestaltete Institution von staatsdifferenter Eigenständigkeit. Es ist eines der wichtigsten Verdienste, die sich Niethammer um die Entstehung eines verfassten evangelischen Kirchenwesens in Bayern erworben hat, diesen staatspolitischen bzw. staatskirchenrechtlichen Trend im Interesse voller Realisierung der im Prinzip bereits in den Jahren 1799-1803 zur Durchsetzung gebrachten konfessionellen Parität und im Interesse kircheninstitutioneller Konsolidierung und Etablierung des bayerischen Protestantismus mit dem ihm eigenen diplomatischen Geschick entgegengearbeitet zu haben. Nachdem er in den Jahren seit 1804 seinen Teil zur Vorbereitung der künftigen evangelischen Kirchenverfassung auf Provinzebene beigetragen hatte, wirkte er ab 1807 entscheidend an der Vereinheitlichung der evangelischen Kirchengebiete und an der inneren und äußeren Ausgestaltung der protestantischen Gesamtgemeinde in Bayern mit, bis in den Jahren 1817 bis 1819 der Durchbruch gelang, ihr eine selbständige konsistorialsynodale Verfassung zu geben, womit ein entscheidender Abschluss der Entwicklung hin zu einer wesentlich nach Maßgabe selbstbestimmter Prinzipien verfassten evangelischen Kirche in Bayern erreicht war. Zwar ließ die rechtliche Stellung der Kirchenleitung gegenüber staatlichen Behörden noch manches zu wünschen übrig, doch war der Selbstständigkeitsstatus der evangelischen Kirche in Bayern zu Beginn der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen gesichert, und man konnte sich, nachdem ihre äußere Gestalt relativ festen Bestand gewonnen hatte, ihrem inneren Ausbau zuwenden. Auch hierzu hat Niethammer u. a. durch sein Engagement für die seit 1823 üblicherweise in vierjährigem Turnus in Ansbach und Bayreuth tagende Generalsynode wichtige Beiträge geleistet. Auf Antrag der ersten Generalsynode wurde übrigens die Bezeichnung „Protestantische Gesamtgemeinde" durch „Protestantische Kirche" ersetzt. War hiermit ein weiterer Schritt zur Konsolidierung evangelischen Kirchenwesens getan, so hat Niethammer die Realisierung seines Vorschlags einer allgemeinen Einführung von örtlichen Kirchenvorständen, mit denen er die kirchliche Binnenverfassung im Sinne gemeindlicher Partizipationsrechte fortgestalten wollte, nicht mehr erlebt. Dieser Vorschlag wurde erst 1850, zwei Jahre nach seinem Tod, verwirklicht.
2. Theologe und Philosoph
Die Epochen der Entstehungsgeschichte einer evangelischen Kirche in Bayern, an deren Bewertung sich zu entscheiden hat, wann die fällige Zweihundertjahrfeier anzusetzen und zu begehen ist, sowie der Einfluss Niethammers auf die kirchliche Entwicklung und Organisation des bayerischen Protestantismus sind in der Forschung eingehend untersucht worden. Zu nennen ist neben Hartmut Böttchers Einleitungsbeitrag „Die Entstehung der evangelischen Landeskirche und die Entwicklung ihrer Verfassung (1806-1918)" im zweiten Band des Handbuchs der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern 1 insbesondere die umfangreiche Monographie von Günter Henke über „Die Anfänge der evangelischen Kirche in Bayern. Friedrich Immanuel Niethammer und die Entstehung der protestantischen Gesamtgemeinde" 2 . Ziel der nachfolgenden Studien ist es nicht, einen weiteren Beitrag zur Rolle Niethammers in der frühen Verfassungs- und Organisationsgeschichte der evangelischen Kirche in Bayern zu leisten. Auch sein praktischer Beitrag zur Entwicklung des bayerischen Schulwesens wird nicht eigens thematisiert werden. Uber „Die Entwicklung des Schulkampfes in Bayern bis zum vollständigen Sieg des Neuhumanismus" informiert im Detail die gleichnamige Studie von Hans Loewe. 3 Die Entwicklung des Niethammer'schen Bildungsideals bis 1807 ist durch Michael Schwarzmaier 4 , seine pädagogische Wirksamkeit in der Zeit danach von Ernst Hojer 5 umfassend zur Darstellung gebracht. Darauf wird des Weiteren nur insoweit Bezug genommen, als Niethammers Tätigkeit als neuhumanistischer Schulreformer in den Ideen grundgelegt war, die er als philosophischer Theologe ausgebildet und
1 H . Böttcher, Die Entstehung der evangelischen Landeskirche und die Entwicklung ihrer Verfassung ( 1 8 0 6 - 1 9 1 8 ) , in: G . M ü l l e r / H . Weigelt/W. Zorn (Hg.), Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern. Zweiter Band: 1 8 0 0 - 2 0 0 0 , St. Ottilien 2000, 1 - 2 9 , hier bes. 9 ff. Ferner: M. Simon, Evangelische Kirchengeschichte Bayerns, 2. Bd., München 1942, 578-588. 2 G . Henke, Die Anfänge der evangelischen Kirche in Bayern. Friedrich Immanuel Niethammer und die Entstehung der protestantischen Gesamtgemeinde, München 1974. } H . Loewe, Die Entwicklung des Schulkampfes in Bayern bis zum vollständigen Sieg des Neuhumanismus, Berlin 1917. 4 M. Schwarzmaier, Friedrich Immanuel Niethammer, ein bayerischer Schulreformator, Diss. München 1937. 5 E. H o j e r , Die Bildungslehre F . I. Niethammers. Ein Beitrag zur Geschichte des Neuhumanismus, Frankfurt a . M . / B e r l i n / B o n n 1965.
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T h e o l o g e und P h i l o s o p h
wissenschaftlich erörtert hatte. Die Perspektive, in der im Folgenden an Niethammer Interesse genommen wird, ist damit bereits benannt. Die Aufmerksamkeit richtet sich ausschließlich auf den Theoretiker, näherhin auf die literarischen Hauptwerke, in denen Niethammers Denken und die Entwicklung, die es genommen hat, dokumentiert sind. Mit der Entscheidung, primär das theoretische Werk Niethammers in den Blick zu nehmen, ist dessen elementarer Praxisbezug keineswegs in Abrede gestellt. Es wird sich im Gegenteil zeigen, dass Praxisorientierung ein charakteristisches Kennzeichen Niethammer'schen Denkens ist und zwar in dem eigentümlichen Sinne, demzufolge Theorie bereits als solche praktisch bestimmt zu sein hat, wenn sie berechtigten Anspruch erheben will, vernünftig zu sein. Es ist die praktische Vernunft, auf der alle Theoriebildungen Niethammers basieren und der zu dienen ihre erklärte Absicht ist. Gleichwohl darf, sosehr beide aufeinander verweisen, der Begriff praktischer Vernunft mit demjenigen vernünftiger Praxis nicht unmittelbar gleichgesetzt werden. Entsprechend ist zwischen Praxistheorie und theoriegeleiteter praktischer Tätigkeit zu unterscheiden. Nach Maßgabe dieser Unterscheidung soll Niethammer im Folgenden wohl als Praxistheoretiker, dessen Denken elementar auf Handeln angelegt ist, nicht aber als Agent praktischer Tätigkeit Gegenstand der Untersuchung sein. Das Zentrum der frühen Gedankenarbeit Niethammers, der in den späteren Jahren kaum Vergleichbares zur Seite zu stellen ist, bildete das Problem der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung. 6 Auf die Lösung dieses Problems waren seine seit Anfang der 90er Jahres des 18. Jahrhunderts in rascher Folge entstehenden literarischen Produktionen in ihrer überwiegenden Mehrzahl ausgerichtet. In dieser Zeit vollzog sich ein grundlegender Bedeutungswandel nicht nur der politischen Sprache, sondern auch der religiösen und theologischen Sinnbestimmungen. Besonders betroffen von diesem Wandlungsprozess war das christliche Offenbarungsverständnis. 7 Ihrem traditionellen Begriff zufolge ist Offenbarung die Mit-
' Vgl. u.a. W . G . Jacobs, O f f e n b a r u n g und V e r n u n f t . Ü b e r Friedrich Immanuel N i e t h a m mers Religionskritik, in: P h J 88 ( 1 9 8 1 ) , 5 0 - 6 9 . 7 In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie hat Hegel die T r a n s f o r m a t i o n des O f f e n b a r u n g s b e g r i f f s anhand der Entwicklungen erklärt, deren Verlauf f ü r ihn durch die N a m e n Jacobi, K a n t , Fichte und Schelling gekennzeichnet ist. Jacobi w i r d deshalb als erster genannt, weil er die Zentralaufgabe der neuesten deutschen Philosophie, die Einheit des D e n k e n s und Seins an sich selbst zu begreifen, auf vermittlungslos unmittelbare Weise angegangen sei und an die Stelle der Erkenntnis ein unmittelbares W i s s e n habe treten lassen. „Alles, was n u n seit Jacobis Zeit v o n Philosophen wie Fries und Theologen, auch in Schriften gesagt ist, ist dieses: Was w i r v o n G o t t wissen, wissen w i r unmittelbar durch Anschauung, Uranschauung, intellektuelle Anschauung, unmittelbares W i s s e n v o m Geistigen. M a n nennt dies auch O f f e n b a rung, aber in einem anderen Sinn als O f f e n b a r u n g im theologischen Sinn, als die Kirche. Die O f f e n b a r u n g als unmittelbares W i s s e n ist in uns selbst, während die K i r c h e die O f f e n b a r u n g
T h e o l o g e u n d Philosoph
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teilung von übervernünftigen Wahrheiten über Gottes Wesen und Willen. In dieser Form begegnete Niethammer der Offenbarungsbegriff in der Dogmatik seines Tübinger Lehrers Gottlob Christian Storr (1746-1805), des damals einflussreichsten Vertreters der lutherischen Orthodoxie in ganz Deutschland. Als Mitteilung göttlicher Wahrheiten hebt die Offenbarung zwar die Regeln menschlichen Denkens nicht einfachhin auf, sie geht aber über alle Vernunfteinsicht suprarational hinaus und findet ihre Beglaubigung vor allem in den wunderbaren, übernatürlichen Begebenheiten, die sie begleiten. Beurkundet ist das Wundergeschehen göttlicher Offenbarung in der Heiligen Schrift, die es vollmächtig bezeugt und an ihm insofern partizipiert, als sie als durch Gottes Geist inspiriert zu gelten hat. An diesem Offenbarungsverständnis, das von Storr nachdrücklich vertreten und von den Storrschülern apologetisch abgesichert und fortentwickelt wurde, ist Niethammer noch während seiner Tübinger Studienzeit irre geworden, was mit einer persönlichen Glaubenskrise und dem dringenden Bedürfnis verlässlicher Neuorientierung verbunden war. Niethammer erhielt sie vom Werk des Königsberger Weltweisen und vermeintlichen Alleszermalmers, das für seinen weiteren Denkweg von entscheidender Bedeutung wurde. War Niethammers Denken, seit es im Begriffe stand, eigene Konturen anzunehmen, in kritischer Hinsicht durch den Gegensatz zu Storr und seiner Schule bestimmt, so gewann es sein konstruktives Format im Anschluss an Kant, der in charakteristisch anderer Art rezipiert wurde, als das bei den Tübinger Supranaturalisten der Fall war. Kants Hauptschriften wurden seit dem 1781 (= A; 2 1787 = B) erfolgt en Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft" (KrV), die in den „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können" (= Prol.) von 1783 populär nachbereitet wurde, in rascher Abfolge veröffentlicht: Die Grundlegung einer rein rationalen, auf synthetischen Urteilen a priori basierenden Naturwissenschaft wurde 1786 in den „Metaphysische (n) Anfangsgrünals ein Mitgeteiltes v o n außen nimmt; der G l a u b e im theologischen Sinn ist Glaube an etwas, was ein äußerlich Gegebenes ist durch Lehre, kein unmittelbares Wissen aus uns selbst. So ist es gleichsam ein Betrug, w e n n hier [der] A u s d r u c k v o n O f f e n b a r u n g und G l a u b e gebraucht w i r d im philosophischen Sinne und wieder im theologischen Sinne." ( G . W . F . Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 4: Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit. Hg. v. P. G a r n i r o n u. W . Jaeschke, H a m b u r g 1 9 8 6 , 1 7 3 ) T r o t z dieses kritischen Urteils hält Hegel die T r a n s f o r m a t i o n des O f f e n b a r u n g s b e g r i f f s f ü r sachlich irreversibel und beabsichtigt nicht, seine traditionelle Bedeutung zu restaurieren. W ä h r e n d nach seiner A u f f a s s u n g die Kant'sche Theorie nur die abstrakte A b s o l u t h e i t der V e r n u n f t im Selbstbewusstsein z u m Resultat habe, um sich im Ü b r i g e n an die Tatsachen des Bewusstseins zu halten, habe Fichte das Wesen des Selbstbewusstseins spekulativ als k o n k r e t e Ichheit erfasst, o h n e über die subjektive F o r m des A b s o l u t e n hinauszugelangen. V o n ihr habe auch die Schelling'sche Philosophie ihren Ausgang g e n o m m e n mit dem Ziel freilich, den G e g e n s a t z des Subjektiven und des O b j e k t i v e n aufzuheben und die Identität des Entgegengesetzten in intellektualer A n s c h a u u n g zu erfassen. O f f e n b a r u n g heiße bei Schelling die Selbsterschließung des A b s o l u t e n in ihr.
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de(n) der Naturwissenschaft" vorgenommen. Das Programm der praktischen Philosophie, die es im Unterschied zur theoretischen nicht mit den Gesetzen der Natur, sondern mit denen der Freiheit zu tun hat, ist in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" von 1785, in der „Kritik der praktischen Vernunft" (KpV) von 1788 und später in der „Metaphysik der Sitten" von 1797 realisiert. Die Schrift über „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" von 1793 ( = Rel.) gehört in diesen Zusammenhang. Die „Kritik der Urteilskraft" ( = K U ) von 1790 thematisiert Asthethik und Teleologie und bildet das Zwischenstück theoretischer und praktischer Philosophie. Das unvollendet gebliebene opus postumum (ab 1796) setzt das Werk der Begründung und Entfaltung kritischer Philosophie fort, deren Anfang die Forschung in der Regel durch die Schrift „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" von 1770 markiert sieht, die bereits Kants revolutionäre Lehre von Raum und Zeit als apriorische Anschauungsformen und damit die wichtigsten Systemprämissen enthält. Die Begegnung mit den Werken Kants wurde für Niethammers geistiges Leben weichenstellend und nachhaltig prägend. Am 26. März 1766 im Württembergischen Beilstein, einer nahe Heilbronn gelegenen Amtsstadt, als Spross eines alten Pfarrergeschlechts und Kind von Pfr. Johann Elias Niethammer (1733-1805) und seiner Frau Eleonore Elisabeth, geb. Doerner (1745-1780), geboren, durchlief der heranwachsende Friedrich Immanuel die zu seiner Zeit landesüblichen Stationen auf dem Weg, der ihn - wie viele seiner männlichen Ahnen zuvor - ins Pfarramt führen sollte. Nach Besuch der Lateinschule in Brackenheim bezog er anfangs die niedere Klosterschule in Denkendorf (1780-1782), später die höhere in Maulbronn (1782-1784). Von 1784 bis 1789 studierte er in Tübingen zunächst Philosophie, dann als Stiftsbewohner Theologie, um sich zum Geistlichen seiner Landeskirche heranbilden zu lassen. 1786 erlangte er den Magistergrad, 1789 beendete er sein Studium mit dem Konsistorialexamen. Wann genau Niethammer im Laufe seiner Zeit im Tübinger Stift Kants Philosophie kennengelernt hat, lässt sich nicht mehr feststellen; eine eingehendere Beschäftigung hat anscheinend erst nach Studiumsabschluss stattgefunden, wobei anfangs die praktische Philosophie im Zentrum des Interesses gestanden haben dürfte. Lektüreanleitungen und Verstehenshilfen empfing Niethammer, der als Senior noch eine Weile im Stift verblieb, wohl von Immanuel Carl Diez (1766-1796). Diez wird in der Literatur in der Regel „als Vermittler der Kantischen Philosophie im Stift dargestellt. Dieser war nach dem Ende seines Studiums im Herbst 1788 als Magister im Stift geblieben. Repetent wurde Diez erst im Herbst 1790 zu Beginn des neuen Studienjahres. Er war auch zwischen Herbst 1788 und Herbst 1790 nicht andauernd in Tübingen; im Jahre 1789 lässt sich zweimal ein Aufenthalt in Bebenhausen nachweisen, im Frühjahr für vier Wochen, im Herbst auf unbestimmte Zeit. Die Lage dieses Ortes, wenige Kilometer von Tübingen
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entfernt, läßt durchaus häufige Begegnungen mit Niethammer oder auch anderen Stiftlern zu. Jedenfalls zeugt der nach Niethammers Abreise einsetzende Briefwechsel zwischen Diez und ihm von großer Vertrautheit." 8 Die Begegnung mit Kants Denken verhalf zu einem geistigen Durchbruch und bot einen intellektuellen Ausweg aus den als eng und beklemmend empfundenen Banden des Storr'schen Systems. 9 Der durch einen glücklichen Umstand ermöglichte Wechsel nach Jena 1 0 Mitte April 1790 ist eine äußere Folge der inneren Befreiung und eröffnete Niethammer die Chance, sein Kantstudium mit gesteigerter Intensität fortzusetzen. Was den mit Niethammer fast gleichaltrigen Diez anbelangt, so sei in Bezug auf Ansätze seiner frühen theologischen Selbstverständigung, auf die Stationen seines kantischen Philosophierens sowie auf den Verlauf seines Lebens bis zum frühen Tod im Jahre 1796 auf Henrichs bereits erwähnte Untersuchun-
8 Editorischer Bericht zu F.W.J. Schelling, O f f e n b a r u n g und VolksUnterricht (1798), in: ders., Werke 4, hg. v. W . G . Jacobs u. W. Schieche, Stuttgart 1988 [ = Akademie-Ausgabe 1/4], 227-256, hier: 230. 9 Vgl. D. Henrich, Philosophisch-theologische Problemlagen im Tübinger Stift zur Studienzeit Hegels, Hölderlins u n d Schellings, in: ders., Konstellationen. Probleme und Debatten am U r s p r u n g der idealistischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991, 171-213. 10 Gab es bis zu Beginn des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts an der Theologischen Fakultät zu Jena noch entschiedene und eifrige Verfechter der Orthodoxie, so wurde seit 1775 die aufgeklärte Richtung der Neologie bestimmend. In diesem Jahr folgte J o h a n n Jakob Griesbach einem Ruf an die Salana, wo er bis zu seinem Tod am 24. März 1812 erfolgreich als theologischer Ordinarius mit einem Forschungsschwerpunkt auf neutestamentlicher Textkritik tätig war. Sein stattliches Domizil am Löbdergraben mit angebautem Auditorium und sein Sommerhaus im umfangreichen Gartengrundstück nördlich der Stadtmauern wurde ein beliebter T r e f f p u n k t gelehrter Gesellschaften. N e b e n Griesbach wirkte der ebenfalls 1775 berufene Johann G o t t f r i e d Eichhorn an der philosophischen Fakultät als historisch-kritischer Exeget; 1780-1783 erschien die dreiteilige Erstauflage seiner „Einleitung ins Alte Testament". Im Jahr 1782 kam Johann C h r i s t o p h Döderlein als Theologieprofessor nach Jena, dessen Witwe Niethammer dereinst ehelichen sollte, ein Jahr darauf J o h a n n Wilhelm Schmid, der damals bereits dezidierter Anhänger der kantischen Philosophie war, die er theologisch fruchtbar zu machen suchte. In der Konstellation Griesbach, Döderlein und Schmid fand N i e t h a m m e r die theologische Fakultät der Salana vor, als er 1790 von Tübingen nach Jena wechselte. Drei Jahre später wurde der Rationalist H.E.G. Paulus zum Nachfolger Döderleins ernannt, nachdem er vorher bereits in der philosophischen Fakultät gelehrt hatte. A n die Stelle J.W. Schmids trat 1798 Carl Christian Ehrhard Schmid, der wie sein Namensvetter theologisch ganz von Kant her geprägt war. Der Fichte'schen Fortbildung des Kantianismus stand er indes äußerst kritisch gegenüber, w o f ü r er vom Ichphilosophen heftig abgestraft wurde. Niethammers Wunsch, seinerseits Paulus zu beerben, der im Wintersemester 1803/04 einem Ruf an die Universität W ü r z b u r g gefolgt war, ging t r o t z Fürsprache Schillers nicht in Erfüllung. Paulusnachfolger wurde Johann Philipp Gabler. Niethammer, seit 1798 a.o. Professor an der Jenaer theologischen Fakultät, ersuchte daraufhin u m Entlassung aus seinem Dienstverhältnis, die ihm mit Wirkung vom 3. August 1804 auch gewährt wurde. Auch er ging, wie Paulus zuvor, nach Würzburg. (Zu den näheren U m s t ä n d e n von N i e t h a m m e r s Abschied aus Jena sowie zur Charakteristik der erwähnten Theologen und Philosophen, die während seiner Zeit an der Salana wirkten, vgl. im Einzelnen K. Heussi, Geschichte der theologischen Fakultät zu Jena, Weimar 1954, 182-222, bes. 211 ff.)
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gen zur Vorgeschichte des Deutschen Idealismus verwiesen. 1 1 Explizit zu benennen sind lediglich die drei Stoßrichtungen, in denen D i e z mit Mitteln Kants Theologiekritik übte und gegen die Tübinger Schule Storrs anging. 1 2 Zur theoretischen Philosophie Kants wird vermerkt, dass sie nicht nur den Erweis der Tatsächlichkeit einer Offenbarung, sondern bereits die denkbare Möglichkeit in Abrede stelle, sich von ihrer Realität zu überzeugen. Die praktische Philosophie Kants revoziere diese Kritik von Grundannahmen theologischer D o g m a t i k nicht nur nicht, sondern bestätige sie eindeutig. Weder sei Kants Moralphilosophie mit christlicher Sittenlehre kompatibel, noch könne sie im Sinne indirekter Beglaubigung des Daseins G o t t e s und der Wahrheit göttlicher Offenbarungsdaten Verwendung finden. Auch die Postulatenlehre ist nach D i e z für den theologischen Gebrauch nur von höchst begrenztem Wert. Zwar könne nicht geleugnet werden, dass die praktische Vernunft mit dem Bedürfnis verbunden sei, der Idee der Gottheit objektive Wirklichkeit zuzuerkennen, um auf diese Weise die G e wissheit moralischer Selbstrealisierungsfähigkeit unter sinnlichen Bedingungen zu befestigen. D o c h reiche der Wahrheitswert der Annahme des Daseins G o t t e s über die sittliche Funktion nicht hinaus, die sie zu erfüllen hat. G o t t e s Existenz wird von der praktischen Vernunft lediglich aus pragmatischen Gründen vorausgesetzt. Theoretisch k o m m e dieser Voraussetzung nur der Status einer H y p o t h e s e von praktischer Notwendigkeit im beschränkten Rahmen konkreter Handlungssituationen zu. Aus dieser praktischen Zwecknotwendigkeit die Möglichkeit einer vernünftig begründeten Ü b e r z e u g u n g von der Realität Gottes und der Tatsächlichkeit seiner O f f e n barung zu folgern, ist nach D i e z unstatthaft. Gemäß seinem Kantverständnis muss es vielmehr als prinzipiell und notwendigerweise unmöglich gelten, sich der Objektivität der Gottesidee zu versichern, die, wie gesagt, allein aus Gründen pragmatischer Notwendigkeit ausgebildet wird. D a m i t ist nach seinem Urteil für die theologische Apologetik der Weg verstellt, mit Mitteln Kants die Grundlagen der traditionellen D o g m a t i k zu verteidigen. D i e z ' Kantianismus ist wesentlich darauf angelegt, dem Tübinger Supranaturalismus jeden apologetischen Ausweg zu versperren. N u r wenn verhindert werde, dass er seine dogmatischen Ansprüche, deren theoretische U n haltbarkeit Kants Kritik der reinen Vernunft erwiesen habe, durch die Hintertür erneut in Stellung bringen könne, sei das Storr'sche System in die Aporie getrieben und mit gedanklicher Definitivität erledigt. Niethammers frühe Jenaer Schriften zeigen, dass D i e z mit Argumentationen dieser Art großen Eindruck auf ihn gemacht hat. Bevor darauf näher 11 Vgl. D . Henrich, Grundlegung aus dem Ich I, 73-92: Spuren von Diez' früher theologischer Selbstverständigung; I, 95-121: Die Stationen von Diez' Kantischem Philosophieren; I, 886-934:,Dieser Kantische Enragé'. 12 Vgl. a . a . O . I, 122-226: Theologiekritik mit Mitteln Kants.
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einzugehen ist, muss die Kant'sche Philosophie selbst dargestellt werden, da ohne Kenntnisse ihrer zentralen Gehalte weder Diez noch Niethammer verstanden werden können. Kants Revolution der Denkungsart wird zunächst unter Konzentration auf seine Kritik metaphysischer Seelenlehre und Kosmologie sowie rationaler Ontotheologie erwogen. Sodann wird gezeigt, dass und inwiefern die Vernunftkritik in praktischer Absicht und mit dem Ziele erfolgt, Gott, Freiheitswelt und Unsterblichkeit der Menschenseele aus Gründen praktischer Vernunft zu postulieren. Daraus ergibt sich eine Skizze der philosophischen Basis, auf der Niethammer seine Gedanken konstruktiv entfaltet, um sie zugleich kritisch abzugrenzen gegen den Tübinger Supranaturalismus Storrs und seiner Schule, dessen System im Anschluss an Kant in Grundzügen dargestellt wird. Mit der theoretischen und praktischen Philosophie Kants einerseits und dem Supranaturalismus andererseits sowie ihrem Verhältnis zueinander sind die Grundkonstellationen bezeichnet, aus denen heraus sich Niethammers Denken in Kritik und Konstruktion entwickelt hat. Alle anderen Konstellationen, wie sie sich insbesondere in der Jenaer Zeit in reichem Maße ergeben, sind von ihr umgriffen. Dies wird durch die aktuelle Niethammerforschung bestätigt, so unterschiedlich ihre Ansätze und erkenntnisleitenden Interessen ansonsten auch sind. Eine knappe Forschungsskizze sei daher den Ausführungen zu Kant und Storr vorangestellt.
3. Skizze aktueller Forschungen
Das mit der im Jahre 1790 erschienenen „Kritik der Urteilskraft" im Wesentlichen vollendete Werk Kants weist unbeschadet seiner überragenden Bedeutung offenkundige Architekturprobleme und methodische U n z u länglichkeiten auf, die nicht die schlechtesten seiner Interpreten zweifeln ließen, ob es aus sich heraus als konsistentes System wahrgenommen, rekonstruiert und gestaltet werden könne. Es waren, wenn man so will, gerade die Aporien kantischer Philosophie, die jenen Aufbruch des Denkens im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bewirkten, dessen innere Kraft die Welt des Geistes in einer Weise bewegte, wie sie kaum je zuvor zu beobachten war. In der Zeit zwischen dem Erscheinen der letzten kantischen Kritik und dem Ende des Jahrhunderts „hat sich fast alles abgespielt, was in der deutschen Philosophie vorbildlos und bedeutend war - ja, man kann sogar sagen, daß die Würfel in den Jahren zwischen 1792 ... und 1796 . . . gefallen waren. Ein solcher Aufgang weltumspannender und ungemein gründlicher, auch unerhört schwieriger und unter den Kohärenzdruck systematischen Abschlusses sich stellender Spekulation ist in der Geschichte des europäischen Denkens vollkommen ohnegleichen." 1 An Tiefe und Produktivität ist die Denkepoche nach Auffassung vieler allenfalls mit derjenigen des klassischen Athen vergleichbar. 2 Welches waren die Defizite und Aporien des mit der „Kritik der Urteilskraft" im Wesentlichen abgeschlossenen Werkes Kants? Zu welchen Nachfragen gab das vorliegende Triptychon seinen Kritikern hauptsächlich Anlass? „Es waren nach einhelliger Ansicht vor allem die beiden folgenden, die freilich eng miteinander zusammenhängen. Erstens mangele es dem kritischen Gesamtunternehmen an systematischer Fassung, und zwar einer solchen, die auch durch die Ausarbeitung konkreter Realphilosophien nicht 1
M . F r a n k , a . a . O . , 46. Vgl. a . a . O . , 46f A n m . 2 2 f . Ferner: D . Henrich, Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Idealismus, in: Hölderlin-Jahrbuch 14 (1965/66), 73-96, hier: 73: „Für die Chronologie sind die beiden Jahrzehnte am Ausgang des 18. Jahrhunderts eine verschwindend kleine Spanne Z e i t . . . D o c h das Bewußtsein der Menschheit und die Gedanken der Philosophen sind in ihr weiter vorangekommen als in vielen Epochen säkularer Stagnation. Die Gewissheit, man sei dabei, die Grenzen einer langen H e r k u n f t zur Wahrheit und Freiheit zu überschreiten, beflügelte die produktiven Geister zu kühnen Projekten und zu Leistungen, die in vergleichbarer Dichte nur während der klassischen Perioden von A t h e n und von Florenz gelungen sind. Wer gegenwärtig versucht, zur Verständigung über die Grundlagen der M o d e r n e beizutragen, kann sich am ehesten an ihnen orientieren." 2
Skizze aktueller Forschungen
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auszuräumen sein würde. Und zweitens fehle der kritischen Philosophie ein Prinzip, aus dem die versprengten Teile seines Denkens als Teile eines Ganzen einsichtig würden. Man könnte das auch so formulieren: Der Mangel an Systematizität sei im Mangel eines eigenen obersten Prinzips begründet. Denn nach Kants eigener Definition ist ein .System' die Versammlung einer Masse von Erkenntnissen unter einer leitenden Hinsichtnahme, eben einem Prinzip (KrV A 832 = B 860). Oder in noch anderen Worten: Der Grundmangel des kantischen Kritizismus liege buchstäblich im Grundsätzlichen, nämlich im Fehlen eines alle Bereiche des Geistes und der Wirklichkeit gemeinschaftlich, aus einer gemeinsamen Wurzel, begründenden Prinzips." 3 Diesen Mangel zu beheben, sah sich neben Salomon Maimon vor allem Karl Leonhard Reinhold berufen, der schon im Frühjahr 1788, also noch vor Abschluss der letzten kantischen Kritik mit einem eigenen Systementwurf hervorgetreten war. Durch prinzipienphilosophischen Rekurs auf einen Grundsatz sollten die unvermittelten Dualismen, an denen der Systematizitätsmangel kantischer Philosophie besonders zu Tage trete, behoben und Theorie und Praxis in ein und derselben Vernunftbasis vereint werden, die allem Denken und Sein zugrunde liege und Sinnlichkeit und Rationalität umfasse. Fichte schloss an dieses Programm an. Auch wenn er die Art und Weise kritisierte, in der Reinhold die Bestandteile der kantischen Philosophie aus einem Grundsatz heraus zum System zu fügen versuchte, missbilligte er damit keineswegs den prinzipientheoretischen Ansatz als solchen, den er mit seiner ichphilosophischen Freiheitslehre lediglich basaler und fundierter begründen wollte. Anders als diejenige Fichtes ist die Reinhold-Kritik derer gelagert, die sich, ohne Skepsis aus Prinzip zu üben, zur Grundsatzphilosophie grundsätzlich skeptisch verhielten, wie dies bei den Niethammerfreunden Diez und Erhard und in gewisser Weise auch bei Niethammer selbst der Fall war. Damit ist bereits ein entscheidender Hinweis auf die geistesgeschichtliche Stellung und Bedeutung Niethammer in seiner Jenaer Zeit formuliert und ein Grund dafür angegeben, warum die philosophiehistorische Forschung in jüngerer Zeit verstärktes Interesse an seinem Werk genommen hat. War bisher „die Wertschätzung kaum nachzuvollziehen, die er als Mit-Philosophierender erfuhr" 4 , so wurden Niethammers philosophische Positionen und Wandlungen in den 1790er Jahren erstmals von Dieter Henrich im Rahmen seiner Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus in Tübingen und Jena durchsichtig gemacht. Im ersten Band seiner Studien „Grundlegung aus dem Ich" erörtert Henrich neben der Dogmatik, die zu Niethammers Studienzeiten und danach in Tübingen herrschend war, das Den-
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M . F r a n k , a . a . O . , 48 f. D.Henrich, a.a.O. 1,23.
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Skizze aktueller Forschungen
ken von Immanuel Carl Diez. Zu Beginn des zweiten Bandes wird sodann neben dem Tübinger Storr-Nachfolger Friedrich Gottlieb Süskind, von dem sich Niethammer entschieden absetzte, und Johann Benjamin Erhard, dem er persönlich und sachlich eng verbunden war, Niethammer selbst in den Phasen seiner religionstheoretischen Entwicklungen behandelt. Nach Henrich sind vier Phasen der Niethammer'schen Religionstheorie zu unterscheiden: In einer ersten, deren Uberzeugungsstand am ausführlichsten in der im Frühjahr 1792 verfassten Einleitung in die deutsche Bearbeitung der Geschichte des Malteserordens von Vertot dokumentiert sei, vertrete Niethammer den kantisch begründeten Standpunkt eines Rationalismus der praktischen Vernunft, der „mit einer Theorie der Religionen als Medien der Selbstentwicklung der Vernunft verbunden" 5 werde. Mit der Wirklichkeit von Offenbarungen rechnet Niethammer nach Henrich in dieser Phase nicht. Diese gelten unter den Bedingungen reiner Vernunftreligion nicht nur als entbehrlich, sondern als unmöglich. Von der vernunftreligiösen Möglichkeit faktischer Offenbarung wurde Niethammer nach Henrich erst durch Fichtes „Versuch einer Kritik aller Offenbarung" überzeugt. Die Fichteschrift habe ihn wie viele andere ihrer Leser „darauf gebracht, der Offenbarungsglaube der Menschen möchte doch aus Gründen hervorgehen, die auch von der Kantischen Position aus eine andere Art von Aufmerksamkeit als die einer historisch-psychologischen Erklärungen verdienen" 6 . Lasse sich ein menschheitsgeschichtlicher Zustand denken, in welchem der Bestand der Moral nicht anders als durch eine göttliche Offenbarung in der Erfahrungswelt hergestellt und gewährleistet werden könne, sei auch ihre Möglichkeit prinzipiell gegeben und ihre empirische Faktizität immerhin denkbar. Auch unter den Bedingungen der Fichte'schen Offenbarungsschrift von 1792, welche nach Henrich die zweite Phase der Religionstheorie Niethammers bestimmt, bleibt Fundament einer möglichen Theorie tatsächlicher Offenbarung allein die praktische Vernunft. Der gegenüber der ersten Phase vollzogene Wandel hält sich damit in engen Grenzen. Im Ubergang von der zweiten zur dritten Phase der Jahre 1795/96 überwiegen ebenfalls die Kontinuitätsmomente die Momente der Diskontinuität. An der Möglichkeit einer Relevanz der Offenbarungsthematik für eine an Kant orientierte Religionsphilosophie hält Niethammer fest, wenngleich er die eigentümliche These, mit der Fichte die Denkbarkeit faktischer Offenbarung 1792 begründet hatte, im Verein mit diesem aufgibt. Niethammer ist in der dritten Phase seiner Entwicklung nach Henrich vor allem damit beschäftigt, der Vernunftreligion, auf deren Basis allein verlässlich über Möglichkeit und Wirklich-
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A.a.O. 11,960. A.a.O. 11,963.
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keit von Offenbarungen zu urteilen sei, einen Gehalt zuzudenken, der diese nicht nur als vernünftig, sondern auch als religiös erscheinen lasse. U n t e r Wahrung ihrer Grundlagen werde die kantische Religionstheorie in dem I n teresse rezipiert und fortentwickelt, der Religion genau jene Lebensbedeutung zu sichern, „von der mit den Tübinger Dogmatikern auch viele andere meinten, sie müsse mit dem konsequenten Kantianismus dahinschwinden" 7 . Dabei gelange N i e t h a m m e r zu einer N e u b e s t i m m u n g des Offenbarungsbegriffs, die von der supranaturalistischen charakteristisch unterschieden und zugleich kennzeichnend sei für den Bedeutungswandel, den der Begriff der O f f e n b a r u n g in weiten Teilen der nachkantischen Philosophie erfahren habe. Als wichtigstes philosophisch-offenbarungstheologisches Problem, das durch den Atheismusstreit nur umso dringlicher wurde, erwies sich für N i e t h a m m e r gemäß Henrich die epistemologische Frage, wie von der Einsicht in die Notwendigkeit, einen fundierten Grund von Selbst und Welt denken zu müssen, zur Erkenntnis fortzuschreiten sei, dass es sich bei diesem Grund nicht lediglich um eine gesetzte Voraussetzung, sondern um eine sich selbst voraussetzende Voraussetzung handele, der Wirklichkeit auch außerhalb der Idee zugesprochen werden könne. Im Übrigen lasse N i e t hammers Interesse an der Methodologie der Religionstheorie nach, und zum Hauptzweck seiner religionstheoretischen Schriften werde der Aufweis der Bedeutung der Vernunftreligion für das konkrete Selbstverständnis und die Lebenspraxis von Menschen. Die Vernunftreligion erfülle eine sittliche F u n k t i o n , welche praktische Vernunft allein und ohne sie nicht zu erfüllen vermöchte; insofern sei Religion zu haben sittliche Pflicht. D e n Charakter der Religion als sittliche Pflicht hat N i e t h a m m e r mit N a c h d r u c k herauszustellen versucht. Zu einem stimmigen Konzept, das seinen eigenen Anforderungen an eine überzeugende Religionstheorie entsprochen und die unveräußerliche Bedeutung der Religion für vernünftige Subjektivität und Selbsttätigkeit durchschlagend erwiesen hätte, gelangte er nach Henrichs Urteil dabei allerdings nicht. D u r c h die Wirren des Atheismusstreits zusätzlich irritiert und verunsichert, stellte N i e t h a m m e r seine schriftstellerische Tätigkeit für geraume Zeit ein, um erst zu Beginn seiner Würzburger Zeit 1804 mit zwei kleineren Texten wieder an die Ö f f e n t l i c h keit zu treten, die nicht aus akademischem, sondern aus Anlass seines pfarramtlichen Dienstantritts konzipiert wurden. Eine deutliche A b k e h r von F i c h t e und eine terminologische Nähe zu J a c o b i und Schleiermacher lässt sich erkennen. I m Übrigen sind die beiden Beiträge ihrem Entstehungsanlass gemäß eher erbaulicher Rede als präziser Begriffssprache verpflichtet. Religionstheoretische Aufschlüsse von hinreichender Präzision lassen sich aus ihnen nicht gewinnen. Auch später hat sich N i e t h a m m e r am philoso-
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A . a . O . II, 1003f.
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phisch-religionstheoretischen Diskurs seiner Zeit nicht mehr oder nur noch marginal beteiligt. Z u m Schluss soll er wieder zu Storrs Lehre zurückgekehrt sein. Wie immer man diese - von ihm selbst stammende - Auskunft bewerten mag: Richtig ist, dass Niethammers religionstheoretisches Werk in seiner Jenaer Zeit nicht nur anfänglich konzipiert, sondern im Wesentlichen auch zu Ende gebracht wurde. Während Henrich Niethammers Versuche der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts in die philosophiegeschichtlich üblicherweise verfolgte Entwicklungslinie einordnet, die von Kant über Fichte und Schelling zu Hegel führt, werden sie von Manfred Frank vorrangig als Entwürfe wahrgenommen, welche die philosophierende Frühromantik vorbereiten halfen, die ihre Hauptvertreter in Novalis und Friedrich Schlegel gefunden habe und der auf seine Weise auch Hölderlin zuzurechnen sei. D e r Beitrag dieser Denker zur Entstehung der nachkantischen Philosophie dürfe „nicht als Sommernachtsspuk oder fantastische Marginalie zum kometenhaften Aufstieg der Fichteschen, Schellingschen und Hegeischen Philosophie betrachtet werden" 8 . In Abkehr von einer Grundsatzphilosophie, die aus einem evidenzgesicherten Prinzip und auf ein entsprechendes Ziel hin ihre Gedanken formuliert, ist für die frühromantische Philosophie nach Frank die Sehnsucht nach dem Unendlichen und das Bewusstsein kennzeichnend, G r u n d und Telos des Denkens nur im Prozess unendlicher Annäherung erstreben, nicht aber in F o r m absoluten Wissens erfassen zu können. Stellt für Henrich die Krise der an Kant anschließenden Elementarphilosophie Reinholds, die nicht zuletzt für Niethammers Intellektualbiographie weichenstellend war, ein Durchgangsmoment auf dem Weg zu einem konsequent ausgebildeten spekulativen Idealismus dar, sieht Frank in ihr primär das Scheitern idealistischer Absolutheitssysteme antizipiert. Indes erschöpfe sich die Frühromantik nicht in antigrundsatzphilosophischer Skepsis, sondern nehme eine Zwischenstellung ein zwischen skeptischer Grundsatzkritik und jener Sehnsucht nach dem Unendlichen, die als die treibende Kraft ihres nie zum Stillstand gelangenden, auf unendlicher Fahrt sich befindenden Denkens fungiert. Frühromantisches D e n k e n weiß nach Frank um die Unvordenklichkeit des Absoluten. Dadurch unterscheide es sich von radikalen, auf ihre Weise ebenfalls grundsatzphilosophischen F o r m e n des Skeptizismus ebenso wie von Systementwürfen eines idealistischen Absolutismus, denen der Begriff des Unbegreiflichen abhanden gekommen sei und deren Anspruch auf absolutes Wissen mit der Transzendenz des Absoluten auch die eigentümliche Kontingenz immanenter Weltverhältnisse und ihrer Ungewissheitsmomente entgehe.
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M . F r a n k , a.a.O., 17.
Skizze aktueller Forschungen
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Franks in Vorlesungsform konzipierte Studien zu den Anfängen der philosophischen Frühromantik behandeln nach einführenden Bemerkungen zur frühromantischen Grundkonstellation und zur Methodendiskussion im Reinhold'schen Schülerkreis zunächst die Versuche, die offengebliebenen Probleme der kantischen Philosophie durch einen radikalen Idealismus zu lösen. N e b e n J a c o b i , Aenesidemus-Schulze und M a i m o n gilt dabei die besondere Aufmerksamkeit Fichte, der den Maimon'schen Idealismus aufgenommen und überboten habe. Philosophiere Fichte auf der Basis eines absoluten Gewissheitsgrundes, den er im selbsttätigen Ich gefunden zu haben glaubte, um von dort her das kantische D i n g an sich und mit ihm jede subjektjenseitige Realität idealistisch zu liquidieren, bleibe die F r ü h r o m a n tik einer realistischen Grundüberzeugung verpflichtet, die auch Kant nicht aufzugeben bereit war mit der Folge, dass er Fichte nur sehr bedingt als authentischen Interpreten seines Werkes habe anerkennen können. Mit Kant seien die frühromantischen Philosophen der Auffassung, dass sich das Sein des Seienden nie in reine Idealität überführen und in Gedanken auflösen lasse. Zwar könne vom Seienden ebenso wenig auf abstrakt materialistische Weise die Rede sein, da Sein ohne Bewusstsein keinen Bestand habe, von dem auch nur Existenz ausgesagt werden könnte. Gleichwohl enthalte das Sein des Seienden als solches einen Hinweis darauf, dass das D e n k e n selbst auf einem unvordenklichen Einheitsgrund basiere, der ihm unverfügbar sei und im Denkvollzug immer schon vorausgesetzt werden müsse. Wohl sei das sich wissende Ich in dem es auszeichnenden Selbstbewusstsein dieses Einheitsgrundes inne, ohne deshalb in der Lage zu sein, ihn an sich selbst und als solchen urteilend zu erfassen und mit der Urteilsgleichung Ich = Ich gleichsetzen zu können. D e r Grund des Ich und seiner Einheit könne von keinem Ich und keinem sich wissenden Selbstbewusstsein identisch repräsentiert werden. Die Voraussetzung, die in allem Setzen des Ich vorausgesetzt werde, sei dem Selbstbewusstsein genauso wenig verfügbar wie das Ziel, auf das selbstbewusste Tätigkeit sich ausrichte. D e r Gedanke der unendlichen Annäherung, auf den der Titel des Frank'schen Buches bezogen ist, ergibt sich hieraus von selbst. F ü r die Genese des - einem absoluten Idealismus gegenüber eigenständigen - Ansatzes frühromantischer Philosophie bei Novalis, Schlegel und Hölderlin sind Kritik und Krise der Reinhold'schen Elementarphilosophie von entscheidender Bedeutung. Mit der Grundsatzphilosophie Reinholds, der meinte, die Geltung von praktischem und theoretischem Wissen durch D e d u k t i o n aus einem Prinzip von unumstößlicher Gewissheit sichern zu können, geriet für die werdenden Frühromantiker nicht nur dessen D e n k e n in Zweifel, sondern alle Denkansätze, derjenige der Ichphilosophie Fichtes eingeschlossen, die aus einem evidenzgesicherten Gewissheitsgrund heraus und auf ein mit evidenter Gewissheit gegebenes Ziel hin zu philosophieren trachteten. Die Schwächen von Reinholds früher, am Begriff der Vorstellung
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orientierter Elementarphilosophie, welcher der sog. Satz des Bewusstseins als höchstes, durch Evidenz gesichertes Prinzip galt, wurden zeitig bemerkt, wobei die entscheidenden Einwände nicht nur und auch nicht in erster Linie von erklärten Gegnern, sondern von unmittelbaren Schülern Reinholds vorgetragen wurden. Dabei hat man sich das Aufkommen der Kritik nicht als das Werk eines Einzelnen, sondern als konzertierte Aktion eines Schülerkreises vorzustellen, der im Zirkel um Franz Paula von Herbert, der gleichermaßen als Mäzen und mitphilosophierender Freund fungierte, seine konzentrische Mitte fand. Bei Frank wird dies im Einzelnen belegt. Dem durch lebendigen Gesprächsaustausch und rege Briefwechsel verbundenen Kreis um von Herbert, auf dessen Zusammensetzung im Einzelnen noch zurückzukommen sein wird, gehörte auch Niethammer an, der vor allem wegen Reinhold nach Jena gekommen war, aber bald Zweifel an einer grundsatzphilosophischen Fortbildung des Kantianismus bekam. Diese Zweifel wurden durch die Freunde Diez und Johann Benjamin Erhard wenn nicht initiiert, so doch verstärkt und bekräftigt. Gemäß Frank hat Niethammer „die Erschütterung des Modells einer Deduktion aus oberstem Grundsatz als Ermutigung zu einem skepsisfreundlichen und grundsatzfeindlichen Philosophieren verstanden . . . , das in unendlicher Progression einem Prinzip sich nur entgegenarbeitet, ohne seine Erreichung für möglich zu halten" 9 . Insofern sei Niethammer als ein Wegbereiter frühromantischen Philosophierens anzusprechen, dessen charakteristisches Kennzeichen die Sehnsucht nach dem Unendlichen sei, das unter den Bedingungen der Endlichkeit wohl durch unendliche Annäherung zu erstreben, nicht aber zu ergreifen und auf den Begriff zu bringen sei. Namentlich Hölderlin habe überhaupt erst durch Niethammers Vermittlung Reinholds Theoriekrise rezipiert und zu der Position gefunden, die in dem Text „Urtheil und Seyn" vom April oder Mai 1795 dokumentiert sei. Es mag sein, dass Hölderlin zu seiner Haltung nicht zuletzt durch Niethammers Einleitungsaufsatz im Philosophischen Journal angeregt worden ist, der „Von den Ansprüchen des gemeinen Menschenverstandes an die Philosophie" handelt und dessen Inhalt der Dichter wahrscheinlich schon vor dem Publikationstermin im Mai 1795 in Diskussionen mit dem Autor kennengelernt hat. In dem Text wird der Uberzeugung öffentlicher Ausdruck gegeben, dass, wie es Niethammer in einem Brief an von Herbert vom 2. Juni 1794 formulierte, ein höchster und einziger Grundsatz alles Wissens entbehrlich sei. Schwerlich nämlich könne ein wie auch immer gearteter Satz je das Fundament für das ganze Philosophiegebäude bilden. 1 0 ' M . F r a n k , a . a . O . , 406. 1 0 Vgl. W . Baum (Hg.), Friedrich Immanuel Niethammer, Korrespondenz mit dem Klagenfurter Herbert-Kreis. Mit einer Ergänzung: Franz de Paula von Herbert, Mein Abtrag an die Welt, Wien 1 9 9 5 , 8 6 .
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Damit war nach Frank nicht nur dem Reinhold'schen, sondern auch dem Fichte'schen Versuch, philosophisches Wissen auf ein Prinzip zu gründen, der Abschied gegeben. „Originell war der Gedanke damals übrigens nicht mehr, und er kann auch nicht für eine ursprüngliche Einsicht Niethammers gelten: Niethammers Brief bildet lediglich den Schlußpunkt einer Korrespondenz, die von Herbert (6. Mai 1794) und von Erhard (19. Mai 1794) angestoßen worden war und die Niethammer breit, aber wenig selbständig zusammenfaßt." 1 1 Wie auch immer: Niethammers Zweifel an Programmen einer Begründung der Philosophie aus einem obersten Prinzip haben sich zumindest in Bezug auf Hölderlin als wirkungsgeschichtlich bedeutsam erwiesen, der seinerseits nicht unwesentlich auf die Denkentwicklung seiner Zeit eingewirkt hat. Was wiederum die Konsequenzen betrifft, die Niethammer selbst aus seiner Grundsatzskepsis zog, so ergeben sie sich nach Frank aus der Uberzeugung, der sie entsprechen, dass alles Denken und alle gedanklichen Gehalte vorläufig und niemals endgültig seien. „Das folgt einfach aus der Ungesichertheit eines Weges, der nicht durch einen selbstgewissen Grundsatz fundiert ist. Werden anfängliche Annahmen nicht aus ihrer eigenen Evidenz, sondern erst rückwirkend aus später erworbenen Einsichten gerechtfertigt (aber nie letztgültig), so ähnelt das Philosophieren einer unendlichen Progression ohne absehbares Ende - gerade so, wie Kant den Weg der Verwirklichung des kategorischen Imperativs beschrieben hatte." 12 Von der Problematik dieser Charakteristik, über die im Einzelnen zu diskutieren, gegebenenfalls zu streiten wäre, bleibt die Tatsache unbetroffen, dass Niethammer weder Reinholds Elementarphilosophie noch Fichtes Grundlegung der Philosophie aus dem Ich zu folgen bereit war, sondern in kritischer Distanz zu prinzipienphilosophischen Ansätzen, die über Kant hinausstrebten, nichts anderes sein und bleiben wollte als ein genuiner Kantianer, der nur das praktisch-moralische Prinzip, das sich im Bewusstsein des Gesollten zur Gewissheit bringt, als Kandidaten für grundsätzliche Evidenz gelten ließ. Darin ist er mit seinem Freund Erhard eins, der ihm am 19. Mai 1794 im Zusammenhang der Feststellung, dass Kants Philosophie bei seinen angeblichen Jüngern noch gar nicht herrschend geworden sei, weil diese von der Vernunft einen konstitutiven, prinzipientheoretischen Gebrauch machen wollen, u.a. Folgendes schrieb: „Das höchste Princip ist die moralische N a t u r des Menschen, wer dieß bewiesen haben will, für den giebt es keine Philosophie. Das ganze System des menschlichen Geistes läßt sich auch wohl noch aufstellen, allein wenn man glaubt daß man es durch ein Prinzip finden und daraus ableiten könne, so klingt es mir gerade so, als
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M . F r a n k , a . a . O . , 423 unter Verweis auf W . B a u m (Hg.), a . a . O . , 75 ff. A . a . O . , 430.
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wenn man aus der Anziehungskraft, nach deren Gesetzen sich das ganze Weltsystem seinen Bewegungen nach erklären läßt, die Weltkörper, in so ferne sie Materie besitzen, ableiten wollte." 1 3 Von der moralischen Gewissensgewissheit zu einer ichphilosophischen Selbstbewusstseinstheorie mit prinzipiellem Anspruch auf Grundlegung der Philosophie zu gelangen, hielten Niethammer und Erhard für unmöglich. Wo dieser Weg beschritten werde, zeitige dies zwangsläufig kontraproduktive Folgen, die nicht über Kant hinaus, sondern hinter diesen zurückführten. Die These einer „Rekantianisierung der idealistischen Philosophie" 1 4 , die Frank bezüglich des frühromantischen Denkens von Novalis und Schlegel registriert hat, findet an Niethammer also durchaus einen Anhalt, ohne dass dieser deshalb ein Vertreter der Frühromantik genannt werden könnte. Niethammer hat die frühromantische Bewegung motiviert, ihr aber innerlich nicht angehört. Durch das Projekt eines Philosophischen Journals und durch die Autorengruppe bzw. die Gruppe von Ideenlieferanten, die er in diesem Zusammenhang um sich scharte, suchte Niethammer das Wirkungspotential seiner Rekantianisierungsbestrebungen zu steigern, zu dessen entscheidenden Motiven die Skepsis gegenüber grundsatzphilosophischen Systemansätzen gerechnet werden muss. Die im „Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten" bereits 1795 abgedruckte Abhandlung „Uber die Unmöglichkeit eines ersten absoluten Grundsatzes der Philosophie" des späteren Strafrechtlehrers Paul Johann Anselm Feuerbach - er war Vater des Religionskritikers Ludwig und Onkel des Malers Anselm Feuerbach - ist diesbezüglich programmatisch. Bleibt die Frage, warum Niethammer trotz seiner Reserve gegen philosophische Letztbegründungskonzeptionen und trotz seiner ausgesprochenen Vorbehalte gegenüber dem Ansatz der Wissenschaftslehre mit Fichte zusammenarbeitete, ja bald schon, nämlich ab 1797, das Philosophische Journal gemeinsam mit ihm herausgab, das er doch erst vor kurzem in der erklärten Absicht gegründet hatte, dem grundsatzphilosophischen und nach seinem Urteil unkantischen Progamm ein Alternativprogramm im genuin kantischen Sinne entgegenzusetzen. Die Antwort auf diese Frage kann nur im diplomatischen Ausgleichswillen Niethammers und in seinem Wunsch gesucht werden, Konflikte nach Möglichkeit zu vermeiden. Dass ihn genau diese Haltung in den Atheismusstreit hineinzwang, steht auf einem anderen Blatt. Doch hat Niethammer auch im Verlauf des Atheismusstreits seine Vermittlungskunst und sein Geschick als Konfliktvermeidungsbzw. Konflikteindämmungsstratege mehrfach unter Beweis gestellt.
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W . B a u m (Hg.), a.a.O., 79. M . F r a n k , a.a.O., 502.
4. Kants Revolution der Denkungsart
Immanuel Kant (1724-1804) hat sein Zeitalter dasjenige der Kritik genannt. Nach seinem Urteil ist das kritische Zeitalter durch konsequente Selbstaufklärung der Vernunft und durch eine ihrer Rationalität entsprechende Selbstlimitation gekennzeichnet. Vernünftig ist die Vernunft nur, wenn sie sich ihren eigenen Regeln unterstellt, um nicht durch externe Grenzen, sondern durch Selbstbezüglichkeit definiert zu sein. Es ist Aufgabe der Vernunftkritik, solch rationale Selbstdefinition zu vollbringen. Indem sie die Bedingungen der Möglichkeit rationaler Vernünftigkeit aufklärt, verhindert sie skeptischen Indifferentismus ebenso wie einen Dogmatismus der Vernunft, in welchem diese von sich unmittelbar Gebrauch macht, ohne sich vorher selbstkritisch ihres Vermögens versichert zu haben. Es ist unnötig zu betonen, dass Kant nicht nur einen dogmatisch-unkritischen Vernunftgebrauch aus seinem System ausscheidet, sondern auch und mehr noch jede Art eines doktrinalen Dogmatismus, der sich durch vernunftexterne Autorität zu legitimieren sucht: In der Kritik der Vernunft fungiert niemand anders als diese selbst als urteilender Richter. Vernunftkritik ist vernünftige Kritik, Vernunft Objekt und Subjekt derselben. Philosoph im strengen Sinne kann entsprechend nur der Selbstdenker werden; das philosophische System erschließt sich niemals bloß historischer Erkenntnis, sondern immer nur rationaler Einsicht, welche das Vorhergedachte selbsttätig rekonstruiert, um sich das Uberlieferte auf vernünftige Weise anzueignen. Demgemäß will kritische Philosophie nicht lediglich rezipiert, sondern nachgedacht werden. 1 Drei Fragen sind es, welche die um Selbstaufklärung bemühte Vernunft wesentlich bewegen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? (vgl. etwa KrV B 833) Die erste Frage hat die theoretische, die zweite die praktische, die dritte die Philosophie der Religion zu beantworten. Die Kritik der reinen Vernunft als der Basistext des Systems hat es
1 „Selbstdenken heißt den obersten Probirstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung." (Was heißt: Sich im Denken orientieren? von 1786, in: Kant's gesammelte Schriften. Hg. von der Königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften [= Akad. Ausg. Berlin 1910ff]. Bd. VIII, 131-147, hier: 146 Anm.) Wo es möglich ist, wird die Akad. Ausg., auf die von wenigen Ausnahmen abgesehen zurückgegriffen wird, nach der Originalpaginierung der Werke Kants zitiert. Deren jeweilige Abkürzungen werden im Anschluss an Rudolf Eislers Kantlexikon (Berlin 1930, Vllf) verwendet.
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Kants Revolution der Denkungsart
mit der Beantwortung namentlich der ersten Frage insofern zu tun, als dem Werk die Funktion einer theoretischen Propädeutik metaphysischen Vernunftgebrauchs zugewiesen ist, „welche das Vermögen der Vernunft in Ansehen aller reinen Erkenntniß a priori untersucht" (KrV B 869). Sind synthetische Urteile a priori möglich?, lautet die Leitfrage kritischer Philosophie. Synthetische sind im Unterschied zu analytischen solche Urteile, deren Prädikat nicht schon im Subjektbegriff impliziert ist, die vielmehr einen inhaltlichen Erkenntniszuwachs formulieren (Erweiterungsurteile statt Erläuterungsurteile). Apriorisch hinwiederum ist ein synthetisches Urteil dann, wenn es eine Erkenntniserweiterung vor aller Erfahrung, also nicht auf aposteriorische Weise, bewirkt. Die entscheidende Frage ist demnach, ob und inwiefern sich Erkenntnisse in Form synthetischer Urteile gewinnen lassen, die ohne empirische Anteile in der Vernunft selbst begründet liegen. Kant, so viel sei vorweggenommen, bejaht diese Frage, aber mit einer signifikanten Einschränkung: Synthetische Urteile vor aller Erfahrung sind möglich, aber sie sind möglich nur in Bezug auf mögliche Erfahrung. Der Grundsatz seiner nichtempirischen Theorie der Empirie, welche die Bedingungen der Erfahrbarkeit von Gegenständen erkundet, ist damit umschrieben. Nach Kant hebt alle menschliche Erkenntnis mit sinnlichen Anschauungen an. Das Material der Anschauungen ist durch Sinnesdaten gegeben und in der Weise der Sinnlichkeit vorhanden. Insoweit ist Kant dem sensualistischen Empirismus verpflichtet. Ohne erfahrene Sinneseindrücke kommt Erkenntnis nicht zustande. Gleichwohl werden die Erfahrungsgegenstände nicht durch Sinnlichkeit allein erkannt, weil Gegenstandserfahrung stets raumzeitlich bestimmt ist. Sinnlich gegebene Gegenstände werden, wenn immer sie wahrgenommen werden, in Form von Raum und Zeit wahrgenommen; diese Anschauungsformen sind, wie Kants transzendentale Ästhetik (von griech. aisthesis = Wahrnehmung) zu zeigen versucht, nicht durch Sinnlichkeit, also aposteriorisch gegeben, sondern liegen aller sinnlichen Anschauung als Bedingung ihrer Möglichkeit apriorisch zugrunde. Auf die Lehre von Raum und Zeit als den apriorischen Formen aller sinnlichen Anschauung, welche die Existenz der Dinge als Erscheinung bedingen, ist hier nicht weiter einzugehen. Vermerkt sei nur, dass Kants kritische Theorie der Erkenntnis bereits in ihrem transzendentalästhetischen Ansatz deutlich anzeigt, dass sie die beiden Hauptrichtungen aufgeklärten Denkens in sich zu vereinen sucht: den am Leitbild der Mathematik orientierten Rationalismus cartesianischer Prägung einerseits, der vernünftiges Erkennen apriorisch auf sich selbst zu gründen sucht, und den Empirismus eines Bacon, Locke oder Hume andererseits, welcher - den Realwissenschaften verpflichtet - die Erkenntnis an Sinnlichkeit und aposteriorische Verfahrensweisen bindet. Klärt die transzendentale Ästhetik die Möglichkeitsbedingungen sinn-
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licher Anschauung auf, mit der alle menschliche Erkenntnis beginnt, so ist es Aufgabe der transzendentalen Analytik deren Fortschritt zu Verstandesbegriffen zu bedenken, ohne welche Gegenstandserkenntnis nicht ist, was sie ist. Sinnlichkeit und Verstand lassen sich im Erkenntnisbeginnen allenfalls im Stadium abstrakter Anfänglichkeit, konkret hingegen nicht trennen, da Erkenntnis nur in ihrem Zusammenwirken wirklich ist. Es gilt der Grundsatz, wonach Gedanken ohne Inhalt leer, Anschauung ohne Begriffe hingegen blind sind (vgl. KrV B 75). Einerseits ist der Verstand als das aktiv spontane Vermögen, Gegenstände gedanklich zu identifizieren und urteilend zu erkennen, auf Sinnlichkeit angewiesen, will heißen: auf rezeptiven Empfang der Gegebenheit des Gegenstandes in Gestalt einer raumzeitlich geformten Anschauung. Andererseits bedarf die sinnliche Anschauung der gedanklichen Erfassung durch verständiges Begreifen, um nicht augenblicklich in nebulöser Konfusion zu vergehen. Aufgabe der transzendentalen Analytik ist es, die apriorischen Formen des Verstandes zu erheben, welche die Möglichkeit der Erkenntnis bedingen, indem sie durch urteilende Anwendung von Begriffen auf raumzeitliche Anschauungen Einheit in deren Mannigfaltigkeit stiften. Da der Verstand, wie angedeutet, seine Funktion, die Verschiedenheit der Vorstellungen einheitlich zu ordnen und in einem Bewusstsein überhaupt zu verbinden, in der Weise des Urteils vollzieht und sonach insgesamt ein spontanes Vermögen zu urteilen genannt werden kann, lassen sich nach Kant die möglichen Weisen der einheitsstiftenden Verstandestätigkeit in Form der logischen Momente aller Urteile identifizieren. Abstrahiert man von allen Inhalten eines Urteils überhaupt und achtet bloß auf dessen Form, so lässt sich die Verstandesfunktion im Urteil unter vier logischen Aspekten benennen, die jeweils drei bestimmende Momente in sich enthalten: in quantitativer, qualitativer, relationaler und modaler Hinsicht. Die logischen Formen der Urteile sind demnach: Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Der Quantität nach sind Urteile entweder allgemeine, besondere oder einzelne, der Qualität nach bejahende, verneinende oder unendliche, der Relation nach kategorische, hypothetische oder disjunktive, der Modalität nach schließlich problematische, assertorische oder apodiktische. Aus der logischen Tafel der Urteile ergeben sich nach Kant unschwer die traditionell Kategorien genannten reinen Verstandesbegriffe und mit ihnen die apriorischen Grundsätze der Möglichkeit aller Erfahrung als einer objektiv gültigen empirischen Erkenntnis, sofern diese nichts anderes sind als Sätze, „welche alle Wahrnehmung (gemäß gewissen allgemeinen Bedingungen der Anschauung) unter jene reine Verstandesbegriffe subsumiren" (Prol. § 21). Vorausgesetzt ist dabei, dass die wesentliche Funktion des Verstandes in der Synthesis genannten Handlung besteht, die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen in einer Erkenntnis zu begreifen. Ist die Synthesis an sich selbst eine bloße Wirkung des Einbildungskraft genannten Seelenver-
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Kants Revolution der Denkungsart
mögens, so ist es das Kennzeichen verständiger Synthesis, Synthesis nach Begriffen zu sein. Die Begriffe hinwiederum, welche reiner Synthesis Einheit geben und an sich selbst nichts weiter sind als die Vorstellung dieser notwendigen synthetischen Einheit, sind die Kategorien. Da die Funktion, welche die bloße Synthesis verschiedener Vorstellungen zur Einheit des Verstandesbegriffes bringt, nach Kant identisch ist mit jener, welche die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen in einem Urteil vereint, entsprechen Zahl und Bestimmtheitsweise der Kategorien durchweg denen der Urteile reiner Logik. Die Kategorien als die ursprünglich reinen, dem Verstand a priori impliziten Begriffe der Synthesis sind demzufolge der Quantität nach Einheit, Vielheit, Allheit, der Qualität nach Realität, Negation, Limitation, der Relation nach Substanz, Kausalität und Gemeinschaft als Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden, der Modalität nach Möglichkeit, Dasein und Notwendigkeit. Vom Kategoriensystem des Aristoteles, der zehn Elementarbegriffe zählte (substantia, qualitas, quantitas, relatio, actio, passio, quando, ubi, situs, habitus), um sie im Nachhinein noch durch fünf Postprädikamente zu ergänzen (oppositum, prius, simul, motus, habere), unterscheidet sich dasjenige Kants u.a. dadurch, dass dieser Raum und Zeit als reine Elementarbegriffe der Sinnlichkeit von den reinen Verstandesbegriffen absonderte und daher die siebente, achte und neunte aristotelische Kategorie aus der Tafel der reinen Verstandesbegriffe entfernte. Im Übrigen vermisste Kant bei Aristoteles jenes Prinzip, welches nach seiner Auffassung allein zu einer präzisen und vollzähligen Bestimmung der Kategorien zu führen vermag: das Prinzip jener Verstandeshandlung, die das Mannigfaltige der Vorstellungen unter die Einheit des Denkens überhaupt bringt und die, wie gezeigt, nachgerade im Urteilen besteht. Die Rechtfertigung der Anwendung der Kategorien auf sinnlich Angeschautes ergibt sich für die in Anlehnung an das juristische Deduktionsverständnis so genannte transzendentale Deduktion aus der Einsicht, dass ohne den urteilenden Bezug apriorischer Verstandesbegriffe auf das anschauliche Mannigfaltige keine Erfahrungserkenntnis möglich ist. Möglich ist diese nur im Vollzug verständiger Synthesis. Deren Möglichkeit hinwiederum ist denkbar nur unter Voraussetzung eines synthetisierenden Prinzips, das selbst nicht Produkt der Synthesis sein kann, wenn es denn die Funktion der Synthetisierung des Mannigfaltigen der Anschauung in der Weise verständigen Urteilens erbringen soll. Kant umschreibt dieses Prinzip gemäß einer viel zitierten Wendung als das Ich denke, das all meine Vorstellungen muss begleiten können (vgl. KrV B 132). Jede Erkenntnis, so ist damit gesagt, steht unter der Bedingung, gewusst werden zu können. Um aber nicht für jeden Erkenntnisgegenstand ein je eigenes Bewusstsein annehmen zu müssen, was ersichtlich absurd wäre, weil es Synthesis des Mannigfaltigen nicht möglich, sondern unmöglich machen würde, muss das Bewusst-
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sein im Wissen des Gewussten auf sich bezogen und seiner selbst bewusst sein. In diesem Sinne werden alle Bewusstseinsgegenstände vom Ich- oder Selbstbewusstsein begleitet, ohne welches verständige Synthesis der A n schauungen in ihrer Mannigfaltigkeit nicht denkbar wäre. D a s Bewusstsein überhaupt ist als selbstreferentielle Größe die Bedingung der Möglichkeit verständiger Gegenstandserfahrung und Erkenntnis. Als transzendentale Apperzeption, wie Kant in Anlehnung an einen Leibniz'schen Begriff sagen kann, fungiert es als Synthesis sinnlicher Anschauungen, deren Einheit sie durch verständiges Urteil stiftet, ohne aus ihnen ableitbar zu sein. Damit ist bereits angedeutet, dass das „Ich denke" mit Individualsubjekten und deren kognitiven, voluntativen und emotiven Selbstvollzügen nicht gleichgesetzt werden darf, weil Individuen, die sich empirisch identifizieren lassen und sich selbst in ihrer Individualität auf empirisch vermittelte Weise identifizieren, in ihrer Selbstwahrnehmung die einheitsstiftende Synthesisfunktion transzendentaler Apperzeption zur Bedingung ihrer Möglichkeit haben. Soll empirische Apperzeption nicht in unzusammenhängender Vielfalt vergehen, ist ihr in allen Fällen eine transzendentale vorauszusetzen, die nicht als bestimmtes Subjekt, sondern als bloße Einheit zu denken ist, die jedem bestimmten B e z u g vorhergeht. Kants Transzendentalsubjekt ist reine Synthesisfunktion. Als die Bedingung der Möglichkeit jeder Gegenstandserkenntnis ist es in keiner Weise gegenständlich zu fassen. Man lese dazu den 16. Paragraphen der Zweitauflage der Kritik der reinen Vernunft, dessen äußerste Dichte weitere Komprimierung kaum zulässt. Erkenntnis ist Erfahrungserkenntnis. Sie ergibt sich durch Vermittlung von Anschauung und Verstand, wie die Einbildungskraft sie bewirkt. Sowenig die sinnliche Anschauung ohne Verstand zur Erkenntnis ihrer Gegenstände gelangt, sowenig kann der Verstand der sinnlichen Anschauung entbehren, da er synthetische Urteile a priori nur in Bezug auf Erfahrung sinnvoll zur Geltung zu bringen vermag, wohingegen sich Erkenntnis erfahrungstranszendenter Sachverhalte durch theoretischen Verstandesgebrauch nicht erschließen. Gleichwohl sagt Kant, dass die mit sinnlichen Anschauungen anhebende und zu Verstandesbegriffen fortschreitende Erkenntnis bei Vernunftbegriffen endet, die auszubilden sie nicht umhin kann, will sie den Stoff der Anschauung unter die Einheit des Denkens bringen. Die transzendentale Apperzeption des „Ich denke" ist ein solcher Vernunftbegriff, der nicht nicht gedacht werden kann, soll der Verstand verständig gebraucht werden. Denn die Verstandeshandlung, welche die Synthesis des Mannigfaltigen leistet (die kein sinnliches D a t u m und ebenso wenig in den reinen F o r m e n sinnlicher Anschauung enthalten ist) muss, um diese Leistung erbringen und als der Akt, als der sie fungiert, fungieren zu können, ursprünglich und in sich eins sein, wobei sogleich hinzuzufügen ist, dass besagte Einheit nicht mit der Kategorie der Einheit zu verwechseln ist, weil sie dieser ebenso wie allen anderen Kategorien als die - einheitsstiftende -
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K a n t s Revolution der D e n k u n g s a r t
Bedingung der Möglichkeit logischer Urteile und damit zugleich als die Bedingung der Möglichkeit reiner Verstandesbegriffe immer schon vorhergeht. Die Einheit des die Synthesis des Mannigfaltigen vollziehenden spontanen Verstandesaktes kann nur in jenem inbegriffen sein, „was selbst den Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urtheilen, mithin der Möglichkeit des Verstandes sogar in seinem logischen Gebrauche enthält" (KrV B 131). Dies ist gemeint, wenn gesagt wird, dass das „Ich denke" alle meine Vorstellung begleiten können muss. Der Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption ist das oberste Prinzip allen Verstandesgebrauchs.
5. Kritik metaphysischer Psychologie und Kosmologie
Nachdem die transzendentale Ästhetik Raum und Zeit als apriorische Anschauungsformen und die transzendentale Analytik Begriffe und Grundsätze reiner Verstandeserkenntnis erwiesen haben, stellt sich Kant in der transzendentalen Dialektik als dem letzten Teil seiner Kritik der reinen Vernunft dem Vernunftproblem der transzendentalen Ideen, um den schließlichen Erweis der Unmöglichkeit synthetischer Erkenntnis spekulativer Metaphysik zu erbringen. Das Land des Verstandes, heißt es gegen Ende der transzendentalen Analytik, ist eine Insel der Wahrheit, „umgeben von einem weiten und stürmischen Ocean, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche N e belbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und, indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren H o f f n u n g e n täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann" (KrV B 295). Die Rede ist von metaphysischen Exkursionen. Bevor sich Kant an ihnen beteiligt, scheint es ihm nützlich, „zuvor noch einen Blick auf die Karte des Landes zu werfen, das wir eben verlassen wollen" (ebd.). Deren Bemessungsprinzip liegt in der Einsicht begründet, dass der Verstand von allen seinen Grundsätzen a priori, ja von allen seinen Begriffen überhaupt sinnvollerweise stets nur empiriebezogenen Gebrauch machen kann. Der Verstand kann sonach niemals die Zusammenhänge der Erfahrungswelt verlassen, um über erfahrungstranszendente Dinge an sich ontologisch-noumenale Aussagen zu machen. Gleichwohl wäre es nach Kant verfehlt, den Begriff des Noumenalen als in sich unsinnig und widersprüchlich abzutun. Es handelt sich bei ihm freilich um einen bloßen Grenzbegriff des Phänomenalen; gleichwohl ist dieser, wie Kant hinzufügt, „nicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne doch etwas Positives außer dem Umfange derselben setzen zu können" (KrV B 311). Kann sonach zwar von einem bloß intelligiblen Gegenstand nicht die Rede sein, so bleibt der Begriff des Noumenalen, problematisch genommen, dennoch nicht nur ein zulässiger, sondern ein unvermeidlicher Begriff. In dreifacher Hinsicht macht die Vernunft, die Kant als „das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Principien" (KrV B 359) umschreibt, vom Begriff des Noumenalen ideellen Gebrauch: in psychologischer, in kosmologischer und in theologischer Hinsicht. Menschenseele, Weltganzes und G o t t - das sind jene Grenzbegriffe, welche die rein mit sich selbst beschäftigte theoretische Vernunft nach Maßgabe kategorischer, hypothetischer und disjunktiver Schlussverfahren ausbildet. Mit transzendenten We-
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senheiten indes haben die transzendentalen Vernunftideen Kants zufolge schlechterdings nichts zu tun; was sie markieren, ist die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Hingegen gleicht der O n t o l o g e , der Seinsaussagen über Transzendent-Noumenales zu treffen beansprucht, nach Kants spöttischem Hinweis einer Taube, die meint, im luftleeren R a u m höher fliegen zu können als im Bereich irdischer Atmosphäre. D a s s der Schluss der Vernunft, um bei der Idee der Menschenseele zu beginnen, vom transzendentalen Begriff des Subjekts als des reinen „Ich denke", das alle meine Vorstellungen muss begleiten können, ohne Mannigfaltiges in sich zu enthalten, auf die absolute Einheit dieses denkenden Subjekts bzw. auf ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in ihm auf einen Paralogismus, also auf einen Trugschluss hinausläuft, durch welchen die Vernunft sich selbst hintergeht, gilt Kant als ausgemacht. Die traditionelle Seelenmetaphysik als die Lehre von einer immateriellen, in ihrer Einfachheit inkorruptiven Substanz von selbstidentisch-personaler Spiritualität, welche nicht nur als Lebensprinzip alles Materiellen fungieren, sondern in ihrer Immortalität das unbedingte Prinzip zeitlos-überzeitlicher Ewigkeit in sich tragen soll, gilt ihm daher als obsolet. Lässt sich doch nach seinem Urteil in allen seelenmetaphysischen Theorien ein- und derselbe Grundfehler nachweisen, nämlich die Einheit des Bewusstseins im Sinne einer O b j e k t anschauung vorstellig zu machen und mit der Kategorie der Substanz bzw. analogen Verstandesbestimmungen in Verbindung zu bringen, obwohl das die Einheit des Bewusstseins identifizierende „Ich denke" nichts weiter bezeichnet als bloße Einheit im Denken, ohne jede gegebene Anschauung, auf welche Verstandesbegriffe Anwendung finden können. Die transzendentaldialektische Auflösung des seelenmetaphysischen Paralogismus ergibt, dass es sich beim Begriff transzendentaler Apperzeption um einen theoretischen Grenzbegriff handelt, von dem lediglich regulativer, aber nicht objektiver Gebrauch zu machen ist. Zwar gilt apodiktisch, dass in allen Verstandesurteilen das „Ich denke" bestimmendes Subjekt und nie lediglich Prädikat desjenigen Verhältnisses ist, welches das Urteil ausmacht; doch lässt sich dieser Gewissheit kein objektives Wissen vom Subjekt als einer für sich bestehenden Substanz entnehmen. Zwar ist das Ich transzendentaler Apperzeption zweifelsfrei singulär im Sinne eines logisch einfachen Subjekts, das nicht in eine Pluralität von Subjekten aufgelöst werden kann; gleichwohl wäre es verfehlt, hieraus auf ein individuelles Wesen zu schließen, das als einfache Substanz aller Verstandestätigkeit zugrunde liegt. Zwar ist das Bewusstsein alles Mannigfaltigen mit einem identischen Wissen um sich selbst notwendig verbunden zu denken; die Identität sich wissender Subjektivität kann indes nicht als selbstbewusstes Personsein eines in allem Wechsel der Zustände substanziell mit sich einigen Denkwesens nach Weise einer Objektanschauung vorstellig gemacht werden. Zwar geht die D i f f e renz des „Ich denke" von allem Nichtich aus dessen identischem Wissen um sich notwendig hervor, da alle Erfahrungsgegenstände vom Ich als sol-
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che erkannt werden, die von ihm verschieden sind; die Möglichkeit eines dinglosen Ichbewusstseins oder gar die Tatsächlichkeit der Existenz bloß denkender Wesen ohne Erfahrungsweltbezug kann dadurch dennoch nicht zur Gewissheit gebracht werden. Kurzum: Die Analysis des Ichbewusstseins im Denken erbringt für die objektive Selbsterkenntnis nichts. Die Einheit des dem theoretischen Vernunftgebrauch zugrundeliegenden Bewusstseins für eine objektive Subjektanschauung zu nehmen und mit einem vorhandenen Bewusstsein des Ich von sich selbst zu identifizieren, ist ein Trugschluss. In Wahrheit ist das die Einheit des Bewusstseins identifizierende „Ich denke" nur Einheit im Denken ohne gegebene Anschauung. Ist nach Maßgabe kritischer Erkenntnistheorie eine über die Grenzen der Erfahrung hinausführende rationale Seelenmetaphysik nicht möglich, so soll dadurch für die eigentlichen Interessen der Vernunft gleichwohl „nicht das mindeste verloren" (KrV B 424) sein. Denn auch wenn ein spekulativer Erweis der Unsterblichkeit der Menschenseele unmöglich sei, so schließe das doch nicht aus, dass die Vernunft bezüglich der O r d n u n g der Zwecke als ihrem eigentümlichen Gebiet sich selbst und mit sich die vernünftige Menschenseele „über die Grenzen der Erfahrung und des Lebens hinaus zu erweitern berechtigt ist" (KrV B 425). Indes falle solche Erweiterung nicht in die Kompetenz der theoretischen, sondern allein der praktischen Philosophie. Mit Kant zu reden: „Gesetzt aber, es fände sich in der Folge nicht in der Erfahrung, sondern in gewissen (nicht bloß logischen Regeln, sondern) a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs Veranlassung, uns völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen: so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen; und hier würden wir inne werden, daß im Bewußtsein unseres Daseins a priori etwas enthalten sei, was unsere nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz, doch in Ansehung eines gewissen inneren Vermögens in Beziehung auf eine intelligibele (freilich nur gedachte) Welt zu bestimmen dienen kann." (KrV B 430 f) Wie die Paralogismen der reinen Vernunft bezüglich ihrer psychologischen Ideen, so verweisen nach Kant auch die Antinomien der reinen Vernunft bezüglich ihrer kosmologischen Ideen auf den gebotenen Ubergang von der theoretischen zur praktischen Philosophie. Inhalt der kosmologischen Ideen der reinen Vernunft ist die unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen in der Erscheinung und damit der Begriff der Welt insofern, als er die absolute Totalität in der Synthesis der Bedingungen aller möglichen Dinge bezeichnet. Bei der Ausbildung der Weltidee gerät die Vernunft in eine vierfache Antithetik: Der erste Widerstreit der den Kosmos betreffenden transzendentalen Ideen besteht zwischen der Behauptung eines zeitlichen Anfangs und einer räumlichen Begrenzung der Welt und ihrer behaupteten Anfangslosigkeit und räumlichen Unendlichkeit. Die zweite An-
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tinomie ergibt sich bezüglich der These, alle zusammengesetzten Dinge in der Welt bestünden aus Teilen und überall bestehe nichts als das Einfache oder das aus Einfachem Zusammengesetzte, sowie der antithetischen Verneinung dessen. Die dritte Antinomie als die in bestimmter Hinsicht bedenklichste bzw. bedenkenswerteste besteht in dem Widerstreit zwischen der kosmologischen Annahme einer den Kausalitätsgesetzen der N a t u r entnommenen Kausalität durch Freiheit im Sinne einer ,jibsolute(n) Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen" (KrV B 474), und der gegenteiligen These eines naturkausalen Determinismus. Die vierte kosmologische Vernunftantinomie schließlich leitet bereits zur transzendentalen Theologie über, sofern in der Thesis behauptet wird, zur Welt gehöre etwas, das - entweder als ihr Teil oder als ihre Ursache - ein schlechthin notwendiges Wesen ist, wohingegen die Antithesis die Existenz eines schlechterdings notwendigen Wesens generell bestreitet. Da die Vernunft sich mit dem Widerstreit ihrer selbst vernünftigerweise nicht abfinden kann, drängt sie notwendig auf eine Auflösung der besagten kosmologischen Antinomien, welche freilich nach Kant nur eine kritische zu sein vermag, da sie in der Erfahrung niemals vorkommen kann. Als Schlüssel kritischer Lösung dient dabei in Sonderheit die Verabschiedung der Annahme, „daß die Welt (der Inbegriff aller Erscheinungen) ein an sich existirendes Ganzes sei" (KrV B 535). O h n e die auf bloßem Schein beruhende, durch theoretischen Vernunftgebrauch nicht gedeckte Annahme einer als an sich seiendes Ganzes existierenden Welt lösen sich die kosmologischen Antinomien gleichsam von selbst auf, um der Einsicht zu weichen, dass die Welt nur die regressive Synthesis in der Reihe der Erscheinungen bezeichnet und nicht ein Ding an sich selbst, welches in der Erscheinung anzutreffen ist. Kann sonach die Vernunftidee der Welt vernünftigerweise nur im Sinne eines regulativen Prinzips Verwendung finden, so hat eine wissenschaftlich verfahrende Kosmologie von einem metaphysischen Weltbegriff und seinen supranaturaltransmundanen Implikationen theoretischen Abschied zu nehmen und sich auf die natürliche Welt als den Inbegriff aller Dinge zu beschränken, sofern sie Gegenstände sinnlicher Erfahrung sein können. 1
1 Die Wissenschaft der natürlichen Welt ist in dem nach Prinzipien geordneten G a n z e n der Erkenntnis, das Kant System nennt, wesentlich Körperlehre, also Lehre von den räumlichen Gegenständen der äußeren Sinne, wohingegen der Seelenlehre als der Lehre von der Zeitanschauung des inneren Sinns der Status einer strengen Naturwissenschaft bestritten wird. Eine stricte dictu rationale Wissenschaft ist die Körperlehre ihrerseits n u r dann zu nennen, wenn sie die Gegenstände der äußeren Sinne nicht lediglich empirisch umschreibt und nach Erfahrungsgesetzen ordnet, sondern die Gesetze aller möglichen Gegenstandserfahrung durch äußere Sinne apriorisch erkennt. In seiner Schrift „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" von 1786 hat Kant G r u n d z ü g e rationaler Naturwissenschaft als reiner Vernunfterkenntnis entwikkelt.
6. Kritik rationaler Ontotheologie
Wie von den Ideen der Menschenseele und des Weltganzen kann die theoretische Vernunft auch von der Gottesidee keinen objektiven, sondern nur einen regulativen Gebrauch machen. Theoretische Versuche, das objektive Dasein Gottes zu beweisen, müssen nach Kant daher scheitern. Dies gilt sowohl für den teleologischen und kosmologischen als auch für den ontologischen Beweis. Der physikoteleologische Beweis ist undurchführbar, weil das menschliche Urteilsvermögen nach Kant nicht in der Lage ist, zu derartigen Ergebnissen hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der N a t u r zu gelangen, die einen Schluss auf einen obersten Lenker und Sinngaranten des natürlichen Ganzen erlauben. Der Begriff einer objektiven Zweckmäßigkeit der N a t u r ist lediglich ein kritisches Vernunftprinzip für die reflektierende Urteilskraft ohne theoretischen Beweischarakter. Die gegebene Erfahrungswelt in ein einsichtiges Verhältnis zu einer höchsten Weisheit zu setzen, ist die theoretische Vernunft schlechterdings nicht fähig. Ein physikoteleologischer Gottesbeweis ist daher theoretisch nicht durchzuführen. Relative Uberzeugungskraft vermag die Physikotheologie nur im Zusammenhang praktischen Vernunftgebrauchs und sonach im ethikotheologischen Kontext zu gewinnen, wohingegen sie für sich genommen keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit hat. Die Urteile der Physikotheologie über eine in der Welt durchgängig zu beobachtende Zweckordnung haben zwar, insofern sie den Forderungen der Moraltheologie entgegenkommen, ein durch diese bedingtes relatives Recht; der physikoteleologische Schluss auf das Dasein einer Ursache, welche der als zweckmäßig zu beurteilenden Welteinrichtung proportioniert ist, entbehrt gleichwohl jedes rationalen Beweischarakters. Ebenso unmöglich wie der physikoteleologische ist nach Kant der kosmologische Beweis des Daseins Gottes zu führen, der ersterem insofern zugrunde liegt, als er dessen Anliegen in die Konsequenz treibt. N a h m der physikoteleologische Beweis von einer bestimmten Erfahrung seinen Ausgang, um von einer zweckmäßig erscheinenden Weltordnung auf deren überweltlichen Verursacher zu schließen, so sieht der kosmologische von jeder bestimmten Welterfahrung ab und beansprucht, aufgrund des bloßen empirischen Daseins als solchen das Dasein Gottes beweisen zu können. Das kosmotheologische Basisargument umschreibt Kant wie folgt: „Wenn etwas, was es auch sei, existirt, so muss auch eingeräumt werden, daß irgend etwas nothwendigerweise existire. Denn das Zufällige existiert nur unter der Bedingung eines anderen als seiner Ursache, und von dieser gilt der Schluß fernerhin bis zu einer Ursache, die nicht zufällig und eben darum ohne Be-
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Kritik rationaler Ontotheologie
dingung nothwendigerweise da ist." (KrV B 612) Der Gedanke einer Existenz unbedingter Notwendigkeit wird sodann mit demjenigen unter allen Begriffen möglicher Dinge verbunden, welcher „nichts der absoluten Nothwendigkeit Widerstreitendes in sich hat" (KrV B 613). Es ist dies der Begriff eines schlechthin notwendigen Wesens (ens necessarium), welches die Bedingungen zu allem Möglichen unbedingt in sich enthält und damit als Wesen von der höchsten Realität (ens realissimum) zu gelten hat, dessen Dasein Identitätsimplikat seines Begriffs sein soll. Die Existenz Gottes, der als absolute Einheit vollständiger Realität Grund und Ursprung alles Möglichen ist, scheint damit bewiesen. Obwohl er „nicht allein für den gemeinen, sondern auch den speculativen Verstand die meiste Überredung bei sich führt" (KrV B 632), erzeugt der a contingentia mundi ausgehende und von der weltbegründenden Notwendigkeit des Absoluten auf das Dasein eines allerrealsten Wesens schließende kosmologische Beweis nach Kants erkenntniskritischem Urteil nichts als bloßen Schein. Denn wenngleich der Begriff des ens realissimum der einzige ist, dadurch ein ens necessarium gedacht werden kann, so ist die Behauptung der Existenz des solchermaßen Gedachten nichtsdestoweniger eine Erschleichung, die verkennt, dass synthetische Urteile vor aller Erfahrung nur in Beziehung auf mögliche Erfahrung, nicht aber in Ablösung von dieser möglich sind. Kurzum: Kosmotheologie macht vom transzendentalen Ideal der omnitudo realitatis statt des einzig möglichen regulativen einen konstitutiven Gebrauch. Vom regulativen Prinzip der Vernunft, um der Funktionseinheit ihrer Erkenntnis von allem Möglichen und Wirklichen willen die Idee eines Absolutnotwendigen und Allerrealsten auszubilden, einen irregulären, nämlich konstitutiven Gebrauch zu machen, ist schließlich auch der kritische Einwand, der gegen das sog. ontologische Argument angeführt wird, auf das sich nach Kant zuletzt alle spekulativen Beweisformen des Daseins Gottes reduzieren lassen. Der ontologische Beweis abstrahiert nicht nur - wie der kosmologische im Unterschied zum physikoteleologischen - von aller bestimmten, sondern von Erfahrung überhaupt, um gänzlich a priori und rein begrifflich auf die Existenz des Absoluten zu schließen. Verknüpfte der kosmologische Beweis den aus der Erfahrung unbestimmter Kontingenz resultierenden Gedanken absoluter Notwendigkeit mit dem Begriff der höchsten Realität, um aus ihr die Existenz des ens realissimum zu folgern, kehrt das ontologische Argument das Verfahren um, um von der Idee der höchsten Realität auf das absolut-notwendige Dasein eines in höchstem Maße realen Wesens zu schließen. Was alle Realität in sich enthält und von aller Bedingung unabhängig der unbedingt zureichende Grund alles Bedingten ist, beinhaltet seinem Begriff nach die schlechterdings notwendige Existenz seiner selbst, womit, so der Schluss, das Dasein Gottes bewiesen sei, weil jeder andere Schluss sich selbst widerspreche und damit zersetze. Dem hält Kant entgegen, dass die Behauptung der Nichtexistenz dessen, was der Begriff ens necessarium bzw. ens realissimum benennt, nicht den mindesten Widerspruch enthalte. „Wenn ich
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das Prädicat in einem identischen Urtheile aufhebe und behalte das Subject, so entspringt ein Widerspruch, und daher sage ich: jenes kommt diesem nothwendiger Weise zu. Hebe ich aber das Subject zusammt dem Prädicate auf, so entspringt kein Widerspruch; denn es ist nichts mehr, welchem widersprochen werden könnte. Einen Triangel setzen und doch die drei Winkel desselben aufheben, ist widersprechend, aber den Triangel sammt seinen drei Winkeln aufheben, ist kein Widerspruch. Gerade eben so ist es mit dem Begriffe eines absolut nothwendigen Wesens bewandt. Wenn ihr das Dasein desselben aufhebt, so hebt ihr das Ding selbst mit allen seinen Prädicaten auf; wo soll alsdann der Widerspruch herkommen?" (KrV B 622 f) Die logische Nichtwidersprüchlichkeit des Satzes „Gott ist nicht" wird durch die Einsicht bestätigt, die Kant bereits in seiner Schrift über den einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes von 1763 (vgl. Akad. Ausg. II, 63-163) vorgetragen hatte, dass nämlich Existenz gar kein reales Prädikat, also ein Begriff von irgend etwas sei, was zu dem Begriff eines Dinges hinzukomme, da es lediglich dessen absolute Position oder Setzung und sonst nichts bezeichne. In diesem Sinne enthalten hundert wirkliche Taler nicht das mindeste mehr als hundert mögliche, womit gemeint ist, dass in einem Existierenden nicht mehr gesetzt ist als in einem bloß Möglichen. Dass ein allerrealstes Wesen sei, besagt insofern nichts weiter als der Begriff des allerrealsten Wesens selbst. Eine wirkliche, über den bloßen Begriff Gottes hinausgehende Aussage ist also mit dem Satz, dass G o t t existiere, nicht gemacht. Die Vernunft hat sich deshalb bei der Idee Gottes zu bescheiden, um von ihr lediglich einen regulativen und keinen konstitutiven Gebrauch zu machen. Während er 1763 um der Denkbarkeit der Dinge willen die Existenz eines ens realissimum noch meinte annehmen zu müssen, was bei aller vorhergehenden Kritik auf eine Erneuerung des ontologischen Arguments hinauslief, genügt Kant 1781 die bloße Idee eines Inbegriffs aller Realität als Voraussetzung der inneren Möglichkeit und Denkbarkeit der Dinge, ohne dass von Existenz und objektiver Realität dieser Idee sinnvoll die Rede sein könnte. Die Annahme, die dem Verstand zur durchgängigen Bestimmung seiner Begriffe vorauszusetzende Voraussetzung sei ein wirkliches Wesen, entbehrt nach dem Urteil der Kritik der reinen Vernunft jedes fundierenden Grundes. Wie an allen Gottesbeweisen, so ist denn auch am ontologischen als dem gründlichsten von ihnen „alle Mühe und Arbeit verloren" (KrV B 630): „für Objecte des reinen Denkens ist ganz und gar kein Mittel, ihr Dasein zu erkennen, weil es gänzlich a priori erkannt werden müsste; unser Bewußtsein aller Existenz aber (es sei durch Wahrnehmung unmittelbar, oder durch Schlüsse, die etwas mit der Wahrnehmung verknüpfen) gehört ganz und gar zur Einheit der Erfahrung; und eine Existenz außer diesem Felde kann zwar nicht schlechterdings für unmöglich erklärt werden, sie ist aber eine Voraussetzung, die wir durch nichts rechtfertigen können." (KrV B 629)
7. Theoretische Vernunftkritik in praktischer Absicht
Man denke sich, sagt Kant sinngemäß in der Methodenlehre seiner Kritik der praktischen Vernunft, die Geschichte eines redlichen Mannes, den man durch Anerbieten hoher Gewinne sowie durch Androhung ebensolcher Verluste nicht nur des Geldes allein, sondern des Ranges und des äußeren Ansehens dazu bewegen will, eine unschuldige Person wider besseres Wissen anzuklagen und zu verleumden. Auf Weigerung hin wird der Druck allmählich gesteigert bis hin zur Androhung des Todes; zuletzt bietet man Weib und Kind gegen den Unglücklichen auf, die flehentlich um Nachgiebigkeit bitten, damit Witwenschaft und Waisentum, äußerste Not und mögliche sonstige Drangsal von ihnen abgewendet werde. Doch auch in diesem Augenblicke, „darin er wünscht den Tag nie erlebt zu haben, der ihn einem so unaussprechlichen Schmerz aussetzte" (KpV A 278), bleibt der äußerer und innerer Folter ausgesetzte Redliche seinem gefassten Vorsatz der Redlichkeit treu, ohne äußerlich zu wanken und innerlich zu zweifeln. Mit der Evidenz der Gewissensgewissheit, die sein Personsein ausmacht, weiß er, dass das aus moralischer Pflicht Gesollte, weil es unbedingt und nicht bloß bedingungsweise gefordert ist, unter allen Umständen getan werden muss und auch getan werden kann. Nun erzähle man diese Geschichte einem Zehnjährigen und lege sie ihm zur Beurteilung vor: er wird nach Kant „stufenweise von der bloßen Billigung zur Bewunderung, von da zum Erstaunen, endlich bis zur größten Verehrung und einem lebhaften Wunsche, selbst ein solcher Mann sein zu können . . . , erhoben werden" (ebd.). Quod erat demonstrandum: im Menschen waltet, sobald er zum Bewusstsein seiner selbst kommt, in Form reinen Gesetzes der Wille, der Vernunft als einem Allgemeinverbindlichen unbedingt zu entsprechen. Dieser Allgemeinwille ist vom besonderen Wollen des Einzelnen unterschieden, so wie das Ich denke transzendentaler Apperzeption vom empirischen Ich zu unterscheiden ist. Doch ist der Unterschied beide Male nicht als Trennung misszuverstehen, sofern hier wie dort ein Zusammenhang statthat, der im Falle praktischen Vernunftgebrauchs in der Forderung Ausdruck findet, dass alles besondere Wollen dem Allgemeinwillen um der Selbstentsprechung praktischer Vernunft willen zu entsprechen habe. Hinzuzufügen ist, dass die Analogie theoretischer und praktischer Vernunft nach Kant in der Tatsache sowohl ihre Bestätigung als auch ihre Grenze findet, dass die notwendige Annahme der Einheitsfunktion transzendentaler Apperzeption zu keinen synthetischen Urteilen berechtigt, welche theoretische Erkenntnisse vernunfterweiternder Art erschließen, wohingegen im praktischen Ver-
Theoretische Vernunftkritik in praktischer Absicht
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nunftgebrauch die Gewissheit der objektiven Realität von subjektiver Freiheit als dem Vermögen spontanen, empirietranszendenten Vernunfthandelns auf ebenso elementare wie unveräußerliche Art mitgesetzt ist. Von daher versteht es sich, dass der praktische Gebrauch der Vernunft als der, wie Kant sagt, kanonische zu gelten hat. Den pädagogischen Zweck, auf narrative Weise zur Einsicht in die Erhabenheit des aller Sinnlichkeit überlegenen Sittengesetzes praktischer Vernunft zu erheben, hatte Kant in großem Stil bereits in seiner 1785 erschienenen Grundlegung der Metaphysik der Sitten verfolgt, die als eine Erziehungsgeschichte des Menschengeschlechts gelesen werden kann. Sie nimmt ihren Ausgang von der jedermann zugänglichen sittlichen Vernunfterkenntnis, um über diverse moralphilosophische Zwischenstufen zum obersten in der Sittenerkenntnis des gemeinen Mannes implizit, wenngleich auf begrifflich unentwickelte Weise immer schon enthaltenen - Prinzip der Moralität zu führen und auf diese Weise den Grund zu legen zur Metaphysik der Sitten, die Kant im Jahre 1797 in zwei Teilen publizierte. Der 1788 erschienenen Kritik der praktischen Vernunft kommt nicht nur in zeitlicher, sondern auch in sachlicher Hinsicht eine Mittelstellung insofern zu, als sie durch Abweisung aller empirischer Beimischungen die praktische Vernunft in ihrer Reinheit konstruktiv zur Geltung zu bringen bestrebt ist. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass das menschliche Glückseligkeitsstreben niemals der Bestimmungsgrund von Moralität und Sittlichkeit sein kann, sollen diese ihrem Begriff entsprechen. Zwar ist Glückseligkeit „nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens" (KpV A 45). Doch darf das durch Lust und Unlust gekennzeichnete Begehrungsvermögen - Kant bestimmt es als das Vermögen, durch seine Vorstellungen U r sache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein - keineswegs zur Basis praktischer Vernunft erklärt werden, wenn diese in ihrer Reinheit zur Geltung kommen soll. Dies ist möglich nur auf apriorische, rein vernunftorientierte und nicht auf aposteriorische, sinnlich vermittelte Weise. Grundsätze reiner praktischer Vernunft können daher nur als solche gedacht werden, „die nicht der Materie, sondern blos der Form nach den Bestimmungsgrund des Willens enthalten" (KpV A 48). Wird dies konsequent erfasst, dann lassen sich alle denkbaren Grundsätze reiner praktischer Vernunft auf ein Prinzip reduzieren, das als Grundgesetz der Moral fungiert: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." (KpV A 54) Damit ist mit einer möglichen Variante umschrieben, was Kant den kategorischen Imperativ nennt. Kategorisch ist der Imperativ des Grundgesetzes der Moral, aus dem er folgt, weil er unbedingt, nämlich aus reinen Vernunftgründen gebietet und nicht lediglich hypothetisch und unter bedingungsweiser Berücksichtigung sinnlichen Strebens des Begehrungsvermögens. Ein hypothetischer Impera-
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T h e o r e t i s c h e Vernunftkritik in praktischer A b s i c h t
tiv, der die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung lediglich mit dem Hinweis begründet, sie sei zur Realisierung einer bestimmten Absicht gut, nimmt diese nur als Mittel zum Zweck; der kategorische Imperativ hingegen gebietet die Handlung ohne Beziehung auf eine Absicht und einen außerhalb des Gebots liegenden Zweck, sondern auf rein selbstzweckliche und daher nicht lediglich assertorische, sondern apodiktische Weise. Vom Grundgesetz der Moral selbst, welches die Handlung, die geschehen soll, objektiv als notwendig vorstellig und damit zur Pflicht macht, unterscheidet sich der kategorische Imperativ lediglich darin, dass er das durch das Grundgesetz der Moral in Form reinen Willens praktischer Vernunft zur Pflicht Gemachte nach Art einer praktischen Regel auf konkretes Wollen anwendet, damit eine in subjektiver Willkür gewollte und insofern zufällige Handlung eine notwendige und vernünftige werde. Dabei ist die Vorschrift, die der kategorische Imperativ macht, in keiner Weise heteronom, weil sie aus keinem fremden Gesetz, sondern aus dem der Vernunft eigenen hervorgeht. Indes ist Vernunftautonomie nach Kant das gerade Gegenteil von unmittelbarer Selbstbestimmung individueller Subjekte, die als sittlich grundverkehrt beurteilt werden muss. Auch darf vernünftige Auto- bzw. Eleutheronomie mit der Indifferenzfreiheit eines liberum arbitrium willkürlicher Wahl mitnichten verwechselt werden. Autonome Freiheit als Freiheit vernünftigen Willens enthält Willkür ausschließlich in Form eines aufgehobenen Moments und entspricht ihrem Begriff ausschließlich und nachgerade darin, dass sie alles besondere Wollen an den einen Willen bindet, der nichts als das Allgemeinverbindliche will. Tugendhaft ist in diesem Sinne diejenige Handlung, zu welcher jedermann vernunftnotwendig und in Achtung vor sich selbst als eines intelligiblen Vernunftwesens verpflichtet ist. Zwar ist der Mensch gegenständlich betrachtet als intelligibles Vernunftwesen nicht erkennbar, und auch die empirische Selbsterfahrung vermag ihm eine objektive Einsicht seiner Noumenalität nicht zu verschaffen, worin sich nach Kant bestätigt, dass Theorie zu empirietranszendenten Realitätsannahmen weder befähigt noch befugt ist. Gleichwohl vermittelt die Gewissensgewissheit des nach Maßgabe praktischer Vernunft Gesollten dem Menschen das Selbstbewusstsein einer Freiheit, die alles Sinnliche übersteigt und nichtsdestoweniger als objektive Realität praktisch unbezweifelbar gewiss ist. Mit der Metaphysik der Sitten zu reden: „Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff, der eben darum für die theoretische Philosophie transcendent, d.i. ein solcher ist, dem kein angemessenes Beispiel in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann, welcher also keinen Gegenstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntniß ausmacht und schlechterdings nicht für ein constitutives, sondern lediglich als regulatives und zwar nur bloß negatives Princip der speculativen Vernunft gelten kann, im praktischen Gebrauch derselben aber seine Realität durch praktische Grundsätze beweiset, die als Gesetze ei-
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ne Causalität der reinen Vernunft, unabhängig von allen empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen überhaupt) die Willkür zu bestimmen, und einen reinen Willen in uns beweisen, in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben." (Akad. Ausg. VI, 221) An der gewissen Präsenz eines reinen Willens praktischer Vernunft im Menschen hängt nach Kant nicht weniger als das menschliche Personsein. Um noch einmal die Metaphysik der Sitten zu zitieren: „Person ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen, der Identität seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist." (A.a.O., 223) Vernünftig und dem Personsein der Person entsprechend sind diese Gesetze dann, wenn sie mit der Achtung des eigenen Personseins zugleich das Personsein aller Menschenwesen zu achten gebieten, was nichts anderes heißt, als dass jeder Mensch als Selbstzweck und niemals als bloßes Mittel zum Zweck oder gar als Sache zu gelten habe. Kant kann daher den kategorischen Imperativ auch so formulieren: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." (A.a.O., 429) In den diversen Formen des kategorischen Imperativs ist, wie sich unschwer sehen lässt, stets das eine und invariante Pflichtgesetz der Freiheit umschrieben, welches Grund und Inhalt der Metaphysik der Sitten bildet. Die konkrete Durchführung dieser Schrift zu erörtern erübrigt sich, da sie erst 1797 erschienen und auf Niethammers geistige Entwicklung ohne Einfluss ist. Bestimmend für ihren Aufbau ist die Unterscheidung von Legalität und Moralität. Gemeinsam ist beiden die pflichtgemäß geforderte Übereinstimmung mit dem Sittengesetz. Unterschieden sind sie dadurch, dass Legalität lediglich äußere, Moralität hingegen innere Konformität mit dem Gesetz sittlicher Freiheit verlangt. Die Gliederung der Metaphysik der Sitten in Rechts- und Tugendlehre orientiert sich hieran: während Rechtsgesetze nur die äußere Handlung und deren Gesetzmäßigkeit betreffen, geben Tugendgesetze die inneren Bestimmungsgründe der Handlungen und damit die subjektiven Maximen an. Die Rechtslehre ist lediglich an juridischer Legalität interessiert, durch welche die äußere Sphäre der Freiheit gewährleistet wird; die Tugendlehre hingegen fordert, dass die Triebfedern der pflichtgemäßen Handlungen selbst den Grundsätzen reiner Pflicht entstammen.
8. Gott, Freiheitswelt und Unsterblichkeit der Menschenseele als Postulate praktischer Vernunft
Kants Kritik der theoretischen Beweise des Daseins Gottes enden mit der lakonischen Feststellung, „daß alle Versuche eines bloß speculativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind, daß aber die Principien ihres Naturgebrauchs ganz und gar auf keine Theologie führen, folglich, wenn man nicht moralische Gesetze zum Grunde legt oder zum Leitfaden braucht, es überall keine Theologie der Vernunft geben könne. Denn alle synthetischen Grundsätze des Verstandes sind von immanentem Gebrauch; zu der Erkenntnis eines höchsten Wesens aber wird ein transcendenter Gebrauch derselben erfordert, wozu unser Verstand gar nicht ausgerüstet ist." (KrV B 664) Die Idee eines höchsten Wesens muss für den theoretischen Vernunftgebrauch demgemäß ein bloßes, wenngleich fehlerfreies Ideal bleiben, ein Begriff, dessen Realität zwar nicht widerlegt, aber ebenso wenig bewiesen werden kann wie die auf Freiheit hin angelegte Zweckmäßigkeit der natürlichen Welt oder die Unsterblichkeit und Ewigkeitsbedeutung der Menschenseele. Zu beheben ist dieses Defizit theoretischer Vernunft nur durch praktischen Vernunftgebrauch und eine ihm entsprechende Moral- bzw. Ethikotheologie 1 , welche zusammen mit der unsterblichen Menschenseele und der Realität bzw. Realisierbarkeit einer intelligiblen Welt der Freiheit auch das Dasein Gottes zu postulieren berechtigt und befähigt ist. Postulate sind nach Kants eigener Definition praktische Sätze von unmittelbarer Gewissheit; theoretisch betrachtet handelt es sich um Hypothesen, die in praktischer Vernunftabsicht notwendig sind (vgl. Logik § 38; Akad.
1 Theologie, so Kant, ist Gotteserkenntnis entweder aus bloßer Vernunft oder aus O f f e n b a rung. Die von der theologia revelata strikt zu unterscheidende theologia naturalis vel rationalis denkt ihren göttlichen Gegenstand als transzendentale Theologie mittels reiner Vernunftbegriffe, wohingegen sie als natürliche Theologie mit Begriffen arbeitet, die sie der N a t u r der Menschenseele entlehnt hat. Als Moraltheologie postuliert die theologia naturalis ein göttliches Prinzip aller sittlichen O r d n u n g und Vollkommenheit, u m als Physikotheologie G o t t z u m obersten U r h e b e r einer nach menschlichem Urteil höchst zweckmäßig gestalteten Welt zu erklären. Die transzendentale F o r m der theologia rationalis hinwiederum gedenkt als K o s m o theologie das Dasein G o t t e s aus allgemeiner Welterfahrung abzuleiten, während sie als O n t o theologie die göttliche Existenz durch bloße Begriffe o h n e jede Erfahrung zu erkennen glaubt. U n t e r Bedingungen Kant'scher Erkenntniskritik kann allein die Ethikotheologie Anspruch erheben, als theologia rationalis zu gelten, weil nur Moral zur religiösen A n n a h m e des Daseins G o t t e s berechtigt.
G o t t , Freiheitswelt und Unsterblichkeit der Menschenseele
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Ausg. I X , 112). Weil moralische Freiheit nach Kant der einzige Begriff des Ubersinnlichen ist, welcher nicht nur die subjektive Evidenz seiner G e l tung, sondern zugleich den Anspruch objektiver Realität unmittelbar mit sich führt, N a t u r durch spontanes Handeln zweckmäßig gestalten und durchdringen zu können, darf und muss sich praktische Vernunft in der Lage wissen, das Dasein G o t t e s , die Beständigkeit des intelligiblen Ich sowie die schließliche Wirklichkeit einer Welt realisierter Freiheit als theoretische Hypothesen mit praktischer Vernunftgeltung zu postulieren. Während die theoretische Vernunft unvermögend ist, ihrem Verlangen nach einer absoluten Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten objektive Geltung zu verschaffen, ist die der spekulativen - aus Gründen zu fordernder Selbstentsprechung der Vernunft - vorzuordnende praktische Vernunft mit Vernunftnotwendigkeit dazu bestimmt, die unbedingte Totalität ihres Gegenstandes als conditio sine qua non ihrer selbst in Anschlag zu bringen. Kants Primärbezeichnung für die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft ist das höchste G u t . Fungiert als oberstes G u t der Sittlichkeit Tugend als Würdigkeit zur Glückseligkeit, so beinhaltet das höchste und vollendete G u t die Einheit von Tugend und Glückseligkeit. Dabei bleibt die Tugend als das oberste G u t die Bedingung des höchsten Gutes insofern, als die vollendete Einheit von Tugend und Glückseligkeit nur nach Maßgabe der Tugendhaftigkeit gedacht werden kann; ein praktischer Ungedanke, der tendenziell der Unsittlichkeit zuneigt, wäre nach Kant indes nicht nur die Forderung einer nicht tugendbedingten Glückseligkeit, sondern auch die metaphysische Annahme beständiger Inkongruenz von Tugend und Glückseligkeit. U m sie zu vermeiden, ist praktische Vernunft nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, die Idee des höchsten G u tes und mit ihr diejenige G o t t e s , der unsterblichen Seele und der intelligiblen Welt realisierter Moral auszubilden. D i e Idee der Existenz G o t t e s ist ein konstitutives Implikat der Idee des höchsten Gutes, da nur ein Wesen, das absoluter Sittenrichter und allmächtiger H e r r der sinnlichen Welt zugleich ist, die Übereinstimmung von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit, Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Glückseligkeit und Tugend zu gewährleisten vermag. Aus diesem Grund ist es moralisch notwendig, das D a sein G o t t e s anzunehmen. Das moralische Postulat G o t t e s als eines h ö c h sten ursprünglichen Gutes hinwiederum ist mit demjenigen einer die Intelligibilität der Freiheit gewährleistenden und die Einheit von Glückseligkeit und Sittlichkeit realisierenden Welt untrennbar verbunden. Diese wird als abgeleitetes höchstes Gut in der Idee eines Reiches G o t t e s vorstellig, in welcher N a t u r und Sitte vollkommen (also nach Maßgabe der Sittlichkeit) eins sind. 2 Zusammen mit dem höchsten Wesen G o t t e s und einer intelligi2
Im Kontext des moralischen Reich-Gottes-Postulats kann dann auch vom „Ende aller
D i n g e " sinnvoll die Rede sein, wie die gleichnamige Schrift von 1794 (Akad. Ausg. V I I I ,
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blen Welt hat schließlich auch die Unsterblichkeit der Menschenseele als Postulat der reinen praktischen Vernunft Anspruch auf moralische Objektivität, sofern nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdauernden Ichexistenz verlässlich auf eine letztendliche Ubereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit gehofft werden kann, die den Gesetzen der Pflicht gemäß ist. Zusammenfassen lässt sich die Postulatenlehre in dem Satz: weil Freiheit sein soll, ist sie. D a s s Freiheit sein soll, weiß praktische Vernunft mit G e wissensgewissheit, was sie wiederum zur Annahme berechtigt und verpflichtet, dass der Freiheit G r u n d und Wirklichkeit z u k o m m t . Was der Theorie als getrennt erscheinen muss, gilt ihr als differenzierte Einheit dergestalt, dass die Theorie durch die Differenz von Theorie und Praxis bestimmt ist, wohingegen die Praxis als die Einheit von Praxis und Theorie sich manifestiert. Anders formuliert: Während in der Theorie die Einheit von intelligiblem und sinnlichem Ich unbegreifbar bleibt, weiß das Ich sittlicher Praxis sich als die differenzierte Einheit seiner Intelligibilität und Sinnlichkeit, welches Wissen indes nichts anderes ist als die Gewissheit des Gewissens, welche die theoretische Differenz zwischen mir als Vernunftund mir als Sinnenwesen nicht aufhebt, sondern bestätigt. In theoretischer Betrachtung muss ich mir notwendig als zweifache Persönlichkeit erscheinen, als intelligibles Ich auf der einen, als empirisches auf der anderen Seite. In der Praxis stellt sich dies anders dar: Im Falle der Unmoral herrscht Zwietracht in mir selbst, wohingegen ich im praktischen Vernunftgebrauch moralischen Handelns als Vernunftwesen mit mir selbst als Sinnenwesen einträchtig und k o n f o r m zusammenwirke. Die ethikotheologischen Impli-
325-339) deutlich macht. Nach Maßgabe sinnlicher Anschauung zwar vermögen wir uns von einem Ende aller Dinge ebenso wenig einen Begriff zu machen wie von deren Anfang. Das ist deshalb so, weil die Annahme eines Beginnens oder Endens der Zeit theoretisch keinen Sinn ergibt. Das Eintreten eines Zeitpunkt anzunehmen, da die Zeit selbst aufhört, ist nach Kant „eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung. Alsdann wird nämlich die ganze Natur starr und gleichsam versteinert: der letzte Gedanke, das letzte Gefühl bleiben alsdann in dem denkenden Subject stehend und ohne Wechsel immer dieselben. Für ein Wesen, welches sich seines Daseins und der Größe desselben (als Dauer) nur in der Zeit bewußt werden kann, muß ein solches Leben, wenn es anders Leben heißen mag, der Vernichtung gleich scheinen: weil es, um sich in einen solchen Zustand hineinzudenken, doch überhaupt etwas denken muß, Denken aber ein Reflectiren enthält, welches selbst nur in der Zeit geschehen kann. - Die Bewohner der andern Welt werden daher so vorgestellt, wie sie nach Verschiedenheit ihres Wohnorts (dem Himmel oder der Hölle), entweder immer dasselbe Lied, ihr Hallelujah, oder ewig eben dieselben Jammertöne anstimmen (...): wodurch der gänzliche Mangel alles Wechsels in ihrem Zustande angezeigt werden soll." ( A . a . O . , 334f) Ubersteigt sonach die Idee eines Endes aller Dinge alle menschliche Fassungskraft, so ist sie gleichwohl „mit der Vernunft in praktischer Beziehung nahe verwandt" ( A . a . O . , 335), sofern sie als moralisch zu postulierendes Hoffnungsziel aller Sittlichkeit zu gelten hat, in welchem Tugend und Glückseligkeit vollendet eins sein werden.
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kationen dieses Sachverhalts werden in Kants Religionsschrift im Einzelnen expliziert. Der neuzeitspezifische Allgemeinbegriff der Religion verdankt seine Bedeutung im Wesentlichen einem durch die Spaltung der westlichen Christenheit initiierten Prozess der Differenzierung zwischen konfessionell strittigen und solchen - das menschliche Transzendenzverhältnis betreffenden - Uberzeugungsbeständen, die überkonfessionellen Anspruch auf fundamental- und universalanthropologische Geltung erheben können. Die für den generalisierten Begriff der Religion in der Moderne kennzeichnende Differenzierung zwischen der ihm eigenen Allgemeinheit und der Besonderheit spezifischer Uberlieferungen reflektiert sich in der Unterscheidung etwa zwischen natürlich-vernünftiger und positiv-geoffenbarter Religion, wie sie seit Herbert von Cherbury immer wieder begegnet, oder zwischen individueller Privatreligion und professioneller Fachgelehrtentheologie im Dienste öffentlich-kirchlicher Religion, wie sie sich exemplarisch bei Johann Salomo Semler findet. Umgriffen waren diese Unterscheidungen unbeschadet ihrer Differenziertheit in aller Regel von der selbstverständlichen Gewissheit bewusstseins- und subjektivitätstranszendenter Realität der traditionellen Grundannahmen rationaler Metaphysik. Das wird mit Kant paradigmatisch anders: Gott, Weltganzes und unsterbliche Seele verlieren den Status theoretisch verifizierbarer Realitäten und substantialer Vorgegebenheiten, um Funktionen moralischer Selbstverständigung der auf praktischen Vernunftgebrauch verwiesenen Subjektivität des Menschen zu werden. Moraldienlichkeit begründet die Vernunft der Religion und die Einheit ihres Begriffs, welche Kant dezidiert gegen pluralistische Auflösungstendenzen geltend macht: „Verschiedenheit der Religionen", so heißt es im ersten Zusatz der Schrift „Zum ewigen Frieden" (Akad. Ausg. VIII, 367 Anm.), „ein wunderlicher Ausdruck! gerade als ob man auch von verschiedenen Moralen spräche." Wohl gebe es differente religiöse Glaubensweisen historischer Art, aber nur eine einzige Religion, die anthropologische Universalität und zeitinvariante Geltung berechtigterweise beanspruchen könne. Deren Glaubensbekenntnis hat Kant analog den altkirchlichen Symbolen in drei Artikeln entfaltet: „Ich glaube an einen einigen Gott, als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck; - Ich glaube an die Möglichkeit, zu diesem Endzweck, dem höchsten Gut in der Welt, sofern es am Menschen liegt, zusammenzustimmen; - Ich glaube an ein künftiges ewiges Leben, als der Bedingung einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr möglichen Gut." So steht es zu lesen in der Antwort auf die Frage, welches die wirklichen Fortschritte sind, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolfis Zeiten in Deutschland gemacht hat (a.a.O. [Anm.7], 636 = 116). Das moralreligiöse Credo Kants bekennt erstens das allverpflichtende Wesen Gottes, der als oberster Sittenherr und Schöpfer der Welt Naturkausalität und Kausalität
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aus Freiheit zu vereinen vermag, zweitens die Freiheit des Menschen, der seine Pflicht gegen alle natürlichen Widerstände zu behaupten und durchzuführen imstande ist, sowie drittens die Unsterblichkeit als einen Zustand, in welchem sich Sittlichkeit und Sinnlichkeit in einem moralisch wohlproportionierten Verhältnis befinden werden. Damit ist die dem Gesetz praktischer Vernunft folgende wahre Lehre der einen natürlichen und rationalen Religion umschrieben, welche die Bemessungsgrundlage aller statutarischen Lehren historischer Religionen und ihres offenbarungstheologisch aufbereiteten Kirchenglaubens bilden. Auch die dogmatischen Traditionsbestände des Christentums, wie sie im Kanon der Bibel inbegriffen sind, haben sich nach Kant an den Grundsätzen vernünftiger Moralreligion zu bemessen. Alle Bibelauslegung muss deren Prinzipien gemäß erfolgen, welche als Maßstab der Kritik und (Re) Konstruktion der gesamten christlichen Uberlieferungsgeschichte und der von ihr beanspruchten Offenbarungsgehalte fungieren. Es gilt die hermeneutische Devise: Wahrhaft religiös ist allein, was der Realisierung übersinnlich begründeter Sittlichkeitszwecke unter den Bedingungen der Sinnlichkeit dient, wohingegen der Glaube an einen bloßen Geschichtssatz „todt an ihm selber" (Akad. Ausg. VII, 66) ist. Dass es schierer Aberglaube ist, die Annahme von Geschichtstatsachen zur religiösen Pflicht zu erklären, gilt Kant als ausgemacht. Zwar stellt er in Rechnung, dass religiöse Vergemeinschaftung unter irdischen Bedingungen nur im Medium der Geschichte statthaben kann. Zum Kirchenglauben gehöre daher durchaus historische Gelehrsamkeit, wie sie in der theologischen Fakultät gepflegt werde. Nichtsdestoweniger finde Theologie - analog zu Juristerei und Medizin als den beiden anderen positiven Wissenschaften, die mit ihr zusammen die sog. oberen Fakultäten bilden - das Fundament ihrer Geltung erst in der sog. unteren Fakultät der Philosophie, näherhin in der reinen Vernunfterkenntnis der Metaphysik der Sitten, weil diese allein die Kongruenz von historischem Kirchenglauben und Vernunftglauben zu erweisen und damit das Christentum als Religion der Religionen, nämlich als jene historische Religion zu beweisen vermöge, die mit der einen Vernunftreligion und ihrem Formgesetz materialiter wesentlich übereinstimmt. Den stolzen Anspruch, dass die Philosophie ihre Magd sei, räumt Kant im „Streit der Fakultäten" der Theologie unter diesen Bedingungen bereitwillig ein, wobei, wie er ironisch hinzufügt, noch immer die Frage bleibe, ob jene, die Philosophie, „ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt" (Akad. Ausg. VII, 28). Auf diese Frage wird unter Bezug auf Kants Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" von 1793 zurückzukommen sein, deren angemessenem Verständnis Niethammer das religionstheoretische Hauptwerk seiner Jenaer Zeit gewidmet hat, was es nahe legt, auf sie erst in diesem Zusammenhang einzugehen. Entsprechendes soll für die noch im
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selben Jahr erschienenen „Annotationes quaedam theologicae ad philosophicam Kantii de religione doctrinam" von G o t t l o b Christian Storr gelten. D o c h bedarf der Tübinger Supranaturalismus zuvor einer kurzen - auf seine Grundsätze ausgerichteten - Betrachtung, weil andernfalls weder die erwähnte Storrschrift noch Niethammers Verhältnis zu ihr verstehbar werden.
9. Tübinger Supranaturalismus
Der bedeutendste akademische Lehrer der Tübinger Universität zur Studienzeit Niethammers war zweifellos Gottlob Christian Storr (1746-1805), seit 1777 außerordentlicher Professor der Philosophie, im Jahr darauf der Theologie, seit 1786 schließlich bis zu seiner 1797 erfolgten Ernennung zum Oberhofprediger und Konsistorialrat in Stuttgart dritter theologischer Ordinarius. Seine 1793 in lateinischer Sprache erschienene, bereits Jahre vorher in Vorlesungen traktierte Dogmatik „Doctrinae christianae pars theoretica e sacris litteris repetita" (deutsch 1803), die in Württemberg zeitweise als offizielles Lehrbuch Verwendung fand, hatte er ganz auf die systematische Entfaltung der biblischen Hauptlehren und ihre Verteidigung gegen Angriffe des Zeitgeistes angelegt. Apologetischen Zwecken diente insbesondere die Bezugnahme auf Kants Erkenntnistheorie, die beweisen sollte, dass philosophisches Wissen auf die endliche Sphäre der sinnlichen Welt beschränkt und daher zur Feststellung und Beurteilung übersinnlicher Offenbarungstatsachen weder befähigt noch befugt sei. Durch klare Einsicht in die Grenzen der Vernunft habe Kant Raum für den Glauben geschaffen, dessen - auf der Autorität der Heiligen Schrift und der in ihr beurkundeten Gottesoffenbarung basierende - Gewissheit vernünftigerweise durch kein Wissen infrage gestellt werden könne. Ein Recht zur Bibelkritik wird der Vernunft mithin dezidiert bestritten, weil die von der Schrift bezeugte übersinnliche Offenbarungswirklichkeit nicht in ihre Zuständigkeit falle. Statt die üblich gewordene Überheblichkeit der Vernunft, die aus mangelnder Einsicht in die eigenen Grenzen folge und daher nicht als aufgeklärt, sondern als unaufgeklärt zu beurteilen sei, weiter zu befördern, habe Kant sie zu heilsamer Selbstbeschränkung veranlasst. Halte sich die Vernunft in den Grenzen, die ihr durch Kant gesteckt seien, dann habe sie nicht nur von der Behauptung erwiesener Unmöglichkeit suprarationaler Offenbarung Abstand zu nehmen, sondern deren vernünftige Möglichkeit offen einzuräumen. Aufgabe der Theologie sei es dann, die übernatürliche Faktizität der Offenbarungswirklichkeit aufgrund des Zeugnisses der Heiligen Schrift aufzuzeigen und deren Gehalt lehrhaft zu ordnen. Storr vertrat einen biblischen Supranaturalismus, demzufolge die in der Heiligen Schrift enthaltene, durch Autorität und Wunder beglaubigte übernatürliche Wahrheit den Inhalt des christlichen Glaubens bildet. Kants Restriktion von Erkenntnis auf Gegenstände möglicher Anschauung versuchte er für die Verteidigung des Offenbarungsglaubens dadurch nutzbar zu machen, dass er rationale Kritik an den in der Bibel beurkundeten übersinn-
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liehen Wahrheiten als eine unstatthafte Grenzüberschreitung der auf die Sphäre der Sinnlichkeit beschränkten Vernunft deutete. „Wenn es", so Storr, „der theoretischen Vernunft nicht möglich ist, zur Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände zu gelangen, da die Erkenntnis auf die empirische Welt beschränkt ist, dann überschreitet die theoretische Vernunft unzulässigerweise ihre eigenen Grenzen, wenn sie die biblischen Lehren von übersinnlichen Dingen aus theoretischen Gründen läugnet." 1 Vermag die Vernunft nach Storr wegen ihrer sinnlichen Beschränktheit gegen den Offenbarungsglauben theoretisch nichts auszurichten, so bietet sie praktisch für diesen sogar einen klaren Anhalt, sofern sie die Annahme der Existenz G o t t e s , der Unsterblichkeit der Seele sowie der Zukunft des göttlichen Reiches nicht nur nicht bestreitet, sondern nahe legt, ja zur moralischen Pflicht erklärt bedarf das sittliche Subjekt dieser Annahme doch, um sich der Realisierbarkeit des sittlich G e b o t e n e n und einer letztendlichen Konvergenz von Sittlichkeit und Sinnlichkeit zu versichern! „Die rein vernünftige Forderung des Gesetzes erscheint uns nur dann nicht als in Widerspruch zu dem uns notwendig innewohnenden Streben nach Glückseligkeit stehend, wenn wir annehmen, daß die Vernunft uns mit dem Sittengesetz zugleich die Bedingung des Erreichens wirklicher Glückseligkeit vorschreibt." 2 Storr war Gründer und Haupt der sog. Älteren Tübinger Schule, zu deren engstem Kreis J o h a n n Friedrich Flatt ( 1 7 5 9 - 1 8 2 1 ) , Friedrich G o t t l i e b Süskind ( 1 7 6 7 - 1 8 2 9 ) und Carl Christian Flatt ( 1 7 7 2 - 1 8 4 3 ) , der Bruder von J o hann Friedrich, zählten. J o h a n n Friedrich Flatt lehrte seit 1785 als außerordentlicher Professor der Philosophie in Tübingen, wo er als erster Vorlesungen über Kant hielt. Literarische F r ü c h t e der Beschäftigung mit dem Revolutionär der Denkungsart waren die fragmentarischen Beiträge zur Bestimmung und D e d u k t i o n des Begriffs und Grundsatzes der Kausalität und zur Grundlegung der natürlichen Theologie in Bezug auf die Kant'sche Philosophie von 1788, Briefe über den moralischen Erkenntnisgrund der Religion von 1789 und „Observationes quaedam ad comparandam Kantianam diseiplinam cum christiana doctrina pertinentes" von 1792. Im selben J a h r wurde Flatt außerordentlicher, 1798 ordentlicher Professor der Theologie. 1796 begründete er als Zentralorgan des Tübinger Supranaturalismus das „Magazin für christliche D o g m a t i k und Moral, deren Geschichte und A n wendung im Vortrag der Religion"; ab 1803 fungierte Süskind als M i t h e r ausgeber. J o h a n n Friedrich Flatts Bruder Carl Christian gelangte erst auf U m w e gen zum Tübinger Supranaturalismus. 1797/98 hatte er „Philosophisch-ex-
1
J . Röhls, Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2002, 429.
K . - H . Hinfurtner, Biblischer Supranaturalismus. G o t t l o b Christian Storr 1 7 4 6 - 1 8 0 5 , in: F . W . Graf [Hg.], Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Bd. 1: Aufklärung. Idealismus. Vormärz, Gütersloh 1990, 113-127, hier: 121. 2
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Tübinger Supranaturalismus
egetische Untersuchungen über die Lehre von der Versöhnung des Menschen mit G o t t " vorgelegt, mit denen er einen Beitrag zur Entscheidung langanhaltender dogmatischer Streitfragen zu leisten hoffte. 3 Dabei problematisierte er die traditionelle Theorie vom Strafleiden Christi. Die Zurücknahme dieser Auffassung soll ihm von Storr zur Bedingung seiner 1804 erfolgten Berufung auf eine Dogmatik-Professur in Tübingen gemacht worden sein. Faktum ist, dass C. C. Flatt die Grundgedanken seiner Versöhnungslehre in späteren Schriften und Vorlesungen nicht mehr vertreten, sondern sich ganz der von Storr und seinem Bruder vorgegebenen Richtung angeschlossen hat. 1803 hat er Storrs Lehrbuch der christlichen Dogmatik in einer deutschen Ubersetzung mit Erläuterungen versehen herausgegeben. Der Niethammer schon aus Altergründen nahestehendste und persönlich am meisten vertraute Repräsentant der Tübinger Schule war Friedrich G o t t lob Süskind. 4 1794 gab er seiner Übersetzung von Storrs lateinischer Ab-
3 Philosophisch-exegetische Untersuchungen über die Lehre von der Versöhnung des M e n schen mit G o t t als ein neuer Beytrag zur endlichen Entscheidung der dogmatischen Streitfragen, welche sich auf diese Lehre beziehen, in zwey Theilen von M. Carl Christian Flatt, G ö t t i n gen 1797 (1. Teil), Stuttgart 1798 (2. Teil). Vgl. G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der N e u z e i t . Band 1, M ü n c h e n 1984, 261-265. 4 D. Henrich hat den Weg Süskinds hin zur Tübinger D o g m a t i k und seine Entwicklung bis zu Beginn der Lehrtätigkeit als Tübinger Professor im H e r b s t 1798 mit unüberbietbarer Gründlichkeit dargelegt (vgl. Grundlegung aus dem Ich II, 1061-1188), wobei auf das Verhältnis Süskinds zu N i e t h a m m e r wiederholt Bezug genommen wird. In Süskinds Rezension der Disputationsschrift N i e t h a m m e r s z u m Antritt seiner theologischen Professur in Jena sind die Einwände des Tübinger Supranaturalismus gegen dessen D e n k e n in großer Ausführlichkeit dargelegt (vgl. F.G. Süskind, Rezension von: Friedrich Immanuel N i e t h a m m e r , D e persuasione pro revelatione eiusque stabiliendae m o d o rationis praeceptis consentaneo, Jena 1797, in: T ü A 27. St., 2. April 1798, 209-216; 28. St., 5. April 1798, 217-224; 30. St., 12. April 1798, 233-240). Werde die Möglichkeit in Abrede gestellt, die Wirklichkeit des Daseins G o t t e s außerhalb der Idee, also über sein bloßes Gedachtsein hinaus als begründet zu behaupten, entbehre eine O f fenbarungslehre ihrer fundierenden Basis und verfalle der eigenen Bodenlosigkeit. Dass die objektive Wirklichkeit des Gottesidee rational erweisbar sei, hielt Süskind, der Suprarationalist, in gut rationalistischer Manier für ausgemacht und von der Kant'schen Philosophie nicht n u r nicht widerlegt, sondern bestätigt. Wie schon Storr versuchte auch Süskind, Kant gegen diejenigen in Stellung zu bringen, die aus den Prämissen seiner Philosophie Folgerungen zogen, die den Tübinger Supranaturalisten als tendenziell oder manifest atheistisch gelten mussten. Als die Entwicklung des D e n k e n s eine Richtung nahm, die über die Problemkonstellationen im unmittelbaren Umkreis der Kant'schen Schule hinauswies, stellte sich Süskind zwar auf die veränderte Lage ein, wie seine kritischen Auseinandersetzungen mit Schelling, de Wette und Schleiermacher belegen; aber das Ziel der Angriffe war dasselbe wie ehedem, und die Position, von der aus er sie führte, keine andere als die bereits bisher eingenommene. G o t t ist weder jene absolute Alleinheit, deren transzendentale Anschauung gewahr zu werden vermeint, noch das Universum, in Anbetracht dessen sich das Gefühl ungeteilter Gänze des Daseins einstellt, sondern ein ichjenseitiges, transmundanes, in sich subsistierendes Wesen, das objektiv u n d in absoluter Unabhängigkeit vom menschlichen Denken u n d Trachten existiert sowie über Persönlichkeit, Bewusstsein und Willen verfügt. Göttliche O f f e n b a r u n g hinwiederum hat nicht als ein
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handlung über Kants Religionslehre eine Studie bei mit dem Titel: „ Ü b e r den aus Prinzipien der praktischen Vernunft hergeleiteten Uberzeugungsgrund von der Möglichkeit und Wirklichkeit einer O f f e n b a r u n g " . Drei Jahre später veröffentlichte Süskind im Flatt'schen Magazin einen Beitrag „ U b e r das Recht der Vernunft in Ansehung der negativen Bestimmung des Inhalts einer O f f e n b a r u n g " , der sich neben Kant vor allem mit Fichte auseinandersetzte. Kritische Texte zu Schellings Philosophie folgten. Süskinds Bemühen ging weniger dahin, das System Storrs, zu dem er sich seit 1794 öffentlich bekannte, materialiter auszubauen, sondern es in seinen fundamentaltheologischen Grundlagen zu sichern und zu verteidigen. Dies lässt sich aus seinen zahlreichen, zum Großteil anonym erschienenen Rezensionen ebenso ersehen wie aus den apologetischen und exegetischen Abhandlungen, die Süskinds N a m e n tragen. Sein Hauptinteresse richtete sich auf die Befestigung des Offenbarungsbegriffs in seiner supranaturalistischen Fassung. O f f e n b a r u n g ist Mitteilung übervernünftiger Wahrheiten, die aus G o t t e s Absicht hervorgehend auf göttliche Autorität hin zu glauben sind. Dieses Offenbarungsverständnis setzt die Uberzeugung voraus, dass G o t t nicht lediglich als Vernunftidee sein Dasein hat, sondern unabhängig von seinem Gedachtsein existiert. Dass er die Objektivität der Existenz G o t t e s bzw. die Möglichkeit leugnete, sich ihrer aufgrund theoretischer und praktischer Vernunft zu versichern, hielt Süskind für den Grundschaden eines Kantianismus, wie ihn sein ehemaliger Freund D i e z in religionskritischer Absicht vertrat. Entsprechende Einwände hat Süskind gegen Niethammer geltend gemacht, dem er ebenfalls vorwarf, er gebrauche die Idee G o t t e s in praktischem Vernunftinteresse lediglich so, als ob dieser existiere. Ein rechtes Verständnis göttlicher O f f e n b a r u n g müsse unter dieser Bedingung von vornherein verfehlt werden, da es der Basis entbehre. Mit dem Verweis auf Süskinds Niethammerkritik ist bereits angezeigt, was im Folgenden Gegenstand ausführlicher Darstellung sein wird. Allen Tübinger Supranaturalisten ist das Bemühen gemeinsam, „der Zeitphilosophie Zugeständnisse zu Gunsten ihres Offenbarungsstandpunkts abzuringen. Sie berufen sich für die Denkbarkeit der Offenbarung, die sie als Mitteilung höherer Wahrheiten verstehen, auf die Schranken der menschlichen Vernunft und rechtfertigen den Glauben an sie durch den Hinweis auf ihren
Erschließungsgeschehen statt, in welchem dem Ich der B e s t i m m u n g s g r u n d seiner selbst und seiner Welt aufgeht und zu einer Gewissheit gelangt, die vernünftiger Einsicht und sich wissender Selbsttätigkeit g e m ä ß ist; sie vollzieht sich vielmehr als ein von Wundern beglaubigter Vorg a n g übernatürlicher Belehrung, die G o t t nach seinem R a t s c h l u s s und Willen ergehen lässt, damit sie von den M e n s c h e n a u f g r u n d ihres göttlichen Ergangenseins f ü r wahr gehalten und geglaubt werde.
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Wert für die Beförderung der Moralität." 5 Damit ist in knapper Zusammenfassung die Position charakterisiert, von der sich N i e t h a m m e r unter Berufung auf Kant kritisch und konstruktiv absetzen wollte. Ja, man wird sagen müssen, dass die Genese des Standpunkts, den N i e t h a m m e r nach seiner T ü binger Zeit als Philosoph und Theologe einzunehmen sich anschickte, mit der Emanzipation von Storr und seiner supranaturalistischen Schule weitgehend konvergiert. In Abkehr vom Storrismus nimmt Niethammers Denken eigenes Format an. Seine Denkungsart ist wesentlich durch den Gegensatz zum Tübinger Supranaturalismus bestimmt, der über lange Zeit den zentralen Bezugspunkt seiner Kritik darstellt. Niethammers eigene Position, wie sie zu Beginn seines selbständigen literarischen Wirkens in Erscheinung tritt, ist, wenn man so will, durch die Negation der Storr'schen vermittelt. Dass das Erbe Storrs gleichwohl nicht nur in F o r m der N e g a t i o n präsent bleibt, sondern in Grundmotiven auch affirmativ fortwirkt, wird zu zeigen sein, nachdem zuvor Niethammers Begriff und Kritik des Supranaturalismus sowie Grundlinien der Religions- und Offenbarungslehre, für die er plädierte, anhand zweier seiner Schriften aus der ersten Hälfte der Jenaer Zeit im Einzelnen entwickelt worden sind. Es sind dies die philosophische Dissertation „ D e vero revelationis f u n d a m e n t o " von 1792 und ihre erweiterte deutsche Fassung, die im gleichen Jahr unter dem Titel „ U e b e r den Versuch einer Kritik aller O f f e n b a r u n g " erschien, sowie das Hauptwerk von 1794 „ U e b e r Religion als Wissenschaft zur Bestimmung des Inhalts der Religionen und der Behandlungsart ihrer U r k u n d e n " .
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Art. Tübinger Schule, ältere [Landerer/Kirn], in: RE 3 20, 148-159, hier: 156.
10. Wider die supranaturalistische Offenbarungslehre
Emanuel Hirsch hat im fünften Band seiner großangelegten „Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen D e n k e n s " (1951) Niethammers „Versuch einer Begründung des vernunftmäßigen Offenbarungsglaubens" von 1798 den rationalistischen Richtungen religiösen und theologischen D e n kens zugeordnet, die von der Grundannahme eines „in Stufen geschehenden Ubergangs vom vernünftig begründeten Offenbarungsglauben zum reinen Vernunftglauben" 1 bestimmt sind. Richtig an dieser klassifizierenden Z u ordnung ist, dass N i e t h a m m e r spätestens seit seiner Begegnung mit Kants kritischer Philosophie zur Auffassung gelangt war, „daß die Wissenschaftlichkeit der Religion nur begründet werden könne, wenn man ihre apriorische Basis in der menschlichen Vernunft ermittle" 2 , wie sie mit dem praktischen Vernunftgesetz gegeben sei. O h n e diese Vernunftbasis bleibe der religiöse Offenbarungsglaube ohne rationalen Grund und von irrationalem Aberglauben ununterscheidbar. Diese Auffassung hat N i e t h a m m e r nicht erst 1798 gegen die supranaturalistische Offenbarungslehre geltend gemacht, sondern bereits in seiner Schrift „De vero revelationis fundament o " 3 , mit deren erster Hälfte er sich am 24. August 1792 in J e n a habilitierte und deren zweite Hälfte er drei Tage darauf als künftiger Adjunkt der philosophischen Fakultät verteidigte. D i e ursprünglich teilweise auf Lateinisch verfasste Schrift wurde unter dem Titel „ U e b e r den Versuch einer Kritik aller Offenbarung. Eine philosophische Abhandlung" 4 n o c h im Jahre 1792 insgesamt auf Deutsch publiziert. 5 Niethammers philosophische Abhandlung beginnt mit einer theologischen Ekloge auf Kants kritische Philosophie, durch welche der Theologie ein unschätzbarer Dienst erwiesen worden sei. D e n n Kant habe das Problem des Verhältnisses von Wissen und Glauben, Vernunft und O f f e n b a -
1 E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Fünfter Band, Gütersloh 5 1 9 7 5 , 16. 2 J . Röhls, Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. I: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, 302.
F . I . Niethammer, D e vero revelationis fundamento, Jena 1792. F.I. Niethammer, U e b e r den Versuch einer Kritik aller Offenbarung. Eine philosophische Abhandlung, Jena 1792. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 5 Zu Einzelheiten der Veröffentlichungsgeschichte vgl. D. Henrich, Grundlegung aus dem Ich II, 945. 964 f. J
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rang erstmals einer plausiblen Lösung zugeführt. In Bezug auf den Offenbarungsglauben sei es grundsätzlich gelungen, „seinen Umfang zu berichtigen, seine Gränzen zu bestimmen und sein Fundament zu begründen" (4). Der Offenbarungsglaube und mit ihm die Theologie als die Wissenschaft von der Offenbarung seien damit auf eine völlig neue Basis gestellt worden. Dies versucht Niethammer in Kritik und Konstruktion zur Geltung zu bringen, wobei der konstruktive Teil an Fichtes Schrift anschließt, die den Gesamttitel vorgibt, ohne doch für den kritischen Teil von grundlegender Bedeutung zu sein. Dessen Ergebnis resultiert vielmehr unmittelbar aus kantischen Prämissen und ist unabhängig von Fichtes „Versuch einer Kritik aller Offenbarung" zustande gekommen. Niethammers Kritik supranaturalistischer Offenbarungslehre ist in der Perspektive einer reinen Vernunftreligion im Sinne Kants formuliert. Die Position, die er in offenbarungskritischer Hinsicht einnahm, stand ihm bereits vor Publikation von Fichtes Offenbarungskritik fest. 6 Auch lassen sich keine spezifischen Einflüsse erkennen, die über Kant hinaus auf Niethammers Jenaer Lehrer Reinhold und dessen Elementarphilosophie verweisen.7 Der erste, der Kritik supranaturalistischer Offenbarungslehre gewidmete Teil von Niethammers für den Buchmarkt aufbereiteter Doppeldissertation (vgl. 8-48) zielt auf den Aufweis, dass es keine hinreichenden theoretischen Uberzeugungsgründe für die Realität einer tatsächlich ergangenen Offenbarung gebe. Zum Zweck dieses Erweises wird nach anfänglicher Benennung äußerer Entstehungsursachen für die Vorstellung von Offenbarung deren traditioneller Begriff durch Zurückführung auf seine allgemeinsten Merkmale entwickelt. Es ergeben sich folgende formale Bestimmungen: Offenbarung bezeichnet eine Ankündigung oder Bekanntmachung überhaupt, näherhin eine Bekanntmachung, die durch Gott geschieht und zwar nicht auf mittelbare, sondern auf unmittelbare Weise. „Offenbarung in eigentlicher Bedeutung ist also: unmittelbare Bekanntmachung durch die Gottheit." (18) Genauer handelt es sich dabei um eine unmittelbare göttliche Bekanntmachung einer vorher noch nicht bekannten Wahrheit, „mit einem Wort: eine von Gott unmittelbar geschehene Belehrung" (ebd; bei N. gesperrt.).
Vgl. näherhin a . a . O . II, 9 4 5 - 9 7 9 . Mit einem System, „welches die in der F o r m der Vernunft gegründete Idee von der G o t t heit aus übernatürlichen Erscheinungen ableitet" (C.L. Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Erster Band, Leipzig 1790, Vorrede, X ) , wollte Niethammer ebensowenig etwas zu tun haben wie Reinhold, dessen Kritik am Supranaturalismus er teilte, ohne deshalb an seiner Grundsatzphilosophie längerfristigen Gefallen zu finden: „(T)he methodological principle that Reinhold articulated governed the development from himself to Fichte, and in turn from Fichte to Schelling, culminating in Hegel. Soon, however, other of Reinhold's students who became gifted Kantians (e. g., Friedrich Immanuel Niethammer and J o h a n n Benjamin Erhard) came to oppose his philosophy of one single principle." (D. Henrich, Between Kant and Hegel. Lectures on German Idealism, Cambridge/London 2003, 125 f) 6 7
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Ist der traditionelle Offenbarungsbegriff nach Maßgabe seiner allgemeinsten Merkmale insoweit bestimmt, so lautet die entscheidende Frage kritischer Untersuchung, auf die alle sonstigen Fragen zu reduzieren sind, o b sich theoretisch erkennen lasse, dass eine gewisse Belehrung von G o t t unmittelbar geschehen sei. Eine solche Erkenntnis kann sich nach N i e t h a m mer nicht allein in F o r m innerer Erfahrung, also in der Weise bloßer Selbsterkenntnis einstellen. D e n n was durch innere Selbsterfahrung erkannt wird, hat keinen Anspruch darauf, Offenbarungswissen im eigentlichen Sinne zu sein. U m ein solches handelt es sich nur, wenn die innere Wahrnehmung von O f f e n b a r u n g „durch eine mit ihr in Verbindung stehende Erscheinung der äußeren Erfahrung legitimirt" (19) wird. N u r wenn die innere Erfahrung durch eine unmittelbar von G o t t gewirkte Erscheinung der äußeren Erfahrung erschlossen ist, kann im eigentlichen Sinne von Offenbarung die Rede sein. Offenbarungserkenntnis hängt daher nach Niethammers Charakteristik traditioneller Revelationslehre untrennbar am Erweis der Realität und historischen Faktizität einer in der äußeren Erfahrungswelt zum Zwecke der Vermittlung vorher unbekannter Wahrheit unmittelbar gottgewirkten Erscheinung. Auch die Näherbestimmung des Inhalts einer O f f e n b a r u n g ist gemäß deren traditionellem Begriff nach N i e t h a m m e r möglich nur unter der Voraussetzung, dass G o t t historisch tatsächlich dies oder jenes, was bislang nicht bekannt war, erschlossen und gelehrt hat. Darf mit dem Nachweis der historischen Tatsächlichkeit eines solchen Erschließungsgeschehens göttlicher Belehrung gerechnet werden? „Läßt sich erkennen, daß G o t t wirklich etwas gesagt hat?" (32) Niethammers Antwort auf solche und ähnliche Fragen fällt eindeutig aus: Ein Beweis für das reale Geschehensein einer O f f e n barung in der äußeren Erfahrungswelt ist bisher nicht nur nicht erbracht, sondern grundsätzlich nicht zu erbringen. Es sei unleugbar evident und durch die Kritiker des traditionellen Offenbarungsbegriffs längst dargetan, „daß wir auf einen objektiven Ueberzeugungsgrund von dem Dasein einer O f f e n b a r u n g auf immer Verzicht thun müssen" (36). D e n n ein solcher Grund sei prinzipiell unerweisbar. Mit der T h e s e prinzipieller Unerweisbarkeit eines objektiven Ü b e r z e u gungsgrundes von Offenbarung ist nach Niethammers Urteil weder deren Nichtsein behauptet noch deren Möglichkeit grundsätzlich bestritten. Mit der logischen Möglichkeit einer Offenbarung darf unter der Voraussetzung gerechnet werden, dass ihr Begriff nicht in sich widersprüchlich ist und seine Merkmale sich nicht wechselseitig aufheben. Offenbarung ist im Prinzip möglich, wenn sie mit den formalen Bedingungen von Erfahrung im Einklang steht. U n b e s t i m m t real möglich ist sie, wie N i e t h a m m e r sagt, wenn sie den allgemeinen Bedingungen möglicher Erfahrung, also den Anschauungsformen von Raum und Zeit und den kategorialen Bestimmtheitsweisen bzw. den Begriffen der Verstandeserkenntnis k o n f o r m ist, bestimmt real
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möglich dann, wenn sie dem besonderen Gesetz der Erfahrung nicht widerspricht. Eine solche Möglichkeit ist nicht grundsätzlich auszuschließen. Ist der Beweis der Unmöglichkeit von Offenbarung sonach nicht zu erbringen, so bleibt nach Niethammer die an sich nicht unmögliche Annahme möglicher Offenbarung gleichwohl nichtssagend und ohne weiteren Belang, weil die Möglichkeit als bloße Möglichkeit ein vollkommen Leeres und Irreales ist. Denn „daß etwas reale Möglichkeit habe, erfahren wir durch die Wirklichkeit desselben; wie es möglich sei - dies einzusehen liegt ausser den Gränzen unsrer Erkenntniß." (46) Der Streit um die bloße Möglichkeit von Offenbarung führt sonach nicht weiter, sondern muss zwangsläufig auf der Stelle treten, da er seinem Wesen nach unentscheidbar ist. Kommt ungeachtet des fruchtlosen Streits über schiere Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Offenbarung alles auf den Erweis ihrer Tatsächlichkeit an, so stellt die Einsicht, dass ein objektiver Faktizitätsbeweis von Offenbarung nicht nur nicht erbracht, sondern generell nicht zu erbringen ist, vor die Alternative, entweder dem Offenbarungsglauben und mit ihm der Theologie definitiv den Abschied zu geben oder beider Begründung nicht im Bereich theoretisch fassbarer Objektivitätsaussagen, sondern im Zusammenhang praktischer Vernunft zu suchen. Ist ein Wissen von der Wirklichkeit einer Offenbarung aus objektiven Gründen heraus nicht zu erlangen, so hat deren Realität entweder als nicht gegeben und damit als faktisch unmöglich zu gelten, oder sie ist durch praktische Vernunftgründe zu fundieren und zur Gewissheit zu bringen. Nur auf der Basis praktischer Vernunft lässt sich nach Niethammer, wenn überhaupt, ein realer Offenbarungsglaube und eine theologische Wissenschaft begründen, die ihren Namen verdient. Einziger Grund und einziges Fundament jedes vernünftigen Glaubens an das Dasein übersinnlicher Gegenstände ist das Sittengesetz. Was mit ihm notwendig verbunden zu denken ist, von dem lässt sich erwarten, dass ihm ein wirklicher Gegenstand entspricht. „Wenn zur vollständigen Erfüllung des Sittengesezes Offenbarung erfordert wird, so läßt sich erwarten, daß eine Offenbarung wirklich sei. ... Ist dieser praktische Überzeugungsgrund hinreichend, einen vernünftigen Glauben an die Wirklichkeit einer Offenbarung zu begründen: so folgt die reale Möglichkeit derselben daraus von selbst; und es ist zur Befestigung unserer Ueberzeugung vollkommen hinreichend, daß die reale Unmöglichkeit aus objektiven Gründen nicht erwiesen werden kann." (48) Seinen konstruktiven Versuch, den vernünftigen Glauben an die Realität einer Offenbarung auf der Basis praktischer Vernunft zu begründen, hat Niethammer im zweiten Teil seiner Doppeldissertation in direktem Anschluss an Fichtes „Versuch einer Critik aller Offenbarung" unternommen. Bevor hierauf einzugehen ist, seien die Einwände, die im ersten Teil gegen die traditionelle Offenbarungslehre vorgebracht wurden, auf eine breitere Textbasis gestellt und um jene Aspekte bereichert, die in Niethammers reli-
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gionstheoretischer Hauptschrift „Ueber Religion als Wissenschaft zur Bestimmung des Inhalts der Religionen und der Behandlungsart ihrer U r k u n den" von 1795 vorgebracht werden. 8 Auch dieser Text, der unmittelbar durch das Erscheinen von Kants Werk über „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" und erklärtermaßen durch den Wunsch motiviert war, einen Beitrag zu dessen angemessenem Verständnis zu leisten, ist wie die Doppeldissertation in zwei Hauptteile gegliedert, einen kritischen und einen konstruktiven. Im ersten wird die Frage verhandelt, wie eine positive Offenbarungsreligion unter der Voraussetzung, dass sie einen absoluten göttlichen Ursprung habe, zu beurteilen sei, im zweiten wird erörtert, wie man eine gegebene Religion unter der Bedingung zu bewerten habe, dass sich der Beweis für ihren absolut göttlichen Ursprung nicht erbringen lässt. Die Feststellung, dass Niethammer einen theoretisch-objektiven Beweis für den göttlichen Ursprung einer Offenbarung für undurchführbar hält, wird nach dem bisher Gesagten nicht überraschen. Dennoch lohnt es sich, seinen Begriff traditioneller Offenbarungslehre, deren Kritik die Voraussetzung des eigenen Religions- und Offenbarungsverständnisses bildet, noch genauer zu profilieren. Soll der göttliche Ursprung einer positiven Religion realiter erwiesen werden, so erfordert dies nach Niethammer einen evidenten Beleg für das faktische Geschehensein der Offenbarung, welche die Positivität der Religion begründet. U m eine im Inneren wahrgenommene Kundgabe aus der übersinnlichen Welt als solche zu beglaubigen, müsse ihr eine nachweisbare Tatsache aus der sinnlichen Welt zur Seite treten, die sich in der äußeren Erfahrungswelt erkennbar manifestiere. Ansonsten verfalle der Offenbarungslaube dem Verdacht fiktiver Einbildung. Eine wahrhaft begründete Überzeugung vom göttlichen und nicht lediglich menschlichen Ursprung einer Religion sei daher möglich nur, „wenn sich unwidersprechlich erweisen läßt, daß zur Bestätigung einer solchen Religion Thatsachen aus der übersinnlichen Welt wirklich geschehen seien" (22). Ein solcher Erweis habe sich aus zwei Komponenten zusammenzusetzen: Zu beweisen sei erstens das Geschehensein der Offenbarungstatsachen als Tatsachen; diesen Beweis habe der Historiker auf der Basis geschichtlicher Zeugnisse zu erbringen. Zu beweisen sei zweitens, dass es sich bei den besagten, in ihrer Historizität zu verifizierenden Tatsachen tatsächlich um übersinnliche Faktizitäten handle; diesen Beweis habe der Philosoph zu leisten. Was das Verhältnis beider Beweis Vollzüge betrifft, so müsste der Historiker nach Niethammer auf die Einwendungen des Philosophen nur dann hö-
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F.I. Niethammer, U e b e r Religion als Wissenschaft zur Bestimmung des Inhalts der Religionen und der Behandlungsart ihrer U r k u n d e n , Neu-Strelitz 1795. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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ren, wenn dieser die Unmöglichkeit einer Offenbarungstatsache zu beweisen vermöchte. Ob sich die Möglichkeit derselben philosophisch begreifen lasse, bleibe für den Historiker hingegen gleichgültig. Er könne sich damit zufrieden geben, dass der Philosoph ihre NichtUnmöglichkeit einräume. Im Übrigen sei ihm abzuverlangen, das wirkliche Geschehen- oder Nichtgeschehensein der Tatsache kategorisch zu erweisen, von welcher in Frage steht, ob es ein Faktum aus der übersinnlichen Welt sei. Vermag der Historiker einen kategorischen Beweis für die Tatsächlichkeit der Offenbarungstatsache nicht zu erbringen, „so ist der Erfolg für unsern Zweck um gar nichts besser, als wenn das Gegentheil wirklich erwiesen wäre" (27). Denn ein lediglich problematisches Urteil über die Faktizität einer behaupteten Offenbarungstatsache verfehle just deren Tatsächlichkeit. Der Philosoph seinerseits ist nach Niethammer gehalten zu zeigen, „daß die außerordentlichen Begebenheiten, deren wirkliches Geschehensein der Historiker beweist, wirklich Thatsachen aus der übersinnlichen Welt seien" (31). Er muss nachweisen, „daß die Begebenheiten schlechterdings nicht Wirkungen irgendeiner Naturursache sein können; denn nur dadurch kann er den Schluß rechtfertigen, daß sie also nothwendig (und an diesem ,nothwendig' hängt die ganze Schlußkraft) Wirkungen einer übersinnlichen Ursache sein müssen." (Ebd.) Der Beweis für den göttlichen Ursprung einer gegebenen Religion ist nach Niethammer nur erbracht, wenn erstens historisch das wirkliche Geschehensein der Offenbarungstatsachen, auf welche sich das Gegebensein der Religion gründet, und wenn zweitens philosophisch dargetan ist, dass diese faktischen Tatsachen Wirkungen einer übersinnlichen Ursache sind. Erst wenn beide Beweise geleistet sind, darf die Uberzeugung vom göttlichen Ursprung einer Offenbarungsreligion als fundiert gelten. Für diesen Fall hätte die Theologie insgesamt nur eine einzige Aufgabe: nämlich das gegebene Ganze der durch Tatsachen von historisch erwiesener Faktizität und philosophisch verifizierter Übersinnlichkeit beglaubigter Offenbarungswahrheit in einem System zu vereinen oder doch zumindest in einem Aggregat zusammenzuordnen. Andere Grundsätze, den Inhalt einer gegebenen Religion zu bestimmen, müssten hingegen als heterolog ausgeschieden werden. Dies gelte sowohl für das Prinzip, demzufolge der positive Gehalt einer Religion aus deren Allgemeinbegriff zu deduzieren sei, als auch für dasjenige, wonach ein allgemeiner Gottesbegriff die Basis der Inhaltsbestimmung einer gegebenen Religion bilde. Um den Inhalt einer positiven Religion zu bestimmen, verbleibe im angegebenen Fall nur das Prinzip schieren Gegebenseins übersinnlicher Offenbarungsfaktizität. Aus dem Begriff solchen Gegebenseins muss sich nach Niethammer von selbst die oberste und einzige Regel ergeben, die beim Aufstellen des inhaltlichen Ganzen einer positiven Religion nach traditioneller Offenbarungslehre wissenschaftlich zu befolgen sei: „daß alles bloß historisch" (59), will
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heißen: als ein durch die reine Faktizität seines göttlichen Gegebenseins Beglaubigtes zu behandeln sei. D a s Gegebensein einer gegebenen Religion ist unter diesen Bedingungen nach Niethammer als absolute Positivität zu behaupten. Eine andere Begründung als die mit der schieren Faktizität der O f fenbarungstatsache gegebene, auf deren Positivität allein positive Religion zurückzuführen sei, könne und dürfe nicht unternommen werden, wenn konsequent verfahren werde. Niethammer zögert nicht, dem supranaturalistischen Biblizismus seiner Zeit, wie er ihm in Gestalt Storrs und seiner Schule in Tübingen begegnete, solche innere K o n s e q u e n z dort zu bescheinigen, wo dieser sich buchstäblich an den Wortlaut der Heiligen Schrift als der allein durch ihre eigene Autorität beglaubigten Offenbarungsurkunde positiven Christentums hält. Vorausgesetzt, dass sich der absolut göttliche U r s p r u n g der christlichen Religion biblisch-reformatorischer Prägung als Faktum historisch erweisen lasse, sei dieses Verfahren folgerichtig und alternativlos; der Inhalt des reformatorischen Christentums müsse dann allein nach dem Buchstaben der Schrift bestimmt werden, an dem der Sinn christlichen Glaubens unmittelbar hänge. Dieser Sinn habe die Gestalt strikten Literalsinnes, wohingegen von philosophischen Gesichtspunkten geleitete Allegoresen fernzuhalten seien. Gesetzt, um es zu wiederholen, der göttliche U r s p r u n g der biblischen U r k u n d e ist durch die Tatsächlichkeit der in ihr bezeugten übersinnlichen O f f e n b a r u n g beglaubigt, dann muss ihre göttliche Autorschaft förmlich behauptet und jedes prinzipielle Abweichen von der klassischen Verbalinspirationstheorie oder vergleichbaren Theorien als häretisch bekämpft werden. Alles andere wäre inkonsequent. Schätzt Niethammer an einem supranaturalistischen Biblizismus, der seinem Begriff entspricht, die innere K o n sequenz, mit der er den eigenen Grundsätzen folgt, s o ist er als Philosoph und Theologe doch weit davon entfernt, diese Prämissen zu teilen und zu übernehmen. Er hält sie im Gegenteil für erwiesenermaßen falsch. Wie schon die Schrift „ D e vero revelationis f u n d a m e n t o " geht auch die M o n o graphie „ U e b e r Religion als Wissenschaft" davon aus, dass sich der göttliche U r s p r u n g einer gegebenen Religion, die christliche eingeschlossen, als Faktum historisch nicht erweisen lasse. Den Wahrheitsanspruch eines solchen Beweises hält Niethammer für nicht nur nicht verifiziert, sondern für unverifizierbar und faktisch falsifiziert. Von dieser kritischen Einsicht nehmen alle konstruktiven religionstheoretischen Versuche ihren Ausgang, die in Jena unternommen wurden. So entschieden Niethammer in der Kritik des Tübinger Supranaturalismus war, so unsicher und tastend fielen seine anfänglichen Bemühungen um eine positive Theorie von Religion und O f f e n b a r u n g auf kantischer Basis aus. Nachgerade im U m g a n g mit den Grundsätzen der Philosophie Kants, deren Gültigkeit ihm feststand, zeigt sich ein sehr beschränktes Maß an eigenständiger Produktionskraft. Der zweite, konstruktive Teil seiner
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Doppeldissertation „De vero revelationis fundamento" ist, wie der Titel der deutschen Fassung ausdrücklich zu erkennen gibt 9 , ganz von Johann Gottlieb Fichtes „Versuch einer Critik aller Offenbarung" abhängig. Die in Königsberg Ostern 1792 anonym erschienene Schrift wurde von der „Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung" als die erwartete Religionstheorie Kants begrüßt. Tatsache ist, dass Kant die binnen vier Wochen geschriebene Abhandlung für den Druck empfohlen hat. Er war es auch, der den bislang unbekannten Kandidaten der Theologie mit beifälliger Hochachtung als Verfasser benannte und damit Fichtes frühen Ruhm begründete. In der Vorrede seiner philosophischen Abhandlung „Ueber den Versuch einer Kritik aller Offenbarung" preist Niethammer Fichtes Text, den er damals „wohl noch für eine Schrift Kants gehalten hat" 1 0 , als ein Werk, welches „mit Recht unter die merkwürdigsten Erscheinungen unseres Zeitalters gezählt wird" (5), weil es „der ganzen Wissenschaft der Offenbarung eine andere Form und ein anderes Fundament gegeben" (ebd.) habe. Es sei unverkennbar deutlich geworden, „daß von allen bisherigen Gegnern sowohl als Vertheidigern der Offenbarung der eigentliche Streitpunkt verfehlt, von beiden die Gränzen ihrer Einsicht überschritten, und eben dadurch der Streit verewigt worden sei, und daß beide Theile eben darum, weil sie Entscheidungen in einem ihnen fremden Gebiete wagten, weder unter sich noch mit sich selbst einig werden konnten" (ebd.). Durch den „Versuch einer Critik aller Offenbarung" ist der Streit zwischen Rationalisten und Supranaturalisten nach Niethammer überholt, ihr Gegensatz aufgehoben und die Theorie von Religion und Offenbarung auf eine neue Basis gestellt worden. Doch müsse man befürchten, dass sich weder die eine noch die andere Seite den Ausgleich gefallen lasse und die sachlich überwundene Kontroverse daher perpetuiere und eine fruchtlose Fortsetzung finde. U m dies zu vermeiden und die Öffentlichkeitswirkung des religionstheoretischen Neuansatzes zu befördern, sieht sich Niethammer veranlasst, im zweiten Teil seiner „akademische(n) Streitschrift" (6) „De vero revelationis fundamento" durch geordnetes Zusammenstellen der inhaltlichen Hauptargumente und durch deren allgemeinverständliche Darstellung einen Beitrag zur rechten Rezeption des „Versuch (s) einer Critik aller Offenbarung" zu leisten. „Niethammer erhebt also mit der zweiten Hälfte seiner Doppeldissertation nur einen geringen Anspruch auf Originalität. Sie soll Fichtes .Versuch' so darstellen, dass er als gut begründeter Ausweg aus dem negativen Ergebnis des ersten Dissertationsteils erscheint." 1 1 O b diese
9 F . I . Niethammer, U e b e r den Versuch einer Kritik aller Offenbarung. Die nachfolgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Schrift. 1 0 D . Henrich, Grundlegung aus dem Ich II, 964. » Ebd.
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Darstellung gelungen ist, wird zu erwägen sein. Eine sachgemäße Erwägung hinwiederum ist möglich nur, wenn Fichtes Schrift zumindest in Grundzügen bekannt ist. 1 2
12 In seinen autobiographischen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1840 „Lebenslauf eines Verschollenen", die im Verlag der Keßelringschen Hofbuchhandlung zu Hildburghausen und Meiningen erschienen sind, berichtet Friedrich Karl Forberg, der Mit-, wenn nicht Hauptinitiator des Jenaer Atheismusstreits, dass ihm Reinhold nach Lektüre der Fichte'schen Kritik aller Offenbarung mit der Frage erschreckt habe: „(S)ind Sie nu(n) ein Christ? Wenn das Christenthum, sagte ich, nichts als eine Art philosophischer Moral sein will, so habe ich nie aufgehört, ein Christ zu sein, will es aber Offenbarung sein, so fühle ich noch zur Zeit das empirisch bedingte Bedürfniß nicht, unter dessen Voraussetzung der Glaube daran der Kritik zufolge allein verzeihlich sein soll. Reinhold schwieg und es war davon nie wieder die Rede." (A.a.O., 46f) Die ironische Bemerkung Forbergs ist kennzeichnend für die Art und Weise, in der „kritische" Kantianer die Fichte'sche Offenbarungsschrift rezipierten. Zu vergleichen ist dazu etwa der auch in anderer Hinsicht höchst aufschlussreiche Briefwechsel zwischen Schelling und Hegel in den Anfangsmonaten des Jahres 1795, wie er etwa in den „Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen" (hg. v. M. Frank/G. Kurz, Frankfurt a. M. 1975, 117 ff) dokumentiert ist: Schelling ist mit Hegel einig, „daß, solange jene Schlußart, die Fichte in der Kritik aller Offenbarung - vielleicht aus Akkomodation oder um seine Freude mit dem Aberglauben zu haben und den Dank der Theologen lachend einzustecken - wieder aufbrachte, noch als gültig angesehen wird, der philosophischen Torheit kein Ende ist" (a.a.O., 126). Als Schelling diese Zeilen am 4. Februar 1795 an Hegel schrieb, hatte Fichte die Position seiner Offenbarungsschrift bereits hinter sich gelassen, wie u.a. Hölderlins einerseits begeisterte, andererseits reservierte Berichte aus Jena belegen. (Vgl. den Brief an Hegel vom 26. Januar 1795, a.a.O., 123-125, hier: 124: „als absolutes Ich hab' ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich [für mich] nichts, also das absolute Ich ist [für mich] Nichts.")
11. De vero revelationis fundamento oder: Uber den Versuch einer Kritik aller Offenbarung
Johann Gottlieb Fichte (1762—1814)1, der 1794, wovon noch zu reden sein wird, Niethammers Kollege an der Universität Jena wurde, war durch die Begegnung mit Kants Denken von seiner vormalig deterministischen Weltsicht befreit und für die Transzendentalphilosophie gewonnen worden, welcher er durch seine als System der Freiheit konzipierte Wissenschaftslehre bald schon eine neue Wendung geben sollte. 2 Zur literarischen Berühmtheit 1
Ein Verzeichnis der gedruckten Schriften J.G. Fichtes, deren Publikation dieser zu seinen Lebzeiten entweder selbst besorgt oder veranlasst hat, findet sich im ersten Band der Werkreihe der J.G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (J.G. Fichte, Werke 1791-1794. H g . v. R. Lauth und H . J a c o b , Stuttgart/Bad Cannstatt 1964, 461-476). Die Veröffentlichungen der Jahre vor oder während der Jenaer Professur sind vollständig in den ersten fünf Bänden der Werkreihe (1/1-5) enthalten. N u r die „Gerichtliche (n) Verantwortungsschriften" aus Anlass des Atheismusstreits finden sich im Folgeband (1/6, 25-144) und zwar sowohl Fichtes eigene als auch die Niethammer'sche (vgl. 1/6, 91-119), deren Inhalt Fichte als gültig anerkannte. Im selben Band sind auch die beiden letzten Beiträge Fichtes f ü r das von ihm zusammen mit N i e t h a m m e r herausgegebene „Philosophische Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten" wiedergegeben (1/6, 313-389), dessen Erscheinen im Jahr 1800 eingestellt wurde. Beigefügt sind alle Erklärungen und A n m e r k u n g e n Fichtes u n d Niethammers im Philosophischen Journal der Jahre 1799 und 1800. N e b e n der Werkreihe k o m m t der Reihe der Nachgelassenen Schriften (II) in der Gesamtausgabe besondere Bedeutung zu, da Fichte wichtige seiner Schriften zwar mehr oder minder selbständig ausgearbeitet, nicht aber zum D r u c k befördert hat. Die beiden Folgeabteilungen der Fichte-Geamtausgabe enthalten Briefwechsel (III) und Kollegnachschriften (IV). Reiche Informationen zu vielfältigen Aspekten der Fichte'schen Philosophie finden sich in den im Auftrag der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft herausgegebenen Fichte-Studien. 2 Vom Determinismus wandte sich Fichte ab, als ihm im Sommer 1790 in Leipzig der transzendentalphilosophische Ansatz einleuchtete. Ein Jahr später reiste er f ü r kurze Zeit nach Königsberg, u m sich der gewonnenen Einsicht durch persönliche Begegnung mit Kant zu versichern. An O r t u n d Stelle arbeitete er in wenigen Wochen den „Versuch einer Critik aller O f fenbarung" aus, u m ihn als Gesellenstück dem Meister zu überreichen. Die erste Auflage des Textes erschien 1792 anonym u n d hat nicht nur in F.I. N i e t h a m m e r einen dankbaren Rezipienten gefunden (vgl. M. Kessler, Kritik aller O f f e n b a r u n g . Untersuchungen zu einem F o r schungsprogramm J o h a n n Gottlieb Fichtes und zur Entstehung u n d Wirkung seines „Versuchs" von 1792, Mainz 1986, 359-371). D e n Versuch einer eigenständigen systematischen Grundlegung der Transzendentalphilosophie unternahm Fichte in seinen zwischen N o v e m b e r 1792 und Januar 1794 abgefassten elementarphilosophischen Meditationen (J.G. Fichte, Eigne Meditationen über ElementarPhilosophie", in: F G A II/3, 3-266). N a c h d e m er von Februar bis April 1794 im Züricher H a u s e Lavaters vor einer kleinen erlesenen Hörerschar transzendentalphilosophische Vorlesungen gehalten und für die A L Z G.E.L. Schulzes „Aenesidemus" rezensiert hatte, ließ Fichte als Basistext seiner beginnenden Jenaer Lehrveranstaltungen zur Jubilä-
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wurde er bereits 1792, nämlich durch seinen besagten, anonym erschienenen und anfangs Kant zugeschriebenen „Versuch einer Critik aller O f f e n b a rung". 3 Fichtes Offenbarungsschrift setzt ein mit einer „Deduktion der Religion überhaupt" (§ 2). Durch die Gesetzgebung der Vernunft ist schlechthin a priori und ohne Beziehung auf irgendeinen ihr äußeren Zweck ein Endzweck aufgegeben, nämlich das höchste G u t als die Einheit höchster sittlicher Vollkommenheit und höchster Glückseligkeit zu wollen. Da nach den Gesetzen theoretischen Erkennens die Möglichkeit dieses Endzwecks ebenso wenig zu erfassen ist wie seine Unmöglichkeit, muss die Möglichkeit des höchsten Guts geglaubt und seine Realität um der Realisierbarkeit
u m s m e s s e 1794 eine Schrift „Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen " ( F G A 1/2, 9 1 - 1 5 4 ) im Buchhandel erscheinen. Zur Michaelismesse desselben Jahres folgten die ersten beiden Lieferungen der „Grundlage", deren Vorrede z u s a m m e n mit der G r u n d l e g u n g des praktischen Komplexes erst Ende Juli/Anfang A u g u s t 1795 erschien. D e r Terminus „Wissenschaftslehre" ist erstmals A n fang M ä r z 1794 nachweisbar. Er ersetzt den Reinhold'schen Begriff der Elementarlehre bzw. Elementarphilosophie, b e s t i m m t Philosophie als sich wissendes Wissen und führt ihren G r u n d auf die ursprüngliche Tathandlung z u r ü c k , in welcher das Ich sich selbst und sich selbst ins Verhältnis zu d e m setzt, was es nicht unmittelbar selbst ist. („Die Frage der Vollständigkeit der .Wissenschaftslehre' im Zeitraum von 1 7 9 3 - 1 7 9 6 " wird erörtert in d e m gleichnamigen Beitrag von R. Lauth, in: ders., Vernünftige D u r c h d r i n g u n g der W i r k l i c h k e i t . Fichte und sein U m k r e i s , N e u r i e d 1994, 57 -120; 104 ff wird auf N i e t h a m m e r Bezug g e n o m m e n . ) 3 J . G . Fichte, Versuch einer Kritik aller O f f e n b a r u n g (1792). H g . u. eingel. v. H . J . Verweyen, H a m b u r g 1983. H i e r n a c h wird im Folgenden g e m ä ß Paragraphennummerierung zitiert. Der zur O s t e r m e s s e 1792 zunächst o h n e N a m e n des Verfassers und ohne Vorwort erschienene „Versuch einer C r i t i k aller O f f e n b a r u n g " ( F G A 1/1, 1 7 - 1 6 2 ) ist das erste publizierte Werk Fichtes. D e r Text des Entwurfs- und H a n d e x e m p l a r s findet sich in F G A II/2, 2 7 - 1 2 3 ; er ist in Königsberg im Juli/August 1791 entstanden und von Fichte am 18.8. selbigen J a h r e s mit einem Begleitschreiben an Kant gesandt w o r d e n . Zur J u b i l a t e m e s s e 1793 kam eine Zweitauflage auf den B u c h m a r k t ; sie gibt Fichte als Verfasser zu erkennen. N a c h d e m dieser die O f f e n b a r u n g s schrift innerhalb von sechs Wochen 1791 im Wesentlichen z u m A b s c h l u s s gebracht hatte, w a r er nach eigenen A n g a b e n „herzlich misvergnügt" ( F G A 1/1, 5 A n m . 4 ) . Der entscheidende G r u n d der U n z u f r i e d e n h e i t ist wohl in der n u r bedingt gegebenen U b e r e i n s t i m m u n g der Schrift mit dem ichphilosophischen S y s t e m zu suchen, dessen Grundidee Fichte damals schon vorschwebte, wenngleich noch auf u n b e s t i m m t e Weise. J e b e s t i m m t e r e Gestalt die Lehre vom Ich a n n a h m , desto m e h r distanzierte sich Fichte von seinem „Versuch einer C r i t i k aller O f f e n barung". Welches Echo der Text bei den Zeitgenossen hervorgerufen hat, zeigt die A u s w e r t u n g einschlägiger Rezensionen durch M . Kessler, Kritik aller O f f e n b a r u n g , a . a . O . , 3 2 2 - 3 5 7 . Fichte w u r d e von Gegnern nicht nur vorgeworfen, er habe „die Kantische M a n i e r mit Fleiß nachgeahmt", um sich „mit dem P u b l i k u m einen Spaß zu m a c h e n " (Brief an G. H u f e l a n d in J e n a vom 28. M ä r z 1793, in: J . G . Fichte, Briefwechsel 1775-1793. H g . R. Lauth/H. Jacob, Stuttgart/ Bad C a n n s t a t t 1968 [ = F G A I I I / l ] , 3 7 7 - 3 8 0 [Nr. 136], hier: 378), seine D e d u k t i o n des O f f e n barungsbegriffs im Anschluss an Kant w u r d e zugleich als Versuch eines theoretischen Beweises für die objektive Gültigkeit der O f f e n b a r u n g s w i r k l i c h k e i t missinterpretiert, was doch, wie Fichte in einem d e m zitierten Brief an H u f e l a n d beigegebenen Schreiben an N i e t h a m m e r vermerkte, „meinen Worten, dem Geiste meiner A b h a n d l u n g , und meinen nachherigen Behauptungen geradezu widerspricht" (Brief an F.I. N i e t h a m m e r in J e n a , a . a . O . , 3 8 0 - 3 8 2 [Nr. 137], hier: 381). N i e t h a m m e r hat Fichte gegen beide U n t e r s t e l l u n g e n entschieden verteidigt.
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Ü b e r den Versuch einer Kritik aller Offenbarung
der Sittlichkeit willen praktisch, also aus Gründen der Moral, postuliert werden. Dabei gilt, dass die Annahme der Wirklichkeit Gottes als eines existierenden Wesens, in dem die höchste moralische Vollkommenheit mit der höchsten Seligkeit vereinigt und sonach das höchste Gut realisiert ist, völlig übereinkommt mit der genuinen Uberzeugung, dass der Endzweck des Moralgesetzes möglich und realisierbar sei. Die Idee Gottes beinhaltet keine objektive Erkenntnis, sondern bezeichnet die Bedingung möglicher Realisierung des höchsten Guten als Endzweck der Sittlichkeit, die moralisch erforderlich und dem sittlichen Subjekt aus Gründen praktischer Vernunft glaubensgewiss ist. Damit unter den Voraussetzungen irdischen Menschendaseins in der sinnlichen Erfahrungswelt die reale Möglichkeit bzw. Realisierbarkeit des sittlich Gesollten gewiss werde, was an sich selbst moralisch geboten ist, hat die religiöse Annahme der Existenz Gottes als des höchsten Gesetzgebers und des Garanten möglicher Verwirklichung des Endzwecks des Moralgesetzes als sittlich obligat zu gelten. Zwar fundiert die Annahme der Existenz Gottes und der Realität des höchsten Gutes nicht eigentlich die Verbindlichkeit des Moralgesetzes, dessen Achtung derjenigen Gottes vielmehr insofern vorausgeht, als alle Achtung für Gott sich auf dessen anerkannte Ubereinstimmung mit dem praktischen Vernunftgesetz gründet. Doch leistet die Religion der Moral in concreto, will heißen: unter den Bedingungen leibhaften Daseins intelligibler Wesen in der sinnlichen Welt einen unverzichtbaren Dienst, indem sie mit dem Glauben an die Postulate der praktischen Vernunft zugleich den menschlichen Willen befestigt, dem sittlich Gebotenen gegen Widerstände der äußeren und inneren Natur konsequent zu folgen. Zweierlei Arten von Religion sind gemäß ihrem allgemeinen, aus dem apriorischen Gesetz praktischer Vernunft deduzierten Begriff nach Fichte denkbar: die natürliche und die geoffenbarte. Die erste setzt das Prinzip des Übernatürlichen in uns, die zweite außer uns. In der religio naturalis ist es unmittelbar die Vernunftnatur des Menschen, in der das Göttliche vernommen wird. Die natürliche Religion ist also Vernunftreligion und von der reinen praktischen Vernunft nur insofern unterscheidbar, als sie diese in Beziehung setzt zu den Verhältnissen der Sinnlichkeit. „Ganz rein von Sinnlichkeit", sagte Fichte (§ 3), „ist in concreto keine Religion; denn die Religion überhaupt gründet sich auf das Bedürfnis der Sinnlichkeit." Durch diesen Hinweis relativiert sich in bestimmter Weise die Differenz zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion. Doch bleibt sie insofern erhalten, als in der religio naturalis vel rationalis die Offenbarung göttlicher Transzendenz und Ubernatur unmittelbar in der Vernunftnatur des Menschen statthat, wohingegen die geoffenbarte Religion die Manifestation der Gottheit im extra nos ansetzt und zwischen göttlichem Gesetzgeber und praktischem Vernunftgebot unterscheidet. Dabei sind zwei Weisen von Offenbarungsreligion möglich: „(E)ntweder die Ankündigung des Gesetzgebers außer
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uns verweist uns an unsere vernünftige N a t u r zurück, und die ganze O f f e n barung sagt, in Worten ausgedrückt, nur soviel: G o t t ist Gesetzgeber; das euch ins H e r z geschriebene Gesetz ist das Seinige; oder sie schreibt uns auf eben dem Wege, auf dem sie G o t t als Gesetzgeber bekannt macht, noch sein Gesetz besonders vor." (§ 3) Letztere F o r m von Offenbarungsreligion scheidet aus Fichtes Betrachtung aus, da nach seinem Urteil der unter Berufung auf übernatürliche Offenbarungsautorität vorgetragene Anspruch transrationaler Gesetzgebung eine zumindest potentielle Verletzung praktischer Vernunft darstellt und deren kriteriologische F u n k t i o n in Religionsangelegenheiten aushebelt. Bleibt zu fragen, o b damit nicht vernünftigerweise dem Begriff der Offenbarung überhaupt der Abschied zu geben ist. Auf diese Frage sind die nachfolgenden Erörterungen Fichtes bezogen, denen Niethammers besondere Aufmerksamkeit galt. U m die Deduktion des Begriffs der Offenbarung aus Prinzipien der reinen Vernunft a priori vorzubereiten, um die es ihm wesentlich zu tun ist, umschreibt F i c h t e den Offenbarungsbegriff vorläufig als einen „Begriff von einer durch übernatürliche Kausalität von G o t t in der Sinnenwelt hervorgebrachten Wirkung, durch welche er sich als moralischen Gesetzgeber ankündigt" (§ 4). Ist dieser Begriff b l o ß empirischen Ursprungs, oder ist er apriorisch, wenn auch nicht seiner Wirklichkeit, so doch seiner Möglichkeit nach denkbar? In ersterem Falle wäre es nach F i c h t e vergebens, über ihn zu philosophieren, weil ein lediglich empirisch begründeter Offenbarungsbegriff auf die Destruktion der Vernunft angelegt ist, die es philosophisch nicht zu verstehen, sondern zu bekämpfen gilt. Philosophisch akzeptabel ist der Offenbarungsbegriff nur dann, wenn seine Denkmöglichkeit vernunftapriorisch zu erweisen ist. Auf diesen Erweis sind Fichtes weitere Erörterungen angelegt. Lässt sich, so lautet ihre entscheidende Frage, ein Fall denken, in welchem die Bestimmungsgründe reiner Moralität nicht anders als auf sinnlichem Wege an Menschen gebracht werden können? Dieser Fall ist nach Fichte tatsächlich denkbar: „Wenn nämlich endliche moralische Wesen, d. i. solche Wesen, welche außer dem Moralgesetze noch unter N a t u r gesetzen stehen, als gegeben gedacht werden; so lässt sich, da das Moralgesetz nicht b l o ß in demjenigen Teile dieser Wesen, der unmittelbar und allein unter desselben Gesetzgebung steht (ihrem obern Begehrungsvermögen), sondern auch in demjenigen, der zunächst unter den Naturgesetzen steht, seine Kausalität ausüben soll, vermuten, dass die Wirkungen dieser beiden Kausalitäten, deren Gesetze gegenseitig ganz unabhängig voneinander sind, auf die Willensbestimmung solcher Wesen in Widerstreit geraten werden. Dieser Widerstreit des Naturgesetzes gegen das Sittengesetz kann nach Maßgabe der besondern Beschaffenheit ihrer sinnlichen N a t u r der Stärke nach sehr verschieden sein, und es lässt sich ein Grad dieser Stärke denken, bei welchem das Sittengesetz seine Kausalität in ihrer sinnlichen N a t u r entweder auf immer, oder nur in gewissen Fällen, gänzlich verliert. Sollen nun
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solche Wesen in diesem Falle der Moralität nicht gänzlich unfähig werden, so muß ihre sinnliche N a t u r selbst durch sinnliche Antriebe bestimmt werden, sich durch das Moralgesetz bestimmen zu lassen." (§ 5) Fichte deklariert die beschriebene Situation ausdrücklich als hypothetische Annahme. Aber die Hypothese, derzufolge es moralische Wesen geben könne, welche ohne O f f e n b a r u n g des sittlich Gebotenen im Medium der Sinnlichkeit unfähig zur Moralität sein würden, genügt ihm als Basis vernunftapriorischer Denkbarkeit möglicher Offenbarung. Was die Tatsächlichkeit denkmöglicher O f f e n b a r u n g betrifft, so darf nach Fichte ein empirischer Faktizitätsnachweis von der Philosophie vernünftigerweise nicht erwartet werden. Er kann aus Vernunftgründen generell nicht geliefert werden. Vernünftig begründbar ist nicht die empirische Faktizität eines O f fenbarungsereignisses, wohl aber die Möglichkeit des im Begriff der O f f e n barung vorausgesetzten empirischen D a t u m s , oder die, wie Fichte sagt, „physische Möglichkeit" (§ 7) von Offenbarung. Lässt sich hypothetisch denken und anhand empirischer Wahrnehmung wahrscheinlich machen, es sei möglich, dass, wenn auch nicht die Menschheit insgesamt, so doch einzelne Menschen oder Menschengruppen der Kausalität und Wirkkraft des Sittengesetzes wegen ihrer Verfallenheit ans Sinnliche faktisch entbehren, so ist damit auch die Möglichkeit denkbar, ja als denkbare Möglichkeit sittlich gefordert, dass die sinnliche N a t u r durch sinnliche Antriebe dazu bestimmt werden kann, sich durch das G e s e t z praktischer Vernunft bestimmen zu lassen. D a nun aber die Möglichkeit sittlichen Verfalls und moralischer Verkommenheit von Menschen keineswegs auszuschließen ist, ist auch der Fall denkbar, dass sie nicht anders zur Sittlichkeit zu führen sind als durch Religion und zu Religion nicht anders als durch O f f e n b a r u n g des göttlichen Gesetzes im Medium der Sinnlichkeit. Als Prüfmittel, welches darüber richtet, ob eine O f f e n b a r u n g wirklich von G o t t und mithin eine Religion göttlichen Ursprungs sei, fungiert nach Fichte allein die praktische Vernunft, an deren Autorität sich die Autoritätsansprüche von Religion und O f f e n b a r u n g zu bemessen haben. N u r eine O f fenbarung, die dem Sittengesetz entspricht, kann von G o t t sein, nur eine Religion, welche die Moralität befördert, hat Anspruch auf menschliches Gehör. Aus diesem Grundsatz entwickelt Fichte am Schluss seiner O f f e n barungsschrift einen Katalog von Kriterien, gemäß denen sich über die Göttlichkeit einer O f f e n b a r u n g jeweils konkret ihrer F o r m , ihrem Inhalt und der möglichen Darstellung dieses Inhalts nach befinden lässt. Die systematische O r d n u n g dieser Kriterien, die Bedingungen der Möglichkeit zu bemessen, den vernunftapriorisch deduzierten Begriff der O f f e n b a r u n g auf eine in der Sinnenwelt gegebene Erscheinung anzuwenden, ergibt sich nach Maßgabe ihres Bezugs zu den kategorialen Bestimmtheitsweisen der Q u a l i tät, Quantität, Relation und Modalität, unter deren Gesichtspunkt Fichte abschließend das Verhältnis von reinem Vernunftglauben und, wie er sagt,
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formalem, empirisch begründetem Glauben im Einzelnen zu bestimmen sucht. 4 N i e t h a m m e r n i m m t in seiner philosophischen Abhandlung „ U e b e r den Versuch einer Kritik aller O f f e n b a r u n g " 5 ausführlich auf diese und die F o l gepassagen Bezug. N a c h d e m er im zweiten, von Anfang an auf D e u t s c h vorliegenden Teil seiner Doppeldissertation zunächst v o m Dasein einer O f fenbarung überhaupt gehandelt hatte, um im Anschluss an F i c h t e deren be-
4 Das Urteil Emanuel Hirschs, wonach die Offenbarungsschrift „nur eine Episode im Fichteschen Denken" sei und sonach auch die „eigentliche Geschichte der Fichteschen Religionsphilosophie" erst mit der Konzeption der Wissenschaftslehre beginne (E. Hirsch, Fichtes Religionsphilosophie im Rahmen der philosophischen Gesamtentwicklung Fichtes, Göttingen 1914, 15; bei H. gesperrt) findet in der Fichteforschung bis heute weitgehend Zustimmung. „Gleichwohl erhebt sich die Frage, ob nicht zumindest in der Problemstellung, die Fichte mit seinen Überlegungen zur Religion und durch die verschiedenen Entwürfe der Offenbarungsschrift hindurch verfolgt, Kontinuitäten zu entdecken sind, die den garstigen Graben zur Wissenschaftslehre überbrücken helfen." (F. Wittekind, Von der Religionsphilosophie zur Wissenschaftslehre. Die Religionsbegründung in Paragraph 2 der zweiten Auflage von Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung, in: W.H. Schräder [Hg.], Anfänge und Ursprünge. Zur Vorgeschichte der Jenaer Wissenschaftslehre, Amsterdam/Atlanta 1997 [Fichte-Studien Bd.9], 101-113, hier: 101). Am völlig neu konzipierten und in den Duktus der ersten Auflage eingeschobenen zweiten Paragraphen der Folgeauflage sucht Wittekind solche Kontinuitäten aufzuweisen. Der Fortgang von der Offenbarungsschrift zu Wissenschaftslehre deutet sich nach ihm in einer gesteigerten Wahrnehmung des Problems einer Begründung der Anwendbarkeit des Sittengesetzes auf die sinnliche Natur an. „Im Unterschied zur ersten Auflage der Offenbarungsschrift, die die Begründung der Kongruenz von Tun und Ergehen noch in die Idee des Guten selbst verlegt hatte und damit zwar die Denknotwendigkeit dieser Kongruenz zeigen, aber nicht ihre Realitätsfähigkeit aufweisen konnte, liegt der Nachweis für die Anwendbarkeit jetzt in der Konstitution der Bewußtseinsvermögen: Das Gewinnen einer moralischen Gesinnung ist für den Menschen nur möglich aufgrund des vorausgegangenen Bezugs von sinnlichem Trieb und autonomem Gebot der reinen Vernunft. Hinter Fichtes Einsicht, daß in der Konstruktion des Übergangs von der reinen Vernunft zur Sinnlichkeit die eigentliche Probe der Wissenschaftslehre liege, in der sie ihre Realitätsnähe erweisen müsse, steckt anfänglich die Fragestellung der auf der praktischen Philosophie aufbauenden Religionsphilosophie. Auf diesen Fortgang von der Religionsphilosophie zur Wissenschaftslehre sollte hier hingewiesen werden." (A.a.O., 113) 5 F.I. Niethammer, Ueber den Versuch einer Kritik aller Offenbarung. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Die Schrift, deren Inhalt von M. Kessler, a.a.O., 359-371, eingehend analysiert wurde, ist Anfang September 1792 bei Christian Heinrich Cunos Erben in Jena erschienen. Diese Datierung ergibt sich aus einem Schreiben Reinholds an Baggesen, in dem es heißt: „Die in der A.L.Z. von Kant selbst eingeschickte Bekanntmachung, daß er nicht der Verfasser der Kritik aller Offenbarung sei, hat bereits die Wirkung gehabt, die ich davon befürchtet habe. Im 110. Bande der Berliner Bibliothek, 1. Stück, ist in einem Auszuge eines Schreibens, angeblich aus Königsberg, das Buch als ein höchst unbedeutender Wisch verschrien, der seine Empfehlung in gelehrten Zeitungen der bloßen Terminologie und der Meinung, er sei von Kant, zu danken gehabt habe. Dafür hat ein braver junger Mann, Adjunct Niethammer in Jena, eine trefflich verfaßte Einleitung zu, und einen guten Auszug aus diesem in meinen Augen (seit ich weiß, daß es nicht von Kant ist, nur noch mehr) bewundernswürdigen Werke schon vor acht Wochen drucken lassen." (E. Fuchs [Hg.], Fichte im Gespräch, Bd. I-VI, Stuttgart/Bad Cannstatt 1978ff, hier: I, 46f [Nr.41])
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griffliche Möglichkeit aufzuweisen, zeichnet er in einem weiteren, dem konkreten Glauben an eine bestimmte Offenbarung gewidmeten Abschnitt (93-117) die Kriteriologie der Fichte'schen Kritik aller Offenbarung minutiös und ohne Anspruch auf Originalität nach, um die nötigen Beurteilungsgrundsätze zu fundieren und in eine übersichtliche systematische Ordnung zu bringen. Im Blick auf die Form der Offenbarung als einer Ankündigung Gottes als moralischer Gesetzgeber durch eine übernatürliche Erscheinung in der Sinnenwelt ist äußerlich zu unterscheiden zwischen den Umständen, unter welchen, und den Mitteln, durch welche diese Ankündigung geschah, um sodann das Innere der Offenbarungsform ins Auge zu fassen, nämlich die Ankündigung selbst. Hieraus ergeben sich vier kriteriologische Grundsätze: 1. „Es muss zur Zeit der Entstehung einer Offenbarung dieses Bedürfnis wirklich da gewesen, und nicht schon eine andere Offenbarung unter eben den Menschen, denen diese sich bestimmte, vorhanden, oder ihnen durch natürliche Mittel leicht mitzutheilen gewesen sein." 2. „Jede Offenbarung, die sich durch unmoralische Mittel angekündigt, behauptet, fortgepflanzt hat, ist sicher nicht von Gott." 3. „Nur von derjenigen Offenbarung, welche keinen andern Zweck hat, als uns Gott als moralischen Gesezgeber anzukündigen, können wir aus moralischen Gründen glauben, dass sie von Gott sei." 4. „Jede Offenbarung, die uns durch andre Motive als die Heiligkeit Gottes, z.B. durch angedrohte Strafen, oder versprochene Belohnungen, zum Gehorsam bewegen will, kann nicht von Gott sein." (94-96; bei N. gesperrt) Was den Inhalt der Offenbarung angeht, so stellt sich die Frage, ob diese unsere Einsicht ins Ubersinnliche oder unsere Kenntnis von sittlich gebotenen Pflichten erweitert. Beide Fragen sind zu verneinen. Der Offenbarungsinhalt reichert weder unser theoretisches Wissen noch das Sittengesetz an, da eine Offenbarung, die als göttlich und damit als ihrem Begriff entsprechend gelten darf, nichts anderes als eben dies lehrt, „worauf die praktische Vernunft uns auch a priori führt: a) ein Moralgesetz, und b) die Postulate derselben." (100) Aus dieser Einsicht, derzufolge „Glaube an Gott nichts anderes ist, als Glaube an das Moralgesetz in concreto" (103), resultieren eine Reihe von weiteren Grundsätzen, von denen der folgende der wichtigste ist, weil er alle weiteren in sich enthält: „Nur diejenige Offenbarung, welche ein Princip der Moral, welches mit dem Princip der praktischen Vernunft übereinkommt, und lauter solche moralische Maximen aufstellt, welche sich davon ableiten lassen, kann von Gott sein." (101; bei N. gesperrt) Was offenbarungstheologisch über Gott, Freiheitswelt und Unsterblichkeit der Menschenseele zu lehren ist, hat diesem Kriterium zu entsprechen, an dem sowohl der Inhalt der Offenbarung als auch die Art und Weise seiner Darstellung ihr Maß finden. 6
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Niethammer schließt sich der von Fichte geforderten Revision des Offenbarungsbegriffs
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Ist unter der Voraussetzung vollkommener Übereinstimmung einer O f fenbarung mit den kriteriologischen Grundsätzen praktischer Vernunft das Urteil berechtigt, diese Offenbarung könne von Gott sein, so ist damit die Annahme, dass sie es wirklich sei, noch nicht ausgewiesen. U m zu der begründeten Überzeugung zu gelangen, dass eine gegebene Erscheinung in der Sinnenwelt wirklich eine göttliche Offenbarung darstelle, bedarf es zusätzlicher Erwägungen nicht von theoretischer, sondern von praktischer Art. Theoretisch nämlich lässt sich, wie Niethammer im Anschluss an Kant und Fichte urteilt, die Frage, ob eine Offenbarung wirklich sei, nicht nur faktisch, sondern prinzipiell nicht entscheiden. Die Frage müsste unentschieden bleiben, wenn es nicht einen praktischen Entscheidungsgrund gäbe, das theoretische Patt zwischen Für und Wider zugunsten der Bejahung der Wirklichkeit möglicher Offenbarung zu beheben. Dieser Grund ist in einer Bestimmung des Begehrungsvermögens durch das praktische Vernunftgesetz aufzusuchen, derzufolge es sittlich notwendig ist, die Realität des Begriffs der Offenbarung zu wollen und als wirklich realisiert anzunehmen für den Fall, dass das Sittengesetz seinen Einfluss auf sinnliche Menschen verloren hat und dessen Wirkung durch kein anderes Mittel als durch die Vorstellung göttlicher Gesetzgebung unter sinnlichen Bedingungen restituiert werden kann. Kurzum: „Wenn es vernünftige Wesen gibt, welche zur Sittlichkeit nicht anders zu bringen sind als durch Religion, und zur Religion nicht anders als durch Offenbarung: so sind wir berechtigt, Offenbarung als wirklich anzunehmen." (49) 7 Diese Annahme ist „ein Glaube, den
vorbehaltlos an, wonach „der einzig zweifelsfreie und vernunftmäßige Weg zur Überzeugung von der Wirklichkeit G o t t e s - der so genannte moralische Überzeugungsgrund vom Dasein G o t t e s - auch der Weg zur vernunftmäßigen Ü b e r z e u g u n g von der Göttlichkeit einer O f f e n b a rung ist" (M. Kessler, a . a . O . , 369). Nach Kessler stellt N i e t h a m m e r s Kommentar zur Fichteschrift noch deutlicher als diese heraus, „daß der dem allgemeinen Sprachgebrauch zu G r u n d e liegende Offenbarungsbegriff gerade in seiner engsten u n d prägnantesten Bedeutung einer unmittelbar von G o t t ergehenden und als solche durch äußere Zeichen beglaubigten Belehrung an einer zweifachen Unbestimmtheit kranke, weil er .erstlich die moralische Bestimmung nicht enthält, und zweitens theoretische Erweiterung der Erkenntniss nicht ausschließt'" (a.a.O., 365 f unter Verweis auf F.I. Niethammer, Ueber den Versuch einer Kritik aller O f f e n b a r u n g , 30). Im Gegensatz zu einem instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnis wird Fichtes Offenbarungsbegriff von N i e t h a m m e r folgendermaßen umschrieben: „ O f f e n b a r u n g ist . . . A n kündigung G o t t e s als moralischen Gesezgebers durch ein übernatürliches Faktum in der Sinnenwelt, dessen Caussalität wir alsbald in ein übernatürliches Wesen sezen, und dessen Zweck, es sei eine Ankündigung G o t t e s als moralischen Gesezgebers, wir sogleich erkennen." (F.I. Niethammer, a . a . O . , 51) 7 „Diese Formulierung . . . bezeichnet sehr schön und deutlich das, was Fichte die empirische Bedingung von O f f e n b a r u n g oder das bei der D e d u k t i o n des Offenbarungsbegriffs vorausgesetzte Faktum nennt. Sie läßt ferner im Zusammenhang mit der soeben zitierten Definition von O f f e n b a r u n g , in der in terminologisch modifizierender Weise der dem Sprachgebrauch eigentümliche Gesichtspunkt der Unmittelbarkeit von O f f e n b a r u n g präsent ist, erkennen, inwiefern Fichte im Unterschied zum reinen Vernunftglauben, der sich auf etwas Materielles be-
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wir zum Unterschiede von dem reinen Vernunftglauben an Gott und Unsterblichkeit, der sich auf etwas Materielles bezieht, den formalen, empirisch bedingten Glauben nennen wollen." (113; bei N. teilweise gesperrt) Der Unterschied beider und ihre Beziehung zueinander ergibt sich wie bei Fichte aus ihrer Vergleichung nach der Ordnung der Kategorien. Das Resümee seiner im Anschluss an Fichte durchgeführten Prüfung fasst Niethammer in einer bilanzierenden Verlust- und Gewinnabrechnung zusammen: „Verloren haben wir jede Hoffnung einer Erweiterung unsrer Einsichten in das Uebersinnliche, und was noch wichtiger scheinen könnte, alles Recht, andern, vorgeblich zu ihrer Seelen Heil, eine wirklich vorhandne göttliche Lehre aufzudringen, und sie dadurch entweder mit Gewalt oder durch Ueberredung ins Reich Gottes einzuführen. Da die Ueberzeugung von der Offenbarung nur durch Glauben möglich ist, so müssen wir dies Geschäft jedem selbst überlassen. Gewonnen haben wir dagegen völlige Ruhe und Sicherheit in unserm Eigenthume; Sicherheit auf der einen Seite, eben vor solchen zudringlichen Wohlthätern, die uns ihre Gaben aufnöthigen, ohne das wir etwas damit anzufangen wissen; Sicherheit auf der andern Seite vor Friedensstörern andrer Art, die uns das verleiden möchten, was sie selbst nicht zu gebrauchen wissen. Wir dürfen ohne Furcht, daß unser Glaube uns durch irgend eine Vernünftelei geraubt werde, ohne Besorgniß, daß man ihn lächerlich machen könne, ohne Scheu vor der Bezichtigung des Blödsinns, und der Geistesschwäche, ihn zu unsrer Verbesserung brauchen. Jede Widerlegung, das können wir a priori wissen, muß falsch sein, jeder Spott muß auf den Urheber zurükfallen! - Die Entscheidung wo das Uebergewicht sei, auf der Seite des Gewinns oder des Verlusts, darf nun dem Herzen eines jeden überlassen werden, mit Zusicherung des beiläufigen Vortheils, daß ein jeder dieses Herz selbst aus dem Urtheile, das es hierüber fällt, näher wird kennen lernen." (116 f)
zieht, den Offenbarungsglauben als einen formalen, empirisch bedingten Glauben bezeichnet. Während im reinen Vernunftglauben lediglich angenommen wird, daß einem Begriff überhaupt - dem Gottesbegriff - ein Gegenstand außer uns korrespondiert, wird im Offenbarungsglauben angenommen, dass ein bestimmtes Gegebenes ein diesem Begriff - dem Offenbarungsbegriff Korrespondierendes sei. Der Offenbarungsglaube unterscheidet sich gleichwohl der Qualität nach nicht vom reinen Vernunftglauben, denn jeder Glaube ist in dieser Hinsicht ,eine freie durch keine Gründe erzwungene Annahme der Realität eines Begriffs, dem diese Realität durch keine Gründe zugesichert werden kann', wie Niethammer herausstellt. Der Unterschied liegt auf der Ebene der Gegenstände des jeweiligen Begriffs und in der Art dieser Begriffe. Der Gegenstand des Gottesbegriffs ist eine reine Vernunftidee, die als solche a priori völlig bestimmt gegeben ist und sich weder durch Schlüsse noch durch Erfahrung erweitern lässt. Dagegen ist der Gegenstand des Offenbarungsbegriffs ,eine zu gebende Erfahrung ..., die also a priori gar nicht bestimmt werden kann'." (M. Kessler, a.a.O., 369f unter Verweis auf F.I. Niethammer, a.a.O., 113 f)
12. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
Nachdem man Fichtes „Versuch einer Critik aller Offenbarung" geraume Zeit für die lange erwartete Kant'sche Religionsschrift gehalten hatte, erschien diese rechtzeitig zur Ostermesse 1793 in Gänze; ihr „erstes Stück" war im Frühjahr 1792 von der „Berlinischen Monatsschrift" bereits vorab publiziert worden. Niethammer wird das Kantbuch über „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" bald intensiv studiert haben. Sein eigenes religionstheoretisches Hauptwerk, die Monographie „Ueber Religion als Wissenschaft zur Bestimmung des Inhalts der Religionen und der Behandlungsart ihrer Urkunden" von 1795, ist erklärtermaßen durch den Wunsch motiviert, einen Beitrag zum angemessenen Verständnis von Kants Religionsschrift zu leisten. Zwar liefert Niethammer keinen Kommentar oder Teilkommentar zu Kants Werk, wie er es im Falle der philosophischen Abhandlung über den Versuch einer Kritik aller Offenbarung in Bezug auf Fichte getan hatte. Doch ist seine religionstheoretische Gedankenentwicklung eindeutig an Kants Vorgaben orientiert. „Die Linienführung der Argumentation von Niethammers Schrift ist ... auf eine Rechtfertigung von Kants Verfahrensweise ausgerichtet."1 Ein sicherer Begriff von Kants religionsphilosophischer Verfahrensweise stellt sich ein, wenn man sich klar macht, wie der Philosoph die erwähnte Rolle seiner Wissenschaft als ancilla theologiae verstanden wissen will. Zwar beansprucht Kant nicht, die historische Religion des Christentums aus bloßer Vernunft zu konstruieren, wohl aber durch bloße Vernunft zu rekonstruieren, um sie auf diese Weise in reiner Gestalt zum Vorschein kommen zu lassen. Dabei wird vorweg und stillschweigend ausgeschieden, was dem moralischen Zweck vernünftiger Religion entweder nicht dient oder gar widerspricht. Für letzteres gibt die Lehre von der praedestinatio gemina ein Beispiel, welche als freiheitsdestruktiv und unsittlich beurteilt wird. Als moralisch indifferent hinwiederum werden Trinitäts-, Zweinaturenlehre oder etwa die Lehre von der leibhaften Auferstehung angesehen, sofern sie dem Buchstaben nach nichts Praktisches hergeben und nur unter der Voraussetzung überlieferungswürdig sind, dass man einen moralischen Sinn in sie hineinträgt. Bringt man die Lehrbestände historischen Christentums in Abzug, die wenn nicht moralwidrig, so doch moralisch indifferent sind und daher ge1
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trost vergessen werden können, so verbleiben Hamartiologie, Soteriologie und ekklesiologisch vermittelte Eschatologie als Hauptstücke einer Religionsphilosophie in praktischer Absicht, wie Kant sie verfolgt. Die Gliederung seiner Religionsschrift entspricht diesem Sachverhalt. Ihr erstes Stück handelt von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder über das radikale Böse in der Menschennatur, also von den Gehalten der Sündenlehre, ihr zweites von dem Kampf des guten Prinzips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen, also von der Lehre von Sühne und Versöhnung, ihr drittes schließlich vom Sieg des guten Prinzips über das böse und die Gründung eines Reiches Gottes auf Erden, also von Ekklesiologie und Eschatologie. Ein Epilog vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips oder von Religion und Pfaffentum ist als viertes und letztes Stück beigegeben. Es enthält die erwähnten hermeneutischen Grundsätze der Verhältnisbestimmung von vernünftiger und historischer Religion, welche die Religionsschrift kennzeichnen und von Kant im Streit der Fakultäten aus Anlass eines Konflikts mit der Zensurbehörde infolge des Wöllner'schen Religionsedikts in ihrer Rechtmäßigkeit vehement verteidigt wurden. Auf die materiale Durchführung der Religionsschrift Kants 2 ist im gegebenen Zusammenhang nicht einzugehen, weil Niethammer dies in seinem Werk „Ueber Religion als Wissenschaft" 3 auch nicht getan hat. In einer der eigentlichen Einleitung vorangehenden unpaginierten persönlichen Anrede an seinen „Freund H. in C." (Baron von Herbert in Klagenfurt), dem das Buch gewidmet ist, wird es zum Ziel der Ausführungen erklärt, ein richtigeres Verständnis der Methodik von Kants Religionsschrift befördern zu helfen als es angesichts der geistigen Situation der Zeit und insbesondere in der durch den Gegensatz von Rationalismus und Naturalismus bestimmten Lage von Religionswissenschaft und Theologie zu erwarten steht. Die eine, supranaturalistische Seite sei trotz aller scheinbaren Modernisierungsversuche ihrer Konzeption weiterhin vom „Geiste des trägen Orthodoxismus" beherrscht. Sie hänge ängstlich an obsoleten Formen kirchlicher Tradition und verschreie „die kleinste Aenderung an denselben als Hochverrath am Staate oder an der Religion". Auf der anderen, der rationalistischen Seite sieht Niethammer den zum Scheitern verurteilten Versuch unternommen, erkannte Wahrheit „durch gewaltsame Revolutionen ins gemeine Leben einzuführen". Dabei werde nicht bedacht, dass es zwei sehr verschiedene Din-
2 Vgl. dazu etwa G. Wenz, Theoretische Vernunftkritik in praktischer Absicht. Eine unparteiische Erinnerung an Immanuel Kants Philosophie, in: W . Thiede (Hg.), Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie, Göttingen 2004, 1 1 - 6 6 , hier: 58 ff. 3 F.I. Niethammer, Ueber Religion als Wissenschaft. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Die Einleitung ist unpaginiert. Vgl. die Rezension (Schellings) im Philosophischen Journal. Erster Band. Viertes Heft, Neu-Strelitz 1795, 386-393.
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ge seien, „die Wissenschaften aufzuklären, und die Entdeckungen der Wissenschaft unter der Menge in U m l a u f zu bringen". Wer sich bloß die Ausbildung seiner Wissenschaft ohne besondere Rücksicht auf den gemeinnützigen Gebrauch angelegen sein lasse, verkenne oft, dass der angestrengte Versuch, das Menschengeschlecht zu dem Ziele seiner Geistesbildung auf einmal hinzureißen, auf blinden Eifer und eine zweckwidrige Gewaltsamkeit hinauslaufe, die das Gegenteil dessen bewirke, was erstrebt werde. Erfordert seien pädagogisches Geschick, bedachtes Einfühlungsvermögen sowie die nötige Geduld: „Wer alles auf einmal thun will, steht sich selbst im Wege. Wir gelangen alle nur allmählich zu unserem Ziele." Jeder Lehrer, namentlich jeder Religionslehrer, zu dessen Beruf der Theologe in Kirche und Wissenschaft bestimmt sei, muss nach Niethammer den Bildungsstand seines Lehrlings berücksichtigen, wenn er erfolgreich erziehen und aufklären wolle. Mit der bloßen Zerstörung alter F o r m e n sei es nicht getan, wenn konstruktive Bildungsarbeit geleistet werden solle. Zwar sei es wahr, „dass die Menschheit im Ganzen in einem steten Fortschritt zu höherer Vollkommenheit begriffen sei, und dass sie also zu keiner Zeit auf dieser Bahn stille stehen dürfe". D o c h wirke die Kindheit des Menschengeschlechts in jedem von uns aktuell fort und sei es nur dadurch, dass wir alle als U n m ü n d i g e ins Leben getreten seien, die der dauerhaften Erziehung bedürfen. Wer dies nicht erwäge und sich nachgerade in Religionsangelegenheiten gefühllos gegenüber kindlichen Empfindungen seiner Mitmenschen verhalte, gleiche, wenn nicht dem K ö n i g und Kindermörder Herodes, s o doch einem seinem Begriff widersprechenden Landwirt, der den Weizen mitsamt dem Unkraut ausrottet. G e n u g damit: Wer Menschen erziehen und zu mündiger Religiosität bilden wolle, dürfe nicht mit Brachialgewalt vorgehen, sondern müsse pädagogische Rücksichten walten lassen. D a f ü r habe Kants Religionsschrift, wie Niethammer meint, ein glänzendes Beispiel gegeben und damit „einem sehr dringenden Bedürfniß der Zeit abgeholfen". Sie habe das Religionsproblem befriedigend gelöst und sei geeignet, „das Richtige in den angenommenen Ueberzeugungen in Schutz zu nehmen und das Unrichtige, ohne es geradezu wegzuwerfen, zu guten Absichten zu benutzen". Niethammer ist bestrebt, an das durch Kant gegebene Vorbild anzuschließen und der Kant'schen Religionsschrift, die den Supranaturalisten als ein Ärgernis, den Rationalisten als eine Torheit gelte, zu der ihr gebührenden Allgemeinwirkung zu verhelfen. Dabei will er nicht nur den vielerlei Missdeutungen entgegentreten, welche die Schrift, kaum dass sie erschienen, erfahren habe, er will auch und vor allem dazu beitragen, „den Gesichtspunkt in die Augen springender zu machen, aus welchem in jener Schrift das Verhältnis der positiven Religion zu der reinen Vernunftreligion betrachtet wird". Denn nur wenn in dieser Hinsicht Klarheit bestehe, könne die Kant'sche Religionsschrift ihre Wirkung entfalten und in Wirklichkeit jene
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„so weise praktische Anleitung zu einem zweckmäßigen Religionsunterricht" sein, die sie in Wahrheit ist. Nur wenn erkannt werde, dass Kant die positive Religion weder unmittelbar affirmiere noch auch abstrakt kritisiere, sondern konstruktiv transformiere, könne diese „von den Zusätzen, welche Zeitbedürfniß in derselben eingeführt und bisher erhalten hat, allmählich gereinigt" und zur reinen Vernunftreligion entwickelt werden. Soll eine positive Religion nicht als bloße Einbildung und willkürliche Dichtung der Phantasie gelten, muss es einen Uberzeugungsgrund ihrer Wahrheit geben. Dieser Uberzeugungsgrund kann nach Niethammer nicht im Gefühl allein bestehen, so unveräußerlich dieses der Religiosität zugehört. Denn religiöse Gefühle und die Vorstellungen, die sich mit ihnen verbinden, haben lediglich Anspruch auf subjektive Gültigkeit. Um ihre objektive Geltung zu erweisen, bedarf es des Wissens und der Wissenschaft, ohne welche die Wahrheit der Religion nicht als wahrhaft und wirklich zu behaupten ist. Ein wissenschaftlicher Wahrheitserweis der Religion kann nach Niethammer nur auf zweifache Weise geführt werden: „Entweder es läßt sich zeigen, dass jenen Gefühlen etwas transcendentales in der ursprünglichen Einrichtung des menschlichen Geistes gegründetes, zu Grunde liege; in welchem Falle die Religion als etwas dem Menschen mit seiner Vernunft selbst gegebenes, Nothwendigkeit und Allgemeinheit hat, und den Grund der Ueberzeugung von ihrer Wahrheit in sich selbst enthält. Oder wir werden von der Wahrheit d.h. der objektiven Gültigkeit jener Gefühle durch Erfahrung unmittelbar überzeugt, indem wir sie mit einer objektiv gegebenen unmittelbar göttlichen Religion übereinstimmend und eben dadurch bestätigt finden." (9) Da letzterer Wahrheitsbeweis, wie in der ersten Abteilung von Niethammers Schrift dargetan, als gescheitert zu gelten hat und eine dritte Beweisform nicht denkbar ist, verbleibt nur die Möglichkeit, die objektive Wahrheit der Religion „aus den ursprünglichen Gesetzen des menschlichen Geistes" (9; bei N. gesperrt) zu erweisen. Einen transzendentalen Beweis der objektiven Gültigkeit religiöser Vorstellungen und Gefühle will Niethammer im zweiten Teil seiner Schrift „Ueber Religion als Wissenschaft" im Anschluss an Kant führen. Nicht auf unmittelbare Erfahrung soll die Wahrheit der Religion gegründet werden, was wissenschaftlich unmöglich und in seiner Unmöglichkeit nachgewiesen sei, sondern auf dasjenige, was vor aller Erfahrung vorausgesetzt wird, um dieselbe zu ermöglichen. Da ein objektiver Begriff von den Letztbedingungen möglicher Erfahrung nach Auffassung Kants und Niethammers durch Theorie nicht zu gewinnen ist, weil die theoretische Vernunft von den transzendentalen Ideen vernünftigerweise nur einen regulativen Gebrauch zu machen vermag, kann der transzendentale Grund, der die objektive Wahrheit der Religion zu fundieren vermag, nur in der praktischen Vernunft gefunden werden. Allein von ihr kann sinnvollerweise über den Wahrheitsgehalt einer Religion und der von ihr in Anspruch genommenen Offenba-
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rungslehren befunden werden. A m Sittengesetz haben Religion und O f f e n barung das M a ß ihrer Geltung. Ihre Wahrheit bemisst sich daran, o b sie dem durch die praktische Vernunft gesetzten Endzweck angemessen sind und in Entsprechung zu ihm auf die Verbesserung der Willenshandlungen und auf die moralische Vervollkommnung des Menschen hinzielen. Moralitätsförderlichkeit ist das Wahrheitskriterium von Religion und O f fenbarung. N i e t h a m m e r stellt unmissverständlich klar, dass es mit einer bloßen Beiordnung von Moral und Religion, Vernunft und Offenbarung nicht getan ist, da dadurch zuletzt alles im Ungewissen bleibe. Die N o t w e n digkeit apodiktischer Klarheit, ohne die Wahrheitsgewissheit nicht möglich sei, stelle vor die Alternative, entweder die Vernunft der Offenbarung oder die Offenbarung der Vernunft zu unterstellen. In ersterem Falle endet nach Niethammers Urteil alles in subjektiver Dezision bzw. in der bloßen Behauptung der absoluten Positivität einer gegebenen Religion, deren Autoritätsanspruch blinde und vorbehaltlose Unterwerfung fordert. Hält man die Forderung eines dergestalten sacrificium intellectus für inakzeptabel, weil sie nicht nur unvernünftig, sondern vernunftwidrig ist, dann bleibt konsequenterweise nur die Möglichkeit, die Offenbarung der Vernunft und die Religion der Moralität unterzuordnen, was durch das Sittengesetz kategorisch geboten ist. Religion und Offenbarung haben an der praktischen Vernunft den M a ß stab ihrer Wahrheit. Es duldet keinen Zweifel, dass Niethammers Auffassung völlig den Intentionen von Kants Religionsschrift 4 entspricht. Was deren Titel verheißt, löst ihr erstes Wort, das als durchgängiger Grundsatz zu gelten hat, bereits in aller Deutlichkeit ein; es zeigt der Religion ihre G r e n zen auf: „Die Moral, sofern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, ebendarum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, n o c h einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten." ( I I I ) D i e A n fangszeilen der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift vom J a h r 1793 stellen definitiv klar, dass die Moral weder zum Wollen noch zum Vollbringen der Religion bedürfe, vielmehr „vermöge der reinen praktischen Vernunft" (IV) völlig selbstsuffizient sei. Wenn sie dennoch in eine Beziehung zur Religion trete, so geschehe dies einzig und allein aus der A u t o nomie ihrer eigenen Maximen heraus. N i c h t als Grund, sondern als Folge der Moral müsse die Religion mithin betrachtet werden. Als solche sei sie dann allerdings notwendig und unentbehrlich; denn es
4 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hg. v. K. Vorländer, Hamburg 1956. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf die Originalpaginierung.
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könne „der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was denn aus diesem unserem Rechthandeln herauskomme ... " (VII). Schließlich sei es ein praktisches Bedürfnis des Menschen, dass er unter Bedingung der Einhaltung des kategorischen Imperativs auch erwarten könne, zur Glückseligkeit zu gelangen. Das Zusammenstimmen von moralischer Würdigkeit und Glückseligkeit verlange aber die Idee eines höchsten Gutes in der Welt, welche „die formale Bedingung aller Zwecke, wie wir sie haben sollen (die Pflicht), und zugleich alles damit zusammenstimmende Bedingte aller derjenigen Zwecke, die wir haben (die jener ihrer Beobachtung angemessene Glückseligkeit), zusammen vereinigt in sich enthält" (VII). Die Idee des höchsten Gutes wiederum sei möglich nur unter der Bedingung der Annahme eines zugleich heiligen und allmächtigen Gottes, welcher „der Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können, objektiv praktische Realität verschafft" (VIII) und so die schließliche Ubereinkunft von Pflichterfüllung und Glückseligkeit garantiert. In diesem Sinne führt die Moral unumgänglich zur Religion. Indes: Die Idee Gottes und des höchsten Gutes „geht aus der Moral hervor und ist nicht Grundlage derselben" (ebd.). Es handelt sich bei ihr also ausdrücklich um eine gesetzte Voraussetzung, um ein praktisches Postulat, mithin um ein Produkt der Vernunft. Die behauptete Unentbehrlichkeit der Gottesidee ist insofern auch keine unmittelbare Notwendigkeit der Vernunft selbst; denn die Gottesidee setzt ja die Vollgestalt sittlicher Wahrheit schon voraus und trägt somit zur Konstitution der Vernunft nichts Wesentliches bei. Nicht eigentlich um ihrer selbst willen bezieht sich die praktische Vernunft deshalb auf die Idee des moralischen Weltregierers - sie tut das vielmehr in Rücksicht auf die „unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines . . . praktischen Vernunftvermögens" (XII, Anm.), in Rücksicht auf die empirische Subjektivität also, die es nicht verwinden kann, dass im Verfolgen der Moral die Natur auf der Strecke bleibt. Die Religion hat somit der Realisierung der Moral unter Bedingungen irdischer Beschränktheit zu dienen, zu ihrer Begründung hingegen wird sie nicht benötigt. Denn im Hinblick auf sich selbst weiß sich die Vernunft bereits als die vollendete Einheit von Wollen und Vollbringen, mithin als bedürfnislose Autonomie und Aseität. Nicht immer hat sich für Kant das Begründungsgefälle von der Moral zur Religion allerdings so eindeutig dargestellt wie 1793. Dieter Henrich hat darauf aufmerksam gemacht, dass in den vor der Religionsschrift erschienenen Werken „zumindest zwei ganz und gar voneinander verschiedene . . . Formen" 5 der Kant'schen Moraltheologie auftreten. So sei Kant zunächst 5
D . Henrich, Historische Voraussetzungen von Hegels System, in: ders., Hegel im K o n -
text, Frankfurt/M. 2 1 9 7 5 , 47.
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durchaus von einer konstitutiven Funktion des Gottesgedankens für die Grundlegung der Ethik überzeugt gewesen. „Ohne . . . einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt", so bestätigt es die „Kritik der reinen Vernunft" in beiden Auflagen, „sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft apriori bestimmt und notwendig ist, erfüllen" (KrV B 841/A 813). Zwar sei die Moralität bereits an sich mit Glückseligkeit verbunden zu denken, da das Tun der Pflicht einen geistigen Genuss in sich trage und die Befolgung der sittlichen Maxime die Vermittelbarkeit der Freiheit aller ermögliche und so zur Ursache allgemeiner und dauerhafter Wohlfahrt werde. „Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung ruht, daß jedermann tue, was er s o l l . . . " (KrV B 837f./A 809f). Da dies faktisch nicht der Fall ist und auch der sittlich Beste sowohl in die soziale als auch in die sinnlichleibliche Welt des Natürlichen eingebunden bleibt, sieht sich die Intelligibilität der Moral einer Gegenständlichkeit konfrontiert, in der Moralität keine unmittelbare Gegebenheit darstellt und doch real werden soll. Um an diesem Dilemma nicht permanent zu scheitern, bedarf die praktische Vernunft der Idee einer „höchste(n) Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet" und zugleich als Ursache der Natur fungiert (KrV B 838/A 810). Allein sie garantiert die Ubereinkunft von Sittlichkeit und Glück. Zwar steht für Kant außer Frage, „daß die moralische Gesinnung, als Bedingung, den Anteil an Glückseligkeit, und nicht umgekehrt die Aussicht auf Glückseligkeit die moralische Gesinnung zuerst möglich mache" (KrV B 841/A 813). Der Gottesgedanke verweist die praktische Vernunft also nicht an ein fremdes anderes, sondern an das andere ihrer selbst - gleichwohl an ein anderes, das sie nicht in die Unmittelbarkeit ihrer Autonomie einzuholen vermag. „Gott also, und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen." (KrV B 839/A 811) In anderer Perspektive lässt sich dasselbe auch so sagen: In den angeführten Passagen aus der „Transzendentale(n) Methodenlehre" der „Kritik der reinen Vernunft" hat das Problem der faktischen Realisierung der praktischen Vernunft gewissermaßen eine für deren Begründung konstitutive Funktion. Das Interesse am tatsächlichen Wirklichwerden praktischer Vernunft, das sich in der Hoffnung auf Glückseligkeit Ausdruck verleiht, lässt sich daher nicht mehr ohne weiteres als Produkt des Selbstbehauptungswillens einer an Privatabsicht orientierten empirischen Subjektivität denunzieren. Denn die Vernunft ist, was sie ist, nur, wenn sie sich als Realität zu explizieren vermag. Das Pathos vollendeter Autarkie müsste ihr dann allerdings vorerst abhanden kommen. Um die unmittelbare Selbstbestimmung der praktischen
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Vernunft durchzuhalten, sah sich Kant deshalb veranlasst, seine Position zu revidieren. In der „Kritik der praktischen Vernunft" und in der „Kritik der Urteilskraft" vertritt er bereits im Grundsätzlichen jene Theorie, die die Vorrede seiner Religionsphilosophie von 1793 bestimmt. Sittlichkeit und Glückseligkeit stehen nun „in eine(m) weit äußerlicheren Zusammenhang" 6 , als das vormals der Fall war. Die Gottesidee aber wird zu einer aus Gründen praktischer Vernunft zu postulierenden hypothetischen Annahme mit der Folge, dass der Religion jede Begründungsleistung für die Moral abgesprochen wird. Es blieb der Schrift, die sich ausdrücklich dem Thema der Religion widmete, vorbehalten, diese Entwicklung zu vollenden und „die Moraltheologie zu einem am Ende gar entbehrlichen Anhang einer Ethik der Autonomie" 7 zu erklären.
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A.a.O., 50. Ebd.
13. Über Religion als Wissenschaft
Niethammers K o n z e p t der Religion als Wissenschaft von 1795 folgt, wie es scheint, kritiklos der Entwicklungstendenz Kants und dem Programm von dessen Religionsschrift. Ausdrücklich wird die Notwendigkeit einer U n t e r ordnung der Religion unter die praktische Vernunft vertreten, der zu dienen ihre F u n k t i o n ist. Selbst von dem Hilfsargument, das er in seiner Paraphrase von Fichtes „Versuch einer Critik aller O f f e n b a r u n g " zur Begründung möglicher Faktizität göttlicher Manifestationen im Medium der Sinnlichkeit verwendet hatte, macht er keinen weiteren Gebrauch. N i c h t s mehr ist davon zu lesen, dass es einer durch sinnliche Erfahrung vermittelten O f f e n b a rung göttlicher Gesetzgebung bedürfe, wenn Menschen durch ihre sinnliche Verfallenheit vernünftiger Einsicht in das sittlich G e b o t e n e entbehrten. Zumindest darin geht N i e t h a m m e r mit der weiteren Entwicklung Fichtes konform, der O s t e r n 1794 als Nachfolger Reinholds zum außerordentlichen Professor für kantische Philosophie nach J e n a berufen wurde und bald zu erheblichem Einfluss gelangte („Fichtes Tätigkeit in J e n a war die Eruption einer philosophischen U r k r a f t . " 1 ) . Bald schon nämlich hatte sich dieser von seinem Versuch distanziert, die vernünftige Möglichkeit sinnlich erfahrbarer Offenbarungsfaktizität durch Verweis auf den denkbaren empirischen Fall vollkommener menschlicher Sinnlichkeitsverfallenheit zu begründen. Man wird davon ausgehen dürfen, dass Niethammers Selbstkorrektur in diesem Punkt „nicht ohne eine Verständigung mit F i c h t e " 2 erfolgt ist. Mag die Möglichkeit sinnlich mediatisierter Offenbarung auch konzediert und ein Unmöglichkeitsbeweis ihres Ergangenseins nicht zu erbringen sein: Ein Wirklichkeitsbeweis ergangener Offenbarung im Stile des skizzierten Argumentationsfigur der Fichteschrift von 1792 erstrebten die beiden J e n e n s e r Kollegen in den folgenden Jahren nicht mehr. Er scheint ihnen obsolet geworden zu sein. Einschlägige Kritik befreundeter D e n k e r wird zu diesem Sinneswandel beigetragen haben. N i e t h a m m e r bekräftigt in seiner Religionsschrift von 1795 3 nicht nur seine wiederholte Feststellung, dass der Beweis der Faktizität einer sinnlichen Manifestation des Übersinnlichen, wenn er sich denn überhaupt führen las-
W . Janke, J o h a n n Gottlieb Fichte ( 1 7 6 2 - 1 8 1 4 ) , in: T R E 11, 1 5 7 - 1 7 1 , hier: 159. D . Henrich, Grundlegung aus dem Ich II, 983. 3 F.I. Niethammer, U e b e r Religion als Wissenschaft. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 1
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se, jedenfalls noch nicht befriedigend geführt sei; er verzichtet generell auf jeden Versuch, die tatsächliche Möglichkeit und mögliche Tatsächlichkeit göttlicher Offenbarung im Medium der Sinnlichkeit durch empirische Bezüge plausibel zu machen. Die Überlegung, im denkbaren und erfahrungsmäßig nicht nur nicht auszuschließenden, sondern naheliegenden menschlichen Falle völliger Moralvergessenheit und sittlicher Verwahrlosung sei es nicht nur möglich, sondern aus Gründen praktischer Vernunft wünschenswert, ja sittlich erforderlich, dass das göttliche Gesetz sinnlich offenbar werde, spielt in den Argumentationen der Schrift über Religion als Wissenschaft keine Rolle mehr. Die Wahrheit der Religion und der Wirklichkeitsgehalt des ihre Positivität fundierenden Offenbarungsgeschehens wird in ihr ausschließlich vernunftapriorisch und ohne Inanspruchnahme aposteriorischer Erfahrungsbezüge begründet. Sowohl der Beweis der Wahrheit der Religion überhaupt als auch derjenige gegebener Religionen und der von ihnen beanspruchten Offenbarungstatsachen wird ganz der Apriorität der Vernunft, genauer: apriorischer Einsicht praktischer Vernunft anheimgestellt, wie das nach Niethammer auch in Kants Religionsschrift der Fall ist. Durch Kant ist nach Niethammer die Religionswissenschaft sowohl von der Erkünstelung zu keinem Ziel führender historischer Beweise als auch aus dem Zirkel befreit worden, „die Wahrheit der religiösen Gefühle aus ihrer Uebereinstimmung mit der gegebenen Religion, und die Wahrheit der gegebenen Religion aus ihrer Uebereinstimmung mit jenen Gefühlen abzuleiten" (100f). Er habe gezeigt, „daß es noch einen andern Weg gebe, die objektive Gültigkeit der religiösen Gefühle und also der Religion selbst zu erweisen: wenn sich nämlich die Religion als etwas in der ursprünglichen Anlage des menschlichen Geistes gegründetes darthun lasse" (101 f). Diesen Weg einzuschlagen und konsequent zu beschreiten, sei allein zielführend, wenn die Wahrheit von Religion und Offenbarung wissenschaftlich fundiert werden solle. Es gilt, „die in dem menschlichen Geiste a priori vorhandene Grundlage aller Religion aufzusuchen. Können wir diese nachweisen, so können wir aus ihr den Grundbegriff und den Umfang der Religion bestimmen, die Religion als Wissenschaft aufstellen, und so die Wahrheit d.h. die objektive Gültigkeit aller Religion aufs vollkommenste begründen." (102) Auf diese Weise werde nicht nur die objektive Gültigkeit von Religion überhaupt gesichert, sondern auch die positiven Religionen auf ein festes Fundament gestellt, sofern mit dem vernunftbegründeten Religionsbegriff ein verlässliches Datum und Schema der Beurteilung ihrer Inhalte gegeben sei. Die zentrale Aufgabenstellung der konstruktiven Abteilung von Niethammers Religionsschrift ergibt sich aus diesen Bestimmungen. Zunächst soll Religion als ein wissenschaftliches Ganzes aufgestellt werden, das in der ursprünglichen, durch die praktische Vernunft bestimmten Anlage des Menschen a priori Grund und Bestand hat. Sodann ist zu zeigen, wie positive
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Religionen unter dem Gesichtspunkt einer moralisch fundierten Religionswissenschaft zu beurteilen sind. U m Religion als Wissenschaft, also Religionswissenschaft vernünftig zu begründen und zu bestimmen, ist es erstens erforderlich, den Begriff der Religion durch Nachweis seines ursprünglichen Angelegtseins in der N a t u r menschlichen Geistes mit objektiver Geltung zu versehen, um ihn dann zweitens näher zu bestimmen, damit Inhalt und Grenzen der Religionswissenschaft angegeben werden können. Was die erste Aufgabe betrifft, so löst sie N i e t h a m m e r mit Kant auf der Basis der praktischen Vernunft, genauer: auf der Basis der praktischer Vernunft wesentlich eigenen Forderung, durch welche den Menschen die Realisierung des Ideals des höchsten Guts als m o ralischer Endzweck aufgegeben ist. U m die Möglichkeit dieser Forderung und die Realisierbarkeit des Endzwecks menschlicher Sittlichkeit einzusehen, verlangt sich die theoretische Vernunft die Lösung eines Problems ab, welche bereit zu stellen spezifische Aufgabe der Religionswissenschaft ist. Sie erfüllt diese Aufgabe, indem sie zeigt, dass das durch die Forderung praktischer Vernunft theoretisch gestellte Problem nicht „anders als vermittels der Idee der G o t t h e i t " (105; bei N . teilweise gesperrt) gelöst werden kann. O h n e die Idee der G o t t h e i t ist die Möglichkeit einer Realisierung des höchsten G u t s nicht denkbar, wie die praktische Vernunft sie erfordert. D e r Gottesidee ist deshalb aus Forderungsgründen praktischer Vernunft, auf deren Primat alle Religionstheorie basiert, Objektivität zuzuerkennen. Steht der Grundsatz fest, an dem zu zweifeln wider die Gewissensgewissheit der Moral und damit unsittlich wäre, dass nämlich schlechthin möglich sein muss, was die praktische Vernunft gebietet, so ist die theoretische Vernunft in Gestalt der Religionswissenschaft berechtigt, die Realität der G o t tesidee anzunehmen, weil ohne die Realität dieser Idee die Verwirklichung des Endzwecks der Sittlichkeit undenkbar wäre, wie sie durch praktische Vernunft moralisch gefordert ist. Kann die theoretische Vernunft „eine bestimmte Möglichkeit, wie jene Forderung des Gesetzes von uns erfüllt werden könne, einsehen d.h. kann sie eine Voraussetzung denken, vermittelst welcher sie die Möglichkeit der Erfüllung einer solchen Forderung begreifen kann; und sieht sie noch dazu ein, daß die angenommene Voraussetzung die einzige ist, die sie aufstellen kann: so erhält sie . . . ein Recht, diese Voraussetzung (welche an sich bloße Hypothese wäre) als die einzig mögliche, unter der sie etwas absolutnothwendiges (eine Forderung des Sittengesetzes) als bestimmt möglich denken kann, als allgemeinsubjektiv, d.h. als o b jektiv gültig anzunehmen." (105 f; bei N . teilweise gesperrt) Mit dem durch praktische Vernunft begründeten Recht theoretischer A n nahme allgemeinsubjektiver Gültigkeit der Gottesidee ist nach N i e t h a m m e r die Objektivität des Zentralgegenstands der Religionswissenschaft und damit deren eigene objektive Geltung im Verein der Wissenschaften gesichert. Darf der Glaube an das Dasein G o t t e s um der praktischen Vernunft und der
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Forderungen des Sittengesetzes willen als theoretisch fundiert gelten, so ist damit auch der Religionstheorie, deren Grundbegriff die Gottesidee ist, ihre wissenschaftliche Geltung verschafft. Dabei ist implizit vorausgesetzt, dass dem auf eine Forderung praktischer Vernunft gebauten religiösen Glauben an Gott keineswegs der theoretische Status bloßen Meinens zukommt. Weit davon entfernt, eine bloß individuelle Uberzeugung zu sein, ist der Gottesglaube vielmehr von allgemeinsubjektiv-objektiver Verbindlichkeit, obzwar die Objektivität seines Gegenstandes nicht unmittelbar, sondern nur auf eine durch praktische Vernunft vermittelte Weise theoretisch erkannt werden kann. Glauben ist zwar nach Niethammer kein Wissen von der Art von Gewissheit, wie sie den transzendentalen Wahrheiten eignet, welche als ursprüngliche Gesetze des menschlichen Geistes zu erkennen sind. Genannt wird „die ganze Moral, welche auf einem Grundsatz beruht, der aus der absoluten Einheit des Subjekts und der darin begründeten notwendigen Einheit des Willens a, priori erzeugt ist" (107). Im Unterschied zu unmittelbar gewissem Wissen transzendentaler Wahrheiten ist das Glaubenswissen nur auf vermittelte Weise gewiss, so dass es sinnvoll erscheint, Glaube und Wissen zu unterscheiden. Aber dieser Unterschied darf nicht als Trennung missverstanden werden, da auch dem Glauben, wenngleich auf vermittelte Weise, Wissen eignet. Die Glaubens- bzw. Religionswissenschaft, deren Inbegriff die Theologie als Lehre von Gott ist, hat zwar keinen unmittelbaren, wohl aber einen mittelbaren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Ihr Gegenstand gründet einerseits nicht unmittelbar in den Gesetzen der Subjektivität, gilt vielmehr als außer dem Subjekt vorhanden; das Dasein Gottes ist daher nicht unmittelbar gewiss. Doch ist die Glaubensüberzeugung göttlicher Existenz auf eine unmittelbare Gewissheit, wie sie dem Subjekt durch praktische Vernunft in Form des Sittengesetzes gegeben ist, mittelbar gegründet, insofern sich zeigen und erkennen lässt, „daß die theoretische Vernunft, um sich eine bestimmte Forderung der praktischen als möglich denken zu können, durchaus die objektive Realität jener Idee (sc. der Gottesidee) voraussetzen müsse, und daß diese die einzig mögliche Voraussetzung sei, bei der sie sich beruhigen könne." (108) Der Glaube an das Dasein der Gottheit ist daher keine lediglich individuell-subjektive Überzeugung, die auf zufällige Beschaffenheiten oder Eigentümlichkeiten spezifischer Einzelsubjekte zurückzuführen sei, sondern von allgemeinsubjektiver und allgemeingültiger Valenz. Vom Wissen kann der Glaube daher nicht geschieden werden, auch wenn glaubensgewisses Wissen nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar gewisses Wissen ist. Mit dem zwar differenzierten, aber untrennbaren Zusammenhang von Wissen und Glauben, Vernunft und Offenbarung ist die Möglichkeit einer Glaubens- und Religionswissenschaft gegeben und zugleich ihr Verhältnis zur Philosophie geklärt. Der Grundsatz, der die Religionswissenschaft fun-
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diert, dass nämlich das praktische G e s e t z die bestimmte Forderung, das Ideal des höchsten Gutes zu realisieren, allgemeinverbindlich ergehen lässt, ist nicht religionswissenschaftlich, sondern philosophisch zu beweisen. Auf der Basis dieses philosophischen Beweises ist die Glaubens- und Religionswissenschaft dann allerdings durchaus in der Lage, sich als eine eigene Wissenschaft von zwar nicht völliger, aber doch relativer Eigenständigkeit zu etablieren, die wie für die universitas litterarum so auch für die Philosophie als grundlegendste, weil das Fundament aller Einzelwissenschaften begründende Wissenschaft unverzichtbar ist. Inhalt und U m f a n g der Religionswissenschaft werden auf der Basis des wissenschaftlichen Begriffs der Religion von Niethammer in zweifacher Weise bestimmt, in praktischer zunächst und dann in theoretischer. D e r praktische Teil der Religionswissenschaft hat zu zeigen, „1) was wir zu thun haben, um selig zu werden; 2) dass wir selig werden, so wir dieses thun" (111; bei N . teilweise gesperrt). Unter ersterem Aspekt werden die sittlichen Pflichten als göttliche G e b o t e vorgestellt, welche im gewissen Glaubensbewusstsein der Objektivität des höchsten G u t s als der Bedingung möglicher Realisierung des sittlich Gesollten unter sinnlichen Gegebenheiten verwirklicht werden sollen. Für das religiöse Bewusstsein, wie es von praktischer Religionswissenschaft thematisiert wird, ist primär der Grundsatz bestimmend: D u kannst, denn du sollst. D a s Vermögen des Menschen, das Gesollte zu realisieren, den zugleich sinnlich und vernünftig bestimmten Willen zur Heiligkeit zu erheben und eine moralische O r d n u n g in der äußeren Welt aufzurichten, ist durch praktische Vernunft erschlossen und erbaut sich an der religiösen Gewissheit, die eine konsequente Folge praktischer Vernunft darstellt, dass nämlich G o t t , dessen Idee von allgemeinsubjektiver und insofern objektiver Gültigkeit ist, intelligible und sensible Welt verbindet und die Ubereinstimmung von Sittengesetz und Naturgesetz, Kausalität aus Freiheit und Kausalität aus Notwendigkeit gewährleistet. Aus dieser vernunftreligiösen Glaubensgewissheit ergibt sich zugleich die H o f f n u n g auf eine künftige Seligkeit, die der, welcher sich immer strebend um die Realisierung des moralisch Gebotenen bemüht, nach Maß seiner Sittlichkeit zu erwarten berechtigt ist. D e r praktische Teil der Religionslehre besteht also nicht nur darin, Pflichten als göttliche G e b o t e aufzustellen, sondern er enthält auch Verheißungen. Niethammer erinnert in diesem Zusammenhang an die traditionelle reformatorische Lehre von G e s e t z und Evangelium, nicht ohne freilich hinzuzufügen, dass nach Maßgabe seiner Religionslehre die gesetzliche Pflichterfüllung die Voraussetzung und oberste Bedingung dafür ist, in den G e n u s s der evangelischen Verheißung zu kommen. Bildet ihr praktischer Teil, den zu kennen für den gewöhnlichen Religionsunterricht völlig hinreicht, die Grundlage der Religionswissenschaft, so ist deren Inhalt doch nicht in vollem U m f a n g expliziert, wenn nicht ein theoretischer Teil hinzutritt, den sich die praktische Religionswissenschaft
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voraussetzt. Diesen Teil nennt Niethammer Metaphysik der Religion, also diejenige Gestalt von Religionswissenschaft, die auf der Basis der praktischen, aber dennoch als „eine eigne Wissenschaft für sich" (112) die theoretische Möglichkeit aufzuweisen hat, das Ideal des höchsten Guts praktisch zu realisieren. „Der Theil dieser Wissenschaft, welcher die Möglichkeit im allgemeinen zu zeigen hat, macht die Vorbereitungslehre der Religionswissenschaft aus, und führt, indem er den Begriff der Gottheit als den einzig möglichen Erklärungsgrund jener Möglichkeit aufweist, zur Theologie." (Ebd.; bei N. teilweise gesperrt) Dass die Theologie, obwohl als theoretische Religionswissenschaft deklariert, auf der praktischen Religionswissenschaft basiert und damit selbst wesentlich praktischer Natur ist, bestätigt Niethammer durch den ausdrücklichen Hinweis, die ganze Theologie sei als Moraltheologie zu kennzeichnen. Das gilt für die Lehre vom Dasein Gottes ebenso wie für die theologische Eigenschaftslehre und alle sonstigen Themen der Dogmatik. Dogmatische Theologie ist zwar von theologischer Moral, nicht aber von Moraltheologie zu unterscheiden, mit der sie vielmehr identisch ist, wenn sie kritisch und nicht in einer spekulativen Weise betrieben wird, die nur dialektischen Schein erzeugt. Dieser wird dort hervorgerufen, wo von der Gottesidee und allem, was ihr zugehört, ein unmittelbarer und nicht ein praktisch vermittelter Gebrauch gemacht wird. Um dies zu verhindern, ist dem dogmatischen Part theoretischer Religionswissenschaft ein kritischer zur Seite zu stellen, welche beiden Teile erst zusammen ein Ganzes bilden. Nur wenn theoretische Religionswissenschaft ein kritisches Bewusstsein dafür hat, dass das Recht, der Gottesidee und allen mit ihr verbundenen theologischen Gedanken objektive Realität beizumessen, nur in praktischer Beziehung besteht, kann sie ihre dogmatische Aufgabe konstruktiv erfüllen. Zu solcher Aufgabenerfüllung gehört es, die theoretischen Gehalte der Religionswissenschaft, die nur in praktischer Beziehung von objektiver Gültigkeit sind, nun tatsächlich in praktischer Beziehung zur Geltung zu bringen und auf diese Weise einen Beitrag zu gesteigerter Sinnerfüllung vernunftreligiöser Praxis zu leisten. „Ist der Glaube an das Dasein Gottes gewiß, so ist er nicht mehr bloß eine willkürliche Vorstellung, unsere Pflichten als göttliche Gebote zu denken. Nein!", sagt Niethammer, „was in unserm Gewissen spricht, ist die Stimme der Gottheit selbst, die uns ihren Willen offenbart. Durch die Stimme des Gesetzes in uns unseres Daseins in einer übersinnlichen Welt uns bewußt, hören wir in ihr die Gottheit selbst, zu der wir durch sie uns erhoben fühlen. So wird mit dem Bewußtsein des Sittengesetzes als Offenbarung des Willens Gottes das Leben ein Wandel vor Gott, unsre Moralität Religion, das Bewußtsein der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung des Willens mit jenem Gesetze, Bewußtsein eines göttlichen Gerichts, das Bewußtsein eines nothwendigen Verhältnisses zwischen Rechtthun und Wohlbefinden, Bewußtsein einer göttlichen Gerech-
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tigkeit." (119) Vernunftreligiöse Praxis ist nach Niethammer weit davon entfernt, nur so zu tun, als ob Gott existiere. Die Annahme moralischer Pflichten als göttlicher Gebote erachtet sie nicht als künstliches Produkt wohlwollender Willkür, sondern als eine praktische Gewissheit, die das Bewusstsein gänzlicher Abhängigkeit unseres Daseins und unserer sittlichen Bestimmung vom allmächtigen und heiligen Gott in sich schließt. Die Frage, wie unter den Voraussetzungen, die im Rahmen der allgemeinen Religionswissenschaft für die Religion überhaupt entwickelt wurden, gegebene Religionen zu behandeln und zu beurteilen sind, lässt sich kurz beantworten, wenn man sich an das Grundsätzliche hält. Kriterium jeder positiven Religion ist die Vernunftreligion, an deren Gehalt die Traditionsbestände der gesamten Religionsgeschichte den Maßstab ihrer Wahrheit und Gültigkeit finden. Die Inhalte einer historisch gegebenen Religion sind also kritisch und konstruktiv so zu bestimmen, dass sie den Grundannahmen der Vernunftreligion nicht widersprechen, sondern ihr konform sind. Der Grad der Vollendung positiver Religion bemisst sich am Grad ihrer Ubereinstimmung mit der Vernunftreligion, zu der zu erheben das Ziel der Religionsgeschichte insgesamt ist. Entsprechend sind die gegebenen Religionen in Rücksicht auf die Auslegung ihres Sinnes zu behandeln. Sie sind philologisch-historisch zu interpretieren, um ihren positiven Sinn zu erfassen, der darauf hin auf seine Ubereinstimmung mit der Vernunftreligion zu überprüfen ist. Im Falle des Christentums und seiner traditionellen Lehrbestände hat Kant diese Aufgabe in seiner Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" nach Niethammer vorbildlich erfüllt und damit die vernünftige Methode aufgezeigt, „die Religion nach einer gegebenen Urkunde zu lehren" (130). Mit diesem erneuten Hinweis auf Kant endet Niethammers Schrift „Ueber Religion als Wissenschaft". Sie hat „sehr bald ein vielfältiges und überwiegend zustimmendes Echo" gefunden und das Ansehen ihres Autors „befestigt und gesteigert": „(M)an kann sagen, daß sie den Höhepunkt seiner Wirkung als von Kant ausgehender Autor auf dem Gebiet der Religionstheorie markiert." 4 Als Rezensent der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung hat Johann Benjamin Erhard in ihr nicht weniger als den Versuch zu einem „Organon der Theologie" erblickt und Niethammers Werk über die Wissenschaft der Religion „über alle anderen bisher erschienenen Schriften derselben Ambition (gestellt), Fichtes Critik aller Offenbarung eingeschlossen". 5
D . H e n r i c h , a . a . O . 11,1004. A . a . O . II, 981, 1006 unter Verweis auf J . B . Erhard, Rezension von: F . I . Niethammer, Lieber Religion als Wissenschaft zur Bestimmung des Inhalts der Religionen und der Behandlungsart ihrer Urkunden, Neu-Strelitz 1795, in : A L Z , Nr. 241, 5. September 1795, Sp. 4 8 9 - 4 9 3 , hier: Sp.490. 4 5
14. Storrs Bemerkungen zu Kants Religionsphilosophie
Noch im Erscheinungsjahr der Kant'schen Religionsschrift veröffentlichte der bereits mehrfach erwähnte Supranaturalist Gottlob Christian Storr, Inhaber des ersten theologischen Lehrstuhls in Tübingen, seine „Annotationes quaedam theologicae ad philosophicam Kantii de religione doctrinam" 1 . Sein Schüler und späterer Nachfolger Friedrich Gottlieb Süskind, der ihn schon bei der Abfassung des Werkes unterstützt hatte 2 , gab es im folgenden Jahr in deutscher Sprache heraus. Zugleich stand er seinem Lehrer sachlich dadurch bei, dass er seiner Ubersetzung eine von Storr'schen Prämissen geleitete Auseinandersetzung mit Fichtes 1792 erschienenem „Versuch einer Critik aller Offenbarung" anhängte. 3 Dass Kant die „Annotationes" in der Vorrede zur zweiten Auflage der Religionsschrift ausdrücklich begrüßte und den „gewohnten Scharfsinn" 4 ihres Verfassers belobigte, will nicht viel heißen, zumal sich die folgende Bemerkung, eine Entgegnung sei in Anbetracht der Beschwerden, „die das Alter, vornehmlich der Bearbeitung abstrakter Ideen, entgegen setzt" 5 , wohl kaum mehr zu erwarten, wenn nicht als höhnische Abfuhr, so doch als Signal mangelnden Interesses zu verstehen gibt. Tatsächlich scheint Storrs Schrift mit konstruktivem philosophischen Geist wenig gemein zu haben: „In einer minutiösen Kleinarbeit nach dem Vorbild der dicta-probantia-Methode zieht er (sc. Storr) Grenzaussagen aus Kants Kritik der praktischen Vernunft, seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und v. a. seiner Religionsphilosophie heran, um die Vereinbarkeit des biblisch begründeten O f fenbarungsglaubens mit der kritischen Philosophie Kants als des Exponent e ^ ) der Aufklärung darzutun." 6 Die Schrift, deren historische Wahrheit
1
Tübingen 1793.
Ü b e r die Umstände, die Storrs Werk veranlassten, bietet D . Henrich, Historische Voraussetzungen von Hegels System, a . a . O . , 5 4 f f , interessante Details. 3 D . G o t t l o b Christian Storr's Bemerkungen über Kant's philosophische Religionslehre. Aus dem Lateinischen. Nebst einigen Bemerkungen des Uebersezers über den aus Principien der practischen Vernunft hergeleiteten Ueberzeugungsgrund von der Möglichkeit und Wirklichkeit einer Offenbarung in Beziehung auf Fichte's Versuch einer Critik aller Offenbarung, Tübingen 1794. Die Paragraphen- bzw. Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 2
4 5
I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, a. a. O . , X X I V . Ebd.
' W . Reich, D e r Offenbarungsbegriff im Supranaturalismus. Eine überlieferungs- und wirkungsgeschichtliche Untersuchung, theol. Diss. München (maschinenschriftl.) o.J., 105; vgl. zum Verhältnis Storrs zu Kant bes. 1 0 4 - 1 3 9 .
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weithin noch pauschal vorausgesetzt wird, vermittle allgemeingültige Belehrung über die göttlichen Dinge und ermögliche somit eine übernatürliche Erweiterung der von Kant zurecht als beschränkt gedachten menschlichen Erkenntnis. Die Möglichkeit solcher Erkenntniserweiterung könne nicht generell bestritten werden, da es unstatthaft sei, von der menschlichen U n fähigkeit, transzendente Wirklichkeiten zu erkennen, auf deren ontisch-ontologische Irrealität zu schließen: Storr versucht also unter Berufung auf Kant jenen metaphysischen Realismus wiederzubeleben, den zu bekämpfen dieser sich vorgenommen hatte. Angesichts solcher Ungereimtheiten verwundert das Ausbleiben einer Antwort des Philosophen nicht. Auch versteht man die kritische Vehemenz, mit der sich Niethammer gegen die supranaturalistische Offenbarungslehre abgrenzte. Dass er dabei seinen Tübinger Lehrer Storr vor Augen hatte, duldet keinen Zweifel; offenbar gab dieser nicht nur das exemplarische Anschauungsbeispiel, sondern auch den historischen Anlass für den Begriff, den Niethammer vom Supranaturalismus hatte. Niethammers Supranaturalismuskritik ist immer auch Kritik an Storr als einem autoritativen Ubervater und Oberlehrer, der im Namen der Offenbarungswahrheit Mündigkeit und Autonomie seiner Zöglinge - zumindest nach der Wahrnehmung einiger von ihnen - zu verhindern suchte. Dennoch lohnt es sich, auch um Niethammers willen, kurz bei Storrs Auseinandersetzung mit Kant zu verweilen. So wenig er Kant ein überzeugendes konstruktives System entgegensetzen konnte, so sehr entwickelte er doch ein Gespür dafür, seine Einwendungen zielsicher dort anzusetzen, wo entscheidende interne Spannungen in Kants Theorie vorliegen. „Glüklich zu seyn ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen endlichen Wesens, Glükseligkeit ist also die nothwendige Materie (Objekt) unsers Wollens." (§ 10/31) Es geht deshalb nach Storr nicht an, die Forderungen des Sittengesetzes dem Glücksbedürfnis individueller Subjekte abstrakt entgegenzusetzen. Gerade wenn der Mensch den Geboten praktischer Vernunft unter Hintansetzung unmittelbar sinnlicher Neigung gehorchen soll, muss mit der Objektivität des Sittengesetzes das subjektive Interesse an ihm notwendig verbunden gedacht werden. Das subjektive Interesse am Gesetz aber hängt am Vertrauen, dass dieses der „beste . . . und sicherste . . . Führer zur Erlangung wahrer Glükseligkeit" (§ 10/32 f; bei S. gesperrt) sei. Kein weiser Mensch könne ohne dieses Vertrauen dem Sittengesetz folgen wollen. Wenn demnach „der Mensch unvermeidlich genöthigt ist, zu allem seinem Thun und Lassen im Ganzen genommen einen Endzwek zu denken, und eigene Glükseligkeit der subjektive Endzwek vernünftiger Weltwesen, oder die nothwendige Materie ihres Wollens ist: so kann dieser nothwendige Endzwek nicht zweifelhaft gemacht oder geläugnet werden, ohne die Achtung gegen das moralische Gesez selbst zu schwächen oder gar aufzuheben." (§ 10/34 £) Den Vorwurf, der hoffnungsvolle Blick auf zu erwartende Glückseligkeit
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verrate nichts weiter als den verkehrten Selbsterhaltungswillen einer auf den eigenen Standpunkt fixierten Subjektivität, gibt Storr zurück. Gerade die Meinung, man könne das eigene Glücksbedürfnis verächtlich hinter sich lassen, führe in endliche Verstrickungen, in Eitelkeit und Ruhmsucht, woran sich bestätige, dass der wahrhafte Verzicht auf äußere Vorteile des Lebens allein durch die H o f f n u n g auf eine letzte Glückseligkeit befördert werde. Werde sie bestritten, gerate der Mensch und mit ihm seine Vernunft in einen Widerstreit mit sich selbst. Denn da „der Mensch unvermeidlich genöthigt ist, Glükseligkeit zu wollen, so kann er doch wahrhaftig nicht glauben, er müsse Glükseligkeit nicht - wollen ..." (§ 10/40). Muss er also nicht das Gesetz praktischer Vernunft, wenn es nicht darauf angelegt ist, Realität anzunehmen und d. h. unter der Bedingung seiner Befolgung letztlich den glücklichen Bestand des Menschen herbeizuführen, für ein „leeres Hirngespinst" (§ 10/38) erachten und vorziehen, es den Tieren gleichzutun und den sinnlichen Trieben nach Belieben zu folgen? Den Einwand, dass mit derlei Erwägungen die Moral zu einer bloßen „Rechenkunst des Sinnengenusses" (Fichte; vgl. Storr § 10/ 40) herabgewürdigt werde, weist Storr zurück. Ausdrücklich bekennt er sich dazu, dass „das Erkenntniß-Prinzip unserer Pflichten . . . allerdings nicht die Glükseligkeit" sei (§ 10/41). „(D)ie Form des guten Willens hängt blos von der Ubereinstimmung mit dem Gesez, nicht von der Einsicht in die Vortheile und Nüzlichkeit unserer Handlungen ab." (Ebd.) Zur Form des Wollens müsse aber die Materie des Wollens notwendig hinzutreten, welche die von der Befolgung des Gesetzes zu erwartende Glückseligkeit sei. Aus diesem Zusatz lasse sich indes keineswegs auf die Ergänzungsbedürftigkeit des Sittengesetzes schließen. Seine formale Gültigkeit habe es durchaus aus sich selbst heraus, und „(d)as Vertrauen auf die von der Befolgung des Gesezes zu hoffende Glükseligkeit hängt ... selbst mit der Achtung fürs Gesez zusammen, und entspringt aus derselben" (§ 10/47). „Wenn also gleich die Achtung fürs moralische Gesez, und das diese Achtung hervorbringende Gesez selbst, nicht als der alleinige (subjektive) Bestimmungsgrund des Willens, als die alleinige Triebfeder der Tugend und des Gehorsams gegen das Gesez betrachtet werden kann, soferne man dadurch alle Rüksicht auf die mit der Befolgung des Gesezes verbundene Glükseligkeit ausschliessen wollte; so kann doch jene Achtung für das Gesez insoweit für die einige Ursache der Befolgung des Gesezes gelten, sofern die H o f f n u n g einer von der Befolgung des Gesezes abhängenden Glükseligkeit, oder die Religion selbst aus der Achtung fürs Gesez, (die auch der Ungebesserte zuweilen empfindet) als aus ihrer Quelle, entspringt, und der Eifer in der Tugend nicht unmittelbar durch Erwartung der Glükseligkeit, sondern durch die Achtung fürs Gesez seihst hervorgebracht und befördert wird, durch eine Achtung, die zwar ohne H o f f n u n g der Glükseligkeit, oder ohne Religion sich gegen den Verdacht einer Täuschung und eines Widerspruchs mit der menschlichen Natur, de-
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ren nothwendiger Wunsch Glükseligkeit ist, nicht ungeschwächt erhalten könnte, aber, wenn sie einmal durch Hoffnung einer vom Gehorsam gegen das Gesez zu erwartenden Glükseligkeit unterstüzt ist, die Befolgung des Gesezes für sieb selbst bewirket." (§ 10/49f) Die Verschlungenheit des Satzgefüges entspricht der Storr'schen These: Eine Moral, die sich auf den Gegensatz von F o r m und Materie aufbaut, erliegt ihren eigenen Prämissen. Wenngleich das Sittengesetz der Begründung durch unmittelbar faktische Gegebenheiten nicht bedarf, muss doch faktische Realität aus ihm notwendig hervorgehen. Denn eine Sittlichkeit, die sich durch die rigide Negation physisch-realen Glücks konstituiert (vgl. § 10/45), bringt den Menschen in einen permanenten Widerspruch zu sich und verewigt ein unglückliches Bewusstsein. Dass Storr selbst ähnlichen Einwänden unterliegt, indem auch er am Gegensatz von F o r m und Materie festhält und die Einheit von Moral und Glückseligkeit in ein abstraktes J e n seits verschiebt, damit aber auf seine Weise das individuelle Subjekt den infiniten Progress antreten lässt, betrifft die Durchführung seiner Kritik, nicht aber ihren Ansatzpunkt. Man wird jedenfalls nicht sagen können, dass Storrs Kritik völlig äußerlich an Kant herangetragen ist. Sie versteht sich eher als eine werkgetreue Exegese, die nicht müde wird, sich auf den Philosophen zu berufen. Tatsächlich ist, wie erwähnt, dessen Moraltheologie keineswegs so einheitlich, wie sie betrachtet zu werden pflegt. Indem Storr Kant gleichsam gegen die Tendenz von dessen Entwicklung ausgelegt und dezidiert in der Perspektive empirischer Subjektivität gelesen hat, hat gerade er, der Supranaturalist, einen wesentlichen Aspekt des aufklärerischen Erbes unter Kant'schen Bedingungen zu wahren versucht. Er hat das als entschiedener Verteidiger der Religion getan, im Bewusstsein nämlich, dass dort, wo die Religion zu einem notfalls entbehrlichen Anhängsel der Moral erklärt wird, auch die Belange des individuellen Menschen verabschiedet werden zugunsten einer Subjektivität, die sich für die Interessen der einzelnen Subjekte nicht mehr als aufgeschlossen erweist. Die Religion, welche die Sittlichkeit auf G o t t , den Urheber des Gesetzes und den Herrn der Natur, verweist, will damit die Moral nicht einer Fremdbestimmung unterwerfen; sie tritt vielmehr für ihre wahre Realisationsgestalt ein, indem sie Sorge dafür trägt, dass der Fortgang der Moral die individuelle Einzelheit nicht übergeht. Sieht man die Dinge so, dann fällt es nicht schwer, Kontinuitätszusammenhänge zwischen Storr und Niethammer trotz der scharfen Abgrenzung des Schülers von seinem Lehrer nachzuweisen. Das Tübinger Erbe Storrs ist beim Jenenser Niethammer gegenwärtiger als man auf den ersten Blick vermuten möchte. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn man die kritischen Passagen der Niethammer'schen Religionstheorie nicht von deren konstruktiven trennt, sondern religionstheoretische Kritik und Konstruktion als einen Zusammenhang zu begreifen sucht. Fasst man ausschließlich
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die Kritik ins Auge, dann erscheint Niethammers Verhältnis zu Storr durch einen nicht vermittelbaren Gegensatz bestimmt. Mag die Möglichkeit von Offenbarung auch konzediert und ein Unmöglichkeitsbeweis ihres Ergangenseins vernünftigerweise nicht zu erbringen sein: Einen Wirklichkeitsbeweis ergangener Offenbarung zu erbringen, hält Niethammer zumindest ebenso wenig für möglich. Ein solcher Beweis wurde nicht nur bisher nicht erbracht; ihn zu erbringen ist nach seinem Urteil vielmehr faktisch unmöglich. Ohne vernunftreligiöse Basis ist daher jeder Offenbarungsglaube grundlos. Nur innerhalb der Grenzen reiner Vernunftreligion kann ihm sinnvolle Bedeutung beigemessen werden. Der Begriff der Religion ist daher in vernunftapriorischer Systematik zu bestimmen, bevor auf die Offenbarungsurkunden einer positiven Religion in exemplarischer Absicht historischer Bezug genommen wird. Denn anders als auf vernunftapriorische Weise ist nach Niethammer der Beweis der Gültigkeit einer Religion nicht zu leisten. Der Geltungsgrund historischen Offenbarungsglaubens kann nach Niethammer allein in der Religion reiner Vernunft gefunden werden, deren Begriff zu entfalten und mit den Gegebenheiten positiver Religion in Verbindung zu bringen sein Zentralanliegen ist. In der konstruktiven Wahrnehmung dieses Zentralanliegens wirken unbeschadet der entschiedenen Kritik am Tübinger Supranaturalismus Motive fort, die auf Storr zurückweisen. Was eigentlich ist religiös an der Vernunftreligion? Nach Niethammer ist die Vernunftreligion religiös in dem Maße, als sie die Praxis des sittlichen Willens mit dem Walten der Gottheit in Verbindung bringt. Diese Verbindung sei der praktischen Vernunft nicht äußerlich. Sie werde vielmehr von dieser selbst legitimiert, ja ihrer inneren Verfasstheit gemäß gefordert. Keineswegs sei es bloße Willkür, Pflichten als göttliche Gebote zu denken; vielmehr gehöre dieser Gedanke notwendig zum sittlichen Bewusstsein, das zu konkreter Selbstverständigung gelangt und auf konkrete Realisierung seiner Pflichten aus sei: Der sittliche Wille müsse von seinem ureigenen Grund und Ziel her auf Gott und den göttlichen Willen bezogen werden. 7 Was Niethammer religionstheoretisch intendierte, wird nach Dieter Hen-
7 „Niethammer verwendet sogar das Wort Offenbarung, um das Verhältnis des sittlichen Willens des Menschen zum göttlichen Willen auszudrücken. Es ist klar, daß er damit dieses Wort in einem ganz anderen Sinne gebraucht als innerhalb der Theorie des Offenbarungsglaubens, der doch dem Vernunftglauben entgegengesetzt ist. Das Gewissen soll nicht als eine übersinnlich verursachte Tatsache betrachtet werden. Aus sich selbst heraus soll es vielmehr eine Weise der Betrachtung, die Selbstbetrachtung ist, entfalten und entfalten müssen, in der es das Gesetz, welches es bindet, jederzeit als göttliches Gesetz versteht, um so ein Leben als Wandel vor Gott zu konstituieren." (D. Henrich, a.a.O. II, 993) Henrich hat vermerkt, dass Niethammer den skizzierten Gedanken in seiner Schrift „Ueber Religion als Wissenschaft" „nur angezeigt, nicht aber eigentlich entfaltet (hat). Er hat auch nicht die Voraussetzungen verdeutlicht, die erklärt werden müssen, wenn er zur vollen Entfaltung gebracht werden soll. So wie Niet-
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rieh am deutlichsten durch die zentrale Stellung erschlossen, in welche der Vorsehungsglaube in Niethammers Leben und D e n k e n einrückte. Lasse sich auch eine teleologische Gesamtanlage der gegebenen sinnlichen Welt theoretisch nicht erweisen, so sei doch der praktischen Vernunftreligion die G e wissheit einer letztendlichen Koinzidenz von Sittlichkeit und Sinnlichkeit implizit. O h n e diese religiöse Gewissheit habe praktische Vernunft keinen Bestand und keine verlässliche Aussicht auf sittliche Selbstrealisierung. G e gen die These, „daß der einzige und sichere Weg zu einer vollkommenen Glückseligkeit der des sittlichen Handelns selbst sei", wendet N i e t h a m m e r ein, „daß mit einer solchen Annäherung von Tugend und Glückseligkeit der menschlichen N a t u r zu nahe getreten werde. Auf das Wohlsein vermittels angenehmer äußerer Empfindungen könne auch der Tugendhafte nicht gänzlich verzichten. ,Auch der zufriedenste Mensch kann nur ein gewisses M a ß von Leiden ertragen'." 8 In dieser „eindrucksvollen Passage" 9 bringt sich ein M o t i v zur Geltung, das auch für Storr und die Art und Weise seiner Kantrezeption bestimmend war. Räume man im Unterschied zu einer rigoristischen Pflichtenethik, wie die Stoiker und Fichte sie vertraten, dem menschlichen Streben nach Glückseligkeit einen legitimen Platz in der praktischen Philosophie ein, indem man mit Kant das Verlangen nach G l ü c k als einen unvermeidlichen Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens jedes endlichen Vernunftwesens anerkenne (vgl. KpV, 4 5 ) , dann führe an der Annahme des höchsten G u t s und an der Akzeptanz der Existenz G o t tes, der Unsterblichkeit der Menschenseele und der Realisierbarkeit einer Welt der Freiheit praktisch kein vernünftiger Weg vorbei. D i e Vernunft bedarf um ihrer selbst willen der Religion. D e n Implikationen und Konsequenzen dieser T h e s e , die N i e t h a m m e r mit Storr teilte, ohne sich deshalb von Kant entfernen zu wollen, wird unter Bezug auf weitere seiner Schriften aus den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts nachzusinnen
hammer das sittliche Leben als Wandel vor Gott faßt, kann es nur das Leben eines endlichen sittlichen Subjektes sein, das sein Gewissen als Gottes Stimme in einer Weise erfährt, die eine Identifikation mit dem einigen, dem vollkommenen und insofern absoluten Willen ausschließt. (...) In den folgenden beiden Jahren hat sich Niethammer dann darum bemüht, die Theorie der Vernunftreligion so vorzutragen, dass sie einerseits gegen die Tübinger Dogmatik abgesetzt bleibt, daß sie aber andererseits dem Bewußtsein der Endlichkeit des sittlich Handelnden vor der Gottheit, die er als von sich unterschieden weiß, eine grundlegende Bedeutung für Sinn und Aufbau der Vernunftreligion selbst zuerkennt. Nur auf einer einzigen Seite von Ueber Religion als Wissenschaft hat Niethammer diesen Gedanken eingeführt. Obwohl sie ein für Niethammers Opposition gegen Fichte wichtiges Motiv formuliert, bringt sie doch nicht alles zur Sprache, was Niethammer zur selben Zeit bereits im Sinne hatte und was ihm als Motiv und Aufgabe für eine Theorie der Religion vor Augen stand." (A. a. O. II, 993 f) 8 A . a . O . II, 1001 unter Verweis auf Niethammer, Rezension von: Theologische Beyträge, hg. v.J.C.R. Eckermann, Bd. 1, 3. St., 1793, in: Neues Theologisches Journal, Bd. 3, 5. St., 1794, 402-415, hier: 413. 9 Ebd.
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sein. Zuvor jedoch ist im Sinne eines Nachtrags, aber auch zwecks Vorbereitung von Künftigem den geistigen Konstellationen im Jena der damaligen Zeit die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden, welche die für Niethammer bestimmende, durch die Polarität von Kant'scher Religionsphilosophie einerseits und Storr'scher Offenbarungstheologie andererseits vorgegebene Grundkonstellation zwar nicht auflösen, aber anreichern und verfeinern, was sich für die Niethammer'sche literarische Produktion als nicht unwesentlich erweisen sollte.
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Als 23-Jähriger hatte Niethammer 1789 das theologische Konsistoriaisexamen abgelegt, war aber zur Fortsetzung seiner Studien noch eine Weile im Tübinger Stift verblieben. Die Philosophie Kants dürfte während dieser Zeit bereits sein Hauptinteressensgebiet gebildet haben. Unterstützung fand er bei dem ebenfalls 1766 geborenen Immanuel Carl Diez, der ein Jahr vor Niethammer sein Studium beendet hatte. 1 Als er Ostern 1790 die dazu erforderlichen Mittel erhalten hatte, wechselte Niethammer von Tübingen nach Jena, um seine Kantkenntnisse bei dem ausgewiesenen Kantkenner
1 Niethammer befand sich im letzten Studienjahr, als Hegel und Hölderlin 1789 im Tübinger Stift ihr erstes absolvierten. Schelling rückte im Herbst 1790 ein und bezog mit den beiden G e nannten eine Stube. Zu den Tübinger Verhältnissen der damaligen Zeit vgl. H . Fuhrmans, Schelling im Tübinger Stift, in: F.J.W. Schelling, Briefe und Dokumente. Bd. 1, Bonn 1962, 9 - 4 0 . Dort finden sich auch interessante Informationen zu Storr und seiner Schule, zum Stiftsephorus C . F . Schnurrer sowie zu der sich anbahnenden Verbindung Schellings zu Niethammer, der ihn noch vor Abschluss seines Examens im Spätsommer 1795 aufforderte, am Philosophischen Journal mitzuarbeiten. Das Ergebnis waren die „Briefe über Dogmatismus und Kritizismus". Ihr anonymes Erscheinen hatte, wie A. Pieper in ihrem Bericht zur Edition der Briefe in der von der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Auftrag gegebenen historisch-kritischen Schellingausgabe vermerkt (F.W. Schelling, Werke 3. H g . v. G. Jacobs u. W . Schieche, Stuttgart 1982 [ = A A 1/3], 3 - 4 4 , hier: 9), „seinen Grund darin, daß Schelling sein theologisches Examen noch nicht abgeschlossen hatte und es sich deshalb nicht leisten konnte, eine Schrift unter seinem Namen zu veröffentlichen, die eine so heftige Polemik gegen die T ü binger Theologen enthielt. Er mußte befürchten, vom Examen ausgeschlossen zu werden, wenn das vernichtende Urteil über die kantianisierenden Theologen vorzeitig als das seine bekannt wurde." - „Der Tübinger Ephorus Christian Friedrich Schnurrer, der aufgeklärteste unter Niethammers Lehrern, hat seinem Schüler eine herausragende .Klugheit' attestiert. Sie hat sich nicht in spekulativen Höhenflügen manifestiert, eher in einer Treue gegenüber Kants ursprünglicher Lehre und in einem großen Talent zur Organisation, zur Vermittlung von Freundschaften und zum diplomatischen Lavieren zwischen konträren Positionen (etwa zwischen Erhard und Fichte oder zwischen Schmid, Feuerbach und Fichte). In der heißen (revolutionären) Phase des Stifts eher auf Diezens (und Schellings) Seite gegen G o t t l o b Christian Storrs Versuche, in Kants praktischer Philosophie eine indirekte Einladung zur Retheologisierung der Philosophie des ,Alleszermalmers' zu sehen, hat er 1830 in einem Brief erklärt, wieder zum Standpunkt des Glaubens zurückgekehrt zu sein, dem er vor 40 Jahren entlaufen sei. Obwohl nie entschieden - wie Diez, Forberg oder Erhard - von Affekten gegen die protestantische Theologie bewegt, war er doch, wie er im Curriculum zu seiner Dissertation berichtet, von Zweifeln am orthodoxen Weltbild geplagt, wie es von seinem Pfarrelternhaus geprägt war. U n d in dieser Situation war er, der sich nachweislich schon in Tübingen mit Kant (und wohl auch mit Reinholds Kantinterpretation) beschäftigt hat, für Diezens Anregung empfänglich, das trostlose Tübingen mit Jena zu vertauschen, wo Reinhold seit 1787 lehrte." (M. Frank, a. a. O . , 429 f)
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Karl Leonhard Reinhold zu vertiefen. 2 Mit einem Stipendium ausgestattet zog er über Nürnberg, Erlangen, Gotha, Erfurt und Weimar vom Neckar an die Saale. Am 7. Mai ließ er sich beim Prorektor inskribieren. Durch seinen Landsmann H . E. G. Paulus wurde Niethammer bei Reinhold eingeführt, in dessen Kreis er bald auch Friedrich Schiller kennen lernte, dem er wiederum die Bekanntschaft einer Reihe weiterer mehr oder minder berühmter Zeitgenossen verdankte. Zu nennen sind vor allem Baron Herbert aus Klagenfurt oder Johann Benjamin Erhard. Die innere Mitte der Jenaer Gelehrtenzirkel bildete die Kant'sche Philosophie. Anlässlich eines Kurzbesuches in den Herbstferien 1790 lernte Niethammer auch die Göttinger Szene kennen. Als er im April 1791 seine durch den Ertrag von Indexarbeiten angereicherten Stipendienmittel aufgebraucht hatte, übernahm er für acht Monate eine Hauslehrerstelle bei dem Buchhändler Carl Wilhelm Ettinger in Gotha. Die Tätigkeit ließ ihm Zeit zu literarischer Arbeit. So konnten neben einer Ubersetzungsprobe aus den drei Büchern des Sextus Empiricus von den Grundlehren der Pyrrhoniker Rezensionen für die Gothaer Gelehrten Anzeiger entstehen, deren Redaktion Niethammer zu übernehmen beabsichtigte. Die Zeitschriftenpläne scheiterten aber einstweilen. Im Dezember 1791 erfolgte die Rückkehr nach Jena. Schiller hatte Möglichkeiten bereitgestellt, gegen Entgelt tätig zu werden. Niethammer fertigte Ubersetzungen an und arbeitete für die Zeitschrift „Neue Thalia". Am 24. Februar 1792 kam es zur akademischen Nostrifikation. Der Tübinger Magistergrad, den Niethammer durch zwei Specimina und eine Dissertationsverteidigung erlangt hatte, wurde für die Jenaer Universität anerkannt, und Niethammer erhielt die venia legendi. Als für die Lehrerlaubnis erforderliche Qualifikationsschrift legte er die bereits besprochene Studie „De vero revelationis fundamento. Pars I" vor. Erst am 24. August erfolgte die öffentliche Disputation über die mittlerweile zweiteilige Schrift, bei der Forberg, Paulus und Reinhold als Opponenten fungierten. 3 Die Lehrveranstaltungen, die Niethammer seit Sommersemester 1792 anbot, waren entweder sehr schwach besucht oder kamen mangels Teilnehmer überhaupt nicht zu Stande. Seine finanzielle Lage war entsprechend prekär. Der Privat-
2 G e n a u e r beschrieben sind N i e t h a m m e r s J a h r e in J e n a in d e m Beitrag von H . - W . N o w i t z ki, „ G e h hin u n d predige das neue E v a n g e l i u m " . Friedrich Philipp Immanuel N i e t h a m m e r s Weg von der N o s t r i f i k a t i o n zur Renuntiation als außerordentlicher P r o f e s s o r der Philosophie in J e n a , in: F. Strack ( H g . ) , E v o l u t i o n des G e i s t e s : J e n a u m 1800. N a t u r und K u n s t , P h i l o s o phie und W i s s e n s c h a f t im S p a n n u n g s f e l d der G e s c h i c h t e , Stuttgart 1994, 9 4 - 1 2 3 . D e r Titel der Studie zitiert einen auf M k 16,15 anspielenden Eintrag Schillers in N i e t h a m m e r s S t a m m b u c h v o n 1791, der zu dezidiertem K a n t b e k e n n t n i s a u f r u f t (vgl. a . a . O . , 94 A n m . 1). 3 Z u den G r ü n d e n des späten D i s p u t a t i o n s t e r m i n s und zu d e m v o n N i e t h a m m e r beanspruchten Titel eines ordentlichen philosophischen A d j u n k t e n vgl. H . - P . N o w i t z k i , a . a . O . , 96 ff.
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dozent strebte danach, eine außerordentliche Professur in der philosophischen Fakultät zu erhalten. O b w o h l er erst seit drei Semestern und n o c h dazu mit sehr geringem Erfolg lehrte, wurde ihm die gewünschte Ernennung zum Extraordinarius bereits 1793 zuteil. 4 D i e Verpflichtung wurde am 18. N o v e m b e r in der Wohnung des amtierenden Prorektors vollzogen. T r o t z seiner eben erst vollzogenen Ernennung zum außerordentlichen Philosophieprofessor in J e n a folgte N i e t h a m m e r im D e z e m b e r 1793 einem A n g e b o t seines Freundes, des Klagenfurter Industriellen Franz Paul von Herbert und reiste über W ü r t t e m b e r g nach Kärnten, wo er bis zum F r ü h jahr 1794 blieb, um dann allerdings nach einer unerfreulichen Begegnung mit österreichischem Militär fluchtartig nach J e n a zurückzukehren. 5 D o r t angekommen beschloss er, nach erneut ausgebliebenen Lehrerfolgen, ein Journal zu begründen in der Absicht, sich auf diese Weise die nötige akademische Anerkennung zu verschaffen. Motiviert war dieses Bestreben u.a. durch die H o f f n u n g , als Gelehrter mit einem höheren Bekanntheitsgrad gegebenenfalls eine Lehrstelle in der württembergischen Heimat zu erhalten. D o c h die Erwartungen erfüllten sich nicht. Gleichwohl verfolgte N i e t h a m mer den Plan der Edition einer Zeitschrift weiter. I m Mai 1795 erschien das erste Stück des „Philosophischen Journals", das trotz erheblicher organisatorischer und finanzieller Schwierigkeiten und Probleme mit Verlegern zu beachtlichem Erfolg und Ansehen geführt werden konnte. Niethammers akademische Ambitionen erfüllten sich immerhin insoweit, als seinem A n trag auf ein theologisches Extraordinariat in J e n a stattgegeben wurde. Die zu diesem Zweck erstellte Dissertation „De persuasione pro revelatione eiusque stabiliendae m o d o rationis praeceptis consentaneo" erschien 1798 in deutscher Ubersetzung unter dem Titel „Versuch einer Begründung des vernünftigen Offenbarungsglaubens". A m 10. März 1798 fand die Installation als außerordentlicher Professor für Theologie statt. D i e ersehnte ordentliche Professur wurde N i e t h a m m e r in J e n a hingegen nicht zuteil, was sicher mit den Geschehnissen im Zusammenhang des Atheismusstreits zu tun hatte. 1804 nahm N i e t h a m m e r einen R u f nach Würzburg an und zog von der Saale an den Main. Die Jenaer Jahre waren für N i e t h a m m e r in theoretischer Hinsicht die mit Abstand anregendsten und produktivsten. „Jena wurde sein G l ü c k s t e r n . " 6 In rascher Abfolge entwarf er religionstheoretische und moralphilosophische Konzeptionen auf kantischer Basis und in engem Kontakt mit der J e naer Gelehrtenwelt. Das erste größere literarische Werk, das N i e t h a m m e r in
Zu den Gründen und Umständen vgl. a . a . O . , 105ff. Vgl. den Niethammerartikel von K. v. Prantl, in: A D B 23 (1886), 6 3 9 - 6 9 1 , hier: 639. Niethammer drohte .ein Strafverfahren, weil er sich den Anweisungen einer Schildwache widersetzt hatte. 4 5
' J . Döderlein, Unsere Väter, 20.
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Jena vorlegte, war die erwähnte und bereits eingehend behandelte Dissertation „De vero revelationis fundamento", mit der er sich im August 1792 für eine akademische Laufbahn in der philosophischen Fakultät qualifizierte; zunächst Adjunkt wurde er im November 1793 zum außerordentlichen Professor der Philosophie in Jena ernannt. Niethammers philosophische Qualifikationsschrift besteht, wie gesagt, aus zwei Hälften: Die ursprünglich lateinisch verfasste erste Hälfte enthält eine kritische Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsbegriff des Tübinger Supranaturalismus, die zweite, die als Grundlage der fälligen Disputation diente, schließt an Fichtes Schrift „Versuch einer Critik aller Offenbarung" an, die Ostern 1792 anonym in Königsberg erschienen war und anfangs für ein Werk Kants gehalten wurde. Die deutsche Buchfassung seiner philosophischen Doppeldissertation hat Niethammer Anfang Oktober 1792 fertiggestellt und unter dem Titel „Uber den Versuch einer Kritik aller Offenbarung" in Jena publiziert, wobei der lateinische Dissertationsteil im Zuge der Ubersetzung geringfügig modifiziert und erweitert, im Übrigen aber der Gesamtkonzeption umstandslos integriert wurde. 7 Vorangegangen waren der ersten selbständigen Publikation Niethammers einige literarische Gelegenheitsarbeiten, zu denen er sich vor allem aus
7 Dass Fichte in Niethammer jedenfalls zeitweise einen entschiedenen Bundesgenossen sah, beweist u.a. sein Schreiben vom 28. März 1793, in dem er ihn auffordert, gegen eine Rezension in der „Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek" (Zweiter Band. Erstes Stück. Heft 1 - 4 [1793], 3 - 4 8 ) Stellung zu beziehen, die ihrer beider Offenbarungskritik attackiert hatte (vgl. J . G . Fichte, Briefwechsel 1 7 7 5 - 1 7 9 3 . Hg. v. R. Lauth u. H . J a c o b , Stuttgart/Bad Cannstatt 1968 [ F G A I I I / l ] , 3 8 0 - 3 8 2 [Nr. 137]). Einen interessanten Kommentar zu Niethammers „Versuch einer Ableitung des Sittengesetzes aus der F o r m der reinen Vernunft", von dem noch zu reden sein wird, hat Fichte unter Bezug auf den neu konzipierten zweiten Paragraphen der Zweitauflage seiner Offenbarungsschrift (vgl. F G A 1/1, 135 ff) in einem Brief vom 6. D e z e m ber 1793 gegeben. In ihm beklagt er gegenüber Niethammer den aktuellen Zustand der kritischen Philosophie, mit der er „schlecht zufrieden" sei: „Meiner innigen Ueberzeugung nach hat Kant die Wahrheit blos angedeutet, aber weder dargestellt, noch bewiesen. Dieser wunderbare, einzige Mann hat entweder ein Divinations-Vermögen der Wahrheit, ohne sich ihrer Gründe selbst bewußt zu seyn; oder er hat sein Zeitalter nicht hoch genug geschätzt, um sie ihm mitzutheilen; oder er hat sich gescheut, bei seinem Leben die übermenschliche Verehrung an sich zu reißen, die ihm über kurz oder lang doch noch zu Theil werden mußte. N o c h keiner hat ihn verstanden; die es am meisten glauben, am wenigsten; keiner wird ihn verstehen, der nicht auf seinem eignen Wege zu Kant's Resultaten kommen wird, und dann wird die Welt erst staunen." (J.G. Fichte, Briefwechsel 1 7 9 3 - 1 7 9 5 . Hg. v. R. Lauth u. H . Jacob, Stuttgart/Bad Cannstatt 1970 [ F G A I I I / 2 ] , 1 9 - 2 2 [Nr. 169], hier: 2 0 f ) Fichte fährt fort: „Es giebt nur Eine ursprüngliche Thatsache des menschlichen Geistes, welche die allgemeine Philosophie, und die theoretische und praktische, ihre zwei Zweige begründet: Kant weiß sie gewiß, aber er hat sie nirgends gesagt; wer sie finden wird, wird Philosophie als Wissenschaft darstellen. D e r Erfinder wird keiner von denen seyn, welche geeilt haben, ihr System nach dem Studium der bloßen Kritik der reinen Vernunft abzuschließen; und ich fürchte, daß keiner von diesen ihn je verstehen wird." ( A . a . O . , 21; zu Fichtes Einschätzung der Verhältnisse in Jena nach seiner Berufung auf Reinholds Stelle vgl. etwa a. a. O . , 118.)
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Gründen der Unterhaltssicherung veranlasst sah. E r erstellte, um es zu wiederholen, Indices 8 , fertigte die „Probe einer U b e r s e t z u n g des Sextus Empiricus" an, die Ende Juli 1791 abgeschlossen war und in den von G . G . Fülleborn herausgegebenen Beiträgen zur Geschichte der Philosophie 1792 erschien 9 , schrieb und redigierte fernerhin Rezensionen im Auftrag des Verlegers der „Gothaischen gelehrten Zeitungen", in dessen Haus er zeitweise als Lehrer tätig war, und bekam schließlich von Schiller weitere Redaktions- und Übersetzungsarbeiten angeboten, die ihm die Finanzmittel für einen dauerhaften Aufenthalt in J e n a verschafften. 1 0 Zu nennen sind neben dem Beitrag „Das Gastmahl von Piaton oder Gespräch über die Liebe" in Schillers „Neue(r) Thalia" von 1792 Texte über „Merkwürdige Rechtsfäll e " 1 1 , die vom französischen Rechtsgelehrten Francois Gayot de Pitaval ( 1 6 7 3 - 1 7 4 3 ) überliefert wurden, dessen N a m e später allgemein zur K e n n zeichnung von Strafrechtsfallsammlungen Verwendung fand. Wichtig ist aber vor allem die von N i e t h a m m e r besorgte deutsche Bearbeitung der G e schichte des Malteserordens nach Vertot. 1 2 Schiller, der sich mit dem Plan eines Dramas über die Malteser seit 1788 bis in seine letzten Lebensjahre immer wieder beschäftigt hat, ohne ihn je zu realisieren, versah die Ausgabe in seiner Eigenschaft als Herausgeber mit einer Vorrede 1 3 , in der er die Maltesergeschichte als ein - trotz aller Beigaben abgeschmacktester Superstition - erhabenes Schauspiel einer über alle Sinnenreize erhabenen Ü b e r z e u gung rühmte. „Was der Verfasser der Einleitung", so Schiller, „zu nachstehender Geschichte jenem Zeitalter als ein wichtigen Vorzug anrechnet jene praktische Stärke des G e m ü t h s nehmlich, das Theuerste an das Edelste
8 Vgl. Dissertationes Philologico-Criticae singulas primum nunc cunctas edidit Christianus Friedericus Schnurrer Prof. Tubingensis, Gothae, apud C . W . Ettingerum, 1790. Näheres bei D . Henrich (Hg.), Immanuel Carl Diez, 398 f. ( A 3 / 7 4 ) . ' G . G . Fülleborn (Hg.), Beyträge zur Geschichte der Philosophie. I. u. II. Stück. Neue überarbeitete Auflage, Züllichau/Freystadt 1796, 1 9 7 - 2 3 4 : Probe einer Ubersetzung aus des Sextus Empirikus drei Büchern von den Grundlehren der Pyrrhoniker. Ein Anhang zu der am 28. Juli 1791 vorgelegten Arbeit enthält Erläuterungen zur Ubersetzung ( 2 3 5 - 2 3 8 ) . 1 0 Vgl. im Einzelnen D. Henrich (Hg.), a . a . O . , 4 7 0 f ( A 9 / 3 ) , 4 7 4 f ( A 9 / 9 ) , 4 9 7 - 4 9 9 (A13/3).
" Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem Französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet herausgegeben von Schiller. Erster Teil, J e n a 1792. Zweiter Teil, Jena 1792. Dritter Teil, Jena 1793. Vierter Teil, Jena 1795. In seinem Vorwort zu dem anlässlich der Ostermesse 1792 erschienenen ersten Teil empfahl Herausgeber Schiller die Textsammlung als eine „Auswahl gerichtlicher Fälle, welche sich am Interesse der Handlung, an künstlicher Verwicklung, und Mannigfaltigkeit der Gegenstände bis zum Roman erheben, und dabei noch den Vorzug der historischen Wahrheit voraus haben" (Erster Teil, 3). 12 Geschichte des Malteserordens nach Vertot von M. N . bearbeitet und mit einer Vorrede versehen von Schiller. Erster Band, J e n a 1792. Zweiter Band, Jena 1793. 13 A. a. O . , Erster Band, I I I - X V I .
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zu setzen und einem bloß idealischen G u t alle G ü t e r der Sinnlichkeit z u m O p f e r zu bringen, bin ich sehr bereit, zu u n t e r s c h r e i b e n . " 1 4 Wer der Verfasser der Einleitung ist, duldet keinen Zweifel. N i e t h a m m e r s Text, nach H e n rich der in sprachlicher Hinsicht möglicherweise beste von seiner H a n d 1 5 , n i m m t philosophisch den „Standpunkt einer kantisch begründeten Vern u n f t l e h r e " 1 6 ein, den er in seiner Gesamtanlage rein z u m Ausdruck bringt und „mit einer T h e o r i e der Religionen als Medien der Selbstentwicklung der V e r n u n f t " 1 7 verbindet. Vom Standpunkt einer kantisch begründeten Vernunftlehre aus ist auch N i e t h a m m e r s zweite selbständige Hauptschrift konzipiert, die ebenfalls bereits eingehend analysierte Monographie „ U e b e r Religion als Wissenschaft zur B e s t i m m u n g des Inhalts der Religionen und der Behandlungsart ihrer U r k u n d e n " . Sie ist B a r o n F r a n z de Paula von H e r b e r t gewidmet 1 8 , den N i e t h a m m e r im Jenaer Schillerkreis kennen gelernt und in dessen Klagenfurter Besitzungen er E n d e 1 7 9 3 / A n f a n g 1 7 9 4 mehrere W o c h e n zugebracht hatte. Die Schrift wurde im W i n t e r 1 7 9 4 / 9 5 fertiggestellt und im Mai 1 7 9 5 in N e u s t r e l i t z publiziert. W i e die Doppeldissertation gliedert sie sich in einen kritischen und in einen konstruktiven Teil: D e r kritische bestreitet, dass ein Beweis für den göttlichen U r s p r u n g einer Offenbarung im supranaturalistischen Sinne tatsächlich erbracht und überhaupt zu erbringen sei, der konstruktive versucht unter B e z u g auf Kant und dessen 1793 erschienene 14 A. a. O., VI. In seiner nicht namentlich gekennzeichneten, aber aufgrund der Titulatur des Ubersetzungswerkes unschwer mit seinem Namen zu verbindenden Einleitung (vgl. a. a. O., 1-41) hat Niethammer die heroische Maltesergeschichte zum Anlass allgemeiner religionstheoretisch-moralphilosophischer Erwägungen genommen. Höchster Zweck der Religion sei es, so wird konstatiert, den Geboten der Sittlichkeit Geltung zu verschaffen. „Aber die menschliche Vernunft, in ihrer Kindheit noch zu schwach um ihre eigene vollgültige Sanktion ihrer Geseze zu erkennen, nahm ihre Zuflucht zu einem höhern Gesetzgeber, von dem sie, gleichsam durch eine Selbsttäuschung, ihre eignen Geseze ableitete, um die Verbindlichkeit derselben auf das äussere Ansehen dieser höheren Macht zu gründen. So wurden ihre Forderungen in willkürliche Befehle einer Gottheit verwandelt; so wurde die Art sich den höchsten Gesetzgeber zu denken von den verschiedenen Idealen einer Gottheit, welche die Phantasie durch willkürliche Verbindungen sich erschaffen hatte, abhängig gemacht; so wurde die Einheit des Gesezgebers, der in allen derselbige war und in allen allein sprach, in eben so viele verschiedene Gesezgeber zertheilt, als die Verschiedenheit der Völker, der Umstände, der Klimate oder anderer äusserer Eindrücke Gottheiten erzeugt hatte." (2) Wolle man diesem Entwicklungsprozess und seinem Resultat, wie es in der Gegebenheit positiver Religionen vorliege, konstruktiv begegnen, müsse man deren Fortbildung zu vernünftiger Religiosität befördern und bis auf weiteres rechtlich geordnete Toleranz wahren und jeder Partei die Gerechtigkeit zukommen lassen, die ihr gebührt. Am Verhältnis von Christentum und Islam wird diese Forderung exemplifiziert. 15 Vgl. D. Henrich, Grundlegung aus dem Ich II, 957. " A.a.O. 11,960. Ebd. 18 „Aus Furcht vor politischer Verfolgung waren nur die Anfangsbuchstaben abgedruckt." (M. Frank, a.a.O., 436)
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Religionsschrift eine Begründung und Explikation von Religion und Glauben auf vernunftapriorischer Basis zu erbringen. Vorangegangen war der Schrift „ U e b e r Religion als Wissenschaft" Niethammers „Versuch einer A b leitung des moralischen Gesetzes aus der F o r m der reinen Vernunft", der in das zweite H e f t des zweiten Bandes des von Carl Christian Erhard Schmid und Friedrich Wilhelm Daniel Snell herausgegebenen „Philosophische (n) Journals für Moralität, Religion und M e n s c h e n w o h l " (Gießen 1793) aufgenommen wurde. D e r Versuch, das G e s e t z der Moral aus der F o r m der reinen Vernunft abzuleiten, darf nicht zuletzt deshalb besonderes Interesse beanspruchen, weil die angestrebte D e d u k t i o n des obersten praktischen Grundsatzes N i e t h a m mers brieflicher Ankündigung an seinen Freund Erhard vom 26. Juli 1793 zufolge Einheit in das Geschäft der theoretischen und praktischen Philosophie bringen und Erkenntnis- und Begehrungsvermögen auf einen gemeinsamen Wurzelgrund zurückführen sollte. 1 9 Erhard widersprach diesen Bestrebungen. Von hoher Wichtigkeit ist dies insofern, als sein Einfluss auf N i e t h a m m e r , ja auf die geistige Situation seiner Zeit insgesamt nicht unterschätzt werden darf. I m letzten J a h r z e h n t des achtzehnten Jahrhunderts zählte er ohne Zweifel zu den interessantesten und bedeutendsten Gestalten der philosophischen Szene. Dies haben die Forschungen D . Henrichs zur Vorgeschichte des Deutschen Idealismus ergeben, durch die Erhard der allgemeinen Vergessenheit e n t n o m m e n wurde, der er anheimgefallen war. 2 0 Philosophisch hochbegabt und von den Zeitgenossen zu den besten Köpfen gerechnet, nahm der „selbstdenkende Kantianer" 2 1 nicht nur auf die E n t wicklung seines Freundes Reinhold, dessen Vorstellungstheorie er bereits vor seinem J e n a e r Aufenthalt kennen gelernt hatte und bald sehr kritisch beurteilte, sondern auch auf Diskussionen um Fichtes frühe Wissenschaftslehre erheblichen Einfluss. Entschiedener noch als gegen Reinholds Elementarphilosophie und ihren Grundsatz des Bewusstseins machte er gegen
" Vgl. W. Baum (Hg.), Friedrich Immanuel Niethammer, Korrespondenz, a . a . O . , 6 0 - 6 5 , bes. 64. 2 0 Vgl. D . Henrich, a . a . O . II, 1 1 8 9 - 1 3 9 2 , hier: 1377. Erhard „war derjenige unter den Kantianern, dem zugetraut wurde, an Kants Lehre ohne alle Verschiebungen festzuhalten und dennoch mit einer Kraft ( . . . ) in die philosophischen Debatten einzugreifen, die nicht hinter denen von Fichte zurückblieben. Er gelangte zu der Zeit von Reinholds höchstem Ruhm nach Jena und wurde dort der Freund derer, die ihm die zugleich auch besten Möglichkeiten zur philosophischen Publikation eröffneten und durch die uns auch wichtige Teile seiner philosophischen Korrespondenz bewahrt worden sind. Zweimal beeinflußte er die weitere nachkantische Entwicklung: im Zusammenwirken mit Immanuel Carl Diez durch die Systemkrise, in die Reinhold im Frühsommer 1792 kam, und durch die Formierung des Widerstandes gegen Fichtes Wissenschaftslehre, den er aufgrund seiner Gegenwart in Fichtes Züricher Vorlesungen als einer der ersten erklären und zu dem er andere ermutigen konnte." 21
A . a . O . II, 1201.
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Fichtes Philosophie aus dem Ich das Programm einer analytischen Methode und den Primat der praktischen Vernunft geltend. Die philosophischen Gehalte sind nach Erhard aus der Evidenz der sittlichen Grundeinsicht und in Abhängigkeit vom praktisch-moralischen Bewusstsein auf analytische Weise zu gewinnen und nicht aus einem Prinzip zu deduzieren, welches dem U n terschied von theoretischer und praktischer Vernunft als spekulative Prämisse vorangeht. Weil sie diese methodische Regel missachte, sei Fichtes Wissenschaftslehre „als verfehlt und als mit Kant nicht vereinbar" 2 2 zu beurteilen. Vergleichbar argumentierte Erhard gegen Niethammers „Versuch einer Ableitung des moralischen Gesetzes aus der F o r m der reinen Vernunft", wie aus einem Schreiben vom 9. August 179 3 2 3 hervorgeht. D a s Wissen des Guten, das den Ausgangspunkt aller Philosophie im Sinne Kants bilde, könne aus keinem anderen Wissen und aus keinem theoretischen oder praktischen Prinzip deduziert werden, das ihm vorhergeht. Statt von anderwärts hergeleitet zu werden, sei es im sittlichen Bewusstsein unmittelbar zu ergreifen und auf seine Voraussetzungen, Implikationen und Folgen hin zu analysieren. Niethammer, der seit 1791 eng mit Erhard befreundet war und häufig mit ihm korrespondierte, blieb von dieser Argumentation nicht unbeeindruckt. Er hat den Einwand des Freundes akzeptiert und sich korrigieren lassen, wie ein Brief an Erhard vom 8. N o v e m b e r 1793 beweist. 2 4 D i e Ableitung des Moralgesetzes aus der reinen F o r m der Vernunft sei verfehlt. D a s sittliche Bewusstsein, durch welches Philosophie unmittelbare Orientierung erhalte, könne durch keinen Deduktionsbeweis substituiert werden. Für Niethammers Verhältnis zu Reinholds elementarphilosophischem System, das bereits 1792 unter dem Einfluss von Erhard, aber auch von D i e z in die Krise geraten war, sowie zur Ichphilosophie der Fichte'schen Wissenschaftslehre war diese Z u s t i m m u n g zu Erhards Kritik weichenstellend. Niethammers Bemühungen um eine kantischen Prämissen entsprechende Religionstheorie fanden nach erfolgter Abstandnahme von prinzipientheoretischen Grundlegungsversuchen ihre F o r t s e t z u n g in zwei literarischen Hauptwerken der Jahre 1796 und 1797/98. Seit 1795 gab Niethammer das „Philosophische Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten" heraus, zunächst allein, ab 1797 zusammen mit Fichte. U b e r den Zweck der Einrichtung dieser Zeitschrift hat er sich in einem Vorbericht sowie in einem dem ersten H e f t beigegebenen Beitrag geäußert, der „Von den Ansprüchen des gemeinen Verstandes an die Philosophie" handelt. N a c h der Rezension der Schrift über „Die H a u p t m o m e n t e der Reinholdischen Elementarphi-
22 23 24
A . a . O . 11,1299. Vgl. a . a . O . II, 1329f. Vgl. W. Baum (Hg.), a.a.O., 69f.
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losophie, in Beziehung auf die Einwendungen des Aenesidemus" 2 5 im zweiten und „Einige (n) Bemerkungen über den Gebrauch der Ausdrücke T h e o retisch und Praktisch und T h e o r i e und Praxis" im dritten Band seines J o u r nals publizierte N i e t h a m m e r 1796 in H e f t 1 und 2 des nächsten Zeitschriftenbandes „Philosophische Briefe über den Religions-Indifferentismus und einige damit verwandte Begriffe". Sie wurden noch im selben J a h r als Separatdruck im Buchhandel veröffentlicht. Gewidmet sind die Briefe dem Beilsteiner Stadtschreiber J o h a n n Philipp Krais. Von ihm hatte N i e t h a m m e r wahrscheinlich ein Privatstipendium erhalten, das ihm seinen Aufenthalt in J e n a anfänglich ermöglicht hatte. In den beiden Folgejahren erschienen neben dem „Versuch einer Darstellung des Vernunftmäßigen in den materialen Moralprinzipien" in H e f t 2 des fünften Bandes des Philosophischen Journals drei verschiedene Ausgaben einer weiteren religionstheoretischen Hauptschrift, mit der N i e t h a m m e r die Voraussetzung für seine Aufnahme als außerordentlicher Professor in die J e naer theologische Fakultät schuf, wo er bis zur Ü b e r n a h m e eines Ordinariats in Würzburg im S o m m e r 1804 lehrte. Die am 28. O k t o b e r 1797 verteidigte Disputationsschrift „De persuasione pro revelatione eiusque stabiliendae m o d o rationis praeceptis c o n s e n t a n e o " erhielt für den Buchhandel den Titel „Doctrinae de revelatione m o d o rationis praeceptis consentaneo stabiliendae periculum" und wurde 1798 in ihrer deutschen Fassung mit der Uberschrift versehen: „Versuch einer Begründung des Vernunftmäßigen OffenbarungsGlaubens". Wie die Briefe über den Religionsindifferentismus ist die theologische Dissertation darum bemüht, aus Gründen praktischer Vernunft die Unentbehrlichkeit von Religion und Glaube für die reale Sittlichkeit des Menschen zu erweisen. Beide Texte „haben nicht mehr die Methodologie der Religionstheorie und die Kritik von fehlgehenden Bemühungen um eine solche T h e o r i e zu ihrem Hauptzweck. Sie wollen die Bedeutung der Religion für ein in der Selbsttätigkeit der Subjekte begründetes Leben und die Gestalt einer Vernunftreligion verdeutlichen, welche dieser Bedeutung e n t s p r i c h t . " 2 6
2 5 Verfasser dieses 1794 in Leipzig publizierten Buches, das als einziges „zur Rechtfertigung von Reinholds Elementarphilosophie gegen Schulze geschrieben worden ist" (D. Henrich, a . a . O . I, 2 7 4 ) , war Johann Christian Carl Visbeck. Niethammers Besprechung erschien 1795: J . C . C . Visbeck, Die Hauptmomente der Reinholdischen Elementarphilosophie, in Beziehung auf die Einwendungen des Aenesidemus untersucht, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Zweiter Band. Erstes Heft (1795), 2 3 7 - 2 6 2 . Zentralthema der Besprechung ist die Frage, ob sich Wissenschaft, wie in Reinholds Elementarphilosophie behauptet, aus der schlechthin ursprünglichen Tatsache des Bewusstseins deduzieren und sonach auf einen obersten Fundamentalsatz gründen lasse. 2 6 D. Henrich, a . a . O . II, 1024. Durch Niethammers am 28. O k t o b e r 1797 verteidigte Dissertation, die ihm den Ubertritt in die theologische Fakultät und die Ernennung zu deren außerordentlichem Professor ermöglichte, wurde Schellings Aufsatz „Ueber Offenbarung und VolksUnterricht" (in: Philosophisches Journal. Achter Band. Zweites Heft [1798], 1 4 9 - 1 6 3 ;
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Die Jahre 1 7 9 8 / 9 9 erbringen für Biographie und Werkgeschichte
Niet-
h a m m e r s e i n e t i e f e Z ä s u r , d e r e n F o l g e n in i h r e r R e i c h w e i t e k a u m z u ü b e r s c h ä t z e n s i n d . A l s H e r a u s g e b e r des P h i l o s o p h i s c h e n J o u r n a l s w i r d e r z u s a m m e n m i t F i c h t e in d e n s o g . A t h e i s m u s s t r e i t v e r w i c k e l t . E s e r g e h t o f f i zielle
Anklage,
absichtlich
zur
Verbreitung
atheistischen
Gedankenguts
b e i g e t r a g e n zu haben. D e r V o r w u r f trifft N i e t h a m m e r schwer. Z w a r weist er den V e r d a c h t einer B e f ö r d e r u n g v o n G o t t l o s i g k e i t weit v o n sich u n d verteidigt sich nicht o h n e G e s c h i c k und E r f o l g : W ä h r e n d F i c h t e J e n a verlassen m u s s , h a n d e l t s i c h N i e t h a m m e r l e d i g l i c h e i n e n m i l d e n V e r w e i s ein, u n d ä u ß e r l i c h g e s e h e n b l e i b t alles b e i m A l t e n . D o c h die i n n e r e n F o l g e n s i n d e r h e b l i c h . D i e s t r i t t a m d e u t l i c h s t e n d a r i n z u t a g e , dass N i e t h a m m e r s e i n e l i t e r a r i s c h e P u b l i k a t i o n s t ä t i g k e i t bis a u f w e i t e r e s e i n s t e l l t . E i n h a l b e s J a h r z e h n t e r s c h e i n e n w e d e r A u f s ä t z e n o c h g a r B ü c h e r v o n s e i n e r H a n d . E r s t in d e r W ü r z b u r g e r Zeit tritt N i e t h a m m e r wieder mit zwei kleineren Publikationen in E r s c h e i n u n g ,
mit
einer A n d a c h t s r e d e
zum
Antritt
seines
Oberpfarrer der dortigen protestantischen Gemeinde a m ersten
Amtes
als
Advents-
f e s t des J a h r e s 1 8 0 4 s o w i e m i t e i n e r s c h r i f t l i c h e n A n k ü n d i g u n g d i e s e r F e i e r . D o c h m i t d e n in J e n a k o n z i p i e r t e n r e l i g i o n s t h e o r e t i s c h e n W e r k e n s i n d d i e se T e x t e w e d e r in F o r m n o c h in I n h a l t v e r g l e i c h b a r .
jetzt in: F.W.J. Schelling, Werke 4. Hg. v. W.G. Jacobs u. W. Schieche, Stuttgart 1988 [ = Akademie-Ausgabe 1/4], 249-256) veranlasst, in dem sich dieser in Übereinstimmung mit Niethammer gegen das supranaturalistische Verfahren verwahrt, durch die Hintertür der kantischen Philosophie wieder einzuführen, was durch die Vordertür soeben erst hinausgeschafft wurde. Schelling kommt zu dem Schluss: „Sobald erwiesen ist, daß die Bedingungen der Construction eines Begriffs falsch oder unmöglich sind, muß er aus dem System der Begriffe verschwinden. Seine scientifische Dignität kann der OffenbarungsBegriff ferner nicht behaupten. Dies hatte der oben genannte Verf. (sc. Niethammer) früher schon, in der Schrift Ueher Religion als Wissenschaft, unwiderleglich dargethan, dadurch, daß er zeigte: jener Begriff, zum Princip erhoben, zerstöre allen VernunftGebrauch. Das aber eben ist die Probe, ob ein Begriff scientifische Realität habe; denn jeder Begriff muß, (so wie jede rechtliche Maxime zum allgemeinen Gesetz des Handelns) zum allgemeinen Princip des Wissens ohne Gefahr erweitert werden können, wenn er ein wahrer, und reeller Begriff ist. Soll nun aber deswegen der OffenbarungsBegriff völlig aus der Welt verschwinden? Diese Frage hat der Verf. jetzt in der obengenannten Schrift beantwortet, und gezeigt, daß er, wenn er in einem System des Wissens nicht mehr Platz findet, dagegen eine sichre Stelle in der MethodenLehre des VolksUnterrichts finden werde." (AA 1/4, 256) Im editorischen Bericht zur kritischen Ausgabe der zitierten Schellingschrift finden sich Hinweise auf ihre Entstehungsgeschichte (vgl. AA 1/4, 238-244) sowie auf die Geschichte ihrer frühen Rezeption (vgl. AA 1/4, 244-246), die u.a. zeigen, dass der Atheismusstreit bereits seinen Schatten vorauswirft. Dies ist auch an der Rezeptionsgeschichte von Niethammers Dissertation zu belegen, etwa an ihrer Besprechung in dem „Tübinger Gelehrten Anzeiger" (27. Stück 2. April 1798, 209-216; 28. Stück 5. April, 217-224; 30. Stück 12. April, 233-240), wo es heißt: „es läßt sich, wenn man sich mehrerer ähnlicher Erklärungen anderer kritischer Philosophen aus den neuesten Zeiten erinnert, wohl schwerlich läugnen, dass die neueste kritische Philosophie eine immer sichtbarere Tendenz zu einem skeptischen Atheismus zeigt, insofern man unter dieser Benennung von jeher, und zwar mit allem Recht, dasjenige System verstanden hat, welches alle Möglichkeit, die Wirklichkeit des Daseyns Gottes ausser der Idee durch gültige theoretische oder practische Gründe zu behaupten, läugnet." (A. a. O., 218)
16. Jenaer Konstellationen
D e r Wechsel von J e n a nach Würzburg und sodann über Bamberg nach M ü n c h e n ist in seiner Bedeutung für Niethammers Biographie und Werkgeschichte nur mit der Zäsur zu vergleichen, die durch den Ubergang von Tübingen nach J e n a rund eineinhalb Jahrzehnte zuvor gesetzt worden war. D e r damalige Wechsel fiel in die Anfangsphase eines eruptiven Prozesses philosophischer Produktion, der nach Henrich „metaphorisch als die E x plosion einer Supernova" 1 beschrieben werden kann. Seine Initialzündung erhielt dieser Vorgang wesentlich in jenen beiden Kleinstädten, die für N i e t hammers Entwicklungsgeschichte die entscheidenden ersten Stationen markierten. Aus Tübingen entstammen mit Hölderlin, Hegel und Schelling überragende Repräsentanten der neuen, aus Kants Philosophie hervor- und zugleich über sie hinausgehenden Geistesbewegung, die eine E p o c h e prägen sollte. Hölderlin und Hegel bezogen das Tübinger Stift im S o m m e r 1788, 1790 folgte Schelling. Ihren Studiengang durchliefen sie unter Storrs Ägide, wobei der Tübinger Supranaturalismus für ihre Selbstverständigung vor allem als negativer Bezugspunkt künftiger T h e o r i e k o n z e p t i o n wichtig wurde, von dem man sich im eigenen D e n k e n abzusetzen hatte. Indes waren Hegel, Hölderlin und Schelling nicht die ersten, die in dieser Richtung optierten. Entsprechende Bestrebungen finden sich bereits bei älteren Tübinger K o m militonen, die - weit weniger bekannt - den G r o ß e n auf ihre Weise vorund zugearbeitet haben. N e b e n N i e t h a m m e r selbst ist vor allem sein gleichaltriger Freund und Weggefährte D i e z zu nennen. I m Gegenzug zu den T ü binger Supranaturalisten, die ihr System christlicher Offenbarungslehre u.a. mit Mitteln kantischer Philosophie zu verteidigen suchten, übte er unter Berufung auf Kant als einer der ersten konsequente T h e o l o g i e - und Religionskritik. Auch wenn N i e t h a m m e r den radikalen Folgerungen des F r e u n des mit bleibenden Vorbehalten begegnete, hat er an der Entwicklung von D i e z doch regen Anteil genommen, wie beider Korrespondenz namentlich in den zwei ersten J a h r e n nach dem Abschied von Tübingen belegt. Wie auch immer: Antisupranaturalistisch gesinnte Anhänger der Kant'schen Philosophie gab es in Tübingen bereits vor Hegel, Hölderlin und Schelling. Bevor diese das Stift bezogen, hatte dort die Revolution der Denkungsart bereits um sich gegriffen und eine Reihe von Anhängern ge-
1 D . Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie ( 1 7 8 9 - 1 7 9 5 ) , Stuttgart 1991, 218.
112
Jenaer Konstellationen
funden, die den Helden der nachkantischen Philosophie das Feld bereiteten. Die Spannung zwischen der Philosophie Kants und der Lehre der Kirche erbrachte erhebliche Glaubenszweifel und -krisen. Im Falle von Diez führten sie zur erklärten Apostasie vom Christentum; für Niethammer ergaben sich andere Auswege, die ihm nicht zuletzt durch die spezifischen Konstellationen in Jena eröffnet wurden, auch wenn ihm schließlich die Verwicklung in einen Atheismusstreit nicht erspart blieb. Zur Zeit von Niethammers Wechsel von Tübingen nach Jena war an der dortigen Universität Karl Leonhard von Reinhold (1757-1823) der wichtigste Multiplikator des Kant'schen Denkens, das er mit seiner Elementarphilosophie in einer Weise fortbildete, die ansatzweise bereits auf die Wissenschaftslehre vorauswies, mit der Fichte 1794 erstmals vor die Öffentlichkeit trat. Durch seinen Landsmann und späteren Würzburger Kollegen Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851), als Eichhorn-Nachfolger seit 1789 in Jena Professor für orientalische Sprachen, wurde Niethammer bei Reinhold eingeführt. Wenngleich dieser mit seinem „Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens" von 1789 2 „(n)ur für wenige Jahre im Zentrum der Entwicklung der nachkantischen Philosophie gestanden" 3 hat und sein Einfluss mit Beginn der Lehrtätigkeit Fichtes „beinahe instantan zum Erlöschen gekommen" 4 ist, so war doch gerade diese Zeit für Niethammers philosophisch-theologische Selbstverständigung von grundlegender Bedeutung. Dies gilt mutatis mutandis auch für seinen Freund Diez, der entscheidend zur Herbeiführung von Reinholds Systemkrise im Sommer 1792 beigetragen und eine Revision des elementarphilosophischen Konzepts erzwungen hat. Das geschah, noch bevor die Aenesidemus-Schrift von Gottlob Ernst Schulze 5 und deren Rezension durch Fichte 6 erschienen waren, in der sich Fichte, wie erwähnt, den Einwänden Schulzes gegen Reinhold in nicht unwesentlichen Punkten anschloss. Das einzige Buch, das zur Verteidigung der Reinhold'schen Elementarphilosophie gegen Aenesidemus-Schulze geschrieben wurde, hat Niethammer 1795 im zweiten Band seines Philosophischen Journals in einer Weise rezensiert, die deutlich macht,
2 D e m Werk ist eine Vorrede „ U e b e r die bisherigen Schicksale der kantischen P h i l o s o p h i e " ( 1 - 6 8 ) vorangestellt. S o d a n n wird „Von d e m B e d ü r f n i s s e einer neuen U n t e r s u c h u n g des Vors t e l l u n g s v e r m ö g e n s " ( 6 9 - 1 9 2 ) gehandelt und die „ T h e o r i e des Vorstellungsvermögens überh a u p t " ( 1 9 3 - 3 1 8 ) sowie die „ T h e o r i e des E r k e n n t n i s s v e r m ö g e n s ü b e r h a u p t " ( 3 1 9 - 5 7 9 ) entwikkelt. 3 D . H e n r i c h , G r u n d l e g u n g aus d e m Ich I, 227. 4 A . a . O . I, 119 A n m . 1 0 7 . 5 A e n e s i d e m u s , o d e r über die F u n d a m e n t e der von d e m H r n . Prof. Reinhold in J e n a gelieferten Elementar-Philosophie. N e b s t einer Vertheidigung des S k e p t i c i s m u s gegen die A n m a a ßungen der Vernunftkritik, H e l m s t e d t 1792. 6
In: A L Z , N r . 4 7 , 48 und 49, 11.-13. F e b r u a r 1794, S p . 3 6 9 - 3 7 4 , 3 7 7 - 3 8 3 u. 3 8 5 - 3 8 9 .
Jenaer Konstellationen
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dass e r d e n g e g e n R e i n h o l d v o r g e b r a c h t e n E i n w ä n d e n i m W e s e n t l i c h e n z u stimmte. N a c h R e i n h o l d s W e g g a n g w u r d e J o h a n n G o t t l i e b F i c h t e a n d e s s e n Stelle n a c h J e n a berufen. „ D i e Z e i t seiner d o r t i g e n W i r k s a m k e i t w a r die g l ä n z e n d s t e P e r i o d e d i e s e r U n i v e r s i t ä t . " 7 U m die W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t d e s t r a n s z e n dentalen
Gedankens
gegen
skeptische
Vorbehalte
zu
sichern,
F i c h t e i h n in e i n e m e i n h e i t l i c h e n P r i n z i p z u b e g r ü n d e n . 8
versuchte
Seine
Grund-
l e g u n g d e r T r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i e aus d e m I c h als i h r e m P r i n z i p h a t F i c h t e in d e r p r i m a p h i l o s o p h i a s e i n e r W i s s e n s c h a f t s l e h r e , v o n d e r ü b e r z w a n z i g F a s s u n g e n e x i s t i e r e n , in i m m e r n e u e n A n l ä u f e n v o l l z o g e n , w o b e i es z u n i c h t
unerheblichen
Modifikationen
des u r s p r ü n g l i c h e n
Ansatzes
k a m . D i e s e r ist in d e r „ G r u n d l a g e d e r g e s a m t e n W i s s e n s c h a f t s l e h r e "
von
1 7 9 4 / 9 5 e n t f a l t e t . M o t i v i e r t ist das K o n z e p t d e r e r s t e n W i s s e n s c h a f t s l e h r e u.a.
von
einer
schlechthin ursprünglichen Bewusstseinstatsache her zu begründen
durch
Reinholds
Bemühen,
die
kantische
Philosophie
sowie
E. Zeller, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, München 1873, 597 f. Zu Fichtes Welt- und Lebensanschauung sowie zu seiner Gotteslehre in der Jenaer Zeit (1794-98) vgl. u.a. E. Hirschs Studie „Fichtes Gotteslehre 1794-1802", in: ders., Die idealistische Philosophie und das Christentum. Gesammelte Aufsätze, Gütersloh 1926, 140-307, hier: 149-222. Wie Reinhold war Fichte nicht damit zufrieden, die Kant'schen Lehren auszudifferenzieren und zu breiter Anwendung zu bringen. Er strebte vielmehr danach, sie zu einem System fortzuentwickeln, dessen Begriffe sich sämtlich aus einem obersten Prinzip ableiten lassen, das nicht lediglich in einer abstrakten Form und Regel, welche das gegebene Mannigfaltige zur Einheit gestaltet, sondern in einer produktiven Kraft besteht, die reine und unendliche Tätigkeit sei. Diese Tätigkeit ist mit dem absoluten Ich gegeben, das an und durch sich selbst existiert, wohingegen alles, was das absolute Ich nicht unmittelbar selbst ist, erst in Folge seiner unendlichen Tätigkeit in Erscheinung tritt. Damit ist die „Grundidee der Philosophie Fichtes" (K. Biedermann, Die deutsche Philosophie von Kant bis auf unsere Zeit, ihre wissenschaftliche Entwicklung und ihre Stellung zu den politischen und sozialen Verhältnissen der Gegenwart. Band 1, Leipzig 1842, 421) und das Prinzip der Wissenschaftslehre als eines um sich und seinen Grund wissenden Wissens formuliert. - Neben der Elementarphilosophie Reinholds ist für Fichte und durch ihn für die Gesamtentwicklung des Deutschen Idealismus u.a. der „Versuch über die Transzendentalphilosophie" von Salomon Maimon (1753-1800) aus dem Jahr 1790 wichtig geworden. Zu Maimons Kantstudium und zur Charakteristik seiner eigenen Arbeiten vgl. das sechste Kapitel des zweiten Buches der von ihm selbst geschriebenen und von Karl Philipp Moritz, dem Autor des Romans „Anton Reiser" und Editor des „Magazins für Erfahrungsseelenkunde", 1792 herausgegebene „Lebensgeschichte" (neu hg. v. Z. Batscha, Frankfurt a. M. 1984, hier: 201 ff). Charakteristisch für Maimons Denken ist die schroffe Akzentuierung der Differenz zwischen dem Ideal vernünftigen Erkennens und den gegebenen Daten der Erkenntnis: „(u)nsere Erkenntnis hat manches Reine und manches Reelle, nur zum Unglück ist das Reine nicht reell und das Reelle nicht rein. Das Reine (Formelle) ist die Idee, der man sich im Gebrauch des Reellen immer (durch Induktion) mehr nähert, die man aber nie erreichen kann." (A.a.O., 211) Strenge Erkenntnis ist nach Maimon nur in den logischen und mathematischen Formen des theoretischen Bewusstseins möglich. Den Kant'schen Ding-an-sich-Begriff lässt er lediglich im grenzwertigen Sinne eines Bewusstseinsideals gelten, nämlich als Anfangs- bzw. Endpunkt eines vom gänzlich unbestimmten Sein anhebenden bzw. zum Nichts hin abnehmenden Bewusstseinsinhaltes. 7
8
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durch die Kritik, die Schulze-Aenesidemus an Reinhold übte. Die zweite epochale Fassung seines Systems hat Fichte 1804 in Berlin vorgetragen. Weitere Entwürfe folgten. Literarisch bekannt geworden war Niethammer mit Fichte durch dessen anonyme Schrift „Versuch einer Critik aller Offenbarung" von 1792, die er anfangs wie viele andere für einen Text Kants hielt, emphatisch begrüßte und zum Gegenstand einer eigenen Paraphrase machte. Als Fichte Ostern 1794 dem Ruf nach Jena folgte, kam es bald zu persönlichen Begegnungen, die eine Freundschaft begründeten, welche auch den sog. Atheismusstreit von 1798/99 überdauerte und selbst an der Tatsache keinen Schaden nahm, dass Niethammer dem System der Fichte'schen Wissenschaftslehre von Anbeginn nicht recht zu folgen vermochte. Was den sog. Atheismusstreit anbelangt, so wurde er durch das im Jahr 1798 erfolgte Erscheinen des ersten H e f t e s des achten Bandes des „Philosophischen Journals einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten" veranlasst. Uber die Umstände und Inhalte der Affäre wird noch ausführlich Bericht erstattet werden. Einstweilen sei lediglich vermerkt, dass die Angelegenheit zu einer offiziellen Anklage wegen absichtlicher Verbreitung atheistischen Gedankenguts führte, die Niethammer einen behördlichen Verweis, Fichte die Entlassung aus dem Jenaer Universitätsdienst eintrug. Im Juli 1799 begab sich der Ich-Philosoph nach Berlin. Jahrs zuvor war Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) 9 auf
' Ü b e r Schellings Biographie und Werkgeschichte informiert knapp das Büchlein von H . M . Baumgartner und H . Korten, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, M ü n c h e n 1996. Ausführlichere Mitteilungen enthält die Schellingbiographie von X. Tilliette, Schelling. Biographie, Paris 1999. Vgl. auch ders. (Hg.), Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen. Drei Bände, Turin 1974-81, Mailand 1988. Nach seinem Abschied vom Tübinger Stift und seinem Aufenthalt in Stuttgart war Schelling zunächst H o f m e i s t e r in Leipzig, ab O k t o b e r 1798 Professor in Jena. Die Bekanntschaft mit N i e t h a m m e r reicht weit zurück, wie ein intensiver Briefwechsel bezeugt (vgl. Akademie-Ausgabe I I I / l ) , dessen Ton immer vertrauter wird: A m 21. August 1798 teilt Schelling N i e t h a m m e r mit, A n f a n g O k t o b e r in Jena eintreffen zu wollen, „d. h. zu derselben Zeit, da ich das Z i m m e r in Ihrem H a u s beziehen kann" (AA III/1, 189), und im darauffolgenden September lässt er den „theuerste(n) F r e u n d " wissen, er werde bald ganz bei ihm sein: „Leben Sie wohl auf baldige U m a r m u n g ! " (AA III/1, 192f) Kurz darauf zog Schelling im Jenaer H a u s N i e t h a m m e r s ein und war sogleich, wie Caroline Schlegel am 4. Februar 1799 an Novalis in Freiberg schrieb, „von Schwaben besetzt, mit denen er sich wenigstens behaglich f ü h l t " ( N o valis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Vierter Band: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. H g . v. R. Samuel, Stuttgart 1975, 519 [Nr. 162]). Caroline Schlegel merkt des Weiteren Folgendes an: „Kann er (sc. Schelling) nicht nur so unbedeutend schwatzen oder sich wissenschaftlich mittheilen, so ist er in einer Art von Spannung, die ich noch nicht das Geheimnis gefunden habe zu lösen." (Ebd.) Dies sollte sich ändern. - Gelegenheit zu wissenschaftlicher Mitteilung hatte Schelling u.a. im Philosophischen Journal, wo er auf N i e t h a m mers Einladung hin 1797/98 eine „Allgemeine Ubersicht der neuesten philosophischen Literatur" publizierte, in der er nicht nur elementare Kritik an Reinhold übte (vgl. J. Stolzenberg, Die Freiheit des Willens. Schellings Reinhold-Kritik in der Allgemeinen Übersicht der neuesten philosophischen Literatur, in: M. Bondeli/A. Lazzari (Hg.), Philosophie ohne Beynamen. System,
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Veranlassung G o e t h e s nach J e n a berufen worden. N i e t h a m m e r hatte bereits 1795 dem damals 20-Jährigen ein A n g e b o t zur Mitarbeit beim „Philosophischen J o u r n a l " unterbreitet, was dieser auch nutzte. Bald ergab sich ein reger Schriftwechsel zwischen beiden. Aus der Zeit von 1795 bis 1798, in der Schelling als H o f m e i s t e r in Leipzig lebte, stammen über vierzig Briefe aus seiner Feder an N i e t h a m m e r . 1 0 In der gemeinsamen Jenaer Zeit intensivierte sich der Kontakt und entwickelte sich zu einer Freundschaft, die sich auch in späteren Würzburger und M ü n c h e n e r Zeiten trotz einer Reihe von schweren Belastungen und ungeachtet dessen erhalten konnte, dass sich der philosophische Einfluss von Schelling auf N i e t h a m m e r in engen Grenzen hielt. Ein Freundschaftszeugnis von ergreifender Art ist Schellings Brief an N i e t h a m m e r über den Tod Carolines (7. September 1809 in Maulbronn) vom 2. O k t o b e r 1809, der anlässlich des 200. Geburtstags des Philosophen als kommentierter Separatdruck herausgegeben wurde. 1 1 D e r K o m m e n t a r enthält eine Fülle von Hinweisen auf die enge Beziehung und Korrespondenz beider über die Jahre hinweg. D e r junge Schelling war auf seine Weise Fichteaner wie der junge F i c h t e auf seine Weise Kantianer war. Beide haben die Philosophie, an die sie anschlössen, nicht schülerhaft repetiert, sondern konstruktiv fortentwickelt. Was das Verhältnis Schellings zu Fichte in seinen frühen Jahren betrifft, so hat er dessen Begriff und Grundlegung der Wissenschaftslehre, nachdem er sie anfangs lediglich kommentarisch rezipiert hatte, bald schon dadurch mit einem eigenen A k z e n t versehen, dass er dem Ich zwar einerseits mit F i c h t e unendliche Fülle, aber andererseits und in kritischer Absetzung von diesem nur eine formale Identität zuerkannte, die mit der Einheit des Absoluten nicht gleichgesetzt werden dürfe. Als Aneignungsfähigkeit überhaupt sei das Fichte'sche Ich D e n k e n und Sein vereinendes Prinzip nur auf formale, nicht aber auf real-absolute Weise. Als formales Prinzip der Philosophie de-
Freiheit und Geschichte im Denken Karl Leonhard Reinholds, Basel 2004, 2 7 2 - 2 8 9 ) , sondern bereits einen „ersten systematisch durchgeführten Entwurf der Begründung der Einheit der theoretischen und praktischen Philosophie aus einem Prinizip" ( a . a . O . , 272) vorlegte. Weitere Informationen über die Beziehungen zwischen Niethammer und Schelling sowie über Schellings frühe Publikationen im „Philosophischen Journal" finden sich in: F . W . J . Schelling, Werke 4. Hg. v. W . G . J a c o b s u. W . Schieche, Stuttgart 1988, 235 ff. 1 0 Vgl. G . Dammköhler, Schellings Beziehungen zu Niethammer vor seiner Berufung nach Jena. Nebst 46 unedierten Briefen Schellings aus den Jahren 1 7 9 5 - 1 7 9 8 , Leipzig 1913. D a m m köhler kommt zu dem Ergebnis, „daß Niethammers Anteil an dem Zustandekommen der Jenaer Berufung und überhaupt an Schellings Aufstieg in die gelehrte Welt weit höher anzuschlagen ist, als es bisher geschah, höher auch als die Bemühungen Fichtes, der ja in praktischen Angelegenheiten überhaupt wenig Geschick besaß. Niethammer dagegen gibt schon hier eine Probe seines organisatorischen Talentes, das er in seiner späteren Tätigkeit als Zentralschulrat und Oberkirchenrat in München zu voller Entfaltung bringen konnte." ( A . a . O . , 14) 11 F.W.J. Schelling, Briefe über den Tod Carolines vom 2. O k t o b e r 1809. Kleine kommentierte Texte 1, Stuttgart/Bad Cannstatt 1975.
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ren durchaus absolut zu nennende F o r m bleibt das Ich Fichtes nach Schelling gleichwohl einer D i f f e r e n z ausgesetzt, die durch unbedingte Selbsttätigkeit des Ich nicht aufzuheben ist. N u r in der absoluten Indifferenz des Absoluten, die sich allein intellektualer Anschauung erschließt, ist alle Differenz behoben. U m zur Besinnung zu kommen, um die es sich durch den Anspruch seiner Absolutheit zu bringen droht, bedarf das Ich der Einsicht in sein eigenes Sich-Gegebensein. D a s Ich vermag den G r u n d seiner selbst nicht unmittelbar in sich, sondern nur im Absoluten zu finden, mit dem es zwar formaliter, nicht aber realiter eins ist. 1 2
12 „Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre (1795-1801)" ist detailliert dargestellt in dem gleichnamigen Buch von R. Lauth, Freiburg/München 1975. Vgl. ferner: ders., Hegel vor der Wissenschaftslehre, in: Akademie der Wissenschften und der Literatur. Mainz. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Jhg. 1987. Nr. 1, Stuttgart 1987. Eines der wichtigsten Dokumente aus der Frühgeschichte des Deutschen Idealismus ist das anonyme Fragment des in der Handschrift Hegels überlieferten, wahrscheinlich 1796/97 entstandenen sog. Altesten Systemprogramms (vgl. D. Henrich, Aufklärung der Herkunft des Manuskriptes „Das Alteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus", in: ZPhF 30 [1976], 510-528). In ihm soll die Philosophie Kants, der Schelling attestierte, lediglich die Resultate gegeben zu haben, während die Prämissen noch fehlen, dergestalt vollendet werden, dass theoretische und praktische Philosophie konzeptionell aus einem Grunde hergeleitet werden. Dabei wird der praktischen Philosophie insofern eine bleibende Prärogative zuerkannt, als künftig, wie es heißt, die ganze Metaphysik in die Moral fallen soll. O b der von seinem Entdecker Franz Rosenzweig Schelling zugeschriebene Text auf dessen Verfasserschaft zurückgeht, ist mehrfach bezweifelt worden. An eine Autoren- bzw. Mitautorenschaft Hölderlins, Hegels oder eines anderen Philosophen der Zeit ist immerhin zu denken. Wie dem auch sei: D e m über Kant hinausweisenden Fichte'schen Denken ist die Systemprogrammschrift dadurch verbunden, als sie der Vorstellung des Ich von sich selbst als eines absolut freien Wesens selbstverständlich den Status der ersten Idee in dem intendierten, als Ethik zu konzipierenden System aller Ideen bzw. aller praktischen Postulate einräumt. Mit dem freien, selbstbewussten Ichwesen tritt sodann wie aus dem Nichts jene Welt hervor, deren Bestimmungsgrund nicht in der schieren Faktizität des Gegebenen, sondern in ihrer Freiheitsdienlichkeit zu suchen und zu finden ist. Die entscheidende Frage philosophischer Physik lautet nicht, wie die gegebene Welt für sich, sondern wie sie für moralische Wesen beschaffen und unter der Bedingung der Existenz von Freiheit entworfen sein muss. Durch äußere Experimente ohne Bezug auf den schöpferischen Geist der Freiheit lässt sich diese Frage naturgemäß nicht beantworten. U m die Physik zu sachgemäßen Antworten zu beflügeln, bedarf es als erstes der Einsicht, dass die Natur nur als Gegenstand der Freiheit angemessen begriffen und in das System der Ideen eingeordnet zu werden vermag. Die natürliche Welt ist so zu konstruieren, wie sie sich unter der Bedingung möglicher Freiheit darzustellen hat. Schellings Naturphilosophie wird diesen Ansatz in der Weise zur Durchführung bringen, dass er in der Natur die Vorgeschichte des Selbstbewusstseins entdeckt (vgl. W. Wieland, Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur, in: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, 406-440). Der an der Physik zu bewährende Grundsatz, dass Idee nur dasjenige zu heißen verdient, was Gegenstand der Freiheit ist, gilt umso mehr in Bezug auf den Menschen, sein geschichtliches Werk und die Geschichte der Menschheit überhaupt. Alles, was in staatlicher, kirchlicher oder sonstiger geschichtlicher Hinsicht die Freiheit des vernünftigen Menschengeistes knechtet, ist daher zu eliminieren und aus dem System der Ideen auszuscheiden, das sich nach Maßgabe des sog.
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Wo die Namen Fichte und Schelling genannt werden, darf derjenige Georg Wilhelm Friedrich Hegels ( 1 7 7 0 - 1 8 3 1 ) als des Dritten im Bunde der großen deutschen Idealisten nicht fehlen. Ihn verband mit Niethammer von allen die herzlichste Freundschaft. Man kannte sich aus dem Tübinger Stift. Die Verbindung vertiefte sich, als Hegel als Privatdozent nach Jena kam. 1801 erschien seine Schrift über die „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie", 1 8 0 6 / 0 7 vollendete er sein erstes großes Hauptwerk, die „Phänomenologie des Geistes", bei deren Drucklegung ihn Niethammer unterstützte. Bevor Hegel 1816 als Universitätsprofessor nach Heidelberg, 1818 schließlich nach Berlin berufen wurde, übernahm er 1807 vorübergehend die Leitung der Bamberger Zeitung und wirkte dann acht Jahre lang als Gymnasialdirektor in Nürnberg. Beide Male machte Niethammer seinen Einfluss vermittelnd geltend, wie er denn schon in den für Hegel eher kargen Jenaer Jahren immer wieder Hilfestellung leistete, nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht. Hegel hat Niethammer dies lebenslang nicht vergessen, auch wenn dieser seinen spekulativen Gedankenwegen ebenso zurückhaltend begegnete wie den Entwicklungen, die Fichte und Schelling nahmen. Entscheidende wissenschaftliche Abhängigkeiten lassen sich nirgends feststellen. Gleichwohl kann man sagen, dass Niethammer „unter Hegels Freunden wohl der treueste, probehaltigste und hilfreichs t e " 1 3 war. Ein umfänglicher Briefwechsel von ungetrübter Herzlichkeit do-
Ältesten Systemprogramms des Deutschen Idealismus in der Idee der Schönheit vollendet. In ihr sind zuletzt alle Ideen vereinigt, und Wahrheit und G ü t e verschwistern sich in ihr. Weil dies so ist, muss der Philosoph ästhetische Kraft besitzen und Dichter sein, weil er ohne Dichtkunst nur geistlose, ja geistwidrige Buchstabenphilosophie zu produzieren vermag. O h n e Poesie keine Philosophie! Ziel poetischer Philosophie hinwiederum muss es sein, eine neue Mythologie auszubilden, die den sinnlichen Bedürfnissen des Volkes und den Ansprüchen der Vernunft gleichermaßen Rechnung trägt und den Ungeist der Zertrennung durch Behebung der Differenz von Gelehrten und Ungelehrten vertreibt und eine Einigkeit schafft, in der Individualität und Allgemeinheit sich wechselseitig durchdringen (vgl. insgesamt R. Bubner [Hg.], Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus, Bonn 1973). 13 K. Fischer, Hegels Leben, Werke und Lehre. Erster Teil (1901, 2 1 9 1 1 ) , Darmstadt 1973, 67. Ein Beleg für das enge Freundschaftsverhältnis sind die zahlreichen Briefe, die zwischen beiden gewechselt wurden (vgl. J . Hoffmeister [Hg.], Briefe von und an Hegel. 4 Bde., H a m burg 1952 ff). Näheres zu den lebensgeschichtlichen Berührungspunkten ist den Hegelbiographien zu entnehmen, von denen nur folgende eigens benannt seien: K. Rosenkranz, G . W . F . Hegels Leben (1844), Darmstadt 1977; H . Althaus, Hegel und Die heroischen Jahre der Philosophie. Eine Biographie, München/Wien 1992; T . Pinkard, Hegel. A Biography, Cambridge 2000. Niethammer unterstützte Hegel bereits bei dessen Beginn in Jena in vielerlei Weise. Zur „Hauptstütze seiner Zukunftserwartungen" ( H . Althaus, a . a . O . , 175) wurde er spätestens gegen Ende der Jenaer Zeit, als Hegel dem fürsorglichen Freund die berühmt gewordenen Zeilen vom 13. O k t o b e r 1806 überstellte, dem Tag, an dem Jena von den Franzosen besetzt wurde und Napoleon, der „Weltgeist zu Pferde", in seinen Mauern eintraf: „den Kaiser - diese Weltseele - ", so Hegel, „sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; - es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt
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kumentiert beider Freundschaft, in welche die Familien eingeschlossen waren. 1814 wurde Niethammer Pate von Hegels Sohn Thomas Immanuel Christian, dessen Vornamen der Vater dialektisch auf den Gegensatz von ungläubigem Zweifel und christlichem Glauben deutete, welcher im Patennamen, der für wohltemperierten Ausgleich der Extreme stehe und deren Indifferenzpunkt bilde, vermittelt und versöhnt werde. Niethammer hat sich diese Deutung gefallen lassen, wenngleich nicht ohne Bedenken. Blendet man rund zehn Jahre zurück, so ergibt sich die Gelegenheit, nach der Tauffeier im Hegel'schen Familienkreise die Sprache auf eine Geburt zu bringen, die sich im Jenaer Hause Niethammers kurz vor dem Weggang nach Würzburg ereignete. Nicht von der Niederkunft Rosina Eleonores ist zu berichten, die Niethammer im Oktober 1797 als junge Witwe seines fünf Jahre zuvor verstorbenen Kollegen Johann Christoph Döderlein 1 4 geheiratet hatte, sondern von Charlotte Schillers Entbindung, die am 25. Juli 1804 ihr viertes Kind, Emilie Henriette Luise, zur Welt brachte. „Die Geburt verläuft ohne Komplikationen. Lotte bedurfte kaum ärztlicher Hilfe, um so mehr aber Schiller, der sich am Abend zuvor bei einem Ausflug ins Dornburger Tal eine heftige Erkältung zugezogen hatte und mit starken Kolikanfällen zu Bette lag." 1 5 Niethammer hatte Johann Christoph Friedrich Schiller (1759-1805) im Kreise Reinholds kennen gelernt und seine Hilfe mehrfach dankbar in Anspruch genommen. Nach einigen Monaten auf einer Hofmeisterstelle in Gotha, die lediglich eine finanzielle Interimslösung bot, ermöglichte ihm Schiller im Dezember 1791 die Rückkehr nach Jena und verschaffte Gelegenheiten, als Hilfskraft mit Ubersetzungen und Rezensionen für eigenen Erwerb zu sorgen, ohne den an einen Verbleib nach Auslauf des Stipendiums nicht zu denken gewesen wäre. Im letzten Quartal 1791 richtete Schiller einen Mittagstisch ein, an dem auch Niethammer teilnehmen konnte; man unterhielt sich „vorzüglich über die Kan-
konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht." (J. H o f f meister [Hg.], Briefe von und an Hegel. Bd. I: 1 7 8 5 - 1 8 1 2 , Hamburg 3 1 9 6 9 , 1 1 9 - 1 2 1 , hier: 120). A m 13. März 1807 schreibt Niethammer aus Bamberg an Schelling: „Die Anlage an Hegel ist bestellt; er ist seit gestern Abend wieder hier bei uns. Ich bin froh, daß mirs gelungen ist, ihn endlich aus dem verödeten Jena zu erretten. Haben wir ihn einmal auf Bayerischem Grund und Boden, so wird er selbst schon sich weiterhelfen. Einstweilen ist er wenigstens vor Hungerleiden gedeckt; indes war es in jeder Hinsicht gut, ihn von Jena loszureißen." (J. Nicolin [Hg.], Hegel in Berichten seinerZeitgenossen, Hamburg 1970, 85 [ N R . 125]). 14 Vgl. J . Döderlein, Unsere Väter, 3 2 f sowie D . Henrich (Hg.), Immanuel Carl Diez, 368 (A2/14). 1 5 R. Safranski, Friedrich Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus, M ü n c h e n / Wien 2004, 522 f Vgl. auch P.-A. Alt, Schiller. Leben - Werk - Zeit. Zweiter Band, München 2 2 0 0 4 , 562: „Am Beginn der letzten Krankheitsperiode steht der vorübergehende U m z u g ins benachbarte J e n a Ende Juli 1804. Die Familie quartiert sich in der Leutrastraße im Haus N i e t hammers ein, der zur selben Zeit seine Ubersiedlung nach Würzburg vorbereitet." In Spannung hierzu steht die Angabe in A D B 23 (1886), 690 zum U m z u g nach Würzburg.
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tische Philosophie, und diese war ... ein nie versiegender Quell für gegenseitige Mitteilung" 1 6 . Später, im Jahre 1797/98, verwendete sich sein schwäbischer Landsmann bei Goethe dafür, Niethammer ein theologisches Extraordinariat zu verschaffen, das er auch erhielt. Weniger erfolgreich war Schillers Einsatz für den Freund bei der Wiederbesetzung des Lehrstuhls von Paulus, der Ende 1803 einen Ruf nach Würzburg angenommen hatte. Der lange gehegte Wunsch Niethammers, ordentlicher Professor für Theologie in Jena zu werden, ging nicht in Erfüllung. 1 7 Trotz der bitteren Enttäuschung, die diese Entwicklung für ihn bedeutete, blieb das Freundschaftsverhältnis zu Schiller ungetrübt. Noch kurz vor seinem Tod erkundigte sich der Dichter mit rührender Anteilnahme nach Niethammers Befinden in Würzburg. Schiller dürfte es gewesen sein, durch den Niethammer mit Johann Wolfgang von Goethe ( 1 7 4 9 - 1 8 3 2 ) in Kontakt kam. Auch wenn die Beziehung zu Goethe anders als im Falle Schillers nicht durch enge Freundschaft gekennzeichnet war, so verdient es doch bemerkt zu werden, dass sich der Olympier von Niethammer in der Zeit v o m 5. September bis zum 3. O k t o ber 1800 einen philosophischen Grundkurs insbesondere zu Schellings „System des transzendentalen Idealismus" erteilen ließ. In Briefen an Schelling und an Schiller sowie in anderen Zusammenhängen kommt Goethe in dankbarer Anerkennung auf seine gedanklichen Fortschritte infolge der Kolloquia mit Niethammer zu sprechen, der, wie der Dichterfürst erinnert, „mit
" J . C . F . Schiller, Werke. Nationalausgabe, 42. Band: Schillers Gespräche, Weimar 1967, 144 ( N r . 2 3 5 ) . A m 28. N o v e m b e r 1791 schreibt Schiller an N i e t h a m m e r : „Gebe übrigens der H i m mel, dass keine W ü r t t e m b e r g i s c h e Kanzel Sie uns vor der Zeit entführe; das würde nicht sehr geschickt seyn, mich mit dem lieben C h r i s t e n t h u m auszusöhnen, das, unter uns gesagt, so wenig m e h r bey mir zu verlieren hat. Doch fürchte ich es in A n s e h u n g Ihrer, lieber Freund, dießmal weniger, als A m o r s schelmische Augen, die Ihnen bei Ihren H a u s g e n o s s i n n e n sehr scharf auflauern sollen." (Schillers Werke. Nationalausgabe. 26. Band. Briefwechsel. Schillers Briefe: 1.3.1790-17.5.1794, Weimar 1992, 115 [Nr. 9 4 ] ) 17 N i e t h a m m e r s „Verdruß über den Kaltsinn", mit dem Goethe seine J e n a e r B e r u f u n g s a n g e legenheiten behandelt hatte, w a r groß und w u r d e erst „diesseits des T h ü r i n g e r Waldes", also in der W ü r z b u r g e r Zeit gemildert (Brief N i e t h a m m e r s an Schiller vom 17.12.1804, in: J . C . F . Schiller, Werke. Nationalausgabe, 40. Band, Teil 1: Briefwechsel. Briefe an Schiller 1.1.1803-17.5.1805 [Text], Weimar 1987, 2 6 2 f [ N r . 3 0 7 ] , hier: 263). Statt N i e t h a m m e r w u r d e der von Goethe und C h r i s t i a n G o t t l o b Voigt am Weimarer H o f favorisierte J o h a n n Philipp Gabler als Paulusnachfolger auf die zweite ordentliche Professur an der J e n a e r theologischen Fakultät berufen. Er sollte im Senat der Universität ein G e g e n g e w i c h t zu J . J . Griesbach bilden, w a r im Ü b r i g e n aber auch einer der bekanntesten T h e o l o g e n im damaligen Deutschland und ein Bahnbrecher für eine von d o g m a t i s c h e r B e v o r m u n d u n g befreite biblische Theologie. (Vgl. K.-W. N i e b u h r / C . Böttrich [ H g . ] , J o h a n n Philipp Gabler. 1 7 5 3 - 1 8 2 6 z u m 250. Geburtstag, Leipzig 2003. A . a . O . , 1 4 7 - 1 5 0 findet sich das D e n o m i n a t i o n s g u t a c h t e n der Fakultät, in dem Gabler erst an vierter Stelle der auswärtigen Berufungsvorschläge genannt wird. Zu N i e t h a m mer und dem Inhaber der dritten ordentlichen Professur Carl Christian Erhard Schmid vgl. a . a . O . , 148.)
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freundlichster Beharrlichkeit mir die Haupträtsel zu entsiegeln, die einzelnen Begriffe und Ausdrücke zu entwickeln und zu erklären trachtete" 1 8 . In späteren Jahren, schon in seiner M ü n c h e n e r Zeit, wollte N i e t h a m m e r G o e the für zwei P r o j e k t e gewinnen, welche er mit Unterstützung der bayerischen Staatsregierung zu verwirklichen trachtete: „ein historisch religiöses Volksbuch und eine allgemeine Liedersammlung zu Erbauung und E r g ö t zung der D e u t s c h e n . Beides wurde eine Zeitlang durchgedacht und schematisiert, das U n t e r n e h m e n jedoch, wegen mancher Bedenklichkeit aufgegeb e n . " 1 9 D e r guten Beziehung Niethammers zu G o e t h e tat dies keinen A b bruch. Weimarbesuche in den Jahren 1816 und 1826 belegen es. Man bespricht aktuelle Entwicklungen, u. a. in Bezug auf die Lage der evangelischen Kirche in Bayern, und gedenkt im Übrigen unter Zusicherung gegenseitiger Verbundenheit vergangener Zeiten. Fichte, Schelling, Hegel, Schiller, G o e t h e : Die Namensreihe überragender Gestalten im J e n a e r U m k r e i s Niethammers wäre ohne die Erwähnung Friedrich Hölderlins ( 1 7 7 0 - 1 8 4 3 ) unvollständig. 2 0 Hölderlin reiste Anfang N o v e m b e r 1794 in Begleitung F r i t z von Kalbs nach J e n a und logierte im Gartenhaus des Buchhändlers Voigt. E r verkehrte freundschaftlich mit Schiller, machte die Bekanntschaft u. a. Wilhelm von H u m b o l d t s und hörte nahezu täglich Fichtes Vorlesungen. Auch zu Niethammer, den er vom T ü binger Stift her kannte, nahm er bald K o n t a k t auf. Man pflegte vertrauten Umgang, und N i e t h a m m e r bat den D i c h t e r im F r ü h j a h r 1795 2 1 , an seinem
18 J.W. Goethe, Sämtliche Werke. Bd. 16. Naturwissenschaftliche Schriften. Erster Teil, (1950) Zürich 1977, 877. 19 J.W. Goethe, Sämtliche Werke. Bd. 11: Italienische Reise. Tag- und Jahreshefte, (1950) Zürich 1977, 824. Vgl. auch Goethes „Antwort auf Niethammers Vorschlag eines deutschen .Nationalbuches, als Grundlage der allgemeinen Bildung der Nation'. 1808", in: Ders., Sämtliche Werke. Bd. 14: Schriften zur Literatur, (1950) Zürich 1977, 460 ff. 20 Hölderlin kannte Niethammer, mit dem er weitläufig verwandt war, schon seit Tübinger Zeiten. Am 20. März 1790, kurz vor dessen Abreise nach Jena, hat er dem Freund zum Andenken Verse Klopstocks ins Stammbuch geschrieben („Oft erfüllet uns Gott, was das erzitternde / Volle Herz kaum zu wünschen wagt. / Wie von Träumen erwacht, sehn wir dann unser Glük / Sehn's mit Augen, und glauben's kaum."). Von D. Henrich wurde der Eintrag zum Anlass eingehender Studien und Reflexionen zum Verhältnis zwischen Hölderlin und Niethammer genommen (vgl. D. Henrich, Uber Hölderlins philosophische Anfänge, in: ders., Konstellationen, a.a.O., 135-170; ferner: ders., Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794-1795), Stuttgart 1992, bes. 113ff, wo die Diskussionslage während Hölderlins Aufenthalt in Jena unter besonderer Berücksichtigung Niethammers genauestens rekonstruiert wird. Briefe Niethammers an F.P. v. Herbert (2. Juni 1794) und J.B. Erhard (27. Oktober 1794) sind beigegeben. 21 Im Frühjahr 1795 ist wahrscheinlich auch das Hölderlinsche Fragment über „Urtheil und Seyn" entstanden (vgl. D. Henrich, Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Idealismus, in: Hölderlin-Jahrbuch 14 [1965/66], 73-96). In ihm wird gelehrt, „daß die Entgegensetzungen der Reflexion aus ein und demselben Einheitsgrund hervorgehen. Immanent ist damit eine Kritik am Prinzip der Wissenschaftslehre Fichtes formuliert. Ihr
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eben erst gegründeten Philosophischen Journal mitzuarbeiten. Im Mai kam es im Niethammer'schen H a u s im Beisein Fichtes zu einer persönlichen Begegnung Hölderlins mit Friedrich von Hardenberg (Novalis). Während dieses Treffens wurde, wie der Gastgeber in seinem Tagebuch notierte, „(v)iel über Religion gesprochen und über O f f e n b a r u n g und daß für die Philosophie hier noch viele Fragen offen bleiben" 2 2 . K u r z danach verließ Hölderlin
war v o r z u w e r f e n , daß sie den G e d a n k e n der Ichheit als unmittelbar-aktiver S e l b s t b e z i e h u n g einer ursprünglichen, d . h . nicht weiter ableitbaren Einheit i n k o n s e q u e n t ausführt. Sie erreicht nämlich die Evidenz der U n b e d i n g t h e i t absoluten Selbstbewußtseins nur auf d e m U m w e g über eine B e d i n g u n g : die B e z i e h u n g auf sich." (M. F r a n k / G . K u r z , Einleitung, in: dies. [ H g . ] , M a t e rialien zu Schellings philosophischen A n f ä n g e n , F r a n k f u r t a . M . 1975, 8 f ) D e m g e g e n ü b e r macht Hölderlin geltend, dass die unendliche Tätigkeit selbst d e m erst selbstreflexiv zu sich k o m m e n d e n Ich als a b s o l u t e Seinseinheit z u g r u n d e liegt, die d e m Bewusstsein von Selbst und Welt e n t z o g e n ist. D a s A b s o l u t e ist eine transreflexive Einheit vor aller Selbstbeziehung. E s „ I c h " zu nennen, m u s s daher als widersinnig erscheinen, wenn anders von Ich sinnvoll nur im Sinne einer durch S u b j e k t - O b j e k t - , o d e r besser: Ich-Selbst-Relation b e s t i m m t e n G r ö ß e die Rede sein kann. Von einem absoluten Ich zu reden, ist infolgedessen eine contradictio in adiecto, da die Identität des Ich konstitutiv durch E n t g e g e n s e t z u n g b e s t i m m t ist. Einen vorkritischen D o g m a t i s m u s wollte H ö l d e r l i n mit seiner A n n a h m e eines absoluten, transreflexiven Seins indes keineswegs beleben. D a s Sein schlechthin, in d e m Subjekt und O b j e k t in ungeteilter Einheit eins sind, kann weder auf reflexive, n o c h gar auf gegenständliche Weise erkannt werden. Es erschließt sich in seiner absoluten Unteilbarkeit und unteilbaren A b s o l u t h e i t allein intellektualer A n s c h a u u n g . D i e s e ist nicht nur von Welt-, s o n d e r n auch von Selbsterkenntnis prinzipiell zu unterscheiden und daher ich- bzw. s e l b s t b e w u s s t s e i n s p h i l o s o p h i s c h unerschwinglich, weil in ihr dasjenige sich o f f e n b a r t , was nicht nur der praktischen Ur-Teilung, in welcher das Ich sich d e m N i c h t i c h , s o n d e r n auch der theoretischen vorherliegt, in der sich das Ich sich selbst entgegensetzt. D i e Identität, die in der G l e i c h u n g Ich = Ich ausgesagt ist, kann daher d e m absoluten Sein nicht gleichgesetzt werden. 2 2 F . Hölderlin, Sämtliche Werke [ G r o ß e Stuttgarter A u s g a b e ] . Siebenter Band. Zweiter Teil: D o k u m e n t e 1 7 9 4 - 1 8 2 2 , Stuttgart 1972, 27 ( N r . 152). Z u H ö l d e r l i n s Verhältnis zur F i c h te'schen P h i l o s o p h i e in den Jahren 1 7 9 4 - 1 8 0 0 vgl. die M o n o g r a p h i e von V . L . Waibel, Hölderlin und Fichte. 1794-1800, P a d e r b o r n / M ü n c h e n / W i e n / Z ü r i c h 2000. U n t e r der Ü b e r s c h r i f t „ S k e p sis g e g e n ü b e r d e m S y s t e m b e g r i f f der P h i l o s o p h i e " (vgl. 110 ff) k o m m t Waibel ausführlich auf N i e t h a m m e r zu sprechen, dessen B e g e g n u n g mit d e m S k e p t i z i s m u s er mit der U b e r s e t z u n g des S e x t u s Empiricus als gegeben, keineswegs aber als a b g e s c h l o s s e n ansieht, wie die Stellungnahme zu Fichtes Selbsteinschätzung, mit der Wissenschaftslehre die Philosophie als Wissenschaft b e g r ü n d e n zu k ö n n e n , im Vorbericht z u m Philosophischen J o u r n a l aus dem J a h r 1795 beweise. Allem A n s c h e i n nach habe sich Hölderlin damals der A n n a h m e N i e t h a m m e r s angeschlossen, dass die Vollendung der P h i l o s o p h i e als W i s s e n s c h a f t eine nur annäherungsweise zu realisierende Idee sei. In der Ü b e r z e u g u n g der Unvollendbarkeit eines wissenschaftlichen Sys t e m s der Philosophie seien sie sich einig gewesen. G e g e n diese Kritik ist nach Waibel einzuwenden, „daß sie ein Verständnis der P h i l o s o p h i e als vollendetes S y s t e m trifft, die nicht mit d e m Selbstverständnis Fichtes ü b e r e i n k o m m t . Fichtes Ü b e r z e u g u n g war es, mit seinem Begriff v o m Ich dasjenige Prinzip entdeckt zu haben, durch das Gewißheit von Wissen garantiert ist. Ein S y s t e m des Wissens ist für F i c h t e auf zweierlei Weise gegeben. Z u m einen ist es das Verfügen über ein Prinzip, das den inneren Z u s a m m e n h a n g allen D e n k e n s , A n s c h a u e n s , Erkennens garantiert. D a v o n zu unterscheiden ist die D a r s t e l l u n g und D u r c h f ü h r u n g dieses S y s t e m s in seiner G r u n d l e g u n g und seiner A n w e n d u n g . " ( A . a . O . , 111) M a g auch, s o Waibel, die D a r stellung und D u r c h f ü h r u n g des philosophischen S y s t e m s zu keinem endgültigen A b s c h l u s s ge-
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Ende Mai Jena „urplötzlich und unvorbereitet" 2 3 . Hölderlins Briefe an Niethammer vom 22. Dezember 1795 (Nr. 111) und vom 24. Februar 1796 (Nr. 117) sind Nachhall „aus der Zeit des persönlichen Umgangs 1794/95, den der Dichter damals schon als dankbare Förderung seiner philosophi-
langen, so bleibt doch davon der Grundsatz Fichte'scher Philosophie unberührt, demzufolge gewisses Wissen seiner Form nach abschließend zu bestimmen sei: „Uber die Form gewissen Wissens verfügt, wer sich der Kraft der Vernunft, der Einbildungskraft, der moralischen Urteilskraft, kurz, wer sich des reinen Begriffs vom Ich nicht als Begriff, sondern als vollendeter Form geistigen Handelns bemächtigt hat, wer kraft seiner erkennt und denkt." (Ebd. Zu Niethammers Aufsatz „Von den Ansprüchen des gemeinen Verstandes an die Philosophie" vgl. a.a.O., 113f sowie 262f) Die Einwände, die Waibel in Bezug auf die skeptischen Vorbehalte Niethammers gegen Fichte geltend macht, kommen sachlich mit der Kritik überein, die R. Lauth am Fehlverständnis der Wissenschaftslehre als eines subjektiven Spinozismus übt. (Vgl. R. Lauth, Das Fehlverständnis der Wissenschaftslehre als subjektiver Spinozismus, in: ders., Vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit. Fichte und sein Umkreis, Neuried 1994, 29-54.) Die zu seiner Zeit verbreitete These, Fichtes Wissenschaftslehre sei subjektiver Spinozismus in Form eines philosophischen Egoismus bzw. Ichismus, findet sich auch bei Niethammer, wie u.a. ein Brief an Erhard vom 27. Oktober 1794 beweist, wo zu lesen steht: „Fichte hat mit dem Subjekt vorgenommen, was Spinoza mit dem Objekt vorgenommen hatte. Dieser steckte alles ins Objekt, jener steckt alles ins Subjekt; der eine macht das Objekt, der andre das Subjekt zur Gottheit. - So weit bin ich mit dem Resultat meiner Untersuchung des Systems vom Ich und Nichtich, welches mir nichtig in jeder Rücksicht vorkommt." (E. Fuchs [Hg.], Fichte im Gespräch, Bd. I-VI, Stuttgart/Bad Cannstatt 1978 ff, hier: VI, 72, Nr. 187a). Dieser Kritik liegt nach Lauth das Missverständnis zugrunde, als sei das transzendentale Ich Fichtes wie ein realistisches Ich an sich anzusetzen. Davon aber könne nicht die Rede sein. Fichtes Ichphilosophie beanspruche als Wissenschaftslehre nicht, alles Wirkliche als einen Modus des sich wissenden Subjekts zu erklären, um es aus diesem ableiten zu können. Philosophie ist nach Fichte „Erkenntnis aller prinzipiellen Konstituentien des wirklichen Wissens. Sie maßt sich nicht an, das konkret Konkrete zu deduzieren oder deduzieren zu können." (A.a.O., 47) Zwar trifft es nach Lauth zu, dass das, was das Ich nicht ist, nur am Ich bzw. an der freien, in einer ursprünglichen Tathandlung gründenden Selbsttätigkeit des Ich auftreten kann, doch bleibe das Nichtich in seiner das Ich betreffenden und hemmenden Besonderheit unableitbar und sei in seiner Empirizität nicht deduktiv, sondern nur induktiv erfassbar. Dass das anfänglich von ihm geteilte Verdikt, Fichtes Wissenschaftslehre sei subjektiver Spinozismus, nicht Hölderlins letztes Wort über den Ichphilosophen geblieben ist, versucht W. Janke zu zeigen (Hölderlin und Fichte. Ein Bivium zum unbekannten Gott [1794-1805], in: A. Mues [Hg.], Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806, Hamburg 1989, 294-312). Noch in den Monaten in Jena sei der Umschwung erfolgt. „Indem sich Hölderlin während des Jenaer Halbjahres der Fichte-Begeisterung von Anfang November 1794 bis Ende Mai 1795 tiefer in die Sache hineindenkt, durchstreicht er den Dogmatismus- und Spinozismus-Verdacht." (A.a.O., 297f) Schon die mit dem Titel „Urtheil und Seyn" versehene Programmnotiz vom April 1795 sei nicht als Absage an Fichtes Grundgedanken, sondern als konsequentes Weiterdenken bestimmter Fichte'scher Annahmen zu deuten (vgl. a.a.O., 297 Anm.3 und 298f). Hölderlins These, dass das absolut Eine mit dem selbstidentischen, sich vom Nichtich unterscheidenden Ich zwar zusammenhänge, nicht aber gleichzusetzen sei, weil das Sein schlechthin nicht mit der im Grundsatz „Ich bin ich" benannten Identität identisch ist, denkt Fichtes Wissenschaftslehre nach Janke genau in der Richtung fort, in der sie sich später selbst fortentwikkelt habe. 25
P. Bertaux, Hölderlin, Frankfurt a. M. 1978, 61.
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sehen Studien empfand" 2 4 . Hölderlin ehrte in dem kaum vier Jahre älteren, aber bereits zum Professor avancierten Niethammer den Mann, „der sich nur meinen Freund nannte, da er doch auch mein Lehrer war" (Nr. 1 1 1 , 7 f ) , und bekennt, dass dieser „auch heute noch (s)ein philosophischer Mentor" (Nr. 117, 23 f) sei. 25 Neben den weltberühmten Dichtern und Denkern wären aus dem Jenaer Umkreis Niethammers noch eine Vielzahl anderer Personen zu benennen, mit denen er in mehr oder minder enger Verbindung stand. Der aus Leonberg stammende nachmalige Schellingfeind und entschiedene Verfechter des Rationalismus, H. E. G. Paulus ( 1 7 6 1 - 1 8 5 1 ) , wurde bereits erwähnt. 2 6 Er war einer der ersten Jenaer Bekannten Niethammers und das einzige Mitglied der Theologischen Fakultät, mit dem er engeren Kontakt pflegte. „Seine ehedem prominente Stellung im Stift, sein Ansehen als Gelehrter und seine weit ausgreifenden, auch philosophischen Interessen machten ihn zu einem interessanten Gesprächspartner f ü r die Besucher, die aus Schwa-
24 P. Raabe, Die Briefe Hölderlins. Studien zur E n t w i c k l u n g und Persönlichkeit des D i c h ters, Stuttgart 1963, 115 f Die nachfolgenden N u m m e r n v e r w e i s e im Text und in der Folgeanm e r k u n g beziehen sich auf Hölderlinbriefe. 25 In seinem für N i e t h a m m e r s J o u r n a l zugesagten - freilich nie z u m Abschluss gebrachten - Beitrag wollte H ö l d e r l i n nach eigener A u s k u n f t „das Prinzip finden, das mir die T r e n n u n g e n , in denen w i r denken und existiren, erklärt, das aber auch v e r m ö g e n d ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject und d e m Object, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und O f f e n b a r u n g , - theoretisch, in intellektualer A n s c h a u u n g , ohne dass unsere praktische Vernunft zu H i l f e k o m m e n müsste. W i r bedürfen d a f ü r ästhetischen Sinn, und ich werde meine philosophischen Briefe . N e u e Briefe über die ästhetische Erziehung des M e n s c h e n ' nennen. A u c h werde ich darin von der Philosophie auf Poesie und Religion k o m m e n . " (Nr. 117, 2 9 - 3 9 ) Zu Schelling, den H ö l d e r l i n auf dessen Klage hin, noch weit in der Philosophie zurückgeblieben zu sein, mit dem H i n w e i s getröstet hatte, er sei „grad' so weit als Fichte" (Aus Schellings Leben. In Briefen. H g . v. G. L. Plitt. 1. Bd., Leipzig 1869, 71), den er selbst in J e n a gehört habe, wird vermerkt: „Er ist mit seinen neuen U b e r z e u g u n g e n , w i e Du wissen wirst, einen besseren Weg gegangen, ehe er auf dem schlechteren ans Ziel g e k o m m e n war. Sag m i r Dein U r t h e i l über seine neuesten Sachen." (Nr. 117, 44—47) Vgl. hierzu sowie zu anderen A s p e k t e n der beiden Briefe die K o m m e n t a r e in: F. H ö l derlin, Sämtliche Werke. Sechster Band: Briefe. Zweite H ä l f t e : Lesarten und Erläuterungen, Stuttgart 1958, 770 f sowie 783-787.) Zu einem weiteren Schreiben Hölderlins an N i e t h a m m e r vom 23. J u n i 1801 vgl. N r . 2 3 3 sowie den N a c h t r a g in der Stuttgarter Ausgabe 7,2, 5 7 9 - 5 8 1 bzw. 585. H ö l d e r l i n e r w ä h n t hierin wie zuvor schon Schiller gegenüber (vgl. N r . 232) seinen Plan, nach J e n a zu gehen, um dort Vorlesungen auf dem Gebiet der griechischen Literatur zu halten. Er bittet um U n t e r s t ü t z u n g in der A n g e l e g e n h e i t . A n t w o r t e n von Schiller und N i e t h a m m e r scheinen ausgeblieben zu sein (vgl. P. Bertaux, a . a . O . , 5 1 5 - 5 1 8 ) . O f f e n b a r hatten sie H ö l d e r l i n „aufgegeben" (StA 7,2, 584, 192); zu H ö l d e r l i n s Biographie insgesamt vgl.: W . Gaier, H ö l d e r l i n . Eine Einführung, Tübingen/Basel 1993. 2 6 Zu Biographie und Werkgeschichte vgl. im Einzelnen F . W . Graf, Frühliberaler Rationalismus. H e i n r i c h Eberhard G o t t l o b Paulus 1761-1851, in: ders. ( H g . ) , Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Bd. 1. A u f k l ä r u n g , Idealismus, Vormärz, Gütersloh 1990, 128-155.
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ben nach Jena kamen." 2 7 Zu nennen sind ferner Chr. G. Schütz, der Herausgeber der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung, eines der Zentralorgane philosophischer und literarischer Kritik, der Jurist G. Hufeland, der Philologe J . H. Voß oder der Fichteanhänger F. K. Forberg, der den entscheidenden Anstoß zum Atheismusstreit geben sollte. 2 8 Lang ist des Weiteren die Liste derer, mit denen Niethammer von Jena aus korrespondierte: Neben den Freunden Diez 2 9 und Erhard sind etwa der Stiftsephorus Schnurrer oder der unglückliche Klagenfurter Adelige und Industrielle Franz de Paula von Herbert zu nennen, den Niethammer, wie erwähnt, im Jenaer Schillerkreis kennengelernt, Ende 1793 für einige Wochen in Osterreich besucht und bis zu dessen Freitod im März 1811 mit einer Vielzahl von Briefen bedacht hat. Auch dem Jenaer Romantikerkreis stand Niethammer, anders als man vielleicht erwarten möchte, keineswegs distanziert gegenüber. Friedrich Schlegel wohnte im Haus an der Leutragasse nicht nur bei seinem ersten 3 0 , sondern auch noch bei seinem zweiten Jenaer Aufenthalt 1799/1800, als Niethammer bereits Ehemann der Witwe seines verstorbenen Kollegen D ö derlein war. Statt auf ortsansässige romantische Zirkel näher einzugehen, sei noch einmal an das denkwürdige Ereignis erinnert, welches im Mai 1795 bei Niethammer stattfand. Damals „trafen drei Männer zusammen, die, jeder auf seine Weise, ihre Spuren in die Geschichte des Geistes einschreiben sollten. Der Älteste: Johann Gottlieb Fichte . . . , 33 Jahre alt und seit einem Jahr Professor der Philosophie in Jena. Der Mittlere: Friedrich Hölderlin
D . Henrich (Hg.), Immanuel Carl Diez, 398 ( A 3 / 7 2 ) . Zum „collega specialissimus" (vgl. Niethammers Brief an Hegel vom 19. D e z e m b e r 1804, in: J . Hoffmeister [Hg.], Briefe von und an Hegel. Bd. I: 1 7 8 5 - 1 8 1 2 , Hamburg 3 1 9 6 9 , 9 0 - 9 2 , hier: 91) Karl Christian Friedrich Krause ( 1 7 8 1 - 1 8 3 2 ) , dem Vater des „Krausismo", vgl. K . - M . Kodalle (Hg.), Karl Christian Friedrich Krause ( 1 7 8 1 - 1 8 3 2 ) . Studien zu seiner Philosophie und zum Krausismo, Hamburg 1985; E. M. Urena, K . C . F . Krause. Philosoph, Freimaurer, Weltbürger. Eine Biographie, Stuttgart/Bad Cannstadt 1991. 27 28
2 9 Niethammers Briefe an Diez, die er nach dessen Tod zurückerhalten hatte, sind nicht mehr auffindbar bzw. bisher nicht aufgefunden worden. „Es wäre zu verstehen, wenn er sie ( . . . ) selbst vernichtet haben sollte. Denn sie zeigten seine Uberzeugungen in einem Entwicklungsstand, den seinen Nachfahren zu offenbaren ihm möglicherweise unliebsam sein musste, nachdem er bayerischer Oberkonsistorialrat geworden und seinem Denken nach in die Nähe der Tübinger Orthodoxie zurückgekehrt war." (D. Henrich, Grundlegung aus dem Ich I, 18) 3 0 Vgl. J . Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, 3 Bde., Bern/München 2 1 9 6 9 , hier: I, 3 f ; bei K. teilweise kursiv. Schlegel hielt sich vom 6. August 1796 bis 3. Juli 1797 in J e n a auf. Seine Meinung über Niethammer scheint vormals allerdings nicht günstig gewesen zu sein. A m 27. Mai 1796 schrieb er an seinen Bruder August Wilhelm: „Er (sc. Niethammer) ist nach seinen Briefen zu urtheilen, ein unendlich dürftiger Mensch, und unter allen Sterblichen zur Herausgabe eines Journals leicht der ungeschickteste." (Friedrich Schlegel an seinen Bruder August Wilhelm, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 23. Band. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und D o r o t h e a Schlegel: Bis zur Begründung der romantischen Schule. 15. September 1 7 8 8 - 1 5 . Juli 1797, Paderborn/München/Wien 1987, 302)
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. . . , bis vor kurzem Hauslehrer bei Charlotte von Kalb und angehender, von Schiller geförderter Dichter. Der jüngste: Friedrich von Hardenberg, eben 23 Jahre alt geworden und Aktuarius in Tennstedt. So sternstundenartig die Konstellation im historischen Rückblick anmutet - zwischen Hölderlin und Novalis bleibt es die erste und einzige Begegnung so wenig wissen wir von ihrer menschlichen Seite. N u r die dürre N o t i z aus Niethammers Tagebuch gibt ein wenig Einblick in das, was an diesem Abend verhandelt wurde: ,Viel über Religion gesprochen und über Offenbarung und daß für die Philosophie noch viele Fragen o f f e n bleiben.'" 31
51 F. Roder, Novalis. Die Verwandlung des M e n s c h e n . Leben und Werk Friedrich von H a r denbergs, Stuttgart 1992, 209. Die bereits erwähnte Tagebuchnotiz N i e t h a m m e r s ist in den vierten Band (Tagebücher, Briefwechsel, zeitgenössische Zeugnisse) der Schriften von Novalis a u f g e n o m m e n (Stuttgart 1975, 588 [ N R . 2 6 ] ) . A . a . O . , 85 [ N r . 2 4 ] findet sich auch ein S t a m m bucheintrag von Novalis f ü r N i e t h a m m e r vom 16. April 1791: „Freude ist jeder G e n u ß des Daseyns, so wie alles, was das Daseyn anficht, S c h m e r z und Traurigkeit z u w e g e bringt. Ihre Q u e l le ist die Quelle des Lebens und aller T h ä t i g k e i t . Bezieht sich aber ihr A f f e k t nur auf ein vergängliches Daseyn, so ist er selbst vergänglich - Seele des Thiers. Ist sein Gegenstand das U n v e r g ä n g l i c h e u n d Ewige; so ist er die Kraft der Gottheit selbst und seine Beute U n s t e r b l i c h keit. Jacobi."
17. Die Freunde Diez und Erhard
In Anbetracht der großen Namen im Jenaer Umkreis Niethammers mag es erstaunen, wie wenig erkennbaren sachlichen Niederschlag die meisten der persönlichen Beziehungen in seinem Werk gefunden haben. Allenfalls Spurenelemente von Einflüssen sind identifizierbar. Damit stimmt überein, dass sich Niethammer in seiner umfangreichen Korrespondenz etwa mit seinem Busenfreund Hegel kaum je auf wissenschaftliche Auseinandersetzungen eingelassen hat. Diesbezüglich ist sein Briefwechsel eher enttäuschend. In der Jenaer Zeit bleibt der Rahmen der theoretischen Diskurse, an denen Niethammer sich aktiv beteiligte, in kritischer Hinsicht durch den Tübinger Supranaturalismus und unter konstruktiven Gesichtspunkten durch die Vorgaben Kant'scher Philosophie, also genau durch jene Rahmendaten abgesteckt, unter deren Voraussetzung Niethammer eigenständig zu denken begann. Darüber hinausgehende Wirkkomponenten von zumindest ansatzweise prägendem Einfluss auf sein literarisches Werk machen sich im Grunde erst in den Antrittsreden als Würzburger Oberpfarrer geltend, also in der Zeit nach Jena. Selbst Reinhold und Fichte, mit denen Niethammer während seiner Jenaer Jahre in sehr engem Kontakt stand, haben damals keine wirklich bestimmende Bedeutung von nachhaltiger Wirkung für sein Werk gewonnen. Ihr Einfluss hält sich, sosehr er gegeben ist, in engen Grenzen. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die Freunde Diez und Erhard, denen sich Niethammer persönlich und sachlich verbunden wusste, den philosophischen Ansätzen von Reinhold und Fichte reserviert und mit nicht unerheblichem Vorbehalt gegenübertraten. Was die von D. Henrich im Einzelnen rekonstruierten Aspekte und Argumentationszüge von Diez' Reinholdkritik anbelangt 1 , so betreffen sie Implikationen bzw. Konsequenzen des sog. Satzes des Bewusstseins, und zwar in Bezug auf das Verhältnis von Mannigfaltigkeit und Einheit, Rezeptivität und Spontaneität sowie Aposteriorizität und Apriorität von Vorstellungen einschließlich des Ding-an-sich-Problems. Als kritisches Resultat ergibt sich, dass der Begriff des Vorstellungsvermögens für eine elementare Grundlegung der Philosophie im Sinne Kants nicht geeignet sei. Dazu bedürfe es des Rekurses auf sich wissende Subjektivität und Selbsttätigkeit. Das Prinzip der Philosophie sei im Selbstbewusstsein erschlossen. Ausgegangen werden müsse daher vom Ich, das am ehesten geeignet sei, der
1
V g l . D. H e n r i c h , G r u n d l e g u n g aus d e m Ich I, 251 ff.
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Philosophie als Fundament zu dienen. Damit scheint D i e z in die N ä h e des Ansatzes der F i c h t e ' s c h e n Wissenschaftslehre gelangt zu sein. Allerdings war er nicht bereit, mit dem Prinzip des sich wissenden Ich und seiner Selbsttätigkeit den Gedanken absoluter Freiheit im Sinne der frühen Selbstsetzungslehre Fichtes zu verbinden. Zwar kann die Gegebenheit eines G e gebenen nicht ohne Bewusstsein und dieses nicht ohne Beziehung auf sich wissende Selbsttätigkeit verstanden werden. D o c h ist selbsttätiges Selbstbewusstsein realiter niemals ohne Bezug auf Bewusstseinsgegebenheiten, die seine Freiheit relativieren. In seinem „Entwurf zu einer Theorie der ersten Gründe aller Philosophie" 2 von 1791 wollte D i e z dies näherhin explizieren. Sein eigentümliches Profil gewinnt der unausgeführte Plan einer philosophischen Metatheorie durch die erwähnte Zentralstellung, die dem Prinzip der Selbsttätigkeit sich wissender Subjektivität für die Begründung aller philosophischen E r k e n n t nis sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht zugedacht wird. D i e Grundlegung der Philosophie aus dem Ich ist bei D i e z zumindest ansatzweise ins Visier genommen. 3 D i e Ergebnisse seiner philosophischen B e mühungen sowohl in Auseinandersetzung mit dem Tübinger Supranaturalismus als auch im Anschluss und in Kritik an Reinhold konvergieren „allesamt darin, dass sie in ihrem jeweiligen Gebiet zur Einsicht in die Gründe dafür führen, die Selbsttätigkeit . . . als das Prinzip anzuerkennen, von dem man ausgehen und an dem man sich orientieren m u ß " 4 . D o c h verbindet D i e z mit der philosophisch zentralen Stellung sich wissender Selbsttätigkeit in seinem Theorieentwurf im Unterschied sowohl zu Reinhold als auch zu F i c h t e nicht den Anspruch einer Grundsatzphilosophie. Philosophie lässt sich nach seinem Urteil nicht aus einem Prinzip, auch nicht aus demjenigen selbsttätigen Sich-Wissens von Subjektivität als dem Ausgangspunkt aller Erkenntnis deduzierend entwickeln, da die selbstbewusste Selbsttätigkeit des Ich nicht als absolut frei, sondern als notwendig mit Abhängigkeiten verbunden zu denken ist. „Sie ist auf eine D o m ä n e von gegebenen Vorstellungen verwiesen und angewiesen. In dieser D o m ä n e haben auch Prinzipien einen eigenständigen Ursprung, welche in der Philosophie als Gründe anzuerkennen sind, die nicht auf die innere Einheit der Selbsttätigkeit zurückgeführt werden k ö n n e n . " 5 D i e z ' Argumentation weist sachliche Berührungspunkte mit einschlägigen Überlegungen Erhards auf, von dessen - von N i e t h a m m e r akzeptierten - Einwänden gegen den „Versuch einer Ableitung des moralischen Gesetzes aus der F o r m der reinen Vernunft" bereits die Rede war. Ablehnender noch
2 3 4 5
Vgl. a . a . O . 1 , 4 4 1 - 6 7 9 . Vgl. a . a . O . 1 , 2 1 . A . a . O . 1,662. A . a . O . 1 , 6 7 1 f.
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als gegen Reinholds Elementarphilosophie verhielt sich Erhard zu Fichtes Bemühen, das Ich als absolutes Prinzip in Anschlag zu bringen, um aus seinem Grund das Gesetz sittlicher Freiheit herzuleiten. In der frühen Wissenschaftslehre vermochte er nicht mehr zu entdecken als einen subjektiven Spinozismus bzw. Ichismus, der mit der Ichwirklichkeit realer Subjekte nichts gemein habe, die Schranken theoretischer Vernunft in sträflicher Weise verkenne und den Kant'schen Primat der praktischen Vernunft auflöse. Sich wissendes Wissen und Selbsttätigkeit zum absoluten Prinzip zu erheben, läuft nach Erhard auf eine Destruktion kritischer Vernunftphilosophie hinaus, die selbsttätiges Selbstbewusstsein niemals von konkreten Wissens- und Handlungsvollzügen abstrahiert habe. Sich als absolutes Ich und als schlechthinnige Freiheit zu wissen, sei dem Selbstbewusstsein in concreto unmöglich. Reales Selbstbewusstsein nehme sich zwar als selbstbestimmt wahr, werde aber in jedem Vollzug von Selbstbestimmung und sich wissender Selbsttätigkeit seiner Bestimmbarkeit und relativen Bestimmtheit durch dasjenige inne, was es nicht unmittelbar selbst ist. Im Unterschied zu Fichte intendierte Erhard eine Theorie endlicher Freiheit unter dem Primat der praktischen Vernunft. Dabei verkannte er nicht die Bedeutung, die dem Bewusstsein „Ich denke" und dem Bewusstsein der Selbsttätigkeit in der Transzendentalphilosophie Kants zukam. Doch weigerte er sich, dessen Auffassung vom transzendentalen Ich im Sinne von Fichte fortzubilden, dessen Lehre vom sich selbst setzenden Ich er als hypertrophe, mit kritischer Philosophie inkompatible Anmaßung verurteilte. Vom bloßen Bewusstsein des „Ich denke" zu einem sich wissenden Ich von absoluter Selbsttätigkeit überzugehen, um von ihm her eine Lehre der Wissenschaft aufzubauen, galt Erhard als Irrweg, der nicht über Kant hinaus, sondern hinter diesen zurückführe. In diesem Standpunkt ließ er sich auch durch Reinholds zeitweise Konversion zur Fichte'schen Wissenschaftslehre nicht beirren und das umso weniger, als er bereits dessen Elementarphilosophie aus dem Grundsatz des Bewusstseins mit Skepsis begegnete; wie Diez hatte auch Erhard erheblich zur Reinhold'schen Systemkrise beigetragen. Für Niethammers Positionierung waren die Stellungnahmen und Haltungen seiner Freunde Diez und Erhard nicht unmaßgeblich und zwar sowohl was sein Verhältnis zu Reinhold als auch und insbesondere was sein Verhältnis zur Ichphilosophie Fichtes anbelangt. Der ansatzweise unternommene Versuch einer prinzipien- bzw. metatheoretischen Herleitung des Sittengesetzes wurde im Sinne des anerkannten Primats praktischer Vernunft und einer zu akzeptierender Unüberbietbarkeit der orientierenden Evidenz des moralischen Bewusstseins alsbald aufgegeben. Die Reaktion auf Fichtes Wissenschaftslehre war damit vorprogrammiert. Trotz gelegentlicher Anleihen ist Niethammer der Wendung, die durch sie in die nachkantische Philosophie gekommen war, mit wachsender Reserve begegnet und nicht gefolgt. Daran hatte Erhard nicht unwesentlichen Anteil, der am 2. November
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1794 in derber Drastik verlauten ließ: „Das setzende Ich ... kann setzen was es mag, ich werde mich nur hüten nicht darein zu tretten." 6 Eine bemerkenswerte Ubereinstimmung bzw. Konvergenz zwischen Erhard und Niethammer zeigt sich des Weiteren darin, dass sie an den fundamentalphilosophischen Debatten und Konzeptionsbildungen nach der Jahrhundertwende kaum mehr oder nur noch sehr bedingt Interesse zeigten. O b w o h l „Erhard Diez um mehr als dreißig Jahre überlebte, ist die Zeit, in der sie innerhalb einer bestimmten Phase der nachkantischen Philosophie dachten und mit ihren Gedanken wirkten, auf beinahe dieselben Jahre beschränkt geblieben." 7 Im Falle Niethammers stellt sich dies nicht sehr viel anders dar.
' W. Baum (Hg.), F.I. Niethammer, Korrespondenz, 112. 7 D. Henrich, a.a.O. II, 1392.
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Karl Leonhard Reinholds Intellektualgeschichte ist durch eine Reihe von, wenn man so will, Paradigmenwechseln gekennzeichnet. Anfangs Jesuitennovize wurde der geborene Wiener nach Aufhebung des Ordens im Jahre 1773 übergangsweise Barnabit, also Regularkleriker des hl. Paulus, um später zum Protestantismus zu konvertieren und den Standpunkt einer moderaten Aufklärung einzunehmen, den er vorher noch scharf attackiert hatte. Die Wendung zu Kant erfolgte Mitte der 80er Jahre und darf bei Beginn der Lehrtätigkeit in Jena 1787 als vollzogen vorausgesetzt werden. Ein Zeugnis hierfür ist die 1789 zuerst im „Teutschen Merkur" erschienene, dann als Vorrede zu Reinholds „Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens" erneut abgedruckte Abhandlung „Uber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie". Vorangegangen waren seit der Augustausgabe des „Teutschen Merkur" von 1786 die „Briefe über die Kantische Philosophie", deren Buchausgabe 1790/92 erfolgte. In den ersten Jahren seiner Jenaer Zeit galt Reinhold als Deutschlands berühmtester Kantinterpret. Ziel der Reinhold'schen Interpretationen war es, Kants Vernunftkritik zu systematisieren und in einem obersten Grundsatz zu fundieren, dem sog. Satz des Bewusstseins. 1 Neben der erwähnten Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens hat Reinhold seine Elementarphilosophie in Abhandlungen des ersten Bandes seiner „Beiträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse unter den Philosophen" von 1790 sowie in einer dem Freiherrn von Herbert gewidmeten Schrift „Ueber das Fundament des menschlichen Wissens nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens" von 1791 entfaltet. Den Satz vom Bewusstsein hat er dabei in unterschiedlichen Fassungen vorgetragen, wobei stets sowohl das Differenzmoment des Bewusstseinsphänomens, also der Unterschied
1 Motiviert war Reinholds Grundsatzphilosophie von Sachproblemen der kritischen Philosophie Kants, die auch von anderen als drängend u n d im G r u n d e ungelöst e m p f u n d e n wurden. Diese Probleme, auf die bereits Friedrich Heinrich Jacobi und Salomon Maimon hingewiesen hatten, betrafen insbesondere das Verhältnis von Sinnlichkeit u n d Verstand, die Differenzierung des Sinnlichen in Ding-an-sich und E m p f i n d u n g sowie die Frage, wie man Theorie u n d Praxis zusammenzudenken und in ein u n d derselben Vernunft zu verbinden habe. Reinhold erstrebte eine Lösung durch seinen elementarphilosophischen Ansatz, der so etwas wie eine Philosophie der Philosophie zu entwickeln suchte. Dieses metaphilosophische Streben fand in Fichtes Wissenschaftslehre seine Fortsetzung.
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von Vorstellendem und Vorgestelltem, als auch der synthetische Charakter der Vorstellungsbildung hervorgehoben wurde, im Übrigen aber die Tendenz dahin ging, die Synthetisierungsleistung und damit den Vollzug von Unterscheidung und Inbeziehungsetzung dem Subjekt zuzuschreiben. E n t sprechend heißt es im ersten Paragraphen der „Neuen Darstellung der H a u p t m o m e n t e der Elementarphilosophie" im ersten Band der „Beiträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse unter den Philosophen": „Im Bewusstseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und O b jekt unterschieden und auf beyde b e z o g e n . " 2 A n diesem Reinhold'schen Grundsatz von 1790 konnte die philosophische Entwicklung der Folgejahre in Kritik und Konstruktion anschließen, für die Fichtes ichphilosophisch konzipierte Wissenschaftslehre von besonderer wirkungsgeschichtlicher Bedeutung werden sollte. Reinhold hat den Ubergang zu F i c h t e im Unterschied zu einer Reihe anderer Kantianer, zu denen auch N i e t h a m m e r gehörte, selbst mitvollzogen und versucht, seine Elementarphilosophie in die Fichte'sche Prinzipienlehre aufzuheben. Vorausgegangen war im F r ü h s o m m e r 1792, was man die Reinhold'sche Systemkrise nennt. Sie wurde durch prinzipielle, also ihren Grundsatz betreffende Einwendungen gegen die Reinhold'sche Philosophie veranlasst, wie sie G . E. Schulze in seinem Buch „Aenesidemus oder über das Fundament der von dem H e r r n Professor Reinhold gelieferten Elementarphilosophie" und vorher schon die Niethammerfreunde D i e z und Erhard vorgetragen hatten. Von Fichte wurde der „Aenesidemus" eigens rezensiert: Entschieden wandte er sich gegen Schulzes Skeptizismus, nahm Reinhold in Schutz und lobte den prinzipiellen Ansatz seiner Philosophie, sprach sich aber zugleich gegen die Fassung ihres obersten Grundsatzes aus, dessen lediglich faktisch konstatierte Grundsätzlichkeit er durch die Grundsatzhandlung ursprünglicher Tat substituiert wissen wollte, in der das Ich sich selbst und mit sich die Differenz von Ich und N i c h t i c h setzt. Die Lösung
2
C . L . Reinhold, B e y t r ä g e zur B e r i c h t i g u n g bisheriger Missverständnisse u n t e r den P h i l o s o -
phen. E r s t e r Band, das F u n d a m e n t der E l e m e n t a r p h i l o s o p h i e betreffend, J e n a 1 7 9 0 . Z w e i t e r Band, die F u n d a m e n t e des philosophischen Wissens, der Metaphysik, M o r a l , moralischen Religion und G e s c h m a c k s l e h r e betreffend, J e n a 1794, hier: I, 167. Reinholds Weg v o m „Versuch einer neuen T h e o r i e des menschlichen V o r s t e l l u n g s v e r m ö g e n s " z u m ersten Band der „ B e y t r ä g e " ist von dessen H e r a u s g e b e r ( H a m b u r g 2 0 0 3 ) F . Fabbianelli eingehend k o m m e n t i e r t w o r d e n , der z u d e m wertvolle Hinweise auf zeitgenössische R e z e n s i o n e n der W e r k e Reinholds sowie sonstige bibliographische A n g a b e n bietet (vgl. ders., Von der T h e o r i e des Vorstellungsverm ö g e n s zur Elementarphilosophie. Reinholds Satz des Bewußtseins und die Auseinandersetz u n g über das Ding an sich, in: M. B o n d e l i / A . Lazzari [ H g . ] , Philosophie o h n e B e y n a m e n . System, Freiheit und G e s c h i c h t e im D e n k e n Karl L e o n h a r d Reinholds, Basel 2 0 0 4 , 3 9 - 5 6 . ) . „Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche U n t e r s u c h u n g zur Philosophie Reinholds in der Zeit v o n 1 7 8 9 bis 1 8 0 3 " bietet ihrem U n t e r t i t e l g e m ä ß die M o n o g r a p h i e von M . Bondeli, Das A n f a n g s p r o b l e m bei Karl L e o n h a r d Reinhold, F r a n k f u r t a. M . 1 9 9 5 .
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des nach seinem Urteil auch noch bei Reinhold ungelösten Ding-an-sichProblems sowie anderer Probleme, die aus Kants problematischer StoffForm-Korrelation hervorgingen, ergab sich ihm hieraus. Reinhold ließ sich von Fichte überzeugen und folgte dessen Entwicklung bis zu einem erneuten Umschwung in seiner Intellektualbiographie und einer Hinwendung zum logischen Realismus von Christoph Gottfried Bardiii (1761-1808), die einer fortschreitenden Entfremdung von Fichte parallel lief. Die affirmative Rezeption der rationalen Metaphysik Bardiiis, wie dieser sie in seinem „Grundriss der Logik" von 1800 entfaltet hat, war nicht die letzte Phase in Reinholds Denkentwicklung, sondern erneut nur eine vorübergehende: In seinem Spätwerk entwickelte er eine sprachphilosophisch orientierte Theorie des Erkennens. 3 Obwohl Reinholds Altersphilosophie seine eigenständigste Leistung darstellt, ist er geistesgeschichtlich vor allem, ja fast ausschließlich durch seine unmittelbar an Kant anknüpfenden Schriften wirksam geworden. Auch für Niethammer gerät Reinhold seit seinem Weggang nach Kiel im Jahr 1794 aus dem Blick. Das Interesse beschränkt sich auf die vorhergehenden Jenaer Jahre, in denen er persönliche Kontakte pflegte. Ein sachlicher Einfluss der Reinhold'schen Elementarphilosophie und der Diskurse im Umfeld der Systemkrise des Jahres 1792 lässt sich am ehesten in dem schon mehrfach genannten prinzipientheoretischen „Versuch einer Ableitung des moralischen Gesetzes aus der Form der reinen Vernunft" erkennen, den Niethammer 1793 in dem von Schmid und Snell edierten „Philosophische (n) Journal für Moralität, Religion und Menschenwohl" veröffentlichte. 4 Darin bemüht er sich, den Grundsatz des Sittengesetzes in seiner absoluten Notwendigkeit und Allgemeinheit apriorisch zu deduzieren und zu beweisen, dass eine verbindliche Regel moralischer Praxis von der Vernunft nicht aus Erfahrung und durch empirieorientierte Pragmatik, sondern nur gewonnen werden könne, wenn sie das Gesetz, nach dessen Maßstab sich der Wille in Rücksicht eines Begehrens selbst zu bestimmen hat, „von aller Erfahrung unabhängig bloß aus sich selbst schöpft" (45). Liegt das so beschriebene Unternehmen im Rahmen der Kant'schen Philosophie, so scheint das Ansinnen, das moralische Gesetz aus der Form der reinen Vernunft abzuleiten, darüber hinaus auf eine Grundsatzphilosophie zu verweisen, wie Reinhold und in kritischem Anschluss an diesen Fichte sie vertreten haben. Die Form der Vernunft, die ihre Vernünftigkeit ausmacht, besteht nach
5 Vgl. insgesamt: H . Adam, Carl Leonhard Reinholds philosophischer Systemwechsel, Heidelberg 1930. 4 F.I. Niethammer, Versuch einer Ableitung des moralischen Gesetzes, aus der Form der reinen Vernunft, in: Philosophisches Journal für Moralität, Religion und Menschenwohl. Zweiter Band. Zweites H e f t (1793), 1-72. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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Niethammer in der absoluten Einheit, welche aller Differenz vorauszusetzen und in allem Mannigfaltigen zur Geltung zu bringen das ursprüngliche G e s e t z vernünftiger Tätigkeit ist. Praktische Gestalt nimmt das F o r m g e s e t z der Vernunft in der Maxime an, welche die Vernunft aus sich selbst heraus dem Willen überhaupt vorschreibt, nämlich absolut eins sein zu sollen und seine absolute Einheit in allen Willensvollzügen dadurch unter Beweis zu stellen, dass diese verallgemeinerungsfähig gestaltet werden. Konkret bedeutet dies, dass die Regeln, nach welchen jedes wollende Subjekt sich zu bestimmen hat, so beschaffen sein müssen, dass sie gleichermaßen für alle wollenden Subjekte gelten können. Der kategorische Imperativ als das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ist damit aufgestellt, welches nichts anderes ist als das auf den Willen angewendete G r u n d g e s e t z der reinen Vernunft selbst. 5 O b mit Erwägungen dieser Art das Grundlegungsproblem der Kant'schen Ethik und Willenstheorie einer L ö s u n g nähergebracht ist, wurde Niethammer bald selbst zweifelhaft. Er anerkannte Erhards Kritik, wonach die Vorstellung unrichtig sei, dass sich das sittliche Bewusstsein aus einem ihm vorhergehenden Wissen bzw. Formprinzip der Vernunft ableiten lasse. Einen solchen herleitenden Deduktionsbeweis hatte Niethammer im Grunde auch gar nicht intendiert, wobei hinzuzufügen ist, dass seine grundsatzphilosophischen Überlegungen ohnehin über Andeutungen kaum hinausgelangen. Mehr als den Beweis zu erbringen, dass das sittliche Wissen apriorischer N a t u r sei, hat er im Prinzip nicht erstrebt. Dabei verdient es bemerkt zu werden, dass er die Apriorität des Sittengesetzes Praxisregeln, die aus Erfahrung gewonnen sind, keineswegs abstrakt entgegenzusetzen gewillt war. D a s Gegenteil ist der Fall. Den Ausgangspunkt seiner U b e r legungen bilden durchaus Tatsachen der Erfahrung, die Anlass geben zu einer Art von Phänomenologie des Strebens, welche ihren A n f a n g nimmt bei der unwillkürlichen Begierde sinnlichen Triebs. Im Unterschied zum animalischen Trieb, der auf unmittelbare Befriedigung seiner Gelüste aus ist, kommt dem menschlichen Willen das Vermögen zu, „sich in Rücksicht eines Begehrens selbst zu bestimmen" (1) und nach Regeln zu handeln, ohne durch Regeln zwangsnotwendig gebunden zu sein. Zwei Arten von Handlungsregeln des Willens nennt Niethammer: Die erste ist an der Frage, ob die Befriedigung eines Begehrens vorteilhaft, die zweite daran orientiert, ob diese erlaubt sei. Erst Willensregeln der zweiten Art sind nach Niethammer praktische Regeln im eigentlichen Sinne, weil erst sie rechtsförmig und wirkliche Gesetze für den Willen sind. Mit dem
5 Vgl. zu dieser Argumentationsfigur den aufschlussreichen Brief Fichtes an Niethammer vom 6.12.1793, in: J . G . Fichte, Briefwechsel 1793-1795. Hg. v. R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart/Bad Cannstatt 1970 [ F G A III/2], 19-22 (Nr. 169).
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Begriff des Erlaubten ist die Sphäre des Sinnlichen bereits grundsätzlich transzendiert, sofern in ihm das Merkmal des sinnlich Angenehmen oder Unangenehmen gar nicht konstitutiv enthalten ist. „Das Erlaubte wird erst angenehm oder unangenehm indem es auf das Empfindungsvermögen bezogen wird." (43) Solange dieser Bezug den Willen bestimmt, ist dieser zwar zu äußerer Rechtskonformität, nicht aber zu innerer Moralität in der Lage. Dies ist erst dann der Fall, wenn der Begriff des Erlaubten seiner Bestimmung gemäß in dem des notwendig Geforderten transformiert und in eine Regel gegründet ist, die den Willen nicht nur beziehungsweise, sondern absolut bindet. Eine solche Regel kann nach Niethammer nicht aposteriorisch, sondern nur apriorisch gewonnen werden. Die skizzierte Argumentationsfolge Niethammers zielt auf die Einsicht, in der sie sich erfüllt, dass die Begründung der Moral nur auf transzendentale Weise und nicht aus Erfahrung gewonnen werden kann. Gleichwohl sucht Niethammers apriorische Morallehre den Anschluss an Erfahrung und ist so gestaltet, dass ihr Grundsatz anschlussfähig bleibt an praktische Erfahrungsweisen. Dies bestätigt auf seine Weise auch der spätere „Versuch einer Darstellung des Vernunftmäßigen in den materialen MoralPrincipien", den Niethammer 1797 in dem nun bereits zusammen mit Fichte herausgegebenen „Philosophischen Journal" publizierte. 6 Er ergänzt auf seine Weise den „Versuch" von 1793 und rückt seinen Ansatz zurecht, soweit Niethammer dies als nötig erschien. Beide Texte sind zweifellos transzendentaler Natur und auf vernunftapriorische Begründung der Sittlichkeit angelegt. Doch akzentuiert Niethammer immer stärker, dass die vernunftapriorisch begründete Moral durch keinen formalen Gegensatz zu materialen Moralprinzipien und aus Erfahrungswissen gewonnenen Praxisregeln, sondern dazu bestimmt sei, sich in diesen zu explizieren, damit sie als deren kritisch-konstruktive Erfüllung gewusst werden kann. In Anbetracht der gewöhnlichen Kritik, die unter Berufung auf Kant an den materialen Moralsystemen geübt werde, sei es an der Zeit, „etwas zu ihrer EhrenRettung zu sagen" (122). Es ist nicht nötig, die Gesichtspunkte genauer zu erörtern, nach denen Niethammer die verschiedenen Systeme materialer Moral einander zuordnet. Nach Maßgabe des aufgestellten Erkenntnisgrundes der moralischen Vorschriften werden sie in empiristische und rationalistische, nach Maßgabe des moralischen Verbindlichkeitsgrundes, den sie angeben, in subjektive und objektive unterteilt, wobei in letzterer Hinsicht Niethammer jeweils noch einmal zwischen äußeren und inneren Bestimmungsgründen der Moralverbindlichkeit differenziert: „Der sub6 F.I. Niethammer, Versuch einer Darstellung des Vernunftmäßigen in den materialen MoralPrincipien, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Fünfter Band. Zweites Heft (1797), 1 1 7 - 1 6 0 . Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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jektive äußere Grund wäre die Gewöhnung; nach dem Princip der Erziehung und der bürgerlichen Verfassung: der subjective innere Grund wäre das G e f ü h l . . . D e r objective innere G r u n d wäre der in der Vernunft gegründete Trieb zur Vollkommenheit; der objective äußere Grund, die Gottheit." (129) Wichtiger als diese Einteilung, über deren Recht und Grenze hier nicht befunden werden muss, ist die Einsicht, dass die Darstellung der materialen Moralsysteme insgesamt darauf angelegt ist, diese konstruktiv den Grundsätzen Kant'scher Moralphilosophie anzuverwandeln. Alle Kritik, die Niethammer übt, steht im Dienste dieses Zwecks, der nicht zum Geringsten in dem Interesse verfolgt wird, dem genuinen Menschenverstand, wie er in den materialen Moralsystemen Gestalt angenommen hat, den ihm gebührenden Anteil an der reinen praktischen Vernunft zu gewähren. Zwar soll der genuine Menschenverstand zu wissenschaftlicher Vernunft gebracht werden, aber diese entspricht ihrem Begriff nur, wenn sie Verständnis hegt für die Verstehensbemühungen gemeiner Menschen und sich nicht in abgehobener Gelehrsamkeit ergeht. „Gemeine Menschen nennt der Dünkel des gelehrten Klerus alle und jede, die ihm nicht Gelehrte heißen." (122 Anm.; bei N . teilweise gesperrt) Solcher Gelehrtendünkel beruht nach Niethammer auf Einbildung, nicht aber auf Bildung, deren Gegenteil er ist, was sich nachgerade daran zeige, dass er das Prinzip vernünftiger Allgemeinheit unter Berufung auf Vernünftigkeit destruiere. Dies aber sei nicht nur dumm, sondern auch unsittlich. Gerade die Kant'sche Philosophie belege, dass die durch praktische Vernunft gebotene Sittlichkeit auf dem Prinzip der Verallgemeinerungsfähigkeit gründe, wodurch es grundsätzlich ausgeschlossen sei, den Anspruch auf Vernunft einem Stande von Gelehrten vorzubehalten, um ihn dem gemeinen Publikum vorzuenthalten.
19. Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten
Niethammers moralphilosophisch-ethikotheologisches U n t e r n e h m e n ist wesentlich durch das nach seinem Urteil von der Sittlichkeit selbst geforderte Streben bestimmt, die Allgemeingültigkeit des moralischen Gesetzes nicht nur in idealer, sondern realer Allgemeinheit, also für das allgemeine Bewusstsein der Zeit zum Zuge zu bringen. Das Ziel, den gemeinen Menschenverstand kritisch über sich selbst hinaus zur Vernunft zu führen, sei dabei nur zu erreichen, wenn die Vernunft sich konstruktiv einlasse auf die Bewusstseinsformationen, deren Selbsttranszendierung sie zu bewirken habe. Solche Selbstentäußerung schulde Vernunft ihrer ureigenen Bestimmung, nicht in bloßer T h e o r i e zu verharren, sondern vernünftige Praxis freizusetzen. „ ( U ) n g e m e i n geworden" (123) zu sein, ist nach N i e t h a m m e r das schlimmste Verdikt, das sich über einen Gelehrten aussprechen lässt. Als ein besonders auffallendes Beispiel ungemeinen Pseudophilosophentums wird der Berliner Schriftsteller und Verlagsbuchhändler Friedrich Nicolai ( 1 7 3 3 - 1 8 1 1 ) genannt, der in satirisch-parodistischen Schriften schonungslos gegen Kant, Fichte, G o e t h e , Schiller und Herder anging und im Gegenzug seinerseits nicht minder heftig angegriffen wurde. Ü b e r Stil, Inhalt und Berechtigung der wechselseitigen Attacken ist hier ebenso wenig zu befinden wie über die Frage, o b Nicolai tatsächlich jener nichtsnutzige Charakter war, für den er in Niethammer'schen Kreisen gehalten wurde. Vermerkt sei lediglich, dass Transzendentalphilosophie, wie Kant sie in praktischer Absicht betrieb, nach N i e t h a m m e r zur Selbstbescheidung und zur A c h t u n g gemeiner Menschen allen Anlass gibt, wohingegen sie die Behauptung, „sich selbst übersprungen" (ebd.) und sein materiales Ich mit dem idealen vereint zu haben, auch und gerade dann als widervernünftige und unsittliche A n m a ß u n g zurückweist, wenn diese von sog. Gelehrten vorgebracht wird. Gelehrsamkeit, so N i e t hammer, ist kein Wert an sich, sondern wertvoll nur, sofern sie der Realisierung des moralischen Endzwecks der Menschheit dienlich ist. Wer vornehm tut und sich zu schade ist, als Pädagoge und Erzieher des M e n s c h e n geschlechts zu wirken, hat keinen Anspruch darauf, ein Philosoph zu heißen. Auch Niethammers Edition des „Philosophische (n) Journal (s) einer G e sellschaft Teutscher Gelehrten", das er, wie erwähnt, ab 1795 zunächst allein, seit 1797 zusammen mit F i c h t e 1 herausgab, bezweckte alles andere als
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Bevor er als Mitherausgeber auftrat, was offiziell seit Anfang 1797, faktisch schon einige
P h i l o s o p h i s c h e s J o u r n a l einer G e s e l l s c h a f t Teutscher Gelehrten
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einen G e g e n s a t z v o n w i s s e n s c h a f t l i c h e r Vernunft u n d g e m e i n e m M e n schenverstand. In seinem Vorbericht über das Ziel ihrer E i n r i c h t u n g hat N i e t h a m m e r die A u f g a b e der Z e i t s c h r i f t p r o g r a m m a t i s c h d a h i n g e h e n d beschrieben, z u m einen im A n s c h l u s s an K a n t s kritische P h i l o s o p h i e u n d gegen deren d o g m a t i s t i s c h e u n d s k e p t i z i s t i s c h e B e s t r e i t u n g an der V o l l e n d u n g der P h i l o s o p h i e als W i s s e n s c h a f t m i t z u a r b e i t e n , z u m anderen die aus den u r s p r ü n g l i c h e n G e s e t z e n des m e n s c h l i c h e n G e i s t e s abgeleiteten G r u n d s ä t ze u n d G r u n d b e g r i f f e des W i s s e n s f ü r die E i n z e l w i s s e n s c h a f t in A n w e n d u n g zu bringen, u m s o zwar nicht unmittelbar, aber auf mittelbare Weise einen Beitrag zur P o p u l a r i s i e r u n g der P h i l o s o p h i e zu leisten. W ä h r e n d der Versuch, P h i l o s o p h i e durch direkte A k k o m o d a t i o n ihrer Vernunftprinzipien an den g e m e i n e n V e r s t a n d e s g e b r a u c h f ü r diesen n u t z b a r zu machen, z w a n g s l ä u f i g scheitern m u s s , kann die einzig z w e c k m ä ß i g e A r t , P h i l o s o p h i e zu popularisieren, nur darin b e s t e h e n , die n o t w e n d i g e n u n d allgemeinen W i s s e n s p r i n z i p i e n , die sie als W i s s e n s c h a f t der W i s s e n s c h a f t e n zu ergründen hat, in den E i n z e l w i s s e n s c h a f t e n zur A n w e n d u n g zu bringen, damit v o n d o r t aus diejenige W i r k u n g h e r v o r g e b r a c h t werde, „welche die P h i l o s o phie (nach d e m praktischen I n t e r e s s e auf den E n d z w e c k der M e n s c h h e i t
M o n a t e vorher der Fall war (vgl. J . G . Fichte, Briefwechsel 1 7 9 6 - 1 7 9 9 . H g . v. R. Lauth und H . G l i w i t z k y , S t u t t g a r t / B a d C a n n s t a t t 1972 [ F G A I I I / 3 ] , 27, 5 f f ) , hatte Fichte im „ P h i l o s o p h i schen J o u r n a l " bereits mehrere Beiträge veröffentlicht, nämlich die A b h a n d l u n g „Von der Sprachfähigkeit und d e m U r s p r u n g der S p r a c h e " ( F G A 1/3, 9 7 - 1 2 7 ) , die „Vergleichung des v o m H r n . Prof. S c h m i d aufgestellten S y s t e m s mit der W i s s e n s c h a f t s l e h r e " ( F G A 1/3, 2 3 5 - 2 7 1 ) sowie eine R e z e n s i o n der K a n t s c h r i f t „ Z u m ewigen F r i e d e n " ( F G A 1/3, 2 2 1 - 2 2 8 ) . Fichtes J o u r n a l b e i t r ä g e von A n f a n g 1797 bis Mitte 1798 sind mit A n k ü n d i g u n g e n zu anderen Artikeln und s o n s t i g e n die Zeitschrift b e t r e f f e n d e n N o t i z e n wieder a b g e d r u c k t in F G A 1/4, 167 ff. D e r „Versuch einer neuen D a r s t e l l u n g der W i s s e n s c h a f t s l e h r e " von 1797/98 (vgl. F G A 1/4, 1 8 3 - 2 8 1 ) , der in H e f t e n des f ü n f t e n bis siebten B a n d e s des „ P h i l o s o p h i s c h e n J o u r n a l s " erschienen ist, zeichnet sich durch ein weit höheres M a ß an Fasslichkeit der K o n s t r u k t i o n als der Erstentwurf aus, blieb aber leider unvollendet. ( A m A b e n d des 14. M a i 1797 wurde im H a u s e Schillers im Beisein G o e t h e s der Text, soweit er vorlag, b e s p r o c h e n [vgl. J . W . G o e t h e , Tagebücher B d . I I / l : 1 7 9 0 - 1 8 0 0 . Text, Stuttgart/Weimar 2000, 101], n a c h d e m der H a u s h e r r den O l y m p i e r bereits mit Schreiben v o m 27. F e b r u a r 1797 auf Fichtes Publikation im ersten H e f t des f ü n f t e n B a n d e s des N i e t h a m m e r ' s c h e n J o u r n a l s hingewiesen hatte [F. Schiller, Werke. N a tionalausgabe, 29. Bd.: Briefwechsel. Schriften. Briefe 1.11.1796-31.10.1798, Weimar 1977, 53 ( N r . 5 3 ) ] . ) Vollständig bekannt ist diese F a s s u n g der Wissenschaftslehre - Fichte selbst nennt sie Wissenschaftslehre nova m e t h o d o - nur aus zwei K o l l e g n a c h s c h r i f t e n , von der die eine in F G A I V / 2 , 17-266, die andere separat veröffentlicht w o r d e n ist: J . G . Fichte, Wissenschaftslehre nova m e t h o d o . Kollegnachschrift K . C . F . K r a u s e 1798/99, hg. v. E. F u c h s , H a m b u r g 1982. Fichtes Versuch einer neuen D a r l e g u n g seiner Wissenschaftslehre fand im P u b l i k u m g r o ß e Res o n a n z . D i e s gilt in b e s t i m m t e r Weise auch für den Beitrag „ U e b e r den G r u n d unseres G l a u b e n s an eine göttliche WeltRegierung" ( F G A 1/5, 3 4 7 - 3 5 7 ) , der im ersten H e f t des A c h t e n B a n d e s des „ P h i l o s o p h i s c h e n J o u r n a l s " a b g e d r u c k t ist und z u s a m m e n mit F o r b e r g s Artikel zur „ E n t w i c k l u n g des B e g r i f f s der R e l i g i o n " den A t h e i s m u s s t r e i t auslöste. G e g e n die A n k l a g e des A t h e i s m u s hat sich F i c h t e u.a. mit seiner „Appellation an das P u b l i k u m " ( F G A 1/5, 4 1 5 ^ 1 5 3 ) verteidigt.
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Philosophisches J o u r n a l einer Gesellschaft Teutscher G e l e h r t e n
bezogen) hervorbringen soll: die Menschheit im Ganzen durch Wissenschaft ihrem Ziele näherzubringen" 2 . Welche Ansprüche der gemeine Verstand berechtigterweise an die Philosophie habe, wurde von Niethammer sodann eigens im Eröffnungsbeitrag des Ersten Bandes des Journals 3 thematisiert, an dem bedeutende Männer der Zeit - neben Fichte u. a. Erhard, Hufeland, Humboldt, Maimon, Reinhold und Schiller - mitzuarbeiten versprachen. Gemeinen Verstand will er dabei nicht die lediglich individuelle oder landläufige Meinung genannt wissen, die ihre „Begriffe unmittelbar nach dem bloßen Gefühl aufstellt und gebraucht, ohne weder ihre bestimmte Gränze noch ihren bestimmten Zusammenhang mit einzelnen andern Begriffen oder mit dem ganzen System derselben einzusehen" (1); gemeiner Verstand soll vielmehr jener Menschenverstand heißen, der Anspruch auf Allgemeingültigkeit seiner Urteile für ausnahmslos alle Menschen erhebt, diesen Anspruch aber nicht wissenschaftlich, sondern im unmittelbaren Bewusstsein seiner Selbstverständlichkeit vertritt. Hält der gemeine Menschenverstand seine Allgemeingültigkeitsansprüche für gefühlsmäßig evident und keiner weiteren Begründung bedürftig, so findet die Philosophie ihre genuine Aufgabe darin, Ansprüche auf Allgemeingeltung einer Prüfung zu unterziehen, um nur das als allgemeingültig gelten zu lassen, was in den ursprünglichen Gesetzen des Geistes seinen apriorischen Grund hat. Verhält sich die Philosophie sonach einerseits kritisch gegenüber den Ansprüchen des gemeinen Menschenverstands, so ist ihr Verhältnis zu diesem doch zugleich konstruktiv, sofern die philosophische Intention nicht auf skeptische Destruktion von Allgemeingültigkeitsansprüchen überhaupt, sondern auf vernünftige Begründung derselben gerichtet ist. Gegenüber dem Skeptizismus, der prinzipiell keine allgemeinen Wahrheiten gelten lassen will, befindet sich nach Niethammer Philosophie, die ihren Namen verdient, durchaus in Koalition mit dem gemeinen Menschenverstand, dessen unmittelbares Bewusstsein der absoluten Notwendigkeit und Allgemeinheit seiner Ansprüche sie allerdings dahingehend beurteilt, ob diese tatsächlich den Gesetzen der Vernunft entsprechen. „Der gemeine Verstand kann demnach nicht Anspruch machen, als einziges Kriterium der Wahrheit positiv zu gelten; vielmehr bedürfen seine Ansprüche der Bestätigung der Philosophie, welche also selbst das positive Kriterium ist, von dem die Entscheidung über Allgemeingültigkeit unsers Wissens abhängt." (38) Obwohl er die Philosophie zum positiven Kriterium von Allgemeingül-
2 F.I. N i e t h a m m e r , Vorbericht über Z w e c k und Einrichtung dieses Journals, in: Philosophisches J o u r n a l einer Gesellschaft Teutscher G e l e h r t e n , Erster Band. Erstes H e f t . ( 1 7 9 5 ) . O h n e Paginierung. 3 F.I. N i e t h a m m e r , V o n den A n s p r ü c h e n des gemeinen Verstandes an die Philosophie, in: a . a . O . , 1—45. D i e nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
Philosophisches J o u r n a l einer G e s e l l s c h a f t Teutscher G e l e h r t e n
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tigkeitsansprüchen erhebt, steht Niethammer nicht an, auch dem gemeinen Verstand eine kriteriologische Funktion dieser gegenüber zuzuerkennen. Zwar fungiert der gemeine Menschenverstand im Unterschied zur Philosophie nicht in der Weise eines positiven Wahrheitskriteriums, wohl aber als ein negatives, dem als Ausschlusskriterium sogar oberste Priorität zuk o m m t , die selbst von der Philosophie respektiert werden muss. Die Forderungen des gemeinen Menschenverstandes, „durch welche sich die in dem Bewußtsein ursprünglich vorhandenen Gesetze unmittelbar ankündigen, haben Anspruch auf die höchste Gültigkeit. D a s Gefühl der absoluten Allgemeinheit und Nothwendigkeit derselben, durch welche sich die in den ursprünglichen Anlagen des menschlichen Geistes vorhandnen Grundsätze und Grundbegriffe rein und unentstellt ankündigen, kann durch keine Philosophie aufgehoben werden; ihm darf auch keine widersprechen." (38 f) Diese Sätze sind bemerkenswert und für Niethammers Denken in hohem Maße signifikant. Sichtbar wird dies spätestens an der Art und Weise, in der er die negative Kriteriologie gemeinen Menschenverstandes philosophisch in Anschlag bringt. Weder eine philosophische Auffassung, welcher Kausalität aus Freiheit zugunsten reiner Naturkausalität leugnet, noch eine solche, welcher die freie Selbsttätigkeit des Ich als absolut gilt, kann nach Niethammer vor dem gemeinen Menschenverstand bestehen. Beide werden durch dessen unmittelbares Bewusstsein gerichtet. „Eine Philosophie, die das Gefühl unsrer Abhängigkeit z. B. nur dadurch consequent zu erklären weiß, daß sie alles der allgemeinen Nothwendigkeit der Naturgesetze unterwirft und unsre Freiheit, welche sich durch ein nicht weniger lebendiges Gefühl im Bewußtsein ankündigt, als jenem allgemeinen Gesetze widersprechend für eine bloße Chimäre erklärt und dem gemeinen Verstände vorschreibt, sich dieser falschen Vorstellung gänzlich zu entschlagen; oder auch umgekehrt, eine Philosophie, die das Bewußtsein unsrer Unabhängigkeit nur dadurch begreiflich zu machen und ohne Widerspruch zu denken vermag, daß sie das in jedem M o m e n t des Bewußtseins uns so unwiderstehlich aufgedrungene Gefühl unsrer Abhängigkeit für bloße Täuschung erklärt, indem sie eine absolute Selbstthätigkeit, in welcher und durch welche alles, was ist, besteht, uns zuschreibt, und verlangt, daß wir uns gewöhnen sollen, alles was uns als uns gegeben von uns unabhängig und unwillkürlich in allen Sphären des Bewußtseins vorkommt, uns als durch unsre Selbstthätigkeit hervorgebracht von uns abhängig willkürlich vorzustellen: eine dieser Philosophien sowenig als die andre hat die eigentliche Aufgabe der Philosophie gelöst; durch keine von beiden ist das Interesse der Speculation befriedigt, und es ist selbst nur eine Täuschung, wenn der philosophirende Verstand sich bei einer solchen bloß scheinbaren Einheit des Wissens beruhigt." (39 f) In diesen Sätzen sind die Skepsis, die Niethammer gegenüber einer prinzipienphilosophischen Fortbildung des Kantianismus im Sinne etwa der
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Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten
Reinhold'schen Elementarphilosophie oder der Fichte'schen Wissenschaftslehre hegte, sowie sein Zweifel deutlich ausgesprochen, ob es einen apodiktisch gewissen Grundsatz geben könne, aus dem sich alles Wissen deduzieren und durch den sich alle Formationen des Bewusstseins zu absoluter Einheit zusammenschließen lassen. Auch darin bleibt Niethammer genuiner Kantianer, dass er nicht gewillt ist, sich philosophisch vom gemeinen Menschenverstand allzu weit zu entfernen. Zwar ist er so wenig wie sein Meister ein platter Empirist oder unbedachter Realist, er weiß sich vielmehr Rationalität und apriorischen Vernunftgesetzen verpflichtet. Doch dem durch Fichtes frühe Wissenschaftslehre im Anschluss an Reinhold gewiesenen, im Ansatz bereits Anfang der 90er Jahre erkennbaren Weg, die Differenz von Freiheit und Notwendigkeit, Denken und Anschauung, Vernunft und Sinnlichkeit etc. auf einen Urakt des Ich und das ursprüngliche Gesetz seines Handelns zurückzuführen, vermochte er nicht mitzugehen. Daran hinderten ihn nicht zuletzt Gründe des gemeinen Menschenverstands. Dass Niethammer an einer intensiven Beziehungspflege zwischen Philosophie und gemeinem Menschenverstand gelegen war, lässt sich auch den „Bemerkungen über den Gebrauch der Ausdrücke theoretisch und praktisch und Theorie und Praxis" entnehmen, die er dem vierten Heft des dritten Bandes seines Journals beigab. 4 Zwar hält er es für wissenschaftlich zweckmäßig, ja alternativlos, „jene Ausdrücke nur zur Bezeichnung des Begriffes zu gebrauchen, zu dem sie von Kant bestimmt worden sind" (326). Doch ergeht seine Forderung, den Kant'schen Sprachgebrauch als wesentlich verbindlichen anzuerkennen, „zunächst... nur an die Bekenner der kritischen Philosophie" (350: „denen wir damit nichts zumuten, als eine Gleichförmigkeit ihres Wortgebrauchs"). Ihnen sei es aufgegeben, die Begriffsbedeutung, zu der Kant die Wörter Theoretisch und Praktisch bzw. Theorie und Praxis bestimmt habe, argumentativ zur Geltung und über die Philosophie hinaus in allen Wissenschaften in Anwendung zu bringen. Erst dann sei eine Prägung des gemeinen, außerwissenschaftlichen Sprachgebrauchs zu erwarten sinnvoll, wobei man stets die nötigen pädagogischen Rücksichten walten lassen müsse, da sich nun einmal die gängige Bedeutung von allgemeingebräuchlichen Wörtern erst allmählich verändern und nicht auf einen Schlage außer Umlauf setzen lasse
4 F . I . Niethammer, Einige Bemerkungen über den Gebrauch der Ausdrücke Theoretisch und Praktisch und Theorie und Praxis, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Dritter Band. Viertes H e f t (1796), 3 2 1 - 3 5 1 . Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
20. Religion als moralische Pflicht und die sittliche Unentbehrlichkeit des Offenbarungsglaubens
Wer sich den programmatischen Vorbericht über Sinn und Zweck, des „Philosophischen Journals einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten" und die Beiträge vor Augen hält, die N i e t h a m m e r selbst in dieser Zeitschrift publiziert hat, den muss es verwundern, ja schmerzlich berühren, dass die Edition des ersten H e f t e s des achten Bandes den Herausgeber 1 7 9 8 / 9 9 dem harten Verdacht aussetzte, absichtlich zur Verbreitung atheistischen Gedankenguts beigetragen zu haben. In orthodoxen Kreisen seiner Württembergischen Heimat geriet N i e t h a m m e r im Zuge des nachfolgenden gerichtlichen Verfahrens gar in den Verruf, selbst ein G o t t l o s e r zu sein, was seinen Vater zu der besorgten brieflichen Anfrage veranlasste, „ob er wirklich einen A t h e isten zum S o ( h ) n habe" 1 . Man wird annehmen dürfen, dass diese Rückfrage von N i e t h a m m e r sen. bei N i e t h a m m e r jun. Betroffenheit und Betrübnis hervorgerufen hat. H a t t e er sich doch seit geraumer Zeit redlich darum bemüht, dem Religionsindifferentismus entgegenzutreten, Religion zur moralischen Pflicht zu erklären und Argumente für die sittliche U n e n t b e h r l i c h keit des Offenbarungsglaubens beizubringen. Was den Religionsindifferentismus betrifft, so hatte N i e t h a m m e r dem T h e m a 1796 eine Reihe von Briefen gewidmet, die er dem Stadtschreiber Krais aus seinem Geburtsort Beilstein dedizierte. 2 Sie wollen der in frommen Kreisen verbreiteten Klage entgegentreten, die kritische Philosophie Kant'scher Provenienz habe den Religionsindifferentismus befördert und damit jene kaltsinnige Gleichgültigkeit gegen die Religion verschuldet, wie sie für die gegenwärtigen Zeiten kennzeichnend sei. In Anbetracht dieses Vorwurfs gibt N i e t h a m m e r zu bedenken, dass Religionsindifferentismus mit tatsächlicher Gleichgültigkeit gegen Religion nicht eo ipso gleichzusetzen und der mögliche theoretische Grund solcher Gleichgültigkeit nur dann sei, wenn er lehre, dass Religion nicht Pflicht sei. Was geleistet werden müsse, um einer religionsindifferentistischen Vergleichgültigung von Religion
1 J . Döderlein, Unsere Väter, 26. D e r Sohn beruhigte den Vater „alsbald schriftlich, dann bei einem Besuch in der Heimat, wie durch seine Tätigkeit als Professor der Theologie". 2 F . I . Niethammer, Philosophische Briefe über Religion-Indifferentismus und einige damit verwandte Begriffe. An den Herrn Stadtschreiber Krais in Beilstein, in: Philosopisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Vierter Band. Erstes Heft (1796), 1 - 8 0 . Vierter Band. Zweites H e f t (1796), 9 3 - 1 8 4 . Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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Religion als moralische Pflicht
entgegenzutreten, sei demnach der Nachweis, dass Religion durchaus Pflicht und mitnichten nicht Pflicht sei. Just dieser Nachweis könne unter den Voraussetzungen der kritischen Philosophie Kants unschwer geführt werden, die - weit davon entfernt, auf Religionsverachtung hinauszulaufen - in religiöser Hinsicht „dem Geiste der Aufklärung eine andere, wohlthätige Richtung gegeben" (15) habe. U m die Frage, inwiefern Religion vom Menschen als Pflicht gefordert werden könne, einer bestimmten Antwort zuzuführen, bringt Niethammer zunächst in Erinnerung, was er in seiner Schrift von 1795 über Begriff, Status und Inhalt der Religionswissenschaft ausgeführt hat. Formal zu differenzieren sei zwischen einem theoretischen und einem praktischen Teil der Religionswissenschaft: „(A)ls Theile einer Wissenschaft betreffen sie beide das Wissen; aber sie sind dadurch unterschieden, dass das Wissen in der theoretischen Religionswissenschaft das Theoretische, das was in der Religion Gegenstand des Erkennens, und in der praktischen Religionswissenschaft das Praktische, das was in der Religion Gegenstand der Pflichtbestimmung ist, betrifft." (39; bei N. teilweise gesperrt.) Nach Niethammers Urteil ist es das nicht hoch genug zu schätzende Verdienst der kritischen Philosophie Kants, die Religionswissenschaft „zur Würde einer rein praktischen Wissenschaft erhoben" (51) zu haben: „Hier geht die Ueberzeugung, daß Religion Pflicht sei, voran, und der Glaube (daß der Gegenstand der Religion praktische Realität habe) wird als Folge jener Pflichtanerkennung postulirt. Hier geht sogar die Anerkennung der Religion als Pflicht nicht nur der theoretischen Ueberzeugung von dem Dasein Gottes voran, sondern sie ist von dieser Ueberzeugung ganz unabhängig, und besteht für sich, wenn auch der Glaube an das Dasein Gottes nie zur theoretischen Ueberzeugung erhoben werden kann." (Ebd.) Den religionswissenschaftlichen Vorzug dieses Ansatzes sieht Niethammer wesentlich darin, dass er Religion und religiöse Praxis von theoretischem Erkennen im Prinzip unabhängig macht und damit der üblichen Religionskritik ihre Basis entzieht. Was näherhin den Pflichtcharakter der Religion angeht, so lässt er sich, wie Niethammer unter Berufung auf Kant ausführt, weder unmittelbar aus deren Begriff noch aus dem religiösen Gefühlsleben, sondern, wenn überhaupt, allein daraus begründen, dass Religion moralisch gefordert sei. Wenn von religiöser Pflicht bzw. religiösen Pflichten begründet die Rede sein soll und sein kann, dann deshalb, weil diese sittlicher Natur und im Sittengesetz angelegt sind. Niemals vermag die Religion die Basis der Moral zu sein; diese hat ihr Fundament vielmehr in sich selbst und unabhängig von dieser. Mit dieser Zentralannahme Kant'scher Philosophie scheint Religion von vorneherein zu einer Marginalie der Moral herabgesetzt zu werden. Doch ist dieser Eindruck nach Niethammers Urteil grundfalsch. Denn im Gegensatz zur Philosophie mancher sog. kritischer Philosophen, die in Wahrheit
Religion als moralische Pflicht
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Pseudokritik üben, habe der Begründer kritischer Philosophie zwar die Autonomie des Sittengesetzes und damit die Unabhängigkeit der Moralphilosophie von der Religionswissenschaft gelehrt, niemals aber behauptet, dass Moralität losgelöst von religiöser Gesinnung bestehen könne. Die wesentliche Zugehörigkeit der Religionsgesinnung zur Moralität, welche zu der Behauptung berechtigt, Religion sei Pflicht und sittlich geboten, ergibt sich nach N i e t h a m m e r aus der Einsicht in die conditio humana, dergemäß der Mensch intelligibles und sinnliches Subjekt in einem ist. Daraus ergibt sich eine Differenz von Wollen und Vollbringen des Guten, die nur unter Inanspruchnahme von Religion in der vom Sittengesetz geforderten Weise moralisch zu bewältigen sei. Der Mensch ist seiner idealen Bestimmung nach auf Ewiges angelegt; aber sein Dasein ist realiter Sein in der Zeit. „Wäre der Mensch eine reine Intelligenz, den Schranken der Zeit enthoben, und an die Gesetze des Daseins in der Zeit nicht gebunden, so würde bei ihm das Wollen nicht so, wie es jetzt ist, von der Ausführung getrennt sein, er würde jederzeit mit seinem Wollen das Gewollte selbst durch die That vollbringen." (61; bei N . teilweise gesperrt) Realiter indes, so Niethammer, koinzidieren Sollen und Sein, Wollen und Vollbringen keineswegs. Vermessenheit sei es, „wenn jemand unbedingt seinem Willen eine absolute Macht beimißt" (62) und sich schwärmerisch das Vermögen zuerkennt, das sittliche Ideal unmittelbar aus eigener Kraft und alleine von sich aus realisieren zu können. Ein moralischer H o c h m u t dieser Art sei nicht nur nicht sittlich, sondern moralisch kontraproduktiv und das Gegenteil dessen, was er zu sein vorgibt. Gerade um die Differenz von Sollen und Sein, Wollen und Vollbringen nicht zu fixieren und faktisch auf Dauer zu stellen, sei ihre momentane Anerkennung um der Realisierung des Idealen willen obligat. Damit unter den Bedingungen der Endlichkeit das Unendliche tatsächlich erstrebt werden könne, bedürfe die Sittlichkeit der Vermittlung von Religion. O h n e religiöse Gesinnung hingegen bleibe Moral unter irdischen Verhältnissen zwangsläufig auf der Strecke und ein hoffnungsloses Unterfangen. Religiöse Gesinnung sei sonach sittlich gefordert und eine moralische Pflicht. Damit der Mensch als intelligibles Wesen sich in seiner empirischen Subjektivität seiner idealen Bestimmung gemäß ausbilden kann, bedarf er notwendig religiöser Gesinnung, die der Sittlichkeit unveräußerlich zugehört und als moralisch verpflichtend zu behaupten ist. Die Reinheit praktischer Vernunft ist durch diese Behauptung insofern nicht berührt, als von Religion, wie gefordert, ein Gebrauch allein aus moralischen Gründen gemacht werden soll. Dass Religion im alleinigen Dienst der Moral und ihrer Realisierung steht, hat auch für ihre theoretischen Anteile zu gelten, die nach N i e t h a m m e r einschließlich der Annahme des Daseins Gottes eine Funktion praktischer Religion und religiöser Praxis sind. Nachgerade von der Idee Gottes und von der gewissen U b e r z e u g u n g seiner Existenz sei kein unmit-
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telbar theoretischer, sondern ein konsequent religionspraktischer Gebrauch im Dienste der Moralität und sittlicher Realisierung zu machen. Andernfalls ergebe sich der begründete Verdacht, „daß jene Neigung zum Glauben an das wirkliche Dasein des Gegenstandes jener Idee, - wenn sie nicht aus einer vorher erworbenen Fertigkeit in der praktischen Religion entspringt, sondern dieser vorangeht, - eigentlich nur der Wunsch sei, den der sinnliche Anteil unsers Selbsts einmischt" (80; bei N. teilweise gesperrt). Dieser religionskritische Einwand erübrige sich umso mehr, je konsequenter die Religion rein praktische Gestalt annehme, um sich ganz in den Dienst moralischer Verwirklichung zu stellen. Ist dies der Fall, verliert Religion keineswegs ihre Bedeutung, tritt in diese vielmehr recht eigentlich erst unverfälscht ein, indem sie sich an sich selbst als der Moral unveräußerlich zugehörig und als durch das Sittengesetz pflichtmäßig geboten erweist. Moral bedarf keiner religiöser Theorievorgaben; aber ohne praktische religiöse Gesinnung hat Sittlichkeit keinen wirklichen Bestand und kein reales Sein. Auf diese Pointe sind die Aussagen der Briefe Niethammers über Religionsindifferentismus allesamt angelegt. Ihr systematisches Zentrum bilden Argumente zum Verhältnis von Intelligibilität und Sensibilität, transzendentaler und empirischer Subjektivität, die freilich eher noch in statu nascendi begriffen als bereits hinreichend ausgereift sind. Niethammer äußert sich, wie Dieter Henrich urteilt, „zu Grundfragen der Theorie sowohl des Selbstbewußtseins wie der Freiheit, ohne daß es ihm gelingt, tiefer in sie einzudringen oder doch zumindest eine durchsichtige und zugleich präzise formulierte Position zu beziehen" 3 . Der Ansatz versuchter Problembewältigung und die Primärintention, die mit diesem Ansatz verbunden wird, lassen sich gleichwohl verhältnismäßig klar identifizieren. Entscheidend für das rechte Verständnis der kritischen Philosophie Kants sei, so Niethammer, eine zutreffende Auffassung des zentralen „Gegenstandes" transzendentaler Betrachtung, nämlich des reinen Ich und Subjekts a priori. Diese erschließe sich nicht empirischer Anschauung, auch nicht der Selbsterfahrung des empirischen Subjekts, dem das Ich als Grund seiner selbst vorstellig werde. Vom transzendentalen Ich sei jede objektive Vorstellung fernzuhalten und zwar auch diejenige, wonach es der Inbegriff des Vernunftvermögens im Sinne reiner, von jedweder Sinnlichkeit abgehobener Intelligenz sei. Das Subjekt a priori mit reinem Vernunftvermögen gleichzusetzen ist nach Niethammer ebenso falsch wie die Identifikation des empirischen Subjekts mit sinnlicher Leiblichkeit: Intelligibilität und Sensibilität sind Bestimmtheitsweisen ein und desselben Subjekts, das realiter stets vernunftund sinnlichkeitsbestimmt, also Leib und Seele oder, wenn man will, Leib, Seele und Geist in einem ist. Jede objektive Erkenntnis, wie sie durch Erfah-
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D. Henrich, Grundlegung aus dem Ich II, 1028.
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rang und Selbsterfahrung vermittelt werde, bestätige diesen Sachverhalt. Sie bestätige damit aber zugleich, dass dasjenige, was Kants kritische Philosophie transzendentales Ich nenne, theoretisch überhaupt nicht auf objektive Weise, sondern nur durch Reflexion auf die oberste Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität als differenzierter Einheit von Vernunft und Sinnlichkeit fassbar sei. Unter reinen Theoriegesichtspunkten müsse die Idee des transzendentalen Ich als bloßer Grenzgedanke gelten, von dem ausschließlich regulativer Gebrauch zu machen sei, weil das transzendentale Ich niemals realer Erfahrungsgegenstand, auch nicht realer Gegenstand von subjektiver Selbsterfahrung, sondern Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung einschließlich der Selbsterfahrung sei. Objektiv in Erfahrung bringt sich das transzendentale Ich nicht auf theoretische, sondern nur auf praktische Weise, nämlich in der F o r m der Gewissensgewissheit des sittlich Gebotenen. Dabei gilt, dass die praktische Manifestation des transzendentalen Ich mit keiner F o r m von Selbsterfahrung empirischer Subjektivität identisch ist. D e n n dem realen Ich in allen seinen erkennbaren Seins- und Reflexionsformen erschließt sich das transzendentale Ich nicht anders denn als Sollen und als fundamentaler Inbegriff des sittlich Gebotenen. Wer das Subjekt nicht anders kennt, als es sich ihm auf dem empirischen Standpunkt oder in Gestalt der Selbsterfahrung zeigt, hat vom transzendentalen Ich entweder keinen oder einen falschen Begriff. Auch wenn es als Substrat des der Sinnlichkeit entgegengesetzten Vernunftvermögens des Menschen vorstellig gemacht wird, wird es faktisch verkannt. Erst wenn aller theoretischer Schein objektiver Anschaubarkeit vergeht und die reine praktische Vernunft auf den Plan tritt, wird in der Gewissensgewissheit des sittlich Gesollten offenbar, was es mit dem transzendentalen Ich in Wahrheit auf sich hat. Steht dieses fest, so ist für Niethammers argumentative Belange des Weiteren vor allem die Einsicht entscheidend, dass die Selbsttätigkeit, die dem transzendentalen Ich eigen ist, vernünftigerweise keinem Realich beigelegt werden kann. Im Unterschied zur absoluten Selbsttätigkeit des transzendentalen Ich ist diejenige empirischer Subjekte in all ihren denkbaren objektiven Verwirklichungsweisen beschränkt und nicht absolut. Einem realen, empirisch in Erfahrung zu bringenden Ich unbedingte und unendliche Freiheit beilegen zu wollen, ist nach Niethammer absurd und wider alle G r u n d sätze kritischer Philosophie. Werde dies eingesehen, dann sei zugleich evident, dass kein menschliches Subjekt bei der praktischen Aufgabe, durch Vernunft sich selbst zu bestimmen, der Hilfe der Religion entbehren könne. Entbehrlich nämlich sei deren Hilfe nur unter der Voraussetzung, dass menschlicher Subjektivität das Vermögen absoluter Selbstbestimmung beigelegt werde. Dies aber sei unmöglich und gegen alle Vernunft. Ist Religion als unentbehrlich für die Verwirklichung des Sittengesetzes unter den Bedingungen realer Subjektivität in der gegebenen Welt erkannt,
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so ist damit im Prinzip auch die Unentbehrlichkeit des Offenbarungsglaubens eingesehen, ohne den Religion faktisch nicht existiert. Es erübrigt sich daher, den Argumenten ins Einzelne zu folgen, die Niethammer in dem „Versuch einer Begründung des Vernunftmäßigen OffenbarungsGlaubens" 4 vorbringt, den er im Anschluss an seine Briefe über den Religionsindifferentismus unternimmt. "Was über die Notwendigkeit einer gültigen Begründung des Offenbarungsglaubens (vgl. 4-11) und den Gesichtspunkt gesagt wird, von dem die Untersuchung der Offenbarungslehre ihren Ausgang zu nehmen hat (vgl. 12-28), wiederholt nur bereits Bekanntes. Nichts Neues enthält auch der Hinweis, das Bedürfnis des Offenbarungsglaubens (vgl. 28-87) könne stets nur ein praktisch-vernünftiges sein mit der Folge, dass von Offenbarung nirgends als von einer Beglaubigungsinstanz des Sittengesetzes, also nicht im Sinne eines Glaubens an Offenbarung bzw. an durch Offenbarung unmittelbar von G o t t mitgeteilte Lehren und Informationen, sondern stets nur als von einem Erscheinungsmedium der Moral und Hilfsmittel ihrer Realisierung die Rede sein dürfe. Die Offenbarungsthematik stelle sich mithin im Vergleich zur Tradition sachlich ganz anders und völlig gewandelt dar: „(Es) ist lediglich das alte Wort, gar nichts von dem alten Begriff beibehalten." (IV) Nicht Glaube an Offenbarung ist gefordert; religionswissenschaftlichtheologisch erwiesen werden soll nur die sittliche Förderlichkeit des O f f e n barungsglaubens, der einem moralischen Bedürfnis abzuhelfen vermag. Nicht dass Niethammer der Meinung wäre, „daß OffenbarungsGlaube nur bis zu einer gewissen Stufe der moralischen Selbstthätigkeit Bedürfniß seyn soll" (87): Zwar soll er insofern entbehrlich werden, als seine Wesensbestimmung darin besteht, der reinen Vernunftreligion das Feld zu bereiten, doch hört mit seinem Gebrauch zur Verstärkung der Vorstellung der Pflicht nicht der Offenbarungsglaube an sich selbst auf, da sein Sinngehalt in die Vernunftreligion eingeht, um in ihr nur formal negiert, materialiter aber erhalten zu bleiben. Als praktisches Vernunftprodukt, sagt Niethammer, muss der Offenbarungsglaube auch für alle Vernunft gelten. Bleibt zu fragen, aus welchem vernünftigen Grund praktische Vernunft dazu kommt, Offenbarungsglauben zu fordern und aus sich heraus freizusetzen. Niethammers Antwort auf diese Frage ist identisch mit seiner vernunftmäßigen Begründung des Offenbarungsglaubens, die er im Titel verspricht. Im Vollzug ihrer Selbstrealisierung bekommt es praktische Vernunft mit einem Problem zu tun, welches ihr nicht lediglich äußerlich, sondern insofern intern ist, als für sittlich gebotenes Handeln des Menschen
* F.I. Niethammer, Versuch einer Begründung des Vernunftmäßigen O f f e n b a r u n g s G l a u bens. N a c h dem Lateinischen. Mit einem Anhang, der eine Darstellung des Gesichtspunkts enthält, aus dem diese Begründung aufgefasst werden m u ß , Leipzig/Jena 1798. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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der Unterschied zwischen Sollen und Sein kennzeichnend ist. Wohl ist es wahr, dass die sittliche Idee ein für sich selbst hinreichender Bestimmungsgrund zur Pflicht und ihrer Erfüllung ist. D e n n o c h ist die praktische Vernunft damit des Unterschieds von Sollen und Können und des mit ihm gegebenen Problems noch nicht enthoben, da sie im Vollzug konkreten H a n delns nicht nur mit externen, sondern auch mit internen Widerständen zu rechnen hat. Externer Art sind die Widerstände, die O b j e k t e der natürlichen Welt der sittlichen Forderung entgegensetzen, interner Art jene, die dem Menschen in Gestalt seiner eigenen Sinnlichkeit begegnen. Damit praktische Vernunft angesichts dieser Widerständigkeiten nicht resigniere, was unsittlich wäre, sondern konsequent darin fortfahre, ihrer tätig H e r r zu werden, bedarf sie aus Gründen, die ihr selbst eigen und vom Sittengesetz gefordert sind, der Gewissheit einer zu erwartenden Koinzidenz von N a t u r kausalität und Kausalität aus Freiheit, welche ihr der Offenbarungsglaube gewährt, indem er ihr den Grund dieser Koinzidenz vorstellig macht und sie ihres eigenen Fundamentes und ihrer Zielbestimmung inne werden lässt, durch welche der einige Zusammenhang von sittlichem Sollen und Können gewährleistet wird. Damit aus dem Unterschied zwischen Sollen und Können, mit dem es praktische Vernunft im Vollzug ihrer Selbstrealisierung zu tun b e k o m m t , kein Widerspruch werde, bedarf es nach Niethammer der hoffnungsvollen Aussicht auf sittliche Fügung des Sinnlichen, welche der Offenbarungsglaube dem moralischen Bewusstsein gewährt. Offenbarungsglaube ist daher wesentlich Vorsehungsglaube, welcher Glaube der Vernunft gänzlich gemäß ist, wenn er in F o r m nicht einer theoretischen, sondern einer moralisch motivierten Teleologie expliziert wird. Religiöser Vorsehungsglaube beansprucht nicht, an die Stelle naturwissenschaftlicher Welterklärung zu treten, um diese zu ersetzen. Aber er vermag natürliche Welterfahrung mit einem Sinn zu versehen, den diese nicht, jedenfalls nicht in eindeutiger Weise, zu generieren vermag. Zwar nimmt auch der Vorsehungsglaube auf bruta facta Bezug, aber deren Sinn geht nicht unmittelbar aus ihrer Faktizität, sondern aus der Art und Weise ihrer Beurteilung im Lichte vernunftreligiöser Betrachtung hervor. Was unter äußeren Erfahrungsgesichtspunkten lediglich als eine bloße Begebenheit nach Naturgesetzen erscheint, wird in ethikotheologischer Perspektive mit vernünftigem Recht als ein Geschehen beurteilt werden können, das unter der Leitung göttlicher Vorsehung steht, die für den Gang der Dinge sowohl im Einzelnen als auch und vor allem im Ganzen sorgt, auf dessen Sinn sich glaubensgewisse Moral verlassen kann. Theoretisch andemonstriert werden kann der Glaube an die Vorsehung wie der Offenbarungsglaube insgesamt nicht; den traditionellen physikoteleologischen Gottesbeweis zu erneuern, ist erklärtermaßen nicht Niethammers Absicht. D a s ändert indes keineswegs etwas an seiner Grundannahme, „daß es der Vernunft ganz angemessen und in der Vernunft selbst gegründet
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sey, alles was ist und geschieht auf die Idee der Gottheit zu beziehen, und aus diesem Gesichtspunkt als von der Gottheit abhängig und unter ihrer Leitung stehend zu beurtheilen; mit einem Wort, daß es der Vernunft gemäß und vor der Vernunft gerechtfertigt sey, eine Vorsehung zu glauben" (106f). Durch den Vorsehungsglauben vergewissert sich die Vernunft in rein praktischem Interesse ihres eigenen Grundes und Zieles - und sie tut dies aus einer sittlich gebotenen Pflicht heraus und mit einem moralischen Recht, das ihr durch keine empirische Erfahrungstatsache und durch keine Theorie streitig gemacht werden kann. Indem er zu G o t t erhebt, führt der Vorsehungsglaube die Vernunft nicht in ein suprarationales Jenseits, sondern in den innersten Grund ihrer selbst hinein, den in selbsttranszendierender Weise zu verwirklichen ihr aufgegeben ist.
21. Forbergs Aufsatz zur „Entwickelung des Begriffs der Religion"
Die Zwecke, die Niethammer mit der Herausgabe des „Philosophischen Journals" verfolgte, waren bei aller erstrebten Wissenschaftlichkeit immer auch auf allgemeine Volksbildung über den engeren Kreis von Fachgelehrten hinaus gerichtet. Insbesondere seine eigenen Journalbeiträge lassen ein deutliches Interesse an Allgemeinbildung bis hin zu einem volkspädagogischen Engagement erkennen. O h n e direkt popularisieren zu wollen, war N i e t h a m m e r nichtsdestoweniger bestrebt, die Wissenschaften über den rein akademischen, binnenuniversitären Bereich hinaus einem breiteren Publikum zu erschließen, um sie auf diese Weise populär zu machen. Besonders angelegen sein ließ er sich dabei den Nachweis, dass die Prinzipien von Kants praktischer Philosophie mit religiöser Gesinnung nicht nur vereinbar, sondern dergestalt verbunden seien, dass Religion als sittliche Pflicht gelten könne. U n t e r diesen Umständen musste es ihn umso härter treffen, dass er in seiner Eigenschaft als Herausgeber des „Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten" in den sog. Atheismusstreit verwickelt und von Teilen des Bildungspublikums, dem seine Editionsarbeit galt und an das er seine moral- und religionsphilosophischen Schriften adressierte, indirekt der Gottlosigkeit bezichtigt wurde. Niethammers Ethikotheologie, wie er sie in mehrfachen Anläufen zu entfalten suchte, nahm ihren Ausgang stets bei der mit Kant geteilten Annahme, dass die praktische Vernunft um ihrer selbst willen auf das höchste Gut als den Endzweck sittlichen Handelns ausgerichtet ist, in welchem höchste moralische Vollkommenheit und höchste Glückseligkeit koinzidieren. Die Verwirklichung des Endzwecks praktischer Vernunft hinwiederum ist möglich nur unter der Voraussetzung der Existenz eines Wesens, in dem höchste Vollkommenheit und Glückseligkeit vereinigt sind. Zwar kann das Dasein dieses Wesens, als das kein endliches Subjekt, sondern allein Gott in Frage kommt, theoretisch ebenso wenig erwiesen werden wie die reale Möglichkeit bzw. die mögliche Realität des Endzwecks sittlichen Handelns. Doch hat die praktische Vernunft ein durch sich selbst legitimiertes Recht, das höchste Gut und Gott als die Voraussetzung seiner Realisierbarkeit als gegeben zu postulieren, um die in sich unsittliche Annahme zu vermeiden, die Moralität sei unter den gegebenen Bedingungen von Menschheit und Welt nicht zu verwirklichen. Soll durch die Faktizität des Seins das sittliche Sollen nicht depotenziert und die Moral der Sinnlichkeit unterworfen werden, ist die Annahme der
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Forbergs Aufsatz zur „Entwickelung des Begriffs der Religion"
Existenz eines die Realisierbarkeit des höchsten Gutes gewährleistenden göttlichen Wesens alternativlos und zwar trotz und unbeschadet der theoretischen Unerweisbarkeit seines Daseins. Es genügt und muss der praktischen Vernunft für ihre - im Endzweck des höchsten Guts übereinkommenden - sittlichen Zwecke genügen, dass die Annahme des Daseins Gottes einerseits der reinen Vernunft nicht zuwider, also theoretisch nicht unmöglich, andererseits von der Moralität unbedingt gefordert ist. Weil die praktische Vernunft nach Maßgabe ihres eigenen Gesetzes kategorisch nicht wollen kann und nicht wollen darf, dass ihr Endzweck unrealisierbar ist, soll und muss sie wollen, dass Gott sei. Gottes Sein steht sittlich nicht zur Wahl, seine Annahme ist moralisch unbedingt gefordert. Auf dieser argumentativen Basis meinte Niethammer nicht nur als akademischer Theologe, sondern auch als Schriftsteller bestehen zu können, der sich die religiöse Unterweisung wenn nicht des ganzen Volkes, so doch der Gebildeten angelegen sein ließ. Zwar sind in seiner Position Religion und Theologie in die Ethik integriert und versehen der Moral gegenüber eine subsidiäre Aufgabe. Auch der Gottesgedanke ist Resultat der Reflexion auf die impliziten Voraussetzungen des Sittengesetzes und nicht deren unmittelbare Basis. Doch hielt sich Niethammer gegen jeden Fiktionsverdacht hinreichend durch den Hinweis gesichert, dass der religiöse Gottesglaube, dessen gedanklich-wissenschaftliche Form die Theologie darstellt, zwar subsidiär, in seiner subsidiären Funktion für die Moral aber unverzichtbar und insofern konstitutiv sei. Gottlosigkeit widerstreitet nach seinem Urteil dem Gesetz praktischer Vernunft und ist daher sittenwidrig. Mit Atheismus wollte Niethammer seine Auffassung unter keinen Umständen in Verbindung gebracht wissen. Die Ereignisse der Jahre 1798/99 verliefen daher nicht nur für den äußeren, sondern auch für den inneren Menschen Niethammer dramatisch und brachten mannigfache Anfechtungen sowohl von rechtlicher als auch von moralisch-religiöser Art mit sich. Der Konflikt, der unter dem Namen Atheismusstreit in die Geistesgeschichte einging, wurde durch einen Aufsatz des Saalfelders Konrektors und Fichteschülers Friedrich Karl Forberg (1770-1843) 1 veranlasst, der im
1 Zu Person und Werk Forbergs vgl. die Hinweise bei D . Henrich (Hg.), Immanuel Carl Diez, 4 3 8 f ( A 6 / 1 6 ) . Vgl. ferner den Kommentar, den Forberg als Siebzigjähriger zum Verlauf des Atheismusstreits abgab: „Wenn man wie gewöhnlich unter G o t t sich ein ausserweltliches, substanzielles, persönliches Wesen vorstellt, das durch Verstand und Willen die Welt geschaffen hat und regiert, so war unsere Lehre allerdings atheistisch, und unsere Ankläger hatten vollkommen Recht. Wir konnten uns gegen die Anklage nur dadurch rechtfertigen, dass wir den Begriff von G o t t in einem ganz andern, dem großen Publicum unbegreiflichen Sinn nahmen und in diesem Sinn einen G o t t gelten ließen, was wir denn auch thaten, freilich aber niemand von unserer Unschuld überzeugten, wie wir auch, sobald einmal von Anklage die Rede war, gar nicht erwarten durften." (F.K. Forberg, Lebenslauf eines Verschollenen, Hildburghausen/Meiningen 1840, 54 f)
Forbergs Aufsatz zur „Entwickelung des Begriffs der Religion"
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Frühjahr 1798 unter dem Titel „Entwickelung des Begriffs der Religion" im ersten H e f t des achten Bandes des von N i e t h a m m e r und F i c h t e herausgegebenen „Philosophischen Journals" trotz anfänglicher Bedenken der Editoren publiziert wurde. 2 F o r b e r g bestimmt darin den Begriff der Religion als praktischen Glauben an eine moralische Weltregierung und die G o t t h e i t als den erhabenen Geist, der die Welt nach dem G e s e t z der Sittlichkeit regiert. Einen anderen Gottesbegriff als diesen, in dem sie die einzige Bedingung ihrer Möglichkeit finde, habe Religion nicht nötig. Gegründet weiß sich der religiöse Glaube an eine göttliche Weltregierung nach Forberg weder in der Erfahrung noch in spekulativer Theorie, sondern allein im Gewissen. Was die Welterfahrung betreffe, so sei sie als moralisch höchst ambivalent einzuschätzen. Sittlich beurteilt zweideutig erlaubt sie in keiner Weise einen eindeutigen Schluss auf eine göttliche Weltregierung. Wer die G o t t h e i t im äußeren Verlauf der Dinge suche, werde sie daher niemals finden, sondern viel eher zu der Vermutung gedrängt, ein böser G o t t , der Teufel, sei darin wenn nicht allein, so doch in beständigem Widerstreit gegen das G u t e am Werke. Lässt sich der religiöse Glaube demnach auf äußere Welterfahrung mit Gewissheit nicht gründen, so stehen nach Forberg auch keine theoretischen Vernunftgrundsätze zur Verfügung, von denen aus sicher auf das D a sein eines moralischen Weltregenten zu schließen wäre. Theoretische G o t tesbeweise hielten der Prüfung nicht stand und erzeugten nur dialektischen Schein. A m ontologischen Argument und an den sog. Beweisen e contingentia mundi und e gubernatione rerum wird dies eigens, obzwar nur ansatzweise demonstriert. Die kritischen Argumente sind die gleichen, die Kant vorbringt. Scheidet die Möglichkeit aus, den religiösen Glauben an eine moralische Weltregierung G o t t e s durch Erfahrung oder theoretische Spekulation zu fundieren, so verbleibt als Gewissheitsgrund der Religion und ihres Basisgehalts nur das Gewissen. „ U n d so ist es denn", wie Forberg sagt, „auch in der T h a t . Die Religion ist weder ein Product der Erfahrung, noch ein F u n d der Speculation, sondern b l o ß und allein die F r u c h t eines moralisch guten H e r z e n s . " (26) D i e Religion und mit ihr der Glaube an eine moralische Weltregierung G o t t e s bzw. an G o t t als moralischen Regierer der Welt entstehen „einzig und allein aus dem Wunsch des guten Herzens, daß das G u t e in der Welt die O b e r h a n d über das Böse erlangen m ö g e " (27; bei F . teilweise kursiv). Dieser Wunsch sei prinzipiell als in allen Menschen gegeben vorauszusetzen, weil kein Mensch als Mensch, d.h. seiner menschlichen Bestimmung gemäß im Ernst das Gegenteil wünschen könne. D e n n das Gegenteil
2 F . K . Forberg, Entwickelung des Begriffs der Religion, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Achter Band. Erstes Heft (1798), 2 1 - 4 6 . Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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Forbergs Aufsatz zur „Entwickelung des Begriffs der Religion"
der Realisierbarkeit und Verwirklichung des Guten zu wünschen „wäre nicht der Wunsch eines Bösewichts, sondern eines Satans" (ebd.). Eine satanische Verkehrung sei nicht Irr-Religion, wie sie beim Menschen begegne, sondern ihrem höllischen Unwesen nach teuflisch und mit dem Begriff des Menschen schlechterdings unvereinbar. Gründet der Wunsch, das Gute möge in der Welt das Böse überwinden, nach Forberg unveräußerlich im Innersten der menschlichen Natur, an welcher teilzuhaben auch noch dem bösesten Menschen zuzuerkennen sei, weil ihm ansonsten seine Bosheit nicht als die seine anzurechnen wäre, so nimmt er in den Menschen, deren Sinnen und Trachten auf Gutes ausgerichtet ist, die Gestalt eines übermächtigen Sehnens nach allgemeiner Verwirklichung des moralisch Gesollten in einem Reich des Rechts und der vollkommenen Sittlichkeit an. Wie allen denkenden Menschen die Idee einer künftig möglichen Ubereinstimmung aller in allen Wahrheitsurteilen unablässig vor Augen stehe, so sei in allen Guten die Erwartung einer allgemeinen Realisierung der Moral lebendig mit dem Unterschied freilich, dass die Idee eines kommenden Reiches der Wahrheit theoretischen Zweifeln ausgesetzt bleibe, wohingegen die Realisierbarkeit und zukünftige Realität des Reiches des Guten allen sittlich Gesonnenen um der Gewissensgewissheit praktischen Religionsglaubens willens unzweifelhaft feststehe. Zum Zwecke gemeinschaftlicher Förderung des kommenden Reiches des Guten als des Endzwecks aller Moral, in dem sie sich bestimmungsgemäß vereint wissen, schließen sich nach Forberg alle Gutwilligen in einer Gemeinschaft zusammen, welche die Communio Sanctorum oder die Kirche als die proleptische Vorlaufsform und Antizipationsgestalt des Reiches G o t tes auf Erden zu nennen sei. Als Vereinigung aller Gutwilliger zu einem Endzweck sei die Kirche ihrem Wesen nach eine und allgemein sowie allem konfessionell-konfessionalistischen Separatismus, ja aller spezifischen Besonderheit positiver Religionsparteien vorgelagert und grundsätzlich überlegen. Keine andere Religion werde in ihr geübt und zur Ausführung gebracht als diejenige eines rein praktischen Vernunftglaubens, dem mit der Gewissheit des Gewissens das Sittengesetz und mit ihm dessen Endzweck sowie das Dasein Gottes als moralisch erforderliche Voraussetzung der Realität des höchsten Guts gewiss sei. Der Status dieser Gewissheit sei nicht theoretischer, sondern rein praktischer Art. U m dies zu unterstreichen und unmissverständlich herauszustellen, vertritt Forberg die These, dass man es in theoretischer Hinsicht mit der Existenzannahme Gottes und der Annahme der Realisierbarkeit einer moralischen Weltregierung halten könne, wie man es wolle: „(M)an kann sich für den Theismus oder für den Atheismus erklären, je nachdem man es vor dem Forum der speculativen Vernunft verantworten zu können meint, denn hier ist nicht die Rede von Religion, sondern von Speculation, nicht von Recht und Unrecht, sondern von Wahrheit und Irrthum." (38)
Forbergs Aufsatz zur „ E n t w i c k l u n g des Begriffs der Religion"
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D e r theoretische Gegensatz von Wahrheit und Irrtum, sagt Forberg, geht die Religion nichts an, deren Wesen rein praktischer N a t u r ist. In praktischer Hinsicht zwar sei die Religion Pflicht und alles andere als gleichgültig. D e n n es sei sittlich geboten und moralisch verbindlich, an die Realisierbarkeit des höchsten Guts und an G o t t als moralischen Weltregierer und G a ranten des sittlichen Endzwecks zu glauben. A b e r ein theoretisch verbindlicher Anspruch sei mit dem praktischen Glaubensbegriff keineswegs zu assoziieren. „Mit andern Worten: es ist nicht Pflicht, zu glauben, daß eine moralische WeltRegierung oder ein G o t t als moralischer WeltRegent existirt, sondern es ist b l o ß und allein dies Pflicht, zu handeln, als o b man es glaubte." (ebd.; bei F . teilweise kursiv) Mit dieser und ähnlichen Aussagen, die „mutwillig" 3 zu nennen in mehrfacher Hinsicht Anlass besteht, weil sie den Fiktionsverdacht nicht nur zur zwangsläufigen Folge haben, sondern förmlich und bewusst herbeireden, hat F o r b e r g erheblichen A n s t o ß erregt, wobei die Anstößigkeit durch eine Reihe, wie er selbst notierte, verfänglicher Fragen verstärkt und zugesteigert wurde, die er zum Schluss seiner Abhandlung auf den entwickelten Begriff der Religion bezog, um sie von dort her zu beantworten. „Ist ein G o t t ? Antwort: Es ist und bleibt ungewiss." „Kann man jedem Menschen zumuten, einen G o t t zu glauben? A n t wort: N e i n ! " „Kann man rechtschaffen seyn, ohne einen G o t t zu glauben? Antwort: J a . " „Kann ein Atheist Religion haben? Antwort: Allerdings." „Ist die Religion Verehrung der G o t t h e i t ? Antwort: Keineswegs." (41 ff) Die jeweils in Klammern angegebenen Begründungen der Antworten heben durchweg auf den fundamentalen Unterschied zwischen theoretischen Uberzeugungen, die auf unausweisbaren Spekulationsannahmen basierten und recht eigentlich Aberglaube seien, und Religion als einer Willensmaxime und Forderung praktischer Vernunft ab. Spezifische Inhalte - und sei es die Existenz G o t t e s - für wahr zu halten, fordere die Religion niemandem ab; sie weise derlei Forderungen im Gegenteil kategorisch zurück. Religiös zu fordern ist nach Forberg ausschließlich die Anerkennung dessen, was im G e b o t des Sittengesetzes begründet und für die Möglichkeit der Realisierung von Moralität unabdingbar ist. Dabei gilt, dass Religion recht eigentlich nicht zur Tugend, sondern nur zu Tugenden verhilft, in denen die rein in praktischer Vernunft fundierte Tugendhaftigkeit sich verwirklicht. Weil es nach Forberg wohl göttliche Pflicht, aber keine Pflichten gegenüber G o t t gibt, besteht nach seinem Urteil zwischen praktischer Religiosität im Sinne moralischen Vernunftglaubens und theoretischem Atheismus kein grundsätzlicher Widerspruch. Es sei im Gegenteil so, dass ein tugendhafter Atheist, der die Existenz G o t t e s aus menschlichen Gründen bis hin zu gänzlicher Leugnung in Abrede stelle, wahrhaft Religion haben, theoreti-
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Vgl. F. Medicus, Art. Atheismusstreit, in: R G G 2 I, S p . 6 0 9 f , hier: 609.
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scher Gottesglaube hingegen, der dann freilich nichts als Aberglaube sei, mit praktischem Unglauben und tatsächlicher Irr-Religiosität zusammen bestehen könne. Bleibt zu fragen, ob der von ihm entwickelte Begriff eines praktischen Glaubens nicht „mehr ein spielender, als ein ernsthaft philosophischer Begriff" (46) ist. Diese Fangfrage stellt sich Forberg am Schluss seiner Abhandlung selbst, um sie in dem philosophischen Ernst, den er für geboten hält, an den geneigten Leser weiterzugeben, welchem die Antwort auf sie und damit zugleich das Urteil zu überlassen sei, „ob der Verfasser des gegenwärtigen Aufsatzes am Ende auch wohl mit ihm nur habe spielen wollen" (ebd.; bei F. teilweise kursiv).
22. Fichtes Beitrag „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung"
Als den Herausgebern des Philosophischen Journals Forbergs Abhandlung „Entwickelung des Begriffs der Religion" zugesandt wurde, hatten sie, wie ihrer Verantwortungsschrift 1 gegen die erfolgte Anklage wegen Verbreitung atheistischer Grundsätze zu entnehmen ist, Bedenken, den Abdruck vorbehaltlos und ohne Vermerke zu gestatten: „Nicht", schreibt Niethammer, „weil wir sie (sc. die Abhandlung Forbergs) für atheistisch hielten; - dafür können wir sie nach unsrer innigsten Ueberzeugung nicht halten! Auch nicht, weil wir sie überhaupt an sich für gefährlich gehalten hätten; - welches sie für den nur wirklich unbefangnen und aufmerksamen Leser in der That nicht werden kann! Sondern lediglich darum, weil wir wohl wußten, daß leider! auch selbst in dem Publicum, welches das Philosophische Journal hat, es nicht an leichtsinnigen, zerstreuten, unachtsamen Lesern fehle, die dergleichen Untersuchungen nur obenhin ansehen, und den Inhalt derselben nach dem Eindruck zu bestimmen pflegen, den die erste oberflächliche Ansicht ihnen zurückgelassen hat." (171 [111]) Mit Rücksicht auf diese Leserklasse fasste man den Beschluss, Forbergs Text „nicht ohne begleitende Anmerkungen abdrucken zu lassen" (172 [111]), um auf diese Weise ebenso unnötige wie unbegründete Anstöße durch einige zugespitzte Aussagen und durch den Ton zu vermeiden, in dem sie formuliert wurden. Dies habe man dem Verfasser umgehend mitgeteilt, der indes seinen „großen Widerwillen dagegen (bezeugte), seinen Vortrag durch fremde Anmerkungen unterbrochen zu sehen, und bat, daß wir lieber, was wir zu erinnern fänden, in einer eignen Abhandlung der seinigen vorhergehen, oder folgen lassen möchten" (ebd.). N u r ungern zwar hätten die Herausgeber in diesen Vorschlag eingewilligt, da man Missverständnisse und folgendes Ungemach schon damals hatte ahnen können. Gleichwohl habe man in den gehegten Befürchtungen keinen entscheidenden Grund gesehen, sich dem für prinzipiell gerecht befundenen Verlangen des Autors zu verweigern. So kam es da-
1 D e r Herausgeber des Philosophischen Journals gerichtliche Verantwortungsschriften gegen die Anklage des Atheismus. H g . v. J.G. Fichte, Jena 1799 ( = F G A 1/6, 29-144). Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. In einem ersten Teil (1-120; F G A 1/6, 27-89), den Fichte verfasst hat, wird zu beweisen gesucht, dass der erhobene Atheismusvorwurf sachlich unbegründet sei, in einem zweiten Teil (121-192; F G A 1/6, 93-119), der auf N i e t h a m m e r s Autorschaft zurückgeht, soll die Sorgfalt nachgewiesen werden, mit der die H e r ausgeber editorisch verfahren sind.
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Fichtes Beitrag
zu, dass Forbergs Aufsatz mit einem vorhergehenden Beitrag Fichtes zum Thema versehen, im Übrigen aber unverändert publiziert wurde. Zu Beginn seines Beitrags, der das erste Heft des achten Bandes des Philosophischen Journals eröffnet 2 , k o m m t Fichte ausdrücklich auf die gegebene Lage und auf Forbergs Aufsatz zu sprechen, der in vieler Hinsicht mit seinen eigenen Auffassungen übereinkomme, sie aber andererseits, ohne ihnen entgegen zu sein, nicht hinreichend deutlich zur Sprache bringe. Daher nehme er, Fichte, die sich bietende Gelegenheit zum Anlass, die Resultate seines Philosophierens „Uber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung", die er bisher nur im Hörsaal vorgetragen habe, einem größeren philosophischen Publikum zumindest im Grundriss zur Prüfung und zu gemeinschaftlicher Bewertung vorzulegen. Das Verlangen, einen wie auch immer gearteten Beweis einer göttlichen Weltregierung zu geben, lehnt Fichte dezidiert als irreführend ab. Durch ein entsprechendes Ansinnen werde eine rechte Behandlung der Thematik schon im Ansatz verkehrt. Verrückt und widersinnig sei es, den Glauben an G o t t und die göttliche Weltregierung theoretisch begründen und durch allerlei Beweisverfahren der Menschheit andemonstrieren zu wollen. Gründe dieser Glaube nicht unmittelbar im Menschen, könne er durch keine Philosophie an und in ihn gelangen. „Die Philosophie kann nur Facta erklären, keinesweges selbst welche hervorbringen; außer, daß sie sich selbst als Thatsache hervorbringt." (348) Dies geschieht im gegebenen Fall dadurch, dass sie den Glauben an die göttliche Weltregierung unter Ausscheidung aller Willkür und allen willkürlichen Fürwahrhaltens als in der selbsttätigen Vernunft und in je-
2 J.G. Fichte, Über den Grund unsres Glaubens an eine göttliche WeltRegierung, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Achter Band. Erstes Heft (1798), 1-20. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf den fünften Band der Werkreihe der Fichte-Gesamtausgabe, in den der Journalaufsatz aufgenommen wurde (FGA 1/5, 347-357). Eine detailgenaue Interpretation bietet unter Berücksichtigung der Platner-Vorlesungen und der Basisgedanken des transzendentalen Systems F. Wittekind, Religiosität als Bewußtseinsform. Fichtes Religionsphilosophie 1795-1800, Gütersloh 1993. Im Zentrum der Arbeit steht „die historisch-systematische Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaftslehre und Religionsphilosophie in Fichtes philosophischem System in den Jahren vor 1800" (21; vgl. dazu vom selben Autor: Von der Religionsphilosophie zur Wissenschaftslehre. Die Religionsbegründung in Paragraph 2 der zweiten Auflage von Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung, in: W.H. Schräder [Hg.], Anfänge und Ursprünge. Zur Vorgeschichte der Jenaer Wissenschaftslehre, Amsterdam/Atlanta 1997 [Fichte-Studien 9], 101-113). Als wichtigstes Forschungsdesiderat wird die genaue Untersuchung der „Verbindung einer auf Freiheit aufbauenden transzendentalen Subjektivitätstheorie mit einer Theorie des Absoluten in der späten Wissenschaftslehre" (258) bezeichnet. Im Zuge einer solchen Untersuchung muss darüber befunden werden, ob Fichtes Spätphilosophie als konsequenter Lösungsversuch von Aporien seiner Frühphilosophie und gegebenenfalls als denkbare Alternative zu Hegels System des Absoluten zu werten ist. Vgl. hierzu J. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02, Stuttgart 1986.
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dem zu vernünftiger Selbsttätigkeit fähigen Wesen begründet und damit als schlechterdings notwendig zu erweisen sucht. N a c h Fichte ist der vernunftnotwendige G r u n d des Glaubens an eine göttliche Weltregierung weder unmittelbar in der Sinnenwelt aufzufinden noch durch Konsequenzen zu erschließen, die aus ihr und ihren F o r m e n hervorgehen. Denn von der Sinnenwelt aus gebe es, wenn man sie nur rein denke, keinen Weg, um zur begründeten Annahme einer moralischen Weltordnung aufzusteigen. Der Glaube an sie kann allein durch den Begriff einer übersinnlichen Welt begründet werden. Ein solcher Begriff ist nach Fichte in der aller Sinnlichkeit überlegenen Freiheit des Menschen gegeben, welcher sich jeder bewusst ist, der um sich selbst weiß. „Ich finde mich frei von allem Einflüsse der Sinnen-Welt, absolut thätig in mir selbst, und durch mich selbst; sonach, als eine über alles Sinnliche erhabene Macht. Diese Freiheit aber ist nicht unbestimmt; sie hat ihren Zweck: nur erhält sie denselben nicht von außen her, sondern sie setzt sich ihn durch sich selbst. Ich selbst und mein nothwendiger Zweck sind das Uebersinnliche." (351) D a s Ubersinnliche der Freiheit des Ich und seines notwendigen, aus dem eigenen Wesen frei gesetzten Zwecks ist nach Fichte unbezweifelbar gewiss und von absoluter Positivität und kategorialer Geltung. Es ist der O r t , in dem Denken und Wollen identisch und widerspruchslos vereint sind, der Standpunkt, welcher allein Festigkeit verleiht, weil er im Ich und seiner Freiheit begründet ist, das Wesen seiner selbst zu realisieren und sein bestimmungsgemäßes Sollen zu sein. D e r durch seine Freiheit notwendig gesetzte Wesenszweck verpflichtet das freie Ich, auf selbstbestimmte Weise zu werden, was es ist, um zu sein, was es sein soll. Dass es sein kann, was es sein soll, ergibt sich dabei nach Fichte aus dem Freiheitswesen des Ich selbst. Indem das freie Ich den kraft seines eigenen Wesens gesetzten Zweck, welcher die der Freiheit eigene F o r m notwendiger Allgemeinheit hat, denkend ergreift, um ihn eodem actu zu wollen und selbsttätig zu realisieren, setzt es dessen Realisierung als möglich voraus. So wahr das Ich wirklich ist, so wahr ist die Realisierung seines bestimmungsgemäßen Zwecks möglich. Die Annahme der Realisierbarkeit des notwendigen Zwecks seiner Freiheit ist mit der im Wesen des Ich begründeten Wahl seines sittlichen Zwecks in dem Grunde, der das freie Ich selbst ist, ursprünglich eins. Im ursprünglichen A k t der Freiheit, durch den das Ich sich selbst denkt und will, ist die Möglichkeit der Realisierung seines Wesenszwecks unmittelbar mitgesetzt. Andernfalls würde das Ich sich in einen Selbstwiderspruch verfangen und zersetzen. Mit sich eins ist das Ich nur, wenn mit dem Zweck, den zu setzen ihm wesensnotwendig ist, zugleich die M ö g lichkeit der Realisierung dieses Zweckes gesetzt ist. Folgt man der O r d n u n g des Gedankengangs Fichtes, so zeigt sich, dass in ihm nicht von der Möglichkeit auf die Wirklichkeit, sondern von der Wirklichkeit des in freier Selbsttätigkeit begriffenen Ich, in dem Denken
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und Wollen eins sind, auf die Möglichkeit der Realisierung des ihm durch sich selbst Aufgegebenen geschlossen wird. „Es heißt nicht: ich soll, denn ich kann, sondern: ich kann, denn ich soll." (352) Wer diese Gedankenfolge als irrig ansieht und ihre U m k e h r u n g fordert, verkennt nach Fichte den ursprünglichen G a n g der Vernunft und hebt praktisch den Primat des Sittengesetzes auf, u m ihn durch theoretische Spekulation zu ersetzen, was nichts anderes heißt, als ihn zu zersetzen. Steht, wie es der ursprüngliche G a n g der Vernunft verlangt, der Primat des Sittengesetzes fest, dessen G e s e t z dem freien Ich wesensnotwendig zugehört, weil es die Bestimmung seiner selbst ist, dann ergibt sich hieraus ein Verhältnis von Sittlichkeit und Sinnlichkeit, welches allein durch das G e s e t z der Moralität bestimmt ist. D e m freien Ich, das seinem Wesen nach keinen äußeren Zwang duldet, sondern sich allein dem moralischen G e s e t z verpflichtet weiß, das ihn mit innerer Notwendigkeit bindet, stellt sich die sinnliche Welt nicht länger als möglicher Hinderungsgrund oder tatsächliche Schranke selbstbestimmten sittlichen Handelns dar. Sie gilt ihm ausschließlich als die Sphäre der Realisation seiner nur ihrem eigenen Gesetz, dem Sittengesetz, verpflichteten Freiheit. „ U n s r e Welt", sagt Fichte, „ist das versinnlichte Matenale unserer Pflicht; dies ist das eigentlich Reelle in den Dingen, der wahre G r u n d s t o f f aller Erscheinung." (353) Ist die Welt transzendentaler Theorie zufolge die nach Begriffsgesetzen geformte Gestalt sinnlicher Erscheinung und damit an sich selbst bereits ein Ergebnis gemachter Erfahrung und eines tätigen Handelns, das freilich von Schranken umschlossen ist, die theoretisch nicht zu beheben sind, so transzendiert die vernünftige Praxis des - dem Wesensgesetz seiner Freiheit selbsttätig folgenden Ich - auch diese Schranken, indem sie eine moralische Weltordnung schafft, in welche die natürliche O r d n u n g der Sinnenwelt nicht nur aufgehoben werden soll, sondern nach Maßgabe des Gesetzes der Sittlichkeit auch aufgehoben werden kann. Die moralische Weltordnung des versittlichten Sinnlichen, wie sie durch konsequentes Tun des Rechten hervorgebracht wird, gilt Fichte als das wahrhaft Göttliche, dessen wirksame Wirklichkeit sich dem moralischen Glauben mit derselben Gewissheit offenbart, die dem seiner Bestimmung gewissen Ich eigen ist. „Jene lebendige und wirkende moralische O r d n u n g " , heißt es ausdrücklich, „ist selbst G o t t ; wir bedürfen keines andern G o t t e s , und können keinen andern fassen. Es liegt kein G r u n d in der Vernunft, aus jener moralischen Weltordnung herauszugehen, und vermittelst eines Schlusses vom Begründeten auf den G r u n d noch ein besonderes Wesen, als die Ursache desselben, anzunehmen." (354) Die moralische Weltordnung gründet in keiner ihr äußeren Ursache, sondern hat ihren G r u n d in sich selbst. Ihr eignet objektive Aseität, so wie dem freien Ich subjektive eignet, wobei Subjektivität und Objektivität als in der praktisch ergriffenen Idee der Freiheit koinzident zu denken sind. Freiheit
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ist absolute Selbstbestimmung, durch die alles bestimmt und begründet werden muss. U b e r sie und ihre Selbsttätigkeit hinaus kann Höheres nicht gedacht werden. Sie ist G o t t selbst. Andere Bestimmungen als diejenige der absoluten Selbstbestimmung der Freiheit mit G o t t zu assoziieren ist nach Fichtes Urteil unstatthaft. Unstatthaft ist es zumal, den Begriff der Substanz auf G o t t anzuwenden, weil diese Anwendung mit einer Verendlichung G o t t e s zwangsläufig verbunden ist. H a t der Begriff von G o t t als einer besonderen Substanz als unmöglich und widersprechend zu gelten, so ist es ebenso ausgeschlossen, G o t t als eine von der Freiheitswelt des Ich abgehobene transzendente Person zu denken. Ihn mit Persönlichkeit und Bewusstsein auszustatten, heißt nach Fichte, ihn zu beschränken und zu verendlichen. Denn der Gedanke bewusster Persönlichkeit lasse sich ohne Beschränkung und Endlichkeit realiter nicht denken. Wo der Mensch G o t t als Person denke, da verdopple er in Gedanken nur sich selbst und verendliche das Unendliche. „Ihr seyd endlich; und wie könnte das Endliche die Unendlichkeit umfassen und begreifen?" (355) D e r unendliche G o t t ist dem Menschen nicht anders präsent als im ursprünglichen Vollzug selbsttätiger Freiheit, deren absoluter Faktizität er mit der Gewissensgewissheit, die den Grund seiner Subjektivität ausmacht, gewahr wird und als deren objektive Gestalt ihm die moralische O r d n u n g der Welt gilt, die mit derselben Gewissheit zu glauben ist, welche dem G e wissen als dem aller Reflexion vorausgehenden Sichwissen praktischer Vernunft eigen ist. Fichte beschließt seinen A u f s a t z „ U b e r den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung" mit einem signifikanten Zitat aus Schillers „Worte des Glaubens", dem Musenalmanach für das Jahr 1798 entnommen, sowie mit nicht minder bedeutsamen Zeilen aus Goethes Faust, welche die Unbenennbarkeit G o t t e s zum Inhalt haben und mit dem Hinweis enden, Gefühl sei alles, N a m e Schall und Rauch.
23. Der Atheismusstreit
Kaum waren Fichtes und Forbergs Beiträge im O k t o b e r 1798 im Philosophis c h e n j o u r n a l erschienen, da entbrannte um sie eine heftige Fehde, in die sich bald kirchliche und staatliche Obrigkeiten einschalteten. Bereits am 29. O k tober erstattete das Dresdener Oberkonsistorium Anzeige gegen Forbergs Aufsatz und wandte sich mit dem Ersuchen um Intervention an den Kurfürsten von Sachsen. Am 8. November wurde von sächsischer Seite die Konfiszierung des gesamten Journalheftes ministeriell verfügt. Weiter aufgeheizt wurde die Stimmung durch das „Schreiben eines Vaters an seinen studierenden Sohn über den Fichteschen und Forbergischen Atheismus"; der anonyme Verfasser des Schreibens ist am ehesten im Umkreis Friedrich Nicolais zu suchen, der in seinem Pamphlet „Lehre und Meinungen Sempronius Gundibert's, eines deutschen Philosophen" (1798) heftig gegen Fichte polemisierte, um dessen Philosophie der Lächerlichkeit preiszugeben. Nachdem das kursächsische Requisitionsschreiben bereits an mehrere protestantische H ö f e mit der Bitte ausgegangen war, sich dem Verbot anzuschließen, traf es zu Weihnachten 1798 in Weimar ein. Daraufhin wurden Fichte und Niethammer aufgefordert, sich gegenüber der Klage gerichtlich zu verantworten. Eine offizielle Aufforderung, entsprechende Verantwortungsschreiben zu erstellen und einzureichen, erging am 10. Januar 1799 durch den Prorektor der Universität Jena, Paulus. Fichte hatte damals schon den Plan gefasst, sich mit einer Appellationsschrift direkt an die Ö f fentlichkeit zu wenden. Diese Schrift wurde umgehend erstellt und unter folgender Uberschrift vertrieben: „J. G. Fichtes, des philosophischen D o k tors und ordentlichen Professors zu Jena, Appellation an das Publikum über die durch ein kurfürstlich sächsisches Konfiskationsreskript ihm beigemessenen atheistischen Äußerungen." Der Titel war mit dem Zusatz versehen: „Eine Schrift, die man erst zu lesen bittet, ehe man sie konfisziert." Das Erscheinen der Appelation löste ab Mitte Februar 1799 eine breite, kontrovers und hitzig geführte Debatte und eine Flut von Stellungnahmen aus. 1 A m 18. März reichten Fichte und Niethammer sodann gemeinsam ihre
1 Sie sind dokumentiert in dem von W. Röhr herausgegebenen Sammelband: Appellation an das Publikum (...) D o k u m e n t e z u m Atheismusstreit u m Fichte, Forberg, Niethammer, Jena 1798/99, Leipzig 1991, 127-177. Die zweite Auflage von Fichtes Appellation findet sich a . a . O . , 84-126. Fichte geht mit seinen Gegnern hart ins Gericht und scheut keinen noch so scharfen Angriff. Zugleich sieht er sich veranlasst, seinen Gelegenheitsaufsatz, welchen er dem Beitrag von Forberg mitgeben zu müssen glaubte, einem breiten Publikum zu erläutern. Jeder, der u m
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einverlangten Verantwortungsschriften ein, die Anfang Juni im Druck erschienen. Im N o v e m b e r folgte Forbergs „Apologie seines angeblichen Atheismus", die zuvor in Teillieferungen beim zuständigen Konsistorium in Altenburg eingereicht worden war. Hatte Fichte bereits in seiner „Appellation an das Publikum" die Rolle des Angeklagten mit derjenigen des Anklägers vertauscht, so setzte er dieses Verfahren für seinen Teil auch in der offiziellen Verteidigungsschrift gegenüber der Universitätsleitung zu Jena bzw. dem Weimarer H o f fort. Er bestätigt nicht nur, dass er seinen Beitrag über den Grund unseres Glaubens an eine moralische Weltregierung bei klarem Geiste geschrieben und Forbergs Text im Verein mit Niethammer bewusst zum Druck befördert habe, sondern erklärt zugleich den Atheismusvorwurf für ausgemachten Blödsinn, um sich energisch gegen ihn zu verwahren. O f f e n spricht er aus, dass die Atheismusbeschuldigung nur vorgeschoben sei, um ihn indirekt politischer Umtriebe bezichtigen zu können. Seine Freiheitslehre sei der eigentliche Kern der Debatte und Zielpunkt der Kritik, weil man von freiem D e n ken und Handeln eine Verletzung der Bürgerpflicht zu Ruhe und Ordnung befürchte. Fichte wählte für seine Verteidigung die Strategie des gezielten
sich selbst weiß, weiß nach Fichte eben damit auch unmittelbar um seine Pflicht. Das Sittengebot ist so gewiss wie das eigene Dasein, dessen der Mensch im Gefühl präreflexiv inne ist. Selbstgewissheit und Gewissensgewissheit sind eins. Das zu sich selbst k o m m e n d e Ich nimmt Sittlichkeit o h n e weiteren Beweis als seine Bestimmung wahr. So gewiss das Ich von sich selbst weiß, so gewiss ist das Wissen um das, was es sein soll. Dieses Wissen verdankt sich keiner sinnlichen Vorstellung, sondern ist übersinnlicher N a t u r . Seiner Endlichkeit enthoben weiß sich das gewissensgewisse Ich im Unendlichen begründet. Moralität und Religion sind in ihrem absoluten G r u n d e eins. Aller Glaube an G o t t und Unsterblichkeit kann sich nach Fichte nur auf die pflichtmäßige Besinnung gründen, nicht umgekehrt. D e n n Pflicht allein ist das unmittelbare Gewisse und das Einzige, welches die unbezweifelbare Gewissheit des Ubersinnlichen in sich begreift. Die Grundlegung von Religion und Glaube hat entsprechend aus dem seiner selbst gewissen Ich zu erfolgen, dessen Wesen praktische Vernünftigkeit ist. Religion und Glaube hingegen auf sinnliche Erfahrung und theoretische Reflexion fundieren zu wollen, ist nach Fichte ein völliger Irrweg, der zwangsläufig zu einer Verendlichung des Unendlichen führt und die Unbedingtheit G o t t e s beschränkenden Bedingungen unterwirft. Daher leugnet er einen aus der Sinnenwelt abzuleitenden G o t t und bestreitet das theologische Recht, den Substanzbegriff auf die Gottheit in A n w e n d u n g zu bringen. Substanz bedeutet nämlich nach Fichte notwendig ein in Raum und Zeit sinnlich existierendes und damit endliches Wesen. Aus denselben G r ü n den könne der Personbegriff auf G o t t keine Anwendung finden. Hier sonach, sagt Fichte, „ist der wahre Sitz meines Streites mit ihnen. Was sie G o t t nennen, ist mir ein Götze. Mir ist G o t t ein von aller Sinnlichkeit und allem sinnlichen Zusätze gänzlich befreites Wesen, welchem ich daher nicht einmal den mir allein möglichen sinnlichen Begriff der Existenz zuschreiben kann." (109) Während die Theologie der Gegner der Sinnenwelt verhaftet bleibe und religiös zuletzt alles auf Eudämonismus, nämlich auf Erhalt und Steigerung von Sinnengenuss und äußerem Wohlbefinden abstelle, wisse er, Fichte, sich ganz und allein der übersinnlichen Welt verpflichtet und einer Sittlichkeit, die den Genuss in sich selbst trägt und die sich daran genügen lässt, ihre Pflicht zu tun und getan zu haben. M ö g e das Weltall der Sinne morgen schon untergehen: Das moralische Ich gründet fest in dem Grunde, der die Bestimmung seiner selbst ist.
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Angriffs. Dies war mutig und konsequent, aber unter Gesichtspunkten der Opportunität, um die er sich wenig bekümmerte, kontraproduktiv und im Ergebnis vorderhand tragisch, jedenfalls sofern es das persönliche Berufsschicksal des Philosophen betraf. Die Weimarer Regierung nutzte eine Ungeschicklichkeit Fichtes als mehr oder minder willkommene Gelegenheit, ihn unter Vermeidung des äußeren Anscheins verletzter Lehrfreiheit aus seiner Professur in Jena zu entlassen. Statt die Akte des Dramas, das zur Amtsenthebung Fichtes in Jena führte, im Einzelnen aufzuführen, sei der dramatische Verlauf in der kommentierenden Kurzfassung zur Kenntnis gebracht, die Goethe aus seiner Perspektive anfertigte: „Fichte", so steht in den Tag- und Jahresheften des Weimarer Geheimrates zu lesen, „hatte in seinem philosophischen Journal über Gott und die göttlichen Dinge auf eine Weise sich zu äußern gewagt, welche den hergebrachten Ausdrücken über solche Geheimnisse zu widersprechen schien; er war in Anspruch genommen, seine Verteidigung verbesserte die Sache nicht, weil er leidenschaftlich zu Werke ging, ohne Ahnung wie gut man diesseits für ihn gesinnt sei, wie wohl man seine Gedanken, seine Worte auszulegen wisse; welches man freilich ihm nicht gerade mit dürren Worten zu erkennen geben konnte, und ebensowenig die Art und Weise, wie man ihm auf das gelindeste herauszuhelfen gedachte. Das Hin- und Widerreden, das Vermuten und Behaupten, das Bestärken und Entschließen wogte in vielfachen unsichern Reden auf der Akademie durcheinander, man sprach von einem ministeriellen Vorhalt, von nichts Geringerem als einer Art Verweis, dessen Fichte sich zu gewärtigen hätte. Hierüber ganz außer Fassung, hielt er sich für berechtigt ein heftiges Schreiben beim Ministerium einzureichen, worin er jene Maßregel als gewiss voraussetzend, mit Ungestüm und Trotz erklärte, er werde dergleichen niemals dulden, er werde lieber ohne weiteres von der Akademie abziehen, und in solchem Falle nicht allein, indem mehrere bedeutende Lehrer mit ihm einstimmig den Ort gleichzeitig zu verlassen gedächten. Hiedurch war nun auf einmal aller gegen ihn gehegter guter Wille gehemmt, ja paralysiert: hier blieb kein Ausweg, keine Vermittlung übrig, und das Gelindeste war, ihm ohne weiteres seine Entlassung zu erteilen. N u n erst, nachdem die Sache sich nicht mehr ändern ließ, vernahm er die Wendung, die man ihr zu geben im Sinne gehabt, und er mußte seinen übereilten Schritt bereuen, wie wir ihn bedauerten. Zu einer Verabredung jedoch mit ihm die Akademie zu verlassen, wollte sich niemand bekennen, alles blieb für den Augenblick an seiner Stelle; doch hatte sich ein heimlicher Unmut aller Geister so bemächtigt, dass man in der Stille sich nach außen umtat, und zuletzt Hufeland der Jurist nach Ingolstadt, Paulus und Schelling aber nach Würzburg wanderten." 2
2
J . W . G o e t h e , Sämtliche Werke. B a n d 11: Italienische Reise. Tag- und J a h r e s h e f t e , Zürich
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Den Weg nach Würzburg sollte nach geraumer Zeit auch Niethammer einschlagen, obwohl er den Atheismusstreit im Unterschied zu Fichte beruflich einstweilen weitgehend unbeschadet überstand. An sachlicher und persönlicher Solidarität mit Fichte hat er es in der strittigen Angelegenheit zu keiner Zeit mangeln lassen. Doch kämpfte Niethammer nicht annähernd mit derselben Vehemenz und Energie wie dieser. Hatte er schon die sachliche Stellungnahme zu Forbergs Artikel Fichte überlassen, so hielt er sich auch des Weiteren eher in der zweiten Reihe, ohne sich allzu sehr nach vorne und in das Zentrum des Geschehens zu drängen. Das wird am deutlichsten daraus ersichtlich, dass sich Niethammers Verteidigungsschrift vom Frühjahr 1799 weitgehend auf den formalen Nachweis adäquaten Herausgeberverhaltens beschränkte, wohingegen die inhaltliche Auseinandersetzung fast ausschließlich Fichte vorbehalten blieb. Niethammers Apologie sucht lediglich zweierlei zu erweisen, dass nämlich erstens durch die Druckerlaubnis der inkriminierten Beiträge kein Zensurgesetz überschritten und dass zweitens von der Freiheit, die das Zensurgesetz einem philosophischen Journal erteilt, bei weitem nicht in vollem Umfang, sondern nur mit behutsamer Vorsicht Gebrauch gemacht wurde, die den Verdacht eines möglichen Missbrauchs von vorneherein als ungerechtfertigt erscheinen lasse. In letzterer Hinsicht verweist Niethammer auf die bereits erwähnten Maßnahmen, die von den Herausgebern im Vorfeld und im Zusammenhang der Veröffentlichung des Forberg-Aufsatzes ergriffen wurden, dessen Inhalt im Übrigen bei genauerem Zusehen als gänzlich unverfänglich zu erkennen sei, so verfänglich einige der in ihm gestellten Abschlussfragen auch erscheinen mögen. 3 Ob sich Forberg bei der zuge-
1977, 720 f Das Ergebnis des Verfahrens hielt nicht nur Fichtes Ehefrau für ungerecht und ärgerlich, die am 21. Oktober 1799 an ihren Mann nach Berlin schrieb: „(...) daß Niedhammer (sie!), und Forberg so ruhig, bey ihren Poosten, bleiben, diese Männer, die gar nicht mit Dir in Vergleichung kommen können, darüber hab ich mich schon etwas rechts geärgert, ungeachtet, daß ich's ihnen herzlich gönne. Ja wohl traust du den Menschen nur zu viel, Bester, Theuerster Fichte! und giebst Dich ihnen hin; und denn wenn Du fühlst, wie wenig sie's verdienen, so wirst Du ein Stolzer Löwe, und giebst ihnen den zu fühlen; das können sie denn nicht begreifen, miskennen Dich, und thun Dir im höchsten Grade Unrecht; und dieses Unrecht, welches Sie Dir thun, thut mir in der Seele weh." (J.G. Fichte, Briefwechsel 1 7 9 9 - 1 8 0 0 . Hg. v. R. Lauth u. H. Gliwitzky, Stuttgart/Bad Cannstatt 1793 [FGA III/4], l l l f f (Nr.496), hier: 112) Zu einer Verstimmung, die das Verhältnis beider belastet hätte, scheint es zwischen Fichte und Niethammer gleichwohl nicht gekommen zu sein, wie der Briefwechsel der folgenden Jahre zeigt. A m 10. August 1804 empfiehlt sich Fichte Niethammer mit folgenden Worten: „Ich habe an meinem Abgange von Jena schon längst die gründliche Verachtung jenes winzigen DespötleinTreibens gewonnen; und wünsche Ihnen von Herzen Glük, daß auch Sie der Vertauschung dieses Sumpfs von Gemeinheit mit einem freieren Horizonte entgegensehen." (J.G. Fichte, Briefwechsel 1 8 0 1 - 1 8 0 6 . Hg. v. R. Lauth u. H. Gliwitzky, Stuttgart/Bad Cannstatt 1982 [FGA III/5], 2 6 1 - 2 6 4 [Nr. 670], hier: 263 f). 3 A m 24. Juni 1799 lässt Reinhold Fichte brieflich wissen, dass nach dem Urteil aller ver-
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spitzten Formulierung dieser Fragen und ihrer lakonischen Beantwortung im Ton vergriffen habe, lässt Niethammer offen. Die Möglichkeit einer rhetorischen Verfehlung schließt er nicht aus, ohne ihre Tatsächlichkeit einzuräumen. Was hinwiederum den Vorwurf einer editorischen Überschreitung von Zensurgesetzen angeht, so weist ihn N i e t h a m m e r als völlig unbegründet zurück. Allerdings gerät er infolge der Argumente, deren er sich zum Beweis bedient, wenn nicht in Widerspruch, so doch in erheblicher Spannung zu der Programmatik, die er als Herausgeber des Philosophischen Journals beim ersten Erscheinen der Zeitschrift formulierte und der er in eigenen Beiträgen zum Verhältnis von wissenschaftlicher Vernunft und gemeinem Menschenverstand spezifischen Ausdruck verlieh. Wurde dereinst nicht nur die Bedeutung der Philosophie für alle anderen Wissenschaften, sondern zudem die Relevanz ihrer Problemstellungen für eine breitere Bildungsöffentlichkeit über den Kreis akademischer Gelehrsamkeit hinaus unterstrichen in der Absicht, den genuinen Menschenverstand zu wissenschaftlicher Vernunft zu erheben und diese für die Belange von jenem zu öffnen, so wird nun der Publizitätsanspruch philosophischer Organe möglichst niedrig gehängt. Gelte von wissenschaftlicher Literatur generell, dass sie sich im Unterschied zu Volksschrifttum nicht an das große Publikum als die Masse aller Lesenden, sondern nur an die Klasse der G e lehrten wende, so treffe dies für philosophische Schriften in besonderem Maße zu, insofern deren Stoff in Inhalt und F o r m für die Menge gänzlich ungenießbar sei. U m s o weniger könne von philosophischen Texten eine G e fahr für den Staat und die bürgerliche O r d n u n g ausgehen. Zensur sei daher in diesem Falle nicht nur nicht geboten, sondern völlig überflüssig, da philosophisches Schrifttum durch seine eigene N a t u r daran gehindert werde, ans Volk zu gelangen und im öffentlichen Bewusstsein Breitenwirkung zu erzielen. Philosophische Literatur gleiche in der Regel einem Buch mit sieben Siegeln, das durch seine Eigenart darauf beschränkt sei, nur im engen und geschlossenen Kreis von Eingeweihten zu wirken. Die Wirkung im kleinen Kreis, auf den philosophische Texte naturgemäß beschränkt sind, braucht nach Niethammer zu obrigkeitlichen Besorgnissen weder im Bereich des Staates noch der Kirche Anlass zu geben. D e n n die scientific Community und die Gesellschaft der Philosophen zumal sei von der Art, dass sie Eindeutigkeiten kaum je und, wenn überhaupt, dann nur ungern zuließen. D e r Ehrgeiz der Parteien und der Einzelindividuen lasse prinzipiell nichts gelten, was nicht durch Gründe umgestoßen werden kön-
ständigen und wohlwollenden M ä n n e r die Verteidigung der verfänglichen F r a g e n und des Tons in F o r b e r g s A u f s a t z von N i e t h a m m e r besser unterlassen geblieben wäre: „ Q u i nimium p r o b a t , nihil p r o b a t . " ( J . G . Fichte, Briefwechsel 1 7 9 6 - 1 7 9 9 . H g . v. R. L a u t h u. H . Gliwitzky, S t u t t g a r t / B a d C a n n s t a d t 1972, 3 8 7 - 3 8 9 [ N r . 4 5 6 ] , hier: 389.)
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ne, und im H i n und H e r der Argumente verliere jede T h e s e diejenige positionelle Schlagkraft, die nötig wäre, um ihr längerfristige Geltung und öffentliche Autorität von der Art zu verschaffen, die staatlichen und kirchlichen Autoritäten gefährlich werden könnte. Sollte aber wider Erwarten dennoch einmal der Fall eintreten, dass einer wissenschaftlich-philosophischen Schrift ungeteilte Aufmerksamkeit und Zustimmung im Kreise der Gelehrten sowie Resonanz im breiten Publikum zuteil werde, dann bestehen nach N i e t h a m m e r für den Staat immer noch genügend Möglichkeiten, die Wirkung in polizeilichen Schranken zu halten und eventuelle revolutionäre U m t r i e b e schon im Keime zu ersticken. Summa summarum: Von der Wissenschaft im Allgemeinen ist für den Staat und für die verfasste Kirche kaum etwas, von der Philosophie so viel wie nichts zu befürchten. Insbesondere die philosophische Wissenschaft sei in ihrer äußeren Wirkung auf einen sehr engen Zirkel beschränkt und im Übrigen von ihrer inneren Anlage her förmlich dazu prädestiniert, ihre O f fentlichkeitsrelevanz selbst und ohne Zutun anderer Instanzen zu zersetzen. Anders als Fichte, dessen ungestümes Freiheitspathos ihm bei aller Freundschaft offenbar nicht geheuer war, ist N i e t h a m m e r bemüht, den sog. Atheismusstreit auf niedriger Flamme zu halten und seinen öffentlichen Streitwert möglichst gering zu veranschlagen. Bei dieser Einschätzung war gewiss ein nicht geringes M a ß an Taktik im Spiel. D o c h wird man im Ernst nicht bestreiten können, dass N i e t h a m m e r mit der Argumentation, die er in seiner Apologie verfolgte, in tendenziellen Widerspruch geriet zu G r u n d sätzen, die er in seinem philosophischen Journal in programmatischer A b sicht vertreten hatte. Steht dieses fest, so gilt doch umgekehrt ebenso, dass das Dilemma, in welches er im Zuge des Atheismusstreites geriet, überhaupt erst aufgrund des für ihn charakteristischen Willens entstehen k o n n te, als Philosoph namentlich in Religionsangelegenheiten zugleich pädagogisch rücksichtsvoller Volkslehrer zu sein. Während die J e n a e r Schriften der Jahre 1792 bis 1798 zwar Phasenunterschiede zu erkennen geben, im Übrigen aber formal und inhaltlich verhältnismäßig einheitlich sind, hebt um die Jahrhundertwende eine neue Periode in Niethammers Entwicklung an. Sie nimmt vom Atheismusstreit ihren Ausgang und führt in theoretischer und praktischer Hinsicht Wandlungen herbei, die durch bloße Phasenunterscheidungen nicht mehr zu fassen sind. Zwar ist mit verbleibenden Kontinuitätszusammenhängen nach wie vor zu rechnen. D o c h überwiegt der durch Niethammers langfristige schriftstellerische Abstinenz verstärkte Eindruck einer wesentlichen Umorientierung. D i e Reihe der konzeptionellen Versuche, im Anschluss an Kant eine Religionstheorie zu entwerfen, die den Ansprüchen der praktischen Vernunft gerecht wird, ohne den religiösen Glauben preiszugeben, findet keine F o r t s e t zung. E b e n s o wenig schließt sich N i e t h a m m e r einem der im Werden begriffenen Systeme des Deutschen Idealismus an. O b w o h l mit allen dreien mehr
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oder minder befreundet, folgt er weder Fichte, noch Schelling oder Hegel auf ihren über Kant hinausweisenden Denkwegen. Wenn überhaupt, macht er von nachkantischen Theoriekonzeptionen nur einen eklektischen Gebrauch, wobei die Würzburger Andachtsreden, von denen gleich zu handeln sein wird, eine gewissen Vorliebe für Schleiermacher erkennen lassen. Niethammer war Kantianer. Schritte über Kant hinaus ist er nur zögernd gegangen. An der Entwicklung der Systeme des Deutschen Idealismus hat er aktiv nicht, als Rezipient nur sehr bedingt teilgenommen. Dies hängt gewiss damit zusammen, dass er seit seinem Weggang aus Jena und dem baldigen Abzug aus Würzburg für den Rest seines Lebens nicht mehr als Universitätslehrer, sondern in stärker praxisorientierten Aufgabenbereichen wirkte. Die wenigen Male, in denen er in seiner Münchener Zeit als wissenschaftlicher Schriftsteller tätig wurde, waren im Wesentlichen durch konkrete Praxisprobleme veranlasst. In seiner Eigenschaft als Schulreformator sah er sich genötigt, zu den Auseinandersetzungen um die Gestaltung des öffentlichen Erziehungswesens Stellung zu beziehen. Die Schrift „Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit" von 1808 ist aus einer solchen Notwendigkeit heraus entstanden. Sie enthält die theoretische Begründung dessen, was Niethammers „Allgemeines Normativ der Einrichtung der öffentlichen Unterrichtsanstalten in dem Königreiche (sc. Bayern)" aus demselben Jahr in die konkrete Schulpraxis umzusetzen gedachte. Auch die sprachtheoretische Abhandlung „Uber Pasigraphik und Ideographik", ebenfalls 1808 erschienen, gehört trotz ihres scheinbar abgelegenen Gegenstandes in diesen Zusammenhang, da ihr hintergründiges Thema, wie sich unschwer erkennen lässt, von der Frage nach dem Bildungswert der Sprache bzw. der Sprachen bestimmt ist. Auf ihn sind auch die - nicht lediglich lokalpatriotische Interessen verfolgenden - „Bemerkungen über das der schwäbischen Mundart vorzugsweise eigne Unterscheiden in der Aussprache der Doppellaute" angelegt, die in den Jahresberichten der Königlich Bayer'schen Akademie der Wissenschaften 1829-31 erschienen sind. Niethammer gehörte der philosophisch-historischen Klasse der Akademie seit 1808 als außerordentliches, seit 1822 als ordentliches Mitglied an. Zur Aufnahme vorgeschlagen hatte ihn sein Freund J. H. Jacobi, von 1807-1812 Akademiepräsident. Neuerdings sei auch Niethammer Mitglied der philosophisch-literarisch-philologischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, lässt Schelling August Wilhelm Schlegel in einem persönlichen Brief vom 26. August 1808 wissen, in dem er im Übrigen seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, auch diesen, Schlegel, bald als Kollegen in der Akademie begrüßen zu dürfen. Vorsorglich kündigt er ihm die Zusendung der Akademiestatuten an, denen er entnehmen könne, „daß von Seiten derselben keine weiteren F o r d e r u n g e n an Sie gemacht werden, als dass Sie Ihren Namen ruhig unter eine Menge andrer, deren 3/« nichts taugen, stehen
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lassen" 4 . Darüber, ob er auch Niethammer der großen Mehrheit der Taugenichtse der Akademie zugerechnet hat, kann nur gerätselt werden. Ein Kapitel für sich bilden die wenigen und sehr kurz gehaltenen Texte, die Niethammer erklärtermaßen als Mann seiner Kirche geschrieben hat. Sie verdienen in theologischer Hinsicht besondere Beachtung. Dies gilt weniger für seinen „Vorbericht zu der .Oeffentlichen Nachricht von der ersten Versammlung der Generalsynoden der protestantischen Kirche in Baiern diesseits des Rheins im Jahre 1823"' (Sulzbach 1824), so wichtig dieser Text in landeskirchengeschichtlicher Hinsicht ist. Theologisch schwerer wiegt die Vorrede zu dem aus Anlass der dritten Säkularfeier der Reformation von F. Roth 1816/17 edierten dreibändigen Werkes zur „Weisheit Luthers" sowie Niethammers Ausgabe von „Luthers Predigten über die Evangelien auf alle Sonn- und Fest-Tage für unsere Zeit bearbeitet" vom Jahr 1830, in dem sich die Ubergabe der C o n f e s s i o Augustana an Kaiser und Stände des Hl. Römischen Reiches Deutscher N a t i o n zum 300. Male jährte. In einem persönlichen Brief an den Gothaer Altphilologen J a c o b s vom 30. Januar 1830 findet sich die Bemerkung, er, Niethammer, sei inzwischen zu jenem Standpunkt zurückgekehrt, „von dem ich einst der Störrischen Schule zu entlaufen mich genötigt sah" 5 . Der zitierte Passus ist in dem im Vorwort erwähnten Werk von G . Lindner nachzulesen, das Niethammers geistigen Weg als „Entwicklung vom deutschen Idealismus zum konfessionellen Luthertum" beschrieben hat. Damit sind Assoziationen an Brüche nahegelegt. D o c h darf trotz Niethammers Briefbemerkung vom Januar 1530 angenommen werden, dass sich die Positionswechsel, die er im Laufe seines Lebens vollzog, in engen Grenzen hielten und der eigene Standpunkt, sobald er einmal eingenommen war, in seinen wesentlichen Bestimmungsmomenten verhältnismäßig kontinuierlich fest- und durchgehalten wurde. Theoretische Brüche im strengen Sinn lassen sich im literarischen O E u v r e Niethammers trotz unbestreitbarer M o difikationen und Akzentverlagerungen schwerlich identifizieren. Zwar werden, wie an den Würzburger Adventsreden sogleich zu belegen sein wird, durchaus neue T ö n e angeschlagen. Aber aufs Ganze gesehen bleibt Niethammer der einmal eingeschlagenen Richtung treu, auch wenn er sie nach der Jenaer Zeit nicht mehr in erster Linie als an praktischer Vernunft orientierter Religionstheoretiker, sondern als Praktiker vernünftiger Religion und Moral verfolgte. 1798 konstatierte der Weimarer Generalsuperinten-
4 „ M ö c h t e n Sie a b e r " fährt Schelling fort, „dieser K l a s s e irgend einmal eine Mittheilung z u k o m m e n lassen: s o erbiete ich mich u m so eher z u m Spediteur, als der T r o c k n i ß und D ü r r e derselben a b z u h e l f e n ein wahres Werk der M e n s c h e n l i e b e wäre." (J. K ö r n e r [ H g . ] , Krisenjahre der F r ü h r o m a n t i k . Briefe aus d e m Schlegelkreis. Erster Band, B e r n / M ü n c h e n 2 1 9 6 9 , 6 0 2 - 6 0 5 , hier: 603. Anschließend lästert Schelling über den amtierenden A k a d e m i e p r ä s i d e n t e n J a c o b i . ) 5 G . Lindner, Friedrich I m m a n u e l N i e t h a m m e r als C h r i s t und T h e o l o g e , a. a. O . , 277.
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dent Johann Gottfried Herder unter Bezug auf Niethammers Doktordisputation und alle seine bisherigen Aufsätze, dieser sei ein „ganz u. gar Kantischer Philosoph". 6 Daran änderte sich trotz erheblichen Wandels der äußeren Lebensumstände auch in späteren Jahren und Jahrzehnten im Grunde wenig.
' J . G . Herder, Briefe. Siebenter Band: Januar 1793 - D e z e m b e r 1798, Weimar 1982, 392 (Nr. 404).
24. Kantianismus und Ichphilosophie
D i e offizielle Anklage, die gegen die beiden Herausgeber des „Philosophischen Journals einer Gesellschaft Teutscher G e l e h r t e n " vorgebracht wurde, lautete dahingehend, durch das erste H e f t des Jahrgangs 1798 absichtlich zur Verbreitung von Grundsätzen beigetragen zu haben, die nicht nur mit keinem christlichen Religionssystem verträglich sind, sondern jedweder Religion, auch der religio naturalis, widerstreiten und offenkundig auf Atheismus hinauslaufen. Das bemerkenswerte G e s c h i c k , mit dem sich N i e t h a m mer gegen diese Anklage nach außen hin verteidigte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Vorwurf, die Gottlosigkeit befördert zu haben, ihn im Innersten traf. So taktisch klug seine Apologie auch angelegt war: sie ist zugleich ein D o k u m e n t tiefer Betroffenheit und ratloser Trübsal jenseits allen Kalküls. Dass ihm unterstellt wurde, nicht nur atheistische Auffassungen faktisch verbreitet, sondern dies auch mit Absicht getan zu haben, war N i e t h a m m e r unerträglich und Anlass zu berührender Klage. Sei es bereits von äußerster Härte, einen Menschen in aller Öffentlichkeit zu beschuldigen, Religion und Moralität untergraben und vernichten zu wollen, so sei es doppelt hart, diese Anschuldigung Männern gegenüber zu erheben, die bisher alle Kraft ihres Geistes und all ihre Gedankenvermögen daran setzten, den immer allgemeiner werdenden Verderben religiöser Kaltsinnigkeit entgegenzuarbeiten und der studierenden Jugend „die Religion ehrwürdig und den künftigen Lehrern ihr Geschäft wichtig und heilig zu machen". 1 T r o t z eines für ihn im Vergleich zu F i c h t e verhältnismäßig günstigen Ausgangs markiert der Atheismusstreit eine tiefe Zäsur im Gelehrtenleben Niethammers. N a c h erfolgter Berufung zum außerordentlichen Professor der theologischen Fakultät zu J e n a am 10. März 1798 schien er am einstweiligen Ziel seiner akademischen W ü n s c h e angelangt zu sein. D o c h bereits kurze Zeit später sah er sich öffentlich des Verrats an Religion und T h e o logie bezichtigt und einer behördlichen Atheismusanklage ausgesetzt. Zwar ließ man es amtlicherseits in seinem Falle bei einem Verweis bewenden, der noch dazu in sehr milder F o r m erteilt wurde. Von einer Entlassung aus dem universitären Dienst war nicht die Rede. Tatsächlich hat N i e t h a m m e r nach dem Atheismusstreit noch ein halbes J a h r z e h n t in J e n a gewirkt. D o c h widmete er sich in dieser Zeit ausschließlich seiner akademischen Lehrtätigkeit.
1 Der Herausgeber des philosophischen Journals gerichtliche a . a . O . , 162 ( = F G A 1/6, 107).
Verantwortungsschriften,
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Kantianismus und Ichphilosophie
Dass das Philosophische Journal nicht fortgeführt wurde, muss nicht weiter überraschen. Signifikanter ist, dass Niethammer in den verbleibenden fünf Jenaer Jahren seine gesamte literarische Produktion einstellte. Dies zeigt die tiefe Verunsicherung, die der Atheismusstreit bei ihm bewirkte. Nach dem Urteil D. Henrichs 2 war die seit dem Atheismussstreit offen zutage tretende Verunsicherung Niethammers nicht lediglich von außen bewirkt, sondern seit geraumer Zeit in seiner eigenen geistigen Verfassung angelegt. Trotz redlichen und rastlosen Bemühens in den Jahren seit 1792 sei er mit seinem Bestreben, auf der Basis Kant'scher Vorgaben eine Theorie der Religion zu entwerfen, welche seinen Vernunftansprüchen ebenso wie seinen frommen Bedürfnissen entsprach, zu keinem seinen eigenen Erwartungen gemäßen Ergebnis gelangt. Mit der Einsicht in die religionstheoretischen Aporien, die er trotz mehrerer konzeptioneller Anläufe nicht zu beheben vermochte, scheint in ihm nach Henrich auch das Bewusstsein gewachsen zu sein, sie aus eigener Kraft nicht bewältigen zu können. Faktum ist, dass Niethammer noch in der Jenaer Zeit die Versuche abgebrochen hat, ein eigenes System der Religionstheorie auszuarbeiten. Dieses Unternehmen überlässt er von nun an anderen, deren Religionstheorien bereits vom Grundsatz her in eine neue Richtung weisen und deren Impulse er fernerhin für die eigenen Gedankenentwicklungen lediglich eklektisch fruchtbar macht, ohne von sich aus weitere konstruktive Systementwürfe anzustreben. Einen Beleg hierfür geben die beiden Adventsreden, die Niethammer zu Beginn seines amtlichen Wirkens als Oberpfarrer der protestantischen Gemeinde zu Würzburg gehalten hat. Sie sind zugleich das erste literarische Lebenszeichen ihres Verfassers nach einer langen Phase der Schreibhemmung. Dass Niethammers lange schriftstellerische Abstinenz resignative Züge erkennen lässt, wird man nicht rundweg leugnen können. Auch spricht manches dafür, dass die Anzeichen von Resignation Folgen nicht nur des Atheismusstreits, sondern einer erkennbaren Theoriemüdigkeit waren. Doch würde es entschieden zu weit gehen, Niethammer positionelle Unbestimmtheit zu unterstellen. Von dem, was er wollte bzw. nicht wollte, hatte er ein durchaus klares Bewusstsein, und sein Empfinden einer Erschöpfung der theoretischen Mittel war gewiss nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie durch Einsicht in eigenes Unvermögen, sondern durch die Uberzeugung bedingt, dass der von Fichte und Schelling eingeschlagene Weg über Kant hinaus nicht gangbar ist bzw. hinter Kant zurückführt. Niethammer war Kantianer. Ein Grundsatzdenker vom Schlage Fichtes und Schellings, welche beide das Ich zum Prinzip der Philosophie erklärten, konnte er und wollte er nicht werden. Ein anderes Sachurteil scheint unbe-
2
Vgl. bes. D. Henrich, Grundlegung aus dem Ich II, 1049 ff.
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schadet der persönlichen Beziehung Niethammers zu beiden und seiner Zusammenarbeit mit ihnen im Rahmen des „Philosophischen Journals" nicht möglich. N o c h einmal sei, bevor mit den Würzburger Adventsandachten der endgültige Abschied von J e n a genommen wird, in die Anfangsjahre von N i e t hammers dortigem Aufenthalt zurückgeblendet, näherhin in das J a h r der Reinhold'schen Systemkrise und der Publikation der Schrift von Aenesidemus-Schulze „ U b e r die Fundamente der von dem H r n . Prof. Reinhold in J e n a gelieferten Elementar-Philosophie" 3 . Die Schrift des Helmstedter Philosophen und nachmaligen Lehrers Schopenhauers war 1792 anonym und ohne Angabe des D r u c k o r t s erschienen. N a c h Schulze besitzt der Satz des Bewusstseins, so wie er in der Reinhold'schen Elementarphilosophie als höchstes Prinzip alles Philosophierens aufgestellt wurde, keineswegs alle Vollkommenheiten, die Reinhold selbst von einem solchen Grundsatz verlangt. E r habe erstens als kein absolut erster Grundsatz zu gelten, da er dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch untergeordnet sei, wonach nichts, was gedacht werden solle, widersprechende Merkmale enthalten dürfe. Zweitens sei er kein durchgängig durch sich selbst bestimmter Satz, da er bereits Bestimmungen der in ihm verwendeten Begriffe voraussetzt, um als bestimmt gelten zu k ö n n e n . 4 M i t diesen und vergleichbaren Argumenten bestritt Schulze-Aenesidemus Reinholds Anspruch, der Satz vom Bewusstsein sei selbstevident und geeignet, als Deduktionsprinzip aller einsichtigen Sätze zu fungieren. Weder das eine noch das andere könne gelten, da der vermeintliche Grundsatz voraussetzungshaltig sei und auf Prämissen beruhe, die erst nachträglich begründet würden. D i e Kritik von Schulze-Aenesidemus verfehlte ihre Wirkung nicht, zumal sie schon im Jenaer U m f e l d Reinholds durch Männer wie D i e z , Erhard oder auch F o r b e r g vorbereitet war. Von den interessierten Zeitgenossen wurden die gegen Reinhold vorgebrachten Einwände vielfach selbst dann positiv aufgenommen, wenn man dem Skeptizismus von Aenesidemus die G e f o l g schaft versagte. D i e Überzeugung von der Entbehrlichkeit, ja von der U n möglichkeit eines einzigen und obersten Grundsatzes der Philosophie wurde insbesondere in Niethammers „Journal einer Gesellschaft Teutscher G e lehrten" wiederholt zum Ausdruck gebracht und von N i e t h a m m e r selbst im Wesentlichen geteilt. 5 Was Reinhold selbst angeht, so ist er im S o m m e r 1792 an seiner Elementarphilosophie irre geworden und in eine Systemkrise gera-
3 G . E . Schulze, Aenesidemus, oder über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik. Hg. v. M. Frank, Hamburg 1996.
Vgl. a . a . O . , 51 ff. Vgl. dazu die editorische Einleitung in den Aenesidemustext von M. Frank (Hg.), a . a . O . , X X f . A n m . 3 7 unter Verweis auf Arbeiten M. Stamms. 4 5
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ten, aus der er sich erst durch Fichtes Wissenschaftslehre befreit sah. Aenesidemus habe, so bekennt er, „mit befriedigender Klarheit (gezeigt), daß der Satz des Bewusstseyns, um in dem Sinne, in welchem derselbe von seinem Urheber entwickelt und gebraucht wird, verstanden und wahr befunden zu werden, Bedingungen und Bestimmungen voraussetze, welche, in dem Begriffe, den jener Satz ausdrücken soll, keineswegs schon enthalten sind, und welche daher wiederum auf andere und höhere Begriffe zurückweisen. Nach diesem Erweise verstand es sich von selbst, dass der Satz des Bewusstseyns kein durch sich selbst bestimmter Satz ist, und eben darum auch nicht der erste Grundsatz der Philosophie seyn kann." 6 Der Sache nach konnte dieser Bestandsaufnahme auch Fichte zustimmen, obgleich sie erst nach einem erneuten Systemwechsel formuliert wurde, der Reinhold vom Ichphilosophen zu Bardiii, dem Logiker des Realen führte. Fichtes Aenesidemusrezension, in der sich erkennbar der Standpunkt der Wissenschaftslehre ankündigt, ist ein Beleg dafür. Sie ist im Februar 1794 in der Jenaer „Allgemeinen Literatur-Zeitung" erschienen (vgl. F G A 1/2, 4 1 - 6 7 ) . Intensiv studiert hatte Fichte Schulzes Reinholdverriss im Herbst 1793 in Zürich. Er bekräftigte in ihm die Auffassung, dass die Philosophie vom Zustand einer Wissenschaft noch weit entfernt und ihre evidente wissenschaftliche Basis erst auf einem Fundament gewinnen könne, welches tiefer gelegt sei als dasjenige der Reinhold'schen Elementarphilosophie. Fichte entdeckte dieses Fundament im ichphilosophischen Prinzip der Tathandlung, in dem theoretische und praktische Philosophie übereinkommen. Den einen philosophischen Grundsatz des absolut selbsttätigen Ich und das aus ihm heraus zu entwickelnde System der Philosophie als Wissenschaft hat er sodann in Zürich im Rahmen von Vorlesungen im Hause Lavaters in Grundzügen skizziert und nach seiner Berufung nach Jena auch schriftlich zur Darstellung gebracht. Als unbestimmte Idee war ihm das Prinzip seiner im Ich grundgelegten Philosophie der Freiheit wohl bereits 1791 präsent. Evidente Bestimmtheit und klares Format nahm es hingegen erst im Winter 1793/94 an. „Von da an arbeitete Fichte mit aller Energie am Ausbau seines neuen Systems." ( F G A 1/2, 177) Einen Beleg dafür stellen neben der Aenesidemusrezension 7 die unveröffentlichten „Eigne Meditationen über Ele-
6 Die erste Aufgabe der Philosophie in ihren merkwürdigsten Auflösungen. Zweyte Abtheilung. Von 1781 bis 1800, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts. Hg. v. C . L . Reinhold. Zweites Heft, Hamburg 1801, 39; bei R. teilweise gesperrt. Zum T h e m a Reinhold und Fichte vgl. R. Lauth, Fichtes und Reinholds Verhältnis vom Anfange ihrer Bekanntschaft bis zu Reinholds Beitritt zum Standpunkt der Wissenschaftslehre Anfang 1797, in: ders. (Hg.), Philosophie aus einem Prinzip. Karl Leonhard Reinhold. Sieben Beiträge nebst einem Briefekatalog aus Anlass seines 150. Todestages, Bonn 1974, 1 2 9 - 1 5 9 . 7
Ihre Entwürfe finden sich in F G A I I / 2 , 2 8 7 - 3 1 4 .
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mentarPhilosophie" (vgl. F G A II/3, 21-177) dar, die in dem ebenfalls nicht publizierten Manuskript der „Practische(n) Philosophie" (vgl. F G A II/3, 181-266) fortgeführt wurden. Zu erwähnen sind ferner die für die Jenaer Studenten entworfene Programmschrift „Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre" von 1794 sowie das Werk zur „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" von 1794/95, welche beide zu Fichtes Lebzeiten mehrere Auflagen erfuhren. 8 Im ersten Text entwickelt Fichte den zunächst hypothetisch aufgestellten (§ 1) Begriff der Wissenschaftslehre (§ 2) als einer Wissenschaft der Wissenschaft, um ihn dann im Einzelnen zu erörtern (§ 3-7) und die als Wissenschaftslehre begriffene Philosophie in ihre Teile zu gliedern (§ 8). Als Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre fungiert, wie es in der gleichnamigen Schrift heißt, das Prinzip absoluter Selbsttätigkeit, also der Grundsatz, welcher die unter den empirischen Bedingungen nie anzutreffende, aber allem Bewusstsein zugrundeliegende Tathandlung ausdrückt und in der Formel umschrieben ist: „(I)ch bin schlechthin, weil ich bin; und bin schlechthin, was ich bin; beides für das Ich." (FGA 1/2, 260; bei F. teilweise gesperrt.) Das ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein setzende Ich ist der fundierende Inbegriff alles Wissens und erstes, unbedingtes Prinzip der Wissenschaftslehre (§ 1), dem die nach Gehalt und Form bedingten Grundsätze des Entgegensetzens (§ 2/3) zugeordnet sind, welche die Differenz von Ich und Nichtich erfassen. Stehen die Grundsätze der gesamten Wissenschaftslehre fest, ist zunächst die Grundlage des theoretischen Wissens (§ 4), sodann diejenige der Wissenschaft des Praktischen (§ 5 ff.) zu entwikkeln und zu klären, inwiefern sich Ich und Nicht-Ich wechselseitig bestimmen bzw. was es heißt, wenn gesagt wird, dass das Ich sich sowohl als durch das Nicht-Ich bestimmt als auch das Nicht-Ich bestimmend setzt. In dem Ende Juli 1795 als Handschrift für seine Zuhörer erschienenen „Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rüksicht auf das theoretische Vermögen" (FGA 1/3, 137-208) ist das System der Tatsachen im Einzelnen, wenngleich in fragmentarischer Weise, ausdifferenziert, das mit dem für den theoretischen Teil der Wissenschaftslehre grundlegenden Faktum gegeben ist, dass das Ich sich als durch das Nichtich bestimmt setzt. Dabei geht es vor allem um die Ableitung des Mannigfaltigen in seiner Besonderheit durch Deduktion der Empfindung und der Anschauung bis hin zur Deduktion von Zeit und Raum, mit welcher der Text endet. Der ein gutes Dutzend Jahre jüngere Schelling hat bald schon Anschluss an Fichtes Ichphilosophie gesucht und gefunden. Unter den heute bekannten ersten fünf Publikationen des frühreifen Denkers, die im ersten Band der Werkreihe der im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen
8
Sie sind gemäß der Erstauflage wiedergegeben in: F G A 1/2, 91-172 bzw. 173-451.
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Akademie der Wissenschaften herausgegebenen historisch-kritischen Ausgabe enthalten sind, ist neben der philosophischen Magisterdissertation „De malorum origine" von 1792 die im Spätsommer oder Frühherbst 1794 erschienene Abhandlung „Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt" (AA 1/1, 263-300) von besonderer Wichtigkeit. Sie steht in sachlicher Beziehung zur ersten Fassung von Fichtes Wissenschaftslehre, obwohl Schellings Studium derselben damals noch nicht wirklich gründlich war, wie aus einem Schreiben an Niethammer vom 22. Januar 1796 hervorgeht. 9 In einem anonymen Aufsatz im „Philosophischen Journal", der ihren ersten Teil paraphrasiert, konnte die Schellingschrift dennoch als eine Hilfe zum Verständnis der Fichte'schen Wissenschaftslehre anempfohlen werden. 1 0 Nach Schelling muss die Philosophie, wenn sie überhaupt eine Wissenschaft sein soll, durch einen Grundsatz von schlechthinniger Absolutheit fundiert sein, der die Bedingung sowohl all ihrer Inhalte als auch all ihrer Formen enthalten muss, um sie begründen zu können. Dieser Grundsatz lautet: ,Jch ist Ich." (AA 1/1, 280) Das Ich ist schlechthin und ursprünglich durch sich selbst gesetzt und in seinem Gesetztsein durch nichts außer ihm bestimmt. Mit dem ersten und obersten Grundsatz ist dem Inhalt und der Form nach ein zweiter gesetzt: „Nichtich ist nicht Ich" (AA 1/1, 281). Schelling erläutert ihn wie folgt: „Das Ich ist gesezt durch sich selbst. Durch dasselbe Ich aber ist ein Nichtich gesezt, mithin würde das Ich sich selbst aufheben, wenn es nicht gerade dadurch, daß es ein Nichtich sezt, sich selbst sezte. Da es aber selbst ursprünglich unbedingt gesezt ist, also nicht ursprünglich (in sich selbst) dadurch, daß etwas anderes gesezt wird, gesezt seyn kann, so kann diß nur ausser ihm, in einem Dritten geschehen, das gerade dadurch entsteht, daß das Ich, indem es ein Nichtich sezt, sich selbst sezt, in welchem also das Ich und Nichtich beide nur insofern gesezt sind, als sie wechselseitig einander ausschliessen." (AA 1/1, 282 f.) Aus diesen und den Folgeüberlegungen ergibt sich ein dritter Grundsatz, welcher, indem er demjenigen Rechnung trägt, was durch Ich und Nichtich gemeinschaftlich bedingt ist, die Theorie des Bewusstseins und der Vorstellung unmittelbar zu begründen vermag. Erst im Verein der zwei Grundsätze, welche die U r f o r m alles Wissens in sich enthalten, nämlich „die Form der Unbedingtheit, der Bedingtheit und der durch Unbedingtheit bestimmten Bedingtheit" (AA 1/1, 285), ist die Begründung der Philosophie als Wissen-
' Vgl. H . F u h r m a n s (Hg.), F.W.J. Schelling. Briefe u n d D o k u m e n t e . 3 Bde, Bonn 1962/73/75, hier: I, 60 (59-62). 10 Vgl. Apologie der Versuche, durch ElementarPhilosophie u n d Wissenschafts-Lehre die kritische Philosophie zur Wissenschaft kat' exochen zu erheben, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, Bd. 6 H e f t 3, Jena/Leipzig 1979, 239-298. 253-267, hier: 257.
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schaft gegeben, welche Reinholds elementarphilosophische Theorie des Bewusstseins und des Vorstellungsvermögens für sich genommen noch nicht zu leisten vermochte. Genauer expliziert und gegen Einwendungen verteidigt hat Schelling seine Argumentation in dem 1795 publizierten Werk „Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder Uber das Unbedingte im menschlichen Wissen" ( A A 1/2, 6 7 - 1 7 5 ) . Sie enthält die Deduktion eines letzten Realgrundes des Wissens überhaupt, der durch den Begriff des U n bedingten bestimmt und im absoluten Ich gefunden wird, dessen U r f o r m die Identität und dessen Differenzgestalten anschließend kategorial hergeleitet werden. Niethammer stand der zeitgenössischen Prinzipienphilosophie in allen ihren Varianten reserviert gegenüber. Dies trifft für Reinhold und Fichte zu, und das gilt auch in Bezug auf den jungen Schelling. Zwar förderte ihn Niethammer, soweit es in seiner Macht stand, und bot ihm Publikationsgelegenheiten im „Philosophischen Journal" an. D o c h mit „Ichismus", wie er es nannte, wollte er nicht in Verbindung gebracht werden. In dieser Hinsicht teilte er die Auffassung seines Freundes Erhard, der Schelling nachsagte, sein System auf Nichts gebaut zu haben. Denn erstens finde sich im Inneren des Menschen nichts, worauf die Prädikate des absoluten Ich passten, und zweitens gehe die intellektuale Anschauung ins Leere, da in ihr nichts Bestimmtes gesehen werde und alles im Unbestimmten z e r r i n n e . " Einig war man sich mit Schelling lediglich in der Ablehnung des Tübinger Supranaturalismus, von der u.a. die im Jahrgang 1795 des „Philosophischen J o u r nals" veröffentlichten „Briefe über Dogmatismus und Kriticismus" zeu-
Hierzu und zu Schellings „Antikritik" vgl. im Einzelnen A A 1/3, 1 8 9 - 1 9 5 . Wie die „Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur" (AA 1/4, 5 9 - 1 9 0 ) entstanden ist, die Schelling auf Niethammers Veranlassung hin nach den „Philosophischen Briefen" und der „Neuen Deduktion des Naturrechts" in den Bänden 5 bis 8 des „Philosophischen Journals" in den Jahren 1 7 9 7 - 9 8 anonym publizierte, ist aus dem editorischen Bericht der Akademieausgabe (AA 1/4, 3 - 5 5 , hier: 19 ff) in Erfahrung zu bringen. A m Prozess des Entstehens von Schellings naturphilosophischen Schriften in den Jahren 1797 bis 1800 (vgl. A A I, 5 ff) hat Niethammer persönliches Interesse gezeigt, ohne inhaltlichen Einfluss zu nehmen. Intensiver wird der sachliche Austausch über das „System des transcendentalen Idealismus" von 1800 (vgl. A A 1/9, 1 u. 2) gewesen sein, in das sich Goethe von Niethammer in der Zeit vom 5. September bis zum 3. O k t o b e r 1800 in täglichen Kolloquien einführen ließ. Wie man weiß, wohnte Schelling, nachdem er im Jahre 1798 nach Jena gekommen war, eine Zeit lang bei Niethammer, was reichlich Gelegenheit geboten haben dürfte, sich im Gedankenaustausch über das entstehende System des transzendentalen Idealismus zu besprechen, an dem Schelling damals gerade arbeitete (vgl. J . L . Döderlein, N e u e Hegel-Dokumente, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 1 [1948], 2 - 1 8 , hier: 7). Eine genaue Analyse der Frühschriften Schellings bis zum Jahr 1800 bietet M. Fukaya, Anschauung des Absoluten in Schellings früher Philosophie ( 1 7 9 4 - 1 8 0 0 ) , Würzburg 2006. Vgl. ferner: H . Kuhlmann, Schellings früher Idealismus. Ein kritischer Versuch, Stuttgart/Weimar 1993. 11
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25. Würzburger Andachtsreden
Nachdem man ihn entgegen anders lautender Versprechen unter Verweis auf sein beschädigtes Ansehen nicht zum Ordinarius der Theologie hatte aufrücken lassen, verließ Niethammer Jena nach knapp eineinhalb Jahrzehnten nicht ohne Bitternis, um einem Ruf an die Universität Würzburg zu folgen, wo er ab 1804 als „öffentlicher ordentlicher Lehrer für das Fach der Sittenlehre und Religionsphilosophie" tätig war. 1 Gleichzeitig wurde er zum kurpfalzbayerischen Konsistorialrat und Oberpfarrer der kleinen Würzburger evangelischen Gemeinde ernannt. Mit Wirkung vom 3. April 1805 übernahm er zudem das Amt eines protestantischen Oberschulkommissars für Franken, was für Niethammers weiteren beruflichen Werdegang insofern bedeutsam wurde, als er in besagtem Amt als bayerischer Staatsbeamter verbleiben konnte, nachdem Würzburg infolge des Pressburger Friedens von Bayern als Großherzogtum an die Sekundogenitur des Hauses Habsburg gefallen war und für protestantische Theologen an Ort und Stelle keine akademische Verwendung mehr bestand. Ab März 1806 war Niethammer für kurze Zeit in seiner schulkommissarischen Funktion in Bamberg tätig, bis er Ende Februar des darauffolgenden Jahres von der bayerischen Regierung zum Zentralschulrat protestantischer Konfession ernannt und nach München versetzt wurde, wo er die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte. Für die Würzburger Zeit liegen lediglich zwei publizierte literarische Werke Niethammers vor, die „Andachtsrede zum Antritt seines Amtes als Oberpfarrer der Protestantischen Gemeinde zu Würzburg gehalten am ersten Adventsfeste 1804" sowie die „Ankündigung der Feyer des neubeginnenden Kirchenjahres" 2 , die sich auf dasselbe Ereignis bezog, in dem die Andachtsrede vorgetragen wurde. Die Ankündigung der Adventsfeier hebt an mit einer Laudatio auf die bayerische Staatsregierung im Stile der Zeit. Gedankt wird „Seiner Churfürstlichen Durchlaucht" in Sonderheit für die
1 Niethammer erhielt den Würzburger Ruf, nachdem der Heidelberger Theologe Karl Daub abgelehnt hatte. In der protestantischen Abteilung der theologischen Sektion wirkten neben ihm Paulus, der D o g m e n - und Kirchengeschichtler Christoph Martini und der ehemalige Militärprediger und spätere Oberkonsistorialrat Karl Fuchs. Schleiermacher versuchte man vergeblich für Würzburg zu gewinnen. (Vgl. im Einzelnen G. Lindner, a . a . O . , 1 5 7 - 1 6 2 ; zum A b schied von Würzburg und über die Zeit in Bamberg vgl. a. a. O . , 180 ff) 2 F . I . Niethammer, Ankündigung der Feyer des neubeginnenden Kirchenjahres am lsten Adventsfeste 1804, Würzburg 1804. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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Errichtung eines Konsistoriums, dem der Herrscher „die Bewahrung nicht nur der unsrer Kirche ertheilten Rechte übertragen hat, sondern auch die Beförderung eines zum Bessern immer fortschreitenden kirchlichen und religiösen Zustands aller Seiner Fränkischen Unterthanen, die mit uns auf gleiche Weise den N a m e n Jesu anrufen" (5). U m dem D a n k gegenüber dem „erleuchteten F ü r s t e n " (4) gebührenden Ausdruck zu verleihen, sieht Niethammer sich veranlasst, den Geist und Sinn der regierungsamtlichen Kirchenerlässe auf den Begriff zu bringen: Ihr Ziel sei weder die Befestigung des traditionellen Gegensatzes der christlichen Religionsparteien noch deren Auflösung zugunsten einer gemeinsamen äußeren F o r m ; bezweckt sei vielmehr, „für jede das Streben nach geistigem Leben und Licht in ihren eigenthümlichen F o r m e n frey zu machen, und so alle durch eine innere Vereinigung zu der Einheit und Verbrüderung zurückzuführen, die zwischen den Bekennern Eines Stifters ihrer Kirche, Eines Glaubens, Eines Geistes, Eines G o t t e s - wie sie innerlich unauflöslich ist, - auch äußerlich nie hätte unterbrochen werden sollen." (7) U m den konfessionspolitischen Absichten seiner Regierung dienstbar zu sein, entwickelt Niethammer G r u n d z ü g e einer ökumenischen Theologie versöhnter Verschiedenheit, die sowohl den Vorzügen der protestantischen als auch denjenigen der katholischen Religionspartei Rechnung trägt und dadurch den Willen zu wechselseitiger Bereicherung und Ergänzung fördert. D a s s er nur zwei christliche Religionsparteien ins Auge fasst, begründet er mit dem Hinweis, dass „eine dritte, die sonst genannt werden muß, sich in unsrer Mitte - ein auszeichnendes Beispiel ächt christlichen Brudersinnes - zu einer erfreulichen H a r m o n i e mit der ihr am nächsten verwandten Hauptpartey aufgelöst hat" (8). Bezug genommen ist damit auf die sog. Bayerische Union. Was das Verhältnis der verbleibenden Religionsparteien zueinander angeht, so hat nach Niethammer jede von ihnen ihr eigenes Profil und ihren eigenen Grundcharakter, der nicht bloß zufällig verursacht, sondern bei aller Gemeinsamkeit in den Fundamenten durch eine wesentlich verschiedene religiöse Ansicht begründet ist. Der Unterschied beider könne daher nicht allein durch Verweis auf kontingente Geschichtstatsachen erklärt werden, so wichtig und prägend diese im Einzelnen auch sein mögen und tatsächlich sind: Er müsse in seinem charakteristischen Wesen erfasst und auf eine trotz grundsätzlicher Einheit bestehende Prinzipiendifferenz zurückgeführt werden. Der konfessionstypologische Schlüsselsatz der Verhältnisbestimmung von Katholizismus und Protestantismus als charakteristisch geprägter christlicher Religionsparteien lautet: „Beyde beten G o t t an im Geiste; im Gefühl die eine, im Gedanken die andere." (9) O h n e Gefühl, wie es kennzeichnend und bestimmend ist nicht nur für die Anfänge des Christentums, sondern für die ursprüngliche menschliche Religion überhaupt, kann F r ö m migkeit nach Niethammer kein Dasein gewinnen. So wie ein Mensch natur-
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gemäß als Kind auf die Welt kommt, so hebt Religion ihrem Wesen nach im Gefühl an. „Aber der Mensch, weder im Einzelnen noch im Ganzen, soll nicht in dem Zustand der Kindheit beharren: wie bey dem einzelnen Menschen, so bey ganzen Nationen, reift unaufhaltsam die Periode des Mannesalters heran; mit ihr kommt auch eine andere Gestalt der Religion." (10 f.) Ihre Gegenstände werden von nun an denkend ergriffen und in ihrer Wahrheit zu gedanklicher Geltung gebracht. Beim bloßen Gefühl allein kann es nicht länger sein Bewenden haben, es wird entweder als infantile Anfangsoder als eine abergläubische Schwundstufe der Religion beurteilt. Insbesondere über die im Laufe der Zeiten erfolgte gedankenlose zeremonielle Erstarrung anfänglichen Fühlens, das in einem früheren Menschenalter seine Berechtigung hatte, „schwingt der zum freyen Denken herangereifte Menschengeist das Racheschwerdt" (12). Niethammer räumt der mündigen Kritik an jeder menschlichen Geistesformation, die auf ein Anfangsstadium religiöser Entwicklung fixiert bleibt, nicht nur ein unanfechtbares gedankliches Recht ein; er erklärt diese Kritik sogar zur vernünftigen Pflicht, warnt aber zugleich davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Während in der Religionsgeschichte des Christentums durch „die welthistorische Begebenheit der Reformation" (13) das religiöse Gefühl zwar in die Sphäre der Gedanken erhoben worden, in dieser aber zugleich bewahrt und erhalten geblieben sei, habe der Aufklärungsprotestantismus das lebendige Fühlen vielfach verschmäht und tendenziell aus der christlichen Religion verdrängt, um an seine Stelle „ein frostiges Begreifenwollen" (15) treten zu lassen, was in der Gottesdienstgestaltung besonders deutlich und schmerzlich zutage trete. „Wer von uns hat nicht schon klagen gehört, und wohl auch selbst geklagt, über den trocknen herzlosen Inhalt unserer Andachts-Betrachtungen?" (16) Gefühlloses Verstandesdenken, das sich in prosaischer Begriffsspalterei ergeht, ist nach Niethammer zu einer Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit noch weniger fähig als reines Fühlen. Ein vernünftiger Gottesdienst und eine entsprechende gottesdienstliche Gestaltung könne von bloßer Verständigkeit nicht erwartet werden. Diese bringe lediglich Entartungsformen zustande. Anstatt zum Glauben leite sie zum Klügeln und Zweifeln an, „anstatt zur lebendigen Anschauung des Ewigen nur zum geistlosen Auffassen des endlosen Endlichen" (17). Weil der gefühllose Verstand nichts kennt und nichts kennen will als das Endliche, über dessen Schranken hinaus zum Unendlichen zu erheben er weder bereit noch in der Lage ist, verfehlt er nach Niethammer nicht nur die rechte innere Form des Gottesdienstes, sondern auch die angemessene Gestaltung des äußeren Rahmens, in dem der Gottesdienst stattfinden soll. In jeder Hinsicht verständlich und berechtigt sei zwar die protestantische Abscheu vor überladenem Pomp: „Es ist wahr, der hohe, allein der wahren Andacht würdige, Styl fordert in allen Formen hohe Einfachheit: und der reine zur Betrachtung Gottes sich erhebende Geist soll nicht trunken seyn
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und betäubt von dem auf ihn einströmenden Sinnen-Reiz." (18) Aber die vernunftgebotene Einfachheit in der gottesdienstlichen Innen- und Außengestaltung dürfe nicht gleichgesetzt werden mit bornierter Gleichgültigkeit gegenüber jedweder Form. Wo mit dem zurecht kritisierten artifiziellen Schein die Kunst selbst der Verachtung preisgegeben werde, verliere das kirchliche Leben eines der „wirksamsten Mittel . . . , die Gemüther zum Denken der Gottheit zu stimmen" (19). Stattdessen würden Eintönigkeit und Einförmigkeit herrschen. U m der Verödung des Gottesdienstes in seiner inneren Form und äußeren Gestalt zu wehren, ist es nach Niethammer dringend nötig, die Verstandesreligion, die sich in gefühlloser Verständigkeit gefällt, zur Vernunft zu bringen und mit dem religiösen Fühlen zu versöhnen: Zwar kann es vernünftige Religion nicht beim bloßen Gefühl belassen, das ohne Verstandesreflexion auf eine vermittlungslose Unmittelbarkeit fixiert bleibt. Religion bedarf verständiger Vermittlung. Doch darf das ursprüngliche religiöse Fühlen durch die nötige Verstandesreflexion nicht abstrakt negiert und zersetzt werden, wenn die religiöse Erhebung ihren Fortgang nehmen und zu vernünftiger Religiosität entwickelt werden soll. Gefühlloser Verstand führt zwangsläufig zum Ende der Religion, weil er endlos um Endliches kreist, ohne es zu transzendieren. Erst wenn er zur Einsicht in seine Beschränktheit und zur Wahrnehmung der unendlichen Bestimmung des Endlichen gelangt, wie sie im Gefühl ursprünglich, wenngleich in gedanklich unentwickelter Weise gegeben ist, kommt er zur Vernunft, und vernünftige Religion, in der Gefühl und Verstand gleichermaßen aufgehoben sind, nimmt Gestalt an. Konfessionstheologisch zieht Niethammer daraus die Konsequenz, dass Katholizismus und Protestantismus bei aller Unterschiedenheit und trotz des Entwicklungsgefälles, das zwischen ihnen waltet, keine intransigenten religiösen Gegensätze darstellen, sondern aneinander gewiesen sind. Der Katholizismus bedürfe des Protestantismus, um aus dem religiösen Kindheitsstadium herauszutreten, in dem unter Bedingungen des Erwachsenseins zu verharren Unmündigkeit bedeute. Der Protestantismus hinwiederum habe den Katholizismus nötig, um das religiöse Gefühl ursprünglicher Gotteskindschaft nicht zu verlieren, ohne welches er zu einer kalten Verstandesreligion erstarren müsste, die es nicht wirklich verdiene, Religion zu heißen. N u r wenn er vom Gefühl über den Verstand zur Vernunft und zu jener vernünftigen Religion fortschreite, in welcher der Gegensatz von ursprünglichem Fühlen und kritischer Reflexion zum Moment herabgesetzt sei, vermöge der Protestantismus die ursprüngliche Einsicht der Reformation zu wahren und ihr Vermächtnis zu realisieren. Niethammers Einschätzung des Ganges der Kirchengeschichte sowie der aktuellen kirchlichen Verhältnisse seiner Zeit und am O r t seines Wirkens ergibt sich aus diesem Grundsatz. Darauf sowie auf die Resonanz und die Beurteilung, welche seine Konfessionstypologie und seine O k u m e n e k o n -
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zeption im damaligen Würzburg gefunden haben, ist hier nicht einzugehen. Vermerkt sei lediglich, dass Niethammer in beiden Konfessionen Bestrebungen am Werke sah, „das der entgegengesetzten Partey eigenthümliche Bessere auch sich anzueigenen" (25). Er deutet diese Entwicklung als ein erfreuliches „Zeichen eines heraufstrebenden vollkommneren Zustandes in dem Reiche des Geistes und der Religion" (26) und als einen Hinweis darauf, „daß auch die im Äußern noch immer getrennt erscheinenden Hauptparteyen der Vollendung ihrer innern Vereinigung vielleicht näher stehen, als die Christen unter ihnen selbst glauben" (ebd.). Niethammer beschließt die „Ankündigung der Feyer des neubeginnenden Kirchenjahres am lsten Adventsfeste 1804" in der zuversichtlichen Erwartung, dass die konfessionelle Trennung enden und das Zeitalter geschwisterlicher Einheit im Geiste zwischen Katholiken und Protestanten in dem M o m e n t e anbrechen werde, da Fühlen und Denken religiös sich vereinen. In seiner Andachtsrede, die er am ersten Advent aus Anlass seines Dienstantrittes als Oberpfarrer der Protestantischen Gemeinde zu Würzburg gehalten hat 3 , greift Niethammer das T h e m a religiösen Fühlens und Denkens wieder auf, um ihm eine F a s s u n g zu geben, die den Bedürfnissen genuiner Religiosität und gedanklicher Reflexion gleichermaßen gerecht wird. Die eigentümliche Wendung, die sein Religionsverständnis im A n schluss an die Grundthese nimmt, die anlässlich der Ankündigung der anstehenden Adventsfeier vorgetragen wurde, bringt er gleich eingangs mit den „Schickungen der Vorsehung" (3) in Verbindung, unter welchen er „im K a m p f e mit mancherlei widrigem Geschick geübt, durch Gelingen mancher Anstrengungen mit Muth und Eifer beseelt" (3 f) - zu seinem jetzigen Berufe vorbereitet sei. Auch wenn er es bei dieser kurzen Bemerkung belässt und im Übrigen jede persönliche Rücksicht von sich weist, weil es gelte, sich von individueller Besonderheit zum rein allgemeinen religiösen Wesen zu erheben, ist Niethammers Hinweis auf ein ihn im Ureigensten betreffendes Walten der Gottheit doch bemerkenswert, insofern er den A b schied von Jena und den N e u a n f a n g in Würzburg als providentiell, ja fast im Sinne einer gottgefügten Kehre deutet. Tatsächlich verläuft der argumentative Weg, der nunmehr eingeschlagen wird, um zum rechten Religionsverständnis zu gelangen, anders als in den Schriften vor und noch während des Atheismusstreits. D a s s dieser Unterschied der Auffassungsweise nicht lediglich der F o r m der Andachtsrede geschuldet, sondern sachlicher Art ist, lässt sich aus dem Fortgang der Rede leicht ersehen. Zwar bleibt Niethammer seinem üblichen, schon in seiner
3 F.I. Niethammer, Andachtsrede zum Antritt seines Amtes als Oberpfarrer der Protestantischen Gemeinde zu Würzburg gehalten am ersten Adventsfeste 1804, Würzburg/Bamberg 1805. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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Erstlingsschrift geübten Verfahren darin treu, dass er mit kritischer Abgrenzung beginnt, um erst dann zu einer konstruktiven Entwicklung seiner G e danken fortzuschreiten. D o c h ist es im Unterschied zu vormaligen Zeiten diesmal nicht die supranaturalistische Position, von der er meint, sich abgrenzen zu müssen, sondern eine Denkungsart, die, ohne dass N a m e n genannt würden, unschwer mit F i c h t e und der Entwicklung assoziiert werden kann, die dessen Philosophie in der Wissenschaftslehre genommen hat. D i e verbreitete Auffassung, dass der moderne Mensch der gottesdienstlichen Andacht und der Versammlung zum Zwecke gemeinsamer religiöser Ü b u n g im Grunde nicht mehr bedürfe, ist nach N i e t h a m m e r Folge einer falschen Aufklärung, deren glänzendste Scheingründe nicht etwa aus U n b i l dung, sondern aus den tiefsten und allgemein als überzeugend empfundenen Prinzipien zeitgenössischer Bildung stammen. D e r diese Prinzipien fundierende und zur Einheit zusammenschließende Grundsatz, dessen blendend-verblendender Reiz nachgerade darin liege, den Geist der Zeit genau auf den Begriff gebracht zu haben, besage, „daß der Mensch, zum H a n deln nur geboren, der Kraft in seinem Innern sich bewußt, die einzige B e stimmung habe, die ganze N a t u r der Herrschaft der Vernunft zu unterwerfen, und daß er, auf keine andre Macht vertrauend oder wartend, alles G u t e , das sein Geist ihm als Bedürfniß zeige, durch eigne Kraft ins Daseyn rufen solle" (9). Diese Lehre habe ihre die Religion vergleichgültigende Wirkung auf den Zeitgeist deshalb so mächtig ausgeübt, weil sie aus dessen innerstem Grunde hervorgehe und seinem Wesen gemäß sei. „Niemand will mehr vertrauen, glauben, hoffen; nur Thätigseyn, Streben, Ringen. . . . D e r Mensch mit seinem Willen und mit seiner Kraft soll Alles schaffen. N a c h Innen und nach Außen ununterbrochen wirken: in sich, Herrschaft über seine Neigungen Begierden Leidenschaften erringen, einen reinen heiligen Sinn bilden, in reger Liebe alles G u t e n und Schönen zu h ö c h s t e m Ideal emporstreben; außer sich, alles Nützliche Treffliche G r o ß e und Edle mit fester Bekämpfung aller Hindernisse darstellen, kein Unglück und keine U n t u g e n d in seinem Kreise dulden, die ganze Welt um sich her nach den hohen Idealen eines seeligen Zustandes, wie er sich ihre vollendete moralische O r d n u n g denkt und wünscht, mit rastloser Thätigkeit und unerschütterlichem Muth ausbilden, und so den H i m m e l erschaffen auf der Erde - - dies ist die hohe F o d e rung, nach jener Lehre als das höchste Ziel des Menschen aufgestellt." ( 9 f ) Es ist unschwer zu erkennen, dass die beschriebene aktionistische D e n kungsart „nach Fichteschen Zügen modelliert" 4 ist. Zwar blieb N i e t h a m m e r dem Philosophen der Tat auch nach dem Ende, die ihre Zusammenarbeit infolge der Entlassung Fichtes aus dem Universitätsdienst in J e n a gefunden hatte, freundschaftlich verbunden. D o c h was dieser im Jahre 1800 unter dem T i t e l eines einst sehr beliebten Textes des N e o l o g e n J o a c h i m Spalding 4
D . Henrich, Grundlegung aus dem Ich II, 1057.
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als abschließendes Wort zum Atheismusstreit zu Papier gebracht hatte, stimmte mit seiner eigenen Auffassung bei weitem nicht überein. Niethammers Gedanken „ U b e r die Bestimmung des Menschen", wie er sie in seiner Würzburger Andachtsrede vortrug, waren nicht nur anderer Art, sondern direkt, wenn auch unausdrücklich, gegen Fichte gerichtet, den er nun unter der H a n d selbst der Verbreitung von Grundsätzen beschuldigte, die zwangsläufig zu einem Ende der Religion führen. „ D a , wo der Mensch mit seiner Kraft Alles in Allem seyn soll; wo er, sich selbst allein vertrauend und genügend, nur sich selbst sieht und sein Werk: da ist nicht bloß kein Gottesdienst, da ist gar keine Religion." (11) Leistete Niethammer dem „Versuch einer Critik aller O f f e n b a r u n g " noch begeisterte Gefolgschaft, so zeichnet sich seine Abkehr von Fichte bereits in der Zeit ab, als dieser seine ersten Entwürfe der Wissenschaftslehre konzipierte. Die erste Darstellung wurde 1794/95 publiziert, eine neue 1796/97 für das Kolleg verfasst. D e n hiermit eingeschlagenen Weg über Kant hinaus konnte und wollte Niethammer nicht mitgehen. Man wird annehmen dürfen, dass er auch Fichtes Ausführungen „ U b e r den G r u n d unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung" bereits mit mentaler Reserve begegnet war, obwohl er die Veröffentlichung dieses Textes sowie diejenige von Forbergs Beitrag nicht nur nicht verhinderte, sondern mehr oder minder aktiv bewirkte. Verlauf und Ausgang des Atheismusstreits boten für Niethammer weniger den inneren Grund, der bereits gegeben war, als den äußeren Anlass einer sachlichen Abwendung von Fichte. Darf dies außer Frage stehen, so bleibt doch unbeschadet dessen und nichtsdestoweniger fraglich, ob Niethammer den Wissenschaftslehrer angemessen verstanden hat, woran zu zweifeln die in der Andachtsrede entwickelte Kritik zumindest insofern nahe legt, als das Ich der Fichte'schen Wissenschaftslehre, anders als N i e t h a m m e r dies unterstellt, mit einem menschlichen Realich keineswegs gleichzusetzen ist. Was Fichte Ich nennt, ist keine durch Welt- oder empirieorientierte Selbsterfahrung fassbare Größe, sondern die aus dem Ichgrund schlechthin frei entspringende Selbsttätigkeit, die allen tatsächlichen Selbst- und Weltbezügen bereits vorausgesetzt und nicht erst auf reflexive, sondern auf unmittelbare und absolute Weise gewiss ist. Innewerden kann der Mensch des Ichs, das seine grundlegende Bestimmung ausmacht, nicht in F o r m empirischen oder reflexiven Bewusstseins, sondern nur in jenem reinen Sichwissen, wie es in der unmittelbaren Gewissheit des Seins des Gesollten bzw. gesollten Seins, oder anders gesagt: in der unwidersprechlichen Evidenz der mit absoluter Notwendigkeit sich offenbarenden Freiheit zu sittlicher Tat gegeben ist. Von diesem mit der moralischen Urgewissheit identischen Ich aus sind die Erscheinungen des Bewusstseins zu beurteilen, wie sie in Gestalt sinnlichen Weltbewusstseins oder auch in der Gestalt leibhaften Selbstbewusstseins, also realen Ichbewusstseins, gegeben sind. Dabei kann das Urteil nach Fichte nicht anders lauten, als dass beide zwar zu unterschei-
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denden, nicht aber zu trennenden Bewusstseinsgestalten, welche mit der Vorstellung von Dingen an sich zu beschweren kein Grund und kein Recht besteht, allein dazu da sind, durch sittliche Tat geformt zu werden. In diesem und nur in diesem Sinne nennt Fichte das Ich den Bestimmungsgrund von Selbst und Welt. Aus sich selbst nichts als reine Gewissheit sittlich notwendiger Freiheit tritt das absolute Ich in Erscheinung nur in der sittlichen Aufgabe, deren Wahrnehmung es dem Menschen nicht nur nicht erlaubt, sondern verbietet, sein empirisches Ich, dessen er sich zusammen mit der sinnlichen Welt bewusst ist, unmittelbar mit dem absoluten Ich gleichzusetzen. Dass aus N i c h t i c h Ich werden solle, ist also nicht nur keine Aufforderung zu solipsistischem Aneignungsstreben, sondern Ausdruck des in der Gewissheit der Freiheit notwendig inbegriffenen Bewusstseins der Pflicht, die Vernunft, deren ichhaftes Wesen das gerade Gegenteil von Egoismus ist, in T h e o r i e und Praxis zum Gestaltungsprinzip aller Wirklichkeit zu machen. Versteht man Fichtes Ichphilosophie im angedeuteten Sinn, so ist nicht zu leugnen, dass die Assoziationen, die Niethammers Andachtsrede mit ihr verbindet, Folgen einer Verzeichnung sind. Zu fragen bleibt allerdings, o b das absolute und reine Ich Fichtes sich tatsächlich als Ich begreifen lässt, wenn anders es als von jedem denkbaren Realich unvergleichlich unterschieden zu denken ist. Hat die intellektuelle Anschauung als ein unmittelbares Innesein unbedingt aus sich selbst hervorgehender Freiheit begrifflichen Status oder lediglich den epistemischen Status eines Gefühls? Lässt sich der reine Ichgedanke überhaupt denken, sodass es möglich ist, das in intellektueller Anschauung Erschlossene mit dem Ichbegriff zu versehen? Die von ihm selbst für nötig befundene Fortentwicklung und Vertiefung seiner W i s senschaftslehre zeigt, dass Fragen wie diese nicht lediglich von außen an F i c h t e herangetragen sind. Es war Schleiermacher, der in seinen „Reden über die Religion an die G e bildeten unter ihren Verächtern" von 1799 5 deutlich aussprach, dass es einer vorbegrifflichen, selbsttätig nicht zu genetisierenden und daher nur religiös erfassbaren Einsicht bedarf, um des Grundes des Ich gewahr zu werden, da das Ich, welches seines Grundes inne wird, zugleich über sich hinaus auf das schiere D a t u m seines Sich-Gegebenseins verwiesen wird, das weder theoretisch noch praktisch begründbar ist, weil es in allem D e n k e n und Tun schon als Voraussetzung mitgesetzt ist. D e r Ursprung der dem Ich sich erschließenden Ichgewissheit ist ichhaft und ichtranszendent zugleich. D e r Grund der Freiheit ist ohne Bezug auf Selbsttätigkeit nicht zu denken und zugleich aller freien Selbsttätigkeit vorausgesetzt. E r ist nur mittels des Selbstbewusstseins zu begreifen und doch in diesem nur auf unvordenkliche 5 F . D . E . Schleiermacher, Ü b e r die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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und aller Praxis zuvorkommenden Weise gegeben. Theorie und Praxis bedürfen daher der Religion, die weder durch Denken noch durch Handeln substituierbar ist. Dass mit der These theoretischer und praktischer Nichtsubstituierbarkeit der Religion, wie Schleiermacher sie in Kenntnis der frühen Wissenschaftslehre und in kritischem und konstruktivem Anschluss an sie in einer Weise entwickelt hat, die Konvergenzen mit Fichtes späterem Denken ebenso wie mit der Spätphilosophie Schellings erkennen lässt, keine Restauration traditioneller Offenbarungs- und Gotteslehre intendiert ist, geht aus den „Reden über die Religion" deutlich hervor. U n t e r spöttischer Anspielung auf den Atheismusstreit (124: „Damit Ihr aber nicht denket ich fürchte mich ein ordentliches Wort über die Gottheit zu sagen, weil es gefährlich werden will davon zu reden, bevor eine zu Recht und Gericht beständige Definition von Gott und Dasein ans Licht gebracht und im deutschen Reich sankzionirt worden ist ...") spricht Schleiermacher offen aus, „dass eine Religion ohne G o t t beßer sein kann, als eine andre mit G o t t " (126). Durch die Annahme theoretischer und praktischer Unersetzbarkeit der Religion, der eine eigene Provinz im menschlichen Gemüt zuzuerkennen sei, ist also Fichtes Kritik an dem Gedanken der Substantialität und Persönlichkeit Gottes nicht revoziert. Die metaphysische Idee Gottes als besonderer Substanz und bewusster Person gilt auch dem religiösen Redner als in sich widersprüchlich, da sie das Absolute relativiere und das Unendliche verendliche. Das Goethewort aus Faust I, mit dem Fichte seine Abhandlung „Uber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung" beschlossen hatte, besitzt auch für Schleiermacher Gültigkeit: „Gefühl ist alles, N a m e Schall und Rauch." Unverhohlen gibt der Redner zu erkennen, „daß für mich die Gottheit nichts anders sein kann, als eine einzelne religiöse Anschauungsart, von der wie von jeder andern die übrigen unabhängig sind, und daß auf meinem Standpunkt und nach meinen Euch bekannten Begriffen der Glaube ,kein Gott, keine Religion' gar nicht statt finden kann." (124). Religion haben heiße, das Universum als Ein und Alles anzuschauen und im Gefühl des ganzen ungeteilten Daseins innezuwerden. O b sich mit religiöser Anschauung und Gefühl schließlich die Gottesvorstellung verbindet, hängt nach Schleiermacher ab „von der Richtung der Phantasie" (129) und ist insofern kontingent. Notwendig sei die Vorstellung eines als Person subsistierenden Gottes für die Religion nicht. „Gott ist nicht Alles in der Religion sondern Eins, und das Universum ist mehr." (132 f) Wahrhaft F r o m m e habe der Streit um das Dasein Gottes daher im Innersten nie berührt; „mit großer Gelaßenheit haben sie das, was man Atheismus nennt, neben sich gesehn, und es hat immer etwas gegeben, was ihnen irreligiöser schien als dieses." (130) An entsprechende Beispiele solle man sich halten, zumal da, wie gesagt, eine „rechtskräftige Definition" (124) der Gottesidee noch nicht vorhanden sei.
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D e r Atheismusstreit von 1 7 9 8 / 9 9 hat nach Urteil von Emanuel Hirsch „in der Geschichte des deutschen Geistes eine ähnlich aufweckende Bedeutung wie auf anderm Gebiete der von Lessing entfesselte Fragmentenstreit" 6 gehabt. D i e Vorstellung G o t t e s als eines persönlichen Wesens von besonderer Substanz war durch Fichtes Kritik, wie das Beispiel Schleiermachers zeigt, auch unter T h e o l o g e n obsolet geworden. D e r Gedanke der Persönlichkeit G o t t e s wird zur Disposition gestellt, weil er in den Schranken des Endlichen befangen bleibe, und an seine Stelle tritt die gänzlich entgegenständlichte Idee eines geistigen Grundes von Selbst und Welt, die von der überkommenen Gottesvorstellung auch und gerade der aufklärerischen Tradition selbst dann noch charakteristisch unterschieden ist, wenn der fundierende Grund von Selbst und Welt, auf den sich das religiöse Verhältnis richtet, G o t t genannt wird. „So wird im Atheismusstreit die idealistische Gottesidee an den Tag des öffentlichen Bewußtseins geboren." 7 Dass es, wie Hirsch fortfährt, „vielerlei Versuche gekostet (hat), sich mit der neuen Gottesanschauung zurechtzufinden" 8 , belegt auch Niethammers Würzburger Adventsandachtsrede, die weniger als Ausdruck einer klar umrissenen Position denn als ein D o k u m e n t eines unsicher tastenden Versuches zu werten ist, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. A n F i c h t e ist N i e t h a m m e r offenkundig irre geworden. Aus der mentalen Reserve, mit der er der Ichphilosophie von Anfang an begegnet war, ist in der Würzburger Adventsandachtsrede 9 entschiedene Ablehnung geworden, wenngleich sie nicht offen ausgesprochen und in ihrer Begründung fragwürdig ist. D i e Lehre von der Selbstsetzung des Ich gilt N i e t h a m m e r als ein auf die Spitze getriebener Tugendaktionismus, der, indem er „nur Thätigkeit und Kraftanwendung überall fodert" (12), das religiöse Verhältnis, wie es im Gottesdienst gepflegt wird, als entbehrlich, überflüssig, ja als verwerflich erscheinen lasse. Zwar räumt N i e t h a m m e r unumwunden ein, dass die Tugend nie in einem helleren Glänze erstrahlt sei „als in jener Lehre unserer Tage" (ebd.), deren Eindruck gerade auf die Besten der Zeit überaus bestechend sei. D o c h habe dies im Endeffekt nur dazu geführt, dass die Verluste nicht einmal mehr geahnt würden, welche dem allgemeinen Bewusstsein durch einen moralischen Solipsismus und durch die Herabsetzung alles Nichtichs zum bloßen Material der Tugend bereitet worden seien. Man solle sich durch das Blendende der Ansichten einer reinen Tatphilosophie nur ja nicht dazu verführen lassen, den faktischen Triumph der Tugend mitzufeiern.
' E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Vierter Band, Gütersloh 5 1 9 7 5 , 359. 7 A . a . O . , 360. « Ebd. ' F.I. Niethammer, Andachtsrede zum Antritt seines Amtes als Oberpfarrer. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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D e n n jene Lehre, die „in dem großen Tempel der Welt nur die Tugend zeigt" und „diese auf den Altar der Gottheit setzt", entziehe mit dem rechten G o t tesdienst nicht weniger als die Religion selbst. Zur Religion und damit zur richtigen Ansicht vom Gottesdienst zurückzuführen, ist das Primärziel der Niethammer'schen Adventsandacht, die überall dort, wo sie nicht nur kritisiert, sondern konstruktive Anleitungen gibt, ganz auf den Ton von Schleiermachers Reden gestimmt ist. „ K ö n n t e ich doch mit feuriger Beredsamkeit Euch Euer Inneres schildern, Euch zurückführen in die hellen M o m e n t e Eures Daseyns, wo Ihr in lebendigen Gefühlen die N ä h e der Gottheit erfahren h a b t ! " (13) Auf jene Augenblicke, in denen sich durch das Innewerden des Sinnganzen des eigenen Daseins und der gegebenen Welt der U r g r u n d alles Seienden erschließt, ist alle Andacht zu konzentrieren. Denn in ihnen wird dem Menschen mit den Grenzen seiner eigenen und aller menschlichen Kraft eine höhere Macht offenbar, die ihn über die Schranken seines alltäglichen Denkens und Handelns hinausführt. Man muss nicht durch konkrete persönliche N o t getrieben sein, um solche Augenblicke zu erleben; ein entwickeltes Bewusstsein der Vergänglichkeit aller Dinge reicht nach Niethammer hin, um für das Unvergängliche geöffnet und zur Wahrnehmung jener ewig regen, allmächtigen Kraft zu gelangen, „die Alles durchdringt und Alles schafft, durch die jede anscheinende Auflösung oder Zerstörung nur ein Uebergehn zu neuen G e stalten, ein Bilden neuen Lebens ist" (15). Statt im beständigen Werden und Vergehen lediglich das Verhängnis eines fatalen Geschicks zu erblicken, gelte es, in ihm der schöpferischen Macht G o t t e s gewahr zu werden, dessen ewiges Leben alles durchströme, u m es über das Endliche hinaus zum Unendlichen zu erheben. In diesem Sinne ruft Niethammer dazu auf, das Universum anzuschauen, um fühlend der lebendigen Urkraft innezuwerden, die in ihm waltet. Wer im All dessen, was ist, nur Stoff für die Tätigkeit freier Geister zu erblicken vermöge, habe keine Ahnung vom G r u n d aller Dinge, der nicht nur unvordenklich, sondern auch durch Handeln allein niemals ergriffen werden könne. U m s o mehr gilt dies nach Niethammer für das Ziel aller Dinge und für den Endzweck, auf den alles menschliche Sinnen und Trachten auszurichten ist, wenn es berechtigten Anspruch darauf haben soll, vernünftig zu sein. Der Endzweck des Ganzen bleibe Wissen und Tun entzogen, weil diese ihrem Wesen nach an Endlichem orientiert und auf Beschränktes bezogen seien. Im Glauben nur und im H o f f e n erschließe sich das letzte Sinnziel alles theoretischen und praktischen Strebens. „ U n d dieses Glauben und H o f f e n auch ist Religion." (17) Es liegt nach Niethammer nicht nur in der N a t u r der Dinge, sondern auch und vor allem im Wesen des Menschen begründet, die Schranken des Endlichen auf ein Unendliches hin zu transzendieren, dessen Wahrnehmungsgestalt das religiöse Verhältnis ist, dem sich in der Einheit von Anschauung und Gefühl das Absolute erschließt. Dieses Erschließungsgesche-
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hen und nicht die Mitteilung suprarationaler Kenntnisse sei in Wahrheit O f fenbarung zu nennen wie denn der Glaube seinerseits nicht als Fürwahrhalten von übervernünftigen Instruktionen zu verstehen sei, sondern als Innesein des Sinngrundes und Sinnzieles von Selbst und Welt. „Nahet euch zu G o t t , so nahet er sich zu euch", lautet das neutestamentliche Schriftwort aus dem vierten Kapitel des Jakobusbriefs (Jak 4,8), das Niethammer als Text seiner Predigt zugrunde legte. Bleibt nach den bisherigen Ausführungen seiner Andachtsrede zu fragen, warum die N ä h e G o t t e s , der doch allgegenwärtig und dessen Wirken, wenn man sich recht besinnt, überall und in jedem Augenblick wahrzunehmen ist, gerade im Gottesdienst der Gemeinde aufgesucht werden soll. Die religiöse Unentbehrlichkeit des gemeindlichen Gottesdienstes begründet Niethammer mit dem Hinweis, es dürfe nicht dem Zufall überlassen, sondern müsse durch einen willentlichen Entschluss herbeigeführt werden, „an den ewigen Geist zu denken" (19). Dieser Willensentschluss, sich an einem spezifischen O r t zu einer besonderen Zeit zu gemeinsamer Andacht zu versammeln, sei u m s o nötiger, als die üblichen Alltagsgeschäfte von tieferer Besinnung abhielten sowie auf das Endliche und je Einzelne fixierten. Dadurch wird, wie Niethammer sagt, des Menschen H o r i z o n t „verengert" (21) und die Einsicht ins gemeinsame G a n z e verstellt: „(W)ie soll denn doch sein Auge, aufs Einzelne und Endliche geheftet, das Allgemeine und Unendliche zugleich erblicken? wie die Gottheit sehen, die jedem Blick auf ein bestimmtes Werk verborgen bleibt?" (Ebd.) U m den Blick frei zu bekommen für das allgemeine und unendliche Ganze, müsse der Werktag sonntäglich unterbrochen, der gewohnte Betrieb in H a u s und Beruf stillgestellt und regelmäßig der „Tempel", wie es bei Niethammer heißt, und der Gottesdienst aufgesucht werden, damit in gemeinsamer Andacht die Allgegenwart G o t t e s in Raum und Zeit für uns präsent werde, die an sich an keinen Raum und keine Zeit gebunden sei. In seinem alltäglichen Denken und Handeln mit Endlichem, Besonderem und Geteiltem beschäftigt, werde der Mensch durch die sonntägliche Feier des Gottesdienstes zum Unendlichen, zum Allgemeinen und zum Ganzen erhoben. In der Anschauung des einen Geistes und der einen Kraft, die das unermessliche Universum durchwirke, und in fühlendem Innewerden des Ursprungs und Zielgrundes alles Seienden bestehe der Sinn gottesdienstlicher Andacht jenseits aller Alltagszwecke. N u r Religion und gottesdienstliche Ü b u n g derselben vermögen nach Niethammer den Menschen zur G e wissheit ganzen und ungeteilten Daseins in der Welt zu führen, was die Voraussetzung allen vernünftigen Wollens und Strebens sei. Auch die Tugend könne auf Religion nicht verzichten. Zwar sei es wahr, dass Glaube ohne Werke tot sei; doch könne Sittlichkeit ebenso wenig der Religion entbehren, weil sie ohne die Gewissheit des Sinnganzen nicht zu wirken und dauerhaft zu bestehen vermöge. D a s Allerheiligste ist allererst dort eröffnet, „wo Tugend und Religion im reinen Glänze schwesterlich vereint erscheinen" (24).
26. Schleiermacher'sche Anleihen
Gemäß Schleiermachers Enzyklopädie, wie er sie in seiner „Kurze (n) Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen" (1810/ 2 1830) entwickelt hat, lassen sich die theologischen Wissenschaften in drei Teile gliedern: in die philosophische, die historische und die praktische Theologie. Die historische Theologie unterteilt sich ihrerseits in Exegese, Kirchengeschichte sowie Dogmatik und Statistik. Die beiden letzteren Disziplinen haben geschichtliche Kenntnisse vom gegenwärtigen Zustand des Christentums zu vermitteln, wobei die dogmatische Theologie in ihrer Gestalt als Glaubens- und Sittenlehre die ideale, die Statistik die reale Seite aktuellen Christentums zu thematisieren hat. Sind Dogmatik und Ethik auf die theoretische und praktische Seite des gegenwärtigen christlichen Lehrbegriffs ausgerichtet, so interessiert die Statistik vor allem die soziokulturelle, rechtliche oder wie auch immer bestimmte Verfassung der Kirche in der gegebenen Faktizität ihrer äußeren Verhältnisse. Hatte Niethammer in seiner Würzburger Zeit vor allem als Religionsphilosoph und Lehrer des Glaubens und der Sitte gewirkt, so fällt seine Tätigkeit seit seiner Berufung nach München wesentlich in den Bereich, den die Schleiermacher'sche Statistik zum Thema hat. Eine zusammenhängende Darstellung der zu seiner Zeit in der Kirche im Allgemeinen oder in einem bestimmten Kirchentum im Besonderen geltenden Lehre oder Praxistheorie zu geben, wie Schleiermacher dies von einem Dogmatiker und christlichen Moraltheologen verlangt, hat Niethammer in seiner Münchener Zeit auch nicht ansatzweise versucht. Die Arbeit an religionstheoretischen Konzeptionsentwürfen, welche die akademische Zeit in Jena wesentlich ausfüllte, wird ebenfalls nicht fortgesetzt. Mit Hingabe und Erfolg indes war Niethammer in München in Wirkungsgebieten tätig, die Untersuchungsgegenstand der Schleiermacher'schen Statistik sind, welche den gesellschaftlichen Zustand eines Kirchenwesens an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit darzustellen hat und zwar näherhin in Bezug auf die Realverfassung einer Kirchengemeinschaft in ihrem Verhältnis zu sich, zu anderen Kirchengemeinschaften und zum staatlichen Gemeinwesen. Wie es um die Realverfassung der evangelischen Kirchengemeinschaft in Bayern in ihrem Verhältnis zu sich, also in Bezug auf ihre innere Ordnung, im Verhältnis zu anderen, im gegebenen Fall vor allem zur römisch-katholischen Kirchengemeinschaft sowie zum bayerischen Staatswesen in den Jahrzehnten von Niethammers Münchener Zeit bestellt war, dazu bietet die Statistikvorlesung, die Schleiermacher im Sommersemester 1827 sowie im
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Wintersemester 1833/34 an der Berliner Humboldt-Universität gehalten hat, interessante und aufschlussreiche Aspekte. 1 Bayern wird unter die deutschen Länder subsumiert, „wo die Evangelische Kirche nicht die herrschende ist" (433). Der Genauigkeit halber ist richtigzustellen, dass nicht von Bayern, sondern von Baiern die Rede ist. Zu Bayern wurde Baiern aus Antikisierungsgründen erst im Laufe der Regierungszeit des Altertumsliebhabers Ludwig I. Man kann sich die Sache so klarmachen: Für Ludwig verhält sich Bayern zu Baiern ungefähr so wie Seyn zu Sein für Martin Heidegger. Was Schleiermachers Statistikvorlesung von 1827 anbelangt, so handelt sie ausführlich von den kirchlichen Zuständen in Baiern/Bayern unter Ludwig I., auf den 1825 die Krone übergegangen war, sowie vor allem von der Regierungszeit Maximilian I. Joseph, der seit 1806 als erster König von Bayern amtierte. Erörtert werden zunächst die die katholische (vgl. 301-306), dann die die evangelische Kirche betreffenden Verhältnisse (vgl. 433-437). Die Regierung Max Josephs habe sich, wie Schleiermacher schreibt, „viel Mühe gegeben durch Einführung des protestantischen Princips ein reges Leben in das alte Land zu bringen" (433). Bereits bevor Bayern „durch die neusten Weltbegebenheiten" (301) einen großen Zuwachs an überwiegend evangelischen bzw. konfessionell gemischten Territorien erhalten habe, sei der Protestantismus vor O r t präsent gewesen, durch viele Staatsdiener aus anderen Ländern, besonders seit die Residenz nach München verlegt wurde. Gemeint sind die später so genannten Nordlichter, zu denen ungeachtet seiner Herkunft aus dem Südwesten Deutschlands auch Niethammer zu zählen ist. O h n e ihn namentlich zu erwähnen, berichtet Schleiermacher von vielen Anlässen und Resultaten seiner Münchener Berufsaktivität, sowohl was das Staat-Kirche-Verhältnis als auch was die innere kirchliche Organisation anbelangt. In ersterer Hinsicht ist Schleiermacher insbesondere an der Kompetenzverteilung zwischen dem protestantischen Oberkonsistorium und den kircheneigenen Behörden einerseits sowie dem staatlichen Ministerium des Inneren und der untergeordneten Ministerialbehörde für Unterricht und Kultus andererseits interessiert. Hinsichtlich der inneren Organisation der evangelischen Kirche in Bayern richtet sich seine Aufmerksamkeit neben den Unionsbestrebungen von Lutheranern und Reformierten vor allem auf die Synodalverfassung auf landeskirchlicher, aber auch auf Gemeindeebene. All diese Themen, über die sich Schleiermacher bestens informiert zeigt, betreffen mehr oder minder unmittelbar Arbeitsgebiete Niethammers, deren Zuordnung zur Statistik insofern ihre Richtigkeit hat, als die erforderliche Tätigkeit wesentlich auf den realgesellschaftlichen Zustand und weniger auf den Lehrbegriff der evangelischen Kirche in Bayern bezogen war.
' Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen. Bd. 16: Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik, hg. v. S. Gerber, Berlin/New York 2005. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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Seit dem Atheismusstreit der Jahre 1798/99 bis zu seiner Berufung nach München hat Niethammer kein größeres literarisches Werk veröffentlicht. Die Ankündigung der Würzburger Adventsfeier 1804 und die aus diesem Anlass gehaltene Andachtsrede 2 sind die einzigen Publikationen aus diesem Zeitraum. Man kann darüber streiten, ob es sich bei der Andachtsrede des neuen protestantischen Oberpfarrers von Würzburg um eine christliche Predigt gehandelt hat. Nach Urteil von Dieter Henrich ist der Gottesdienst, dessen Mitte sie bildete, ein „philosophischer . . . , gewiß kein christlicher gewesen" 3 . Kaum weniger problematisch als der christliche Charakter der religiösen Rede Niethammers ist indes die philosophische Fassung, die er ihr gab. Zwar will er die religiöse Anschauung des Universums nicht mit erhabener Naturbetrachtung gleichgesetzt wissen; doch ist, was Niethammer im Anschluss an Schleiermacher Universum nennt, an den natürlichen Kosmos ungleich näher herangerückt als bei diesem. Der Blick in den unermesslichen Sternenhimmel muss mehrmals dafür herhalten, das Wesen der Anschauung des Universums zu illustrieren. Zwar sei es nicht jedem vergönnt, „die Flammenschrift zu lesen, die den Eingang zu jenem Tempel Gottes", gemeint ist die Natur, „verkündiget; und von den Tausenden, die mit uns das Unermessliche bewohnen und schauen, indem wir die Gegenwart der Gottheit erkennen, wie Vielen ist es ein verschlossnes Heiligthum?" (26) Wenn Niethammer daraus folgert, dass die Masse fremder Leitung zur Gottheit bedürfe und dieses Bedürfnis sie in die Wohnungen der Andacht, also in den kirchlichen Gottesdienst führen müsse, dann ist damit kein sehr starkes Argument für dessen grundsätzliche Notwendigkeit formuliert. Weiter scheint der Hinweis zu führen, dass dem Menschen „die Gottheit nicht überall gleich nahe" (27) und dass aus diesem Grund zusammen mit dem werktäglichen der Raum der äußeren Natur überhaupt zu verlassen sei, um Einkehr zu halten in den Innenräumen des Tempels, in denen Gott nicht nur als im Werden und Vergehen wirkende Allmacht, sondern im Geist und in der Wahrheit als der Allgerechte und Allgütige angebetet wird. „Der Tempel der Natur, der prächtige Sternenhimmel, sind nicht lebendiger als was Ihr todte Mauern nennt. Das wahre Leben ist in Euch; Ihr traget Tod und Leben in jenen wie in diesen Tempel - selbst." (29) Diese Bemerkung lässt aufhorchen. Doch bleibt trotz des hohen Tones gerade der Schlusspassagen der Niethammer'schen Rede das Verhältnis von Naturandacht und Andacht in den kirchlichen Binnenräumen im Einzelnen ebenso unklar wie das Verhältnis von allgemeiner Religiosität und Christentum oder der individuellen und sozialen Aspekte kirchlicher Gemeinschaft. Aufs Ganze gesehen wird man sagen müssen, dass Niethammers am 1. Advent 2 F.I. Niethammer, Andachtsrede zum Antritt seines Amtes als Oberpfarrer. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 3 D . H e n r i c h , a . a . O . 11,1058.
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Schleiermacher'sche Anleihen
1 8 0 4 g e h a l t e n e A n d a c h t s r e d e m i n d e s t e n s e b e n s o viele F r a g e n a u f w i r f t , w i e sie z u b e a n t w o r t e n v e r m a g . N i c h t n u r ihr c h r i s t l i c h e r G e h a l t lässt z u w ü n s c h e n ü b r i g , a u c h i h r p h i l o s o p h i s c h e r b l e i b t „an A u f s c h l u ß u n d T i e f g a n g " 4 d e u t l i c h h i n t e r d e m j e n i g e n z u r ü c k , w a s a n d e r e D e n k e r , „die z u m g u t e n Teil seine F r e u n d e w a r e n " 5 , bereits z u r damaligen Zeit im A n s c h l u s s an K a n t u n d ü b e r d i e s e n h i n a u s g e l e i s t e t h a t t e n . D a s gilt f ü r H e g e l u n d S c h e l l i n g e b e n s o wie für Schleiermacher, mit dessen - v o n J a c o b i s
Glaubensphiloso-
p h i e i n s p i r i e r t e n - R e d e n ü b e r die R e l i g i o n s i c h die r e l i g i ö s e A d v e n t s a n s p r a c h e N i e t h a m m e r s in F o r m u n d I n h a l t a m d e u t l i c h s t e n b e r ü h r t . B e w e g e n sich die W ü r z b u r g e r A d v e n t s r e d e n auf e h e r s c h w a n k e n d e m B o d e n , o h n e s i c h e r e n u n d b e s t ä n d i g e n G r u n d z u f i n d e n , s o t r e t e n die K o m p o n e n t e n , aus d e n e n s i c h N i e t h a m m e r s u r e i g e n e s D e n k e n
zusammensetzt,
in d e m W e r k , das e r v i e r J a h r e s p ä t e r in M ü n c h e n z u m Z w e c k e d e r F u n d i e r u n g s e i n e r s c h u l r e f o r m e r i s c h e n P r a x i s g e s c h r i e b e n h a t , u m einiges d e u t l i c h e r z u t a g e . D i e R e d e ist v o n d e r 1 8 0 8 e r s c h i e n e n e n - v o n J e a n P a u l als „ A r z n e i u n s e r e r g ä h r e n d e n Z e i t " b e g r ü ß t e n 6 - M o n o g r a p h i e , in w e l c h e r i h r e m T i t e l g e m ä ß „ D e r S t r e i t des P h i l a n t h r o p i n i s m u s u n d d e s H u m a n i s m u s in d e r T h e o r i e d e s E r z i e h u n g s - U n t e r r i c h t s u n s e r e r Z e i t " 7 v e r h a n d e l t w i r d . I m F o l g e n d e n soll es n a c h e i n i g e n V o r b e m e r k u n g e n z u r W e r k g e s c h i c h t e d a -
A . a . O . II, 1059. A . a . O . II, 1058. 6 Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung. Fünfter Band: Briefe 1804-1808, Berlin 1961,226 (Nr. 550: Brief an Niethammer vom 22. Juli 1808). In der Vorrede zur zweiten Auflage (1811) seiner Erziehungslehre „Levana" belobigt Jean Paul Niethammer ausdrücklich dafür, dass er „die formelle Bildung durch Sprache als die Bildung des Ganzen (...) der materiellen durch Sachen als der theilweisen vorschickt und vorzieht" (Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Erste Abteilung. Zwölfter Band: Freiheits-Büchlein. Levana. Ergänzungsblatt zur Levana, Weimar 1937, 73). 7 F.I. Niethammer, Der Streit des Philanthropinismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit, Jena 1808. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Hegel hat der bei Friedrich Frommann in Jena erschienenen Schrift am 17. Juni 1808 eine Kurzanzeige in der Bamberger Zeitung zuteil werden lassen: „Der Hr. Vf. begreift unter Philanthropinismus, die von den Philanthropinen ausgegangene Ansicht des Erziehungwesens, welche den Zweck des Erziehungsunterrichts nur in eine Bildung des Menschen für seinen zeitlichen Beruf, in eine Ausrüstung mit recht vielen brauchbaren Kenntnissen, Erwerbung technischer Fertigkeiten u.s.f. setzt; unter Humanismus dagegen die Ansicht, welche die allgemeine Bildung des Menschen, die Bildung des Geistes an und für sich zum Zwecke macht. Dieser Gegensatz der Pädagogik, der zunächst in Ansehung des Gymnasialunterrichts in allgemeinere Anregung gekommen ist, wird in der angezeigten Schrift in seiner Allgemeinheit untersucht, und in einem besondern Abschnitt in seiner Anwendung auf die verschiedenen Arten des Erziehungsunterrichts betrachtet. Es erhellt, wie interessant und wichtig eine solche Untersuchung zu einer Zeit ist, wo von deren Entscheidung die Art und Weise der gesammten Einrichtung der öffentlichen Unterrichtsanstalten von ganzen Ländern, und somit die Wohlfahrt von Generationen abhängt." (G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke. Bd. 5: Schriften und Entwürfe [1799-1808], hg. v. M. Baum u. K.R. Meist, Hamburg 1998, 435 [Nr. 169]. Im Folgejahr veröffentlichte Schelling eine günstige Rezension von Niethammers bildungstheo4 5
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mit sein Bewenden haben, den wissenschaftlichen Gesichtspunkt der Untersuchung ins Auge zu fassen, wie er in ihrem zweiten, der anthropologischen Grundlegung gewidmeten Teil zur Darstellung kommt. Nur am Rande sei vermerkt, dass es Niethammer als Verdienst zuzurechnen ist, den aus dem Neulateinischen stammenden Begriff „Humanismus" spezifisch geprägt und mit einer neuartigen Bedeutung versehen zu haben, um mit ihm diejenige Form der Erziehung und Bildung zu charakterisieren, welche nach dem Vorbild der erst seit ca. 1870 mit dem gleichnamigen Terminus bezeichneten Epoche und im Anschluss an die Gestalten der klassischen deutschen Philosophie und Literatur - vor allem auf das Studium der Humaniora ausgerichtet ist. 8
retischer Schrift in der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung" [vgl. F.W.J. v. Schellings sämmtliche Werke. A b t . 1. Bd.7: 1 8 0 5 - 1 8 1 0 , Stuttgart/Augsburg 1860, 5 1 1 - 5 3 4 ] . ) 8 Vgl. P. O . Kristeller, Humanismus und Renaissance. Bd. 1, hg. v. E. Keßler, München 1974, 16: „Der B e g r i f f , H u m a n i s m u s ' wurde 1808 von dem deutschen Pädagogen F . I . Niethammer geprägt, um der Betonung der griechischen und lateinischen Klassiker auf den höheren Schulen im Gegensatz zu dem wachsenden Bedürfnis nach einer mehr praktisch und naturwissenschaftlich ausgerichteten Bildung Ausdruck zu verleihen." Zu vergleichen ist ferner der Artikel „Menschheit, Humanität, Humanismus" von H . E. Bödeker, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 3, hg. v. O . Brunner, Stuttgart 1982, 1 0 6 3 - 1 1 2 8 , bes. 1098. D o r t wird Niethammers Erziehungslehre und die von ihr herausgestellte Differenz von humanistischer Bildung zu vollkommener Ganzheit und einer an Brauchbarkeit orientierten Ausbildung in einen Zusammenhang gebracht mit der pädagogischen Theorie der Zeit. U.a. E. A. Evers Traktat „Uber die Schulbildung zur Bestialität" (Aarau 1807) dürfte nicht nur durch die Art seiner Begrifflichkeit auf Niethammer eingewirkt haben. Zu Pestalozzi und Humboldt vgl. 1099 f. Besonders hervorgehoben zu werden verdient die Bemerkung, „daß der Begriff ,Humanismus' bei Niethammer nicht allein die Verteidigung der ,Humaniora' der Gelehrtenschule umfasst, sondern als ein Grundprinzip der gesamten Erziehung verstanden werden muss, insofern sie sich zum Ziele gesetzt hat, die M e n schenbildung gegen alle unangemessenen Verkürzungen in Schutz zu nehmen" (1121). Man darf also nach Niethammer humanistische Bildung nicht den Gelehrten oder einer sozialen Oberschicht vorbehalten und gegen die Berufsausbildung der Gewerbsleute oder Handwerker etc. ausspielen. Pädagogischer Humanismus, der diesen Namen verdient, behebt vielmehr den Gegensatz der geistigen Innenwelt und der materiellen Außenwelt bei Wahrung ihres U n t e r schieds. O h n e sie einem abstrakten Philanthropinismus zu überlassen, ist humanistische Bildung daher für berufsorientierte Ausbildung durchaus offen. Ansonsten verfällt sie selbst demjenigen, was Niethammer einen abstrakten Idealismus nennt. Mit einer abstrakt idealistischen Scheingelehrigkeit samt ihren sozialen Implikationen und Folgen wollte er erklärtermaßen nichts zu tun haben. Diese hat nach seinem Urteil nicht als gebildet, sondern lediglich als eingebildet zu gelten. Humanistische Bildung ist ein Gut, zu dem unbeschadet notwendiger Arbeitsteilung prinzipiell alle Menschen Zugang haben müssen. Gebildete Gelehrsamkeit ist daher sozialpflichtig; ansonsten verstößt sie gegen das sittliche Prinzip der Verallgemeinerbarkeit. Dies will bedacht sein, damit aus Niethammers Kritik der überkommenen Aufklärungspädagogik, die nach seiner Auffassung „Entgeistung" bewirkt, keine falschen Schlüsse gezogen werden. D e r Pädagoge Niethammer ist aufklärungskritisch, aber kein restaurativer Antiaufklärer. (Vgl. dazu: H . Stuke, Art. Aufklärung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1, hg. v. O . Brunner, Stuttgart 1979, 2 4 3 - 3 4 2 , hier: 311)
27. Philanthropinistischer Humanismus
Ende Februar 1807 wurde N i e t h a m m e r in das unter Montgelas neugebildete, von Freiherr von Zentner geleitete bayerische Ministerium des Inneren als Rat für schulische Angelegenheiten berufen und nach erfolgter Errichtung und amtlicher Anerkennung einer obersten Schulbehörde in Bayern im darauf folgenden J a h r zum zuständigen protestantischen Referenten für die öffentlichen Unterrichts- und Erziehungsanstalten ernannt. Damit begann die bedeutendste Etappe seines pädagogischen Wirkens. N i e t h a m m e r hatte die schwierige Aufgabe einer Reform des höheren Schulwesens zu übernehmen. Mit dem „Allgemeinen Normativ der öffentlichen U n t e r richtsanstalten in dem Königreiche Bayern" bestimmte er entscheidend die bayerische Bildungsorganisation, wenngleich nur für kürzere Zeit. A m 3. N o v e m b e r 1808 wurde Niethammers Reformwerk Gesetz. D e r Aufbau des Bildungswesens sieht danach neben der Volksschule den eigenständigen T y p sog. Studienschulen vor, deren primäre Stufe, die für geeignete Volksschüler zugänglich ist, vom 8. bis 12. Lebensjahr für die höhere Allgemeinbildung vorzubereiten hat. Es überwiegt der Sprachunterricht; verbindliche Fremdsprache ist Latein. In der Sekundärstufe der Studienschule gabelt sich das System in einen progymnasialen und einen realschulischen Zweig, wobei der Ubergang von der Volksschule nur noch in den letzteren möglich ist. A n die bereits zweigeteilte Sekundärschule schließen sich die sog. Studieninstitute an, die jeweils vier Jahre umfassen: das naturwissenschaftlichneusprachliche Realinstitut einerseits und das Gymnasialinstitut mit den klassischen Sprachen als Kernfächern andererseits. 1
' Z u r Auswahl der e i n z e l n e n gymnasialen B i l d u n g s s t o f f e n a c h M a ß g a b e des A l l g e m e i n e n N o r m a t i v s vgl. E . H o j e r , D i e B i l d u n g s l e h r e F . I . N i e t h a m m e r s . E i n B e i t r a g zur G e s c h i c h t e des N e u h u m a n i s m u s , a . a . O . , 1 3 8 f f A . a . O . , 135 findet sich eine s c h e m a t i s c h e Ü b e r s i c h t ü b e r den o r g a n i s a t o r i s c h e n A u f b a u des B i l d u n g s w e s e n s von 1 8 0 8 . D i e G e s c h i c h t e s e i n e r A u f l ö s u n g wird a . a . O . , 1 4 3 - 1 6 1 , auf d e r G r u n d l a g e eines e r s t v e r ö f f e n t l i c h t e n S c h r e i b e n s N i e t h a m m e r s an M i n i s t e r M o n t g e l a s v o m 2 1 . D e z e m b e r 1 8 1 0 u n t e r genauer B e r ü c k s i c h t i g u n g d e r B e g l e i t u m s t ä n d e dargestellt. I n s b e s o n d e r e v o n drei S e i t e n w u r d e N i e t h a m m e r a t t a c k i e r t : in der S t u d i e n s e k t i o n des I n n e n m i n i s t e r i u m s v o n d e m e r p r o b t e n S c h u l m a n n u n d K a t h o l i k e n J o s e p h W i s m a y r , der als w i c h t i g s t e r Verfasser des „Lehrplan (s) für alle k u r p f a l z b a y e r i s c h e n M i t t e l - S c h u l e n " von 1 8 0 4 zu gelten hat und dessen P ä d a g o g i k d u r c h die P r i n z i p i e n eines a u f g e k l ä r t e n , an B r a u c h b a r k e i t und G e m e i n n ü t z i g k e i t
orientierten
Philanthropinismus
mit
starker Traditionshaftung
be-
s t i m m t war; im s c h u l i s c h e n B e r e i c h selbst i n s b e s o n d e r e durch den S t u d i e n d i r e k t o r am M ü n c h e n e r W i l h e l m s g y m n a s i u m s K a j e t a n Weiller, e i n e m e r b i t t e r t e n G e g n e r N i e t h a m m e r s und des N i e t h a m m e r ' s c h e n N o r m a t i v s ; s c h l i e ß l i c h v o n S e i t e n der a l t b a y e r i s c h e n G e l e h r t e n o p p o s i t i o n ,
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Philanthropinistischer Humanismus
Obgleich sich das Allgemeine N o r m a t i v und die Neugliederung des allgemeinbildenden Schulsystems, die durch das Regelwerk verbindlich wurde, nicht direkt aus ihr deduzieren lassen, wird man in der Schrift über den „Streit des Philanthropinismus und H u m a n i s m u s " die theoretische Basis des pädagogischen Reformwirkens Niethammers erblicken dürfen. Ihren spezifischen Sitz im Leben hat sie in den konkreten Auseinandersetzungen u m die bayerische Schulpolitik der damaligen Zeit, die Niethammer allerdings in den Kontext des zeitgenössischen pädagogisch-geistesgeschichtlichen Diskurses im Allgemeinen einzuordnen versuchte. 2 Dabei intendierte er keineswegs alternative Gegensätze, sondern war u m vermittelnden Ausgleich und integrierende Aufhebung der durch die Titelbegriffe benannten Ansätze bemüht, deren Streit er durch Abstraktionsvermeidung zu befrieden suchte. Zwar duldet es keinen Zweifel, dass Niethammer der humanistischen Pädagogik den Vorzug gab. D o c h versuchte er ihre Einseitigkeiten konsequent dadurch zu vermeiden, dass er auch dem Philanthropinismus ein — wenngleich beschränktes - bildungstheoretisches und -praktisches Recht einräumte. D e n antiaufklärerischen Anklagen gegen das überkommene Erziehungssystem eine neue Beschuldigung hinzuzufügen, ist erklärtermaßen ebenso wenig Niethammers Absicht wie eine Rückkehr zu den Gelehrtenschulen vor der Aufklärungszeit. Als aufgehobenes Element soll der Philanthropinismus erhalten bleiben, dessen Abkehr vom ständisch geprägten Bildungswesen affirmiert wird. Es ist nicht lediglich schulpolitische Taktik, sondern durch die Grundsätze seiner Erziehungslehre selbst bedingt, wenn Niethammer im Wesentlichen nur zwei A s p e k t e philanthropinistischer Pädagogik mit harscher Kritik überzieht: „erstens das dem Nützlichkeitsdenken der Aufklärung entspringende Bestreben, den geistigen Gehalt des Bildungsgutes (bonum) zum einseitig zweckbestimmten, brauchbaren K o n sumgut (utile) zu entwerten, ein pädagogischer Utilitarismus, aus dem sich
deren Widerstand mit der Neubegründung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ihren Anfang nahm und in den sog. Aretinischen Händeln und dem missglückten Attentat auf Thiersch einen betrüblichen Höhepunkt erreichte. Der Widerstand gegen das Niethammer'sche Normativ, der vor allem der Gestaltung der Realinstitute galt, blieb allerdings nicht auf die genannten Gegner beschränkt, sondern dehnte sich auch auf die neuhumanistische Gruppe aus, die auf innere Widersprüchlichkeiten aufmerksam machte und mangelnde Konsequenz kritisierte. 2 Vgl. im Einzelnen E. Hojer, a.a.O., 40-51. Niethammers Erziehungstheorie ist von einem traditionellen Kantianismus geprägt. Zu möglichen Einflüssen Schillers vgl. R. Thomas, Schillers Einfluss auf die Bildungsphilosophie des Neuhumanismus. Untersuchung zum ideengeschichtlichen Zusammenhang zwischen Schillers philosophischen Schriften und F.I. Niethammers Erziehungsentwurf, Diss. Stuttgart 1993. Zur bildungspolitischen Gesamtsituation der Zeit vgl. M. Liedtke (Hg.), Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens. Zweiter Band, Geschichte der Schule in Bayern. Von 1800 bis 1918, Bad Heilbrunn/Obb. 1993.
Philanthropinistischer H u m a n i s m u s
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nach Niethammer das Übergewicht des Sachunterrichts vor dem Sprachunterricht erklären läßt; und zweitens die Tendenz zur Einheitsschule." 3 Beide Ausrichtungen haben nach Niethammers Urteil zum Niedergang der Philanthropine entscheidend beigetragen, der außerhalb Bayerns bereits allenthalben zu beobachten sei. Im Übrigen ist er durchaus bereit und willens, bleibende Verdienste des Philanthropinismus anzuerkennen und sie gegen drohende Einseitigkeiten des Neuhumanismus geltend zu machen, dessen Bildungstheorie er im Grundsatz teilt. Die Weise, in der dies geschieht, lässt sich anhand der anthropologischen Grundlegung von Niethammers Bildungslehre am deutlichsten ersehen, auf dessen Untersuchung die Analyse der Schrift von 1808 beschränkt wird. Zu den übrigen Teilen der Schrift seien nur einige Bemerkungen vorausgeschickt. Ebenso wenig wie Humanismus und Philanthropinismus stehen für Niethammer Allgemeinbildung und Berufsbildung in einem antithetischen Gegensatz. Auch darf nach seinem Urteil unbeschadet der Notwendigkeit gesellschaftlicher Arbeitsteilung Allgemeinbildung nicht dem Berufsstand von Gelehrten vorbehalten werden, da sie ein allgemeines Menschenrecht darstellt, auf das alle Gesellschaftskreise einen Anspruch haben. Da alle Menschen ihrer Bestimmung nach Vernunftwesen sind, darf vernünftige Bildung nicht auf ausgewählte Stände beschränkt werden. Damit ist keineswegs gesagt, dass jeder Mensch zum professionellen Gelehrten herangebildet werden müsse. Die der Universität vorbehaltene Gelehrtenbildung kann nicht Maßstab allgemeinbildender Schule einschließlich des Gymnasiums sein, dessen humanistisches Ideal sich primär in allgemeiner Humanitätsbildung zu erfüllen hat. Besteht der Skopus allgemeiner Schulbildung darin, den heranwachsenden Menschen zur Realisierung ihrer humanen Bestimmung als vernünftige Wesen zu verhelfen, so kann der wesentliche Sinn und Zweck der sog. Allgemeinbildung nicht in der enzyklopädischen Anhäufung von Wissen bestehen. Das Streben nach Allwisserei erzeugt Einbildung, nicht Bildung, die grundlegender Elementarisierung bedarf. Weniges ganz zu wissen, ist besser, als vieles nur halb. Die Bedeutung der sprachlichen Bildung ergibt sich aus dieser Maxime von selbst, insofern Sprache das Mediatisierungsprinzip allen Wissens ist, ohne deren Beherrschung nichts wirklich gewusst werden kann. Dabei verdient es bemerkt zu werden, dass Niethammer den klassischen Bildungswert der Sprache nicht nur und nicht in erster Linie durch Pflege der antiken Sprache zu nutzen sucht, sondern primär auf muttersprachliche Weise, nämlich durch beständige Einübung in den rechten Gebrauch der Muttersprache sowie der Konzentrati-
3
E. Hojer,.a.O., 49. Zur utilitarismuskritischen Tendenz des Niethammer'schen Bildungsbegriffs vgl. die umfangreiche Arbeit von P. Euler, Pädagogik und Universalienstreit. Zur Bedeutung von F.I. N i e t h a m m e r s pädagogischer „Streitschrift", Weinheim 1989.
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Philanthropinistischer Humanismus
on auf deren hervorragende Produkte. Die sprachtheoretische Abhandlung „ U b e r Pasigraphik und Ideographik" gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die Bemühungen um ein „Deutsches Nationalbuch", die bemerkenswert bleiben, auch wenn sich der Plan eines Kanons klassischer deutscher Dichtung nicht realisieren ließ. Als elementare Bildung hat Allgemeinbildung vor allem zum H e i m i s c h werden in der eigenen Sprache zu verhelfen, um auf diese - methodisch besonders durch Gedächtnisbildung bestimmte - Weise K o m m u n i k a t i o n s kompetenzen und mit ihnen Potenzen geistiger Produktion und Rezeption zu erschließen. I m Übrigen muss eine auf Elementarisierung angelegte Allgemeinbildung nach N i e t h a m m e r beständige Rücksicht nehmen auf das Individuum und seine spezifischen Begabungen, woraus sich sachgemäße D i versifikationen der Unterrichtung in methodischer und inhaltlicher H i n sicht ergeben, die dann auch eine den jeweiligen Fähigkeiten und Interessen entsprechende berufsorientierte Ausbildung mit sich führen. Dass im K o n text berufsvorbereitender Ausbildung Realien die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden ist, versteht sich von selbst. D o c h haben die Realien ihren Platz im U n t e r r i c h t nach und neben den sprachlichen Fächern auch aus einem prinzipielleren Grund, der sich mit der Kant'schen F o r m e l umschreiben lässt, wonach Anschauungen ohne Begriffe zwar blind, Begriffe ohne Anschauung aber auch leer sind. Mit dem Hinweis auf Kant lässt sich am besten die Stellung markieren, die Niethammers Bildungstheorie im Rahmen der Pädagogik und der Erziehungslehre seiner Zeit einnimmt. Sicherlich sind die vielfältigen Beiträge zu den Selbstverständigungsdebatten, in denen das zeitgenössische Bildungswesen Klarheit über sich selbst zu erlangen suchte, von N i e t h a m m e r zumindest teil- und auswahlsweise zur Kenntnis genommen worden. D o c h dürfen die Einflüsse aus dieser Richtung nicht überschätzt werden. Kaum weniger distanziert als zu J o h a n n Bernhard Basedow, dem Vater der Philanthropine, ist Niethammers Verhältnis zu J o h a n n Heinrich Pestalozzi, den er nach seiner Anhängerschaft beurteilt, ohne sein Schrifttum im Original genauer zu kennen. A b e r auch die Anregungen, die er aller Wahrscheinlichkeit nach von J o h a n n Friedrich Herbart empfangen hat, dessen „Allgemeine Pädagogik" 1806, also zwei Jahre vor der Niethammerschrift erschienen war, halten sich in engen Grenzen. I m G r o ß e n und Ganzen ist N i e t h a m mers Bildungslehre eine Konsequenz seines Kantianismus oder, genauer gesagt, jenes religionsphilosophisch geprägten Kantverständnisses, das er während seiner J e n a e r Zeit ausgebildet hat. Dieses stellt, wie bereits M . Schwarzmaier 4 erkannte, die entscheidende Voraussetzung für eine histori-
4
M. Schwarzmaier, Friedrich Immanuel Niethammer, ein bayerischer Schulreformator,
Diss. München 1937.
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sehe Würdigung des pädagogischen Werkes von N i e t h a m m e r dar, das dieser im Übrigen sehr eigenständig entwickelt hat. In ihm einen bloßen Eklektiker oder popularisierenden Mitläufer des Neuhumanismus zu sehen, wie das in der Historiographie der Pädagogik gelegentlich bis heute der Fall ist, beruht auf einer Fehleinschätzung. Tatsache ist, dass sich die Bildungslehre Niethammers „nach Ausgangspunkt und Zielbestimmung wesentlich von der ästhetischen F o r m des neuhumanistischen Bildungsideals (unterscheidet), die unter dem Einfluß Rousseaus, Shaftesburys und besonders Winckelmanns in Schillers Bildungslehre und der Humanitätsphilosophie Wilhelm von H u m b o l d t s klassische Geltung erlangte" 5 . Wenn über Kant hinaus überhaupt von prägenden Einflüssen auf Niethammers Bildungslehre die Rede sein kann, dann am ehesten in Bezug auf Hegel, den vertrauten Freund, dessen Denkungsart sich N i e t h a m m e r verbunden wusste, ohne sich ihre spekulative Ausformung zu einem System absoluten Wissens zu eigen zu machen. N a c h N i e t h a m m e r lässt sich der Grund des historischen Streits zwischen den pädagogischen Konzepten des Philanthropinismus und des Humanismus, wie er in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit H e f tigkeit ausgefochten wurde, wissenschaftlich angemessen nur dann erfassen, wenn man ihn auf einen Gegensatz in der Bestimmung menschlicher Wesensnatur zurückführt. D e r Hauptstreitpunkt beider Konzeptionen liege unstreitig in einer gegensätzlichen Auffassung der Idee des Menschen begründet. Seinem klassischen Begriff zufolge ist der Mensch animal rationale. Dass der anthropologische Grundbegriff, der die apriorische Idee des M e n schen bezeichnet, zwei B e s t i m m u n g s m o m e n t e enthält, kann nach N i e t h a m mer zum Anlass zwieträchtiger Wahrnehmung genommen werden. So sei der Hauptgegensatz der beiden Unterrichts- und Bildungssysteme der Zeit just in den beiden Grundbeziehungen zu suchen, denen gemäß das menschliche Wesen verschieden und divergent aufgefasst werden kann: „in dem G e gensatz von Geist und Thier, Vernunft und Kunstverstand, Rationalität und Animalität, die in dem Menschen zu Einem wunderbaren Ganzen verknüpft sind." (37; bei N . teilweise gesperrt) D e r Streit entsteht, kurz gesagt, aus einer doppelten Abstraktion. Erfolgreich geschlichtet und behoben werden kann er daher nach N i e t h a m m e r nur, wenn man der zweifacheinen Wesensnatur des Menschen und damit seiner zwar in sich differenzierten, aber gleichwohl unteilbaren Ganzheit Rechnung trägt. Man zählt den Pädagogen N i e t h a m m e r gewöhnlich zu den N e o h u m a nisten. Das ist, wie gesagt, nicht falsch; war er es doch, der als Erster den Humanismusbegriff zu einem Bildungsterminus von programmatischer Bedeutung ausgeprägt hat. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass
5
E . H o j e r , a . a . O . , 62.
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Philanthropinistischer Humanismus
Niethammer die humanistische Bildungsidee keineswegs unkritisch verfocht. „Wird in dem Erziehungsunterrichte die zweifache N a t u r und Bestimmung des Menschen, durch Abstraction von seiner animalen N a t u r und seinem Verhältnisse zur Außenwelt verkannt, seine geistige N a t u r allein als sein ganzes Wesen, sein Leben in Ideen als seine einzige Bestimmung betrachtet: so werden dadurch zwar sehr hohe Forderungen in Rücksicht der Erziehung und des Unterrichts begründet, und es kann sogar für die Theorie vortheilhaft seyn, durch eine solche Abstraction sich der Aufgabe des Erziehers in ihrer höchsten Wichtigkeit zu vergegenwärtigen, um nicht, durch den Blick auf die mannigfaltigen äußeren Verhältnisse und Bedürfnisse des Menschen verworren, auf das minder Wichtige zu viel Gewicht zu legen, und dagegen das unbedingt Wichtige zu vernachlässigen. Allein, wie alle Abstraction einseitig ist und auf einseitige Ansichten und Resultate führt, wofern sie nicht, bloß zum Behuf der freien Betrachtung vorgenommen, um einen Gegenstand theilweise desto schärfer aufzufassen, vermittelst gleichmäßiger Betrachtung und Zusammenfassung aller Theilmerkmale, vollständig durchgeführt wird: so muß auch ein Erziehungssystem, das den Menschen, mit der bezeichneten Abstraction, bloß in seiner geistigen N a t u r und Bestimmung betrachtet, auf Forderungen geführt werden, die nicht nur in den beschränkten äußeren Verhältnissen, unter denen die allermeisten Menschen in dieser Welt leben müssen, unausführbar sind und insofern mit allem Recht überspannt heißen, sondern die auch überall kein Object ihrer Anwendung haben und insofern für zwecklos gelten, und noch mehr, die in sich selbst ungültig, einseitig und unvollständig sind." (37f; bei N . teilweise gesperrt) Man mag die F o r m des zitierten Satzgebildes beurteilen, wie man will. Sein Inhalt ist klar: Ein H u m a n i s m u s , der von den, wie Niethammer sagt, animalen Beständen realen Menschseins abstrahiert zugunsten einer anthropologischen Idee, die den Menschen als reines Geistwesen auffasst, verdient seinen N a m e n nicht, da er nicht den ganzen Menschen wahrnimmt und würdigt. Folge er konsequent seiner Grundansicht, ende ein H u m a n i s m u s dieser Art zwangsläufig in menschenfeindlichen Überspanntheiten. Im Ü b rigen wird, wie Niethammer hinzufügt, durch einen abstrakten Humanismus mit der Ganzheit des Menschen zwangsläufig auch dessen Geistnatur verkannt, da diese unrichtig verstanden werde, wenn man sie außer Verbindung mit der leibhaft-sinnlichen N a t u r menschlichen Seins und nicht in unveräußerlichem Bezug auf diese denke. Es sei wider die N a t u r des Menschen, dessen geistiges Wesen zu einer intelligiblen Ichgröße zu hypostasieren, welche dem menschlichen Leib und der leibhaft vermittelten Welt jenseitig sei. Anderes zu behaupten, verführe zu anthropologischen Transzendenzvorstellungen, die mit transzendentaler Philosophie ebenso wenig zu vereinbaren seien wie mit recht verstandener Theologie.
28. Intelligibilität und Sensibilität
Der Mensch ist nach Niethammer philosophisch und theologisch immer zugleich als intelligibles und sensibles Wesen zu begreifen, als eine leibhafte Seele, deren schöpfungsgemäße Bestimmung es ist, sich von der reinen Geistigkeit Gottes unterschieden zu wissen, statt sich mit ihr gleichzusetzen. Wenn die Schulphilosophen eines falsch verstandenen Humanismus daher von der rein geistigen N a t u r des Menschen schwadronierten, werde dies von den Weltleuten nicht von ungefähr als eine überhebliche Redensart belächelt oder verlacht. In der Tat sei es lächerlich, dass menschliche Ich für einen reinen Geist zu halten. Wo dies geschehe, werde jede sinnvolle Theorie und mehr noch jede zwecktätige Praxis unterminiert und ein blasierter Egoismus trete zutage, der in seiner scheinbaren Weltabgehobenheit lediglich vornehm tut, statt vornehm zu sein. Eine Humanitätsideologie, welche den Menschen zum rein intelligiblen Wesen verklärt, hat nach Niethammer weder in philosophischer noch in theologischer noch in pädagogischer Hinsicht einen berechtigten Anspruch darauf, humanistisch genannt zu werden. Vielmehr sei es tendenziell inhuman, von der sinnlich-leibhaften Seite des Menschseins zu abstrahieren. Pseudohumanistische Erziehungsprogramme, die darauf angelegt seien, die animalen Bestände menschlichen Lebens und die leibhaften Weltbezüge abstrakt zu negieren, wirkten pädagogisch zwangsläufig kontraproduktiv. Wer positives Erfahrungswissen und jede Fertigkeit im Umgang mit der sinnlichen Welt verächtlich von sich weise, verhindere schuldhaft, dass das Ideale, wie es sich gehöre, reale Gestalt annehme. Wird die Grundidee des Humanismus, wonach der Mensch seiner N a t u r nach ein geistiges Wesen ist, ins Extrem getrieben und von den leibhaftsinnlichen Anteilen menschlicher Existenz konsequent abstrahiert, dann gerät das humanistische Bildungsprogramm in einen Widerspruch zu sich selbst und hebt sich auf. Ein ähnliches Schicksal ereilt, wenngleich in unvergleichlich abgründigerer Weise, nach Niethammer den Philanthropinismus für den Fall, dass er die sinnlich-animale N a t u r zum eigentlichen Bestimmungsgrund des Menschen einschließlich seines geistigen Wesens erklärt. U m den historischen Gegensatz zwischen den beiden konkurrierenden Erziehungssystemen seiner Zeit „mit möglichster Bestimmtheit aufzufassen" (45), lässt Niethammer diesen Fall in systematischer Aufklärungsabsicht eintreten. Zwar sei der Philanthropinismus einem abstrakten Humanismus gegenüber darin im Vorteil und Recht, dass er die Bedürfnisse leibhafter Menschen in einer sinnlich gegebenen Welt zu gebührender Geltung bringe.
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Aber wenn er die animalen Anteile des Menschen zum Ganzen erkläre und dessen geistiges Wesen auf sie reduziere, führe dies in der Konsequenz zu einer, wie es im Anklang an einen Traktat von A. Evers heißt, Bestialisierung des Menschen, die schlimmer sei als alle Verirrungen eines verstiegenen Humanismus zusammen genommen. Nicht dass Niethammer dem Philanthropinismus seiner Zeit unterstellen wollte, eine solche Folgewirkung zu intendieren und absichtlich herbeizuführen; die Nüchternheit der Maßregeln des philanthropinistischen Erziehungs- und Bildungsprogramms, die „vor mystischer Verbildung der Zöglinge hinlänglich sichert" (ebd.), schildert er nicht ohne Sympathie. Auch hält er dem Philanthropinismus das Bestreben zugute, „für alles zu sorgen, was dem Lehrling im späteren Leben zu seinem Berufe in dieser Welt und zu einem Fortkommen in derselben behülflich und in Zeiten des Dranges und der N o t h zu wissen unentbehrlich sein dürfte" (ebd.). Nichtsdestoweniger sei das Prinzip, das ihn dabei leite, ohne klar ins Bewusstsein zu treten, grundverkehrt und in sich widrig. Indem er grundsätzlich die sinnlich-animale N a t u r des Menschen als „die unzweifelhafte solide Realität seines Wesens, sein Schaffen und Wirken in materiellen Dingen als die einzige unzweifelhafte Bestimmung desselben betrachtet" (ebd.), müsse er folgerichtig oder besser: zwangsläufig zu einer Abstraktion von der geistigen Wesensnatur des Menschen fortschreiten, was zu einer gänzlichen Verkennung der Verhältnisse intelligibler Innenwelten führe. Animalität wird so zum Wesensbegriff des Menschen, seine Animalisierung, um nicht zu sagen: Bestialisierung zum obersten Erziehungsziel. Niethammer meint, zu solch drastischen Ausdrücken greifen zu müssen, weil bei zurückhaltenderer Ausdrucksweise die Gefahr bestehe, dass der Philanthropinismus unter dem Schein seines menschenfreundlichen Begriffs sein wahres Wesen, das ein menschenfeindliches Unwesen sei, dauerhaft verborgen halte. Sein System sei, wie es heißt, einschmeichelnd und habe nicht von ungefähr viele Anhänger gefunden, weil es dem Alltagsbewusstsein und dem gesunden Menschenverstand vermeintlich nahestehe. In der Tat sei es natürlich, die Realitäten des leibhaften Lebens und der sichtbaren Welt für etwas Wirkliches zu halten, von dem sich nicht überheblich absehen lasse. Doch die Wirklichkeit der Körperwelt und des leibhaften Daseins für die einzige Realität zu erachten, sei ein Materialismus der abstraktesten Art und der Wesensbestimmung des Menschen noch weitaus weniger gemäß als ein abstrakter Idealismus. Weil er ihn systematisch im Materialismus enden sieht, glaubt Niethammer dem historischen Philanthropinismus seiner Zeit den Vorwurf der „gefährlichsten Einseitigkeit" (48) nicht ersparen zu können. Statt die Vergeistigung der Menschennatur zu bewirken, tendiere er zu einer Naturalisierung des Geistes; daher müsse dem Philanthropinismus der Anspruch auf seinen Begriff bestritten werden, da er den Menschen seiner wahren Bestim-
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mung beraube, um ihn auf ein tierisches Niveau herabzudrücken. Für die J u g e n d zumal sei die philanthropinistische G a b e Gift. Statt den im Werden begriffenen Menschen ihre Innenwelt zu Bewusstsein zu bringen, fixiere der Philanthropinismus ihr Sinnen und Trachten ausschließlich auf die Außenwelt. Statt das weite Feld der Phantasie, „das eigentliche Jugendland" (53), zu eröffnen und die Kräfte produktiver Einbildung zu stärken, verbanne er, und zwar mit Methode, „in den Kreis der starren äußeren U m g e b u n gen hinein" (ebd.), um allein im Messen und Taxieren zu üben. A n die Stelle lebendigen Geistes trete tote Materie, an die Stelle innerer Anschauung des Menschenlebens das Zählen von Rippen nach anatomischer Tabelle. Die Zahl der Beispiele, die Niethammer anführt, ließe sich unschwer vermehren: Sie reichen vom Religionsunterricht bis zu Veranstaltungen des Schulsports. N e i g e der vom Philanthropinismus favorisierte Religionsunterricht dazu, lebendigen Gottesglauben durch trockene Verstandesbeweise des Daseins eines höheren Wesens zu zersetzen, mit dem sich ein U m g a n g nach Maßgabe rationalen Kalküls pflegen lasse, so werde in sportlicher Hinsicht der alte Grundsatz „mens sana in corpore sano" völlig verkannt. Auf der einen Seite halte man die J u g e n d zu übertriebener Härte gegen ihren Körper an und treibe sie zu Stählungszwecken im kalten Wasser, Regen, Schnee und Eis einher, „als hätten sie in Lappland ihre Unterkunft zu suchen" (54); auf der anderen Seite lasse man es an jeder geistigen Zucht fehlen, „um nur ja das Kind zu übler Laune nicht zu reizen" (ebd.). K u r z u m : D e r Philanthropinismus ist nach Niethammer seiner prinzipiellen Anlage gemäß ein geistloses, ja geistwidriges Unternehmen, und wo er den Schein des Geistigen hervorrufe, stecke dahinter nur der animalische Geist des natürlichen Menschen, dessen instrumentelle Verständigkeit die Vernunfteinsicht fliehe und sich am Endlichen genug sein lasse, statt sich zum Unendlichen zu erheben. D e r vermeintliche philanthropinistische Realitätssinn sei in Wahrheit Mangel an Vernunft und Mangel an Glauben in einem: „denn Glaube ist Vernunft!" (56; bei N . teilweise gesperrt) Niethammer sieht sich zu dieser Gleichung deshalb berechtigt, weil beide, Vernunft und Glaube, auf eine zwar unterscheidbare, aber nicht trennbare Weise nach dem U n e n d lichen trachten. D e m Philanthropinismus gilt die Vernunft „nur als ein Accidens des Körpers, als etwas, das nur durch und für den Körper da ist" (57; bei N . teilweise gesperrt). Alle Fehlleistungen philanthropinistischer Pädagogik folgen nach Niethammer aus diesem Grundsatz des Systems. Ihm wird entgegengehalten, „daß der Mensch seine Bestimmung nicht aus dem Körper erkennen und nach dem animalen Bedürfniß berechnen könne, daß er sie vielmehr aus der Vernunft und durch die Vernunft einsehen müsse, und daß dazu unumgänglich vor allem andern seine Vernunft geübt und gebildet werden m ü s s e " (59). Ist damit der Vorrang des humanistischen vor dem Bildungssystem des Philanthropinismus prinzipiell erwiesen, so wäre es nach
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Niethammer gleichwohl falsch, im G e g e n z u g den menschlichen Körper zu einem bloß akzidentellen Instrument der Vernunft herabzusetzen. Denn der Mensch sei als animal rationale dazu bestimmt, Vernunftkörper zu sein. D a s Verhältnis von Menschenvernunft und menschlichem Körper sei weder als Gegensatz noch so aufzufassen, dass beide einander äußerlich bleiben. Sei es schon unter logischen Gesichtspunkten ein Fehler, die Elemente von Leib und Vernunftseele „in der Vereinigung, in der sie den Menschen constituieren, nicht wechselseitig beide durcheinander, sondern einseitig nur das eine durch das andre zu bestimmen" (57), so könne der Realbegriff des Menschen nur dann erfasst werden, wenn dieser als leibhafte Seele, also als ein Wesen verstanden werde, dessen Vernunft darauf angelegt sei, sich auf leibhafte Weise zu gestalten. Zwar ist die menschliche Vernunft nach N i e t hammer mitnichten eine bloße Körperfunktion, sosehr sie für sinnliche Körpereindrücke empfänglich sei. Sie ist aber ebenso wenig eine von der körperlichen Sphäre abgeschlossene transzendente Größe, sondern ihrer anthropologischen N a t u r nach dazu bestimmt, sich leibhaft zu explizieren, um als Leib und in der Sinnenwelt konkrete Gestalt anzunehmen. Intelligibilität und Sensibilität bilden im Menschen einen zwar differenzierten und eindeutig gerichteten, aber gleichwohl untrennbaren Zusammenhang. Obgleich seiner Art nach ein intelligibles Vernunftwesen ist der Mensch doch nicht reiner Geist, sondern eine leibhafte Seele in einer sinnlich gegebenen Welt. Zwar sind die sinnliche Körperwelt und der eigene Leib der Vernunft des Menschen gemäß Niethammers Urteil eindeutig nach- und untergeordnet, und es wäre wider die menschliche Wesensnatur, anderes zu behaupten. Die Vernunft zu einer bloßen Verstandesfunktion im Dienste leibhafter Selbsterhaltung in der Sinnenwelt oder gar zu einer bloßen Funktion menschlicher Sinnlichkeit herabzusetzen, müsste als tendenziell animalisch, ja bestialisch bewertet werden. Die Vernunft sei das F o r m prinzip des Menschen, sein Leib und die Körperwelt das zu Formende. D o c h wäre es einseitig, abstrakt und in sich widersprüchlich, um der idealen F o r m willen alles Reale und alle Realien zu meiden. N u r als gestaltete F o r m und in Formgestalten vernünftig geprägter Leiblichkeit nehme der Menschengeist F o r m a t an und entspreche seiner inneren Bestimmung. Für das Erziehungswesen folgt daraus, dass der Gegensatz von H u m a n i s m u s und Philanthropinismus aufzuheben sei und zwar so, dass der H u m a n i s m u s als Anwalt der geistigen Bestimmung des Menschen die Oberhand behalte, aber auf philanthropinistische Weise sich dadurch expliziere, dass er sich der Realien annehme, um sie ideal zu durchwirken. Die primäre Aufgabe der Erziehung ist Erweckung und Bildung zur Vernunft. D a s Bildungsziel lediglich an äußeren Zwecken zu orientieren und auf den Erwerb von Verstandeswissen und sinnlichen Fähigkeiten abzustellen, muss als kontraproduktiv abgewiesen werden. D o c h lassen sich Bildung der Vernunft bzw. vernünftige Bildung ebenso wenig unter Absehung von
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den äußeren Belangen des Daseins erreichen. Pädagogische Rücksichtslosigkeit bezüglich der äußeren Daseinsverhältnisse des Menschen ist nicht nur ein Zeichen mangelnder Sensibilität, sondern auch unvernünftig. Kurzum: Niethammers Neohumanismus sollte besser philanthropinistischer H u m a nismus genannt werden, um deutlich zu machen, dass er den Gegensatz von Humanismus und Philanthropinismus in sich aufhebt, ohne freilich deshalb das unumkehrbare Richtungsgefälle zwischen beiden zur Disposition zu stellen. Ausdrücklich plädiert N i e t h a m m e r für eine „Vereinigung der beiden entgegengesetzten Unterrichtssysteme" (66; bei N . gesperrt) nach Maßgabe des entwickelten Begriffs des Menschen als animal rationale. N i c h t oft genug könne daran erinnert werden (die ständigen Wiederholungen von bereits Gesagtem bestätigen diese Mahnung), „daß der Mensch nicht nur weder Vernunft allein noch T h i e r allein, sondern auch nicht beides nebeneinander, sondern durchaus beides als Eines, und insofern überhaupt weder Vernunft, noch Thier, sondern ein drittes aus beiden, durch Vernunft modificirte Thierheit und durch Thierheit modificirte Vernunft, sey; die Vernunft in ihm durchaus an Thierheit (an sinnliches Bewusstseyn), und Thierheit durchaus an Vernunft (an rein geistiges Bewusstseyn) gebunden: der Leib durchaus ein Leib des heiligen Geistes, der Geist durchaus umschlossen von der Welt, dem Tempel G o t t e s . " (67; bei N . teilweise gesperrt) In der menschlichen Tierheit allein freilich könne die Bestimmung des Menschen weder gesucht noch gefunden werden. Wohl sei der Mensch auch Tier; doch seine Tierheit könne anthropologisch niemals isoliert und ohne Verbindung mit Vernunft erfasst werden. S c h o n mit dem ersten Augenblick seines B e ginnens höre der Mensch auf, reine Tierheit zu sein, um als animales Wesen singulärer Art ins Dasein zu treten. Die unvergleichliche Eigenart, durch die der Mensch sich von allen anderen Tieren unterscheide, bestehe „nicht b l o ß in dem sinnlichen Bewusstsein seines thierischen Lebens . . . , sondern in dem geistigen Bewusstsein von seiner animalen N a t u r " (68; bei N . teilweise gesperrt). I m geistigen Bewusstsein seiner animalen N a t u r weiß der Mensch auch seine animale N a t u r von der Tierheit kategorial unterschieden, und es ist mit jener Gewissheit, die dem Selbstbewusstsein des sich wissenden M e n schen unmittelbar eignet, gewiss, dass die Bestimmung des Menschen in seiner Vernunft inbegriffen ist, die sonach selbst als der Begriff der Bestimmung des Menschen zu gelten hat. D o c h lassen sich nach N i e t h a m m e r die Vernunft und der in ihr inbegriffene Begriff der Bestimmung des Menschen nicht rein an sich selbst fassen, da der rein an sich selbst gefasste Begriff vernünftiger Bestimmung des Menschen „ein durchaus U n b e s t i m m t e s " (69) sei und Bestimmtheit erst in Bezug auf die objektive Welt annehme. Anders als in ihrer Beziehung auf ein Objektives seien Vernunft und vernünftiges Wesen nicht zu begreifen, wie denn auch die Vernunftidee sich
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entleeren und ins N i c h t s auflösen müsste, wenn sie rein an sich selbst ohne jeden Wahrnehmungs- und Erfahrungsbezug begriffen werden sollte. Z u m bestimmten Bewusstsein seiner selbst und seiner Bestimmung k o m m t der Mensch nach N i e t h a m m e r nicht unter Absehung, sondern erst unter Bezug auf seine animale Natur, „und sonach kann", wie es heißt, „seine Bestimmung weder aus der Vernunft allein erkannt, n o c h durch Vernunft allein ausgeführt werden" (69 f). Was die Bemerkung betrifft, die menschliche Bestimmung könne nicht allein aus Vernunft erkannt werden, so ist ein naheliegendes Missverständnis nur dann zu vermeiden, wenn man sie im Kant'schen Sinne einer Kritik der theoretischen Vernunft in praktischer Absicht liest. N i e t h a m m e r bestreitet nicht, dass die Erkenntnis menschlicher Bestimmung vernunfterschlossen ist; doch weiß sich der Mensch, wenn er zur Vernunft k o m m t und die Vernunft ihm seine Bestimmung erschließt, nicht in reine Geistigkeit eingesetzt, „da er durch die Vernunft selbst an seine animale N a t u r und durch diese an die objective Welt gewiesen ist" (70). Einsicht in den Bestimmungsgrund und das Sinnziel seines Dasein gewinnt der Mensch nicht anders als durch Vernunft. A b e r die Vernunfterkenntnis menschlicher Bestimmung ist nicht von theoretischer Art bzw. nicht von Art einer Theorie, die als B e stimmung des Menschen reine Geistigkeit angibt. Z u r Erkenntnis seiner B e stimmung gelangt der Mensch durch praktische Vernunft. Sie erschließt ihm mit Gewissensgewissheit seine geistige Bestimmung, verweist ihn aber zugleich und in einem auf sein leibhaftes Dasein und das Dasein einer sinnlichen Welt, in der er seine geistige Bestimmung zu realisieren hat. D e r M e n s c h ist ein leibhaftes Vernunftwesen. Seine intelligible N a t u r bestimmt ihn nicht dazu, reiner Geist zu sein, sondern seine leibhafte Existenz und die sinnliche Welt, die ihn umgibt, der vernünftigen F o r m gemäß auszubilden, damit das Ideal, in dem sein Innerstes gründet, Auswirkungen zeitige und äußere Wirklichkeitsgestalt annehme. Idealität, die sich nicht als Realität zu explizieren vermag, ist unwirklich in sich selbst. Ideen bedürfen des Ausdrucks und der Darstellung in konkreter Gestalt, um von H i r n gespinsten und Trugbildern unterscheidbar zu sein. Dass menschliche Vernunft in ihrem intelligiblen Wesen ohne sinnliche Erscheinungsformen in Raum und Zeit nicht existieren kann, hat N i e t h a m m e r im J a h r der Veröffentlichung seines pädagogischen Hauptwerks in einer sprachphilosophischen Untersuchung „ U e b e r Pasigraphik und Ideographik" 1 mit dem H i n weis unterstrichen, dass die Sprache, näherhin die Muttersprache der Leib sei, dessen das D e n k e n bedürfe, nicht nur, um sich zu äußern, sondern auch, um seiner selbst überhaupt innewerden zu können.
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F . I . Niethammer, U e b e r Pasigraphik und Ideographik, Nürnberg 1808. Die nachfolgen-
den Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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Pasigraphik ist der Sammelbegriff für die zu Niethammers Zeiten, aber auch zuvor schon mehrfach unternommenen Versuche, eine allgemeine Zeichenschrift zu kreieren, die Begriffe und Gedanken unabhängig von jeder lautsprachlichen Ausdrucksgestalt so an sich selbst zu bezeichnen vermag, dass diese allen Menschen gleich welcher Sprachzugehörigkeit verständlich werden. Analog zu internationalen Verkehrszeichen oder zu einem Zahlensystem, das für jedermann ohne spezifische Sprachkenntnisse zu entziffern ist, soll eine Ideenschrift entwickelt werden, deren Ideogramm unmittelbar, ohne sprachenspezifische Vermittlung und daher ohne zusätzliche Ubersetzungsleistungen verständlich ist. Angestrebt wird, „ein allgemeines C o m municationsmittel zu erfinden, das alle Nationen der Erde zu wechselseitigem Verständniß führen soll" (6; bei N . teilweise gesperrt). U m auf gleiche Weise zu bezeichnen, was auf gleiche Weise gedacht wird, beabsichtigt die Pasigraphik ein universelles Denk- und Begriffszeichensystem zu entwikkeln, damit kosmopolitische Kommunikation ermöglicht werde. Was die Sprachschrift nicht nur nicht leiste, sondern buchstäblich verhindere, habe die zu entwerfende Gedankenschrift zu leisten, nämlich das Allgemeine des Begriffs, ohne es sprachlich zu besondern, auf schlechterdings verallgemeinerungsfähige Weise zu benennen, um so aller Sprachenverwirrung auf Erden ein Ende zu bereiten. Es ist nicht nötig, die weitverzweigten Überlegungen Niethammers zur Pasigraphik in alle ihre Verästelungen zu verfolgen und zu erörtern, was er über Hörzeichen und Sehzeichen, buchstäbliche Sprachschrift und formalisierte Zeichensysteme, über mimische Gebärden und die hohe Kunst des Gedankenlesens etc. ausführt. Es genügt, das Ergebnis, wonach Pasigraphik als Rückfall in die Hieroglyphik zu beurteilen sei, und seine Begründung anzugeben. Ein Geheimnis, „das bis jetzt noch keine Sprachphilosophie aufgedeckt hat" (28), liegt nach Niethammer in dem Ubergang verborgen, in dem das Denken begriffen ist, wenn es seine Gedanken sprachlich und gegebenenfalls schriftlich zum Ausdruck bringt. Der „Zusammenhang des Denkens und der Schemate, in denen es sich abdrückt und darstellt" (ebd.), ist kaum zu fassen und zu begreifen. Niethammer versucht dies auch gar nicht. Mit der Kant'schen Lehre vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, wie produktive Einbildungskraft sie ausformt, setzt er, ohne die komplexe Lehre näher zu entfalten, lediglich dieses voraus, „daß die Einbildungskraft, in jeder Bezeichnungsart des Denkens, durch feste Grundgesetze des Schema, (es sey akustisch, optisch, oder mimisch,) in welchem sie ihr Zeichen auszuprägen und den Gedanken darzustellen hat, gebunden ist" (32). Werde diese Bindung missachtet, müsse die Gedankenbezeichnung unausweichlich misslingen, wie das bei der Pasigraphik der Fall sei. Der pasigraphische Versuch, eine sprachlose Gedankenschrift auszubilden, verkenne „das Gesetz des Schema" (33), wonach optische Zeichen sprachliche Verständigung nicht ersetzen können, weil sie selbst der Deutung durch Spra-
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che bedürfen, u m verstanden und als Gedankenausdrücke wahrgenommen zu werden. Entsprechend lasse sich der Buchstabe als das Schreibzeichen für den Sprachlaut nicht prinzipiell durch sprachlautindifferente Zeichen verdrängen, wenn es zu gedanklicher Verständigung kommen soll. Während durch das Setzen des Buchstaben bzw. der Buchstabenreihen zunächst der Laut der Sprache und dann mittelbar der Gedanke erinnert werde, gebe der Anblick von Zeichen, die sich nicht in Sprache rückübersetzen lassen, kaum etwas zu denken. Eine sprachindifferente Gedankenschrift muss daher als ein Unding gelten. Vernünftiges Denken ist, wie Niethammer sagt, an Wortsprache als das Schema seines Eintritts in die Erscheinung wesentlich gebunden. Erst im Wort nimmt der Gedanke bestimmte Gestalt an. Sich realisierende Vernunft kann für die F o r m ihrer Erscheinung in der Zeit des Sprachmediums nicht entbehren; „es ist sonach das Sprachschema ihr so wesentlich und allgemein als das Denken selbst." (63) Zwar ist die Sprache als akustisches Phänomen nicht das einzige Schema der Vernunft, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen. N e b e n dem G e h ö r bieten unter den sonstigen Sinnen zumindest Gesicht und Gefühl Schemata an, in denen sich vernünftiges Denken darstellen lässt. D o c h ist das vernünftige Ausdrucks- und Rezeptionspotenzial von Gesicht und Gefühl weitaus geringer als dasjenige von Stimme und Gehör, welche über ein H ö c h s t m a ß an Differenzierungsvermögen verfügen. Demnach ist gemäß Niethammers Urteil die Sprache das wichtigste und unentbehrlichste Mittel der Mitteilung von Gedanken: Laut und Gedanke gehören der N a t u r des Menschen gemäß zusammen wie Leib und Seele, die zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen sind, auch wenn ihre Einigkeit ebenso geheimnisvoll und wundersam ist wie das Ereignis unmittelbaren gedanklichen Verstehens beim H ö r e n von Worten oder beim Entschlüsseln von Schriftzeichen. Wie die vernünftige Seele durch Vermittlung des Leibs sich in der Welt zeitigt und Kulturräume schafft, die der N a tur des Menschen gemäß sind, so expliziert sich das Denken in der Sprache, ohne deren Vermittlung es ebenso unproduktiv wäre wie die pasigraphische „Kunst, auf das Papier zu denken" (72; bei N . gesperrt). Von dieser Pseudokunst Abschied zu nehmen, bedeutet indes keinen Verzicht auf das Bestreben, die Sprache über sinnliche Fixierungen (Privatsprache; Volkssprache etc.) hinauszuführen und durch Ausbildung einer Universalgrammatik Ubersetzbarkeit und potenzielle Allgemeinverständlichkeit zu gewährleisten. Dieses Bestreben ist nach Niethammer vielmehr für die Vernunft charakteristisch, die beständig darauf aus ist, das Sprachmedium ihren eigenen Gesetzen gemäß durchzubilden und zu formen.
29. Zurück zu Storr?
Mit der Schrift zum Streit von Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts seiner Zeit von 1808 und dem „Allgemeinen Normativ" aus demselben Jahr leistete Niethammer seinen persönlichen Beitrag zum bayerischen Schulstreit, der damals bereits im Gange war, aber an Heftigkeit noch zunehmen sollte. Dass er sogar Gefahren für Leib und Leben der Beteiligten mit sich bringen konnte, zeigt das - zumindest indirekt durch den Fanatismus der Gegenpartei motivierte - Attentat auf Friedrich Thiersch am 28. Februar 1811. Den streitbaren N e o h u m a nisten traf „der Dolchstoß eines Mörders, als er aus einer Abendgesellschaft von Jacobi zurückkehrte und die Türe zum Schulgebäude geöffnet hatte, mit solcher Gewalt, daß er in das Innere des Hauses geworfen wurde. N u r durch einen glücklichen Zufall entging Thiersch dem Verderben. Die Waffe hatte die Hirnschale nur gestreift und war schräg in die Halsmuskeln eingedrungen." 1 Durch Vermittlung Niethammers war Thiersch 1809 an das 250 Jahre zuvor von Herzog Albrecht V. von Bayern gegründete Gymnasium Monacense berufen worden, das seit 1824 Altes und seit 1849 nach einem seiner wichtigsten Gönner (Wilhelm V.) Wilhelmsgymnasium heißt. Seit 1877 hat es seinen Sitz in dem Gebäude an der Thierschstraße nahe dem Maximiliansforum. Nach Aufhebung des Jesuitenordens im Jahre 1773, dem die Führung der Schule bis dahin anvertraut war, ging die Lehranstalt in staatliche Verwaltung über, und es begann ein beinahe 60 Jahre währender Kampf um Struktur und Gestaltung des Erziehungswesens. Im Jahr des Dienstantritts von Thiersch - das Gymnasium war mittlerweile aus dem Renaissancebau der später sog. Alten Akademie an der Neuhauser Straße in das ehemalige Karmeliterkloster verlegt worden - war der Wismayrsche Lehrplan von 1804, der die Einheitsschule mit dezidiert realistisch ausgerichtetem Unterbau und starker Betonung des Sachunterrichts eingeführt hatte, bereits durch das Niethammersche Normativ ersetzt. Der Plan der Einheitsschule wurde aufgegeben; über einer Primärstufe erhob sich ein Doppelbau mit Progymnasiums und Gymnasium auf der einen und Realschule und Realinstitut auf der anderen Seite. Der Schulkampf war damit aber noch längst nicht beendet, wie u.a. die Auseinandersetzungen zwischen Thiersch
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H . Loewe, Friedrich Thiersch. Ein Humanistenleben im Rahmen der Geistesgeschichte seiner Zeit. Die Zeit des Reifens, München/Berlin 1925, 320.
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und seinem Schulleiter Kajetan von Weiller bezeugen, der als Anhänger der Aufklärungspädagogik im Sinne Wismayrs einer der erbittertsten Gegner des Niethammer'schen Normativs war. Erheblich kompliziert wurde die Angelegenheit dadurch, dass Gegensätze zwischen Alteingesessenen und zugereisten „Nordlichtern" den pädagogischen Richtungsstreit vielfach überlagerten. Es kam zu persönlichen Verunglimpfungen, und die Kontroverse nahm gelegentlich gefährliche Züge an, wie das Thierschattentat belegt. Auch Niethammer hatte mit persönlichen Anfeindungen zu leben und zwar nicht nur während des Schulstreits, sondern bis ins hohe Alter hinein, wofür ein besonders eklatantes Beispiel gegeben werden soll. Im Jahre 1840 erschien ein im Selbstverlag gedrucktes Pamphlet mit dem eigentümlichen Titel: „Sendschreiben des Professor Dr. Oertel in Ansbach an seinen Lebensverkümmerer, den Herrn Oberkonsistorial-Direktor Dr. von Niethammer in München. Mit Bezug auf den leib- und seelverderblichen Mysticismus im protestantischen Bayern." 2 In dieser Schmähschrift werden Niethammer nicht nur zahllose persönliche und amtliche Verfehlungen nachgesagt; er wird zugleich als charakterloser Wechselbalg verunglimpft, der sich im Laufe seines Lebens von einem ausgemachten Atheisten zum Hauptrepräsentanten eines „Mysticismus, Irrationalismus und Supernaturalismus" (11) gewandelt habe, dessen Unvernunftsglaube seit geraumer Zeit im bayerischen Protestantismus zum Schaden aller Vernunftgläubigen sein ebenso hirn- wie herzloses Unwesen treibe. „Denken Sie doch einmal an Sich Selbst zurück - wer Sie einst waren - und wer Sie jetzt sind!", heißt es in direkter Anrede an den Gescholtenen. „Sie kamen vor 50 Jahren - wie Nicolai (Reisen XI.) erzählt, als ein junger, ausgewanderter Tübinger Stiftsmagister im Mantel und Kragen - aus dem frommen Württemberg nach dem freien Reformationslande Sachsen - wurden da Professor in Jena - traten da mit dem überfreien Philosophen Fichte gravitätisch auf - schrieben mit ihm ein Philosophisches Mode-Journal - und wurden durch ihn und durch sein Ich und Nichtich ein Atheist und als solcher mit ihm gerichtlich angeklagt! Sie kamen dann durch feine Wendungen und Windungen noch als Atheist nach Bayern herein - wurden da Kons.Rath in Würzburg, hernach Kreisschulrath in Bamberg, und zuletzt Centralschulrath in München, wo Sie als allmächtiger Schulreformator ohne eigene praktische Schulerfahrung, aber nicht ohne gravitätische Inhumanität viele Wirren machten, und viele würdige Lehrer kränkten." (7f) Der Pamphletist fährt fort: „Und jetzt sind Sie - seit dem Tode des liberalen Theologen Hänlein 1829 - Oberkonsistorial-Direktor und nebenbei Archimystiker in München, wo Sie mit Ihren beiden Herren Kollegen von Roth und Fuchs - a) gegen den Geist des Protestantismus, welcher im freien,
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Ansbach 1840. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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von allem menschlichen Ansehen unabhängigen Denken, Forschen und Prüfen in Glaubenssachen ... besteht - und b) gegen den Geist des Lutheranismus, welcher in nicht stehen bleibender, sondern in fortschreitender Kirchenreform . . . besteht - bei der vor 25 Jahren aufgekommenen, und jezt vorherrschenden Mystik oder Geheimglauberei, d.h. religiösen Hirnentzündung und Nervenschwäche (Delirium mysticum) a) den religiösen Blindglauben durch die Lehrer und Prediger unter dem Christenvolke zu verbreiten suchen, um dasselbe noch auf 1800 J . hinaus gegen Pauli Sinn (Eph. 4,13.14.) in religiöser Unmündigkeit zu erhalten, und es so besser leiten und benützen zu können, und dazu b) Luthers nunmehr veraltete und unverständliche Bibel-U eher Setzung und dessen für ,die einfältigen Pfarrherren' geschriebenen Katechismus, ohne alle vernünftige Verbesserung und Erklärung, mit starrgläubiger und geisttödtender Buchstäblichkeit beizubehalten befehlen, um gegen Pauli Sinn (2 Kor. 3,6.7. Kol. 2,8.20.) das vergangene Alte, die armselige ABC-Religion, wieder in Gang zu bringen, und die Bigotterie, Dummheit und Priesterherrschaft des Mittelalters wieder herbeizuführen; c) Und alle jene armseligen Begriffe (Glaube, Gesetz, Werke, Erbsünde, Gotteszorn, Versöhnung, Buße, Gnade, Rechtfertigung etc. etc.), welche blos auf die damaligen neubekehrten Juden und Heiden im 1. Jahrh. sich bezogen, noch immerfort bis auf unsere Zeiten heraufschleppen, und auf unsere gebornen und erzogenen, getauften und konfirmirten Christen im 19. Jahrh. anwenden, und sie damit erst zu Juden und Heiden, dann endlich zu förmlichen Christen machen: wodurch aber eigentlich - d) theils starrgläubige, unverständige, unduldsame Eiferer und Verketzerer, theils Heuchler und Scheinheilige, Frömmler und Schwärmer, Betrüger und Betrogene, Ueberspannte und Wahnsinnige, Ab- und Rückfällige etc. etc. herangebildet werden." (8 f) Die zitierten Passagen stammen aus der Schmähschrift eines gekränkten und verbitterten Niethammerfeindes. Ein nüchternes und gerechtes Urteil wird man von einem Machwerk dieser Art nicht erwarten dürfen. Dennoch steht auch der unvoreingenommene Interpret vor der Frage, wie er sich den Weg Niethammers von den frühen Jenaer Jahren zu seiner späteren Zeit in München zurechtzulegen hat, in welcher der einstmals der absichtlichen Verbreitung atheistischen Gedankenguts Bezichtigte immer mehr zu einem Repräsentanten jener Orthodoxie geworden zu sein scheint, von der er sich einst mit seinem Weggang aus Tübingen verabschiedet hatte. Kehrte Niethammer im fortgeschrittenen Alter zum Supranaturalismus Storrs zurück, den hinter sich zu lassen die Absicht des jugendlichen Kantianers war? Die literarische Basis einer möglichen Beantwortung dieser Frage ist denkbar schmal. Aus dem publizierten OEuvre bieten sich im Grunde nur zwei Texte an, deren Originalität allein durch den Anlass ihres Entstehens in hohem Maße beschränkt ist. Bei dem einen handelt es sich um die Vorrede zu einem Sammelband mit Schriften Martin Luthers, bei dem anderen um das
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Präskript zu Niethammers Bearbeitung einer Auswahl von Lutherpredigten über die Evangelien aller Sonn- und Festtage. Die beiden Schriften sind durch einen erheblichen Zeitraum voneinander getrennt. Die eine wurde im Juli 1816 vollendet und erschien im Jahr des dreihundertjährigen Reformationsjubiläums 1817, die zweite ist im Augustanajahr 1830 publiziert worden. Erwähnt werden könnte unter den im Druck vorliegenden einschlägigen Schriften Niethammers allenfalls noch die Eröffnungsrede bei der Generalsynode in Ansbach 1823 3 , auch wenn es sich dabei mehr noch als in den beiden anderen Fällen um eine Gelegenheitsschrift aus aktuellem Anlass handelt. Immerhin vermittelt sie einen bemerkenswerten Eindruck von der Art und Weise, in der Niethammer geistliche Probleme erörtert und zum Entscheid gebracht sehen wollte. Aus diesem Grunde sei sie auszugsweise zur Kenntnis gebracht. Gegen die Forderung derer, die Heterodoxie und Glaubensabweichung in der Kirche mit der „Waffe gesezlicher Strafmittel oder irdischer Gewalt" (233) bekämpft sehen möchten, macht Niethammer geltend, dass die rechtlich geordnete Macht, wider Willen zu zwingen, dem Staat vorbehalten sei, wohingegen die Kirche über eine solche Zwangsgewalt gemäß ihrer Bestimmung nicht verfüge. „Die einzige Waffe, die die Kirche kennt, ist die Waffe des Geistes, und diese soll auch bei uns sicher nicht versäumt werden." (Ebd.) U m mit den Waffen des Geistes gerüstet zu sein, müsse man zuallererst fühlen und wissen, was der Grund des Glaubens und der Kirche sei. Dazu seien Unterricht und Erziehung notwendig sowie Predigten, die nicht „den Verstand finster und das Herz kalt lassen" (234). Sosehr sich Niethammer dagegen wendet, staatliche Rechtsmittel bei der Regelung innerer Angelegenheiten der Kirche in Anwendung zu bringen, weil diese nur geistlich, „sine vi, sed verbo" zu regeln seien, so klar ist doch andererseits die Absage, die er, der Förderer der Synode, dem „Demokratismus der Kirchenverfassung" (235) erteilt. Zwar seien die Prinzipien der Religions- und Gewissensfreiheit sowie der Nichtidentifikation von Staat und Kirche obligat. Wer aber der evangelischen Kirche angehören wolle, wozu ihn niemand zwinge, der habe die Grundsätze ihrer Verfassung und Lehre zu achten. Dies gelte nicht nur, aber in besonderer Weise für Amtsträger. Die im Namen protestantischer Freiheit erhobene Forderung, „daß der protestantische Geistliche völlig ungebunden sey, seiner Gemeinde als Evangelium vorzutragen, was er als solches nach seiner Ansicht gelten lassen wolle, und dagegen, was er nicht als solches anerkenne, zu verwerfen, und nach Gefallen wohl auch öffentlich zu widerlegen" (ebd.), weist Niethammer 3 F.I. N i e t h a m m e r , E r ö f f n u n g s r e d e bei der G e n e r a l - S y n o d e zu A n s b a c h , in: O e f f e n t l i c h e N a c h r i c h t v o n der ersten Versammlung der G e n e r a l s y n o d e n der protestantischen Kirche in Baiern disseits des Rheins im J a h r 1823, Sulzbach 1824, 2 3 1 - 2 3 8 . D i e nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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ebenso zurück wie das Ansinnen, „daß jedes Mitglied der protestantischen Gemeinde nicht nur innerlich in seinem Glauben und Gewissen, sondern auch äußerlich in seinem Leben und Wandel, völlig ungebunden und von allen Verhältnissen und Forderungen der Kirche gänzlich unabhängig seyn müsse" (ebd.). Kirchliche Bindung schließe das Insistieren auf solipsistische Unabhängigkeit für die Kirchenmitglieder im Allgemeinen und für die Lehrer der Kirche im Besonderen aus. Namentlich letztere müssten sich eine Beschränkung gefallen lassen, „aber nicht der Freiheit des eigenen Forschens und Prüfens, welche die Seele wahrer Ueberzeugung ist, wohl aber des Mißbrauchs gänzlich willkürlicher Behandlung des Evangeliums, welche die Auflösung der Kirche und den Tod des Christenthums herbeiführt" (236). Niethammer verhehlt sich die Schwierigkeiten nicht, die einer Realisierung seiner Grundsätze entgegenstehen. D o c h schätzt er die Lage des Protestantismus andererseits nicht als so verzweifelt ein, wie manche sie beurteilen. Sähe man von den Übertreibungen sowohl der Kleinmütigen als auch der Überheblichen ab, dann werde der Blick frei für die innere Mitte, in welcher die Kirche ihr Maß finde und durch welche sie davor bewahrt werde, im Parteiengezänk zu vergehen. Diese innere Mitte der Kirche ist Christus. Wo sie sich auf ihn konzentriert, werden Differenzen im kirchlichen Rahmen nach Niethammer nicht zwangsläufig Zwiespalt verursachen und sich nicht zu äußersten Gegensätzen ausbilden, die Einheit zersprengen. Die Anerkennung des in Christus gegebenen Maßes der Mitte bewirke Mäßigung sowohl auf Seiten derer, welche vergangene Zeiten herbeisehnten und die Kirche zur Lehrmeisterin Unmündiger erklären wollten, als auch auf Seiten derer, die unter Berufung auf ihre Mündigkeit meinten, kirchlicher Fürsorge entwachsen zu sein und sie dauerhaft entbehren zu können. Was die Rolle der Kirche im öffentlichen Leben betreffe, so habe diese zwar kein M o n o p o l auf Erziehung zur Sittlichkeit, sei für deren Ausbildung und damit für den Bestand und Erhalt eines moralischen Gemeinwesens aber nach wie vor unentbehrlich. Ihr inneres Leben hinwiederum müsse ganz und gar von der Religion Christi durchwirkt sein, an der Sitte und Moral sich erbauen, um zur Realisierung ihres selbst fähig zu sein. „Wer in die Versammlungen der christlichen Gemeinde k o m m t , der sucht dort Christum und sein Wort, und hat ein Recht, von uns zu fordern, daß er finde, was er sucht. D e n andern, denen dieser Gottesdienst nicht zusagt, werden wir nicht Rede stehen; wir werden ihnen nicht wehren sich entfernt zu halten, und ihre Erbauung anderswo zu suchen. Ein Recht, sich zu beklagen, werden sie gegen uns nicht geltend machen." (238) Auch in der Vorrede der unter dem Titel „Die Weisheit D . Martin Luther's" 4 gesammelten Schriften des Reformators setzt sich Niethammer
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Die Weisheit D. Martin Luther's. Zweite Auflage. Erster Theil, Nürnberg 1817. Zweiter
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vorzugsweise mit Erscheinungen auseinander, die den Zeitgeist im Allgemeinen und den Geist des zeitgenössischen Protestantismus im Besonderen betreffen. In ersterer Hinsicht wird Luther entschieden gegen den Vorwurf verteidigt, sein Durchbrechen der hierarchischen Gestalt und Gewalt der Kirche habe für die Religion Unheil, seine Befreiung des Geistes von den Fesseln einer sich untrüglich nennenden Autorität Gefahr für Kirche und Staat, seine Reinigung der kirchlichen Verfassung Zwietracht in deutschen Landen und seine Verbesserung der Kirchengebräuche nur prosaische Geist- und Begeisterungslosigkeit erzeugt. Dieser Vorhalt wird unter Verweis auf Luthers Schrifttum als völlig unbegründet und als reaktionär zurückgewiesen. Was hinwiederum den Geist des Protestantismus anbelangt, so wird zunächst in terminologischer Hinsicht geltend gemacht, dass der Protestantismusbegriff nur sehr bedingt geeignet sei, das Wesen der evangelischen Kirche im Sinne Luthers zu bestimmen, weil er primär auf Kritik und Verneinung abgestellt sei. So habe der Eindruck entstehen können, als wollte die Reformation nicht nur gegen Menschensatzungen, sondern gegen das Ansehen der göttlichen Offenbarung selbst protestieren, um sich des Weiteren den „ungebundenen Einfällen des trüglichen endlichen Verstandes" (VI) hinzugeben mit der Folge, nicht nur das Christentum als eine positive Religion, sondern zugleich die religio naturalis in eine bloße Verneinung aufzulösen. Auf diesem Eindruck gründe die Meinung, die evangelische Kirche sei im Unterschied zur katholischen keine Kirche im eigentlichen Sinne, die als solche gesetzliche Anerkennung verdiene, sondern lediglich ein Verein, dem zusammen mit Rationalisten und Naturalisten alle möglichen Irrgläubige, ja selbst Atheisten ohne Weiteres zuzurechnen seien. Wäre diese Meinung nur von außen herangetragen, könnte man nach Niethammer getrost zur Tagesordnung übergehen. Indes sieht er sie teilweise auch bei Gliedern der evangelischen Kirche vertreten, „die, den Protestantismus in seiner Entgegensetzung gegen den hierarchischen Glaubens- und Gewissenszwang nicht gründlich und rein erkennend, in ihm bloß auf die Freiheit des Glaubens und der Ueberzeugung sehen, und darob vergessen, daß er in jener Entgegensetzung das Evangelium nicht bloß als seinen Stützpunkt sondern auch als seine Begränzung betrachte" (Vllf). Ihnen werden die Schriften Luthers mit Nachdruck zur besseren Belehrung empfohlen, „welches die Freiheit des Glaubens und die Selbstständigkeit der Ueberzeugung sey, die in der evangelischen Kirche allein als wahrer Pro-
Theil, N ü r n b e r g 1818. Die Vorrede N i e t h a m m e r s findet sich im Ersten Band III-XXII. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. D e r 1816/17 erschienene Sammelband wurde von Friedrich Roth initiiert u n d herausgegeben und von N i e t h a m m e r lediglich mit einem Vorwort versehen. Dass er die aufgenommenen Luthertexte gelesen hat, wird man annehmen dürfen, an ihrer Auswahl war er hingegen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht beteiligt (vgl. G. Lindner, Friedrich Immanuel N i e t h a m m e r als Christ und Theologe, 262 f).
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testantismus anerkannt wird" (VIII). Dieser finde im Evangelium und im Evangelium allein sowohl seinen Grund als auch seine Grenze. Das Evangelium, auf welchem die evangelische Kirche basiert, ist nach Niethammer eine Frohbotschaft, die ihrem Wesen gemäß öffentlich und für jedermann bestimmt ist. Es sei daher ein unentschuldbarer Irrtum und dem Evangelium zuwider, wenn sich Lehrer der Kirche und der christlichen Religion in Wort und Schrift nur „auf den vornehmen Stand der sogenannten Gebildeten (kaprizieren), deren religiöse Bedürfnisse von ganz anderer Art und weit höher seyn sollen, als die des großen Haufens der Gemeinen" (Xf). Luthers Predigt biete ein Exempel von ganz anderer Art. Seine Reden und Schriften habe er für jedermann bestimmt, darin ein echtes Beispiel evangelischer Volksbildung gebend, die mit klerikaler Bevormundung ebenso wenig verträglich sei wie mit der dünkelhaften Tyrannei der sog. Gebildeten, die in Wahrheit auf Einbildung beruhe. Der Reformator habe daher auch dem einfachen und unverbildeten religiösen Gefühl die gebotene Achtung nicht versagt, wohingegen das Ubergewicht, welches den angeblich Gebildeten heutigen Tages eingeräumt werde, zu einer verstandesmäßigen Zergliederung der Religion geführt habe, die bestenfalls der Wissensvermehrung diene, nicht aber zu Herzen gehe und Herzensbildung zu erzeugen vermöge. Es sei daher an der Zeit, dass der Verstand zur Vernunft gebracht werde, in der Gefühl und Reflexion übereinkommen und nicht länger Gegensätze bilden. Im Unterschied zu gefühlloser Verständigkeit zeichnet sich vernünftige Religion dadurch aus, sowohl das Denken als auch das Gemüt zufriedenzustellen. Niethammer lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die evangelische Kirche seiner Zeit im Wesentlichen von Seiten eines gefühlskalten Rationalismus gefährdet sieht, der das Christentum sowohl seiner Form als auch seines Inhalts zu berauben drohe. „Dahin ist es gekommen, daß man oft in unserm Gottesdienst vergebens Christenthum sucht, daß man oft statt christlicher Predigt nur etwas wie Freimaurer-Reden hört, in denen nichts hervorsticht als das Bestreben, kein christliches Wort verlauten zu lassen." (XV) Der Preisgabe der Inhalte korrespondiere eine Vernachlässigung der gottesdienstlichen Form. Statt die Muttersprache des Glaubens zu pflegen, würden gekünstelte und selbsterdichtete Formen in die Liturgie eingeführt und die agendarische Vorschrift durch willkürliche Eingebungen ersetzt. Dem hält Niethammer entgegen, dass der Grundton aller kirchlichen Äußerungen durch die Schrift vorgegeben werde, an welche in Form und Inhalt sich zu binden kein Zeichen mangelnder, sondern ein Zeichen echter evangelischer Freiheit sei. Namentlich Amtsträger seien gehalten, ernsthaft zu bedenken, „daß die Kirche nicht ein Schauspielhaus, und der Altar nicht eine Bühne sey" ( X X I ) . Sollte die 1817 veröffentlichte Sammlung von Luthertexten nach Maßgabe der Niethammer'schen Vorrede vor allem dazu dienen, dem Protestan-
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tismus mittels des Gedächtnis des Reformators seine evangelische Bestimmung in Erinnerung zu bringen, so verfolgt die dreizehn Jahre später erschienene Bearbeitung von Predigten Luthers 5 unter veränderten historischen Bedingungen denselben Zweck. Der erste Teil des Sammelbandes enthält Predigten vom ersten Adventssonntag bis zum Tag der Himmelfahrt Christi, der zweite Teil Predigten vom Sonntag nach Christi Himmelfahrt bis zum 26. Sonntag nach Trinitatis. In seiner auf den 30. September 1829 datierten Vorrede sieht Niethammer sich veranlasst, falschen Erwartungen entgegenzutreten, die durch die Ankündigung eines zum Gebrauch für die Zeitgenossen bearbeiteten Buches von Predigten Luthers hervorgerufen werden könnten. Die Klarstellungen betreffen vor allem die Art und Weise seiner Textbearbeitungsmethode. Legitim und angebracht sei es, aus einer für Zeitgenossen berechneten Bearbeitung all dasjenige auszuscheiden, was der Polemik des 16. Jahrhunderts und dem vollendeten Kampf gegen damalige Irrtümer angehöre, denen in der eigenen Zeit keine Bedeutung mehr zukomme. Strikt zurückzuweisen sei indes die Forderung, mit dem historisch Uberholten zugleich alles zu entfernen, was der Zeitgeist als dogmatisch anstößig empfinde. Den heftigsten Anstoß nimmt der Geist der Zeit nach Urteil der Vorrede in der Regel an den lutherischen Lehren von Sünde und Verderben, Erlösung und Rechtfertigung sowie an der für den Reformator grundlegenden Auffassung, dass „die Hoffnung der Seligkeit unter Verwerfung alles eigenen Verdienstes der Werke einzig auf das Verdienst Christi" (VI) gründe. Niethammer ist nicht bereit, diese Lehrauffassungen Luthers „Vorliebe . . . für das Augustinische Lehrsystem" (IV) und der unvollkommenen Dogmatik seiner Zeit zuzurechnen, um sie als aktuell bedeutungslos preiszugeben. Was angeblich für die erweiterte und reinere Religionserkenntnis der Moderne unangemessen sei und im Falle der Beibehaltung den Anschein einer beabsichtigten Rückkehr in finstere mittelalterliche Gefilde erwecke, könne den Bedürfnissen der Zeit durchaus hilfreich sein; gebe es doch noch eine andere Weise der Zeitdienlichkeit als die Anbequemung an den herrschenden Durchschnittsgeschmack, nämlich „die Entgegensetzung" (VII), wie Niethammer sagt. Ohne dies weiter auszuführen, begnügt er sich mit dem
5 Luthers Predigten über die Evangelien auf alle Sonn- und Fest-Tage. F ü r unsre Zeit bearbeitet von Dr. Friedrich Immanuel Niethammer. Erster und zweiter Theil, Nürnberg 1830. Die Vorrede Niethammers findet sich im ersten Teil I - V I I I . Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. „In diesem Predigtband hat Niethammer 76 Predigten Luthers zusammengestellt, die er zum großen Teil aus dem Evangelienteil der Kirchenpostille von 1520 auswählte, die Luther später eines seiner besten Bücher nannte. Einige übernahm er aus der Hauspostille. Dabei benutzte er die 1. Auflage der Walch'schen Lutherausgabe, was sich bis in die Einzelheiten der Rechtschreibung hinein belegen läßt." (G. Lindner, a . a . O . , 279. Zu Niethammers Auswahlprinzipien und zu den Grundsätzen seiner Textgestaltung vgl. a . a . O . , 279-283.)
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abschließenden Hinweis, dass Luthers Predigten durch ihren erleuchtenden, erwärmenden und stärkenden Gehalt den Geist über alles Gemeine und Irdische erheben und ihn in der Gewissheit befestigen, „Gott (werde) seine Sache hinausführen . . . , auch da, wo die Umstände alles verloren, und keinen Ausweg zeigen" (ebd.). In der Herausgabe der beiden Lutherbücher hat man eine Wiederaufnahme des alten, unausgeführten Planes der Erarbeitung eines Volks- und Hausbuches deutscher Dichtung erblickt, für den Niethammer 1808 keinen Geringeren als Goethe interessieren konnte. Die Wiederaufnahme des ursprünglichen Plans sei indes, wie seine Durchführung belege, unter erheblich veränderten Voraussetzungen und zu einer Zeit erfolgt, „als das Schiff seiner (sc. Niethammers) Theologie aus den Flutungen der Klassik im Hafen der lutherisch bestimmten Erweckungsbewegung vor Anker gegangen war" 6 . Zeichne sich der Ansatz einer theologischen Wandlung bereits im Jahr der dritten Säkularfeier der Reformation ab 7 , so seien die Jahre nach 1817 durch eine klare und eindeutige Hinwendung zu einem „orthodoxen Luthertum" 8 bestimmt. Im Endeffekt sei Niethammer, wie er in einem (bereits zitierten) Schreiben an Friedrich Jacobs in Gotha vom 30. Januar 1830 selbst bekundet habe, zum Standpunkt der Tübinger Schule Storrs zurückgekehrt. 9 An der Richtigkeit dieser Selbsteinschätzung Niethammers zu zweifeln, scheint wenig aussichtsreich zu sein, zumal sich in den Vorreden seiner Lutherpredigten ohne weiteres Formulierungen finden lassen, in denen „sich Storr wiedererkannt" 1 0 hätte. Dennoch ist zu prüfen, inwiefern bzw. unter welchen Vermittlungsbedingungen Niethammer „zu Storrs Lehre zurückgekommen" 1 1 ist. Denn von einer unmittelbaren Affirmation der Storr'schen Position ist in den ohnehin ganz wenigen Texten, die in den drei letzten Lebensjahren publiziert wurden, nichts zu finden. Hatte Niethammer die Zeit seines pädagogischen Wirkens, in der er die Gestaltung des bayerischen Schulwesens nicht unerheblich beeinflusste, noch Anlass und Gelegenheit zu einem umfangreichen theoretischen Werk geboten, so wurde er später fast ausnahmslos von kirchenpraktischen Aufgaben in Anspruch genommen. Eine philosopisch-theologische Schrift, die auch nur annähernd mit den Jenaer Produktionen vergleichbar wäre, liegt nicht vor.
' H . Gürsching, Friedrich Immanuel Niethammer und das bayerische Generalkonsistorium 1808, in: a . a . O . , 168. 7 8
Vgl. G . Lindner, a . a . O . , 2 5 1 - 2 6 8 . D . H e n r i c h , a . a . O . II, 990.
' Vgl. G . Lindner, a. a. O . , 277. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den a. a. O . , 292 zitierten Niethammerbrief vom 29.4.1832. 10 D . Henrich, a . a . O . II, 1060. " A . a . O . II, 1059.
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O b w o h l ihm 1808 zu seiner Bestürzung die erwartete Ernennung zum ersten protestantischen Rat, als der er bereits öffentlich bezeichnet worden war, versagt blieb, weil Heinrich Karl Alexander Haenlein statt seiner bestellt wurde, und obwohl auch späterhin sein kirchenhierarchischer Rang nachgeordnet war 1 2 , hat Niethammer doch im Verlauf seiner Münchener Zeit immer mehr in kirchenpraktischer Arbeit seine Erfüllung gefunden und seine theologischen Begabungen und Fähigkeiten fast ausnahmslos in deren Dienst gestellt. 1 3 Allein daraus eine Abwendung von seinen in Jena gewonnenen Grundüberzeugungen zu folgern, scheint verfehlt. Gegen diesen Schluss spricht u.a. die Tatsache, dass die gesellschaftlichen und brieflichen Verbindungen der Münchener Jahrzehnte überwiegend durch Freunde und Bekannte aus der Zeit in Jena bestimmt waren. „Zu den Männern der Erweckungsbewegung und des beginnenden Konfessionalismus hatte er kaum Beziehung." 1 4 Selbst wenn er einen Mann wie Friedrich August G o t t treu Tholuck für einen Lehrstuhl der Erlanger theologischen Fakultät vorschlagen konnte, zu deren Mitgliedern er im Übrigen kaum persönliche Kontakte hatte, und obgleich er die Personalpolitik des streng konfessionell-orthodoxen Friedrich Roth unterstützte, der die Lutherausgabe von 1816/17 veranlasst hatte und von 1828-1848 an der Spitze des Oberkonsistoriums stand, so darf doch nicht übersehen werden, dass er jedwedem erweckten Mystizismus, wie er es nannte, abhold war und den reaktionären Tendenzen der theologischen und politischen Restaurationsbewegung zeitlebens kritisch gegenüberstand. Nicht zuletzt seine Haltung im sog. Knie-
12 1817 erhielt Niethammer die Bestätigung des Titels Oberkonsistorialrat, im Dezember des darauffolgenden Jahres wurde er im Zuge kirchlicher Umorganisation zum zweiten Oberkonsistorialrat ernannt. Oberkonsistorialpräsident wurde Johann Carl August Freiherr von Seckendorf, erster Oberkonsistorialrat Haenlein, dem bereits 1808 der Vorzug gegenüber Niethammer gegeben worden war. Zum ersten geistlichen Oberkonsistorialrat wurde Niethammer erst im Sommer des Jahres 1829 befördert. „1845 trat er unter Ernennung zum Geheimen Rath in den Ruhestand." ( A D B 23 [1886], 691) 13 „Niethammer war in den fast 40 Jahren, die er als nebenamtlicher und hauptamtlicher Oberkonsistorialrat wirkte, vor allem Verwaltungsbeamter." (G. Lindner, a.a.O., 213) Arbeitsgebiete, in denen er sich besonders engagierte, waren etwa die Einführung von Kirchenvorständen bzw. Presbyterien, die Schaffung einer neuen Agende, die Einführung eines katechetischen Lehrbuches sowie die Erstellung einer Ordnung für die landeskirchlichen Theologenprüfungen, an denen er jahrzehntelang mitwirkte. Große Verdienste hat er sich im Übrigen um das Synodalwesen erworben (vgl. a.a.O., 215ff). Auch sein Engagement für den Erhalt theologischer Lehr- und Forschungseinrichtungen an den Universitäten in Erlangen und Altdorf ist zu erwähnen. Im Falle der Erlanger Fakultät hatte er Erfolg, wohingegen er die Aufhebung der Universität Altdorf, an die er selbst sich beworben hatte, nicht verhindern konnte. Statt eine kirchliche Hochschule in Bayern einzurichten, wollte Niethammer die künftigen Geistlichen der evangelischen Kirche lieber an auswärtigen Universitäten studieren lassen. Eine Auflösung des Zusammenhangs von Theologie und Universität, den er für beide Seiten für konstitutiv hielt, musste nach seinem Urteil unter allen Umständen verhindert werden. 14 G . Lindner, a.a.O., 210.
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beugestreit, der 1838 durch eine Kriegsministerialordre König Ludwigs I. ausgelöst worden war, kann als Beleg hierfür angeführt werden. N i e t h a m mers Kompromisslosigkeit in der Sache und seine entschiedene Weigerung, dem Befehl des katholischen Königs protestantischerseits Folge zu leisten, ist weniger Indiz für seine konfessionalistische Denkungsart, sondern ein Zeichen seines Eintretens für die Prinzipien der Religions- und Gewissensfreiheit sowie der Nichtidentifikation von Staat und Kirche, denen er sich seit Tübinger und J e n a e r Zeiten verpflichtet wusste. Insgesamt darf, was die theologische Entwicklung Niethammers und seine Stellung zum christlichen Glauben in den letzten drei Lebensjahrzehnten, also in der Zeit von 1808 bis 1848 anbelangt, die Schwierigkeit nicht unterschätzt werden, die durch die dürftige Quellenlage gegeben ist. N i e t hammer hat in diesen langen Jahren kaum noch Schriften publiziert, und auch die damaligen Briefe ergeben, soweit sie erhalten sind, nur ein sehr lückenhaftes Bild. D e r Eindruck, den die literarischen Zeugnisse hinterlassen, ist nicht eindeutig. Zwar finden sich durchaus zahlreiche Hinweise auf eine positiv-kirchliche, dem konfessionellen Luthertum zugeneigte Einstellung. Auch die Erweckungsbewegung ließ N i e t h a m m e r nicht gänzlich unbeeindruckt. D o c h ist das Verhältnis zu den Erweckten, sofern sie als T h e o logen gelten wollten, überwiegend distanziert, und eine Reserve, ja ein Misstrauen gegenüber der ganzen Bewegung ist bei genauerem Zusehen nicht zu verkennen. Von einem wie auch immer gearteten Bekehrungserlebnis Niethammers in der M ü n c h e n e r Zeit und einem plötzlichen D u r c h bruch zu bisher unerkannten Wahrheiten wissen wir nichts. D e r Eindruck kontinuierlicher Entwicklung drängt sich überall auf. Zutreffend allerdings ist, dass sich Niethammers Traditionsbindung im Laufe der Jahre seiner kirchenamtlichen Tätigkeit verstärkte. Die sich steigernde Wertschätzung Luthers und der symbolischen Bücher der W i t t e n berger Reformation gehört in diesen Zusammenhang. D e r Neigung der pfälzischen Kirche, die Verbindlichkeit der lutherischen Bekenntnisschriften zu minimieren, leistete er heftigen Widerstand. Ein förmlicher Traditionalist war N i e t h a m m e r deshalb ebenso wenig wie ein T h e o l o g e der Restauration. Aufklärungsmotive wirken weiter, und auch die Kant'sche Philosophie scheint nicht derart „aus dem Gesichtskreis verschwunden" 1 5 zu sein, dass die Annahme berechtigt wäre, N i e t h a m m e r habe sich auf seine älteren Tage zu einem vorkritischen Supranaturalismus und zu einer konfessionalistischen Position bekehrt, wonach „eine entschlossen akzeptierte Prämisse die Wahrheit des Systems sichert" 1 6 . Dass Schrift und Bekenntnis in N i e t hammers systematischem D e n k e n je den Status einer durch schieren E n t -
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G. Lindner, a.a.O., 276. A.a.O., 277.
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schluss anzuerkennenden Wahrheitsautorität eingenommen hätten, lässt sich nirgends erkennen. So irrtümlich es wäre, hieraus auf ein fehlendes Bewusstsein von der Glaubensbedürftigkeit der Vernunft und ihrer Angewiesenheit auf göttliche Offenbarung zu schließen, so wenig lässt sich Niethammer die Annahme unterstellen, er habe das Offenbarungszeugnis von Schrift und Bekenntnis im Sinne einer autoritativen Wahrheitsprämisse zur Geltung gebracht, die gegebenenfalls auch ohne alle, ja wider alle Vernunft zu glauben sei. Nichts spricht dafür und vieles dagegen, dass der älter werdende Niethammer die Kant'sche Kritik hinter sich ließ, die in seinen jungen Jahren so große Bedeutung für ihn gewonnen hatte. 17 Zutreffend hingegen ist, dass er den religionsphilosophischen Ansatz Kants vertiefen und auf jene Einsicht hin fortbilden wollte, die er bereits in seiner Jenaer Zeit avisierte, nämlich die vernünftige Unausweichlichkeit der Religion und die Unentbehrlichkeit der Faktizität von Offenbarung für die Vernunft zu demonstrieren. Dass der in die Jahre gekommene Niethammer dieses Ziel unter anderen Voraussetzungen des öffentlichen und des eigenen Bewusstseins anstrebte als zu Jenaer Zeiten, ist unbestritten. Der Wandel, der sich in der Geistesgeschichte und namentlich in der Geschichte der Theologie seit Ende des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts über die - nicht zuletzt von der Romantik motivierte - Erweckungsbewegung hin zum Konfessionalismus vollzog, ging auch an Niethammer nicht spurlos vorüber. Bedeutsamer als der äußere Verlauf jener Entwicklung, die mit neokonservativen Zügen zweifellos verbunden war, muss die innere Einsicht gelten, die sie bewegte und von der sich wie viele auch Niethammer bewegen ließ, nämlich die Einsicht in eine strukturelle Krise des aufgeklärten Bewusstseins, die tiefer reichte als mancher Kantianer dies zu ermessen vermochte. Das reflexive Medium, in dem sich dieses Krisenbewusstsein artikulierte, ja in gewisser Weise überhaupt erst formierte, war die Hamartiologie. In der Sündenlehre und der auf sie bezogenen Lehre von der Versöhnung haben sich - gewiss auch unter dem prägenden Einfluss Luthers und seiner Schriften - in Niethammers Denken die entscheidenden Wendungen vollzogen, die hinausweisen über die Jenaer Entwürfe, ohne deshalb deren Ansatz grundsätzlich zu verwerfen.
17 Vgl. dagegen G. Lindner, a. a. O., 290: „Fest steht die supranaturalistische Basis, die, gegründet auf den Gottes- und Vorsehungsglauben, die religiöse Erfahrung und die Anerkennung der Tradition der Kirche, die Kant'sche Frage nicht mehr zuließ."
30. Die Religionsbedürftigkeit praktischer Vernunft
Die Alma Mater Jenensis hatte ihre allerbesten Tage bereits hinter sich, als die Truppen der Preußen und ihrer Verbündeten am 14. O k t o b e r 1806 in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt durch das französische Heer unter Napoleon vernichtend geschlagen wurden. Zwar erholte sich die Stadt von den Kriegsleiden verhältnismäßig rasch, und in der Universitätsgeschichte Jenas fehlte es auch in den kommenden Jahrzehnten keineswegs an Glanzlichtern. Aber die faszinierende Blüte geistigen Lebens, welche die kleine Ortschaft an der Saale spätestens seit Beginn des letzten Dezenniums des 18. Jahrhunderts - vom nahen und geistesverwandten Weimar abgesehen - vor allen anderen O r t e n Deutschlands ausgezeichnet hatte, blieb singulär und wiederholte sich nicht. Man werfe einen Blick in die Blätter der „Allgemeinen Literatur-Zeitung", die der Professor für Poesie und Rhetorik Chr. G. Schütz 1785 zusammen mit dem Dichter Chr. M. Wieland und dem Weimarer Verleger Bertuch in Jena gegründet hatte: unter den Autoren und Rezensenten der beinahe täglich erscheinenden Ausgaben lassen sich schnell und unschwer weit mehr als ein Dutzend hervorragender Dichter und Denker finden. Durch Karl Leonhard Reinhold, der seit 1787 als Philosophieprofessor in Jena wirkte, wurde die Universität ein H o r t des Kantianismus und eine Pflanzstätte klassischer deutscher Philosophie und Dichtung. Am 26. Mai 1789 hielt Friedrich Schiller - ein Kantianer auf seine Weise auch er - im Griesbach'schen Auditorium vor zahlreicher Hörerschaft seine akademische Antrittsrede als a.o. Professor der Philosophischen Fakultät zum Thema „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?". Einige Jahre später, im Mai 1794, betrat Fichte einem Giganten gleich die Szene und schlug die Geister in seinen Bann, bis er 1799 infolge des Atheismusstreites nolens volens weichen musste. Im Jahr zuvor wurde Schelling auf Goethes Initiative hin 23jährig als a.o. Philosophieprofessor nach Jena berufen, wo er vorher schon besuchsweise geweilt hatte. Er lehrte fünf Jahre lang mit beachtlichem Erfolg, schloß sich dem romantischen Freundeskreis um die Gebrüder Schlegel an, als deren weiblicher Mittelpunkt Caroline Schlegel agierte, die Schelling 1803, im Jahr des Abschieds beider von Jena, heiratete. Seit 1801 ist auch Hegel präsent. Die Lehrveranstaltungen des sprachstarken, aber sprechschwachen Schwaben, die er bis 1805 als Privatdozent, dann bis 1807 als a.o. Professor der Philosophie abhält, sind zwar regelmäßig schlecht besucht; dafür schreibt er mit der „Phänomenologie
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D i e R e l i g i o n s b e d ü r f t i g k e i t praktischer Vernunft
des Geistes" ein herausragendes Werk nicht nur deutscher, sondern gesamteuropäischer Philosophiegeschichte. Vom Jenaer Romantikerkreis war bereits die Rede: Im Juni 1796 kam der Schriftsteller und Politologe August Wilhelm Schlegel mit seiner damaligen Frau Caroline als Mitarbeiter an Schillers Hören und Musenalmanach nach Jena. Er übersetzte Shakespeare-Dramen, schrieb für die A L Z und gab in den Jahren 1798 bis 1800, in denen er eine a.o. Philosophieprofessur innehatte, mit seinem Bruder die Zeitschrift „Athenäum" heraus. Friedrich Schlegel weilte von August 1796 bis Juli 1797 und von September 1799 bis 1802 in Jena und entwickelte - zeitweise ebenfalls a.o. Professor der Philosophie - theoretische Grundpositionen der frühromantischen Dichtung. Dorothea Veit-Schlegel, geb. Mendelssohn, folgte ihm im Oktober 1799. Neben Dorothea, Caroline, den Gebrüdem Schlegel und Schelling gehörten zum Kreis der Jenaer Romantiker u.a. Ludwig Tieck, 1799/1800 im Hause der Schlegels wohnhaft, Tiecks enger Freund Friedrich von Hardenberg alias Novalis, der sich seit seinem Jurastudium 1790/91 wiederholt in Jena aufhielt, sowie Clemens Brentano, als Student der Medizin und werdender Dichter von 1798 bis 1800 an der Salana, wo er seine spätere Frau Sophie Mereau kennenlernt und mit August Winkelmann und Friedrich Carl von Savigny Freundschaft schließt. Wer zu Niethammers Zeiten sonst noch in Jena war, sei nur mehr auswahlsweise und in alphabetischer Reihung aufgelistet: Ernst Moritz Arndt (1793/94 Student der Theologie und Geschichte und Hörer von Fichtes Vorlesungen), Georg Friedrich Creuzer (Altphilologe und Religionswissenschaftler, 1790/91 Student in Jena), Johann Traugott Leberecht Danz (Student der Theologie, ab 1798 Rektor der Stadtschule, später Privatdozent an der Philosophischen Fakultät), die bereits häufig erwähnten Niethammerfreunde Diez und Erhard, Karl Heinrich Abraham Eichstädt (1797 bis 1817, Mitarbeiter an der ALZ, später Gründer der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung), der Vater des Religionskritikers Ludwig Feuerbach, Paul J o hann Anselm Feuerbach (ab 1792 Student der Jurisprudenz und Philosophie, später Dozent und Juraprofessor), Friedrich Karl Forberg (1792-1797), Jakob Friedrich Fries (ab 1796/97), Friedrich Wilhelm August Fröbel (von Oktober 1799 bis Frühjahr 1801 Student der Philosophie und der Naturwissenschaften), der Buchhändler und Verleger Carl Friedrich Ernst Frommann, dessen Villa in den Jahren um 1800 neben dem Gartenhaus von Johann Jakob Griesbach (ab 1775 Professor der Theologie) eines der gesellschaftlichen Zentren der Stadt war, nicht zu vergessen Johann Wolfgang von Goethe, der sich seit 1775 sehr häufig in Jena aufhielt, Johann Friedrich Herbart (Hörer Fichtes und Philosophiestudent von Oktober 1794-1997), Friedrich Hölderlin, der, wie erwähnt, ab Herbst 1794 etwa ein halbes Jahr in Jena weilte, die beiden Hufelands, Christoph Wilhelm, der Mediziner (1793-1801), und Gottlieb, der Jurist (1785-1803), sodann Alex-
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ander und Wilhelm von H u m b o l d t (der Erste besuchsweise, der Zweite über längere Dauer ab Februar 1794), der Krausismo-Krause Karl Christian Friedrich (1799-1804), der Orientalist und Theologe Heinrich Eberhard G o t t l o b Paulus (1789-1803), der sog. Physiker des Romantikerkreises J o hann Wilhelm Ritter (1796-1804), Carl Christian Erhard Schmid, der neben Reinhold maßgeblich zur frühzeitigen Kantrezeption in Jena beigetragen hat (von 1784 bis 1791 Adjunkt an der philosophischen Fakultät, seit 1793 o. Professor der Philosophie, seit 1798 der Theologie), Christian Gottfried Schütz, von hoher Wichtigkeit für die A L Z und ebenfalls einer der bedeutenden Multiplikatoren Kant'scher Philosophie (1779-1804), der norwegische Schriftsteller und Naturphilosoph Henrich Steffens (ab Frühjahr 1798 besuchsweise oder für längere Zeit), Wilhelm Gottlieb Tennemann (ab 1781, von 1798 bis 1804 a.o. Professor an der Philosophischen Fakultät, wo er insbesondere Philosophiegeschichte lehrte), ferner der H o m e r - und Vergilübersetzer, Philologe und Dichter Heinrich Voß, der nach seinem A b schied vom Schuldienst von 1802 bis 1805 in Jena lebte. Mehrfach zu Besuch war im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts auch die später ganz in Jena ansässige Schriftstellerin Caroline von Wolzogen, die Schwester Charlotte von Lengefelds, die 1790 von C . C . E . Schmid mit Schiller getraut wurde, der von einer längeren Unterbrechung abgesehen fast ein Jahrzehnt durchgängig in Jena und dabei zumindest zeitweilig auch an der Salana tätig war, die seit 1934 seinen N a m e n trägt. Friedrich Schiller hat mehrfach die U b e r z e u g u n g geäußert, dass an keinem O r t der Welt auf derart engem Raum so viele vorzügliche Menschen und hervorragende Geister zu finden gewesen seien als im Jena seiner Zeit. Diesem Urteil, das gewiss keine Übertreibung enthält 1 , hat sich auch Niethammer angeschlossen, dessen Jenaer Wohnungen am Fürstengraben und in der Leutragasse 5 zu Stätten von Begegnungen der erlesensten Art wurden. Wohl hatte Niethammer auch in Würzburg, Bamberg und nicht zuletzt in München einen Kreis bedeutender und einflussreicher Menschen um sich. Prägend und entscheidend für sein Denken waren indes die Jenaer Zirkel, näherhin die Anregungen, die er von den in ihnen mit großer Intensität gepflegten Kantdiskussionen empfing. Sein eigener Beitrag zu den Jenaer Debatten im Kontext der Kant'schen Philosophie lässt sich unbeschadet der Unterscheidung von Phasen seiner Entwicklung insofern auf einen einheitlichen Begriff bringen, als er durchweg vom Bewusstsein eines Problems bestimmt ist, das auch fernerhin und über die Jenaer Zeit hinaus grundlegend ist für Niethammers Denken und Handeln. Dieses Problembewusstsein beinhaltet zwei Konstanten, die niemals zur Disposition gestellt wer-
1 M a n kann sich davon noch heute anhand der G e d e n k t a f e l n an J e n a s H ä u s e r n ü b e r z e u g e n (vgl. W. H a u n u.a., G e d e n k t a f e l n . K u l t u r g e s c h i c h t e an J e n a s H ä u s e r n , J e n a 1995).
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den: Auf vernunftkompatible Weise lassen sich Bedeutung und Funktion von Religion und Offenbarung nur unter striktem Verzicht auf suprarationale Ansprüche rekonstruieren, welche sich rationaler Kontrolle systematisch entziehen und allein auf das formale Geltendmachen von Autorität stützen können. An diesem für sein Jenaer Schrifttum zentralen kritischen Grundsatz hat Niethammer zeitlebens festgehalten. Zeitlebens festgehalten hat er aber auch an der theologischen Uberzeugung, dass die Vernunft um ihrer selbst willen der Religion bedarf, weil es Probleme gibt, die vernünftigerweise weder zu leugnen noch ohne religiöse Aufschlüsse auf vernunftentsprechende Weise zu bearbeiten sind. In der Jenaer Zeit war es vor allem die Problematik des Verhältnisses von Sittlichkeit und Sinnlichkeit, Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit, welche Niethammers Theoriebildungen herausforderte und u.a. die These provozierte, dass Religion zu haben sittliche Pflicht, d.h. aus praktischen Vernunftgründen nicht nur möglich, sondern auch nötig sei. Niethammers Konzept einer Vernunftreligion, die sich Vernunft und Religion gleichermaßen verpflichtet weiß, weil Religion nicht ohne Vernunft, Vernunft aber auch nicht ohne Religion zu sein vermag, bleibt auch später, etwa in seinen pädagogischen Theoriebildungen primär an der Frage orientiert, wie sich moralische Vernunftforderung und Glückseligkeitsverlangen des sensiblen Menschen zum Ausgleich bringen lassen. Doch tritt allmählich, obgleich nur dezent und eher hintergründig, ein weiteres mit dem Hauptthema zwar verbundenes, aber noch tiefer reichendes Problem zutage, welches es nicht allein mit der Frage des Übels bzw. der Hoffnung seiner endgültigen Behebung, sondern mit derjenigen des Bösen, der Sünde und der Schuld zu tun hat. Es war gewiss seine intensiver werdende Beschäftigung mit der reformatorischen Tradition und insbesondere der Theologie Martin Luthers, die Niethammer verstärkt mit der hamartiologischen Problematik konfrontierte. Doch konnte er auch in dieser Hinsicht Anhalt an Immanuel Kant finden, welcher in Tübinger und Jenaer Zeiten sein Leitstern wurde, um es des Weiteren zu bleiben. Weder die frühen Begegnungen mit Fichte, Schelling oder Hegel noch die späteren Annäherungen an Luther konnten daran etwas Grundlegendes ändern. Warum bedarf die Vernunft der Religion, um vernünftig zu sein? Nach Kant sind es insbesondere zwei Probleme, durch die das Denken einer religiösen Bestimmung zugeführt und aus praktischen Vernunftgründen genötigt wird, sich als religiös bestimmt zu entfalten. Das eine steht im Zusammenhang mit dem Streben des Menschen nach einer Glückseligkeit, die auch seiner sinnlichen Natur und ihren Bedürfnissen das gebührende Recht zuteil werden lässt. Das andere ist durch die Faktizität des Bösen und durch die Notwendigkeit gegeben, sich in ein vernünftiges Verhältnis zu dem unvernünftigen und vernunftwidrigen Tatbestand schuldhafter Verkehrung menschlicher Bestimmung zu setzen, wie er sowohl in Bezug auf den ein-
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zelnen Menschen als auch in Bezug auf die Menschheit zu konstatieren ist. 2 Auf die Bearbeitung beider Probleme, die zwar voneinander zu unterscheiden, nicht aber zu trennen sind, ist Kants Religionsphilosophie vor allem ausgerichtet. Als Grundlage und beständiger Bezugspunkt der religionsphilosophischen Erörterungen fungiert dabei das G e s e t z praktischer Vernunft, das die prinzipielle Verallgemeinerbarkeit individueller Willensmaximen fordert. Durch den G r u n d s a t z des Sittengesetzes, wie er im Kategorischen Imperativ ausgesprochen ist, bestimmt sich die Freiheit zur Pflicht, der alle sinnlichen Neigungen zu gehorchen haben. Grundverkehrt hingegen wäre es, die Maximen oder auch nur die Motive menschlichen Sinnens und Trachtens durch Streben nach Lust und äußerem Wohlergehen bestimmt sein zu lassen. Gleichwohl wäre es nach Kant unstatthaft und moralisch kontraproduktiv, das menschliche Glücksstreben abstrakt zu negieren. D e n n der Mensch ist seinem Wesen nach eine leibhafte Seele bzw. leibhafter Geist, und seine Intelligibilität lässt sich von den durch seine Sensibilität gegebenen Erfordernissen nicht sondern. Ausdrücklich und mehrmals wird vermerkt, dass es ein notwendiges Verlangen jedes endlichen Vernunftwesens und einen unvermeidlichen Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens darstellt, nach einem Glück zu streben, in dem auch seine Sinnlichkeit gut aufgehoben ist. Zwar kann der Mensch ohne Moral und guten Willen, der ihn zum Tun des G u t e n bewegt, niemals wahrhaft glückselig werden. Aber unverträglich mit wahrhafter Glückseligkeit ist es auch, wenn seine sinnlichen Neigungen und sein Streben nach leiblichem Wohl einfachhin unberücksichtigt bleiben. Solche Rücksichtslosigkeit müsste nach Kant als inhuman und als konträr zur conditio humana beurteilt werden; sie ist daher gerade aus sittlichen Gründen zu meiden. Zwar könnte man meinen, es sei dem Kant'schen K o n z e p t autonomer Sittlichkeit gemäß, wahre Glückseligkeit allein und ausschließlich in dem Selbstgenuss ihre Erfüllung finden zu lassen, der im moralischen Willen selbst und im tätigen Vollzug der Sittlichkeit als solcher begründet liegt. Denn erst dann, so will es scheinen, ist die Autarkie praktischer Vernunft definitiv gesichert und die Sittlichkeit vollendet in sich. M u s s das Glück des Guten nicht darin sein Genügen finden, das G u t e als solches zu wollen und um des Guten willen zu tun? Trägt die Pflicht ihren Lohn nicht unmittelbar in sich selbst? Ist der moralisch allein gerechtfertigte Genuss nicht einzig derjenige, welcher dem Vollzug des sittlich Geforderten selbst inhäriert? Entspricht die Freiheit menschlicher Selbstbestimmung nicht erst dann ih-
2 Vgl. C . Axt-Piscalar, Wieviel Religion braucht die Vernunft? Ü b e r l e g u n g e n zur B e d e u t u n g der Religion im D e n k e n K a n t s , in: Z T h K 103 (2006), 5 1 5 - 5 3 2 .
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rem Begriff, wenn sie sich als rein intelligibler A k t begreift, der suisuffizient in sich gründet und nichts ist als sich selbstsetzende Tathandlung? Der frühe Fichte hat diese Fragen bejaht und Kants Denken ichphilosophisch in einer Weise fortgebildet, die den Vorzug zu haben scheint, die Vernunft gänzlich unabhängig zu machen von sinnlichen Gegebenheiten, die aus Gründen der Sittlichkeit als nichts anderes in Betracht kommen denn als Material der Pflicht und moralischer Pflichtübung. T r o t z der Vernunftautarkie und der prinzipiellen Enttäuschungsresistenz, die er in sinnlicher Hinsicht verheißt, ist N i e t h a m m e r dem Fichte'schen Weg von kurzfristigen Anwandlungen abgesehen nicht gefolgt. O b w o h l ihm nicht verborgen blieb, dass die Fichte'sche Rezeption Kants an Tendenzen anschließen konnte, die gerade in dessen Religionsschrift verstärkt hervortraten, verweigerte er sich der neuen Richtung und schloss sich einer eher konservativen Kantexegese an, die er nicht ohne G r u n d für die werkgetreuere hielt. Kein Zweifel: Niethammer leugnete nicht nur nicht, sondern behauptete unter Berufung auf Kant entschieden, dass der Mensch nur dann des Glücks würdig sei, welches er begehrt, wenn er seine sinnlichen N e i g u n g e n konsequent dem Sittengesetz praktischer Vernunft unterordnet, um sie einer moralischen Bestimmung zuzuführen. Auch weiß er das erhabene Gefühl der Freiheit zu schätzen, das sich einstellt, wenn der Mensch sich seinem intelligiblen Wesen gemäß als der Sinnlichkeit mächtig erweist. Wahre Glückseligkeit ist nach seinem Urteil nicht nur kategorial von bloßem Sinnengenuss unterschieden, sondern überhaupt erst unter der Voraussetzung denkbar, dass Sittlichkeit das gesamte Menschenwesen durchwirkt. Während der sinnliche Augenblick, in dem alles nach Wunsch und Willen zu gehen scheint, flüchtig und von lediglich momentaner Bedeutung ist, verlangt Glückseligkeit, die ihren N a m e n verdient, nach einer Zufriedenheit des ganzen Daseins, die durch empirische Glücksgüter von lediglich bedingter Sinnrelevanz niemals gewährleistet werden kann. D e r ungeteilte Sinn, in dem das menschliche Dasein seine Glückseligkeit findet, kann daher auch nach N i e t h a m m e r nur in der Sphäre des Intelligiblen und im Zusammenhang jener Gewissensgewissheit gefunden werden, in der die sittliche Bestimmung des Menschen manifest und die vernünftige Identität seines Personseins fundiert ist. N u r wer mit Gewissensgewissheit weiß, was zu sein er bestimmt ist, kann glückselig werden, und glückswürdig ist nur derjenige, dessen individuelles Selbstbewusstsein sich dem Allgemeinverbindlichen verpflichtet weiß. D o c h machen Pflichtbewusstsein allein und gewissenhafte Ü b u n g der Tugend den Menschen nach Niethammer noch nicht in vollendeter Weise glückselig, obgleich in ihnen schon jetzt zum Vorschein k o m m t , was als das höchste G u t zu gelten hat: die allumfassende, auch alle sinnlichen Belange integrierende Realisierung der Moral und damit die endgültige Koinzidenz von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit im A b soluten, dessen Wirklichkeit unter den gegebenen Bedingungen von
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Menschheit und Welt weder durch theoretisches Wissen noch durch praktische Vernunft allein zu vergewissern ist. U m sich der Realität des Absoluten und damit der Idee G o t t e s sowie der in ihr inbegriffenen Ideen der Ichunsterblichkeit und der vollendeten Welt sittlicher Freiheit zu vergewissern, bedarf der Mensch der Religion, die für die Vernunft insofern unentbehrlich ist, als ihr ohne sie der H o f f n u n g s grund tatsächlicher Erfüllung ihrer Möglichkeiten abhanden zu k o m m e n droht. Reicht zur vollendeten Glückseligkeit des M e n s c h e n die selbstbewusste Gewissheit nicht hin, tugendhaft zu sein und in seinem Verhalten der Pflicht zu entsprechen, so können Tugend und pflichtgemäßes Handeln nicht bereits an sich selbst für das höchste G u t erklärt werden. Das höchste G u t der Glückseligkeit ist nicht schon im sittlichen Bewusstsein als solchem gegeben, sondern bedarf der Fundierung in einem Grund, welcher mit der Begründung der Sittlichkeit auch deren Realisierung unter sinnlichen Bedingungen zu gewährleisten und zu garantieren vermag, dass die sinnlichen H e m m u n g e n , welche die Moral im Zuge ihrer Selbstverwirklichung erfährt, keinen dauerhaften Gegensatz zu bedingen in der Lage sind. Dass diese H e m m u n g e n nicht nur in sensibler Hinsicht, sondern auch für die Intelligibilität des Menschen von Belang sind, setzt N i e t h a m m e r voraus, und er hat gute Gründe, sich dafür auf Kant zu berufen. Sagt doch auch dieser wiederholt, dass ganzheitliches Wohlergehen, also ein Wohlergehen, das die sensiblen D i m e n s i o n e n umfasst, ein wesensgemäßer und berechtigter Gegenstand des Begehrungsvermögens leibhafter Vernunftwesen sei. Das Leid natürlichen und sozialen Übels ist keineswegs eine auf die sinnliche N a t u r des Menschen beschränkte Empfindung. Auch der moralische Mensch, der sich - seiner intelligiblen Bestimmung bewusst - dem Sittengesetz verpflichtet weiß, wird in seinem Glücksempfinden durch Naturübel und Ü b e l geselliger H e r k u n f t beeinträchtigt. Zwar leidet er, solange er vom moralischen Selbstgefühl getragen ist, nicht auf tierische Art; doch ist sein Leid deswegen keineswegs weniger schmerzlich, sondern abgründiger als dasjenige der Tiere. Die Wehmut, die nicht selten gerade das entwickelte moralische Bewusstsein in Anbetracht der H e m m u n g e n und Widerstände überkommt, mit denen es die Sittlichkeit zu tun hat, ist nach N i e t h a m m e r weder unsittlich in sich noch lässt sie sich allein auf vernunftpraktische Weise überwinden. U m angesichts externer und interner H e m m n i s s e sittlicher Tätigkeit nicht die H o f f n u n g auf ihre mögliche und tatsächliche Realisierung und Vollendung zu verlieren, bedarf es der Religion. N u r im religiösen Bewusstsein wird das allgemeingeltende Sittengesetz praktischer Vernunft so mit dem sinnlichen Begehren verbunden, dass beiden ihr je spezifisches Recht nach Maßgabe der Gerechtigkeit z u k o m m t . Damit ist noch einmal klargestellt, dass das M a ß , an dem sich das humane Recht der Sinnlichkeit, ihrer Neigungen und des Strebens nach sinnlichem
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Glück zu bemessen hat, nicht in diesen selbst, sondern im Sittengesetz begründet liegt, dem zu entsprechen die vernünftige Bestimmung des Menschen ist. D o c h kann der Mensch seine vernünftige Bestimmung nicht ohne jedwede Rücksicht auf sein sensibles Wesen und das sinnliche Wohlergehen der Menschheit realisieren. D e n n solche Rücksichtslosigkeit wäre ein moralisch unstatthafter und sittlich kontraproduktiver Verstoß gegen den von Kant ausdrücklich eingeschärften, von Niethammer betont hervorgehobenen Grundsatz, wonach der Mensch nicht nicht wollen kann, glücklich und zwar so glücklich zu sein, dass auch seinen sinnlichen Bedürfnissen Rechnung getragen wird. Als Freiheitswesen weiß sich der Mensch dazu bestimmt, N a t u r z u s a m menhänge zu transzendieren. D a s gilt auch für seine eigene leibhafte Natur. D o c h vermag er diese nicht gleich einer äußeren Hülle abzustreifen und sich zu einem Ich von reiner Intelligibilität zu bilden. Solches zu fordern, wäre nach N i e t h a m m e r anthropologisch verkehrt und nicht nur in pädagogischer, sondern in allgemeinmenschlicher Hinsicht kontraproduktiv. H u mane Bildung lässt sich ohne Rücksicht auf sinnliche Belange nicht erreichen. Zwar ist es ihr Ziel, den Menschen dasjenige werden zu lassen, was er seiner Bestimmung nach ist. Zur Vernunft, die sein intelligibles Wesen ausmacht, gebracht, wird der Mensch sein sensibles Begehren durch das Sittengesetz bestimmt sein lassen, um die äußere N a t u r einschließlich der leibhaften N a t u r seiner selbst ihren Grundsätzen gemäß zu kultivieren. D o c h darf er dabei nicht rigoristisch verfahren, sondern hat Rücksicht auf sinnliche Bedürfnisse zu nehmen, was keineswegs verboten, sondern im Gegenteil moralisch geboten ist. Unter erziehungstheoretischen Aspekten hat Niethammer hierzu in seiner Schrift über den Streit von Philanthropinismus und H u m a n i s m u s das N ö t i g e gesagt und zugleich betont, dass humanistische Bildung, die das philanthropinistische Anliegen nicht abstrakt negiert, sondern in sich aufhebt, ohne Religion nicht auskommt. U m die Sittlichkeit ins rechte Verhältnis zur Sinnlichkeit zu setzen und deren Bedürfnisse mit dem Sittengesetz so zu vermitteln, dass sie nicht abstrakt negiert, sondern in konkreter Moralität aufgehoben werden, bedarf die Vernunft der Religion und muss mit interner Notwendigkeit auf religiöse Ideen ausgreifen. Bereits die theoretische Vernunft bildet nach Kant notwendig transzendentale Ideen aus und zwar in psychologischer, kosmologischer und in theologischer Hinsicht. Sie tut dies, um die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zu markieren, und gelangt auf diese Weise zur Idee der Menschenseele bzw. des Ichs, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss, ohne Mannigfaltiges in sich zu enthalten, zur Idee der Welt als der absoluten Totalität in der Synthesis der Bedingungen aller möglichen Dinge sowie zur Gottesidee als der Idee eines A b solutnotwendigen und Allerrealsten. Indes erlaubt es die theoretische Vernunft nicht, von den transzendentalen Ideen, die sie ausbildet, um die
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Inbegriffe von Möglichkeitsbedingungen zu erfassen, einen objektiven G e brauch zu machen. Gestattet ist lediglich ein regulativer Gebrauch. Indes ist es nach Maßgabe praktischer Vernunft nicht nur erlaubt, sondern geboten, die Realität der transzendentalen Ideen theoretischer Vernunft mit dem m o ralischen Ziel zu postulieren, eine Gewähr für die Realisierbarkeit der Sittlichkeit zu haben. H a b e n Postulate nach Kant in theoretischer Hinsicht den Status von H y pothesen, so sind sie als praktische Sätze notwendig und mit einer Gewissheit versehen, die im sittlichen Bewusstsein unveräußerlich mitgesetzt ist. D i e praktische Vernunft ist in der ihr eigenen Gewissheit gewiss, dass den transzendentalen Ideen theoretischer Vernunft zwar keine metaphysische, wohl aber moralische Realitätsgeltung z u k o m m t . Die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft nennt Kant das höchste G u t als die vollendete Einheit von Tugend und Glückseligkeit nach M a ß gabe der Tugendhaftigkeit. Konstitutives Implikat der praktischen Vernunftidee des höchsten Gutes ist die Idee G o t t e s , dessen Existenz zu postulieren ebenso Recht und Pflicht der Moral ist wie das Postulat der Unsterblichkeit der Seele als des Ichprinzips sittlicher Zurechenbarkeit sowie das Postulat der Freiheitswelt realisierter Sittlichkeit. Als oberster Sittenherr und allmächtiger Schöpfer der sinnlichen Welt ist G o t t in seiner von praktischer Vernunft postulierten Wirklichkeit der Garant prinzipieller und finaler Kompatibilität von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit und damit auch Garant der Proportionalität von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit in psychologischer und kosmologischer Hinsicht. Das Postulat der U n sterblichkeit der Seele ist entsprechend auf die Gewährleistung der Vermittelbarkeit des die Personidentität des einzelnen Menschen bestimmenden Willens mit dem göttlichen, dasjenige der Freiheitswelt vollendet realisierter Moral auf die Gewährleistung der Vermittelbarkeit des sozialen und natürlichen Ganzen mit der Herrschaftsgüte G o t t e s in seinem Reich ausgerichtet. Thematisiert die Postulatenlehre Kants das Verhältnis von Sittlichkeit und Sinnlichkeit im intelligiblen H o r i z o n t , so bedarf sie der Ergänzung durch die Religionsphilosophie insofern, als diese das T h e m a der Postulatenlehre in sinnlicher Perspektive aufgreift und dadurch, wenn man so will, die praktische Vernunft mit einer Sensibilität versieht, die für ihre humane Selbstrealisierung unverzichtbar ist. Lässt sich das Dasein G o t t e s nur auf intelligible Weise in der F o r m eines praktischen Vernunftpostulats und nicht auch unter sinnlichen Bedingungen vergewissern, droht wenn nicht das Sittengesetz selbst, so doch dessen tatsächliche Realisierbarkeit zweifelhaft zu werden. Das moralische Bewusstsein bedarf daher der religiösen Erbauung, damit es an der sittlichen Einsicht unter den gegebenen Bedingungen von Selbst und Welt nicht irre wird, sondern die H o f f n u n g auf Realisierung der Sittlichkeit auch unter widrigen Verhältnissen aufrecht erhält. Niethammers
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religionstheologische Zentralthese ist unmittelbar hierauf bezogen. N u r bei gegebenem Glauben an die Wahrheit und Wirklichkeit G o t t e s und seines kommenden Reiches bleibt die Moral im Vollzug ihrer Selbstrealisierung nicht auf der Strecke, sondern in der Lage, allen H e m m u n g e n und Widrigkeiten dauerhaft und beständig zu trotzen. Die Erschließung dieses Glaubens nennt Niethammer Offenbarung. O f f e n b a r u n g vermittelt keine supranaturalen Kenntnisse und erweitert das Wissen nicht auf übervernünftige Weise. Sie lässt vielmehr das religiöse Bewusstsein, das sich in ihr gegründet weiß, zusammen mit der sittlichen Gewissheit auch dessen innewerden, dass die Gewähr der Kompatibilität von Intelligibilität und Sensibilität unbedingt und damit unter allen Bedingungen - und seien sie noch so übel - gegeben ist. Auf diese Pointe sind alle Theoriekonzeptionen angelegt, die Niethammer in Jena im Anschluss an Kant und an die zeitgenössische Kantrezeption seit seiner Erstlingsschrift „ D e vero revelationis f u n d a m e n t o " entworfen hat. Z u m Tübinger Supranaturalismus, dem er mit Abschluss seines Studiums entronnen war, und zur supranaturalistischen Offenbarungslehre verhalten sich die Jenaer Entwürfe durchweg kritisch. In einer Hinsicht aber bleibt Niethammer zeitlebens Storr verbunden: in der Annahme nämlich, dass die Forderungen des Sittengesetzes dem sinnlichen Glücksbedürfnis auch aus moralischen Gründen nicht abstrakt entgegengesetzt werden dürfen und dass deshalb die praktische Vernunft auf Religion angewiesen ist. D a s s Niethammer in seinen späteren Jahren zu Storrs supranaturalistischer Offenbarungslehre zurückgekehrt sei, ist unzutreffend. Richtig allerdings ist, dass er das bezeichnete Storr'sche Motiv und mit ihm die Nichtsubstituierbarkeit der Religion durch Theorie und Praxis in der Zeit nach Jena stärker akzentuierte als vor dem Atheismusstreit. Die zeitweilige Affinität zu Schleiermacher, die sich in den Würzburger Andachtsreden angedeutet findet, mag u. a. dadurch ihre Erklärung finden. D o c h darf die Prägekraft des Schleiermacher'schen Einflusses nicht zu hoch veranschlagt werden. Sie ist im Vergleich mit Kant verschwindend gering.
31. Reformatorische und sonstige Einsichten
Im Jahr der deutschen Revolution gelangte das Lebenswerk zweier Männer an sein Ende, die für die Anfänge der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern hoch bedeutsam waren: Niethammer starb am 1. April 1848 im Alter von 82 Jahren, Karl Johann Friedrich Roth, der von 1828 bis 1848 Präsident des Oberkonsistoriums der bayerischen Protestanten war, wurde vom neuen König in den Ruhestand verbannt, um nach vier Jahren ebenfalls von dieser Welt abberufen zu werden. Von Roth wird berichtet, dass er auf seine alten Tage einerseits sehr gastfrei gewesen sei, andererseits einen großen Teil seiner Standesgenossen beharrlich gemieden habe, sofern ihm ihr persönlicher und theologischer Umgang missfiel. „Selbst Schelling, Niethammer und Thiersch, mit denen er am Anfang in engem Kontakt stand, verschloß er später sein Haus, weil sie auch solche Leute empfingen, die er für verächtlich hielt." 1 Dies ist nicht zuletzt deshalb schade, weil ein beständiger Austausch Roths mit Niethammer und eine gemeinsame Vertiefung in die Inhalte des Sammelbandes „Die Weisheit D. Martin Luthers", der aus Anlass des 300jährigen Reformationsjubiläums als Frucht ihrer Zusammenarbeit entstanden war, sicherlich für beide Teile nützlich und theologisch förderlich gewesen wäre. Der „Beschützer der Erweckungsbewegung der bayerischen Kirche" 2 hätte sich von seinem ehemaligen Freund überzeugen lassen können, dass es gute rationale Gründe gibt, von der Vernunft des Glaubens bzw. der Religionsbedürftigkeit der Vernunft zu sprechen. Was wiederum Niethammer betrifft, so hätte ihm eine nähere Bekanntschaft und Auseinandersetzung mit der erweckungstheologischen Tradition möglicherweise zu einem vertieften theologischen Verständnis seines philosophischen Gewährsmanns Kant verhelfen können, der in einer Radikalität wie „vor ihm nur Luther vom Bösen gesprochen" 3 hat. Nach Kant, so wurde gesagt, nötigen insbesondere zwei Probleme das Denken dazu, sich als religiös bestimmt zu explizieren: das Glückseligkeitsbzw. das durch natürliche und soziale Übel gegebene Problem sowie dasjenige, welches durch die Faktizität des als persönliche Schuld zurechenbaren Bösen provoziert ist. Letzteres Problem bleibt in Niethammers Jenaer Schriften merkwürdig randständig, was umso überraschender ist, als Kant 1 G. M e r z , Friedrich von Roth. Ein Beitrag zu der Frage „Luthertum und H u m a n i s m u s " , in: Luther-Jahrbuch 17 (1935), 132-153, hier: 150. 2 M . Simon, Art. Roth, Karl J o h a n n Friedrich, in: R G G 3 V, Sp. 1195 f, hier: 1195. 3 C . A x t - P i s c a l a r , a . a . O . , 529.
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Reformatorische und sonstige Einsichten
dem radikalen Bösen in der menschlichen Natur das allererste Stück seiner Religionsschrift gewidmet hatte. Erst die intensivere Beschäftigung mit Luther in der Münchener Zeit hat den reformatorischen Theologen und Gründervater der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern an die hamartiologische Thematik herangeführt, ohne dass er eine eigene Sündenlehre ausgearbeitet hätte. O b diese Abstinenz Urteilen geschuldet ist, wie man sie schon bald nach Erscheinen der Kant'schen Religionsschrift aus dem Jenaer Umfeld vernahm, ist schwierig zu entscheiden. Nicht nur Goethe sah bekanntlich in Kants Lehre vom radikalen Bösen einen Schandfleck kritischer Philosophie, auch der Weimarer Superintendent Herder konnte ihr nichts Gutes abgewinnen. Für Niethammer scheint sich dies zunächst ähnlich dargestellt zu haben. Erst allmählich wird er gewahr, dass das Problem der Sündenschuld keineswegs geringere Schwierigkeiten für die praktische Vernunft und die Realisierung der Sittlichkeit heraufbeschwört als das Problem sinnlicher Übel. Muss doch nachgerade das vernünftige Subjekt, das sich unter den Sollensanspruch des Sittengesetzes gestellt weiß, erkennen, dass sein faktisches Sein dem moralisch Gebotenen nicht nur nicht entspricht, sondern widerspricht. Die peinliche Gewissenserkenntnis gegebener Sündenschuld betrifft nicht nur vergangene Verfehlungen bzw. die Tatsache, dass der Mensch, mit Kant zu reden, vom Bösen seinen Anfang genommen hat. Auch die aktuelle Gegenwart des zur Vernunft Gekommenen und zur Besserung Bereiten ist nicht von der Art, dass seine Selbsterfahrung die Gewissheit vermitteln könnte, in kontinuierlichem und beständigem Fortschritt zum Guten begriffen zu sein. Zwar weiß die praktische Vernunft nach Kant, dass sie im Prinzip vermag, was sie soll. Aber zugleich wird der real existierende Mensch gerade dann, wenn er zu einem entwickelten Bewusstsein des Gesollten gelangt ist, seines gänzlichen Unvermögens gewahr, ihm zu entsprechen. Ja, er muss bekennen, in tatsächlichem Widerspruch zum Sittengesetz zu stehen. Soll diese Antinomie nicht antinomistisch aufgelöst werden, was unsittlich wäre, tut sich für die praktische Vernunft eine Aporie auf, die sie mehr noch, ja auf ungleich problematischere Weise als das durch das Gegebensein von sinnlichen Übeln verursachte Problem dazu nötigt, auf religiöse Ideen auszugreifen und sich in religiös bestimmter Weise zu verfassen und zu entfalten. In Bezug auf die Faktizität des schuldhaft Bösen gerät die Vernunft in eine interne Antinomie, die sie nicht nur äußerlich beschränkt, sondern von innen heraus zu zersetzen droht, insofern die bestehende Aporie offenbar nur den scheinbaren Ausweg von hochmütiger Hybris und deprimierter Verzweiflung zulässt. U m angesichts der hamartiologischen Antinomie nicht in einen destruktiven Widerspruch mit sich selbst zu geraten, bedarf die Vernunft des Bezugs zur Religion. Dieser Bezug ist vernünftigerweise gefordert, weil Vernunft ohne Religion an ihrem eigenen Gesetz hamartiologisch scheitern müsste.
Reformatorische und sonstige Einsichten
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Der unweigerliche Übergang der Moral in die Religion, mit dem er rechnet, ist Kants Urteil zufolge nicht allein und nicht in erster Linie durch das Problem der sinnlichen Übel, sondern primär hamartiologisch veranlasst. Assoziative Bezüge zu ursprünglichen Einsichten der Reformation und zur reformatorischen Thematik von Gesetz und Evangelium legen sich nahe. Niethammer hat diese Zusammenhänge ebenso wenig reflektiert wie Karl Johann Friedrich Roth, obwohl die Lutherausgabe beider „durch die Wirkung, die sie ausübte, in besonderer Weise das lutherische Gepräge der bayerischen Landeskirche mitzubestimmen berufen war" 4 . Eine genau durchdachte Verbindung seines Kantianismus mit der ursprünglichen Einsicht der Reformation von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen durch Glauben wusste Niethammer nicht herzustellen. Für die religiösen Selbstdeutungsvollzüge praktischer Vernunft, die sein Kantianismus in Anschlag bringt, ist die Glückseligkeitsthematik sehr viel zentraler als das Thema der Sündenschuld. Im Übrigen darf nicht übersehen werden, dass das für Niethammer zentralste Problem in der theologischen Frage bestand, welcher Stellenwert dem Gottesgedanken überhaupt vernünftigerweise zuerkannt werden könne. Kann der Gottesgedanke ein bloßes Selbstgeschöpf der Vernunft genannt werden, wenn ihn die Vernunft, um sich selbst zu verstehen, notwendigerweise denken muss? Nachgerade die praktische Vernunft weiß sich genötigt, den Begriff des Unbedingten in Form des Gedankens des höchsten Guts als der Einheit von Intelligibilität und Sensibilität auszubilden: Welchen Realitätsstatus hat dieser Begriff und mit ihm der Gottesgedanke als ein unveräußerliches Implikat der Selbstvergewisserung praktischer Vernunft? Ist das um der möglichen Realisierung sittlicher Freiheit unter endlichen Bedingungen willen unverzichtbar geforderte Postulat des Daseins Gottes ein hinreichender Grund, dessen Wirklichkeit anzunehmen, obwohl wir nach Kant weder von der Notwendigkeit des Daseins Gottes noch von seiner inneren Möglichkeit theoretisch auch nur den mindesten Begriff haben? Ist der Gottesgedanke anderes als eine methodische Hypothese bzw. ein Produkt der Vernunft, die ihn erzeugt, wenn die Existenz Gottes als einer in sich subsistierenden Entität theoretisch unausweisbar bleibt? Sind Theologie und ihr Gegenstand Gott, der doch ihr Subjekt zu sein allen Anspruch hat, lediglich Funktionen praktischer Vernunft und ihrer Selbstdeutungskultur? Ist Religion allein dem Interesse einer sinnlichkeitskompatibeln Realisierung der Sittlichkeit geschuldet, das auch für den Gottesgedanken erkenntnisleitend ist? Oder können der Gottesgedanke und die Idee des Absoluten, obwohl ohne praktischen Vernunftbezug nicht denkbar, Realität beanspruchen an sich selbst?
4
G. Merz, a.a.O., 132.
232
Reformatorische und sonstige Einsichten
Es waren Fragen dieser Art, welche Niethammer als Theoretiker praktischer Vernunft vor allem beschäftigten. Dabei wollte er sich unter keinen Umständen mit dem Bescheid zufrieden geben, das Dasein Gottes sei nichts weiter denn eine bloße Als-ob-Fiktion zum Zwecke der Lösung von Problemen, die der Sittlichkeit im Laufe ihrer Selbstrealisierung unter den Bedingungen der Sinnlichkeit begegnen. Zwar wollte Niethammer die Bindung von Religion und Theologie an praktische Vernunft keineswegs auflösen, sondern eher befestigen; aber zur Anerkenntnis der Annahme, Religion und Theologie seien auf das Unbedingte nur bedingungsweise bezogen, wollte er sich nicht verstehen. Das religiöse Bewusstsein, dessen Reflexionsgestalt die Theologie ist, verhält sich nach Niethammer zum U n bedingten vielmehr auf unbedingte Weise, nämlich so, dass es sich als Bewusstsein des Unbedingten im Unbedingten selbst begründet weiß. Gedanklich ausgeführt hat er diese Überlegungen, die hintergründig seine Kantinterpretation bestimmen, allerdings nicht. Wer hier genauere Aufschlüsse sucht, wird diese weniger bei Niethammer als vielmehr bei seinem Freund Hegel finden. Als dieser einst in seinen jungen Jahren nach einem Zechgelage angetrunken ins Tübinger Stift wankte, bemerkte sein Stubensenior herablassend: „O Hegel, du saufsch dr no dei bissle Vrschtand ab." 5 In Erfüllung ging diese düstere Prophezeiung höchstens insofern, als Hegels spätere philosophische Mission im Wesentlichen darauf ausgerichtet war, den Kant'schen Verstand dialektisch zur Vernunft zu bringen. Niethammer folgte dem Freund auf seinen spekulativen Wegen nicht oder allenfalls, wie man in kirchlichen Kreisen zu sagen pflegt, ein Stück weit. Er wandte sich auf der Höhe seines Lebens primär praktischen Tätigkeiten zu, um zu guter Letzt an Sinnsprüchen wie diesem Gefallen zu finden: „O Seelig, wen sein gut Geschike / Bewahrt vor grossem Ruhm und Glüke, / Der, was die Welt erhöht, verlacht; / Der weniger gedrükt vom Joche der Geschäffte / Des Leibes und der Seele beste Kräffte / Zum Werkzeug stiller Tugend macht." 6 Hegel hatte diese Verse während seiner Zeit im Tübinger Stift, als er selbst noch mit Kant sympathisierte, einem unbekannten Freund ins Stammbuch geschrieben.
5 W . - U . Deetjen, Vom Stift zu Tübingen. Assoziationen zu seinen Anfängen, in: F . Hertel (Hg.), In Wahrheit und Freiheit. 450 Jahre Evangelisches Stift in Tübingen, Stuttgart 1986, 1 5 - 2 8 , hier: 16. 6 V. Schäfer, N e u e Stammbuchblätter von Hölderlin und Hegel, in: F . Hertel (Hg.), a. a. O . , 1 7 7 - 2 0 4 , hier: 189.
Personenregister
Aenesidemus; siehe: Schulze, G.E. Albrecht V., Herzog v. Bayern 207 Aristoteles 36 Arndt, E.M. 220 Bacon, F. 34 Baggesen, J. 75 Bardili, C.G. 132, 172 Basedow J . B . 196 Bertuch, F.J. 219 Brentano, C. 220 Creuzer, G.F. 220 Cuno, C . H . 75 Danz, J.T.L. 220 Daub, K. 176 Diez, I. C. 20-23, 25 f, 30, 59, 101, 107 f, 124, 126-129, 131, 171,220 Döderlein, J.Ch. 13,21, 118, 124 Döderlein, L. 13 Döderlein, R.E. 13, 118 Eichhorn, J.G. 21, 112 Eichstädt, K.H.A. 220 Erhard, J.B. 10, 25 f, 30-32, 62,93, 101 f, 107f, 120, 122, 124, 126-129, 131, 133, 138, 171, 175, 220 Ettinger, C.W. 102 Evers, A. 192,200 Fabbianelli, F. 131 Feuerbach,A. 32 Feuerbach, L. 32, 101,220 Feuerbach, P.J.A. 32, 220 Fichte, J.G. lOf, 18-20, 25-29, 31 f, 59, 62, 64, 68-79, 87, 93f, 96, 99, 101, 104, 107f, 110, 112-117, 120-124, 126-128, 130-134, 136-138, 140, 150f, 155-163, 165 f, 169 f, 172-175, 181-185, 208, 219 f, 222, 224 Flau, C.C. 57f Flatt, J.F. 57, 59
Forberg, F.K. 69, 101 f, 124, 137, 149-156, 160 f, 163 f, 171,182, 220 Frank, M. 9 f, 28-32 Fries, J.F. 18,220 Fröbel, F.W.A. 220 Frommann, C.F.E. 191, 220 Fuchs, K. 176,208 Fülleborn, G.G. 105 Gabler, J.P. 14,21, 119 Goethe, J.W. v. 115, 119 f, 136 f, 159, 162, 175, 184, 215, 219f, 230 Griesbach, J.J. 21, 119, 219f Grimm, Gebrüder 13 Gürsching, H. 11 Haenlein, H.K.A. 208,216 Hardenberg, F. v. 28, 32, 114, 121, 125, 220 Hegel, G.W.F. 13, 18f,28, 62, 69, 101, 111, 116-118, 120, 124, 126, 156, 166, 191, 197,219, 222,232 Hegel, T.I.C. 118 Heidegger, M. 189 Henke, G. 17 Henrich, D. 9 f, 21, 25-28, 58, 84, 106 f, 111, 120, 126, 144, 170, 190 Herbart, J.F. 196, 220 Herbert, E. (Baron v. Cherbury) 53 Herbert, F.P. Baron v. 30 f, 80, 102f, 106, 120, 124, 130 Herder, J.G. 136, 168,230 Hirsch, E. 61,75, 185 Hojer, E. 17 Hölderlin, F. 28-31, 69, 101, 111, 116, 120-125, 220 Hufeland, C.W. 220 Hufeland, G. 71, 124, 138, 162, 220 Humboldt, A. v. 220 f Humboldt, W. v. 120, 138, 189, 192, 197, 221 Hume, D. 34
234
Personenrregister
Jacobi, F . H . 18, 27, 29, 125, 130, 166f, 191, 207 Jacobs, F. 167,215 Jacobs, W.G. 11 Janke, W. 122 Kalb, C. v. 125 Kalb, F. v. 120 Kant, I. 10, 18-37, 39-54, 56-62, 65, 67-71, 75, 77, 79-89, 93-95, 97, 99-104, 1 0 6 108, 110-116, 126, 128-137, 139-142, 144 f, 149, 151, 165 f, 168-170, 182, 191, 194, 196f, 204 f, 209, 217-219, 2 2 1 - 2 3 2 Karoline F.W., Prinzessin v. Baden 15 Klopstock, F.G. 120 Krais, J . F . 109, 141 Krause, K.C.F. 124, 221 Lauth,R. 122 Lavater, J.K. 70, 172 Leibniz, G.W. Freiherr v. 37, 53 Lengefelds, C. v. 221 Lessing, G.E. 185 Lindner, G. 10, 167 Locke, J . 34 Loewe, H . 17 Ludwig I., König von Bayern 189, 217 Lupin, A. Freiherr v. 13 Luther, M. 2 0 9 f , 212-218, 222, 229-231 Maimón, S.25, 29, 113,130, 138 Martini, C . 176 Maurer, W. 10 Maximilian IV. (I.) Joseph, König von Bayern 14, 189 Mereau, S. 220 Montgelas, M. Graf v. 11, 14 f, 193 Moritz, K.P. 113 Nicolai, F. 136, 160, 208 Niethammer, E.E. 20 Niethammer, J . 13 Niethammer, J . E . 20, 141 Niethammer, M. 13 Niethammer, R.E.; siehe: Döderlein, R.E. Novalis; siehe: Hardenberg, F. v. Paul (Richter), J . 13, 191 Paulus, H.E.G. 13, 21, 102, 112, 119, 123, 160, 162, 176, 221
Pestalozzi, J . H . 192, 196 Pitaval, F.G. de 105 Platner, E. 156 Reinhold, K.L. 10, 25, 28-31, 62, 69, 71, 75, 87, 101 f, 104, 107-109, 112-114, 118, 126-128, 130-132, 138, 140, 163, 171 f, 175,219, 221 Riedesel, Baron v. 11 Ritter, J.W. 221 Rosenzweig, F. 116 Roth, K.J.F. 167, 208, 212, 216, 2 2 9 , 2 3 1 Rousseau, J.J. 197 Savigny, F. C. v. 220 Schelling, C.; siehe: Schlegel, C. Schelling, F.W.J. 11, 18f, 28, 58f, 62, 69, 101, 109-111, 114-120, 123, 162, 166 f, 170, 173-175, 184, 191, 219f, 222, 229 Schiller, C. 118 Schiller, E.H.L. 118 Schiller, J . C . F . 1 0 , 2 1 , 102,105 f, 118-120, 123-125,136-138,159,194,197,219221 Schlegel, A.W. 124, 166, 2 1 9 f Schlegel, C. 114, 215, 2 1 9 f Schlegel, D. 124, 220 Schlegel, F. 28f, 32, 124, 2 1 9 f Schleiermacher, F.D.E. 27, 58, 166, 176, 183-186, 188-191, 228 Schmid, C . C . E . 21, 1 0 1 , 1 0 7 , 1 1 9 , 132, 221 Schmid, J.W. 21 Schnurrer, C . F . 101, 124 Schopenhauer, A. 171 Schulze, G.E. 29, 70, 1 0 9 , 1 1 2 , 1 1 4 , 131, 171 f Schütz, C.G. 124,219, 221 Schwarzmaier, M. 17, 196 Seckendorf, J . C . A . Freiherr v. 216 Semler, J.S. 53 Sextus Empiricus 102, 105, 121 Shaftesbury, A.A.C. 197 Shakespeare, W. 220 Snell, F.W.D. 107, 132 Spalding, J . 181 Steffens, H. 221 Storr, G.C. 11, 19, 2 1 - 2 3 , 26, 28, 55-60, 67, 94-101, 111, 167, 2 0 7 , 2 0 9 , 2 1 5 , 228 Süskind, F . G . 26, 57-59, 94
Personenrregister Tennemann, W.G. 221 Thiersch, F. 14,194, 207f, 229 Tholuck, F.G.A. 216 Tieck, L. 220 Troeltsch, S. Freiin v. 13 Veit-Schlegel, D.; siehe: Schlegel, D. Visbeck, J . C . C . 109 Voigt, C . G . 119f Voß, H. 124, 221 Waibel, V.L. 121 f Walch, J . G . 214
Weiller, K. v. 193, 208 Wette, W.M.L. de 58 Wieland, C.M. 219 Wilhelm V., Herzog v. Bayern 207 Winckelmann, J.J. 197 Winkelmann, A. 220 Wismayr, J . 1 9 3 , 2 0 7 f Wittekind, F. 75 Wolff, C . Freiherr v. 53 Wöllner, J . C . v. 80 Wolzogen, C . v. 221 Zentner, G . F . Freiherr v. 193
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Wenn Sie weiterlesen möchten . Gunther Wenz
Religion Aspekte ihres Begriffs und ihrer Theorie in der Neuzeit Studium Systematische Theologie (StST), Band 1. Band 1 erörtert im Kontext der neueren evangelischen Theologie in Deutschland Aspekte des modernen Begriffs der Religion und ihrer Theorie. Wenz geht davon aus, dass die Spaltung der westlichen Christenheit ein Ereignis mit epochalen Fragen für Begriff und Verständnis von Religion ist. Nach einer Skizze der nachreformatorischen Entwicklung entfaltet Wenz die Religionstheorien der Sattelzeit der Moderne unter Konzentration auf Kant, Hegel und Schleiermacher. Auch religionskritische Strömungen finden Berücksichtigung. Eingeleitet w i r d der Band mit einer an Niklas Luhmann und Jürgen Habermas orientierten Analyse zur religiösen Lage der Gegenwart.
Gunther Wenz
Offenbarung Problemhorizonte moderner evangelischer Theologie Studium Systematische Theologie (StST), Band 2. Unter dem Aspekt der Offenbarungsthematik bietet der zweite Band Fallstudien zur Problemgeschichte evangelischer Theologie in Deutschland während des 19. und 20. Jahrhunderts. Herangezogen werden die kritischen Rezipienten Schleiermachers, Hegels und Kants, wobei Erweckungstheologen, der späte Schelling und Ritsehl samt seinen Schülern besondere Berücksichtigung finden. Erwägungen zu den Versuchen einer kulturprotestantischen Synthese sowie zum Historismus und seinen Problemen leiten über zur Theologie der Krise bei Karl Barth. Ihre Krise wiederum w i r d an Brunners und Bultmann, Eiert, Althaus und Hirsch sowie an Tillich dargestellt.
Gunther Wenz
Kirche Perspektiven reformatorischer Ekklesiologie in ökumenischer Absicht Studium Systematische Theologie (StST), Band 3. Im Mittelpunkt von Band 3 steht die Entwicklung von Grundzügen evangelischer Ekklesiologie. In Zusammenhang mit der ökumenischen Bewegung skizziert Wenz Geschichte und gegenwärtige Verformung unter Bezug auf den Ökumenischen Rat der Kirchen, die Konfessionellen Weltbünde, die Leuenberger Kirchengemeinschaft sowie auf die EKD und die VELKD. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Lehre vom Kirchlichen Amt und dem Dialog mit der römisch-katholischen Kirche. Den Hintergrund der Darstellung bilden die Geschichte der Konfessionalisierung der westlichen Christenheit und das Problem ziviler Befriedung von Religionsgegensätzen.
Gunther Wenz
Gott Implizite Voraussetzungen christlicher Theologie Studium Systematische Theologie (StST), Band 4. Nach den Bänden über Religion, Offenbarung und Kirche findet die Reihe zum Studium Systematische Theologie mit den Themen Gott, Christus und Geist ihre Fortsetzung. Der vorliegende Band »Gott« bietet keine allgemeine Gotteslehre in der überkommenen Form sogenannter natürlicher Theologie, sondern rekonstruiert die impliziten Voraussetzungen christlicher Theologie auf historischtraditionsgeschichtliche Weise. Thematisiert werden zunächst die religiösen Überlieferungen Israels und die Gehalte der hebräischen Bibel. Der Entstehung des Monotheismus kommt dabei besondere Aufmerksamkeit zu. Sodann bietet Gunther Wenz eine Darstellung antiker griechischer Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Ontotheologie. Theologie bedarf der kritischen und orientierenden Reflexion der Philosophen. Die Philosophie kann ihrerseits nicht zu einem umfassenden Verständnis des Menschen in der Welt gelangen ohne Berücksichtigung der Bedeutung des Religiösen für die menschliche Natur. Der Folgeband »Christus« wird Jesus und den Anfängen christlicher Theologie gewidmet sein. Das trinitarisch-christologische Dogma der Alten Kirche, in dem das christliche Gottesverständnis seinen klassischen Ausdruck gefunden hat, soll im Band »Geist« erörtert werden.
In Vorbereitung sind die Bände 5-10: Christus, Geist, Schöpfung, Sünde, Versöhnung, Vollendung.
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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie u
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Herausgegeben von Gunther Wenz und Christine Axt-Piscalar Band 119: Kirsten Busch Nielsen / Ulrik Nissen / Christiane Tietz (Hg.) Mysteries in t h c T h c o l o g y of Dietrich Bonhoeffer A Copenhagen Bonhoeffer Symposium 2007.186 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56347-2 Band 118: Stefan Holtmann Karl Barth als Theologe der N e u z e i t Studien zur kritischen Deutung seiner Theologie
Band 114: Johannes Hund Das W o r t w a r d Fleisch Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre in den Jahren 1567 bis 1575 2006. 745 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56344-1 Band 113: Jennifer Wasmuth Der P r o t e s t a n t i s m u s u n d d i e
2007. 444 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56346-5
russische Theologie Zur Rezeption und Kritik des Protestantismus in den Zeitschriften der Geistlichen Akademien in der Wende vom 19. zum 20. Jh.
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Morgenröte künftigen Lebens Das reformatorische Evangelium als Neubestimmung der Geschichte. Untersuchungen zu Martin Luthers Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis 2007. 458 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56345-8 Band 116:Jun-HyungJhi Das Heil in J e s u s C h r i s t u s bei K a r l R a h n e r u n d i n d e r Theologie der Befreiung 2006. 245 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56341-0
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Versöhnte Vernunft Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie
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2006. 288 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56343-4
2005. 640 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56338-0
Die S e l b s t e r s c h l i e ß u n g des
Vandenhoeck & Ruprecht
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Gunther Wenz und Christine Axt-Piscalar
I
Band 1 0 9 : Martin Hailer
Band 1 0 3 : H e n n i n g T h e i ß e n
Gott und die Götzen Uber Gottes Macht angesichts der
Die evangelische Eschatologie und das Judentum
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Strukturprobleme der Konzeptionen
2005. 4 3 0 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525 5 6 3 3 6 - 6
seit Schleiermacher 2004. 328 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56256-7
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2003. 367 Seiten, gebunden ISBN 9 7 8 - 3 - 5 2 5 - 5 6 2 4 2 - 0 Band 101: Claus Schwambach
2005. 382 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56335-9
Rechtfertigungsgeschehen und Befre i u ngs prozess
Band 1 0 6 : M a g n u s Schlette
Leonardo Boff im kritischen Gespräch
Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen
2004. 397 Seiten, gebunden ISBN 9 7 8 - 3 - 5 2 5 - 5 6 2 3 9 - 0
Die Eschatologien von Martin Luther und
Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus
Band 1 0 0 : Per Loenning
Is Christ a Christian?
2005. 384 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56333-5
On Inter-Religious Dialogue and Intra-
Band 1 0 5 : Christoph Klein
2 0 0 2 . 254 Seiten, gebunden
Das grenzüberschreitende Gebet
ISBN 978-3-525-56225-3
Religious Horizon
Zugänge zum Beten in unserer Zeit Mit einem Geleitwort von Christian Zippert. 2004. 222 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56334-2
Band 9 9 : Eeva Martikainen
Religion als Werterlebnis Die praktische Begründung der Dogmatik bei Wilhelm Herrmann
Band 1 0 4 : Karsten Lehmkühler
Inhabitatio
2 0 0 2 . 215 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56218-5
Die Einwohnung Gottes im Menschen 2004. 365 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56331-1
Vandenhoeck b Ruprecht