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German Pages 408 Year 2017
Sebastian Thede Hasard-Schicksale
Lettre
Sebastian Thede, geb. 1984, freier Lektor, war bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsinteressen umfassen die Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Theorien des Erzählens und die Philosophie der Kontingenz sowie Ästhetik und Intermedialität der Gegenwart.
Sebastian Thede
Hasard-Schicksale Der literarische Zufall und das Glücksspiel im 19. Jahrhundert
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
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Inhalt
Danksagung | 9 Einleitende Bemerkungen über Zufall und Schicksal | 11
Begründung des Hasard | 11 The Imp of the Gambler | 17 Narrative Ökonomie des Zufalls: Jenseits des Probabilismus | 28 Schickung. Wege und Umwege des Hasard | 39
G RUNDRISSE: ZUFALL – MODERNE – S PIEL 1. Grundrisse des Zufalls | 45 Lovells Lehrjahre | 45 Grund und Zufall | 59 Der Satz vom Grund und seine Risse (Leibniz/Nietzsche/Meillasoux) | 64 Fall des Würfelwurfes (Peirce/Mallarmé) | 74 Chancen des Zufalls (Derrida) | 80 2. Arbitrarität der Moderne | 85
Moderne Polyvalenzen | 85 Ambivalenz-Player (Bauman) | 89 Spiel moderner Zeiten (Benjamin) | 96 Das ökonomische Untergeschoss (Simmel/Defoe) | 102 3. Poetologie des zufälligen Spiels | 117
Begreifen des Spiels und Spiele des Begriffs | 117 Fiktionsspiele | 126 Erzählung des Hasard | 131
HASARD-N ARRATIVE IM 19. J AHRHUNDERT . MÖGLICHKEITEN DER KONTINGENZ IM E RZÄHLEN 4. Zufallswiederholungen. E.T.A. Hoffmanns Spieler-Glück | 139
Dramatische Wiederholungen des Spielers (Iffland/Lessing) | 139 Serapiontisches Glück im serapiontischen Spiel | 149 Automatische Wiederholungen der Signifikanten des Zufalls | 158 (Uhr-)Zeit der Ökonomie | 166
Exkurs: Dupins Analyse | 175
Der Fall des Detektivs | 175 Kontingente Auflösung | 184
BALZACS TILGUNGEN. LA COMEDIE HUMAINE UND DIE W IRKLICHKEIT DER K ONTINGENZ 5. Avant-propos. Gesetze des Zufalls | 195
Geschichte und Erzählung des Vorworts | 195 Zum Gesetz der „unité de composition“ | 199 Zoon oikonomikon und odysseische Struktur | 211 Zufall, größter Romancier | 218 6. Spiel gegen die Wirklichkeit | 227
Exkurs: Spieltisch Frankreich | 227 Falsches Spiel mit der Wirklichkeit | 235 Wirklichkeitsentzug des Hasard I: Spielentscheidungen | 242 Wirklichkeitsentzug des Hasard II: Aufschub im Spiel | 250 Coda: Die Wirklichkeit des Schreibens | 257 7. Spiel um das erzählte Leben. La Peau de chagrin | 267
Die verbogene Gerade | 267 Überfluss des Zufallsspiels | 273 Nachleben: Bio-Ökonomie | 286 Ausblick: Der regulative Erzähler | 295
ZIRKULÄRE ZUFALLGESCHICHTE. FËDOR DOSTOEVSKIJS UNENDLICHER S PIELER 8. Fall des Zéroismus | 301 Fallbeispiel | 301 Beispiel des Spielers | 306 Verfasser, Erzähler, Zéro | 313 9. Hasard-Zirkel | 319 Zuverlässiges Erzählen vom Spiel | 319 Gambler’s fallacy | 323 Spielers Schwur: Das Spiel von morgen | 330
S UIZIDÄRE ZUFALLGESCHICHTE . KONTINGENTER TOD BEI ARTHUR S CHNITZLER 10. Kontingenzbeginn | 339
Zufallswerk | 339 Jugend am Spieltisch | 342 11. Offizierscasino | 351
Spiel bis zum Erwachen | 351 Exkurs: Schuld der Spielratte | 358 Hand an sich | 362 Viel geht noch. Von Wahrsage-Apparaten und Guckkästen | 369 Literaturverzeichnis | 381
Danksagung
Diese Veröffentlichung stellt eine überarbeitete Version meiner im Sommersemester 2015 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommenen Dissertation dar. Auf dem Weg von der ersten Idee über die eingereichte Arbeit bis zum fertigen Buch ereigneten sich zahlreiche inspirierende Begegnungen, denen ich viel verdanke – manche aus Zufall, manche nicht. Ohne den Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft (ProLit) der LMU hätte das Projekt notwendigerweise nicht entstehen können. Die freundliche Aufnahme an der Universität in München, die unzähligen lehrreichen Veranstaltungen, Tagungen, Seminare, Vorträge und Lektüreabende haben mir ein Arbeitsumfeld geboten, in dem die von Max Weber beobachtete Tatsache, dass das „akademische Leben […] ein wilder Hazard“ sei, durch die intellektuelle, fachliche und freundschaftliche Bereicherung entscheidend gemildert wurde. Die gesicherte Fortführung des themenoffenen strukturierten Promovierens in den Geisteswissenschaften war Gegenstand vieler engagierter Debatten mit den Kolleginnen und Kollegen des ProLit. In unserem Studiengang stand die Erfahrung einer methodischen und disziplinären Vielfalt im Vordergrund, der ich zu großem Dank verpflichtet bin und die ich noch vielen weiteren Generationen wünsche. Das Kolloquium und die Mitglieder des ProLit haben mit ihren Anmerkungen, Hinweisen und ihrem kritischen Blick die Gestalt der Arbeit maßgeblich beeinflusst und bereichert. Zuallererst ist meinen BetreuerInnen Prof. Dr. Robert Stockhammer und Prof. Dr. Annette Keck zu danken. Die einsichtsreichen Diskussionsbeiträge von Prof. Dr. Martin von Koppenfels bleiben mir in wertvoller Erinnerung. Ein großes Dankeschön gilt Dr. Markus Wiefarn, der als Koordinator des ProLit mit seiner herausstechenden Besonnenheit und seinem Humor für die besondere Atmosphäre im Studiengang verantwortlich zeichnet. Zu den wichtigsten Einflüssen gehört der produktive Austausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen. Meine Promotionszeit verbinde ich untrennbar mit Sandra Fluhrer und Sebastian Huber. Ihr Wissen und ihre Freundschaft begleiten und prägen mich weit über die Promotionszeit hinaus. Für das genaue und anregende Lektorat
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meiner Arbeit danke ich Sandra Fluhrer ganz besonders. In unzähligen Gesprächen, auf Spaziergängen, in Seminar- und Toberäumen standen mir Nadine Feßler, Reinhard Babel und Jan Söhlke mit zahlreichen Hinweisen, Lektüretipps und ihrer einzigartigen Gemeinschaft stets zur Seite. Ich danke ihnen für die schöne Zeit. Ganz besonders möchte ich Vera Kaulbarsch danken, die mir manche Krise zu überwinden half und den vielen Zufällen im Leben einen eigenen Sinn verlieh. Während eines Auslandssemesters an der New York University, das mir der Studiengang ermöglichte und mit einem Stipendium förderte, lernte ich auf unvergleichliche Weise die Menschen, das Leben und den akademischen Betrieb am Washington Square Park kennen. Für anregende Diskussionen über die Wiener Moderne danke ich Prof. Dr. Alys George, für ein inspirierendes Seminar Prof. Dr. Avital Ronell. Für wichtige Anregungen bin ich den Graduate Students des German Department verbunden, allen voran Ferdinand Bubacz, Jonathan Kassner und Kurt Hollender. Sebastian Lehmann und Lars Laute haben mit ihren Anregungen und ihrer Freundschaft zu dieser produktiven Phase meiner Arbeit einen großen Beitrag geleistet. Ein dankender Gruß geht an die Freie Universität Berlin. Ohne einen Lehrer wie Prof. Dr. Hans Richard Brittnacher hätte der Weg durch den wissenschaftlichen Umgang mit Literatur nur halb so viel Freude bereitet. Und ohne die Förderung und Freundschaft von Dr. Frank Stucke wäre diese Studie gar nicht erst möglich geworden. Dr. Frank Stucke, der die Veröffentlichung meiner Arbeit leider nicht mehr miterleben kann, hat nicht nur für die nötige Orientierung hinter den Kulissen des hasardesken Wissenschaftsbetriebs gesorgt, sondern auch immer darauf geachtet, dass ich das Leben und die Musik nicht vernachlässige. Die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften ermöglicht es mit ihrer großzügigen Förderung, dass dieses Buch bei Transcript erscheinen kann. Für diese wichtige Unterstützung möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen. Ich danke dem Verlag für die Möglichkeit, in seiner Reihe „Lettre“ veröffentlichen zu können. Schließlich möchte ich meinen Eltern Gabriele und Richard Thede danken, die sich trotz ihrer naturwissenschaftlichen Natur stets für meine Interessen begeisterten, mich ermutigten und mit Rat und Tat jederzeit bereitstanden. Ihnen sei dieses Buch gewidmet.
Einleitende Bemerkungen über Zufall und Schicksal Es ist der Zufall: er, der die königliche Kunst versteht, einleuchtend zu machen, daß gegen seine Gunst und Gnade alles Verdienst ohnmächtig ist und nichts gilt. SCHOPENHAUER, APHORISMEN ZUR LEBENSWEISHEIT
Est-ce que l’irrationnel – l’aléatoire – n’est pas au début de chaque engagement philosophique? JEAN GENET IN EINEM BRIEF AN JACQUES DERRIDA, UNDATIERT
The highway is for gamblers, better use your sense Take what you have gathered from coincidence BOB DYLAN, IT’S ALL OVER NOW BABY BLUE
B EGRÜNDUNG DES H ASARD Die Frage nach dem Zufall stellt eine erhebliche Kontroverse in der Geschichte des Denkens dar. Sie begleitet uns im Alltag und ist zugleich ein eingängiges Thema höherer Reflexion. Ob der Verlauf des Lebens schicksalhaft und überzeitlich festgelegt und somit nicht in Abweichung vom sich Vollziehenden zu realisieren ist oder immer wieder von kleineren und größeren Begebenheiten beeinflusst und durcheinandergeworfen wird, die auch anders möglich gewesen wären, ist zwar anhand solcher Miniaturen wie der Unzuverlässigkeit des Wetters, der unerwarteten Begegnung in der U-Bahn oder dem wöchentlich ausgefüllten Lottoschein nachvollziehbar zu reformulieren, aber nie zu entscheiden. Debatten, die auf diese Frage zurückführen, finden sich u.a. in der Rechtswissenschaft, der Soziologie und in der Ökonomik. Da
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diese Disziplinen entscheidende Überlegungen hinsichtlich einer linearen versus offenen Beschaffenheit des Seins wiederholen oder etwa in eine Auseinandersetzung zwischen freiem Willen und Determinismus übersetzen, um in ihre Wissensbereiche vorstoßen zu können, handelt es sich in erster Linie um ein philosophisches und erkenntnistheoretisches Problem. In den folgenden Ausführungen wird die Relevanz des Zufalls für das Verständnis vom Erzählen betrachtet. Im Mittelpunkt stehen Zufall und Zusammenhang, Kontingenz und Kausalität. Das Spezifische dieser Begriffe wird dabei in Bezug auf das Glücksspiel konturiert, dessen Praxis, wie kaum eine andere, das Zufällige in den Vordergrund rückt. Im selben Schritt offenbart es, inwiefern ein Denken in Zusammenhängen gerade dort aktiv werden kann, wo der Zufall doch vermeintlich die Verbindungen zwischen Ereignissen abgeschnitten hat. Jeder glückliche oder unglückliche Spieler, der mal einer erinnerungswürdigen Partie beiwohnte, weiß, was es bedeutet, Zufälle im Glücksspiel plötzlich abseits ihrer Zufälligkeit wahrzunehmen und im Nachhinein mit einer Reihe verschiedener Bedeutungen zu versehen. Dieses Versehen, dieses Missverständnis ist zentraler Bestandteil der Spielberichterstattung, die in der Narration ein kontingentes Spiel mit providentiellem Sinn ausstattet. Wer von einem auf Zufall basierenden Glücksspiel erzählt, zementiert die Irreversibilität seiner Zufälle. Von dieser Beobachtung ausgehend ergibt sich die Frage, inwiefern im Erzählen von Zufall eine generelle literarische Struktur zum Tragen kommt, nämlich der Zufall des Erzählens. Nichtzusammenhängendes mit Zusammenhang und Kontingentes mit Alternativlosigkeit zu versorgen, ist Teil des narrativen Ereignisses. Einerseits erzählen Zufallsgeschichten von dieser Eigenschaft des Erzählens, andererseits erzählen sie mit der semantischen Kompensation – ihrer konkreten Begründung von Zufällen – auch noch etwas Anderes. Die Schilderung von Zufall ist von dessen Bereits-Geworfen-Sein geprägt und lässt gerade wegen seiner Ursprungslosigkeit beliebige, kontingente Motivationen a posteriori zu. Das Erzählen streift damit gerade anhand einer Zufalls-Mimesis die Grenze der eigenen Darstellungsfähigkeit, schließlich wird mit dem entsprechenden Repräsentationsproblem ersichtlich, inwiefern das Erzählen kontingent ist, und zwar nicht nur das Erzählen vom Zufall, sondern das Erzählen überhaupt. David Wellbery stellte Anfang der 1990er-Jahre in seinem Aufsatz Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs fest: „Das hergebrachte Modell des Narrativen ist nichts anderes als die Auslöschung des Zufalls [...]. Eine nicht zirkuläre (und damit freilich auch nicht autonome, unreine) Theorie des Narrativen hätte mit anderen Worten die Dimension der narratologischen Funktion und deren Chrono-Logik in Berührung zu bringen mit einer anderen Ordnung, präziser: mit der Nicht-Ordnung, der Anachronie der Kontingenz, die jene durchkreuzt.“1 Die Interventionen von Kontingenz in der literarischen Aus-
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Wellbery, Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs, S. 167f.
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einandersetzung mit Kausalität, Providenz oder Schicksal tragen erheblich zur Wirkung des Fiktionalen bei und stellen für sich einen möglichen Ansatz in der Interpretation formaler Verfahren und inhaltlicher Entscheidungen dar. Zu den betreffenden Mechanismen des Erzählens gehört, dass das Nächste auf dem Sinn des Vorhergegangenen aufbaut, wie der Sinn des Vorhergegangenen immer auch darin besteht, das Nächste vorzubereiten und zu lizensieren. In diesem Schema kann die Kontingenz der jeweiligen Verknüpfungen allerdings nicht beiseitegeschoben werden. Es ist insofern nicht das Zusammenhängende, sondern gerade das Zufällige, das Nicht-Begründete als narratologisches Kriterium zu analysieren. Entgegen entsprechender strukturalistischer Ansichten zum Erzählen, die bevorzugt das Kausale in den Vordergrund rücken, soll herausgearbeitet werden, wie ein Erzählen dort funktioniert, wo das Zusammenhängen ausgesetzt ist, maximiert im Zufall. Kausalität, das machen bereits die Romane und Erzählungen des 19. Jahrhunderts anschaulich, ist nicht das exklusive narratologische Formprinzip, zu stark ist der Widerstand durch eine Perspektive, die auch das Kontingente zulässt. In etwaig realistischen Texten, so soll gezeigt werden, fordert die Kontingenz, mehr oder weniger versteckt, aber eben im Glücksspiel doch offenbar, seinen Platz auf dem literarischen Tableau ein. Eine Begutachtung und Interpretation der Spannung zwischen Funktionen und Dysfunktionen im Erzählen, verdichtet in der Funktion und Dysfunktion der Zufallsdesignation des erzählten Glücksspiels, fungiert als methodischer Ausgangspunkt dieser Arbeit. Sie versucht damit ein Element einer möglichen „strukturellen Verwandtschaft zwischen Erzählung und Glücksspiel“2 herauszugreifen und zu erläutern, um im günstigsten Fall eine solche strukturelle Verwandtschaft besser verständlich werden zu lassen. Wie der Spielsaal selbst ist der Spannungsraum zwischen Zufall und Zusammenhang durch zahlreiche kulturelle Koordinaten geprägt. Die hier vorgelegten Analysen von Kontingenz- und Glücksspielinszenierungen werden entsprechend von einem bestimmten historischen Rahmen zusammengehalten. Mit E.T.A. Hoffmann (17761822), Honoré de Balzac (1799-1850), Fëdor Dostoevskij (1821-1881) und Arthur Schnitzler (1862-1931) liefern Autoren das Hauptkorpus dieser Arbeit, deren Texte die Entwicklung der Prosa im Laufe eines von erzählender Literatur massiv geprägten Jahrhunderts deutlich kennzeichnen. Anhand ihrer Erzählungen und Romane soll gezeigt werden, wie der Zufall die Bedingungen poetischen Schreibens als Gegengröße zu Ordnung und Kausalität transparent und beschreibbar macht, und zwar während einer Phase, in der angesichts von Profanisierung und Säkularisierung bestimmte Auseinandersetzungen über mögliche Rückversicherungsinstanzen von Ordnung zu beobachten sind. Traditionellerweise steht das Glücksspiel für eine metaphysische Ferndiagnose ein: „Unter der Voraussetzung, daß Gott tatsächlich beim Glücksspiel intervenierte, 2
Schnyder, Alea, S. 232.
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konnten sich die Menschen die Zeit damit vertreiben, ihn fortwährend zu konsultieren. In den Spielkasinos vollzogen sich dann täglich mehr Wunder als im Alten und Neuen Testament.“3 Im Zeitalter bürgerlicher Sinnerosionen und epistemologischer Irritationen verhält sich das Spiel analog zur Frage nach Kausalität, die diese Wunder in ein Komplex aus Zufall und Zufallsdeutung verwandelt, um dabei die Geschichte der entsprechenden Erkenntnistransformation mitzuerzählen. Dem Interesse für das je konkrete Leben und Schicksal ist das Wissen darüber beigestellt, inwiefern es etwas wie Schicksal und Vorherbestimmung überhaupt gibt. Die Profanisierung dieses Prozesses kondensiert beide Investigationen zu einer abkürzenden (erzähltheoretischen) Frage: Was geschieht als nächstes? Die Frage danach, wie einzelne narrative Einheiten zusammenhängen, wie Handlungen auseinander hervorgehen, ohne bloß nebeneinanderstehende Fragmente zu sein, gehört zu den auffälligsten erzähltheoretischen Problemen. Das Glücksspiel ist diejenige Sequenz, in der diese Frage gerade durch den Ausschluss des verknüpften Nacheinanders beleuchtet wird. Man kann zudem beobachten, dass dieser Umstand in einigen literarischen Umsetzungen des Hasard im 19. Jahrhundert auch den Weg zum Spieltisch betrifft: Er ist von einer paradigmatischen Abhängigkeit bzw. von einer urtümlichen Motivation befreit und gewissermaßen als Setzung installiert. Die Kontinuität der Erzählung kann überhaupt durch ein zufälliges und darin diskontinuierliches Ereignis bestimmt sein: eine Gestaltung des Zusammenhängens, die bei Robert Stockhammer „Zufälligkeitssinn“ heißt. Im Unterschied zu Robert Musils Möglichkeitssinn ist es dem Zufälligkeitssinn nicht um die umfassende Virtualität dessen, was parallel tatsächlich (fiktionale) Realität sein könnte bestellt, sondern um den Modus der Realisierung des Tatsächlichen. Der Zufälligkeitssinn „rechnet mit einer Schicksals-, nicht Beliebigkeitskontingenz, also mit etwas, was den beteiligten Personen willkürlich zu-fällt und nicht in ihrer Willkür steht. Darum lässt sich der Zufall mit seinem scheinbaren Gegenteil, einem radikalen Determinismus, verbinden. Wie eine Kugel in einem Billardspiel erleidet das vorgeblich handelnde Subjekt einen bestimmten Stoß, den es weder beeinflussen noch selbst vorausberechnen kann, folgt daraufhin jedoch einer vollständig – wenngleich nicht von ihm selbst – vorausberechenbaren Bahn.“4
In Stockhammers Untersuchung zweier Fassungen von Adalbert Stifters Erzählung Die Schwestern wird der Begriff zusätzlich mit dem Bild des Karussells illustriert, 3
Haase, Die Diskussion des Glücksspiels um 1700 und ihr ideologischer Hintergrund, S. 67f. Glücksspiel hatte den kulturellen Reiz der Versuchung. Die Produktion eines Zufalls aus der Maschine bedeutete einen frivolen Akt, in dem das Göttliche in mikroskopischem Format zu observieren probiert wurde. Zum entsprechenden Diskurs- und Wissenshorizont, vgl. auch Campe, Schau und Spiel, S. 53f.
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Stockhammer, ‚Literatur‘, nach einem Genozid, S. 81f.
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dessen maschinell gesteuertes, konzentrisches Drehen in einem kontingenten Stehenbleiben mündet, einer alternativen Rast „an einer unvorhersehbaren Stelle“, die „jemandes ‚Zum-Stehen-Kommen‘ an einer bestimmten Stelle, die auch eine andere hätte sein können“5, bemerkbar macht. Wer einen Apparat erfindet, in dem Billardkugel und Karussell miteinander kombiniert werden, baut möglicherweise ein Roulette. Dieses pars pro toto des Hasard verschränkt den Zufallsanstoß mit dem kontingenten Stehenbleiben, der „spatialen Kontinguität“6. Beim Glücksspiel mit dem reinen Zufall ist die Aktualisierung eines Ereignisses vom Stehenbleiben der Kugel bestimmt, doch die Konsequentialität und Wegstrecke, die sich aus diesem Ereignis heraus ergibt, muss erst noch in die Begegnung, den Stoß der Billardkugel übersetzt werden. Zufälliges Stehenbleiben als zufälliger Anstoß wird insofern noch mit der kontingenten Deutung einer Sache verschaltet, die vom Spieler unabhängig ist. Damit ist ein Kausalitätsparadigma des Erzählens zur Disposition gestellt: Das Ereignis des Zufalls begründet die folgende Erzählsequenz, es formuliert das mögliche Schicksal und es gewährt eine Interpretation von Schicksal und Zufall. Zur Konzentration dieses Anliegens der Erzählverfahren in einem Zeitalter massiver gattungspoetologischer und formaler Diversifizierungen liefert die Glücksspielszene eine besondere Anschauung – speziell in Texten, die sich der transzendentalen Rückversicherungen über ein distinkt artikuliertes Verhältnis zu Kausalität und Kontingenz annehmen. Bei einer entsprechenden Kontingenzaktivierung im Motiv des Glücksspiels von Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts handelt es sich entsprechend aus sowohl historischen wie auch systematischen Gründen um eine Lektüre der aufbrechenden Moderne und ihres Verhältnisses zum Zufälligen. Aufgrund der Offenheit des Zufalls für seine Schickung bzw. seine außeraleatorische Bedeutungszuschreibung docken verschiedene Diskurse, Disziplinen und Wissensbereiche dieser ausdifferenzierten Moderne manchmal willkürlich, manchmal konzeptionell harmonisch an das Glücksspiel an. Als einschlägiger Stoff drängen sich dahingehend ökonomische Debatten auf, welche bereits in der Essenz des Glücksspiels als Geldspiel en miniature aktiv sind. Trotz dieses synthetischen Aspekts der Spiele wird hier keine Psychologie oder Soziologie des Spiels oder Zufalls aufgestellt. Jon Elster hat bemerkt: „I did not learn much from the vastly more famous fictional accounts of gambling by Dostoyevski (1964) [sic!] or Hamsun (1954). The behaviour of the gamblers in these works seems as mysterious to me as it does to them.“7 Wer einen Entwurf darüber erwartet, wie Spieler „wirklich“ sind, wird hier nicht fündig. Stattdessen geht es um eine Auskunft darüber, womit Spieler in der 5 6
Ebd., S. 82. Ebd. Vgl. auch Stockhammer, Zufälligkeitssinn, S. 271-273, wo in einer dichten Ausführung zur diskursiven und etymologischen Geschichte der Kontingenz die Sprachspiele des Wortstammes contingere, der auch in der „Kontinguität“ vorhanden ist, erläutert werden.
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Elster, Gambling and Addiction, S. 314.
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Literatur einer bestimmten Formation assoziiert und wie sie inszeniert wurden, um im selben Maße an den Inszenierungen von Erzählsequenzen zu arbeiten. Die szenische Erzählweise vom Spiel, in der das Casino als Bühne präsentiert wird, auf der Ereignisse ausgewürfelt werden, gibt einen entsprechend theatralen Blick der Erzählung vor. Auf der Bühne wird ein bestimmter Habitus dargestellt, wird jenes Mysterium um das Sein Spielers wiederholt, von dem Elster gesprochen hat. Es zeigt dabei, wie eine neue Sequenz zustande kommt. Ein mysteriöses, zauberhaftes Moment überlagert im Aberglauben des Hasardeurs den prozessualen Reichtum des Spiels. Der Grund des jeweils aktuellen Zufalls scheint zu reizvoll, um mit ihm eine NichtBegründung als Konsequenz des Hasard zu erkennen. An dieser Sollbruchstelle zwischen Mystik des Spielers und Inszenierung des Spiels steht das narratologische Interesse. Die psychologische Opazität der Hasardeure korreliert einer fiktionalen Kontingenz, die anlässlich des mit Zufall operierenden Spielers alles geschehen lassen kann, aus den guten Gründen des Zufalls. Weil eine „verkürzte Kausalität für Momente von höchster Bedeutsamkeit“ Ereignisse zu erzeugen vermag, „die sich aus den Konsequenzen erzählter Zufälle ergeben“8, findet plötzlich etwas ursprungslos Eintretendes statt. So wie der reine Hasard diese narrative Akausalität behauptet, tritt der Spieler im Spiel weniger als homo oeconomicus, denn als aus der Welt zurückgezogenes Wesen auf. Dieser Effekt ist wiederum auch in der Psychologie des Spielers relevant: „Gambling is one of the activities that people will take up to forget about their existential or metaphysical ennui.“9 Das Zufallsspiel um Geld ist dahingehend vielseitig überkreuzt. Es kann als Teil einer sozioökonomischen Realität rezipiert werden, mittels derer jedoch Weltflucht in ein magisches Spiegelkabinett der Existenz stattfindet. Und es kann in seiner Nacherzählung im literarischen Text als Bedeutungsmaschine verstanden werden, die literarischen Sinn produziert (etwa in Form jener Frage danach, was als nächstes geschieht). Zugleich artikuliert es eine Theorie über die Konstitution literarischen Sinns. Die Überblendung soziologischer, philosophischer, narratolgischer und produktionsästhetischer Aspekte im Glücksspiel beleuchtet seinen poetischen Reiz. Das Gemeinsame in diesem Relais liegt sowohl in der semantischen Verhandlung von Kontingenz durch den Hasard als auch in der subkutanen Anfertigung von Kontingentem im Wirklichkeitsausschnitt Literatur – ein struktureller Umstand, der generell für das erkenntniskritische Potential des Literarischen einsteht. Im Folgenden wird den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten dieser Chancen des literarischen Glücksspiels in mehreren Schritten nachgegangen. In einem ersten Abschnitt werden die Konzeptionen Zufall, Moderne und Spiel betrachtet. Auf der Grundlage der eigenen kontingenten Sprachspiele dieser interdisziplinären Termini soll nachverfolgt werden, wie sich allmählich eine Literatur ausprägt, in der das 8
Müller, Der Zufall im Roman, S. 280.
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Elster, Gambling and Addiction, S. 315.
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poröse Moment des Begründens sich in realistischen Schreibverfahren ansiedelt. Anhand dieser Grundrisse geben zwei exemplarische Kontingenzlektüren bei E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe (1809-1849) Auskunft über die Gestalt des Spiels, des Glücksspieldiskurses, aber auch des Erzählens mit Kontingenz in der anvisierten Zeit. Es schließen drei weitere, auf die Inszenierung von Glücksspielsequenzen fixierte Interpretationen an, deren Löwenanteil Balzac mit dem Gewicht seiner Comédie humaine beansprucht. Zwei Aspekte stellen sich bei Balzac als brisant heraus: Die Zirkularität des Spielens und die Manipulation des Lebens durch das Spiel. Unterstützt werden diese Daten durch die soziologisch und kulturgeschichtlich akzentuierte Schreibweise des französischen Romanciers. Balzacs motivische Arbeit am Hasard wirkt als Mittel zur Gesellschaftsbeschreibung, das aber auch immer einen Ansatz des Geheimnisvollen mitverfolgt, präpariert in den Leidenschaften des rätselhaften Gesellschaftswesens Mensch. Bei Dostoevskij und Schnitzler werden die Momente Zirkularität und Leben schließlich raffiniert, wohingegen der soziologische Ansatz hinsichtlich des Glücksspiels nunmehr kontrastiert und in Richtung existenzieller, psychologischer und autopoetischer Aussagekraft verschoben ist. Zunächst gilt es noch, näher auf den Zufallsbegriff einzugehen. Vor der Frage nach dem Grund für einen Platz des suggestiven Glücksspiels in einer Reihe theoretischer und textanalytischer Auseinandersetzungen, soll diejenige danach, warum überhaupt gespielt wird, behandelt werden, und zwar abseits der psychologischen, medikalen oder soziologischen Antwortmöglichkeiten, die sich hier aufdrängen.
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Edgar Allan Poe liefert in der Erzählung The Imp of the Perverse (1845) eine wichtige Erkenntnis über das Wesen einer genial komponierten Straftat. Das perfekte Verbrechen, so kann man nach der Lektüre schließen, zeichnet sich nicht allein dadurch aus, mit elaborierten Schachzügen die Aufdeckung der Tat vereitelt zu haben; ein hinreichendes Kriterium bietet nicht einmal der Umstand, dass das Delikt nicht als solches erkannt wird. Das perfekte Verbrechen ist vielmehr dasjenige, bei dem auch der Täter selbst nicht weiß, dass er die Tat begangen hat. Denn, so lernen Leserinnen und Leser, im Wissen um die eigene Schuld lauert immer noch die Gefahr, gar das Begehren, sich selbst zu verraten. Poes Erzähler schildert in einer breiten, nicht wirklich systematischen Erwägung einen Anlass jenseits der Gewissensregung für ein solches Geständnis. Dieser Anlass ist als bestimmter Impuls10, bzw. „a paradoxical something, which we may call perverseness“ beschrieben und gerade nicht als Ursache im engeren analytischen Sinne charakterisiert: 10 Bei der im „Imp“ vorhandenen Doppelbedeutung von Impuls und Alp wird zugunsten des Argumentes hier eine nähere Betrachtung der Dimension des Alptraums hintangestellt.
18 | H ASARD-S CHICKSALE „In the sense I intend, it is, in fact, a mobile without motive, a motive not motiviert. Through its promptings we act without comprehensible object; or, if this shall be understood as a contradiction in terms, we may so far modify the proposition as to say, that through its promptings we act, for the reason that we should not. In theory, no reason can be more unreasonable; but, in fact, there is none more strong.“11
Die Erzählung versucht sich an der Psychologisierung des unmotivierten Motivs, verbalisiert darin aber den weiten Horizont vom Kuriosum der Akausalität. Die Ich-Inszenierung zwischen subjektiver essayistischer Mitteilung und persönlichem Bekenntnis gewinnt diesem Phänomen auf diese Weise eine sowohl analytische als auch am konkreten Fall orientierte Beschreibung ab. Dabei verschränkt sich die theoretische Annahme eines Vorgangs, der sich aus einem grundlosen Begehren ergibt, mit dem Modus des Geständnisses: In einem denkbar knappen Erzählteil zum Schluss der Äußerungen stellt sich heraus, dass der Erzähler ein vormals unentdeckter Mörder ist, der angesichts der exklusiven Möglichkeit seines Geständnisses einem plötzlichen Drang der Einlösung ebendieser einzigartigen Chance unterliegt. Ihr wird unter dem Dünkel eines ohnehin unabwendbar automatisch sich vollziehenden Ablaufs der individuellen Geschichte des Erzählers (und dabei der Erzählung Poes) Folge geleistet: „I felt then the consummation of my fate.“12 Die exzentrischste aller Begierden, der unfreiwillige Wunsch, die Schicksalserfüllung eo ipso hat zugeschlagen. The Imp of the Perverse benennt ein Konzept, das die Komplexität der Debatte von Determinismus und Indeterminismus illustriert. Dass diese kaum so binär funktioniert, wie sie nominell suggeriert, lässt sich bereits bei Aristoteles nachlesen. In der Physik wird bemerkt, dass die Klasse möglicher Ursachen nicht allein jeweilige Beweggründe bzw. Bewegungen enthält, sondern auch „die (undurchschaubare) Schicksalsfügung [tyche, S.T.]“ sowie den „Zufall [automaton, S.T.]“, denn „von vielem sagt man, es sei oder es ergebe sich ,aus Schicksal‘ oder ,aus Zufall‘.“13 Gehört der Zufall aber auf diese Weise der Reihe an Ursachen an, ergibt sich die Frage, ob er in einer solchen Zuordnung nun einen Gegen- oder doch einen Mitspieler des deterministischen Weltbildes darstellt.14 Umgekehrt bliebe unklar, ob eine Idee der Ursache nicht ihrerseits entwertet würde, wenn sie mit dem Zufallsbegriff weniger in-
11 Poe, The Imp of the Perverse, S. 358. 12 Ebd. 13 Aristoteles, Physik, 195b. Über die feinen Unterschiede zwischen automaton und tyche wird im Kapitel Grundrisse Näheres berichtet. 14 Stockhammers Zufälligkeitssinn hat bereits gezeigt, inwiefern der Zufall bei Stifter als Ursache für eine Perlenkette der Ereignisse verstanden werden kann und so „mit seinem scheinbaren Gegenteil, einem radikalen Determinismus“ plötzlich verbunden ist. Vgl. Stockhammer, ,Literatur‘ nach einem Genozid, S. 81.
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haltlich ausgestattet als durch ihn ersetzt erschiene. Kein Wunder, dass der Aristoteles-Übersetzer Hans Günter Zekl mit der wohlgemerkt „undurchschaubaren“ Schicksalsfügung für tyche dezidiert per Schicksalsvokabel in Richtung einer Zufallskonzeption rückt. Mit demselben Recht könnten beide Begriffe auch als sich gegenseitig ausschließend gelten, schließlich fokussiert die Rede vom Schicksal ebenso eine providentielle Vorbestimmung, die jedes noch so kleine Weltereignis zum notwendigen Zahnrad auf dem Weg zu einer Endstation degradiert.15 Diese Kombinationsvielfalt resultiert aus der Irreduzibilität der Fragestellung nach Ursächlichkeit. In der Debatte um den freien Willen wiederholen und kristallisieren sie sich. Denn auch wenn ein freier Wille ursächlich für die Handlungen einer jeweiligen Person wäre, gelangt man in den Zirkel nach der Frage für den Grund dieses Wollens bzw. für dasjenige, was noch das Wollen im freien Willen antreibt, sodass der Mensch abermals „gebunden“ wird, wie Augustinus schreibt, „nicht durch fremden Zwang, sondern durch den eigenen Willen. Der Feind hielt mein Wollen in seinen Händen; er hatte mir daraus eine Kette geschmiedet und mich mit ihr umschlungen“16. Der an ein gegebenenfalls fremdes, feindliches Wollen gekettete Wille macht die Vorstellungen von Ursache, Notwendigkeit, Schicksal oder doch wieder Zufall einander gemein, denn sie alle sind potentiell ursächlich für das Wollen. Die dialektische Differenzierung mündet so in einer Unvereinbarkeit, die Kant in seiner dritten Antinomie der reinen Vernunft festgehalten hat. Demnach lässt sich einerseits beweisen, dass die „Kausalität nach Gesetzen der Natur [...] nicht die einzige“ sei, „aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist 15 Die interdisziplinäre Zufallsforschung ist in der Ordnung ihrer Begriffe so engagiert wie unüberschaubar. Für einen einführenden Überblick, vgl. Mainzer, Der kreative Zufall (2007). Für eine philosophische Differenzierung verschiedener Vokabeln und Sprachspiele des Diskurses, vgl. den Sammelband von Graevenitz/Marquard (Hrsg,), Kontingenz (1998). Eine umfangreiche Geschichte des Begriffs liefert Vogt, Kontingenz und Zufall (2011). Schließlich sei noch angemerkt, dass mit Fortuna eine Göttin (und etymologische Basis) den ungenauen Status des Schicksals figuriert. Fortuna lässt ihre instrumentelle Funktion als Bewegerin von Glück und Unglück neben dem providentiellen Angebot auch als kontingente Intervention lesbar werden, wie bereits Dantes Begleiter Vergil in der Göttlichen Komödie berichtet: „Daher kommt es, dass ein Volk herrscht und das andere schwach ist, je nach Fortunas Ratschluss; der aber liegt verborgen wie die Schlange im Gras.“ Dante, La Commedia. Die Göttliche Komödie, S. 111. Diese Verborgenheit des Ratschlusses für das Schicksal korrespondiert Zekls Übertragung von tyche als „undurchschaubarer“ Fügung dahingehend, als sie beide einer epistemologischen Verschlossenheit verbunden sind. Vergils Vergleich mit der Schlange indes betont die Plötzlichkeit, mit der diese Fügung zuschlagen kann. Zum Fortunabild der Frühen Neuzeit, vgl. Kavanagh, Dice, Cards, Wheels, S. 15ff. 16 Augustinus, Bekenntnisse, S. 203.
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noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig“17; denn ansonsten würde keine Ursache für die Kausalität gefunden. Andererseits ist auch die Antithesis belegbar, derzufolge „keine Freiheit“ existierte, sondern „alles in der Welt [...] lediglich nach Gesetzen der Natur“ geschehe, schließlich kann die Freiheit als Gegenstück zur Kausalität ihrerseits selbst nicht kausal sein.18 Diese Antinomie führt in Aporien, deren Natur für die Erkenntnistheorie in Anschluss an Kant kaum zu überschätzen ist. Denn mit der Unauflösbarkeit durch die reine Vernunft und der Gleichzeitigkeit beider Argumentationen haben sich insbesondere in den um Vermittlung bemühten Artikulationsversuchen neue Formen entwickelt, um die Möglichkeit und Erscheinung eines untrennbaren Austausches von Ordnung und Chaos bei gleichzeitiger konzeptioneller Inkompatibilität auszusprechen. So auch bei Poe und seinen „fits of perversity (whose nature I have been at some trouble to explain)“19. Für Poes Erzähler besteht das motivlose Motiv nicht nur aus einem gewissenlosen Reiz, sondern aus der Erfüllung des Fatums. Dahinter wird eine narratologische Linie transparent: Die Erfüllung eines Schicksals der Erzählung ist genauso notwendig, wie die Erfüllung des Schicksals vom Erzähler. Da Poes Text gewissermaßen ein zweites Geständnis in Richtung der Leserinnen und Leser vorlegt, das nur aufgrund der vorherigen Hingabe an den Imp und aufgrund des ersten Geständnisses überhaupt vorliegen kann, fällt die Unvermeidbarkeit der „consummation of fate“ mit Anlass und Ausführung der Narration – ihres ungefragten Wurfes – zusammen. Nun besteht aber die Vorgeschichte dieses Anlasses in einer Theorie über die unvernünftige Vernunft bzw. den grundlosesten Grund („no reason can be more unreasonable“). Das schädliche Wollen als Ursache für die Schicksalserfüllung von Erzähler und Erzählung ist seinerseits ursachen- wie willenlos. Diese Grundlosigkeit des dirigierenden Begehrens macht das reizvolle Paradox des Imp aus, denn er ist beides zugleich: kontingent und unverhandelbar notwendig auf die Erfüllung einer privilegierten Möglichkeit fixiert. Mithin besteht sein Begehren gerade darin, sich zum Wesen der (kantischen) Antinomie hingezogen zu fühlen. Vor dem Hintergrund eines solchen Begehrens ist der Weg zum Trieb nicht weit. Jedoch scheint sich Freuds Beschreibung des inneren Triebreizes, der „nie wie eine momenthafte Stoßkraft, sondern immer wie eine konstante Kraft“20 wirkt, zunächst von Poes Imp zu unterscheiden. Als einige der ersten Beispiele Freuds in Triebe und Triebschicksale (1915) werden dann allerdings „die Austrocknung der Schlundschleimhaut“ sowie die „Anätzung der Magenschleimhaut“21 genannt – Hunger und
17 Kant, Kritik der reinen Vernunft 2, S. 426ff. 18 Ebd., S. 427. 19 Poe, The Imp of the Perverse, S. 362. 20 Freud, Triebe und Triebschicksale, S. 82. 21 Ebd.
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Durst. Auch Poe zählt zunächst das Nahrungsbedürfnis zum Grundrepertoire des menschlichen Sollens: „In the matter of phrenology, for example, we first determined, naturally enough, that it was the design of the Deity that man should eat. We then assigned to man an organ of alimentiveness, and this organ is the scourge with which the Deity compels man, will-I nill-I, into eating. Secondly, having settled it to be God’s will that man should continue his species, we discovered an organ of amativeness, forthwith. And so with combativeness, with ideality, with causality, with constructiveness, -- so, in short, with every organ, whether representing a propensity, a moral sentiment, or a faculty of the pure intellect.“22
Das Voranschreiten von der Selbstversorgung zur Reproduktion zeigt, inwiefern der Imp eine Verwirrung des Triebes betreibt. Es sind gerade diese Momente der selbsterhaltenden Mechanismen, die durch den Imp ins Absurde abdriften. Freud spricht hinsichtlich des Sexualtriebes von der „Verkehrung ins Gegenteil“ oder der „Wendung gegen die eigene Person“, oder, allgemeiner, von den „Arten der Abwehr gegen die Triebe“, die im Reich der Triebschicksale siedeln.23 Dieser Ausdruck birgt eine gewisse Reibung, dahingehend, dass einerseits von den Schicksalen, die „Triebe im Laufe der Entwicklung und des Lebens erfahren können“24 die Rede ist, und andererseits der begriffliche Status eines Schicksals, das aus einer Auseinandersetzung von Trieben und Abwehrreaktionen entsteht, vage bleibt. An solchen Schnittstellen, in denen automatische Prozesse gegeneinander ausgespielt werden, verbirgt sich ein weiteres Prinzip, dessen Prozessieren sich jenseits von Lust und Unlust, jenseits von den Bedingungen des Wollens abspielt und mit dem Imp of the Perverse einen Artikulationsversuch spendiert erhält.25 Die Auseinandersetzung zwischen Determinismus und Indeterminismus, freiem Willen und Schicksal, Zufall und Notwendigkeit hält bis heute an, wobei alogische Beschreibungsversuche, wie der von Jean Améry in Hand an sich legen (1976), herausstechen. 26 Améry entwickelt einen Begriff von Freiheit, der prinzipiell in nichts 22 Poe, The Imp of the Perverse, S. 357. 23 Freud, Triebe und Triebschicksale, S. 90. 24 Ebd. 25 Die auf der Hand liegende Verknüpfung zu Freuds Todestrieb wird später in den Lektüren der Wiederholungen des Glücksspiels bei Hoffmann eine Rolle spielen. 26 Jüngere Debatten fanden vor allem zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Hirnforschung und der Philosophie des Geistes statt. Vgl. exemplarisch Bieri, Untergräbt die Regie des Gehirns die Freiheit des Willens? (2005) Zu gewissen Teilen ist dieser Lagerstreit genauso verführerisch wie müßig, schließlich tritt er bereits seit Spinoza, Leibniz und schließlich seit Laplace im 19. Jahrhundert mit einem Grundgerüst ähnlicher Argumente und Aporien immer wieder auf. Vgl. dazu Hacking, The Taming of Chance.
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anderem als einer Möglichkeit der Maximalentscheidung, nämlich der Beendigung eigener Subjektivität (und darin Entscheidungsfähigkeit und Freiheit) besteht. Der Text zieht sich konsequenterweise aus den irreduziblen Konstruktionen zurück: „Sehe ich richtig, so müssen wir uns in einen Bereich begeben, der jenseits von Determinismus und Indeterminismus liegt, so daß es uns also erspart bleibt, die Willensfreiheit missverständlich zu begründen durch die Erkenntnisse der modernen Physik, die den mechanistischen Determinismus freilich über den Haufen warfen, die uns aber hier zu nichts nütze sind, denn es geht ja nicht um das ‚Verhalten‘ von Elementarpartikeln [...], sondern um die Entscheidungen von Menschen.“27
Gerade mit diesem Winkel „jenseits von Determinismus und Indeterminismus“, an dem die Kontingenz gewissermaßen selbst wieder kontingent ist, beschäftigt sich auch das Begehren des Imp. Mit einem kompatiblen Akt des Wollens hat schließlich Améry seine These illustriert: „Der Drogensüchtige sagt sich, daß er leider süchtig ist und darum unfrei. Aber jeder Entschluß, zur Droge zu greifen, wird als ein Willensakt gelebt, gerade weil Kontradeterminanten als Hindernisse dem Genuß des Produkts im Wege stehen.“28 Es ist diese Gestalt des Impulses, nach der Poes Erzähler giert und der er sich gemäß der von Améry beschriebenen Suchtspirale nicht entziehen kann: „I had had some experience in these fits of perversity [...], and I remembered well that in no instance I had successfully resisted their attacks.“29 Der Imp stellt weniger das Begehren nach dem Schädlichen dar, weniger das Begehren nach dem, was nicht begehrenswert ist, als ein Begehren danach, was zu begehren dem Menschen gar nicht möglich scheint, was nicht begehrt werden kann und doch, mit Améry, als intensiver Willensakt des Begehrens erfahren wird. Wie bei Poes Erzähler und Amérys Süchtigem kann diese automatische Form des Begehrens auch beim modernen Spieler beobachtet werden: Er spielt nicht aus Lust oder Gewinnsucht, sondern impulsiv und emphatisch. Keine Freude und kein Glück warten beim Spiel auf ihn, sondern lediglich der Fall vom Fall der Würfel. Von dieser Situation scheint eine (in Poes Sinne) perverse, verdrehte, verkehrte, dabei äußerst menschliche Faszination auszugehen. Nicht nur, dass die Praxis des Spiels in dieses Durcheinander von freiem Willen und Schicksal drängt; sie selbst besteht zusätzlich aus nichts anderem als der stetigen Restitution des Zufalls und damit dessen unmöglicher Einordnung in die Ketten des Determinismus oder die Offenheit des Indeterminismus. In gewisser Weise kann dieser Akzent eines Begehrens im Spiel, der ein
27 Améry, Hand an sich legen, S. 139. 28 Ebd., S. 140. 29 Ebd., S. 362.
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völlig anderer ist als das Begehren nach Spaß, Zerstreuung oder gar Reichtum, als rudimentärer Augenblick der Abhängigkeit vom Spiel gewertet werden.30 Die psychologische Begutachtung durch das Erzählen des 19. Jahrhunderts fördert weniger eine Hingabe an die Lust zutage, als die Verabschiedung von Realitätskonzeptionen. Nirgendwo findet die Autoaggressivität des Spielers einen so deutlichen Prätext, wie in der Verbindungsstörung zu seiner extraludischen Identität, zu seinem verabschiedeten Wollen, seinem unbedeutenden Besitz, seinem verlorenen bios. Er ist damit von dem Ort kategorisch getrennt, an dem Psychologie und Aggression ja eigentlich erst möglich werden. Auch das Erzählen vom Spieler wird von all diesen Mustern befreit. Wer würfelt, handelt nicht mehr. Auf dieser Ebene geht auch die Handlung, der Plot verloren. Das Glücksspiel ist zwar trivial, seine Regel häufig schnell zu erlernen, und doch ist es zwischen seinem Anfang und seinem Ende nicht lückenlos lesbar. Schon deshalb fordert es regelmäßig Theoretisierung und darin auch häufig die Reflexion auf einen nicht wahrheitsfähigen, vom Zufall durchmischten Hautgout der Theorie überhaupt heraus. So liefert die englische Gräfin Mrs. C. in Stefan Zweigs Novelle Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau (1927) symptomatisch ihre eigene Theorie vom Spieler, in der zugleich eine Theorie der geschilderten Ausschaltung der Handlungsfähigkeit des Spielers lauert. Während ihrer Erinnerung an eine Begebenheit, die zum Zeitpunkt der Erzählung („zehn Jahre vor dem Krieg“31) bereits ein Vierteljahrhundert zurückliegt und damit in Zeiten des europäischen Status Quo anzusiedeln ist, räsoniert sie über den Typus des Spielers:
30 Zur Spielsucht ist zu bemerken, dass die Komplexität des Glücksspiels hinsichtlich umfassender Typologien des Spiels und auch vielseitiger Formen des exzessiven Spielens mit charakterlich höchst unterschiedlichen Motivationen – von der reproduzierenden Verdrängung des Problems bis zur Jagd nach dem Gewinn, der das aufgerissene Loch wieder stopft, (was abermals als Sucht sich äußern kann) – mit allgemeinen oder vergleichenden Suchtbegriffen nur bedingt fassbar ist. Vgl. Elster, Gambling and Addiction, S. 310f. Mit dem Ausdruck Sucht soll daher hier, analog zu Amérys Verwendung, nicht im medizinischen Sinn ein Fachwort psychologischen oder soziologischen Interesses verwendet, sondern ein Ausdruck für eine spezifische Schicksals- und Kontingenzfaszination angeboten werden, die in Poes Erzählung genauso eine Rolle spielt, wie in der Observation der spannenden Glücksspiele. Dass diese Ebene sich dann wieder als psychische oder somatische Symptomatologie äußern kann – Elster nennt als Begleitphänomene etwa Habsucht, Gewöhnung, mangelnde Selbstbeherrschung oder Entzugserscheinungen – wird hier als Übersetzung und Substantialisierung genau dieser arationalen Dimension gewertet und in den Einzeluntersuchungen ausgebaut. Vgl. ebd., S. 314-321. 31 Zweig, Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau, S. 323.
24 | H ASARD-S CHICKSALE „Der Mensch verrät sich im Spiele, ein Dutzendwort, ich weiß; ich aber sage: noch deutlicher verrät ihn während des Spiels seine eigene Hand. Denn alle oder fast alle Hasardeure haben bald gelernt, ihr Gesicht zu bezähmen – oben, über dem Hemdkragen, tragen sie die kalte Maske der impassibilité [...]. Aber die Hand tut indes ihr Geheimstes ganz schamlos auf. [...] [I]n der prallen Sekunde, wo die Roulettekugel in ihr kleines Becken fällt und die Gewinstzahl aufgerufen wird, da, in dieser Sekunde macht jede dieser hundert oder fünfhundert Hände unwillkürlich eine ganz persönliche, ganz individuelle Bewegung urtümlichen Instinkts.“32
Die genuin menschliche Bewegung hat ihren „urtümlichen Instinkt“ mit Poes Imp gemeinsam, jenem „innate and primitive principle of human action“33. Nebenbei lässt die Gräfin einen terminus technicus der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts fallen: Das Gesicht des Spielers als kontrolliertes Antlitz der affektbefreiten „impassibilité“ ist ein Verweis auf den Erzählstil Flauberts.34 Die materiellen Leidenschaften der impotenten Hand, die den Zufall nicht mehr manipulieren kann, markieren hingegen das unkontrollierte, aufgefächerte Spektrum der Romane um die Welt im Hasardzustand, wie sie zuvor noch Balzac geliefert hatte. Die einerseits verräterische und andererseits unkontrollierte Hand des Spielers entfaltet die Exzentrik, das diegetisch relevante Aufsehen des Nicht-mehr-Handelns sowie den ökonomischen Ausfall des Handels im Geldspiel. Mrs. C. stiftet auf diese Weise ein Bild für den narratologischen Nebentext des automatischen Glücksspiels: Wurde soeben noch aus einem Leben erzählt, begibt sich die Narration mit dem Zufall des Glücksspiels in einen toten Winkel eben dieses Lebens, an dem das Erzählen selbst stattfindet. Die vorliegende Studie wird versuchen, diese Behauptung als Beitrag zur Prosaliteratur vornehmlich des 19. Jahrhunderts zu konturieren und zu differenzieren. Gespielt wird in diesem 19. Jahrhundert überall in Europa. Auf russischer Erde zeigt sich Aleksandr Puškin in Pique-Dame / Pikovaja dama 1834 noch dem Märchenhaften des Spiels verbunden. Wundersame Glücksgeschichten, die eine Anrufung dreier magischer Karten beinhalten, schleichen sich dort als Vision profaner Bereicherung in die Träume des Deutschesten aller Deutschen (und damit Vernünftigsten aller Vernünftigen)35, nämlich des Offiziers Hermann (Германн / Germann): „Er lag lange wach, und als er endlich einschlief, sah er im Traum Karten, einen grünen Spieltisch,
32 Ebd., S. 342f. 33 Poe, The Imp of the Perverse, S. 358. 34 Zu Flauberts „impassibilité“ und der damit einhergehenden Pathosverhandlung des Erzählens, vgl. Koppenfels, Immune Erzähler, S. 18. 35 Vgl. Puschkin, Pique-Dame, S. 8, wo Hermanns vorläufige Abneigung gegen das Spiel kommentiert wird: „Das erklärt sich leicht damit, daß Hermann ein berechnender Deutscher ist, [...].“ Das Verhältnis der Nationen zum Glücksspiel im 19. Jahrhundert wird in Dostoevskijs Igrok wiederbegegnen.
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eine Menge gebündelter Banknoten und Berge von Goldmünzen.“36 Auch wenn diese chrematistische Fantasie die Schilderung bestimmt, wird der Lockruf des Spiels alsbald zu einem automatischen Begehren abgewandelt. Vor einem gräflichen Anwesen, in dem regelmäßige Spielsoireen stattfinden, übersetzt sich die Anziehungskraft in das fantastische Bild des fremden, magnetisierenden Blicks: „Es war, als zöge ihn eine rätselhafte Kraft dorthin. Er blieb vor dem Palais stehen und starrte zu den Fenstern hinauf. Hinter einem von ihnen bemerkte er ein schwarzes Köpfchen, über ein Buch oder eine Handarbeit gebeugt. Das Köpfchen hob sich, und Hermann sah ein frisches, kleines Gesicht mit dunklen Augen. Dieser Augenblick entschied über sein Schicksal.“37 Dass das Spiel in einer prekären Situation zwischen der Ermittlung eines Schicksals residiert, das also vorher noch nicht festgelegt sein konnte, und der Schicksalsneurose, die nichts anderes als sich wiederholende Äußerungen dieser Festlegung denken kann, bestätigt auf eher pessimistische als romantische Art und Weise Puškins Landsmann Michail Lermontov. In dessen einzigem Roman Ein Held unserer Zeit / Geroj našego vremeni (1840) schildert das abschließende Kapitel Fatalist den Spieler Vulič als Bestätigung der exzessiven Ausmaße des Spiels. Denn wo gespielt wird, wird häufig viel gespielt: „Es gab nur eine einzige Leidenschaft, die er [Vulič, S.T.] nicht verheimlichte, die Leidenschaft des Spiels. Am grünen Tisch vergaß er alles, und gewöhnlich verlor er; aber die ständigen Mißerfolge reizten nur seinen Trotz.“38 Die Geschichte um den im Spiel vergessenden, vom Spiel berauschten und ins Nicht-Bewusste eintretenden Vulič gipfelt in einer Wette mit dem Ich-Erzähler, die über eine vereinfachte Partie Russisch Roulette die Frage klären soll, ob es eine Vorherbestimmung gibt oder nicht. Die Bindung des einzelnen Lebens an die Hasardpartie und zugleich an das Fragwürdigste der Weltsteuerung ist nicht nur in dieser anekdotenhaft ausgeführten Erzählung brisant, sondern steht für eine epistemologische und instrumentelle Überfrachtung des Glücksspiels in den Ermittlungen um Zufall, freien Willen und (In-)Determinismus ein.39 Dieser Konflikt nicht nur mit dem jeweiligen Schicksal, sondern mit den Prinzipien der Vorherbestimmung, der Schickung und des Plans anhand der tableauhaften „Lesungen“ des Glücksspiels, steht dabei auch im Gefolge einer gewissen sozialen Erfahrungswelt. Es erinnert einerseits an die dekadenten Verkrustungen der absolutistischen Monarchien Europas und zelebriert zugleich eine neue soziale Durchlässigkeit mit den vielen Wechseln von Glück und Unglück, Erfolg und Niederlage, 36 Ebd., S. 26. 37 Ebd., S. 26f. Man beachte die treffliche Option des deutschen „Augenblicks“, der hier sowohl das Impulsive des Moments als auch die damit verbundene Begebenheit der Kollision zweier Augenpaare einfängt. 38 Lermontow, Ein Held unserer Zeit, S. 198. 39 Zu der Binnenerzählung Lermontovs, vgl. Lotman, Rußlands Adel, S. 152.
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Reichtum und Armut. Programmatisch fasst Honoré de Balzac dieses Gefüge, das nicht einschlägiger für die Begebenheiten im von Liberalen, Legitimisten und Opportunisten eingenommenen Paris sein könnte, zu Beginn der Splendeurs et misères des courtisanes (1838-1847) zusammen: „Suivant une loi fatale de notre époque, il existe peu de différence, soit physique, soit morale, entre le plus distingué, le mieux élevé des fils d’un duc et pair, et ce charmant garçon que naguère la misère étreignait de ses mains de fer au milieu de Paris. La beauté, la jeunesse pouvaient masquer chez lui de profonds abîmes, comme chez beaucoup de jeunes gens qui veulent jouer un rôle à Paris sans posséder le capital nécessaire à leurs prétentions, et qui chaque jour risquent le tout pour le tout en sacrifiant au dieu le plus courtisé dans cette cité royale, le Hasard.“40
Diese Hauptstadt des Hasard, und damit ihr konsolidiertes Paradoxon einer Gesetzmäßigkeit des Zufalls – das bezeichnenderweise zum „loi fatale“ avanciert –, erweist sich als Begegnungsort einerseits mit der Diversifizierung gesellschaftlicher Wirklichkeit (und damit auch der literaturfähigen Stoffe) und andererseits als deren NichtOrt, an dem die Vergangenheit auch noch des kühnsten Parvenu vergessen werden kann. In deutschsprachigen Texten blieb diese Logik primär als Erinnerungsstück an den Zustand der untergegangenen Doppelmonarchie Österreich/Ungarn zurück. Stefan Zweig zeigte, wie in der Rückschau aus dem frühen 20. Jahrhundert diese im vorherigen Säkulum etablierte Verfassung noch einmal auf die literarische Bühne tritt, während um ihn herum die Aleatorik der Dadaisten als neue Verhandlung des Zufalls schon fast wieder außer Mode geriet. Namentlich die transeuropäischen Spiele im sinisteren Palais-Royal Balzacs, in Arthur Schnitzlers Habs- und Fëdor Dostoevskijs Roulettenburg sollen einen Eindruck vom überindividuellen Wollen des Glücksspielens liefern, das zugleich eine narratologische Auseinandersetzung mit der Bestimmung seiner Bedeutung ermöglicht. Die bereits zitierten Texte verfügen, so scheint es, über jeweils klare Endstationen des Hasardeurs: Puškins Hermann landet im Irrenhaus, während Lermontovs Vulič allen vorherigen Dementi zum Trotz sterben muss; auch Zweigs Spieler jagt sich eine Kugel durch den Kopf. Es reproduziert sich darin ein Mythos des Spielers, der ihn analog zum Verhältnis von Tat, Begierde und Schafott bei Poe im besten Fall für ein Leben außerhalb gesellschaftlicher Normativität (und Realität) vorsieht, im schlimmsten Fall aber Wahnsinn und Ableben arrangiert. Dieser Mythos hat die moralische Devianz des Spielens zum Sockel, nach der selbst ein glücklicher Spieler nichts anderes als ein unglücklicher Mensch sein kann. Mit einem neuen Akzent auf Realität und Realitätsverleugnung findet dieses Narrativ seit der Literatur des 19. Jahrhunderts Konkurrenz, wenn nicht einschlägige literarische Relativierungen. 40 Balzac, Splendeurs et misères des courtisanes, S. 431.
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Auch wenn das Interesse für das Schicksal des Spielers immer relevant bleibt, so beginnt sich doch die Belegung seiner Schickung zu verändern, abermals analog zu Poes Mörder, der zwar seine Strafe erhält, aber darin nur die Endstation, nicht aber die Bedeutung artikulieren kann, die jener paradoxe Imp of the Perverse beinhaltet. Mit der Reibung zwischen Zufall und Bestimmung verfällt auch die Schicksalhaftigkeit des Zufallsspielers. David Bell beobachtet in seiner Untersuchung des literarischen Zufalls: „The interplay between chance and order is one which became more and more acute as the nineteenth century progresses [...].“41 In Anlehnung an seinen Ansatz, der sich für den Spannbereich zwischen der ungeordneten Natur der Dinge und den Kausalitätsphantasmen realistischer Schreibverfahren bzw. ihrer epistemologischen Grundlage in den zeitgenössischen Wissenschaften und Philosophemen interessiert, sind die etwaigen Widersprüche zwischen Ordnung und Hasard der Erzählung zu beschreiben. Dies betrifft einerseits die von den Texten jeweils eigenständig artikulierten Divergenzen zwischen beiden Konzeptionen, wie sie etwa Poe und Lermontov vortragen; aber noch vielmehr diejenigen, die sich aus der designierenden Darstellung des Zufalls im Glücksspiel und der geordneten Kontingenz des Erzählens selbst ergeben. Der dafür favorisierte Begriff „Hasard“ bietet sich nicht nur aufgrund des Umstandes an, dass er, wie bereits bei Balzac und Zweig gesehen, in den relevanten Zusammenhängen vorgegeben wird, sondern weil er die wichtigen Konzeptionen etymologisch in sich bündelt. Erstens verweist er auf das in dieser Arbeit permanent wiederholte Konzept des Zufalls und steht zugleich in bezeichnender Synekdoche für die Spiele mit dem Zufall ein;42 und zweitens kombiniert er in dieser Semantik die ahistorische Vorstellung vom Zufall als Faktor der Welt mit der historischen Belegung, die das Glücksspiel zu einer bestimmten Phase der Kulturgeschichte inne hat. Damit ist ein verdichtender Ausdruck dafür gefunden, dass sich das Glücksspiel als maximales Momentum des Zufalls präsentiert: Nicht nur, dass es einen Superlativ der Zufallsaktualisierung darstellt; es ist auch diejenige kulturelle Praxis, die aus nichts anderem besteht, als der beständigen Provokation eines zufälligen Ereignisses, das mit eigens angefertigten instrumentellen Vorrichtungen für eine technische Hygiene des Hasard sorgt: Roulettekugel und Würfel bleiben unabhängig von dem eventuell konstruierten Sinn ihres Zeichensystems, von der Bedeutung von Rot oder
41 Bell, Circumstances, S. 13. 42 Der Ausdruck wurzelt im arabischen Wort für Würfel und Würfelspiel ăz-zăhr. Vgl. Art. „Hasard“. In: Le Grand Robert de la langue française, S. 1706ff. Erwähnenswert ist auch noch die Konnotation der Gefahr, des Wagnisses und Risikos, die im Vergleich zu Spiel und Zufall in dieser Studie den geringsten Anteil der Aufmerksamkeit erhalten, schon weil es sich dabei um situationsspezifische Bewertungen handelt. Vgl. zu dem Wort auch Zollinger, Geschichte des Glücksspiels, S. 21ff.
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Schwarz, Gewinn oder Verlust. Zugleich können ihre jeweiligen Signale höchste Priorität in Wissen und Biografie der Spieler erlangen, sobald das Spiel beendet ist. Allein diese bizarre Zuständigkeit des Glücksspiels erregt eine gewisse Aufmerksamkeit, die in der Schilderung von Hasardpartien besonders dubios wird: Die Darstellung des Glücksspiels ist auch immer die Repräsentation von Varianten der Darstellung einer erzählerischen Lösung für die Frage: Wie wird das Zufällige im sprachlichen Nacheinander des Erzählens gezeigt? Mit dem automatischen Begehren des Glücksspiels tritt ein Element in seinen literarischen Diskurs, das den Akzent von der probabilistischen Epistemologie und der aufklärerischen Antithese des Spielers im 17. und 18. Jahrhundert in Richtung einer narratologischen Dimension verlagert, die mit formal hochsensiblen und reflexiven Schreibverfahren verschwistert ist. Nicht nur bezüglich des Forschungshorizonts, sondern auch von den Deutungsangeboten der Texte her situiert sich diese Arbeit daher jenseits des Probabilismus.
N ARRATIVE Ö KONOMIE DES Z UFALLS : J ENSEITS DES P ROBABILISMUS Spiele sind beliebt und populär, auch in der Literaturwissenschaft und der Philosophie. Selbst das frivole Glücksspiel avancierte zum vorzeigbaren Forschungsgegenstand.43 Das gewachsene Interesse an Glücksspielen trägt in den einschlägigen Arbeiten der näheren Vergangenheit eine deutlich wissenspoetologische Signatur. So luftig der Hasard auch sein mag, ihm ist eine exklusive Konfiguration des Wissens
43 Ein Indiz dafür liefert der umfassende und heterogen aufgestellte Band von Thomas Anz und Heinrich Kaulen (Hrsg.), Literatur als Spiel (2009), der lobenswerterweise Platz für evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte einräumt und somit die disziplinäre, thematische und historische Bandbreite des Spiels demonstriert. Allerdings beinhaltet er keinen Beitrag, der sich exklusiv mit dem Glücksspiel beschäftigt. Schon Roger Caillois beschwerte sich 1957, dass der Primus der Spielforschung des frühen 20. Jahrhunderts, Johan Huizinga, sich in seiner Studie zum Homo ludens (1938) nicht besonders intensiv mit den Glücksspielen auseinandergesetzt hätte. Vgl. Caillois, Les jeux et les hommes, S. 34f. Doch dieses Bild relativiert sich. Neben Rüdiger Campes Spiel der Wahrscheinlichkeit (2002), Peter Schnyders gänzlich dem Alea gewidmeter Habilitationsschrift von 2009 oder dem von Louis Gerrekens und Achim Küpper herausgegebenen Band Hasard (2012) gibt es zahlreiche Arbeiten zu Zufall und Glücksspiel, insbesondere mit Fokus auf die Frühe Neuzeit. Aus vornehmlich angelsächsischen Instituten stammen schließlich auch einige Beiträge für die moderne Literatur. Vgl. exemplarisch Bell, Circumstances (1993) und Knapp, Gambling, Game and Psyche (2000).
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eingeschrieben, die sich wiederum historisch ausformuliert und strukturell niedergelegt hat. Das Wissen des Glücksspiels findet sich auf diese Weise sowohl in zeitgleich sich entwickelnder gesellschaftlicher wie auch literarischer Praxis wieder. Es handelt sich bei der entsprechenden epistemologischen Konfiguration um die frühneuzeitliche Karriere der mathematischen Wahrscheinlichkeit bzw. des Probabilismus, der sich nirgendwo so eindringlich modellieren lässt, wie in der Trivialbeschäftigung der Würfel- und Geldspiele.44 Umgekehrt findet sich deren Erkenntnisreichtum breiter aufgestellt in dem Versuch der Berechnung von Wirklichkeit wieder. Dies hat sich etwa in innovativen Eigenheiten bürgerlicher Vertragskultur niedergeschlagen, allen voran im aufstrebenden Versicherungswesen.45 Die darauf reagierende literarische Innovation ist der Roman, der nicht nur ein neues Gespür dieses Wissens von den Wahrscheinlichkeiten und der Zufälligkeit der Welt in seinen Diskurs aufnimmt, sondern auch mit den Entgrenzungen seiner Form spiegelt: „Denn nach allen Kriterien, unter denen die Poetik Formen erfaßt, war der neue Prosaroman formlos: Er folgte keinen metrischen Vorgaben, und er verwendete eine eher kunstlose Diktion. Die Theorie seiner Form mußte unmittelbar in der Wahrscheinlichkeit seiner Stoffwahlen und Erzählweisen liegen.“46
Es geht weniger darum, die Wahrscheinlichkeit anhand einer Abbildung von Quotienten formal auszudrücken, sondern zu zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit – und damit das Erkennen von zufälligen Begebenheiten – plötzlich wahrscheinlicher geworden ist. Diese „technische Geste, die von der Wirklichkeit Gebrauch macht“47, stelle eine ästhetische Eintragung des Wissens vom Probabilismus dar: „Zwischen 1660 und 1800 wird die Wahrscheinlichkeit als theoretisches Wissen und als Theorie des ästhetischen Scheins konstituiert.“48 44 Auf stochastisch-philosophische Explikationen mit dem Glücksspiel ist besonders in Jakob Bernoullis Ars conjectandi (1713) und Pierre-Simon Laplace’ Essai philosophique sur les probabilités (1814) hinzuweisen. Den Modellcharakter des Zufalls bzw. der Wahrscheinlichkeit im Glücksspiel zum Anlass zu nehmen, das Glücksspiel zum Modell für verschiedene Wirklichkeitsausschnitte bzw. zur Berechnung der Wirklichkeit zu befördern, ist Gegenstand einiger wichtiger diskursgeschichtlicher Arbeiten. Vgl. u.a. Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit; Schnyder, Alea; Daston, Classical Probability in the Enlightenment; Hacking, The Emergence of Probability. 45 Vgl. Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 37. 46 Ebd., S. 12. 47 Ebd., S. 9. 48 Ebd., S. 15. Neben Campes Arbeit lieferte Kavanaghs Enlightenment and the Shadows of Chance die wertvollen Impulse für einen Zusammenhang zwischen Glücksspiel, Wahrscheinlichkeit und Kultur.
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Die zufälligen Ereignisse werden zur Reflexion dieses Wissens. Deren Umwandlung zum tragenden Element einer literarischen Struktur scheint wiederum ihre eigene chaotische Form zu dementieren.49 Vom Barock- bis in den Aufklärungsroman fungiert nun der literarische Zufallsdiskurs „als Motivation des Unglaublichen wie des Wahrscheinlichen, als blindes Spiel oder Hand der Vorsehung, als verworrenes Geflecht von Begebenheiten oder entwickelte Serie von Ursache und Wirkung, als Dokument des Weltlaufs oder Einfall einer betrügerischen Phantasie [...].“50 Das WahrScheinen der Wahrscheinlichkeit geht einer diskursgeschichtlichen Kompromittierung des Zufälligen als zunächst unergründlichem Umweg zur Ordnung einher, wodurch eine Notwendigkeit im Zufälligen schließlich restituiert ist. Dieses teleologische Erzählen51 zeugt von einer funktionalisierten Einbindung zufälliger Ereignisse, die ihre Brisanz vor allem durch ihre Unwahrscheinlichkeit erhalten. Eine weitere Verbindung zwischen Wahrscheinlichkeit und Erzählen siedelt in der Konsistenz von Narrativen, allerdings weniger hinsichtlich der durch sie ausgedrückten Wahrheits- oder Wirklichkeitsnäherung, weniger im Sinne ihrer Nachvollziehbarkeit, als mit Blick darauf, dass das Erzählen als Summierung sinnvoller Einheiten, gewissermaßen als runde, sinnvolle Geschichte wahrscheinlicher ist als ein unerzählbares Zerfasern willkürlicher Sequenzen, denen kein Zusammenhang innewohnt. Den unabhängigen Begebenheiten eine Ordnung im Erzählen zu verleihen, stellt eine Haupttechnik des Literarischen dar: „What prospect theory reveals over and over again, in other words, is a certain narrative bias – a belief that narratives possess a vividness that makes them more likely to occur than non-narratives and that ordinary life may be best understood through the language of a literary plot.“52 In
49 Campe visualisiert diese chaotische Form in Anlehnung an Ludwig van Mises mit dem Ausdruck der „Würfel in der Luft“. Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 21. Er regt außerdem in Reminiszenz an die technischen Komplementäre des Zufalls zwischen Regel und „Vorrichtungen zur Erzeugung gleichwahrscheinlicher Ereignisse“ die Unterscheidung Soft- und Hardware an. Ebd. Mit dem hiesigen Fokus auf Eingriffe von Würfeln und Rouletterädern in die Struktur des Textes soll es insbesondere um die Funktionsmöglichkeiten der reinen Hardware gehen. Die umgekehrte Variante des nützlichen zufälligen Ereignisses, das zur Dramatisierung und zum Wahr-Schein eingesetzt wird, wurde als „eine Koinzidenz von Begebenheiten“ beschrieben, „die zum Fortgang der Handlung beiträgt und weder direkt durch den Erzähler noch unmittelbar in der Handlung hergeleitet wird.“ Nef, Der Zufall in der Erzählkunst, S. 7. 50 Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 172f. 51 Zur Entwicklung dieses Erzählverfahrens, das auf „Endgültigkeit und verlässliche Ordnung“ des Literarischen fixiert ist, vgl. Michel, Ordnungen der Kontingenz, S. 4 und S. 5067. 52 Molesworth, Chance and the Eighteenth-Century Novel, S. 8. Vgl. auch ebd., S. 86f.
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Übertragung auf die hiesigen Probleme ließe sich sagen, dass der Zufall des Glücksspiels keinen Zufall darstellt, sondern eine (un-)wahrscheinliche Geschichte erzeugt, die die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit der Zufälle zum Anlass nimmt, ihnen einen Zusammenhang zu unterstellen. Ein Erzählen vom Zufall eines Glücksspiels offenbart in den Zusammenhängen, die es ihm aufzwingt, Spuren davon, sich mit einer solchen Erzählung seiner eigenen Erzählbarkeit zu versichern. Wahrscheinlichkeit als epistemologische Eintragung funktioniert bei Campe als poetologische Kategorie, die bereits bei Aristoteles zustande kam, in der Neuzeit jedoch unter den Auspizien innovativer Wissensmodifikationen neu bewertet würde. Sie wird als Kriterium poetischer Texte nunmehr von den Geboten des sich wandelnden geschichtlichen Kontextes mitgerissen und zur Sekundärqualität entwickelt, was „bis zu ihrer mise en abîme“53 im poetischen Text reicht – in Wielands Agathon etwa, der in den signifikanten Arbeiten immer wieder genannt wird54 –, und dort je nach Gusto verhandelt, ironisiert, persifliert, in jedem Fall: mitgeschrieben werden kann. Das zufällige Ereignis lokalisiert die Struktur des Textes unter den Vorzeichen probabilistischen Wissens. Dieser auf Registrierung und Reflexion von Wahrscheinlichkeit und hinsichtlich des statistischen wie stochastischen Diskurses auch wissenshistorisch geeichte Ansatz orientiert einen Repräsentationskomplex um das Wahrscheinliche, Zufällige und die Kontingenz an seinen symbiotischen Verbindungen zu ebenso sich wandelnden poetischen Verfahren. Ein solches Verhältnis zwischen Zufall und Narrativ ist nicht unbedingt auf eine Beachtung eigentlicher Würfelfälle angewiesen, da die Rhetorik und Poetik des Zufalls als wie auch immer gestalteter Bestandteil der historia zwar die Äußerungen im Agathon präzise analysiert, neben diesen Ingredienzen des Zufälligen aber dessen spielerisches Motiv nicht benötigt. Die Analyse des Glücksspiels verfährt auf diese Weise in Übertragungen, weswegen das Spielen letztlich als unmittelbarer Bestandteil des Textes verzichtbar wird.55 Von daher wird von Peter Schnyder dieser wissenspoetologischen Genetik des Wahrscheinlichen eine diskursgeschichtliche Epistemologie des Glücksspiels beigestellt. Schnyders Deutung des literarischen Glücksspiels geht von einer kulturpoetischen Beziehung zwischen der Metaphorik und der Interdiskursivität des Hasard aus,
53 Campe, Wahrscheinliche Geschichte, S. 217. 54 Vgl. etwa Frick, Providenz und Kontingenz. Die Frequenz von Wielands Roman liegt sicherlich auch in seiner rohschnittartigen Beispielhaftigkeit für die Kondition der neuen Gattung begründet, die sich etwa in der exemplarischen Lektüre Wielands in Blanckenburgs Theorie des Romans bestätigt sieht. Vgl. Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 321ff. 55 Vgl. Schnyder, Alea, S. 35, der beobachtet hat, dass Campe (und Kavanagh) sich nach und nach zugunsten einer Struktur der Wahrscheinlichkeit, die aus dem Glücksspiel gewonnen wird, vom Motiv des Glücksspiels entfernt haben.
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die „über zahlreiche Diskursfäden direkt und indirekt in das weite ‚network of negotiations‘ (Greenblatt) der modernen Kultur verwoben ist“56. Ist Campes Hasard in Form seiner probabilistischen Explikationen als Wissensspender der Literatur präsent, so arbeitet Schnyder mit dessen kulturgeschichtlichen Implikationen. Auch hier wird das Glücksspiel mit seinen metaphysischen Oberbegriffen wie Risiko, Zufall und Einsatz ergänzt, von daher ebenfalls mit dem probabilistischen Register gefasst, sowie eine Diskursivität (in Form der dem Hasard zugeordneten Diskurse) und Interdiskursivität (in Form der aus den disziplinären Verschränkungen im Hasard gebildeten Metaphorologie) beschrieben, die gemeinsam einen „Glücksspiel-Code“57 ergeben. Schnyder verfolgt mit diesem Ansatz das Glücksspiel als formale Organisationsanalogie des Lebens auf seinem Weg in die Moderne, wobei die Formel von der „probabilistischen Kränkung“, der Entdeckung, dass ein Leben mit seinen „Einzelereignisse[n]“58 nicht als Fügung einer vorgesehenen Ordnung fixiert ist, sondern auch hätte anders verlaufen können, das entstabilisierte Sein in dieser aufbrechenden Moderne erläutert. Den Arbeiten von Campe und Schnyder verdankt meine Studie viele Einsichten und Hinweise. Sie soll nun den historischen Horizont ein weiteres Stück ins 19. und schließlich 20. Jahrhundert hineinziehen, dabei noch einen anderen Bereich des Glücksspiels beleuchten. Unter der Annahme, dass Kontingenz im Erzählen etwas Unmögliches ist, da der vom Ende her betrachtete Text seinen finiten Zustand bereits definiert hat, die Würfel gefallen sind, und doch zugleich unmöglich ohne Kontingenz gedacht werden kann – schließlich beherbergen tendenziell alle seine Bestandteile, vom Ereignis über die Form bis zur konkreten Formulierung und dem einzelnen Zeichen, eine akute Offenheit anderer Möglichkeiten –, ist die literarische Inszenierung reinen Zufalls durch Glücksspiele seit dem 19. Jahrhundert ein strahlendes Zeichen der entsprechenden Verfahren. Die Spiele stellen dabei weniger ein Veto in die eine oder andere Richtung dar, als vielmehr eben diese Auseinandersetzung rudimentärer Alternation von möglicher und unmöglicher Kontingenz im Text.59 Da es dabei 56 Ebd., S. 30. 57 Ebd., S. 32. 58 Ebd., S. 391. 59 Ein kontingentes Erzählen steht in permanenter Verhandlung mit dem teleologischen Erzählen. So kann ein Text zwar ein semiologisches Fehlgehen artikulieren, doch niemals das Verfahren dieses Ausdrucks hintergehen. Sascha Michel entwickelt dafür den dekonstruktivistisch geschulten Begriff der semiologischen Kontingenz: Vgl. Michel, Ordnungen der Kontingenz, S. 15ff. Sie äußert sich etwa in bestimmten rhetorischen Mitteln, u.a. der Digression oder Metonymie. Vgl. ebd., S. 28ff. In einem Ausblick verpflichtet Michel demnach sogar die Literatur des high modernism auf ein verstecktes Telos: „[A]uch in der Literatur des 20. Jahrhunderts muß man mit dem metaphysischen Begehren nach Präsenz und abschließenden Vokabularen rechnen.“ Ebd., S. 253.
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um eine historisch abstrahierte Frage an das Erzählen geht, nämlich um seine Repräsentationsverlegenheit des Zufälligen,60 lassen die entsprechenden Lektüren einerseits einen kulturgeschichtlichen Index außen vor. Zugleich aber richtet sich diese Frage nicht umsonst an eine gewisse Runde aus Autoren, bei denen sich dieses Moment des Zufalls im Glücksspiel essentiell verdichtet, was wiederum nur vor deren (literatur-)historischem Hintergrund erläutert werden kann. Bei Campe liegt die Zäsur in Richtung dieses Hintergrundes schließlich mit Kleist vor, der zu einer Figur der „Unwahrscheinliche[n] Wahrhaftigkeiten“ wurde.61 Gemäß des Wahr-Scheinens in der Wahrscheinlichkeit sind zwar erzählende Texte, die implizit immer ihr Verhältnis zur Wirklichkeit thematisieren,62 nie vollkommen vom Probabilismus zu entkoppeln. Doch eine theoretische und formale Gegenbewegung zum Wahrscheinlichen ist mit Verfahren verschränkt, die dem teleologischen Erzählen rebellisch gegenüberstehen. Zufall und Kontingenz wurden damit im Zuge der sich schlagartig in Richtung eines Autonomiebegriffs von Kunst und Literatur bewegenden Ästhetik der Sattelzeit zum Drehpunkt poetischer Auseinandersetzungen.63 Das „Verhältnis, in dem das dargestellte Spielerglück oder -pech mit der narrativen 60 Strukturell ist dieses Problem bereits gut beschrieben. Vgl. Müller, Der Zufall im Roman, S. 266: „Das Zufällige selbst wirkt nicht als Darstellung von Zufall, sondern bestenfalls als Abwesenheit von Sinn, die mit der Zufallsthematik erst vermittelt werden muss.“ 61 Vgl. Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 418-438. 62 So eine Beobachtung Blumenbergs: „Der Roman durchbricht als endliches, faktisch abbrechendes Werk die Antizipation seines auf das Und-so-weiter gerichteten Lesers und macht gerade dadurch sein wahres Thema virulent, daß nicht der Fortgang angeschnittener Ereignisse und Begebenheiten das ist, wovon er letztlich zu handeln und woran er sich als Kunstwerk auszuweisen hat, sondern die Konkurrenz der imaginären Kontextrealität mit dem Wirklichkeitscharakter der gegebenen Welt.“ Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 22. 63 Die Differenz zwischen der Beherrschbarkeit durch Vernunft in Kants Ästhetik und Tiecks Vorstellung vom Verlorensein des Subjekts (in Beherrschlosigkeit) ist Gegenstand in Gruber, Schicksal versus Kontingenz, S. 60 und S. 69f. Für die Bedeutung des Zufalls bei Kleist, vgl. Herrmann, Zufall und Ich; Moser, Angewandte Kontingenz, insbes. S. 12 und S. 17; sowie Beise, Spielers Erzählungen, S. 164f. Bei Kleist wird insbesondere auf die penetrante Verwendung einleitender Zufallsfloskeln hingewiesen. Vgl. u.a. Nef, Der Zufall in der Erzählkunst, S. 21; und Wellbery, Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs, S. 168. Fricks Erörterung der Schicksalssemantik setzt eine Zäsur mit der Behandlung – einmal mehr – des Agathon, während Campe von Pascal bis Kleist, und Schnyder über Hoffmann bis Balzac vordringt. Die ästhetischen Maßstäbe der Kontingenz scheinen sich dann noch mal mit dem Modernismus und den Avantgarden Anfang des 20. Jahrhunderts zu ändern. Vgl. etwa Forster, Die Fülle des Nichts; und Kleinschmidt, Poetik der Unordnung.
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Struktur der Erzählung steht“, versucht sich dem Ziel über einen Abgleich der Rede vom Zufall im Text und einer etwaigen Zufälligkeit des Textes zu nähern, was zu einer mit Kleist belegten Einschätzung führt, „dass narrativ desto weniger Zufall herrscht, je mehr der Zufall erzählungsimmanent zu dominieren scheint“64. Zufälle werden zum Indiz der Richtungsvorgabe; sie erzählen von ihrer eigenen Gemachtheit. Dieser Status führt zu einer bemerkenswerten produktionsästhetischen Konsequenz: „Der Autor ist also Gott in einer gottlosen Zeit.“65 Der Zufall bzw. das AndersSein-Können des Lebens kann dabei zwar als zu spiegelnder Ausdruck Teil des literarischen Textes sein, ist allerdings von seiner Notwendigkeit als stilistischem oder motivischem Element zu sondern, das sui generis einen fixierten poetischen Standort besetzt, der eben nicht Zufall ist. In der Romantik wird dieser Streitpunkt zwar nicht unbedingt aufgegeben, aber doch durch eine verschärfte Konzentration auf die Willkür des poetischen und sprachlichen Zeichens komplexer gedacht: „Die Parameter des Schreibens definieren sich dann nicht mehr von der unterschiedlich kausalisierten Ereignisstruktur der Signifikate her, sondern gänzlich von der Kontingenz der Signifikanten. Die Zufälle der Texte ahmen nicht die akzidentiellen Zufälligkeiten der Welt nach, sie sind selbst die Kontingenz schlechthin, fällige Zufälle.“66 Der Fall dieses Zufalls hinein in ein Ordnungsschema, dessen Unordnung selbst noch immer strukturell bedeutend sein kann, befasst sich überhaupt damit, wie Bedeutung artikuliert wird. Kontingenz muss sich darin seiner kontingenten Nicht-Notwendigkeit aussetzen, was aus der literarischen Verarbeitung auch hervorgeht: „Ihre Berücksichtigung bedeutet nicht schon ihre uneingeschränkte Bejahung.“67 Doch gerade die narrative Einbindung von Kontingenz fabriziert eine Möglichkeit, überhaupt von ihr sprechen zu können. Denn so wie das poetische Zeichensystem „zwischen Bedeutung und Sinnabwesenheit, zwischen bezeichnender Semiose und offenem Ornament“68 oszilliert und damit kontingent ist – weil es in seiner poetischen Gestalt invariabel und offen zugleich ist – sind die Darstellungsverfahren von Zufall, etwa im Glücksspiel, mit der eigenen Konstruktionstendenz konfrontiert. Am Spieltisch, so lässt sich ahnen, werden auf diese Weise Geschichten geschrieben, die in ihrer eigenen Kontingenz davon erzählen, wie das Erzählen von Geschichten selbst auf Kontingenz beruht, mit Kontingenz operiert und überhaupt kontingent sein kann. Es scheint für diese Verflechtung allerdings privilegierte Casinos zu geben. Wenn sich hier primär um ein Glücksspiel in und nach der Romantik gekümmert
64 Beise, Spielers Erzählungen, S. 161 und S. 164. 65 Ebd., S. 166. Vgl. auch Müller, Der Zufall im Roman, S. 271f. 66 Kleinschmidt, Fällige Zufälle, S. 153. 67 Ebd., S. 154. 68 Ebd., S. 159. Kleinschmidt bezieht sich hier auf das Beispiel der Arabeske.
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wird, so liegt das an dem (füglichen) Kairos69 des Glücksspiels im 19. Jahrhundert: In der Ära um und nach Napoleon drang der Hasard in eine zugleich skeptische wie enthusiastische Öffentlichkeit, die sich etwa im Palais-Royal bündelt, dem Pariser Epizentrum des Glücksspiels: „Wie kaum ein zweiter Ort bringt das Palais Royal [...] die Grundspannung zum Ausdruck, von welcher der staatliche Umgang mit dem Glücksspiel seit 1800 geprägt ist: Wird das Hasardspiel offiziell als verwerflich gebrandmarkt und zumal unter den Vorzeichen einer zunehmend bürgerlich geprägten Moral kritisiert, bleibt es doch quer durch die unterschiedlichsten Regime eine zuverlässige und wichtige Quelle für Steuereinnahmen.“70 Die Janusköpfigkeit des Glücksspiels als ebenso einträgliche wie stigmatisierte Beschäftigung ruht auf seiner Popularität. Waren es vormals Adel und Militär, die gespielt haben, so findet sich plötzlich der Bürger in eigentümlicher Schizophrenie zwischen Schuld und Drang zum Spiel im großen Stile hinter den Bänken des Palais wieder, dessen triviale Kultur bemerkenswert modern wurde – schon weil das Triviale in dieser Zeit modern wurde, und das Moderne selbst sowieso auf bestem Wege sich befand, gegenwärtig zu sein. Die Literatur begann diese Themen aufzugreifen und das Interesse zu reinszenieren. Die Faszination für die zwiegespaltene Legalisierung des Spiels, die dem Bürger eine verstreute Identität bescherte, geht mit einer gewissen Schaulust einher, die in dieser Zeit mit besonderem Akzent das Hasardspiel bedienen konnte. Spielertexte sind immer auch spannend und intensiv, manchmal geradezu boulevardesk überzogen. Hasardeure geben sich einem Voyeurismus glänzender Kügelchen im Roulette hin, der erst einige Jahrzehnte später vom „Kintopp“ wieder abgelöst werden sollte. Balzac, Dostoevskij und Schnitzler werden allesamt diese Schaulust aus ihren unterschiedlichen Formationen und Verfahren heraus beschreiben, aber auch servieren. Wenn aus dieser Sammlung an Aspekten die narratologische Frage nach ihren wiederum spezifischen Entscheidungen zur Inszenierung des Zufalls im Text bearbeitet wird, kommt ein weiterer Zugang zum Glücksspiel auf das Tableau, der sowohl einen theoretischen als auch einen synthetischen Anschluss verspricht: Die Ökonomie. Glücksspiele sind nicht nur Zufalls-, sondern auch Geldspiele und dies in einer bestimmten Symbiose. Betrag und Einsatz, Gewinn und Verlust transformieren den von Würfeln und Kugel aktivierten Zufall in einen Wert. Dieser Wert ist sowohl von ludischem Rang, insofern er so etwas wie den Punktestand des Spielers (und damit 69 Es handelt sich beim Kairos der Glücksspiele um einen ganz besonderen, da die Kennzeichnung des Kairos „als ein unverfügbares und nicht planbares Ereignis, als eine fügende Schickung des Glücks“ hier selbst durch den Zufall gebracht wird. Indem er aber auch einer Interventionsbegierde des Menschen unterliegt und damit die Frage aufwirft, „ob der günstige Augenblick, das Ereignis einer treffenden Raum-Zeitlichkeit geschickt konstruiert werden kann“, bringt er gewissermaßen die Fallstricke im Denken der Hasardeure auf den Punkt. Orgzal, Kairologische Entgrenzung, S. 18. 70 Schnyder, Alea, S. 354.
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auch den Grad seiner Teilnahmeberechtigung am Spiel) anzuzeigen weiß, als auch von extraludischer, realer Bedeutung, da der gebannte Spieler nach seiner Rückkehr ins Leben für den verlorenen oder gewonnenen Betrag geradezustehen hat. Wenn die Zeichen des Zufalls zugleich die Zeichen von Gewinn oder Verlust liefern, so stehen sie doch in Schieflage zu ihrer literarischen Distribution. Im Spiel sind sie auf Spielfeldern, anhand der Rufe der Croupiers oder ähnlichen tabellarischen Lieferungen ablesbar. Die Erzählung vom Spiel jedoch steht vor der Vermittlungsfrage, sodass auch eine rein tabellarische Eintragung bereits als erzählerische Entscheidung zu gelten hätte, die in diesem Sinne wiederum Teil einer narrativen Ökonomie der Zeichenausschüttung und -zurückhaltung wäre. Innerhalb der Debatten um eine kulturelle und zugleich zeichentheoretische Ökonomie, die zwar auch philosophisch, aber immer wieder durch das Kulturgut und Wissen der Wirtschaftswissenschaften induziert ist, steht die Profilierung einer spezifisch narratologischen Dimension noch aus.71 Etwaige Auseinandersetzungen legen in erster Linie ihr Augenmerk weniger auf Geld und Wirtschaft in ihrem gebräuchlichen und zuhandenen Sinne, sondern beziehen den ökonomischen Bereich als Trope für die Reflexion auf Arrangement, (Un-)Ordnung und Zuweisungsgesten von Bedeutung bzw. Sinnverwaltung des Textes. Klassische konzeptionelle Gegenstände der Ökonomie sind stets in einem quantifizierbaren Feld anzusiedeln. Birger Priddat nennt für das „streng kausal verknüpfte[...] Sprachspiel“ der Ökonomie etwa „Wert,
71 Zum Verhältnis von Literatur und Ökonomie wurde jüngst und wird derzeit umfassend anhand verschiedenster Analogien geforscht. Es finden sich dabei kulturpoetische, soziologische, semiologische oder rein motivische Ansätze. Eine nachhaltige Theorie lieferte bereits Hörisch, Kopf oder Zahl (1996), insbes. S. 307. Eine anschlussreiche kulturelle Verschränkung bietet Joseph Vogls Beobachtung, dass sowohl Ökonomie als auch Roman einen enzyklopädischen Anspruch auf eine Allbeschreibung des Weltwissens erheben. Vgl. Vogl, Kalkül und Leidenschaft (2002), S. 170. Schließlich tritt die Verbindung auch hinsichtlich seiner kulturellen Korrespondenzen auf, derer die Literaturwissenschaften sich mit philologischer Kompetenz annehmen. Vgl. Künzel, Finanzen und Fiktion, S. 12. Exemplarisch für den hier anvisierten Zeitraum, vgl. Neuhaus, Soll und Haben. Einen allgemeinen Überblick liefert zudem der zugehörige Sammelband. Vgl. Klettenhammer (Hrsg.), Literatur und Ökonomie (2010). Die geläufig gewordenen kulturwissenschaftlichen Ansätze haben dabei ein eigenes Feld erschaffen, welches sich als Economic Criticism bzw. New Economic Criticism versteht. Es wird zum Schlagwort einer interdisziplinären und theorieübergreifenden Bearbeitung wirtschaftlicher und kultureller Korrelationen seit Ende des 20. Jahrhunderts, die nach der Finanzkrise 2008 und 2009 verständlicherweise noch einmal Konjunkturen zu verzeichnen hatte. Für einen Überblick, vgl. Schößler, Börsenfieber und Kaufrausch (2009), S. 26-32. Vgl. auch Vogl, Das Gespenst des Kapitals (2010) als berühmtestes transdisziplinäres Beispiel.
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Preis, Reichtum/Sozialprodukt, Nutzen, Knappheit, Geld etc.“ und verortet die Ökonomik als „historische Wissenschaft“72. Die Gemeinsamkeit der Zählbarkeit ist dementsprechend anhand jeweils aktualisierter Verflechtungen der Kausalreihe, der daraus sich ergebenden Mengenangaben und dem darauf aufbauenden und daran anschließenden Diskurs bestimmt, der sich traditionell mit dem „spannungsreiche[n] Verhältnis von Versorgung und Hybris“73 beschäftigt und später, als „Theorie des Wachstums von Marktwirtschaften“, auf eine Untersuchung von Knappheit und Reproduktion verlagert ist: Die Ökonomik „thematisiert knappe Ressourcen, transformiert sie in Wertschöpfungen und Profite, in Marktausweitungen, die ständig neue Knappheiten innerhalb der Wirtschaft generieren. Wirtschaft wird als System beschrieben, das sich reproduziert“74. Besonders dieser Punkt ist für eine narrative Ökonomie entscheidend: Neben einer historisch zu verortenden Qualifikation doppeln die Marktregulierungen jene unüberschaubaren Differenzen, die auch den Haushalt der Erzählung ergeben. Die Masse an Konstellationen zu einer handlichen narrativen Ökonomie einzugrenzen, kann über ein regulierendes Prinzip des Zufalls insofern stattfinden, als es eine Verfahrensanalogie erstellt sowie die stoffliche Integration und kulturelle Bedeutung zum Ausdruck bringt. Damit avanciert der Zufall vom „Darstellungsproblem, das mit der Erfassung eines kontingenten Weltzusammenhangs, wie bei Leibniz, die Rudimente und Grenzen einer Romanpoetik impliziert“, über eine „Wechselseitigkeit von Historik und Poetik, die die aristotelische Dichotomie von Geschichte und Dichtung unterläuft“, schließlich zum literarischen Vehikel „einer ökonomischen Ordnung, die die Verflechtung kontingenter Ereignisse zugleich als Ökonomie ihrer Verwirklichung begreift“75. Die Ökonomie des Textes ist nicht nur eine Ökonomie des Zufälligen, sondern dessen Verwaltungsstrategie, so wie der Zufall im Text ein ökonomischer ist, nämlich als Teil seiner Strukturverwaltung und als Ventil derselben. Das strukturell Gemeinsame des Zufälligen zwischen Ökonomie und Literatur entzündet sich am Glücksspiel, welches eine Fläche bietet, in das die Prinzipienverschränkung von Erzählen, Ökonomie und Zufall als Drilling einfließt. Ein oberflächlich Sichtbares dessen bietet das sozial- und kulturhistorische Register des literarischen Hasard, der als Signatur kapitalistischer Entwicklungen insbesondere während frühneuzeitlicher Literaturproduktion gelesen wurde. Spiel gehört zur kapitalistischen Produktionsweise als essentielle Metapher in die mit Risiko
72 Priddat, Theoriegeschichte der Wirtschaft, S. 9. 73 Ebd., S. 13 74 Ebd., S. 14. 75 Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 169.
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und Wagnis belegte Kultur bürgerlichen Wirtschaftens.76 Das wurde auch in die Lektüren des literarischen Glücksspiels eingeflochten: „The persistence of gambling in capitalism indicates an economy that is built not on rational calculation but on romance“ – der hoffnungsfrohen Illusion von Wunscherfüllung im Kontrollverlust. Diese plausible Prämisse schwenkt in voraussetzungsreiche methodische Perspektiven um: „Because novels take as their unique mandate the representation of contemporary socio-economic life, they become an important site for examining the significance of an economy built on the romance of gambling.“77 Der Stoff des Glücksspiels wird auf seinen allegorischen Gehalt hin abgetastet und durch die strukturellen Gebote, die sich aus der Opposition Kontingenz und Text innerhalb der Zufallsgenerierung im Text ergeben, ergänzt: „The basis of finance capitalism in gambling is visible at two levels in eighteenth-century novels. First, gamblers provide novelists with opportunities to interrogate the role gambling plays in the economy, and second, the tension between chance and control in gambling provides novelists with opportunities to explore the role of chance in novelistic plot and in the individual lives that unfold in those plots.“78 Die Zuweisungen als Störfaktoren des Ökonomischen und des Hasard im Spiel werden auf der Ebene dieses Plots mindestens genauso relevant. Das Anökonomische der Poesie spielt in der Frage nach der narrativen Ökonomie insofern eine Rolle, als ein Text in seiner Informationsvergabe uneindeutig oder unverständlich, das heißt nur mit der Leistung der Leserin und des Lesers vervollständigt werden kann: „Neben digressiven Tendenzen könnten es Polysemie und Dissemination sein, die für die Unterbrechung der Ökonomie seitens des Textes verantwortlich zeichnen.“79 Der Entzug informationeller und signifikanter Werte gehört in bestimmten literarischen Situationen zu ihren Eigenheiten.80 Das Motiv koordiniert sich über seine Technik der Knappheit, aber auch der Verschwendung von Bedeutung, Zeit und Geld, deren Status vom Zufall abhängig gemacht wird. Umgekehrt dazu verläuft eine bestimmte Vorstellung von den Prozessen des Ökonomischen, die nämlich zu denjenigen Illusionen zu rechnen sind, die den Zufall zu domestizieren versuchen: „Man wird jedenfalls von einer Poetik des Geldes auch in dem Sinne sprechen müssen, dass der monetäre Kode auch eine providentielle Lenkung von Ereignisketten impliziert.“81 Dies gilt auch für eine narrative Ökonomie, in der eine Leitlinie des roten Fadens
76 Inwiefern diese Metaphern leitend werden können, zeigt u.a. Priddat, Zufall, Schicksal, Irrtum, S. 86 und S. 143ff. 77 Richard, „Putting to Hazard a Certainty“, S. 180. 78 Ebd., S. 186. 79 Fuest, Die Ökonomie, die Theorie und die (inneren) Werte des Taugenichts, S. 76. 80 Vgl. ebd., S. 79 81 Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 183.
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insinuiert wird, die andererseits erst durch ihre vom Buchstaben gerechtfertigten Abweichungen von einer Bedeutungsraison reizvoll wird. In diesem Sinne einer narrativen Ökonomie des Zufalls, die sich jenseits des Probabilismus verortet, soll eine vergleichende Untersuchung der Glücksspiel- und Kontingenzdarstellung seit der Sattelzeit probiert werden. Um die Andeutungen des entsprechenden theoretischen Hintergrunds abzuschließen, wird noch einmal in den Spannungsraum zwischen literarischer Schickung bzw. Designation und zufälliger Ankunft der Zeichen des Zufalls eingetreten.
S CHICKUNG . W EGE
UND
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DES
H ASARD
In der ersten Zustellung seiner Carte postale (1980) warnt Derrida seine Leserin und seinen Leser davor, dem Akt der Lektüre eine Endstation voranzustellen: „Or il est mauvais, du mauvais je ne connais pas d’autre définition, il est mauvais de prédestiner sa lecture, il est toujours mauvais de présager.“82 Der ganze Text wimmelt vor Erinnerungen an diesen Aufruf. Text und Literatur mögen gesendet wirken, einen Modus der Adressierung vorspiegeln, allein, es fehlt ihnen die eine Adresse. Die Sendung wird verstreut: „Au commencement la poste [...], et ça commence par une destination sans adresse, la direction n’est pas situable au bout du compte. Il n’y a pas de destination, ma douce destinée.“83 Dieses Schicksal der Postkarte, dass es keine „destination“ gibt, ist die „adestination“, eine Konzeption, um die Derrida weitere familienähnliche Begriffe gruppiert, etwa die destinerrance, die den clinamen als supplementäre Abweichung vom Weg liest: „This deviation alone can change the course of an imperturbable destination and an inflexible order. Such erring (elsewhere I call it ‚destinerring‘) can contravene in the laws of destiny, in conventions or contracts, in agreements of fatum.“84 Von den verschiedenen Möglichkeiten, in denen „destin“ und „errance“ im Kompositum der destinerrance miteinander ins Verhältnis treten – gemäß der Frage, wer oder was sich (ver-)irrt – sticht für diese Untersuchung diejenige der fehlgehenden Endstation heraus. Es ist das Schicksal selbst, das als Schicksal in seinen Festlegungen irrt. Damit ist auch eine Differenz zur „adestination“ gewonnen, die vielmehr auf den Irrtum der Bestimmungskonzeption hinweist, und bei der sich die Annahme von Destination bereits als leere Formel erweist.85 82 Derrida, La carte postale, S. 8. 83 Ebd., S. 34. 84 Derrida, My Chances / Mes Chances, S. 7. 85 Zu diesen Begriffen, vgl. Miller, For Derrida, S. 29. Vgl. auch Bertram, Wovor weicht die Dekonstruktion nicht aus? oder Ist das Unzeitgemäße unumgänglich?, S. 207: „Dieser Begriff [destinerrance, S.T.] läßt sich als ,Schickungsirre‘ bzw. ,Bestimmungsirre‘ übersetzen. Es gilt nach Derrida für alle Sendungen, daß sie ,schickungsirr‘ bzw. ,bestimmungsirr‘
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Die Erzählung vom Glücksspiel sendet mindestens zwei oberflächlich auffällige Pakete aus: Erstens das zufällige Zustandekommen von Zeichen – Rot oder Schwarz. Sie versprechen etwas Bestimmtes anhand dessen zu bedeuten, was gewettet wurde. Und zweitens den Status jener Logik ihres Zusammenhangs: Bedeutet dasjenige, was die Zeichen des Spiels im Abgleich mit den Zeichen der Wette bedeuten, Gewinn oder Verlust, bzw.: Bedeuten Gewinn oder Verlust ein Schicksal oder einen Zufall? Es geht also in dieser Instanz um die Bestimmtheit der Bestimmung des Spielers. Die erste Schickung des Hasard ist insofern verstreut, da die Ergebnisse gerade durch den Zufall völlig desinteressiert an vorherigen Zufällen und Wetten, d.h.: Indizien ihres Schicksals sind. Was das Ergebnis dieses Schicksals des automaton der Roulettekugel für die tyche eines zugehörigen Spielers in der etwaigen zweiten Schickung bedeutet, ist immer verschoben und variabel, teilweise abhängig vom Einsatz auf den Einsatz, eine wiederholte Schickung des Schicksals, das auf ihrem Weg variieren und doch gültig wirken kann: „Was auf Sendung ist, vermag nicht festzulegen, wie sein Ankommen sich ereignet (auch wenn es noch so sehr darauf angelegt ist, das Ankommen zu bestimmen).“86 Es gilt für jede Partie, analog zu jeder Entsendung bedeutungstragender Einheiten, dass sie ausgeschickt wurden, etwas zu bedeuten. Sie sind dabei stets der Latenz ausgesetzt, am Ende etwas anderes bedeutet zu haben. An dieser Stelle lässt sich ein bekannter Text Derridas, der ebenfalls in der Carte postale enthalten ist, konkretisieren. In Le facteur de vérité interpretiert Derrida die Psychoanalyse als Theorie der ständigen Selbstauffindung. Lacans Seminar zu Poes Purloined Letter (1844) wird als Sendung verstanden, die in jedem Brief die Wahrheit findet: „Lacan nous reconduit vers la vérité, vers une vérité qui, elle, ne se perd pas. Il rapporte la lettre, montre que la lettre se rapporte vers son lieu propre par un trajet propre et, comme il le note expressément, c’est cette destination qui l’intéresse, le destin comme destination. Le signifiant a son lieu dans la lettre et celle-ci retrouve son sens propre dans son lieu propre.“87 Vom Ende der Wegstrecke her erscheint die Route des Briefs als sinnhaft, doch das heißt nicht, dass diese Reise ein konsistent sinnhaftes Schicksal gewesen sein muss, bei dem Bestimmung und Ankunft notwendigerweise miteinander zusammenhingen und ersteres nur verdeckt gewesen ist. Man muss nicht in den berühmten „Round’ Robbin“ dieser Textserie einsteigen, um Barbara Johnsons Replik auf Derridas Replik zu wiederholen: „The signifier is an articulation in a chain, not an identifiable unit.“88 Gewiss gehört zur Struktur des Briefes das Vermögen, nicht ankommen zu können am Schickungsort („une lettre peut toujours ne pas arriver à destination“, bzw., er verfügt über „pouvoir, toujours, ne pas y sind. Sie sind nicht festgelegt darin, wie sie ankommen. Sie warten trotz aller internen Bestimmung auf ihre Bestimmung in Momenten des Ankommens.“ 86 Ebd., S. 206. 87 Derrida, La carte postale, S. 464. 88 Johnson, The Frame of Reference, S. 495.
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arriver“).89 Doch diese Differenz zwischen Adressierung und Route, ganz zu schweigen von ihrer beider Unabhängigkeit vom Inhalt der Sendung, ist ja bereits Gegenstand von Lacans Lektüre.90 Es gehört somit auch zur Struktur eines konkreten Schicksalsbegriffs, sich unentschieden zwischen ursprünglichem Schickungsort und kontingenter, aber stets korrekter, da aus sich selbst beglaubigter Geschichte der Reise zu befinden. Diese Notwendigkeit der kontingenten Reise lässt sich unschwer als ihre immanente Kontingenz erkennen, sobald die Schickung als Streuung verstanden wird: „When Derrida says that a letter can miss its destination and be disseminated, he reads ‚destination‘ as a place which preexists the letter’s movement.“91 In diesem Sinne findet das Glücksspiel statt: Seine Materialisierung eines Zeichens ist unhintergehbar, sobald das Zeichen benannt ist. Die Bedeutung hätte aber zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine andere sein können. Was diese Bedeutung bedeutet, ist und bleibt maximal verstreut: „The letter acts like a signifier precisely to the extent that its function in the story does not require that its meaning be revealed.“92 Kurzum: Wenn mit Aberglauben und Magie auf Rot gewettet wird und dann tatsächlich Rot erscheint, ist auch dies keine gesicherte Bestätigung für Aberglaube und Magie, sondern – selbst im Falle von Übereinstimmung eines Schickungszeichens und der Ankunft – ein Produkt des Zufälligen. Dies ist eine Besonderheit des erzählten Zufalls in der Literatur des Glücksspiels: Er hat immer schon stattgefunden, doch sein Schicksal ist noch offen. „Alea ist im Text natürlich kein Glücksspiel im eigentlichen Sinne, wenngleich es zu einem notwendigen Spiel des Textes dadurch wird, daß es dessen zwangsläufige Begrenztheit mit einem Maß an Unvorhersehbarem durchsetzt“93, merkt Wolfgang Iser an, und weist auf die Divergenz zwischen abwesendem Zufall und bestehender Kontingenz der Ordnung dieses Zufalls hin. Es sind die vorausgeschickten Antizipationen, Hoffnungen und Wünsche an das Spiel, die eine Bedeutung des Zufalls vor- und nachformulieren. Seine Unvorhersehbarkeit wird in semantischem und intertextuellem Sinne als literarisches Ingredienz bejaht: „Statt die Referenzialitäten des Textes auf antagonistische Positionen zusammenzuziehen, zerspielt alea die semantischen Beziehungsnetze, die sich aus den Referenzwelten ebenso wie aus der Wiederkehr anderer Texte bilden.“94 Dieses Zerspielen bewegt sich bereits auf der poetischen Bedeutungsebene, die jene erste Frage nach der Gegenbewegung von Text und alea noch offenlässt. Letztlich sind Zuschreibungen wie Glück oder Pech nur Namen für den 89 Derrida, La carte postale, S. 472. 90 In einem späteren Exkurs werde ich auf diese Sicht noch mit einem anderen Dupin-Text Poes zurückkommen. 91 Johnson, The Frame of Reference, S. 502. 92 Ebd., S. 464. 93 Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 449. 94 Ebd.
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Zufall, die ihn bereits als Narrativ konzipieren, ihm Sinn geben, eine Schickung des Hasard. Dass aber diese Formulierungen wiederum ihre eigene Kontingenz im Augenblick einer kontingenten Betätigung bedeuten, gilt es in den jeweiligen sprachlichen Arrangements auseinander zu dividieren. *** Diese Studie schickt sich an, den entsprechenden Zustellungen des Hasard auf die Finger zu schauen. Seine Destinationen sind nichts als Zahlen, Farben und andere Zeichen. Doch sie haben zuweilen enorme Bedeutung, die bis an die Alternative Leben oder Tod reicht. Im Sinne der Begutachtung einer solchen Sendung, muss sich schließlich daran erinnert werden, wo der Weg dieser Reise beginnen soll. Das Glücksspiel ist kein kanonischer Topos, auch wenn es an den Rändern vieler kanonischer Texte auftaucht. Seine Figur der Streuung öffnet in Abstimmung mit seiner Form des Zufalls eine Reihe von Zugängen. Die Dramaturgie dieser Arbeit agiert dabei in Reminiszenz an Derridas eigenen arche-Mythos: „Au commencement, en principe, était la poste, et je ne m’en consolerai jamais.“95 Auch diese Arbeit hat einen Anfang der Schickung, und wie jede andere Arbeit, kann auch sie es nicht überwinden und verhindern, einen Anfang der Zustellung konzipiert zu haben. Jeder Anfang und jede Einleitung wird geklebt und frankiert, gesendet und verschickt, ohne dabei zu wissen, was an wen hinausgegangen ist und wann und wie es dort ankommt. Der Zufall der Sendung umrahmt, was sie beinhaltet. In diesem Sinne wird mit einer Reihe von Briefen begonnen, nämlich denen aus Ludwig Tiecks (1773-1853) Korrespondenzroman William Lovell. Es handelt sich bei dem Text um einen glücklicherweise vorhandenen Anfangspunkt, der einen bestimmten Zustand des Spielers in der Literatur um 1800 konturiert und ins Verhältnis des Erzählens dieser Zeit zu setzen vermag.
95 Derrida, La carte postale, S. 34.
Grundrisse: Zufall – Moderne – Spiel
1. Grundrisse des Zufalls
L OVELLS L EHRJAHRE In Ludwig Tiecks William Lovell (1795/1796) durchquert der gleichnamige Brite auf seiner Bildungsreise neben einigen kontinentaleuropäischen Hotspots auch ein spontan changierendes Identitätsallerlei. Seine postadoleszenten Turbulenzen werden dabei vom betriebsamen großstädtischen und romantisch mediterranen Klima in Bewegung gesetzt. Neben den allgemeinen und vergleichenden Einflüssen aus Frankreich und Italien lernt er in der Nähe des melancholischen Balder auch die deutsche Schwermütigkeit kennen. Balders teutonisch-mythisch geprägter Name1 kündigt den unausgesetzten Aufschub konstanter Destination in die resolut nahe, greifbare, aber niemals aktualisierte, ewig baldige Zukunft an. Lovells eigenes, zunehmend bipolares Wesen mündet mit dem Glücksspiel schließlich in die manische Beschäftigung mit stetig neu manifestierter Gegenwart schlechthin. So intensiv sich auch Herz und Verstand um permanente Alternation, Gemütsveränderungen und Partikularrevolutionen bemühen, bleibt ihm die briefliche Mitteilsamkeit doch stets verbunden genug, um seine Spielleidenschaft auch in Form eines theoretischen Kommentars zu reflektieren. Lovell emanzipiert sich mit seinen Ausführungen von einer Rechtfertigung des rein trivialen Spielens der Zerstreuung, hin zu einem nihilistischen Umtausch, in dessen Sinn das Spiel nicht etwa das Leben verdoppelt, sondern vielmehr einem Bedürfnis nach Substitution ebendieses prosaischen Daseins nachgibt. Die Theorie lautet wie folgt: „An die Karten und ihre wunderbaren, unerwarteten Abwechslungen kann man alle Empfindungen knüpfen; das Glück steigt und fällt wie Ebbe und Flut, mit jedem Spiele beginnt ein neues Schicksal und unser Innres bewegt sich harmonisch mit den Abwechslungen der bunten
1
Balder erinnert an den nordischen Lichtgott Baldr. Etymologisch verweist dessen Name auf das Leuchten und Strahlen, welches Tiecks Balder als Melancholiker eher kontrastiert. Vgl. Golther, Handbuch der Germanischen Mythologie, S. 366.
46 | G RUNDRISSE Bilder. Die Seele interessiert sich für diese gefärbten Zeichen und wird vertraut mit ihnen, und das Leben bleibt in einem unaufhörlichen muntern Schwunge, die Leidenschaften sinken nie unter, Freude und Schreck wechseln und jagen immer schneller und schneller das Blut durch die Adern, – was kömmt gegen diese Empfindungen das unbeholfene Geld in Rechnung? Jeder Mensch braucht eine Erschütterung; der eine sucht sie im Theater, der andere in irgend einem Steckenpferde, dem er sich mit der innigsten Liebe hingibt; ein anderer macht Pläne, ein vierter ist verliebt, – das Spiel ersetzt mir alles, es entfernt mich vom Bewußtstein meiner selbst und taucht mich in dunkle Gefühle und wunderbare Träumereien unter. Es ist oft, als käme man dem eigensinnigen Gange des Zufalls auf die Spur, als ahndete man die Regel, nach der sich die durcheinander gezogenen Kreise bewegen.“2
In Unabhängigkeit von den erzählerischen Kontexten, psychologischen Bedingungen und persönlichen Konsequenzen dieses Auszugs entwirft Lovell einen ahistorischen Standort seines Denkens im sphärischen Hasard, der hier in seiner irrationalen Emphase an frühromantischer Flucht in die Kunst wie das Künstliche beteiligt ist. Er stellt die Frage nach der Verschwendung unter der provokativen Leitlinie, ein affirmatives Verhältnis zu einer Ökonomie der Verschwendung auszubuchstabieren, und dieses einem etwaigen Vorwurf der verschwenderischen Ökonomie, des dekadenten Lebenshaushalts, entgegenzusetzen. Das „unbeholfene Geld“ vermag in seiner vulgären materiellen Präsenz nicht mit den unhintergehbaren Werten, den Leidenschaften, dem pulsierenden Ein- und Ausatmen von „Freude und Schreck“, welche in gegenseitiger Ferne als erhabene Kräfte einander definieren und bemerkbar machen, sowie den darin erzeugten „Empfindungen“ zu konkurrieren. Die zählbaren Kontostände der intersubjektiven Ökonomie sind in ihrer marktkonventionell etablierten Position einer produktiven Vergeudung ausgesetzt, mit der die Grenze wertegemeinschaftlicher Kategorien übertreten werden kann. Dort herrscht eine umgekehrte Erfahrungsseelenkunde, die auf eine Loslösung vom „Bewußtsein meiner selbst“ setzt. Hegel fasste als „Grundbestimmung der romantischen Kunst, daß die Geistigkeit, das Gemüt als in sich reflektiert, ein Ganzes ausmacht und sich deshalb auf das Äußere nicht als auf seine von ihm durchdrungene Realität, sondern als auf ein von ihm abgetrenntes bloß Äußerliches bezieht, das geistentlassen für sich forttreibt, verwickelt und als eine endlos fortfließende, sich ändernde, verwirrende Zufälligkeit herumwirft.“3 Bei Tieck wird dieser verwirrenden Zufälligkeit des abgetrennten Äußeren mit dem Eskapismus in das Innere der Glücksspiele ein Zufall gewissermaßen an seinem Platz entgegenhalten. Das Glücksspiel dient im Maße seiner Verschwendung 2 3
Tieck, William Lovell, S. 598. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 211. Hegels Begriff von der romantischen Kunst zeichnet sich dabei in allererster Linie durch seine Abgrenzung von der klassischen Kunstform aus und entwickelt insofern einen eher gattungshistorischen als kultur- und literaturgeschichtlichen Begriff.
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profaner Güter einem reizvollen Zustand der Kontrollabgabe, der Befreiung von Intentionalität, Entscheidung und Verantwortung „in dunkle[n] Gefühle[n] und wunderbare[n] Träumereien“. Dieser Nutzen der Verschwendung entwirft einen Ansatz, der für das Erzählen und insbesondere Lovells Erzählung Signalkraft besitzt. Spiel bzw. Glücksspiel wird zum Erzählen von Verschwendung von Lebenszeit, Geld oder anderen Symbolen protestantischer Ethik eingesetzt. In Lovells Äußerungen zeigt sich nun, dass dieses Erzählen eines Hasardeurs vom Hasard weniger als narrative Veräußerung, eher als markante Veranschaulichung der Verhältnisse zwischen Erzählen und Leben in hasardierender Misswirtschaft relevant wird. Gerade diese Form der Verschwendungskoketterie zeugt von der Möglichkeit einer intern erfüllten Ökonomie des Glücksspiels, die als Nuance einer Poesie des Zufalls floriert: Sie erzählt vom entwischten Grund der materiellen Produktivität des Lebens, die den sozial inhalierten Gesetzen der politischen Ökonomie gehorcht, und dokumentiert zugleich, inwiefern das Erzählen sowieso von seiner eigenen Ertragslosigkeit berichtet. Lovell zählt die dafür einschlägigen Aspekte auf. Die emphatische Begrüßung des Glücksspiels baut auf einer Entkoppelung etwaiger äußerer Zweckgebundenheit. Spielkarten werden zum Ersatz epistemologischer und moralischer Rückversicherung sowie ihrer intersubjektiven Gültigkeit. Die Machtbereiche des überindividuellen Sollens stellen sich als aufgeklärte Antipoden des verschwenderischen Glücksspiels heraus. Von ihm findet sich zuerst das Theater entsolidarisiert, der didaktische Raum, in dem Kunst als Lehenswesen moralischer Bildung dient; sodann das „Steckenpferde“ als zweckhaftem Platzhalter der Persönlichkeitsentfaltung, mithin der individuellen Begabung. Anschließend die „Pläne“ als Anzeichen einer Ökonomie der Ordnung im Allgemeinen und der Karriere im Speziellen. (Beruflicher Ehrgeiz ist im Übrigen kein Charakteristikum der im Lovell behüteten und begüterten Figuren.) Und schließlich die „innigste[...] Liebe“ als privatem Verantwortungsbereich. In kaum einer anderen Disziplin zeigt sich der ohnehin launenhafte William Lovell so unverbindlich, wie in der Streuung seines eros. Alle Bereiche sind zunächst im Spiel „ersetzt“, das folgerichtig auch das Ich auszuschalten beginnt. Wenn das „Bewußtsein meiner selbst“ durch den Vertigo des Träumens entgrenzt wird, sind die autobiografischen Rechte und Pflichten sowie die subjektkonstitutiven Positionen des „echten“ Lebens nicht nur hintangestellt, sondern eliminiert. Das Spiel zieht seinen eigenen Bereich, der sich nicht durch eine Regelhaftigkeit des Zufalls, sondern nur durch die Verheißung virtueller Gesetzmäßigkeiten des Willkürlichen auszeichnet. Diese Willkür ist als logischer Zirkel „durcheinander gezogene[r] Kreise“ im Erkennen und Urteilen unerschließbar. Der Schein dessen, „als käme man dem eigensinnigen Gange des Zufalls auf die Spur“, überstrahlt ein ohnehin nicht einzulösendes Sein, denn seine Eigensinnigkeit verhindert die konstative Reformulierung des Zufalls. Die Näherung ist gestellt, denn den Zu-
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sammenhang von Zufällen zu durchschauen, würde jenen Zufälligkeitssinn der akausalen, unabhängigen Begebenheiten konzeptuell desavouieren, und darin auch die wesentliche Instruktionsautorität des Glücksspiels entfernen. Gerade weil der Zufall nur aus seinem Scheinen besteht, gewinnt er an epistemologischer Brisanz. „[M]it jedem Spiele beginnt ein neues Schicksal“: Lovell kommentiert hier die Chance des ständig getilgten Zusammenhangs, so wie er anerkennt, dass dieses inszenierte Leben in Ausschnitten von anderen, vorhergehenden Szenen unabhängig ist. Die avantgardistische Collage, die sich in „Abwechslungen der bunten Bilder“ im Kartendeck und seiner „gefärbten Zeichen“ über den Zeitraum des Spiels einstellt, hält zugleich ein Plädoyer für das Erzählen eines inkonsistenten, nonlinearen Erlebens, das auf einen nebulösen Zufallsimpressionismus setzt. Die Passage ermöglicht einen Einblick in die theoretische Ladung der sozialen Stellung des Spielers. Ihre aufwendige Belichtung des Anders-Seins bewährt sich in ihrer Erkenntnis- und Hervorbringungsleistung. Das Erkennen und Produzieren dieses Anderen fügt sich in einen literarischen Mitteilungsgestus, der weniger die materielle Verschwendung bestreitet, als ihrer Perspektivierung eine alternative Ökonomie des Erzählens entgegenstellt. Die Hingabe an den Zustand des Rausches, Tausches und Träumens enthält mit dem kultur- und literaturgeschichtlichen Zeugnis, das sie ablegt, auch poetische Implikationen. Ihnen gilt es nachzugehen. Die Verpflichtung auf teleologisches, sinnkonstituierendes und kausalitätsreiches Erstellen einer in sich schlüssigen Möglichkeitswelt korrespondiert mit äußerlichen Funktionszuweisungen des Romans, dessen poetisches Billet stark mit der gedrängten, teils als vulgär rezipierten Ereignishaftigkeit verknüpft gewesen ist. Eine der wesentlichen Funktionen bestand in der lückenlosen Kausalmotivation der Ereignisverdichtung. Blanckenburg gibt dazu im Versuch über den Roman von 1774 – ein Jahr nach Tiecks Geburt – Aufschluss: „Alles, was nicht zur anschauenden Verbindung des Zusammenhangs innerer und äußerer Ursachen und Wirkungen gehört, alles, was nicht zur Aufklärung des Wie sich die Sachen zugetragen? erforderlich ist, – und hierzu können freylich sehr oft Reflektionen und Bemerkungen nothwendig seyn – ist in einem Roman üppiger Auswuchs, der weggeschnitten zu werden verdient, und es um so mehr verdient, da er den Lesern gewiß nicht den Unterricht gewähret, den er, nach der Absicht des Dichters, geben soll.“4
4
Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 284. Zur poetischen Bewertung der neuen Gattung während der Frühen Neuzeit, insbesondere Gottscheds Kritik, vgl. Voßkamp, Romantheorie in Deutschland, S. 145ff. Voßkamp widmet sich darüber hinaus ausführlich dem Kausalitätsgebot: „Kennzeichen des neuen, vorbildlichen Romans ist seine lückenlose Kausalmotivation, die keine blinden Leerstellen der inneren oder äußeren Handlung mehr aufweist, wo sich vielmehr das eine aus dem anderen ‚natürlich‘ entwickelt.“ Ebd., S. 187.
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Die Aspekte des Zusammenhängens haben in der Narratologie – nicht zu Unrecht – insgesamt einen hohen Stellenwert. Campe hat auf Blanckenburgs Figur des „impliziten Verhörs“ und deren „aktiven, ja aggressiven Eingriff“ hinsichtlich der lückenlosen Schilderung eines Lebens im Roman aufmerksam gemacht.5 Die Ursache-Wirkungsandacht korreliert einem spezifischen Interesse für die Anordnung einzelner Ereignisse und ihrem Verhältnis zur Elokution und Veranschaulichung. Es gilt dabei nicht nur das Leben zu erzählen, sondern auch die „[l]ebhafte Vergegenwärtigung des Lebens“6. Neben der Handlung wird im Roman demnach auch die Entfaltung der Handlung geschildert, und diese Mitführung einer Theorie des Gezeigten wiederum hat jener Theorie von den Zusammenhängen aller Einheiten gewiss Genüge zu tun, ohne sich aber aus der Mangel des kontingenten Verknüpfens zu befreien, wie es Lovell mit seiner Floskel vom stets erneuerten Schicksal in jedem Spiel beobachten konnte. Der Fokus auf den Zusammenhang evoziert hier gerade die Kontingenz als scheinbar entgegengesetztem und doch vereinbarem Kriterium von Inhalt und Struktur des Erzählens. Blanckenburg plädiert für eine in sich geschlossene Ordnung, die über die funktionale Gebotenheit aller Romanbestandteile gewährleistet wird. Was Blanckenburgs Äußerungen allerdings eingrenzt, ist die externe Normierung des Funktionsbegriffs, der auf eine spezifische Kausalität festgelegt wird, etwa eine dezidiert aposteriorisch psychologische und handlungsrelevante Notwendigkeit, der der Roman zu Diensten zu sein hat. Er neigt sogleich dort zum poetischen Überfluss, wo er Digressionen und Konzentrationsstörungen im Angesicht dieses zentralen Anliegens einer UrsacheWirkungslogik (und -psychologik) von Handlungen, Ereignissen oder weiteren materiellen Kontexten zulässt. Die Begründungsfähigkeit und Zweckbeladung der einzelnen Teile sind dem Regime eines konsistenten Ganzen unterworfen. Diese Bewertung des Romans als synchronisiertem Bedeutungsträger wird in der romantischen Poetik neu verhandelt. Die Etymologie der prekären lingua romana weicht der transzendentalen Romantik, deren Reflexionsimperativ das Kausalzentrum eines Textes zur Disposition stellt. Eine affirmative Glücksspielsituation, wie sie der rauschhafte Lovell durchläuft, weicht von den strukturellen Vorgaben à la Blanckenburg ab, schon weil sie dessen Auftrag der Verlebendigung eines Zusammenhängens verfehlt. Lovell zelebriert eine Situation, die sich gerade durch die Entkoppelung von inneren Zusammenhängen und Verbindungen, sowie ihrer äußeren Legitimation auszeichnet. Denn das Glücksspiel entfaltet seine Wirkung für Lovell vorzugsweise über das Zerreißen eines Ineinandergreifens von Ursache und Wirkung. Der Glücksspielkommentar reinszeniert diesen Ansatz, indem er das Prinzip von Ereigniskausalität durch den Zufall ersetzt, der auf diese Weise die innere Erzähllogik als mise en abyme artikuliert. Eine Volte, die auch Schemata des Entwicklungs5
Campe, Form und Leben in der Theorie des Romans, S. 203.
6
Ebd., S. 202.
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und Bildungsromans trifft. Walter Benjamin, der den Roman als Gattung poetischer Wandelbarkeit darstellt, bezichtigt in seinem Erzähler-Aufsatz von 1936 ausgerechnet den Bildungsroman einer konterrevolutionären Geste: „Indem er [der Bildungsroman, S.T.] den gesellschaftlichen Lebensprozeß in der Entwicklung einer Person integriert, läßt er den bestimmenden Ordnungen die denkbar brüchigste Rechtfertigung angedeihen. [...] Das Unzulängliche wird gerade im Bildungsroman Ereignis.“7 Diese Äußerung trifft nebenher auch die charakteristische Linearität des Lebensweges. Hegel hat für das Romanhafte, welches an die Auflösung des Romantischen anschließt, ein vergleichbares Attest ausgestellt: „Die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins hat sich verwandelt in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats, so daß jetzt Polizei, Gerichte, das Heer, die Staatsregierung an die Stelle der chimärischen Zwecke treten, die der Ritter sich machte.“8 Der Roman, im Sinne des erzählten Lebens, scheint in einer produktiven Legitimationskrise gefangen, seine „Zufälligkeit der Zwecke und Kollisionen“9 in eine Ordnung zu bringen. Im bürgerlichen Roman bieten Gesellschaft und Staat ein Gefüge, aus dem heraus nicht nur eine hypernormative Struktur entsteigt, sondern auch seine lizensierte Stromlinienförmigkeit des Individuums in Staat und Gesellschaft sich ergibt. Die Strukturelemente von Zusammenhang, Zweck und Ordnung sind auf diese Weise poetische Gegenstände der Auseinandersetzung des Romans mit sich selbst. Zugleich zeigt die auf Zufälligkeit setzende Theorie des William Lovell, inwiefern Erzähltechniken der Sattelzeit Gegenentwürfe produziert haben. Die neue Nobilitierung der Gattung durch Goethe hat nichtsdestoweniger in der frühromantischen Hagiografie des Wilhelm Meister Früchte getragen. Diese dem Roman selbst zueigene Entwicklung und Bildung ist von der Generation um Tieck und die Gebrüder Schlegel hingegen als nicht abschließbar bestimmt, was im poetischen Versuch der stetigen „Abwandlung der Romanform selber“ resultiert, die Benjamin als literarisches Resultat des Romans benennt.10 Die formalen Versuchsanordnungen romantischen Erzählens sind so auch performative Vetos gegen das teleologische Erzählen. Andererseits ist der Text als Gesamtgebilde, wie indifferent er poetischen Konventionen gegenüber auch erscheinen mag, einer eigenen Ordnung unausweichlich unterworfen, bestehe diese auch in Unordnung. War Blanckenburgs Diagnose der Kausalmotivation noch auf den unmittelbar nach-barocken, aufklärerischen, privaten Roman gemünzt, verfährt die Romantik mit Zufallsexpositionen, die, wie im 7
Benjamin, Der Erzähler, S. 443.
8
Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 219.
9
Ebd., S. 211.
10 Benjamin, Der Erzähler, S. 443. Zur romantischen Ästhetik, vgl. Schlegel, AthenäumsFragmente, S. 182f. Das programmatische 116. Athenäums-Fragment identifiziert mit seiner „progressiven Universalpoesie“ die Unendlichkeit und darin Ankunftslosigkeit des künstlerischen Prozesses.
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Lovell, als Theorien des Erzählens angeboten werden und somit in Selbstreflexivität auch das Ordnungsgebot des Textes spiegeln. Friedrich Schlegel fordert im Brief über den Roman (1800), dass eine „Theorie des Romans, die im ursprünglichen Sinne des Wortes eine Theorie wäre: eine geistige Anschauung des Gegenstandes mit ruhigem, heitern ganzen Gemüt [...], selbst ein Roman sein“11 müsse. In intuitiver Vorwegnahme sind Ansätze dessen im fabulierfreudigen Frühwerk Tiecks bereits umgesetzt, das sich für die Artikulation der eigenen Produktions- und Lektüreattitüde, analog zu Schlegels romantheoretischem Abschnitt, den Brief als Medium erwählt. Die permanent adressierende Erzählhaltung erschafft einen Austausch aus sich gegenseitig hervorgebrachtem, handlungsrelevantem Bericht und angedocktem Kommentar, mit dem der literarische Konfigurationsversuch romanästhetischer Konventionen formal plausibilisiert wird.12 So setzt er mit seinen allerersten Äußerungen an der ursächlichen Erzählmotivation an, die mit der Potenzialität des Schreibens bearbeitet wird. Karl Wilmont, der als erste und letzte Stimme des Lovell der Gesamterzählung einen Halbkreis zwischen Ein- und Ausgang spendiert, so wie er mit seiner eigenen, um 180 Grad gewendeten Person auf die eklatante Veränderbarkeit des Subjekts im Roman aufmerksam macht, wählt eigens ausgedachte Spekulationen über das Ausbleiben von Nachricht seines Freundes Mortimer zum Schreibanlass: „Bald halt ich Dich für tot, bald für verreist, bald glaub ich Dich irgendwodurch erzürnt zu haben, bald Deine Briefe auf der Post verloren.“13 Die jeweiligen Ideen umspielen mit ihren Registern des Todes, der Reise, des Streites und des zufälligen Missverständnisses wesentliche Erzähltopoi, die den Romanleser des 18. Jahrhunderts verraten. Dass sie alle als Grundlagen für die Stummheit seines Gegenübers fungieren könnten, ergänzt einen Reflexionsgrad, der schließlich von der Romantik ausgehend im Erzählen des 19. Jahrhunderts markant wird. Der nicht geschriebene Brief wird zum Anlass dieses ersten Briefes und des Romans. Er ersetzt ein äußeres erzähllegitimierendes Ereignis, von dem aus nunmehr eine Sammlung umfangreicher Briefwechsel verschiedener Autorinnen und Autoren abgedruckt ist, deren Vielstimmigkeit in ihrer Gesamtheit einen Roman der Stimmensammlung ergibt. Das Erzählen generiert multiperspektivische, intratextuelle Fragmente, deren Abfolge an Puzzleteilen jenem Kartenspiel gleicht, von dem Lovell im Zuge seines Spielwahns berichtet hat. In dem Maße, wie Episoden der Willkür, Ambivalenz und des Zufalls besprochen werden, fließen auch die Überlegungen der Korrespondenzen in eine omnipräsente Diskussion über Zufall und Notwendigkeit, welche als gewichtiger theoretischer Beitrag zur thematischen Aufstellung des Lovell emporsteigt. 11 Schlegel, Gespräch über die Poesie, S. 337. 12 Zur aus dem Briefroman sich ergebenden Chance der Theoretisierung, vgl. Stiening/Vellusig, Poetik des Briefromans, S. 14. 13 Tieck, William Lovell, S. 237.
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Bereits Friedrich Schillers Geisterseher (1787), der eine sichtliche Inspirationsquelle für Tieck darstellt, beinhaltet diese Auseinandersetzung anlässlich der Verschwörungsparanoia um seinen Prinzen, genauso wie Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/1796) parallel zum Lovell den Diskurs einmal mehr mit einem Orden geheimer Weltsteuerung ausgestattet hat, nämlich mit der elitären Turmgesellschaft. Wo Schiller sein Geheimbundthema mit Analogien zu den Logen der Spielerzirkel verbindet,14 erfährt Goethes Wilhelm hingegen mit dem Turm und dem darin ausgestellten Lehrbrief seine Destination des Zufalls. Im Angesicht der Enthüllungsstimmung kommt er zu der Überlegung: „Sonderbar! [...], sollten zufällige Ereignisse einen Zusammenhang haben? und das, was wir Schicksal nennen, sollte es bloß Zufall sein?“15 Die Eingliederung des Lebens in eine gesteuerte Farce findet nicht nur in den Gedanken Wilhelms statt, sondern steht auch Pate für eine Theorie von der Bedeutung einzelner Elemente des Textes, die sich strebsam auf eine Lösung zubewegen. Wilhelm grübelt zum Abschluss seiner Lehrzeit im Fragemodus über den Zufall, weil der Zusammenhang des Zufälligen das Paradoxon behandelt, Schicksal und Zufall zugleich als Angebote des Zusammenhängens – auch jener Blanckenburgischen inneren und äußeren Ursachen und Wirkungen – ernst zu nehmen. Lovell konnte sich hingegen in seiner Spielsequenz nur schimärisch nähern, da der Zufall in der Abfolge neuer Würfe als Unmögliches sowieso entgleitet. William unterscheidet sich in diesem Bereich deutlich von seinem deutschen Namensvetter Wilhelm. Wo dieser den Zusammenhang von scheinbar unabhängigen Ereignissen akzeptiert, gibt sich jener dem emphatischen Unzusammenhängenden des Zufalls im Glücksspiel anheim. Dieses permanente Entwicklungsstadium, in dem das Prozessieren des Charakters wichtiger ist als seine Endstation, informiert gleichsam über den Gegenstand des Zufalls: „[...E]s kommt mir oft in der Welt nichts so seltsam vor, als daß irgendein Zufall mit einem früheren zusammenhängt, so daß wir oft wirklich auf die Idee von dem geführt werden, was die Menschen gewöhnlich Schicksal nennen.“16 William kehrt hier Goethes Ansatz um. Wilhelm Meister muss seine Überlegung nach der Verwechselbarkeit von Zufall und Schicksal mit einem 14 Zu der Parallele, vgl. Albert, Corriger la fortune?, S. 119. In Schillers Text ist das Spiel, nachdem es zunächst als Verfahren der Zerstreuung inszeniert wurde, als Entlarvung eines verschwenderischen Charakters hinterlegt: „Der Prinz, der dem Spiel nur allein durch hohes Wagen flüchtigen Reiz zu geben wußte, fand bald keine Grenzen mehr darin. Er war einmal aus seiner Achse. Alles, was er tat, nahm eine leidenschaftliche Gestalt an; alles geschah mit der ungeduldigen Heftigkeit, die jetzt in ihm herrschte. Sie kennen seine Gleichgültigkeit gegen das Geld; hier wurde sie zur gänzlichen Unempfindlichkeit. Goldstücke zerrannen wie Wassertropfen in seinen Händen. Er verlor fast ununterbrochen, weil er ganz und gar ohne Aufmerksamkeit spielte.“ Schiller, Der Geisterseher, S. 709. 15 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 496. 16 Tieck, William Lovell, S. 575.
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Fragezeichen beschließen, nur um darin zu insinuieren, dass ersteres lediglich die Verkleidung für letzteres sei – eine Operation, die den Zufall schließlich entwendet. Lovell indes wundert sich über die superlative Seltsamkeit der getreuen Verwechselung von Zufall mit Schicksal. Seine Irritation über die Möglichkeit der Annulierung des Zufalls durch das Schicksal betont die ebenfalls paradoxe Notwendigkeit eines Denkens im vom Schicksal befreiten Zufall. Die Führung und Verführung eines Glaubens an das Schicksal durch den Zufall und ihre mögliche Absage an Verfahren des Bildungsromans speist sich über die Konditionierung vom Zufälligen: Wenn der eine Zufall auf dem anderen basieren könnte, würde er als Zufall getilgt und in ein Ganzes fließen. Die dramaturgische Bewegung des goetheschen Erzählens zaubert aus seinen Wendungen und Zufällen schließlich doch Notwendigkeiten und Einfälle. Es presst für Wilhelm wie für die Leserinnen und Leser aus eventuell marginal erscheinenden Dreingaben Bedeutung hervor. Zufall und Schicksal sehen sich auf dieser Ebene des Zusammenhangs ähnlich, allerdings ist der Zusammenhang bereits eine nachträglich vorgenommene Verknüpfung der überregionalen Fakten des Textes. Die spätere Hochromantik kennt in dieser Hinsicht bissige Parodien auf den Bildungsroman goethescher Provenienz und seinen Zusammenhang der Dinge, etwa in E.T.A. Hoffmanns Erzählung mit eben diesem programmatischen Titel von 1820. Dort ereifert sich der einem mechanistischen Weltbild anhängende Ludwig17, eine junge spanische Sängerin vor ihrem vermeintlichen Verderber zu retten. Nach motivierender Konsultation der Literatur in außerliterarischer Wirklichkeit – die in Hoffmanns Text abermals literarische Faktizität ist – möchte Ludwig in dem fragilen Wesen um jeden Preis eine Inkarnation Mignons wiedererkennen: „‚O Mignon!‘ rief Ludwig von neuem, ‚göttliche Mignon! – Ja ich rette sie, ein zweiter Wilhelm Meister, aus den Händen des heimtückischen Bösewichts, dem sie dienstbar!‘“18 Einen Hinweis auf dessen Bösartigkeit gibt es abseits von Goethes berühmtem Roman als intertextuellem Tatsachenspender derweil nicht. Der quijotische Ludwig ignoriert aufgrund seiner Lektüre die Anreize und Zeichen seiner Umwelt, was die fixe Idee einer von Notwendigkeit gestalteten Ereignisstruktur, der er anheimgefallen ist, auf den Bereich des Deutens und Interpretierens erzählender Texte ausweitet. So wie Ludwig die Notwendigkeit eines Zusammenhanges aus einem Text, der sich selbst ausführlich mit dem Zusammenhängen von Zeichen, Symbolen und Ereignissen beschäftigt, auf seine Wirklichkeitsfassade projiziert, wird ein Zusammenhang der Dinge als Kompatibilitätsfantasie der pathologisch hoch investierten Lektüreerfahrung gekennzeichnet. Hoffmanns Text spielt mit der Gleichzeitigkeit von Zusam-
17 Dessen radikale Ansichten werden wohlgleich als Entstellung des „schönen Gedankens“ von Goethes rotem Faden erkannt. Vgl. Hoffmann, Der Zusammenhang der Dinge, S. 1055. 18 Ebd., S. 1060.
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menhängen zwischen intra- und intertextueller Bedeutung, die als Dreh- und Angelpunkt des Erzählens ausgewiesen und poetisch ausgenutzt wird. Er ironisiert auf diese Weise jedoch nicht nur die Manier des Bildungsromans, sondern verweigert auch den Pakt mit den Theorien der frühromantischen Jenaer Zirkel. Das universalpoetische Modell Schlegels scheint zwar in der Ästhetisierung der Welt eingelöst, jedoch um den Preis, im seinerseits humoristischen (und unheimlichen) Bruch sich vor dem Rest der Welt zum Narren zu machen: Wer überall den Roman sieht, verpasst das Leben. So auch Ludwig, der die zweite Mignon an seinen nüchternen Freund verliert. Die gattungspoetischen Anlagen von Prosa und Roman bestehen vor diesem Hintergrund auf ihrer Möglichkeit der Inkonsistenz, gerade weil das Erzählen als Ganzes mit der potentiellen Entnahme von Kausalitäten arbeitet. Die Glücksspielszenerie zeigt als ein Thema, das diese Geste stört und deren Dysfunktionalität registriert, auf die Widersprüche von Kausalität. Der Hasard selbst ist als motivische Instanziierung des Zufalls mit seinen funktionslos gegeneinandergehaltenen Episoden einer strukturierten Erzähllinie fremd. So entpuppt sich auch Lovells Spielerkarriere als Episode mit ominöser Funktionalität, die als Produkt des klandestinen Zirkels um den konspirativen Andrea Cosimo und Teil von dessen umständlich angelegten Plänen gewertet werden kann. Zugleich besteht sie als unabhängiger Einschub der Geschichte des Lovell. In einem langen testamentarischen Traktat enthüllt der Großmeister am Ende das Marionettenspiel, welches er mit Lovell an den Fäden aufgeführt hätte. „Ich fuhr indessen mit meinen Künsten fort“, schreibt Cosimo, der auch nach Erreichung seiner Ziele, nämlich dem Tode seines Feindes – Lovells Vater –, nicht vom ahnungslosen Sohn abließ, „weil die Maschinen einmal in den Gang gebracht waren und ich mich daran gewöhnt hatte, Dich als mein gehegtes Wild zu betrachten.“19 Der mechanistische Determinismus kerkert Lovells Person mit dem Bild der Jagd ein. Apparate und Jäger koalieren zu einer finsteren Fernsteuerung. Lovells Illusion einer selbstständigen Fragmentierung von Ideen, Handlungen und Sinnesschwankungen war Cosimos Werk, der den Glauben einer exaltierten Selbst- und Fremdzerstörung in den formbaren Adepten gepflanzt hat: „Du hast Dir seit langem eine unbeschreibliche Mühe gegeben, Dich zu ändern, und Du bildest Dir auch ein, gewaltsame Revolutionen in Deinem Innern erlitten zu haben, und doch ist dies alles nur Einbildung. Du bist immer noch derselbe Mensch, der Du warst; Du hast gar nicht die Fähigkeit, Dich zu verändern, sondern Du hast aus Trägheit, Eitelkeit und Nachahmungssucht manches getan und gesagt, was Dir nicht aus dem Herzen kam.“20
19 Tieck, William Lovell, S. 689. 20 Ebd., S. 690.
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Eine Entwicklung, so die Überzeugung, fand niemals statt. Lovells durchschnittliche Persönlichkeit war höchstens zur Mimikry des Ungewöhnlichen berufen. Doch Cosimo ergeht sich nicht nur in Spott, sondern kennzeichnet im Angesicht der reibungslos funktionierenden Maschine deren autodestruktiven Wert. Seine epistemologische Fälschung kann genauso gut Teil einer Scharade sein, der wiederum Cosimo auf den Leim zu gehen droht. Wenn Lovell sich in der vermeintlichen Kontrolle und Unterjochung seiner alten Freunde geirrt hat, weil die entsprechenden Maßnahmen in Wahrheit Produkte der Impulse Andreas gewesen sind, steht immer noch ein überzeugender Grund aus, weshalb Cosimo glaubt, selbst souverän gehandelt zu haben. Die düstere Anti-Turm-Szenerie denkt die Mechanik der Fremdbestimmung und Weltsteuerung noch einen Schritt weiter nach oben: „Und wer bin ich denn? – Wer ist das Wesen, das hier so ernsthaft die Feder hält, und nicht müde werden kann, Worte niederzuschreiben? Bin ich denn ein so großer Tor, daß ich alles für wahr halte, was ich gesagt habe? Ich kann es von mir selbst nicht glauben. – Ich setze mich hin, Wahrheit zu predigen, und weiß am Ende auch nicht, was ich tue.“21
Die Dramaturgie der gesamten Schrift besteht in einer Enthüllung fragiler Wahrheitsbegriffe. Sie proklamiert mit ihrer Darlegung einer Erbsünde des Lovell, dass die leere Gewöhnlichkeit der Figur frei zur Verfügung eines hegemonialen Choreografen stehe, der die Schuld des Sohnes einholt. Er kann allerdings seinerseits nicht sicher sein, inwiefern die Intrige als Zahnrad eines Ganzen fungiere bzw. nur Teil eines größeren Romans wäre, den er – im Gegensatz zu den Leserinnen und Lesern – gar nicht überschaut. Der unsichere Anspruch auf Letztgültigkeit trifft auch Cosimo selbst, dessen Taten unter dem Dünkel einer retrospektiven Fiktion verbleiben. Anders gesagt: Cosimo erreicht den Vater, jenen starken, ursprünglich anmutenden Signifikanten seiner Blutfehde, kommt dabei aber noch lange nicht an einem singulären, archimedischen Punkt an und ist stattdessen mit der Unendlichkeit einer Genealogie von Realität konfrontiert. Ein weiteres Mal wird das diametrale Verhältnis zum Wilhelm Meister deutlich:22 Dieser darf den Lehrbrief im prunkvollen Saal eines ehemaligen Gotteshauses entgegennehmen, auf idyllischer Bühne aus Gastlichkeit und Einheit: „[D]ie aufgehende Sonne fiel durch die farbigen Fenster Wilhelmen grade entgegen, und begrüßte ihn freundlich.“23 Genauso freundlich und festlich vollzieht sich die Konfirmation in Form einer Abspaltung vom Irrtum: „Heil Dir junger Mann! Deine Lehrjahre sind 21 Ebd., S. 691. 22 Für einen Vergleich des William Lovell und Wilhelm Meister, bei dem Tiecks Roman unter dem Label der Anti-Meister Novel firmiert, vgl. Hoffmeister, From Goethe’s Wilhelm Meister to Anti-Meister Novels, insbes. S. 93f. 23 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 495.
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vorüber, die Natur hat Dich losgesprochen.“24 Wie anders hat doch Lovell mit der Anagnorisis von Cosimo alias Waterloo umzugehen, die ihm von der morbiphoren Stätte eines Sterbenden zwar ebenso in der Gattung eines brieflichen Enthüllungsdokumentes überreicht wird, das aber Lovell nicht von der Natur losspricht, sondern die Steuerung seiner Welt und seines Weges bestätigt, dabei aber nicht ausschließen kann, selbst gesteuert zu sein – und folglich die Kontingenz wieder auf den Plan ruft. Cosimos Entwurf zum Schluss bezieht sich auf das eigene choreografische Geschick wie auch auf die Gesamtanlage des Romans, in der eine Struktur der teleologischen Notwendigkeit und pragmatischen Inszenierung mit etwaigen Zufälligkeiten und Nichtigkeiten konkurrierend auf gleicher signifikanter Höhe existiert. Als geheimer Autor von Lovells Antientwicklungsroman, der sich der eigenen Autorschaft nicht mehr sicher zu sein wagt, offenbart sich der Roman selbst als ambivalentes Wesen ohne Steuerung und Bedeutungskontrolle. Lovell, dem die Eigenschaften als hedonistischem Regisseur seiner Umwelt von Cosimo abgesprochen wurde, liest letztlich in dessen entwendendem Brief – der nämlich die Deutung der Zusammenhänge stibitzt –, dass er nicht nur selbst als Teil einer höheren Inszenierung fungiere, sondern dass auch eine Lenkung dieser nächsthöheren Instanz nicht auszuschließen sei. Diese in die Unendlichkeit fortzuführende Rechnung setzt sich schließlich auf Null, denn die infinite Potenzialität einer Notwendigkeit, aus der erst weitere Notwendigkeit hervorgeht, nivelliert ihre erkenntnistheoretische Belastbarkeit. Die Gleichstellung von Zufälligkeit und Notwendigkeit als narrative Verfahren sowie die Akzeptanz des drohenden Bedeutungsverlustes im Zufall kündigt Lovell in seiner Glücksspielemphase prophylaktisch an. Sie agiert als Wiederholungsfigur der Abkoppelung von kausalem Ereignisaufbau, die als inszenatorische Theorie von Andrea Cosimo bestätigt wird. Ihre narrative Relevanz erhält sie darin, dass die Inszenierung der Erzählung zu weiten Teilen sich als eine Inszenierung Cosimos enthüllt, der innerhalb seiner Enthüllung aber die Möglichkeit einer solch großangelegten Inszenierung (und damit die Möglichkeit des kausalen Romans) unverzüglich wieder in Frage stellt. Diese doppelte Aktualisierung der Ereignisse – als Teil eines Plans, dessen Möglichkeit gleichsam höchst verdächtig ist – exponiert ein in Auseinandersetzung mit Kontingenz verstetigtes Erzählen. Die dramaturgische Notwendigkeit der Glücksspielepisode bereichert eine solche kontingente Erzählanlage. Sie ist in den Interrelationen des Textes als Konzentrat seines theoretischen Begriffsrepertoires aufgehoben, aber variabel. Da die Episode als kontingenzproduzierende Einheit in einem mit Kontingenz beschäftigten Text angesiedelt ist, wirbt sie um ihre eigene Notwendigkeit, muss aber auch akzeptieren, dass sie mit ihrer hymnischen Hervorhebung der Potenzialität zugleich auf ihre Verzichtbarkeit aufmerksam macht. Dieser Status der Glücksspielepisode bewertet damit
24 Ebd., S. 499.
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den Status seines Textes, der nämlich die Austauschbarkeit seiner Teile genauso erzählt wie deren indiskutable Unveränderlichkeit. Denn jede minuskle Veränderung, auch ein selbstlegitimierter Exorzismus des tauschwütigen Glücksspielgeistes, erzeugt nicht etwa einen veränderten, sondern einen anderen Text.25 Der Roman hat dabei auch immer etwas mit der im Meister vorgenommenen Zufallseliminierung gemeinsam. Campe formuliert eine Einsicht in die Notwendigkeit des Textes folgendermaßen: „In der Ökonomie des Lebens haben wir es mit der Zufälligkeit der Zufälle zu tun; als Zuschauer erkennen wir dagegen das Ganze, in dem der Zufall sich als Element der Ordnung zu erkennen gibt.“26 Die Notwendigkeit von der signifikanten Notwendigkeit des Textes gedeiht auf der strukturellen Tilgung seines Zufälligen. Der Umstand des abgeschlossen gültig gewordenen Textes führt noch mal auf Walter Benjamins Erzähler zurück, der dafür das Stichwort des „Eingedenkens“ liefert. Benjamin legt in einem bemerkenswerten Abschnitt sein Veto gegen Moritz Heimanns unheimliche Einsicht ein, dass ein „Mann, der mit fünfunddreißig stirbt [...], auf jedem Punkt seines Lebens ein Mann“ sei, „der mit fünfunddreißig stirbt“27. Korrigiert lautet der Satz sodann: „Ein Mann, so heißt die Wahrheit, die hier gemeint war, der mit fünfunddreißig Jahren gestorben ist, wird dem Eingedenken an jedem Punkte seines Lebens als ein Mann erscheinen, der mit fünfunddreißig Jahren stirbt.“28 Dieses Eingedenken benennt das Gewesene, Abgelaufene, bereits Stattgefundene des Erzählten, welches ihm das Dilemma des Vergangenen zuordnet. Die Kontingenz der Zukunft eines Erlebens wird unwiederbringlich durch das Ende des Romans eliminiert: „Mit anderen Worten: der Satz, der für das wirkliche Leben keinen Sinn gibt, wird für das erinnerte unanfechtbar. Man kann das Wesen der Romanfigur besser nicht darstellen als es in ihm geschieht. Er sagt, daß sich der ‚Sinn‘ von ihrem Leben nur erst von ihrem Tode her erschließt.“29
Ein Ereignis wird mit seinem Eingedenken zum unbetrügbaren Störfaktor der eigenen Zufälligkeit. Die narrative Darstellung des Zufalls wird durch die Abgeschlossenheit des Textes abgewendet, weil das Eingedenken seines Ergebnisses eine Form 25 Eine Erfahrung, die der Lovell selbst machen musste, der nämlich durch Kürzungen und Hinzufügungen von Briefen bereits zu Tiecks Lebzeiten eine turbulente Editionsgeschichte hinlegte, die sich noch heute in teils unterschiedlich gestrickten Ausgaben äußert. 26 Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 294. Zu diesem und nachfolgendem Komplex habe ich eine frühere Darstellung bereits in einem Aufsatz veröffentlicht. Vgl. Thede, Psyche gegen Tyche, S. 106ff. 27 Benjamin, Der Erzähler, S. 456. 28 Ebd. 29 Ebd.
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der statischen Erinnerungsfixierung beschreibt, in der er nicht mehr anders in die Tatsache treten kann. Der gefallene Würfel ist so irreversibel wie der Tod der Figuren. Sie sind, wenn auch im Text eventuell nicht gestorben (aber möglicherweise deswegen im Roman häufig mit einem narrativen Odeur der Mortalität ausgestattet), als Figuren nach dem Fall des Vorhanges von der Korrektur der Mitteilung invariabel abgeschnitten. So wie derjenige, der mit fünfunddreißig Jahren stirbt, „dem Eingedenken“ – aber nur ihm – „an jedem Punkte seines Lebens als ein Mann erscheinen“ wird, „der mit fünfundreißig Jahren stirbt“, ist auch das kontingente Ereignis bereits durch die Todesflucht des Textes, durch seine Endlichkeit der eigenen Kontingenz beraubt. An die Sache ist nicht mehr zu denken, ohne sie von ihrem Ausgang her, in ihrer Unveränderlichkeit zu denken. Sie scheint nicht mehr ohne ihre Pointe vorhanden, wenn ihre zuvor ausgeschütteten Kennzeichen gegengelesen werden. Die im Roulettespiel auf Zéro gelandete Kugel, so ließe sich der Sachverhalt in diese Studie übersetzen, wird dem Eingedenken an jedem Punkt des Textes als eine Kugel erscheinen, die auf Zéro landet. Lovells Kompatibilitätsangebote der Kontingenz des Glücksspiels mit der erfüllten Ordnung des Textes befassen sich neben den poetischen Fragen nach gelungener oder gescheiterter Wiederholung auch mit einer Kontingenz der Kontingenz. Wenn der Zufall des Glücksspiels im Erzählen kein Zufall des Lebens sein kann, da er eben nicht zufällt, sondern bereits zugefallen sein wird, so ist er getilgt. Seine eigene Zufälligkeit ist genauso schimärisch, wie die sabotierenden Aktionen des Lovell an seinem früheren englischen Freundeskreis sinnlos. In seinem historischen Rahmen entwirft Tiecks Roman damit das Existenzminimum aus Lust und Furcht vor dem Ungewissen in der zufälligen Moderne. Systematisch und ästhetisch beschäftigt er sich mit Spiel und Zufall als mikroskopischen Tendenzen, in der sich makroskopische Erkenntnisse angesiedelt haben. Theoretisch ist der Zufall gegen den Grund ausgespielt, ohne eins im anderen aufgehen zu lassen. Gerade in diesem letzten Gegenstand liegt die narrative Sprengkraft des Spielers. Er wird zum Störfaktor von Handlungskonsistenz, wie Lovell zum Saboteur seiner sozialen Bindungen bzw. seines ursprünglichen Lebensplans geworden ist, oder wie Cosimo/Waterloo sich als Saboteur des Lovellschen Bildungsromans herausstellt, nicht ohne diese Sabotage auch wieder als der Intervention ausgesetzte zu verdächtigen. Anhand der Problematik des Zufälligen, der zufälligen Moderne und des zufälligen Spiels lassen sich mit derartigen poetischen Exponaten jeweils Korrespondenzen zu jener Akausalität festmachen, die auch dem Billardstoß des Zufälligkeitssinns zueigen ist, und die auf die Antinomie von Freiheit und Ursache verweist. Ihre Narration zeichnet sich durch schicksalslose Schickungen eines notwendigen Erzähltelos aus, die über das Glücksspiel nicht allein wiederholt, sondern überhaupt erst eingesetzt werden können. Der Hasard entfaltet sich als symbolisches Reservoir wie auch
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als instrumentelle Möglichkeit einer Narration des Zufälligen. Seine Register des historischen Standorts, der ästhetischen und systematischen Ausprägung sowie der philosophischen Gültigkeit beziehen sich auf ein kleinstes gemeinsames Vielfaches der Paradoxien von Ursache-Wirkungs-Konstrukten und ihren Negationen bzw. Abstraktionen im Zufall. Der Zusammenhang von Grund und Zufall wird unter der Lupe eines kontingenten Begründens porös. Diese Lupe gilt es ihrerseits zu betrachten.
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Zufall und Grund haben zweierlei miteinander zu schaffen. Sie kursieren erstens als jeweiliges Angebot für das Zusammenhängen von Ereignissen oder aufeinander verweisende Ideen, schließen sich dadurch allerdings auch gegenseitig aus. Beide Begriffe werfen dabei einen ideologischen Schatten, der immer von einem Denken in Zusammenhängen ausgeht. In diesem Gebrauch sind sie lediglich zwei verschiedene Enden ein und desselben Determinismus. Der Zufall erübrigt sich daher in seiner Abhängigkeit vom hegemonialen Zusammenhang, da er als Konstrukt für eben jenes Denken nicht Zufall sein darf: Als Name für das Unersichtliche eines bestehenden Kausalnexus wird er diesseits einer Rede von Zusammenhängen in deren Primat der Kausalität entkräftet. Zweitens ergibt sich die Frage nach der Begründung durch den Zufall, d.h., die Frage danach, inwiefern der Zufall in der Lage ist, etwas zu begründen. Dieses Rätsel ist vom Grund des Zufalls zu unterscheiden, der ihn als potentiellen Spender des Begründens zu seinem Empfänger macht, und nach einer Begründung für den Zufall fragt. Delikat sind diese Fragen, weil der Zufall – ebenso wie die Kontingenz, wenn ihr dahingehend Gemeinsamkeiten mit dem Zufall zugebilligt werden – unter der von ihm ausgehenden Eliminierung des Grundes schwankt, vielmehr aber noch an der Unmöglichkeit dieses Tötungsaktes. Unmöglich, „if to believe in chance means that one believes that all chance means something and therefore that there is no chance“30. Der Glaube an den Zufall glaubt an die begriffliche Beliebigkeit des Zufalls. Er glaubt an seine Bedeutung, die ihrerseits mit dem Zufälligen unverträglich ist. Die Aporie hinter diesem vicious circle lässt nicht nur offen, ob sie für oder gegen den Zufall spricht, sondern zeugt auch nicht länger von einem Interesse an der ideologischen Präferenz. Sie gelangt an den Kern des Zufalls, indem sie seine Aushöhlung akzeptiert. Damit treten Grund, Bedeutung und Kausalität in den Hintergrund der Frage nach dem Zufall und lassen ihn allein als ein Hin und Her zwischen Bedeutung und Zufall stolpern: Die Aporie besteht in einer Kontingenz, einem Anders-möglich-Sein der Kontingenz selbst.
30 Derrida, My Chances / Mes Chances, S. 22.
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Hegel hat den zur Debatte stehenden Komplex zwischen Zufall und Grund pointiert: „Das Zufällige hat also darum keinen Grund, weil es zufällig ist; und ebensowohl hat es einen Grund, darum weil es zufällig ist.“31 Die modallogische Behandlung von aus Notwendigkeit gesetzter, aber darin zufälliger Bedingtheit, hat Lesarten angeregt, Hegels Denken als „die einzige philosophische Theorie“ zu qualifizieren, „die den Begriff des absoluten Zufalls kennt“32. Mit diesem Ansatz werden allerdings die Antinomien zwischen Grund und Zufall beseitigt, indem nämlich letzterer fort vom Begriff geführt und hin zur Faktizität des Individuellen gesondert ist. Die eine der „zwei Seiten“ des Zufalls besteht in seiner „unmittelbare[n] Wirklichkeit“33. Das Zufällige „hat keinen Grund“, eine Eigenschaft, die den Zufall mit der Kontingenz gemein macht: „Weil auch dem Möglichen diese unmittelbare Wirklichkeit zukommt, so ist es sosehr als das Wirkliche bestimmt als zufällig und ebenfalls ein Grundloses.“34 Zugleich muss dieser bestechenden Faktizität des Zufälligen bzw. des Möglichen die Kür des „Gesetztsein[s]“ zugebilligt werden, wodurch „beides nicht an und für sich selbst“ ist. In dieser ihnen äußerlichen Maßnahme, „in einem Anderen“ also, erhält es „seine wahrhafte Reflexion-in-sich“ – „oder es hat einen Grund“35. Wir bekommen es mit einer aufgelösten logischen Bedingung des Zufalls zu tun, dessen Aufgabe die Verwaltung allen Nicht-Begründens ist, was ihn gleichsam in den Zuständigkeitsbereich der Setzung und Tatsächlichkeit delegiert. Eine philosophische Beitragsfähigkeit bemisst sich derweil für Hegel an der Untersuchung des Nicht-Gesetzten und nicht der Faktizität anheimgefallenen. Der Zufall kann damit nicht mithalten und gerät zum Namen für eine Modalkategorie, die sekundäre Wirklichkeitsausschnitte beschreibt. Hegels Zufallsbegriff wird so an seiner aporetischen Sollbruchstelle von den Ansätzen des späten 19. und 20. Jahrhunderts überschattet. Dem Weg in diesen (unsystematischen) Schatten gilt hier aus historischen wie systematischen Überlegungen heraus das Interesse, mit denen nämlich das Denken eines unideologischen Zufalls angeregt werden kann. Das Verhältnis von Zufall und Grund kann nicht ohne die Feindschaft, die dem Zufall daraus erwächst, erwogen werden, wohingegen der Grund für sich genommen zunächst kreditlos arbeitet. Jeder Akt des Begründens spricht en passant die Notwendigkeit der Begründung aus. Darin liegt eine gewisse Harmonie, nach der das Moment des Notwendigen sich in der Tätigkeit des zwischen Plausibilität und Unabweisbarkeit situierten Angebens von Gründen traulich wiederfindet.36 Der Zufall darf 31 Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 206. 32 Henrich, Hegels Theorie über den Zufall, S. 132 und S. 134f. 33 Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 205f. 34 Ebd., S. 206 35 Ebd. 36 Heidegger weist auf diese beinah pleonastische Konfiguration hin: „Bei allem Begründen und Ergründen laufen wir schon auf dem Weg zu einem Grund. Was der Satz vom Grund
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nicht auf diese Stimmigkeit zählen, insbesondere angesichts seiner Konnotation einer kausalitätsrelativierenden Tropik, die mit Aristoteles’ Kriterium der Ermangelung einer anzugebenden Ursache („Deswegen-Beziehung“) aufkommt.37 In dieser Ausprägung besetzt das Zufällige ein Moment des Defizits im Zusammenhangsgefüge zwischen Zuständen und ihren Bedingungen. Das Nicht-Zusammenhängende allerdings zu behaupten, obgleich mit dem verlockenden Begriff des Zufalls dafür wieder eine Bedingung und dessen Zentrum geschaffen, mitunter eine organisierende Begründung und damit ordnende Kausalität eingespeist wird, produziert theoretische Schwierigkeiten, die der Zusammenhang des Hinreichens und Nötigens im Begründen aus sich heraus erledigt. Das Begründen wird zur Begründung des Grundes. Es lohnt, einen Moment bei Aristoteles zu verweilen und seinen Zufallsbegriff anhand der beiden Ursache-Wirkungs-Überblender automaton und tyche zu kommentieren. Im Séminaire sur „La Lettre volée“ beklagt sich Jacques Lacan38 in einer aussagt, ist uns deshalb geläufig, und weil geläufig, auch unmittelbar einleuchtend. So kommt es, daß, was der Satz vom Grund sagt, zunächst auch nicht eigens als ein Satz gesetzt oder gar wie ein Gesetz vorgetragen wird.“ Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 171. 37 Aristoteles, Physik, 197b: „Wenn im Bereich der Geschehnisse, die im strengen Sinn wegen etwas eintreten und deren Ursache außer ihnen liegt, etwas geschieht, das mit dem Ergebnis nicht in eine Deswegen-Beziehung zu bringen ist, dann nennen wir das ‚zufällig‘ [automaton, S.T.].“ Es geht hier um ein Geschehen mit exogener Ursächlichkeit (aition), das nicht seines tatsächlichen Ergebnisses wegen zustande kam – ein vielschichtiges Verhältnis, das Zekls komplizierte Übersetzung mit dem Kompositum der „Deswegen-Beziehung“ bündelt. Die Grundkonstellation der unbekannten Ursachen oder der „Ursache in nebensächlicher Bedeutung“ macht den Zufall dem Schicksal bzw. der Fügung so verwechselbar. Ebd., 197a. Vgl. auch Bubner, Die aristotelische Lehre vom Zufall, v.a. S. 3-12, wo auf eine Lösung für die Stellung des Zufalls im Spektrum teleologischen Handelns mittels eines Als-Ob-Status von Zweckmäßigkeit gewiesen ist. Zu neuausgerichteten Überlegungen betreffs der „Deswegen“-Problematik im 19. Jahrhundert, vgl. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, S. 110, wo Zufall und Kausalität folgendermaßen gegeneinander abgewogen sind: „Ich muß gegen all dieses [Ursache-Wirkungs-Prinzipien, S.T.] anführen, daß Erscheinungen sehr wohl aufeinanderfolgen können, ohne aus einander zu erfolgen. Und dies tut dem Gesetz der Kausalität keinen Abbruch. Denn es bleibt gewiß, daß jede Veränderung Wirkung einer andern ist, da dies a priori feststeht: nur folgt sie nicht bloß auf die einzige, die ihre Ursache ist, sondern auf alle andern, die mit jener Ursache zugleich sind und mit denen sie in keiner Kausalverbindung steht. [...] Das Aufeinanderfolgen in der Zeit von Begebenheiten, die nicht in Kausalverbindung stehn, ist eben, was man Zufall nennt, welches Wort vom Zusammentreffen, Zusammenfallen des nicht Verknüpften herkommt [...].“ Vgl. hierzu auch Thede, Psyche gegen Tyche, S. 104f. 38 Für zahlreiche Hinweise betreffs Lacan bedanke ich mich herzlich bei Vera Kaulbarsch.
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Fußnote über den zuweilen ermangelnden Sinn für eine Unterscheidung beider Begriffe: „On sait l’opposition fondamentale que fait Aristote des deux termes ici rappelés dans l’analyse conceptuelle qu’il donne du hasard dans sa Physique. Bien des discussions s’éclaireraient à ne pas l’ignorer.“39 Tatsächlich steht noch im Alten Pauly unter dem Eintrag Automatia zu lesen: „Personification des Zufalls (also etwa gleichbedeutend mit Tyche).“40 Liddels und Scotts Greek-English Lexicon hilft dahingehend etwas weiter: Automatos bezeichnet dort unter anderem „events, happening of themselves, without external agency“; hinter automaton steht simpel „accident“41. Tyche wird derweil beschrieben „as an agent or cause beyond human control“, und erklärt als „fortune, providence, fate“42. Tatsächlich fällt eine Übersetzung der Nuancen beider Ausdrücke nicht leicht – sie scheinen ja kaum für sich genommen genau differenzierbar, schließlich ist die Umschreibung mit der Trias aus Fortuna, Providenz und Fatum ihrerseits jeweils eigene Lexikonartikel wert, die wiederum zurück auf tyche verweisen könnten.43 In der aristotelischen Beschreibung ließe sich dennoch ein Unterschied ausmachen, hinsichtlich verstärkter (Inter-)Subjektivität und Bedeutungsneigung von tyche, welche Ereignisse beschreibt, „die im Bereich sinnvoll gewollter Handlungen bei (Wesen), die die Fähigkeit zu planendem Vorsatz haben, zufällig eintreten“44. Automaton adressiert indes den generellen Zustand abwesender „Deswegen-Beziehungen“. Eine etymologische Verwandtschaft zum modernen Diskurs um selbsttätige Automaten und Vorrichtungen wirft dabei seine Schatten voraus: Nicht nur, dass es zur Eigenheit der technischen Zivilisation gehört, sich auf Automaten zu verlassen, auch der Zufall gehört zu diesen eklatant unbewegten Einrichtungen, die, wie später anhand der literarischen Bearbeitung von Zufall und Glücksspiel zu zeigen sein wird, einen hohen assimilatorischen Grad bezüglich der menschlichen Erfahrung zeitigen. Für Lacan ist gerade diese Differenz hervorzuheben, da es sich bei den von ihm geschilderten Signifikanten, „que figure l’αύτόματον du hasard“, eben nicht um eine intelligibel anmutende, debattierbare und anders zu ordnende Einheit aus tyche handelt, sondern um den drängenderen, nebulös und ohne Festlegung agierenden Wiederholungseinlöser automaton: gewissermaßen die automatische Wiederholung des Zufalls, die auch bei der Arbeit des Signifikanten aushilft. Bei der tyche ist zwar ebenfalls kein Grund für das jeweilige Ereignis anzugeben, aber zumindest ein Verhältnis bestimmbar, in dem die zufällige Begebenheit zwei oder mehrere Parteien 39 Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, S. 39. 40 Wernicke, Art. „Automatia“, S. 2606. 41 Liddel u. Scott, Art. „αὐτόματος“, S. 281. 42 Ebd., Art. „τύχη“, S. 1839. 43 Zur nur verlustreichen Übersetzbarkeit, vgl. Vogt, Kontingenz und Zufall, S. 73, Fußnote 15. 44 Aristoteles, Physik, 197b.
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zusammengeführt hat. Wie das auslaufende Pferd sich zufällig (automaton) vor Feuer in der Scheune bewahrt hat (es ist nicht wegen eines Brandes, sondern aus anderen Gründen herausgelaufen), um ein Beispiel Aristoteles’ zu paraphrasieren, besteht der automatische Zufall in einer Entfernung und Trennung von Schickung und Begebenheit. Tyche hingegen wird als Begegnung festgehalten, bei Lacan als „rencontre“ mit dem Schicksal („la fortune“).45 Im Elften Seminar formuliert er dieses „rencontre“ noch einmal aus: Tyche verfestigt den Schritt der Begegnung, und zwar: „du réel comme rencontre – la rencontre en tant qu’elle peut être manquée, qu’essentiellement elle est la rencontre manquée“46. Sie lässt sich in der Psychoanalyse mit der Form des Traumas („celle du traumatisme“) fassen.47 Betreffs automaton heißt es: „Le réel est au-delà de l’automaton, du retour, de la revenue, de l’instance des signes à quoi nous nous voyons commandés par le principe du plaisir. Le réel est cela qui gît toujours derière l’automaton […].“48 Dieser Unterschied zwischen Wiederkehr der Zeichen und Wiederholung von Begegnungen mit dem Realen wird noch eine Rolle spielen – spätestens, wenn die Darstellung von Glücksspielen sich als Konsumtion einer Wiederkehr der Zeichen des Zufalls durchaus von einer solchen Begegnung mit dem Schicksal wird abtrennen lassen müssen. Einen anschlussfähigen Vorschlag zur Unterscheidung von tyche und automaton macht Thomas M. Kavanagh: „Luck, or tyche, designates those chance events which have implications within the domain of nous or intelligence, which have tangible repercussions for a rational human being. Chance in its more restricted sense, or automaton [...], designates chance events which concern only physis or the domain of nonhuman and nonrational material nature.“49 Solchen feinen Eingrenzungen sei dennoch beigestellt, dass das aristotelische Aufsehen der Verstöße beider Ausdrücke gegen das Begründen gleich ist. Es ist kein Wunder, dass sie sich so ähnlichsehen, wenn sie als Signifikanten aus derselben Argumentation gegen die „Deswegen-Beziehung“ in der Physik herausfallen. Denn sobald vom Zufall die Rede ist, kommt auch die Sprache in eine Bredouille und kann das Gemeinte zuweilen nicht mehr bewältigen – eine Tatsache, die ihn vom Satz vom Grund unterscheidet.
45 Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, S. 39 46 Lacan, Le séminaire de Jacques Lacan XI, S. 54. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 53f. 49 Kavanagh, Dice, Cards, Wheels, S. 13.
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D ER S ATZ VOM G RUND UND SEINE R ISSE (L EIBNIZ /N IETZSCHE /M EILLASOUX ) Das Begründen ist kraft der Attraktivität aus sich heraus im Zuge des rationalen Denkens zur Grundlage avanciert.50 Der Satz des zureichenden Grundes stabilisiert wie kein zweiter die Gestalt des Notwendigen im Kanon der Aufklärung. Leibniz beschließt in der Monadologie (1714) als Vernunftgrundlagen neben dem Prinzip des Widerspruchs das entsprechende Principium rationis sufficientis („Raison Suffisante“), „en vertu du qvel nous considerons qv’aucun fait ne sauroit se trouver vray ou existent, aucune Enconciation veritable, sans qv’il y ait une raison suffisante, pour qvoy il en soit ainsi, et pas autrement; […].“51 Die Atomisierung der Sätze und Wahrheiten in ihre simpelsten Bestandteile mündet von dort aus in Definitionen, Postulaten und Axiomen. Der Satz vom zureichenden Grunde macht auf diese Weise allerdings auch ersichtlich, dass, neben seiner harmonischen Betonung des Notwendigen, der Grund für das Begründen problematisch ist. Sind Sätze nämlich nicht mehr der Begründung bedürftig, da sie qua Vernunft eingesehen werden können, muss auch dieses rationalistische Kriterium zunächst akzeptiert werden, und es ist fraglich, wie lange ein Zustand sich bewähren kann, der essentiell auf Notwendigkeiten besteht und darin doch auf einen Konsens der Vernunft zu setzen hat.52 Die philosophische Karriere der Doxa des Begründens hat in dieser Form vehementen Anteil an der wissenschaftlichen Betätigung und dem abendländischen Denken überhaupt. In dem Maße, in dem es sich während des 19. Jahrhunderts nicht allein beschleunigenden Prozessen und Ausdifferenzierungen, sondern auch Überprüfungen unterziehen 50 Adorno und Horkheimer beschreiben dies einerseits als regressives Phänomen, welches im Zuge säkularer Prozesse eigentlich eine Ersetzung von „Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit“ auslöste. Andererseits ist es in der Aufklärung omnipräsent: „Mochten die einzelnen Schulen die Axiome verschieden interpretieren, die Struktur der Einheitswissenschaften war stets dieselbe.“ Als Beispiel hält die „Leibniz’sche Mathesis universalis“ her, die dem Prinzip „Sprung“, d.h. auch: Überspringen des Zusammenhangs, feindlich gesinnt ist. Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 11 und S. 13. Vgl. auch Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 176. 51 Leibniz, Monadologie, S. 26. Heidegger identifizierte in dieser Proklamation eines Prinzips vom Grund vielmehr eine Aussage vom Sein, demzufolge das Seiende mit der „unausweichlich[en] Mitgift eines Grundes ausgestattet“ ist: „Sein und Grund“ sind so: „das Selbe“. Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 184. Auf diese Weise wird sowohl die redundante Logik des Satzes vom Grund festgestellt, als auch diese Logik in die Ontologiekritik gespeist. 52 Ein folgenreiches Problem, über das sich insbesondere Schopenhauer echauffiert: Vgl. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, S. 31 und 34.
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musste, steht die Begutachtung des Prinzips von Kausalität gleichzeitig Pate für die Erosionen im Zeitalter der Humanwissenschaften. Gegebene Gründe mussten nicht allein als Teil ihrer jeweiligen Einzelwissenschaften für sich überdacht werden, stattdessen traten die Fissuren des Begründens überhaupt ans Licht. Der Grund erhielt Risse.53 Leibniz liefert in Modifikation der aristotelischen „Deswegen-Beziehungen“ eine folgenreiche Epistemologie des Gründens, wenn er die Geltung des Satzes vom zureichenden Grund auch dort untermauert, wo die Gründe unbekannt sind („[...], qvoyqve ces raisons le plus souuent ne puissent point nous etre connues“54). An dieser
53 Zur Aufweichung der dogmatischen Philosophie durch den kritischen, d.h. kantischen „Korrelationismus“, vgl. Meillassoux, Après la finitude, S. 44f. 54 Leibniz, Monadologie, S. 26. Leibniz verweist einen Paragrafen später auf Wahrheiten, die durch Faktizität, nicht durch Notwendigkeit gelten: „verités […] de Fait, qui sont contingentes, et dont l’opposé est possible“. Ebd., S. 28. Noch zwei Absätze danach stellt er betreffs dieser Tatsachenwahrheiten klar: „Mais la raison Suffisante se doit trouuer aussi dans les verités contingentes ou de fait.“ Ebd. Dieser Kontingenzbegriff ist zur Anerkennung materieller Tatsächlichkeit funktional. Er nominiert die Möglichkeit, setzt aber die Notwendigkeit einer existierenden Möglichkeit, die durch Gründe ratifiziert wird, nicht außer Kraft. Vgl. auch Leibniz, Zum Begriff der Möglichkeit. Hier wird das Problem noch deutlicher. Das Verhältnis einer Möglichkeit zu seiner Aktualität würde stets nach triftigeren Gründen, nämlich „größeren Seinsgründen“ fragen, die den kontingenten Wahrheiten eine „Tendenz“ verleihen. Ein solcher Begriff von Kontingenz verfährt mit Möglichkeiten der graduellen Unterschiede, was die Kategorie, Möglichkeit zu sein, bis zur Unkenntlichkeit modifiziert. Ebd., S. 181. Zu Leibniz’ restriktivem Zufalls- und Kontingenzbegriff, vgl. Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 140-150 und S. 159. Vogl kritisiert, dass die Rede vom Zufall bei Leibniz vollständig im Kontingenzbegriff bzw. der Rede von den Möglichkeiten aufgeht. Es ist hinzuzufügen, dass ein Kontingenzbegriff, der privilegierte Möglichkeiten in der Wirklichkeit annimmt, selbst gehemmt ist, da er als reserviertes Kriterium für sekundäre Eigenschaften bzw. im Zustandsbereich von causae secundae in seiner Brisanz unterschätzt wird. Vgl. auch Vogt, Kontingenz und Zufall, S. 58: „Die Nicht-Notwendigkeit des Kontingenten, wie sie Leibniz versteht, ist demnach vor einem nahe liegenden Missverständnis zu bewahren. Leibniz’ Satz vom zureichenden Grunde – nihil fit sine ratione – und seine Auffassung von Kontingenz widerstreiten sich nicht. Auch für das Kontingente lässt sich schließlich ein Grund angeben: Gott hat die Existenz ebenjenes Kontingenten als Bestandteil der bestmöglichen aller Welten vorgesehen, andernfalls es gar nicht existierte. Das Kontingente ist also keinesfalls indifferent, zufällig, irrational, wiewohl auch nicht notwendig in dem Sinne, dass es unabhängig von Gottes Schöpfungswillen und Vorsehung existieren könnte.“
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Stelle wird als Amtshandlung der Rationalität die Möglichkeit des Zufälligen ausgesondert.55 Der Aspekt des Nicht-Wissens bzw. des Zu-wenig-Wissens absorbiert das Wort, das nunmehr in Gestalt eines entleerten Ausdrucks für den „superstition of the vulgar“ herhalten muss: „The rational man [...] could cover chaos with a veil of inexorable laws. The world, it was said, might often look haphazard, but only because we do not know the inevitable workings of its inner springs.“56 Die Synonymisierung von Zufall und emphatischem Erkenntnismangel unter der Prämisse, auch dort, wo keine Gründe gegeben werden können, mit dem Argument des epistemologischen Defizits auf der Begründbarkeit zu beharren, liest sich als Geschichte eines kontrollierbaren Erkennens. Der Zufall ist dabei nicht allein ein Gegenbegriff von vielen, sondern kann als bis zum Maximum aufgeladene Trope für dasjenige gewertet werden, was sich als Verwahrung gegen eine komplett von Gesetzen organisierte Kosmologie versteht. In der Belegung als vulgär und abergläubisch wird, in dieser Gestalt eines rationalistischen Verständnisses, das Konzept des Zufalls lediglich zu einem Referenzwert des Anderen. Kurzum: Der erkenntnistheoretische Einwand gegen den Zufall als Mangel an Wissen und Einsicht annulliert den Zufall nicht, weil er auch eine ‚Bedeutung‘ jenseits epistemologischer Funktionalisierung beansprucht, die sich im Verweis auf ein Nicht-Wissen bereits wieder erschöpft hätte.57 Gerade die vergebliche Sortierung des Zufalls als Nicht-Zufall, als Begriffsvakuum, hat seine Unbeherrschbarkeit neu provoziert. Bezeichnend für die Auseinandersetzungen um Zufall und Notwendigkeit werden die Verfahren der nachkritischen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts.58 Darin steht zunächst das Problem zur Debatte, inwiefern der Zufall auf ein Bestehen von Notwendigkeit angewiesen ist, und ob sodann von einer Notwendigkeit des Zufalls bzw. der Kontingenz zu sprechen wäre. Dass die Welt entgegen ihrer Sinnerschließung nicht zwangsläufig dichotomisch in ein Format des Zufalls und eines der in sich vollständigen Gesetzmäßigkeit zerfällt, bespricht Friedrich Nietzsche in der Morgen-
55 Vgl. Reith, The Age of Chance, S. 29-31. 56 Hacking, The Taming of Chance, S. 1. 57 Für einen dichten und informativen Überblick dieses Diskurses von der Aufklärung bzw. Frühen Neuzeit bis ins beginnende 20. Jahrhundert, vgl. Amthor, „Es ist vorbei – nichts kann mich retten – als der Zufall“, S. 60-69. Zur Fiktion des Zufalls, vgl. Schnyder, Alea, S. 87-92, sowie zum neuzeitlichen Übergang von Zufall als heiliger zur epistemologischen Kategorie, vgl. Reith, The Age of Chance, S. 13ff. 58 Zur Bedeutung der Romantiker und Nietzsches für eine neue Auseinandersetzung mit dem Zufall, vgl. auch Hacking, The Taming of Chance, S. 147ff. Hacking identifiziert in den aufklärungs- und metaphysikkritischen Auseinandersetzungen von Novalis und Nietzsche einen Ansatz der Restauration der „ancient and divine prerogatives of pure chance“. Ebd, S. 147.
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röthe (1881). Der Text befasst sich mit einem Zirkel des moralischen Urteilens, welches die Unterwerfung unter die Autorität der Moral voraussetzt und sich darin als amoralische Geste entpuppt. Diese Erörterungslinie nagt nicht allein am Begriff der Moral, sondern löst das Begriffliche selbst auf. Nietzsches zeitlose Deterritorialisierung der Geschichte des Denkens spielt dabei die christliche Tradition des Gesetzes gegen die Willkür aus, gewissermaßen die Nicht-Notwendigkeit und Gesetzlosigkeit ihres Bestehens. „Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchymie leugne, das heisst, ich leugne ihre Voraussetzungen: nicht aber, dass es Alchymisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten.“59 Auf die Unstimmigkeiten einer solchen Tätigkeit des Voraussetzens mitsamt ihres Nachziehens eines Anderen hat Nietzsche es abgesehen. In weiteren Fragmenten verdichtet sich das Unterfangen auf eine Reihe philosophisch-normativer Konzepte, zu denen auch Ursache und Wirkung gehören und deren verführerische Gesetzeskraft – denn ihre Gesetzmäßigkeit macht das Gesetz erst möglich – als metaphorische Täuschung behandelt wird. Wir werden von der „Regelmässigkeit“ zur Kausalität betrogen, denn: „Wir haben ja Nichts gesehen, als die Bilder von ‚Ursachen und Wirkungen‘!“60 [Hervorh. S.T.] Die Erwägung eines solchen Affronts führt immer wieder zur Möglichkeit des Zufälligen als intervenierende Variable. Das 130. Fragment nimmt sich schließlich entsprechend Zeit und Platz, um diesen Punkt ausführlich anzugehen. Nietzsche beginnt mit einer Auflösung des Glaubens an die ideologische Zweiteilung zwischen Zufall und Notwendigkeit, die nämlich nicht nur das Bekenntnis zu einer von zwei Optionen voraussetzt, sondern ihrerseits auf nichts Anderem als Konventionalität beruht: „Wir haben uns gewöhnt an zwei Reiche zu glauben, an das Reich der Zwecke und des Willens und an das Reich der Zufälle; in letzterem geht es sinnlos zu, es geht, steht und fällt darin, ohne dass Jemand sagen könnte wesshalb? wozu?“61
Die beiden abschließenden Interrogativpronomen sind zwar dahingehend unterschiedlicher Natur, als dass das eine nach dem Grund, das andere nach dem Zweck fragt; sie verbinden hier jedoch im tautologischen Nacheinander attributiv das Kausalitätsproblem mit der Ontologiekritik. Der Zufall wird gleichsam als Antagonist des bestimmenden Zwecks und der Intentionalität, darin als Reich des Sinnvergessenen profiliert. Seine Heimsuchung der eingerichteten Sphäre des Sinnbezugs, die mit Zwecken und Willen dekoriert wird, ist mit Furcht verbunden, nämlich davor, „dass
59 Nietzsche, Morgenröthe, S. 91. Vgl. auch das aufschlussreiche Paulus-Fragment Nr. 68, ebd., S. 64-68. 60 Ebd., S. 115. 61 Ebd., S. 120.
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es [das Reich der ‚grossen kosmischen Dummheit‘, S.T.] in die andere Welt [...] hineinfällt wie ein Ziegelstein vom Dache, und uns irgend einen schönen Zweck todtschlägt“62. Der Ziegelstein ist mit seiner intentions- wie auch nutzlosen Fähigkeit des Fallens bedrohlicher als seine Wirkung. So ist die säkularisierte Freilegung seiner Unbestimmtheit ein moderner Skandal, der nach einer versunkenen Fabel nachgedichteter Bestimmung sehnsüchtig macht: „In der neueren Zeit ist in der That das Misstrauen gross geworden, ob der Ziegelstein, der vom Dache fällt, wirklich von der ,göttlichen Liebe‘ herabgeworfen werde – und die Menschen fangen wieder an, in die alte Spur der Riesen- und Zwergen-Romantik zurückzugerathen.“63 Der Gedanke begreift die Narrativisierungen der „Diversion“64 des Zufälligen als furchtsame zivilisatorisch-abendländische Behelfslösungen.65 Nietzsches entsprechende Fabel hält die Bedrohung des „Spinnennetze[s] der Zwecke“ durch ein unberechenbares Zweites in vorchristlichen Kulturen noch als „heimlichen Trotz gegen die Götter“66, als begehrlichen Einspruch gegen providentielle Superiorität, aufrecht. Der nachantike Monotheismus federt diese Opposition in Form eines Konstruktes der gesteuerten Unberechenbarkeit ab. Die moira wird zur undurchsichtigen Intentionalität einer providentiellen Instanz:
62 Ebd. 63 Ebd., S. 121. 64 Ebd., S. 120. 65 Dass Kausalitäten als Erkenntnisbehelfe verstanden werden können, enthält der 44. Lehrsatz aus dem zweiten Teil von Spinozas Ethik, der da lautet: „Es liegt in der Natur der Vernunft, Dinge nicht als zufällig, sondern als notwendig zu betrachten.“ Spinoza, Ethik in geometrischer Form dargestellt, S. 189. 66 Nietzsche, Morgenröthe, S. 120. Es ist darauf hingewiesen worden, dass nicht die „Nothwendigkeit“, sondern die Teleologie bei Nietzsche einen Gegenbegriff zum Zufall meint. „Nothwendigkeit“ sei besser als realitätskonstituierender Begriff zu verstehen, der „die Relationen der Willen-zur-Macht-und-Interpretations-Kräfte“ adressiert. Abel, Nietzsche, S. 348. Nichtsdestotrotz verbirgt sich gerade aufgrund einer Herstellung von Relationen, die den Zufall in ein Kausalitätssystem reihen, auch hier die Frage nach der gegenseitigen Instandsetzung von Zufall und Grund – wenn auch nicht Zweck – des Zufalls. Vgl. auch ebd., S. 369-374. Anhand von Zarathustra spricht Günter Abel dem vom Zweck erlösten Zufall eine Notwendigkeit aus sich selbst heraus zu, die der Notwendigkeit einer jeweiligen Tatsache aus dem Willen zur Macht korreliert. Faktizität wird abermals zum Stichwort, nur diesmal ohne Leibnizsche Aussonderung, sondern mit verkündender Begrüßung. Insofern gibt es einen Ansatz zur Beschreibung der Antinomie des Zufalls, der aber wiederum als Bezugsgröße in der vom Zweck erfüllten Welt proklamiert werden muss, und nicht nur eher einen nominalistischen als begrifflichen Gehalt besetzt, sondern auch als Entwicklungsstufe des Denkens fungiert.
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„Diese neue Fabel vom lieben Gott, der bisher als Riesengeschlecht oder Moira verkannt worden sei und der Zwecke und Netze selber spinne, feiner noch als die unseres Verstandes – sodass sie demselben unverständlich, ja unverständig erscheinen müssten – diese Fabel war eine so kühne Umkehrung und ein so gewagtes Paradoxum, dass die zu fein gewordene alte Welt nicht zu widerstehen vermochte, so toll und widerspruchsvoll die Sache auch klang; [...].“67
Die Interpretation des Determinismus sucht dem rationalen Denken die Waffen zu entnehmen, die es auf sich selbst gerichtet hat. Wenn die Gesetze, welche sich zu einem totalen Netzwerk der Bedingtheiten und Begründbarkeit summieren, einen partikularen Erkenntnismangel aufbereiten, der als Zufall missverstanden werden kann, sei nicht einzusehen, warum die Erkenntnis der allgemeinen Gesetzmäßigkeit eine gesicherte sein soll, die dazu noch einen viel komplexeren Fall beschreibt. Nietzsche denkt eine umgekehrte Symbiose von Notwendigkeit und Zufall, in der nicht das vermeintlich Unberechenbare als Teil eines höheren, aber punktuell undurchschaubaren Zweckes herhält. Stattdessen besteht sie in einem Bild gesetzter Aktivität zur Statuierung eines Indeterminismus: „Jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit: da müssen Würfe vorkommen, die der Zweckmässigkeit und Vernünftigkeit jedes Grades vollkommen ähnlich sehen. Vielleicht sind unsere Willensacte, unsere Zwecke nichts Anderes, als eben solche Würfe – und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsere äusserste Beschränktheit zu begreifen: die nämlich, dass wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, dass wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht!“68
Diese Skizze enthält ein einschlägiges Paradoxon des Zufalls, welches nach der Notwendigkeit des Beliebigen, des Beiläufigen, des Spontanen und insbesondere des Nicht-Begründeten fragt. Nietzsche verkehrt damit das Leibnizsche Argument. Wo dieses die potentielle Undurchsichtigkeit des Grundes zur Flankierung des Satzes vom zureichenden Grund herangezogen hat, konserviert das Fragment der Morgenröthe die Möglichkeit des Zweckes und der „Willensacte“ – den Materialisierungen vom Zweck –, freilich als Karikaturen ihrer selbst, als Konstruktionen, die ihrer begrifflichen Essenz beraubt sind, so wie der als vulgär polemisierte Zufall seines Kerns entbehren musste. Die zwei Reiche sind eine Illusion, denn ihre Fabeln sind gemachte Täuschung, wie auch ihre Gefährdung aus sich selbst hervorgebracht und nicht dem Zufall anzulasten ist: „[U]nsere eigenen Netze werden durch uns selber ebenso oft
67 Nietzsche, Morgenröthe, S. 121. 68 Ebd., S. 122.
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und ebenso plump zerrissen wie von dem Ziegelsteine. Und es ist nicht Alles Zweck, was so genannt wird, und noch weniger Alles Wille, was Wille heisst!“69 Nietzsche kann seine Würfe derweil nur mit dem relativierenden Partikel „Vielleicht“ umkreisen, der nicht nur die Passage des potentiellen Zwecks einleitet, sondern auch den Absatz vom gegebenenfalls herrschenden Singular, mit dem das „Ein[e] Reich“70 des Zufalls angenommen werden kann, so exklamatorisch wie vage beschließt. Die Relativierung ist ihrerseits dem Paradox vom Zufall geschuldet, der als begründeter Zufall seine Qualitäten der Akausalität verlieren würde, wenngleich er als zufälliger Zufall nicht mehr propositional geltend gemacht werden kann. Der Zufall evoziert in diesem Sinne nicht nur eine philosophische, sondern überhaupt eine sprachliche Destabilisierung, was nicht als unliebsamer Kollateralschaden seiner Verwendung, sondern als sein Verhältnis zum Bedeuten betrachtet werden sollte. Diese Antinomie von der Bedeutung des Zufalls, die im Nicht-Bedeuten und NichtBegründen besteht und darin Reflexionen auf das Bedeuten generell zulässt, ist sein eigentliches Thema, das in einer ontologisch geprägten Debatte vom Zufall die Kernauseinandersetzung berechtigt.71 Die Geschichte dieses Diskurses belegt Nietzsche mit den charakteristischen Eigenheiten seines philosophischen Stils. Die Offenheit des „Vielleicht“ in der Notwendigkeit des Zufälligen bettet sich in die Morgenröthe mit mal pathetisch stilisierten, mal parataktisch ausgehöhlten Fragmenten ein. Die Varianten in der Beziehung von Zufall und Notwendigkeit verfassen sich in den Ansätzen des Textes, der häufig improvisatorisch scheint, wenn er assoziativ von Thema zu Thema springt, aber doch im Panorama seine Abschnitte wohlgeordnet und strukturiert präsentiert. Begriffe 69 Ebd. 70 Ebd: „Und, wenn ihr schliessen wolltet: ‚es giebt also nur Ein Reich, das der Zufälle und der Dummheit?‘ – so ist hinzuzufügen: ja, vielleicht giebt es nur Ein Reich, vielleicht giebt es weder Willen noch Zwecke, und wir haben sie uns eingebildet.“ [Hervorh. S.T.] Dass Nietzsche auch hier wieder mit „vielleicht“ operiert, relativiert nicht nur die Aussage, sondern verwahrt zugleich vor der abermalig zu klärenden Frage, ob die Annahme eines eingebildeten Zwecks nicht insofern redundant ist, als dieser gerade in seiner Einbildung alle Funktionen des Bezweckens und Begründens erfüllt. 71 Vgl. Reith, The Age of Chance, S. 38. Reith spürt dieser Debatte in großem Stil erst mit dem 20. Jahrhundert nach, das jenes epistemologisch mit dem Zufall verfahrende Age of Reason endgültig für das ontologische Age of Chance eintauscht. Die wichtigen (ontologischen) Punkte zirkulieren derweil bereits seit der Antike, etwa in Heraklits 52. Fragment: „Die Zeit [aion, S.T.] ein Kind, – ein Kind beim Brettspiel; ein Kind sitzt auf dem Throne.“ Heraklit, Überlieferte Worte Heraklits, DK 22 B25. Die Universalie Spiel ist hier als Motor des Universalen ausgezeichnet, darin aber mit der Willkür und Unzweckmäßigkeit des Kinderspiels belegt. Zur Rezeption des Fragments, insbesondere bei Nietzsche, vgl. Matuschek, Literarische Spieltheorie, S. 5ff.
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und Choreografien bauen aufeinander auf und gehen auseinander hervor, sodass mit dem Anschein der willkürlichen Platzierung dennoch eine verborgene Ordnung offenbar wird. In Anbetracht dieses auch formalen Verständnisses einer Notwendigkeit des Zufalls, im Sinne der Diversion, die bei Nietzsche häufig wie eine Digression anmutet, verwundert es, dass in den aktuellen Bestrebungen einer neuen Suche nach dem Absoluten, die sich das Label des Spekulativen Realismus gegeben hat, an einem ausschlaggebendem Punkt nicht mit Nietzsche gearbeitet wird.72 Quentin Meillassoux’ Essai sur la nécessité de la contingence, der den Haupttitel Après la finitude trägt, erschien 2006 als Vorschlag einer Revision der nachkritischen Philosophie. Deren sogenannter Korrelationismus (corrélationisme) zwischen Sein und Denken, Subjekt und Objekt, oder primären und sekundären Qualitäten sei nicht nur in sich widersprüchlich, sondern auch der Auslöser einer Verdrängung von Realitäts- und Wahrheitskonzeptionen. Da aber eine Rückwendung zum cartesianischen Dogmatismus ebenso wenig erstrebenswert ist, wird eine Verbindung neuerer und älterer Erkenntnistraditionen anvisiert: Notwendigkeit, Absolutes und Grund der vorkritischen Philosophie auf der einen Seite, und die Kontingenz des nachkritischen Denkens auf der anderen: „[N]ous devons découvrir une nécessité absolue qui ne reconduise à aucun étant absolument nécessaire. Autrement dit, nous devons penser une nécessité absolue sans rien penser qui soit d’une nécessité absolue.“73 Das leitende Argument bildet die Anzestralität („L’Ancestralité“), die nach der Erkenntnis bzw. „Gebung“ in Abwesenheit desjenigen fragt, der erkennen kann bzw. dem gegeben wird. Wenn die Notwendigkeit der Notwendigkeit mit diesem Gedanken allenfalls als notwendig gegeben erscheint, fällt auch das Korrelat unter seine Unverfügbarkeitsthesen: Es kann nicht die Absolutheit des Satzes vom Grunde zurückweisen, ohne sich selbst absolut zu setzen. Die Emanzipation vom Korrelationismus führt so in die Absolutsetzung nicht länger des dogmatischen Satzes vom Grund, sondern seiner Falschheit: „Nous devons saisir que l’absence ultime de raison – ce que nous nommerons l’irraison – est une propriété ontologique absolue, et non la marque de la finitude de notre savoir.“74 Meillasoux wendet das breite logisch-philosophische Begriffsrepertoire gegen das nachkantische Denken auf, um einen spekulativen Realitätsbegriff zu restituieren, der mit der Faktizität von Kontingenz operiert. Diese Absolutsetzung der Kontingenz erinnert allerdings nur auf den ersten Blick an Nietzsche. Nicht umsonst kritisiert Meillasoux das sogenannte schwache und starke Konzept des Korrelationismus gleichermaßen. Während unter ersterem die Transzendentalphilosophie des 19. Jahrhunderts zu verstehen sei, umfasst letzteres 72 Sein Name wird in Meillasoux’ Essay lediglich am Rande erwähnt oder implizit in die Argumentation einsortiert. 73 Meillasoux, Après la finitude, S. 47. 74 Ebd., S. 73.
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vor allem die Antimetaphysiker des 20. Jahrhunderts, mit Wittgenstein und Heidegger als Bannerträgern. Deren Sprachkritik und Destruktionsbewegung gehe mit einer kultischen Beziehung zu einer Philosophie des Anderen einher. Ideengeschichtlich bedeutet dies: „[L]e moderne est celui qui s’est enreligé à mesure qu’il se déchristianisait.“75 Die Säkularisierung ist ein modernes Phantom, da ihm als Substrat genauso gehuldigt wird, wie den Phänomenen, die sie verbannt hat. Im Hinblick auf den starken Korrelationismus heißt es über diese Kreisbewegung: „La clôture contemporaine de la métaphysique nous apparaît ainsi comme une clôture ‚sceptico-fidéiste‘ de la métaphysique – dominée par ce que l’on peut nommer les pensées du ToutAutre. Ces pensées du Tout-Autre, Wittgenstein et Heidegger en sont bien les maîtres noms: car le propos de ces penseurs, loin de constituer sur ce point une rupture radicale avec le passé, se situe en vérité dans le droit héritage – héritage porté par ceux-ci au point culminant de ses potentialités – d’une tradition fidéiste ancienne et attestée [...].“76
Eine Einordnung Nietzsches wäre im Rahmen all dieser Äußerungen hochinteressant und angebracht gewesen, auch wenn es schnell naheliegt, ihn zu den Vertretern jener starken Fraktion zu zählen, zumal sich Meillasoux’ Emanzipationsgedanke schließlich bis in die französische Theorie der sechziger und siebziger Jahre fortpflanzt, die unter Nietzsches Einflussgebiet fällt. Unter diesem Credo wirkt Meillasoux’ Variante eines Spekulativen Realismus wie ein Denken, das ein ähnliches Verhältnis zur Philosophie nach Kant einnimmt, wie die Philosophen des Hammers, der Destruktion und der Dekonstruktion es zu Sokrates und Platon hatten. Auch die Hervorhebung des dogmatischen Cartesianismus erinnert an Nietzsches Rückbezug auf die Vorsokratiker. So scheint es, als hätte Nietzsche in der Morgenröthe nicht nur die Religiösität des Denkens bereits erkannt, sondern dahingehend auch eine Bewertung für Après la finitude parat. Im letzten Buch sagt Nietzsche in Anlehnung an die Inaugurierung von Ursache und Wirkung durch Sokrates, „wir modernen Menschen sind so sehr an die Nothdurft der Logik gewöhnt und zu ihr erzogen, dass sie uns als der normale Geschmack auf der Zunge liegt und als solche den Lüsternen und Dünkelhaften zuwider sein muss.“77 Einige Zeilen später wird angesichts der Vormachtstellung dieser Philosophie statuiert: „Ich fürchte, sie merken eines Tages, dass sie sich vergriffen haben, – das, was sie wollen, ist Religion!“78 So sehr sich Meillasoux auch auf Metaebenen begibt: Seine terminologische Sättigung erscheint als Produkt jener abendländisch eingespielten Methode, die Nietzsche hier zu fassen versucht. Insofern trifft 75 Ebd., S. 66. 76 Ebd. 77 Nietzsche, Morgenröthe, S. 315. 78 Ebd.
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dessen Kritik der „Tyrannen des Geistes“ im 547. Aphorismus auch auf Meillasoux zu: „‚Ein Räthsel ist zu lösen‘: so trat das Lebensziel vor das Auge des Philosophen; zunächst war das Räthsel zu finden und das Problem der Welt in die einfachste Räthselform zusammenzudrängen.“79 So sehr Meillasoux’ Text also beweist, dass die Diskussion um eine Statuszuordnung bzw. eine epistemologische und ontologische Zusammenbringung von Notwendigkeit und Kontingenz noch äußerst lebendig und frisch sein kann, stellt sich sein Weg in Richtung eines neuen Realitätsbegriffes quer zum Zufallsbegriff, wie die Morgenröthe ihn umrissen hat. Es ist zu bezweifeln, ob Meillasoux’ Kontingenzbegriff der Absolutheit mit Nietzsches Rede vom Zufall vereinbar ist. Das jenseitige und abgründige Philosophieren im „Vielleicht“ legt weniger die Notwendigkeit der Kontingenz nahe, um die Einsprüche gegen den Satz vom Grund (und gegen den Satz vom auszuschließenden Widerspruch) ihrerseits absolut zu setzen, als dass die logisch-rationalen Formen des Denkens dichterisch umspielt und als solche freigelegt werden. Die Notwendigkeit der Kontingenz führt hier nicht in eine Realität, sondern erklärt das Zustandekommen ihrer Fabel. Während Meillasoux den Problemen des Korrelationismus die Notwendigkeit der Kontingenz entnimmt, bleibt die damit ermöglichte Möglichkeit einer kontingenten Kontingenz außer Acht. Das Verhältnis von Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit, von Indeterminismus und Determinismus, Notwendigkeit und Kontingenz oder Ursache-Wirkung und Zufall stellt eine axiale Grenzdebatte der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts dar. Die reaktionsschnelle Literatur beteiligt sich seit der Romantik weniger mit einer unmöglich gewordenen Entscheidung daran, als mit den Fragen, die sich an sie klammern. Lovells autopoetischer Kommentar zum Glücksspiel weist die Richtung, indem er zeigt, dass neben thematischen Momenten vor allem die Darstellbarkeit von Zusammenhängen im literarischen Text betroffen ist. Das repräsentative Bild für die Verdichtung des Zufalls in der Welt ist immer wieder das Fallen bzw. der Fall, bei Nietzsche etwa der des Dachziegels80 und der des Würfels. Dem totschlagenden Argument des Ziegels und der unschlagbaren Unhintergehbarkeit des Würfels gelingt 79 Ebd., S. 317f. 80 Der Dachziegel ist ein Klassiker in der Debatte um Zufall, freien Willen und Kausalität. Vgl. u.a. Spinoza, Ethik in geometrischer Form dargestellt, S. 89: „Wenn z.B. jemandem ein Stein von einem Dach auf den Kopf gefallen ist und ihn getötet hat, dann beweisen sie [‚Theologen und Metaphysiker‘, S.T.] auf folgende Art, daß der Stein gefallen ist, um den Menschen zu töten“; und insbesondere Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, S. 110: „Ich trete vor die Haustür, und darauf fällt ein Ziegel vom Dach, der mich trifft; so ist zwischen dem Fallen des Ziegels und meinem Heraustreten keine Kausalverbindung, aber dennoch die Sukzession, daß mein Heraustreten dem Fallen des Ziegels vorherging, in meiner Apprehension objektiv bestimmt und nicht subjektiv durch meine Willkür, die sonst wohl die Sukzession umgekehrt haben würde.“
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es, die Frage nach ihrer Bedeutung für das Bedeuten, für den Willen und die Zwecke unausweichlich zu machen. Anhand der Bedingungen ihrer Darstellbarkeit wird sich die Intervention des Zufalls im erzählenden Text überhaupt beschreiben lassen. Es lohnt sich also, bei ihnen zu verweilen. Denn dass der Zufall in Nietzsches Fragment mit dem Bild des Würfelspielers ausgestattet wurde, wirkt als Figuration so vital und paradigmatisch, weil nur die mechanische Materialisierung des Zufalls – etwa über einfachste randomizer, wie sie der Würfel menschheitsgeschichtlich zeit- und kulturübergreifend vertritt81 – seinen eigentlichen Ort modellieren kann. So verwundert es nicht, dass die Frage nach Determinismus und Indeterminismus schließlich auch an der Schnittstelle von Mechanik bzw. Physik und Philosophie verhandelt wurde und auch dort verhandelt werden muss, um seine verfehlte epistemologische Kategorisierung aufzuzeigen.
F ALL DES W ÜRFELWURFES (P EIRCE /M ALLARMÉ ) Charles S. Peirce hat in den 1890er-Jahren mit seinen Monist-Publikationen an einem naturwissenschaftlichen Punkt des Zufalls angesetzt.82 In The Doctrine of Necessity Examined (1892) identifiziert er den Ausgangspunkt des Determinismus mit Demokrits Atomismus, dessen mechanische Stringenz kleinster Teilchen von Seiten der Epikureischen Schule bereits zeitnah weiterentwickelt wurde. Die Bestimmung des clinamen, jener feinen und spontanen (Lot-)Abweichung in der Dynamik des stetig niederwärts strebenden Unteilbaren, erfolgt bei Lukrez als Vereinbarkeit von bewegender Ursächlichkeit und der Möglichkeit des Ausfallschrittes.83 Peirce sieht in der „mechanical philosophy“ seiner Zeit Abkömmlinge jenes vorepikureischen Atomismus, dessen Extrapolation nicht allein eine totale Gesetzmäßigkeit behauptet, mitsamt der Deduzierbarkeit jedes beliebigen Zustandes der Welt, sondern der auch im Zuge einer unzulässigen Kreuzung ontologischer Sphären zugeben müsste, „that minds are part of the physical world in such a sense that the laws of mechanics de-
81 Vgl. u.a. Hacking, The Emergence of Probability, S. 1f. und Frenzel, Art. „Spieler“, S. 656f. 82 Ian Hacking datiert den Auftritt von Peirce im Diskurs der „Doctrine of Necessity“ aus philosophischer Richtung als Beginn einer Avantgarde des Anti-Determinismus oder Indeterminismus, vgl. Hacking, The Taming of Chance, v.a. S. 11-15 und S. 200-215. 83 Vgl. Peirce, The Doctrine of Necessity Examined, S. 321, sowie Lukrez, Von der Natur, S. 101: „[D]och daß den Geist in uns selber / Nicht ein innerer Zwang bei allen Geschäften behindert, / Und er als Opferlamm nicht zum Dulden und Leiden verdammt ist, / Dies ist der Lotabweichung [clinamen, S.T.] der Urelemente zu danken, / Die, so klein sie auch ist, durch den Ort und die Zeit nicht beschränkt wird.“
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termine everything that happens according to immutable attractions and repulsions“84. Diese Radikalisierung des Determinismus in der Neuzeit geht, mit dem Beleg des „principe de la raison suffisante“, auf das Konto von Laplace. Dessen Vorstellung einer vollkommen kausal strukturierten Welt mündet mit dem sprichwörtlichen Laplaceschen Dämon in einer Entität, die aufgrund uhrwerkartiger Zusammenhänge in der Welt jeden beliebigen Zustand in Raum und Zeit ermitteln kann.85 Peirce zeigt zunächst in pragmatischer Wendung, dass das Postulat der Deterministen wissenschaftlich nicht sachdienlicher ist als die Annahme einer Möglichkeit der Abweichung von Gesetzmäßigkeiten. Eine solche Erwartungshaltung an experimentelle Ergebnisse könne sogar produktiv auf den Zufall als Faktor der positivistischen Beobachtung zurückgeführt werden: „Trace their causes [der Abweichung/errors, S.T.] back far enough, and you will be forced to admit they are always due to arbitrary determination, or chance.“86 Peirce geht gegen eine Universalstruktur der Gesetzmäßigkeit mit dem Zufall als Element dieser Gesetzmäßigkeit an. Verstärkt durch die Verwendung des Sicherung und Regelmäßigkeit aufrufenden Partikels „always“ klingt seine Ansage selbst nach der Formelhaftigkeit eines Gesetzes und läuft damit Gefahr, abermals in die den Zufall gefährdende Notwendigkeitsaufreihung zu führen. Da dies hier im Rahmen harter Wissenschaften als Teil von Erfahrungswerten geltend gemacht wird, beginnt Peirce direkt am Begriff zu ermitteln. Vermeintliche a priori-Argumente, wahlweise für das „principle of causation“ oder gegen „absolute chance“, würden entweder an einer unzulässigen Vermischung mit Erfahrung als Bestätigungsgröße, oder über terminologische Unschärfe sich selbst widerlegen und tatsächlich in profane Glaubensmuster, wie sie auch Nietzsche bemerkt, zurückfallen. Diese identifiziert Peirce als Ausgangsproblem der Behauptung von universaler Gesetzmäßigkeit: „To ‚postulate‘ a proposition“ – und nichts Anderes täten die Anhänger des Determinismus – „is no more than to hope that it is true“87. Über die Akzeptanz einer rationalen Metaebene des philosophischen Denkens, die etwa bei Leibniz in den grundlosen Grund geführt hat, müsste genau dieses Urteil gefällt werden. Peirce kann mit dem Zufall keine besser qualifizierte Begründung liefern, da dieser 84 Peirce, The Doctrine of Necessity Examined, S. 323. 85 „Une intelligence qui pour un instant donné, connaîtrait toutes les forces dont la nature est animée, et la situation respective des êtres qui la composent, si d’ailleurs elle était assez vaste pour soumettre ces données à l’analyse, embrasserait dans la même formule les mouvemens des plus grands corps de l’univers et ceux du plus léger atome : rien ne serait incertain pour elle, et l’avenir, comme le passé, serait présent à ses yeux.“ Laplace, Essai philosophique sur les probabilités, S. 3f. Vgl. auch Hacking, The Emergence of Probability, S. 132: „Laplace’s demon has become the byword for a physically determinate system. Because the world is determined, Laplace implies, there can be no probabilities in things.“ 86 Peirce, The Doctrine of Necessity Examined, S. 329. 87 Ebd., S. 323. Vgl. ebd., S. 330f.
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Zug das Terrain von Kausalität und Gesetzmäßigkeit nicht verlassen würde. Zwar gelingt es, den pragmatischen Vorzug einer Annahme von „chance“ widerspruchsfrei zu artikulieren, wobei allerdings lediglich dessen begriffliche und epistemologische Vorzüge in Betracht gezogen werden. Er widmet sich mit diesem Ziel ausführlich dem Vorwurf der Unintelligibilität des Zufalls, der jenes Problem der analytischen Belastbarkeit eines Konzeptes anspricht, welches dem Prinzip epistemologischer Verbindlichkeit klar entgegenläuft und in seiner Darlegung gleichsam auf die Potenz des Glücksspiels als Modell und Materialisierung von Zufall verweist. Wie zum Beleg der philosophischen Tragfähigkeit inszeniert Peirce diese Passage als Dialog. Sein exemplifizierender Gegenstand ist der Wurf zweier Sechsen mit einem Würfelpaar, der für den Indeterministen erstens in seiner aufdringlich sichtbaren Diversität und Spezifität das Moment des Zufalls verhandelbar machen würde; dieses Moment ficht zweitens als Teil in einer durchaus regulierten Welt deren gesetzmäßige Verfasstheit gar nicht absolut an; drittens würde in dieser regulierten Welt vielmehr jene Diversität und Spezifität nicht ursprünglich als reguläres Vorkommnis ihrer Struktur des Gesetzes grundlegend akkumuliert und nun ausgespielt, sondern sukzessive bzw. evolutionär in Form von Komplexität ausgebildet und erhöht. Ein Anstieg spontaner Vielfältigkeit, und nicht die genetische Urinstallation eines monistischen Gleises der Differenzierung sei hierfür die Erklärung, die zudem als graduelles Voranschreiten eine ursprüngliche Stabilisierung des Grundes vom Zufall unnötig macht.88 Es kann mit Peirce von der Devianz des Zufalls, der Neigung der Dinge zur Abweichung gesprochen werden. Devianz trifft auf den missliebigen Begriff des Zufalls selbst zu, der aus dem wissenschaftlichen Diskurs als ruchbares Element lange Zeit aussortiert wurde.89 Von Seiten des Determinismus wird angesichts der Diversität aus Devianz abermals auf die mangelnde Kenntnis der Ursachen eines bestimmten Würfelfalles hingewiesen, die immer noch theoretisch über die Gesetze der Mechanik beschreibbar wären. Peirce lehnt auch diesen Punkt ab, da sie zwar den Fall des Würfels, allerdings nicht die Diversität der gefallenen Augen formalisieren könnten. Über die einschlägige Gegenposition, nach der etwaig konstante Gesetze angesichts der Veränderung ihrer Ausgangsvariablen jene Diversität auch ohne Zufall ermöglichen, muss Peirce ohne Erwiderung hinweggehen.90 Das Zwiegespräch hat hier einen kritischen Punkt erreicht, wird aber ausgerechnet an der Stelle unkonkret, wo es einen Hauptaspekt in der Analytik des Würfelwur-
88 Vgl. ebd., S. 332ff. 89 Schließlich gelten auch die Räume des Zufalls – das Casino – als Orte devianten Verhaltens. Zur Geschichte des Ausschlusses von Glücksspiel und Zufall in Sippenhaft, vgl. Schnyder, Der Bann des Zufalls, S. 434-438. 90 Vgl. Peirce, The Doctrine of Necessity Examined, S. 331ff.
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fes beleuchtet. Die Zuständigkeit der Mechanik für die Funktionen von zufallsproduzierenden Apparaten ist entschieden, sobald ihre Befugnisse, einschlägige Aussagen über die Rekrutierung von Zufall via bewegungsinduzierender Vorrichtungen treffen zu dürfen, belegt oder widerlegt sind. Eine mikroskopisch beobachtende Physik, die im Besitz aller Variablen und relevanten Bewegungsgesetze wäre, könnte das Ergebnis eines konkreten Würfelwurfes transparent machen und tatsächlich auch dort eine „Deswegen-Beziehung“ anzeigen, wo die alltägliche Anschauung versagen müsste. Der Laplacesche Dämon wäre errichtet und als Indikator des universalen Zusammenhangs gesetzt. Dass Peirce diese Position mit seinem Diversitätsargument ablehnt, deutet zunächst auf die Egalität des Zeichensystems jener Zufallsmaschinen91, deren angezeigte Augen erst in gewissen Verteilungskontexten Bedeutung erlangen. Die Behauptung einer nachträglich in Kraft gesetzten Kausalität ist jedoch insbesondere aufgrund der getrübten Gewinnung von Variablen zurückzuweisen. Die notwendigen Bedingungen des Wurfes lassen sich nicht festsetzen, bevor dieser erfolgt, da sie sich erst im Akt des Werfens manifestieren. Selbst eine imaginäre Zufallsprognosemaschine, die alle betreffenden Ausgangskoordinaten unmittelbar messen und das Ergebnis voraussagen könnte, würde der Resultatanzeige, die die Augenzahl des Würfels selbst darstellt, semantisch nichts hinzufügen können. Sie wäre eine simple Duplizierung des Würfels. Das ist bereits in der simultanen Rekrutierung von Variablen für den Zufall angelegt, denn mit Verfertigungen der Variablen ist der Zufall bereits in Gang. Die Ausgangsvariablen des Würfelwurfes sind bereits zufällig. Welche Bedingungen wiederum diese jeweiligen Variablen konstituieren, mit denen die Mechanik rechnet, müsste in deren Aussagen noch ergänzt werden. Eine solche Prognose würde unweigerlich in einen infiniten Regress münden, in dem immer wieder nach den Variablen für die Variablen zu fragen wäre. Vor einem ähnlichen Regress musste bereits Andrea Cosimo in Tiecks William Lovell kapitulieren; seine Enthüllungen, der kausale Beweger von Lovells Geschick zu sein, konnten nur in den Verdacht führen, selbst von höheren Instanzen bewegt zu sein, mit dem Fokus auf das unendliche Streben nach höheren bewegenden und bewegten Instanzen ad infinitum.
91 Neben randomizern ist als Synonym für zufalls- bzw. kontingenzerzeugende Maschinen oder Apparate noch das chance setup im Glücksspiel geläufig. Vgl. Hacking, An Introduction to Probability and Inductive Logic, S. 24f. Vgl. auch Campe, Schau und Spiel, S. 50. Kirchmeier spricht von einer „Maschine purer Kontingenz“ bzw. einer „Black Box“, die er mit einer Zweiwertigkeit zwischen „Glück und Unglück“ belegt. Kirchmeier, Glück im Spiel, S. 40. Diese Binarität ist einer blinden Gleichwahrscheinlichkeit von zunächst nebensächlichen und insbesondere nicht normierten Werten entnommen, die rein deskriptiv funktionieren. Eine Rede von „Glück und Unglück“ stellt somit einen bereits gewichtigen Interpretationsakt über den Zufall dar.
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Die Würfel sind aus der Sicht dieses Regresses selbst der Apparat der Zufallsproduktion und -prognose in Personalunion, wodurch die Aussagefähigkeit mechanischer Regularität redundant würde. Dieser Zirkel der Mechanik deutet auf das deterministische Chaos im 20. Jahrhundert und die darin geltend gemachte Hyperkomplexität: Das Chaos von komplexen Systemen, wie sie Würfel darstellen, ist eine Sache des Überschusses von Variablen.92 Daraus ergeben sich Widersprüche eines Laplaceschen Dämons, dessen Kenntnis des Ergebnisses eines Würfelfalles vor dem Wurf den Zufall nicht eliminieren könnte. Der Effekt des Zufälligen würde nur umsortiert, nämlich vom Würfel auf die dämonische Prognosemaschine. Die Anzeige dieser Vorrichtung hätte denselben Anspruch des Zufalls, und würde dem Würfel gegenüber lediglich das temporale Privileg des vorherigen Anzeigens erhalten. Die Maschine wäre somit selbst der Würfel, was sich auch in der praktischen Ordnung niederschlagen könnte: Es würde nicht länger mit Rouletterädern, Karten oder Würfeln, sondern nur noch mit dieser Maschine kein weniger intensives Glücksspiel betrieben. Eine entsprechende Grenzziehung der Zuständigkeit mechanischer Formalisierungen des Zufalls enthält bereits Stéphane Mallarmés Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (1897), dessen Titel keine sechs Jahre nach Peirce die Gegenbehauptung zur Betrachtung des epistemologischen Zufalls als rein defizitäres Kontinuum ausspricht. Gerade die Verwendung einer Rede in Negation zeugt von der Intuition, eine Positivität des Zufalls nicht einfach behaupten zu können, sondern seine Antinomien vielmehr antithetisch erfassen zu müssen. Die Würfel haben darin weniger exemplifizierenden als explikatorischen Status: Sie aktivieren den Bereich des mathematisch gültigen Zufalls. Der Wurf ruft nicht die instrumentelle Betrachtung des Würfels als Gegenstand auf, sondern materialisiert als solcher vielmehr das einschlägige Argument für den Zufall, indem er gleichsam Akausalität und Gesetzlosigkeit performativ zur Darstellung bringt – ein Umstand, der über die strikt abwärtsstrebende, d.h. fallend gestaltete Typografie des Textes von Mallarmé wiederholt wird und auch darin ein technisches Moment assoziiert, nämlich einen Ausnahmefall des Drucksatzes. Das erste Bild des Gedichts wendet sich sogleich gegen einen auf Überzeitlichkeit ausgerichteten Weltzustand des Determinismus in Laplacescher Manier:
92 Vgl. Grupen, Die Natur des Zufalls, S. 17-20, und Amthor, „Es ist vorbei – nichts kann mich retten – als der Zufall“, S. 64f. Vgl. auch Spinoza, Ethik in geometrischer Form dargestellt, S. 89. Einen rezenten Vorschlag zur Relevanz einer interdisziplinären literaturwissenschaftlichen Ausrichtung auf Chaosforschung, wenn auch mit überproportionalem Anteil an konstruktivistischer und systemtheoretischer Methodik, macht der Tagungsband: Mikuláš/Wozonig (Hrsg.), Chaosforschung in der Literaturwissenschaft. Die Variabilität der Variablen ist in anderer Hinsicht außerdem Gegenstand der später vorgenommenen Analyse von Balzacs La Peau de chagrin.
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„Quand bien même lancé dans des circonstances éternelles, [...].“93 Der Topos vom Spiel des universalen Würfelfalles durch „unendliche Zeit“ hatte von Laplace bis Nietzsche mit Blick auf den Universalismus im (In-)Determinismusproblem Tradition, da er die Atemporalität und darin Ahistorizität des Zufalls (bzw. des Gesetzes) als Eigenschaften jeweiliger Grundlegungen anspricht. Peirce betont im Laufe der Auseinandersetzung mit dem Determinismus die Prinzipien von Axiomatik und unbegründbaren Bewegern als kausallogisch leere Setzungen, die als solche ähnlich unintelligibel sind wie der Zufall. Gerade dieses Argument speist die Konnotation des Zufalls vom Nicht-Begründen in den Komplex der Kausalität ein. Umgekehrt begründet Peirce die Bevorzugung des Zufalls mit einer Stabilisierung über die Regelhaftigkeit einer zeitlich ansteigenden Erhöhung des Unregelmäßigen: „I attribute it [the whole specification of the world, S.T.] altogether to chance, it is true, but to chance in the form of a spontaneity which is to some degree regular.“94 Solche theoretischen Erwägungen verlassen noch nicht den Kern der Antinomien, die die Rede vom Zufall erzeugt. Der Zufall wird zwar begrifflich ernst genommen und soll als zufällige und darin verborgene Mechanik des Zusammenhängens nicht mehr eigentlich Zusammenhang genannt werden. Dennoch bleibt er als Devianz bzw. clinamen Teil der Struktur des Zusammenhängens. Er wird lediglich in Gestalt einer Abweichung von der Norm anerkannt, was die umgekehrte Erkenntnis des Zufalls zulässt: Das Zusammenhängen ist nur eine Abweichung von der Norm des Zufälligen – ähnlich zu Nietzsches unendlichen vielen Würfen, von denen einzelne irgendwann dem Zweck zu gleichen beginnen. Damit ist der Zufallsbegriff vom reinen Mangelzustand der „Deswegen-Beziehungen“ bzw. ersichtlicher Kausalität zu einer aktivierenden Wendung als Bezugsgröße von Varianzexplosionen befördert, der dennoch immer noch Partei in einem Streit über den Sinn vom Zufälligen ergreift. Dieser Streit verstellt nach wie vor eine eingehende Betrachtung der Dispositionen begriffsimmanenter Zufallsantinomien, selbst wenn diese bereits im 19. Jahrhundert anerkannt wurden,95 hingegen in der Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch auszubauen waren. 93 Vgl. Mallarmé, Un coup de dés jamais n’abolira le hasard, S. 459. Vgl. hierzu auch Thede, Psyche gegen Tyche, S. 108. 94 Peirce, The Doctrine of Necessity Examined, S. 336. 95 Hacking weist auf verschiedene Akzente der Determinismus- vs. free will-Diskussionen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hin, die aus neukantianischer Richtung jeweils Elemente des einen Denkens gegen sich selbst geltend machen konnten, um damit das andere zu beweisen. Dies ist ein Argument dafür, warum der Streit charakteristischerweise unentscheidbar ausgetragen wird. Vgl. Hacking, The Taming of Chance, S. 155ff.: „The plan was to create post-Kantian antinomies. For example, any argument for determinism can be turned into one for free will, and vice versa.“ Die wichtigste Konsequenz einer solchen Arbitrarität des Argumentes ist in Form der Profilierung des Zufalls bereits
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C HANCEN
DES
Z UFALLS (D ERRIDA)
Die Antinomien des Zufalls gerieten rund um die Kornkreise der Logozentrismusdebatte auf die Agenda von insbesondere französischer Nachkriegsphilosophie. An der referentiell unnachgiebig vorgenommenen Bedeutungssektion, die das bedeutende Ergebnis einer Produktion leerer Zentren und verlorener Präsenzen hervorbrachte, liegen mit der Fata-Morgana endlicher Stationen und Destinationen des Zeichens auch Interventionsräume des Zufalls vor. Spätestens mit der aufgehenden strukturalistischen Saat, die aus ihren einzeldisziplinären Ausrichtungen in umfassende Theorien der Interpretation zurückgeführt wurde, konnte der Zufall als potentiell leerer Name eines akausalen Denkens in seiner Rolle brillieren, sich sowohl in das Zustandekommen einheimischer und ortskundiger Wahrheiten einzumischen als auch den Prinzipienzusammenhang aus eidos, arche und telos neu zu denken.96 Gilles Deleuze erinnert 1972 in seiner Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus an Mallarmés abschließenden Reim des Coup de dés: „Toute Pensée émet un Coup de Dés.“97 Mallarmés Knittelvers ist nicht nur auf die spielerische Struktur zu beziehen, sondern genauso auf das methodisch zum Teil hochgradig sich selbst inspizierende Denken in Zufällen, welches für Deleuze zum Kriterium strukturalistischer Methode wird: „Bref, le manifeste même du structuralisme doit être cherché dans la formule célèbre, éminemment poétique et théâtrale : penser, c’est émettre un coup de dés.“98 Mallarmés Gedicht stellt eine literarische Formulierungshilfe für diesen umfassenden Moment der Theoriebildung dar. Ihr Gewicht erhält sie über die poetische Ausformulierung eines Bedeutungsspiels, das sowieso von literarischen Äußerungen koproduziert wird; sie lässt umgekehrt erkennen, wie wichtig auch für eine Theorie des Zufalls eine Theorie des Literarischen wird. Eine Darstellung zirkulärer Bedeutungsbewegungen, die als Merkmal von Sprache schlechthin zu kennzeichnen ist, lässt sich mit literarischer Sprache als Superlativ des eigenen Sprach(un-)bewussten im Besonderen erreichen. Das zirkulierende Bedeuten wird dabei mit der Befeuerung durch einen bei Peirce angelegt, wobei hier als Grund – neben den pragmatischen Vorteilen – noch der Zustand der Nicht-Begründbarkeit dieser Argumente ins Feld geführt werden könnte. Möglicherweise muss über die Binarität noch weiter nachgedacht werden: Freier Wille und Determinismus als Opposition müssen nicht unbedingt ersteren mit dem Zufall verbünden, nur weil dieser auch gegen den Determinismus aufbegehrt. Im Gegenteil: Was kann dem freien Willen gefährlicher werden als seine reine, unerklärliche Zufälligkeit? 96 Exemplarisch stehen diese und andere Begriffe bei Derrida als Namen „du fondement, du principe ou du centre“. Derrida, La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines, S. 411. 97 Mallarmé, Un coup de dés jamais n’abolira le hasard, S. 477. 98 Deleuze, A quoi reconnaît-on le structuralisme, S. 245. Zu Deleuze selbst als Theoretiker von Zufall und Kontingenz, vgl. Balke, Den Zufall denken, v.a. S. 48-56.
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Zufall in Mallarmés Manier erst rund. Dessen Coup beschreibt selbst, wie eine Zufälligkeit in der Bedeutung des Denkens (bzw. der Theorie) bedeutungs- und aussagefähig wird; im selben Moment, sagt er etwas über den Zufall aus. Derrida zeigt, wie eine Theorie dieses Musters nach einer sprachlichen Darstellung verlangt, die selbst das Schweigen des Zufalls in ihrer eigenen Bedeutung brechen und verwenden kann.99 In My Chances / Mes Chances (1984) inszeniert er sein Sprechen über ein Thema – in diesem Fall die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Literatur – als Adressierungsproblem. Das Erreichen eines Publikums, und damit jener charakteristische Zug, kontrollierbares Verständnis zu erzeugen, das die Form argumentierender, analysierender oder reflektierender Positionen annimmt, öffnet bereits das Dispositionsfeld des Zufalls. Es markiert den sprachlichen Akt als stetigen Kommentar, der selbst nur in Form einer Auslegung verständlich ist. Die Artistik der Sprache siedelt zwischen „random indetermination“ und ihrer „capacity for coding and overcoding“.100 Mit dieser Wendung wird die Dichotomie des Begründen-Müssens und der Porosität des Grundes schließlich verlassen und als Ringen des Verständnisses im sprachlichen Zeichensystem aufgedeckt. Diese Beobachtung ist umso wirksamer, als sie in der verschriftlichten Übersetzung eines Vortrags autoperformativ an ein unbekanntes Publikum gerichtet ist, in vielen Sätzen aus der zweiten Person heraus. Die überordnende Rede von „la chance“ und Determinismus wird als solche in Gestalt eines markant zufallslastigen Systems bereits exponiert. Mit dieser Geste erweist sich „la chance“ als Signatur der Mitteilung: „You understand very well why I am asking myself such questions as: to whom, in the final analysis, will this lecture have been destined? and, Can one speak here of destination or aim? What are my chances of reaching my addressees if, on the one hand, I calculate and prepare a place of encounter or if, on the other, I hope, as we say in French, to fall upon them by accident?“101
Derrida beschreibt eine Grundkondition der Äußerung, die immer auch Art und Weise des Äußerns ist. Dazu gehören die Beeinträchtigungen bei Eingang der Information, insofern ein wie auch immer definiertes Gelingen dem Zufall preisgegeben ist. Das Informieren über den Zufall operiert daher am offenen Herzen des Mitteilens und Informierens überhaupt. Derrida wirft ergänzend die Sinnlichkeit und das Figurative von „la chance“ auf, die als Fall vom Fallen agiert. Es begegnet uns im Zufall und fällt im coup de dés
99
Zu der spezifisch poststrukturalistischen Ausprägung dieses Gedankens, vgl. Wellbery, Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs, S. 161ff. und S. 167.
100 Derrida, My Chances / Mes Chances, S. 2. 101 Ebd.
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oder der chance auf.102 Die vertikale Abwärtsbewegung begleitet den Zufall, vom epikureischen Atomismus und seinem clinamen bis zum Werfen und Loslassen der sprachlichen Codes und Zeichen auf ein anonymes Gegenüber. Die Chancen der Erreichbarkeit dieses Gegenüber sind durch einen gestifteten, etwa institutionellen Kontext, graduell berechenbar oder einschätzbar, sind aber gleichsam dazu bestimmt, einen nicht-determinierbaren Sendungspluralismus zu produzieren, gar auf ihn angewiesen zu sein. Derrida nennt diese Operation „Destiner au hasard“: „,Destiner au hasard‘ could mean resolutely ‚to doom,‘ ‚abandon,‘ ‚yield,‘ or ‚deliver‘ to chance itself. But it can also mean to destine something unwittingly, in a haphazard manner or at random. In the first of these cases, one destines to chance without involving chance, whereas in the second, one does not destine to chance but chance intervenes and diverts the destination. The same can be said for the expression ‚to believe in chance‘: to believe in chance can just as well indicate that one believes in the existence of chance as that one does not, above all, believe in chance, since one looks for and finds a hidden meaning at all costs.“103
Der Zufall erfüllt hier zwei Katzenzustände, denenzufolge er einmal als Instrument und als Gegenstand von Destination bzw. Bestimmung gekennzeichnet ist, und die sodann das Unbestimmte als Resultat jeder Bestimmung anvisiert. Gerade in dieser janusköpfigen Gestalt scheint die analytische Eigenheit des Begriffs zu sein. Während Nietzsche von den „eisernen Hände[n] der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln“ sprach, die den Zufall als notwendigen Faktor denken, verweist die Antinomie des „believe in chance“ bei Derrida auf die Kontingenz der Kontingenz, die Möglichkeit und gleichzeitige Nicht-Notwendigkeit des Möglichen. Auch wenn Derrida in seinem Aufsatz bemerkenswerterweise weitestgehend auf die Begriffe Kontingenz und Kausalität verzichtet und „la chance“ dem „hasard“ vorzieht, um auch die Gelegenheit oder die Chance dieses Ansatzes zu unterstreichen und wahrzunehmen, ist seine Aussage über den sich selbst entschärfenden Glauben an den Zufall auf die Struktur der beiden anderen Konzepte übertragbar. Dass die Rede von Kontingenz etwa nicht nur eine Rede von der Möglichkeit der Möglichkeiten ist, sondern auch von deren Unmöglichkeit, erzeugt eine sich reproduzierende, unaufgelöste Bewegung der Destabilisierung. Derridas Text ist – ähnlich wie Nietzsche mit seinem „Vielleicht“ – nicht an einer Entwirrung dieser Bewegung interessiert, sondern an ihrer Observation anhand des eigenen Sprechens über sie. Es geht nicht um Determinismus und Indeterminismus, sondern um den freien Fall, die Deszendenz des Zufalls, die Fallgeschichte des Zufälligen.
102 Vgl. dazu auch Reith, The Age of Chance, S. 14. 103 Derrida, My Chances / Mes Chances, S. 4. Vgl. zu dieser Passage auch Thede, Psyche gegen Tyche, S. 109f.
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Dieses paradoxe Spiel zwischen Zufall und Bedeutung bzw. Destination liefert so kontrolliert wie unkontrollierbar einen wichtigen Hinweis mit der feststellenden Frage, wie der Zufall zufällt: „Did I choose this theme [la chance, S.T.] haphazardly or by chance? Or, what is more likely, perhaps it was imposed upon me in that chance offered itself for the choosing as if I had fallen upon it, thus leaving me with the illusion of a free will.“104
Nietzsche sprach von Zuständen des Zufalls, die sie eventuell den menschlichen Willensakten und Zwecken verwechselbar machen; für Peirce lag eine zufällige Regelmäßigkeit vor, die in der Formulierung von Naturgesetzen mündet. Diese arbiträr destabilierte Harmonie registrierte bereits eine Struktur des Zufalls, die nur potentiell gefasst werden kann, da sie maximal als Zufall des Zufälligen, als Möglichkeit artikulierbar ist, die sich aus der Notwendigkeit des Zufalls ergibt und allein von ihr zugestanden werden kann. Wenn Derrida von der Illusion eines freien Willens spricht, die retrospektiv in Fälle des Zufalls hineingedacht wird, denkt er die Notwendigkeit des Zufalls mit dem gleichzeitigen Zufall des Zufälligen konsequent weiter, denn das eine setzt das andere voraus und zieht es im selben Zug hinter sich her: Der Fall des Zufalls kann beides in einem sein, sowohl ein Erzeugnis seiner selbst als auch eine im Nachhinein vorgenommene „Deswegen-Beziehung“, etwa als illusionärer Willensakt, die als solcher keine Zusammenhangsbeziehung ist, sondern lediglich eine Anästhesie des Unzusammenhängenden erwirken soll. Ein interesseloses Konzept wird vereinbar mit seiner nicht bewussten Bestimmung und Eingliederung in eine nur gemachte, niemals natürliche oder alternativlose Ordnung. Auch wenn es in Derridas Text um mehr geht als das Thema vom Thema, nämlich gleichsam um die Interpretation des Interpretierens, liefert der metatopische Ansatz ein Angebot, inwiefern sich überhaupt mit dem Zufall beschäftigt werden kann, und ob eine analytische Beschäftigung, egal welche, das schweigend Zufällige unausgesprochen lassen darf. Dieser Ansatz betrifft auch die hiesigen Überlegungen und Konzepte, denn die von Derrida geschilderte Problematik resultiert aus dem verfänglichen „destiner au hasard“, das sowohl Schickung eines Zufalls bzw. die Anheimgabe des Schicksals an den Zufall meinen kann, als auch eine zufällige, arbiträre, kontingente Bestimmung von etwas. Sobald aber eine dieser Möglichkeiten nicht nur ausgesprochen, sondern auch auserzählt wird, offenbart sie die immanente Differenz, die der Zufall produziert: Dass nämlich die Schickung eines Zufalls selbst nicht zufällig ist und die zufällige Bestimmung einer Bedeutung nicht bedeutet. Die Schickung des Zufalls bedeutet auch immer, ihm Bedeutung aufzuzwingen – ein Akt, der wiederum besondere Bedeutung in Zeiten der Erfahrung äußerer Zufälligkeit erhält, und die Lovell gerade mit den Zufällen des Glücksspiels auszutreiben versucht. Der 104 Ebd., S. 1.
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Zufälligkeitssinn verlangt auch immer nach einer Sinnbestimmung, die besonders irritierend wird, sobald sich die Auswahl verfügbarer Bedeutungen ins Unüberschaubare erhöht. Der Rahmen, in dem diese Flut der Möglichkeiten losstürmt, kann als Moderne bezeichnet werden, wie im Folgenden ausgeführt wird. Es handelt sich dabei um eine Vokabel, die selbst einen Eindruck von überfordernder Polysemie liefert. Einerseits stiftete die Moderne im Sinne der Neuzeit und der aufgeklärten und gesicherten Wissenschaftsära das Panorama für die Festigung des Begründens, während ihre Tendenzen zur Heterogenisierung und Selbstbefragung dessen Erosionsprozesse ebenso begleiteten. In dieser Konstellation findet sich nicht allein die Frage nach der Moderne als Hintergrund eines Diskurses – z.B. der Kontingenz – sondern als Produkt und Produzentin diskursivierbarer Phänomene, etwa kontingenter Entwicklungen. Denn so wie die Begründung sich selbst im Akt des Begründens per Exposition von Notwendigkeiten legitimieren konnte, funktioniert das Spiel der Möglichkeiten: Man kann sie nicht begründen, ohne dem Akt des Gründens und Begründens als kontingent, als einer puren Möglichkeit zu widersprechen. Die Harmonie des Begründens wird von der Kontingenz zur Dissonanz der Möglichkeiten umkomponiert. Kontingenz verweist damit auf ihre eigene Möglichkeit und Nicht-Notwendigkeit. Es ist in philosophischer Hinsicht nicht notwendig, aber gewiss möglich (und für Peirce wahrscheinlich nützlich), vom Zufall als Mitspieler in den Regularitäten der Welt auszugehen. Die Frage nach Grund und Zufall ist keine Frage des Katechismus mehr und der (mithin arbiträren) Entscheidung, sondern der Betrachtung derjenigen Dispositionen, die sie selbst begrifflich erzeugen. Mit dieser Überlegung im Dossier – der Registrierung der Fallgeschichte des Zufalls – erhebt sich die verweste Gestalt vom Grundriss, einer zombifizierten Form des Grundes, die nicht mehr souverän gründen und doch nicht beerdigt werden kann. Sie bildet den Ausgangspunkt im Versuch des Redens über den Zufall, über die Kontingenz und über Akausalität. Ihre wirren Finger kommen beim Mischen des Kartendecks der Moderne zum Vorschein.
2. Arbitrarität der Moderne
M ODERNE P OLYVALENZEN Jeweils beschleunigende und beschleunigte Ereignisse in der Neuzeit stellen mit dem daran gekoppelten Periodisierungsdrang eine Begebenheit für sich dar, auch in Gestalt eines gewissen Dissenses, der über sie besteht. Fraglos liegt Einigkeit darüber vor, einzelne oder mehrere dieser Ereignisse bzw. vielmehr der durch sie in Gang gesetzten Perioden mit einem seinerseits wiederum fragwürdigen Ausdruck in Schein- und Zweck-, jedenfalls selten in Liebesehen zu drängen. Dieser Ausdruck heißt Moderne. Klassische Moderne, programmatische Moderne, reflektierte Moderne, emphatische Moderne, historische Moderne:1 Das literaturwissenschaftliche Interesse an der Moderne bezeugt mit der Inflation typologischer Kennzeichnungsvorschläge eine Annäherung an ihr Objekt über ihre Vieldeutigkeit. Sei diese auch auf verschiedenen Ebenen durchgeführt, wenn etwa mit der programmatischen Moderne eine Form der
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Zur klassischen Moderne informiert mit germanistischem Akzent der Band gleichen Namens, herausgegeben von Ponzi. Die in den Literaturwissenschaften deutlich rezipierten Ansätze einer soziologischen Untersuchung des Begriffs fasst Brock in einem ebenfalls Die klassische Moderne betitelten Buch zusammen. Ganze Moderne-Cluster, darunter „programmatisch“ und „reflektiert“, sind u.a. aufgearbeitet in: Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 99-176 und S. 299-436. Die Rede von einer emphatischen Moderne wird als Vorschlag in der ihrerseits terminologisch sensitiven Expressionismusdebatte vorgebracht von: Baßler, Die Entdeckung der Textur. Datierungs- und Begriffskrisen nebst einschlägigen Lösungsansätzen referiert unter der Sprachregelung einer historischen (vs. klassischen) Moderne: Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890-1933. Da diese Texte einen starken Akzent hinsichtlich deutschsprachiger Literatur setzen, sei ergänzend noch auf die dreibändige Reihe verwiesen: Piechotta/Rothemann/Wuthenow (Hrsg.), Die literarische Moderne in Europa.
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Reflexion, mit der reflektierten Moderne wiederum der ihr eigene Modus permanenter Selbstinspektion angesprochen wird: Hinsichtlich greifbarer Einzeldiskurse und Partikularphänomene fächert sich tendenziell ein additives und zugleich fragmentiertes Panorama der Moderne auf, das jedoch auch in geballter Summe dazu neigt, deren Ambivalenz zu verschleiern. Eine aus dem Begriff gewonnene und abermals an ihn herangetragene Subjektivität2 gliedert die Begutachtung in verschiedene Interessensfelder. Trotz oder gerade aufgrund dieser Herangehensweise schreitet die Anamnese stetig voran. Insbesondere etymologische Verweise und interdisziplinäre Differenzierungen prägen das Erkenntnisspektrum und festigen zugleich eine Kontinuität der Methoden. Symptomatisch und bilanzierend wirkt der Versuch, schließlich auch von einer „gefühlten Moderne“ zu sprechen, mit der das Wort an die semi-phänomenologische Zuständigkeit des privaten Ermessens delegiert, und die Rekonstruktion seiner historischen Bedeutungsvielfalt durch die Frage ersetzt ist, „was als Moderne empfunden wird und worin ihr Verunsicherungspotential besteht“3. Eine Suche nach klar begrenzbaren Einheiten verschwindet dadurch aber nur hinsichtlich der Begriffskonstitution, wohingegen die Bedeutung hinter den Vielheiten der zeitgenössischen Moderneempfindungen und -interpretationen mit ungebrochener Verve archivarisch aufbereitet wird. Diese Ausprägungen kommentieren eine von Vieldeutigkeiten durchdrungene Moderne, die also im Versuch der theoretischen Annäherung im selben Maße Ambivalenz erzeugt wie reduziert. Dieser Befund soll allerdings nicht die Sensibilität dafür drosseln, dass sie als Funktionsbegriff von Ambivalenz thematisiert werden kann. Wenn sie weniger die Frage nach einer eigentlichen Bedeutung als diejenige nach der Bedeutung ihrer Heterogenität motiviert – sei diese im Gefühl, in den Programmen oder den Reflexionen verborgen –, öffnet sich eine Ebene, die sie als Signifikanten vom Prozess dieses großen Deutungsprojektes in Gestalt nichteindeutiger Deutungen betrachten lässt.4 In der Moderne, so sehr auch eine Idee rationalistischer Prägung in
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Der verbreitete Topos von der Moderne als Ära verschärfter Subjektivität bis hin zur IchDissoziation spaltet und subjektiviert wiederum den Begriff selbst. Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 27f. Zur literarischen Verarbeitung, vgl. u.a. Bürger, Prosa der Moderne, S. 63-79 und S. 143-156.
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Bollenbeck, ,Gefühlte Moderne‘ und negativer Resonanzboden, S. 42. Sowohl Niklas Luhmann als auch – u.a. in Reaktion auf Luhmann – ein Tagungsband von Sabina Becker und Helmuth Kiesel registrieren und verarbeiten das Polyvalenzproblem der „semantischen Ebene“ und Merkmalsbeschreibung. Fragwürdig bleibt Luhmanns Pragmatismus der Kontingenz gegenüber, nach dem „der Vereinfachung halber“ unterstellt wird, „daß Notwendigkeit und Unmöglichkeit eindeutige Begriffe sind“, wodurch die ganz richtig erkannte Möglichkeit, „die modaltheoretischen Begriffe selbst kontingentsetzen“ zu können vom Tableau verschwindet. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, S. 12 und S.
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ihr herrscht, ist im selben Maße die Möglichkeit von Nichteindeutigkeit verzeichnet. Sie ist kaum die Geschichte dieser Verzeichnung, vielmehr ihre Chiffre, die nicht allein in solcher Chiffrierung nichteindeutig und also umstritten ist, sondern deren Deutung selbst eine Nicht-Deutbarkeit bleiben muss.5 Zur reinen Darlegung der topologischen Emergenzen dieser Nicht-Deutung dient bereits ein konsensfähiger Vorrat an Aspekten des Modernen, der sich spätestens seit den 1970er-Jahren verdichtet hat. Eingängig finden sich die kritischen Punkte bereits in Hans Robert Jauß’ Literaturgeschichte als Provokation (1967/1970) versammelt. Die detaillierte Aufarbeitung der wendungsreichen Vokabelgeschichte, vom spätantiken modernus bis zur modernité Baudelaires und dessen programmatischer Rubrizierung Constantin Guys’ als Peintre de la vie moderne (1863), verbindet ein Auftreten des Modernen im Sinne eines epochalen Umbruchsperiskops mit entsprechenden ästhetischen Konsequenzen während des 19. Jahrhunderts.6 Jauß zeigt sich dabei vor allem von Baudelaires Diktum des Flüchtigen und Kontingenten als der einen Seite, sowie des Ewigen und Unabänderlichen als der anderen Seite des Modernen eingenommen, welches das Primat ästhetischer Aktualität mit der Eingliederungstendenz des Kunstwerkes in historische Zeitlichkeit dialektisch versöhnt.7 Bis ins späte 18. 96. Becker und Kiesel formulieren in ihrem Ansatz die Ambivalenz der Moderne einschlägig, bleiben letztlich aber nominalistisch. Vgl. Becker/Kiesel, Literarische Moderne, S. 1215. Zudem sei auf die groß angelegte Zusammentragung von „Elementen der Epoche“ Moderne durch Uwe Japp hingewiesen, die in ihrer fragmentarischen und assoziativen Paragrafengestalt modernistische Methode anwendet und doch ein Refugium jenes polyvalenten Konsenses insbesondere der 1980er-Jahre erstellt. Vgl. Japp, Literatur und Modernität, S. 294-349. 5
Positionen einer solchen Meta-Reflexion haben den Ruf nach einer Postmoderne motiviert, welche von ihrer privilegierten Position heraus das Zeitalter der Vernunft und genuine Modernisierungsprozesse hinter sich gelassen und darin eventuell die Geschichte der Moderne zu schreiben möglich gemacht hätte. Vgl. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, S. 7 und Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 9ff. In diese Reihe wird sich hier nicht gestellt, da der Hinweis auf die Deutungspolarität als Nicht-Deutung weniger historisch-epochaler Natur denn als parabolisches Muster aus Kontingenz stark gemacht werden soll. Ein periodisch abhängiger Rubrizierungsversuch läuft schon Gefahr, Entwicklungen in Zeit und Raum mit festgesetzten Kategorien gleichzustellen.
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Vgl. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, S. 15-57. Vgl. ebd., S. 55ff. Vgl. auch Baudelaire, Le peintre de la vie moderne (1863), S. 695: „La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’eternel et l’immuable.“ Erwähnenswert ist, dass die Register des Vergänglichen, Flüchtigen und Kontingenten nicht allein Zuschreibungen sind, die in der modernen Kunst realisiert werden, sondern die in dieser syntaktischen Anordnung genauso als Realisatoren der Moderne verstanden werden können.
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Jahrhundert hat eine Komplexitätssteigerung des Begriffs stets am geschichtlichen Selbstverständnis und der Souveränität einer jeweiligen Gegenwart gegenüber der gigantomanischen Vergleichsgröße Antike gearbeitet – die Querelle des Anciens et des Modernes ist dafür das prominenteste Beispiel. Diese Arbeit beginnt im 19. Jahrhundert zu enden. Eine derart einschneidende geschichtsphilosophische Komponente der Entdeckung des Neuen betrifft allerdings nicht nur die Kunst, sondern findet in einer sich gegenseitig bedingenden Binarität des Modernen statt: Es wird die Reihe umfassender soziokultureller Prozesse von deren kritischer Begleitung gesondert. Die jeweiligen Entwicklungsstadien eines neuen Geschichtsbewusstseins, ihre auslösenden und konsequentiellen Akte, sind von den ästhetischen, philosophischen und kulturellen Reflexionen zu unterscheiden. Je nach Ansatz, historisch oder systematisch, werden Makro- und Mikroperiode bzw. Makro- und Mikroepoche, gesellschaftliche Progression und stilistischer Neuerungsdrang, „modernisme“ und „modernité“ oder zivilisatorisch-rationalistische und ästhetische-literarische Moderne als Untersuchungspaare angeboten.8 Dieses große Narrativ der Moderne baut einen Begriff auf, der sich von einer emanzipatorischen Verhältnisformel der Vergangenheit gegenüber zu einem emphatischen Schlagwort für das Gegenwärtige entwickelt, um schließlich eine gestörte, mitunter pathologische Blickrichtung auf die Zukunft zu beschreiben, und dabei gelegentlich in Mischtypen aus diesen drei Aspekten zu bestehen. Der Drang zur Konkretion, demzufolge diejenigen sozialen, politischen und kulturellen Transformationsschübe identifiziert werden, an denen exakte Paradigmenwechsel stattgefunden haben sollen, erzeugt auf dem definitorisch vitalen Zeitstrang eine disziplinäre und nationalphilologisch höchst eigene Datierungskonkurrenz.9 Helmuth Kiesel 8
Diese Unterscheidungen haben sich lexikalisch, in Lehrbüchern, Gesamtdarstellungen und überblicksartigen Sammelbänden kanonisch etabliert. Vgl. u.a. Blamberger, Art. „Moderne“, S. 620, Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890-1933, S. 2ff und Vietta, Die literarische Moderne, S. 21. Henri Lefebvres Unterscheidung von Prozess und Reflexion in „modernisme“ und „modernité“ akzentuiert außerdem eine Differenzierung anhand gewachsener Modifikationen des Wortes. Vgl. Lefebvre, Introduction à la modernité, S. 9ff. Vgl. auch Jauß’ „Endpunkt“ der ihm „gegenwärtigen Moderne“ mit der „Neuprägung la modernité“, die sich nach 1848 vollzogen hat und durch Baudelaire gefestigt wurde. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, S. 55.
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Kiesel und Becker koppeln ihre Sicht auf die Moderne, nach der jene Binarität der „zwei Modernen“ auf makroskopischer/zivilisatorischer/historischer Ebene und mikroskopischer/ästhetischer/kultureller Ebene stattfindet, an einen prominenten Moment der individuellen Durchsetzung des literarisch relevanten Begriffs: „Die Moderne hat mit Baudelaire begonnen als Symbiose verschiedener Moderne-Konzepte und sie endet auch – zumindest bezogen auf die Zeit bis 1933 – in Form einer solchen Zusammenführung, die sodann den Zweifel an ihr, aber auch die Begeisterung für eine Zivilisation und Kultur der Moderne
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weist dahingehend in Anschluss an Uwe Japp (und Hans Ulrich Gumbrecht) auf die vermeintliche Premiere eines semantisch viablen, und also modernen Vorkommens des Ausdrucks bei Friedrich Schlegel hin, welches charakteristischerweise auf wackeligem Boden stattfand, da die genaue Flexion des Wortes nicht rekonstruierbar sei.10 Dass gerade dieser vermeintlich kritische Punkt einer Moderneidentifikation seinerseits aufgrund einer grammatischen Zwiespältigkeit einschlägige Argumente in der Debatte produzieren kann, suggeriert einen prototypischen Moment modernen Denkens in horizontaler Offenheit. Zugleich zeigt diese Anekdote, inwiefern die umfassende Suche nach präzisen Zäsuren, die stets mit plausiblen Gründen operiert und damit der Differenzierungstendenz der Moderne auch Rechnung trägt, immer wieder in einem Modus der Ambivalenz mündet, mit der nicht nur eine Viel-, sondern auch eine Nicht-Deutung markiert wird.
AMBIVALENZ -P LAYER (B AUMAN ) Eine verschärfte Erzeugung von Ambivalenz aufgrund der Manipulationsversuche von Ambivalenz wurde schließlich zum Stichwort von Zygmunt Baumans Moder-
erlaubt.“ Becker/Kiesel, Literarische Moderne, S. 10 und 31. Kürzlich wurde zudem gezeigt, inwiefern der gesamte Diskurs nunmehr auch eine komparatistisch interessierte Sinologie inspiriert, die den Begriff auf chinesische Literaturgeschichte zunächst in einer Rezeption der Nicht-Singularität von „modernity“ und „modernism“ anwendet. Aus globaler, weltliterarischer Perspektive werden ihm anschließend noch Multiplikationen und ein stattlicher Forschungshorizont hinzugefügt. Vgl. Wang, Multiplied Modernities and Modernisms? 10 Vgl. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 14. Gumbrecht zufolge kann die Querelle noch nicht als neue Zeiterfahrung, wohl aber als Anstoß eines neuen Verhältnisses zur Vergangenheit und Tradition gelten. Die Eigenwertigkeit der antiken und modernen Epoche sei indes während der Romantik (mit Verweis auf Schiller und Schlegel) erkannt. Vgl. Gumbrecht, Art. „Modern, Modernität, Moderne“, S. 99-102 und S. 106. Japp pocht auf Friedrich Schlegels Verständnis der „Merkmale der Epoche [...] als Zeichen einer unendlichen Progression“, wodurch die „Idee ihrer Vermittlung [antiker und moderner Literatur, S.T.]“ zu transzendieren wäre. Japp, Literatur und Modernität, S. 187. In der Tat ist der Einschnitt romantischer Ästhetik nebst ihrer Hervorhebung des Mittelalters gewaltig. Ihre Nutznießung für eine Moderne-Theorie findet sich jedoch, wie die genannten Autoren gezeigt haben, ebenso in der umfassenden Bewegung der Transzendentalpoesie, deren unendliche Referentialität bereits auf die Ambivalenz der Moderne verweist. Der Status des Vorkommens von „modern“ bei Schlegel bleibt indes strittig. Vgl. auch Žmegač, Moderne/Modernität, S. 252f.
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netheorie. Ambivalenz setzt hier als Scheitelpunkt für eine Dialektik der Entzauberung der Welt ein, in der das Projekt der Aufklärung auch immer die von ihr aussortierten Elemente zurückholt.11 Baumans soziologischer Ansatz setzt zwar auf „modernity“ und nicht „modernism“, ist dadurch aber nicht auf einen reinen Epochenbegriff und historiografisches Instrumentarium beschränkt. Vielmehr nähert er sich seinem Thema über die Kondensate einer abstrakten Aufgabenstellung der Moderne, die als Modus der Bewältigung von Aufgaben gedacht wird. Sie hat sich sodann als konkretes Ziel eine Reduzierung von Deutungsoffenheit gesetzt. Doch nicht nur die Lösung dieser Aufgabe ist Teil der Moderne, sondern im Vorhinein bereits die Schaffung des Problems. Die epistemologische Installation von „order as a task“12, die auf der neuzeitlichen Innovation von Verhandelbarkeit des Prinzips Ordnung beruht – im Sinne von Eindeutigkeit hinsichtlich sprachlicher, sozialer oder politischer Klassifikation –, evozierte erst Ambivalenz als sich ständig reproduzierendes Feindbild. Im Antlitz einer solchen Feindschaft hat die Moderne ihrerseits die eigenen Techniken im Zuge des Projektes der Ambivalenzreduktion exponentiell provoziert: „Order is what is not chaos; chaos is what is not orderly. Order and chaos are modern twins. They had been conceived amidst the disruption and collapse of the divinely ordained world, which knew of neither necessity nor accident [...].“13
Erst eine säkularisierte Moderne sei permanent mit der Reduktion des Nichteindeutigen beschäftigt, und in der darin akzeptierten Eindeutigkeit des Ambivalenten weniger mit einem erreichbaren Ziel als mit einer infinitesimalen Auseinandersetzung ausgestattetet. Die Komplementarität des Nebeneinanders von moderner Ordnung und modernem Chaos bestätigt das gebotene Denken einer dialektischen Differenz, welche die Moderne mit Fleiß (re)produziert. Fast zeitgleich sprach Ian Hacking über eine ähnlich antagonistische Rolle, die „chance“ seit seiner Entdeckung gespielt hat: 11 Diese dialektische Funktion der Aufklärung wurde in Soziologie und Philosophie nicht nur von Max Weber inspiriert, sondern in der Kritischen Theorie reichhaltig bearbeitet, was von Bauman schließlich auch bemerkt wird: Vgl. Bauman, Modernity and Ambivalence, S. 17. Vgl. auch Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 87 und Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 22 und S. 42. 12 Bauman, Modernity and Ambivalence, S. 4. 13 Ebd. Vgl. auch Nassehi, Optionssteigerung und Risikokultur, S. 89ff. Nassehi deutet die Ausdifferenzierung in der Moderne als Signatur ihrer Kontingenz und Ambivalenz, die aus ihrer Dichotomie zu einer „Kultur der Eindeutigkeit“ heraus eine „stärkere Konzentration auf die Risiken der Moderne“ erzeugen. Nassehis ebenso pessimistische wie überzeugende These lässt den Zufall als „player“ der Zukunft – verstanden als Option der Gegenwart – ethisch lesbar werden, auch in Gestalt eines verhängnisvollen Phantasmas seiner Beherrschbarkeit. Ebd., S. 96.
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„I write of the taming of chance, that is, of the way in which apparently chance or irregular events have been brought under the control of natural or social law.“14 Hacking gewinnt daraus den Gedanken der Modifizierbarkeit von Natur in einer Hinsicht, die für Baumans Argumentation kaum überschätzt werden kann: „Thus began eugenics.“15 Die Erfassung dieser Prozesse setzt Bauman schließlich bei Derrida an, mit Verweis auf ihre Einbindung in den Diskurs von Taking Chances – jenem Band, den My Chances / Mes Chances eröffnet hat: „The bias Derrida is up in arms against is the abhorrence of chance; the horror of the contingent which had started off and motivated the long march toward perfect and immutable order, toward the high-handed rule of necessity and the cognitive transparency of the world within reach [...], all of which have reached their culmination point in the designing/ordering/gardening ambitions of modernity. Derrida restores the indeterminate to its rightful status of the ground of all being; or, rather, he exposes the sham of long attempts to chase it away from its position or belie its presence. Any effort to determine results in more indeterminacy; all attempt to code, to overcode, to fix must simultaneously increase the sum total (if one can speak here of sums) of randomness and indetermination.“16
Eine solche Lektüre Derridas nimmt den Akt des Begründens als Technik der Vereindeutigung wahr. Ambivalenz fungiert neben Chaos oder Kontingenz und vielen anderen nicht allein als eine der „tropes of the ‚other of order‘“17, sondern äußert sich gleichsam zu den Widersprüchen des Begründens, den Grundrissen, welche einen soziologisch-philosophischen Strang der Kontingenz beleuchten. Problematisch bleibt in jedem Fall Baumans Tendenz, „randomness and indetermination“ als quantifizierbare Einheiten zu gebrauchen, (was er in seinem Einschub in Klammern auch bemerkt). Die Erzeugung von Indetermination geschieht durch Determination und zwar in überproportionalem Verhältnis: Für Bauman wird dieses Zuordnungsverhältnis gewichtig, da ansonsten die Akkumulation dieser Logik in der Katastrophe nicht als Ergebnis einer Steigerung beschrieben werden kann. Andererseits sind Kontingenz und Indetermination in ihrer umfassenden Infektionsqualität, die Derrida zur Aufführung gebracht hat, aus dessen Darlegungen heraus kaum mit graduellen Unterschieden ihrer Ansammlungsstärke zu belegen. Das Volumen der Kontingenz 14 Hacking, The Taming of Chance, S. 10. 15 Ebd, S. 120. Baumans Zuspitzung der Bezwingungsprojekte in der Moderne münden im Anschluss an die Eugenik im Höhepunkt des Genozids. Vgl. Bauman, Modernity and Ambivalence, S. 41ff. 16 Ebd., S. 189. 17 Ebd., S. 7.
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wiegt überall gleich schwer, wohingegen die Ideen zu ihrer Fixierung unterschiedliche soziale Auswirkungen zeitigen können. An dieser Stelle muss betont werden, dass der ansteckende Effekt18 von Kontingenz aus sich heraus bereits bewirkt, den Begriff ständig selbst zu überfallen: Dass sich Kontingenz die Frage nach der eigenen Kontingenz anhören muss, stabilisiert und destabilisiert das Konzept zugleich und hilft auf diese Weise, vom Gebot des Begründens zu abstrahieren, das durch Kontingenz nicht substituiert, sondern nur neu gelesen werden kann. Bauman bezeugt diese Qualität mit seinem verschwägerten, aber in dieser Hinsicht äquivalenten Konzept der Ambivalenz, indem es als dominantes Feld der Moderne und des Moderneproblems gekennzeichnet wird, das auszusondern nur immer einen gegenteiligen Effekt hat. Die Hypothese vom modernen Kampf gegen Ambivalenz lässt alle klassischen Verfahren der Definition des Begriffs Moderne wie einen Beitrag zu jener Ambivalenzreduktion erscheinen. Bauman selbst wappnet sich gegen die Falle, die mit der Datierungskonkurrenz lauert, indem er diese gleich zu Beginn seiner Untersuchungen radikal anerkennt: „How old is modernity? is a contentious question. There is no agreement on dating. There is no consensus on what is to be dated. And once the effort of dating starts in earnest, the object itself begins to disappear. [...] The defining feature of modernity underlying these essays is part of the contention.“19
„Making one’s own dating choice seems to be unavoidable“, schreibt Bauman in einer Fußnote zu dieser Passage und schlägt sogleich, erstaunlicherweise, eine mögliche Zäsur vor. Als Übergang zu „modernity“ wird die Reflexion auf „order – of the world, of the human habitat, of the human self, and of the connection between all
18 Damit ist nicht allein der Modus umfangreicher und totaler Kontingenzerfahrung gemeint, die gegebenenfalls als Charakteristikum bestimmter historischer Wandlungen und Schwellen, vorzugsweise mit Blick auf die Moderne, zirkuliert, wie sie von Elena Esposito etwa unter dem Stichwort der „Epidemie der Kontingenz“ im Barock betrachtet wird. Vgl. Esposito, Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden, S. 57 und S. 65. Vielmehr soll auf die Infektionsqualität des Phänomens Kontingenz hingewiesen sein, das sich in der Akkumulation von Kontingenzerfahrungen äußert und darin einschlägige, etwa kränkende, schwächende oder blockierende Wirkungen auf ihre Rezipientinnen und Rezipienten ausübt. Diese Wirkung besteht sowohl in der potentiellen Multiplikation von Kontingenz(-erfahrung) als auch in der Verunsicherung angesichts des paradoxen Zwitterzustandes von Kontingenz zwischen Notwendigkeit und Kontingenz. Die Kontingenz gehört somit selbst zu ihren eigenen Delinquenten. 19 Bauman, Modernity and Ambivalence, S.3f.
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three“20 festgesetzt, anschließend mit Thomas Hobbes auf einen Akteur fremdabonniert – Bauman zieht Stephen L. Collins zu Rate, ohne Hobbes selbst zu zitieren – und letztlich kokett als substantiell unbedeutend stehen gelassen. Von hier aus erübrigt sich die nominelle Festlegung des Begriffs auf ein Singuläres. Bauman demonstriert eine Arbitrarität des Moderne-Begriffs,21 indem er eine willkürliche Konzeption anbietet, dabei aber weniger das Ereignis „Thomas Hobbes“ zur Geltung bringt, sondern den Effekt der beliebigen Begründung seiner Auswahl glänzen lässt. Unter diesen Vorzeichen wird auf der Höhe des entgleitenden Begriffs operiert, auf der auch ein Konjunkturfaktor des Zufälligen in der Moderne markant ist, so wie die Arbitrarität ihrer Begriffsbildungs- und Begriffsbestimmungsbemühungen sichtbar werden: „Epochenabgrenzungen haben immer etwas Willkürliches“22, verkündet Vietta. Gesetzt, dass ein Verfahren wie das der Epochenabgrenzung nach unseren heutigen Maßstäben erst innerhalb der Moderne möglich wird – in Viettas willkürlicher Bestimmung die Zeit um 180023 –, dann wäre die Moderne hier nicht nur das Produkt der Willkür einer Epochenabgrenzung, sondern sie hätte diese Willkür überhaupt erst ermöglicht. Die Formation aus Arbitrarität, Ambivalenz und Kontingenz des Modernen, die darin eine Typologie der Akausalität auffächert, findet mit dem Spieler eine ihrer Figurationen. Bauman platziert diese Figur („player“) in einem anderen Text, allerdings nicht als Gestalt einer zielgerichteten, von zentralen politischen Gewalten konzertierten 20 Ebd., S. 5. 21 Es liegt hier eventuell eine Verbindung von Moderne und Arbitrarität des Zeichens vor. Albrecht Koschorke hat anhand der Wissensbestände um 1800 einen Wechsel vom Abbildzum „arbiträre[n] oder Zeichenmodell“ dargelegt. Koschorke, Wissenschaften des Arbiträren, S. 26. Die Korrosionen einer transzendentalen Epistemologie feuerten auf die Objektivität in der Betrachtung von u.a. Kommunikationsakten zurück und färbten diese – Derridas My Chances / Mes Chances hatte es schon gezeigt – mit dem Risiko der Indetermination, (das etwa mit den Kräften der Hermeneutik zu bekämpfen war), aber genauso mit der Chance von Komplexität. Auch in diesem innovationsgeschichtlichen Sinne einer verhängnisvollen Entdeckung von Arbitrarität als Muster des Ausdrucks ist die Moderne als deren Mediator zu verstehen. Vgl. auch ebd., S. 36. 22 Vietta, Eine kopernikanische Wende der Ästhetik?, S. 259. 23 Die metaepochale Konfiguration um 1800 behandelt Hans Blumenberg bezeichnenderweise als Wende vom Kriterium des Zeitpunkts zum Kriterium der durch den Epochenbegriff „getrennten Zeiträume“ und darin als Abkehr von „den Daten der Wendepunkte“. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 532. [Hervorh. S.T.] Vieles spricht dafür, dieses moderne Epochenbewusstsein zum Kriterium eines modernen Bewusstseins überhaupt zu ernennen und sich mit den mannigfaltigen Konsequenzen einer solchen Überlegung zu arrangieren. Zum neuen Wissen von der Epoche in diesem Zeitraum, vgl. auch Vogl, Einleitung, S. 7ff.
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Moderne („modernity“), sondern als Metapher der intensiviert fragmentarischen Postmoderne („postmodernity“). In dieser haben sich die Instrumente zum Angriff auf die Ambivalenz, die Verhandelbarkeit von Moral und die Abschirmung von der „responsibility for the responsibility“24, mit Hilfe derer überhaupt erst an ethischen Codierungen gearbeitet werden kann, verändert. Ließ sich die moderne Anfechtung des Ambivalenten und damit die Suche nach Ordnung noch als teleologisches Projekt über den Pilger („pilgrim“) figurieren, treten jetzt Gestalten des Augenblickhaften und der Unverbindlichkeit, der Deregulation und Entzentralisierung auf den Plan: „If the saving book was the epitome of modern life, the credit card is the paradigm of the postmodern one.“25 Bauman personifiziert solche Entwürfe eines Life in fragments als Flaneure, Touristen, Vagabunden und Spieler. Der Text analysiert die Figur des „players“ unter dem Credo der von Bauman diagnostizierten postmodernen Fragmentierung des Lebens. Dieses zeichnet sich durch eine Abkapselung von Verbindlichkeiten sowie durch eine Portionierung von Entscheidungsfindung zur Konstituierung des eigenen Lebens aus. Alltag und Identität dissoziieren im Säurebad der Mikroprozesse, die sich im nur kurzfristigen Einkreisen eines verantwortungsbewussten Begriffs vom guten Leben äußern. Im Sinne eines fundamentalen Flexibilisierungsdrangs bleibt dieser Begriff instabil, wird stets aufs Neue kreiert und sofort wieder suspendiert: „Postmodern life strategies, like the idea of the quality of life, are guided by the heuristic principles of ‚keeping the options open‘, avoidance of commitment and, more generally, being wary of ‚mortgaging the future‘.“26 Die permanente Prokrastination27 von Fixierungen und Manifestierungen ruft eigentlich klassisch moderne Metaphern und Allegorien auf den Plan, mit Hilfe derer die Kontinuitäten zum Ambivalenz-Problem gewahrt, aber die Verschärfung des Nicht-Festgelegten als Resultat der expandierenden Auswahl- und damit Handlungsmöglichkeiten in „postmodernity“ gelesen werden können. Die teleologisch funktionierende, wenn auch vergeblich agierende Figur des Pilgers, die noch einzeln für eine moderne Lebensform einzustehen hatte, wird gleich durch mehrere, ihrerseits in ihrem Verhältnis zueinander ambivalente und per systematischer Willkür auch selbst diffuser Typen substituiert: „I propose that in the same way as the pilgrim was the most fitting allegory of modern life strategy preoccupied with the daunting task of identity-building – the stroller, the vagabond, the tourist and the player offer jointly the metaphor for the postmodern strategy moved by the horror of being bound and fixed.“28 24 Bauman, Life in Fragments, S. 4. 25 Ebd., S. 5. 26 Ebd., S. 79f. 27 Vgl. hierzu auch Bauman, Liquid Modernity, S. 155-160. 28 Bauman, Life in Fragments, S. 91.
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Insbesondere die Übertragung dieser Figuren in den Mainstream soll sich als genuin postmoderne Modifikation der genannten Charaktere im Vergleich zu ihrer modernen, zuweilen auch vormodernen Herkunft erweisen. Der „player“ nimmt eine bevorzugte Position ein. Seine Sphäre des Spiels ist weder als radikal freie noch als intentional kontrollierbare fassbar, da sie sich jenseits der Zuständigkeitsbereiche von Freiheit und Determinismus befindet. Im Spiel ist „nothing fully predictable and controllable, but nothing is totally immutable and irrevocable either“29. Das Aufeinandertreffen von Spieler und Welt, die in dieser Konstellation selbst als Spieler akzentuiert wird, kennt „neither laws nor lawlessness, neither order nor chaos“30. Dieser jenseitige Status verweist auf die semantische Selbstgenügsamkeit des Spiels („each [game, S.T.] is a separate ‚province of meaning‘“31), sowie auf seine Wiederholbarkeit, die Anfang und Ende des Spiels als abschließende, konsequenzfreie Grenzen bestimmt. Dabei scheint die Bereitschaft zur Akzeptanz dieser Grenzen einem solchen Konzept als „postmodern life-style“ implizit: Wer dem Spiel einen außer ihm liegenden Sinn zuschreibt, verlässt damit das fragmentierende, als postmodern deklarierte Territorium. Das Spiel sammelt die Eigenschaften der „Broken Middle“, jener von Bauman bei Gillian Rose aufgegriffenen Kernbeschreibung des postmodernen Lebens als diffuser Übertragung zwischen Potenzialität (Anfang) und Aktualität (Ende), das beide Türen ununterscheidbar werden lässt.32 Die Fragmentarität als Disposition des „Mainstreams“ mag auf Baumans Interesse an seiner Jetztzeit beruhen, den frühen 1990er-Jahren, ohne dass die jeweiligen Charakteristika des Spielers nicht bereits vorher in genau dieser Erwartungshaltung als Erzeugnisse moderner Ambivalenz bereits bestanden hätten.33 Im Gegenteil: Sowohl Spieler als auch Flaneur – in gewisser Hinsicht sogar der Vagabund – werden als Erscheinungen moderner Großstadt und Großstadtdichtung in Walter Benjamins Baudelaire-Studien vorgestellt.
29 Ebd., S. 98. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Vgl. ebd., S. 72ff. 33 Überhaupt ist die Debatte über eine Moderne oder Postmoderne der unverbindlichen Lebensführung in Augenblicken und Inkonsistenzen von beiden Seiten überflutet, nämlich hinsichtlich einer Festlegung unverbindlicher Subjektivität und Biografien auf jeweils kontingente Zeitpunkte der Moderne oder Postmoderne, wie auch mit Blick auf die Selbstverständlichkeit, mit der diese These von der fragmentierenden Moderne bzw. Postmoderne immer wieder geäußert wird. Schnyder sieht die Verfertigung einer solchen These mittels der Metaphorik des Hasard als Indiz für die tatsächliche Vagheit jener Selbstverständlichkeit. Vgl. Schnyder, Alea, S. 7f.
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Das entsprechende Bild von Baudelaire als Scheitelpunkt der ästhetischen Moderne hat mit Blick auf Walter Benjamins Argumentation Karriere gemacht in der Debatte, wenn auch die Relationen teils modifiziert wurden.34
S PIEL MODERNER Z EITEN (B ENJAMIN ) Benjamin beschreibt in seinen Baudelaire-Texten Charakteristika moderner urbaner Existenzen, die in ihrer widrigen Umwelt der industrialisierten Metropole Attribute des Heldenhaften aufzufahren haben: „Der Heros ist das wahre Subjekt der modernité. Das will besagen – um die Moderne zu leben, bedarf es einer heroischen Verfassung.“35 Dieser sodann explizite Rückgriff auf einen antiken Topos erweise sich in seiner spezifisch modernen Transformation als Entwurf einer Konstellation des Anderen, die erst mit Baudelaires Fleurs du mal als „Poesie des Apachentums“ in den literarischen Text eingetragen würde und wiederum im Akt der Eintragung präsent sei: „Über der Poesie des Apachentums liegt ein Zwielicht. Stellt der Auswurf die Helden der großen Stadt? oder ist Held nicht vielmehr der Dichter, der aus solchem Stoffe sein Werk erbaut? – Die Theorie der Moderne räumt beides ein.“36 Als Theorie des Zwielichts und der Gewährung von Kompatibilität zweier nichteindeutiger Zustände steuert Benjamin auf eine Interpretation Baudelaires als Interpretation der Moderne, und umgekehrt, zu. Das Heroische beleuchtet hier als Figur der Antike in der Moderne etwas Neues, mithin Entgegengesetztes. Der Held als Antiheld, als genuin und aus sich selbst heraus scheiternder Gestalt, strebt Kontinuität zur Tradition über die Erstellung eines eigenen Traditionsreservoirs an, deren erstes Gut der 34 Jauß widmet Benjamins Baudelaire-Lektüre einen längeren Exkurs. Seine Kritik an Benjamin bezieht sich auf die Interpretation des Gedichtzyklus’ als „Zeugnis für das denaturierte Dasein der großstädtischen Masse“, wodurch als „dialektische Kehrseite der Entfremdung: die mit der Absage an die Natur freigesetzte, neue Produktivkraft des Menschen verkannt“ würde. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, S. 58. Noch gewichtiger fällt Jauß auf, dass Benjamin auf eine eingehende Untersuchung des Peintre de la vie moderne verzichtet, sowie das daraus resultierende Beharren auf einer Kunsttheorie, die sich noch zu Baudelaires Zeiten mit der Antike beschäftigen würde. Diese Annahme sei zutiefst anachronistisch. Vgl. ebd., S. 58ff. Derartige Probleme würden das von Benjamin insinuierte kritische Großstadtverhältnis Baudelaires bedingen sowie die daran geknüpften Phänomene der modernen Masse konstruieren – und damit eigentlich die wesentlichen Punkte seiner Argumentation entkräften. Dass diese dennoch auf der einen Seite der Dialektik der Großstadt zu identifizieren sind, relativiert Jauß’ Rundumschlag zumindest hinsichtlich der signifikanten Sozialcharaktere, die Benjamin hier platziert. 35 Benjamin, Charles Baudelaire, S. 577. 36 Ebd., S. 583.
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konkurrierende Bruch mit dieser Kontinuität ist. Einen gehaltvollen Faktor stellt der Status des Scheiterns als Notwendigkeit dar, die für den modernen Heros aus dem Oxymoron „modern/Held“ selbst resultiert. Sein Untergang verschmilzt das zeitlich restriktive Bewusstsein der Moderne mit dem Anspruch des (Über-)Dauerns der Antike: Der moderne Heros „ist zum Untergang vorbestimmt und um dessen Notwendigkeit darzustellen, braucht kein Tragiker aufzustehen. Ist ihr aber ihr Recht geworden, so ist die Moderne abgelaufen. [...] Nach ihrem Ende wird sich erweisen, ob sie selber je Antike wird werden können.“37
Benjamins Interpretation der Moderne akzentuiert das komplexe ästhetische Geschichtsbewusstsein, welches ein Neues materiell als Flüchtiges und Endliches realisiert, mit der Gestalt des modernen Heros, von dem aus stetig sich selbst befragende Reflexionen ausgehen. Die ambivalenten Charaktere dieser Zustände sind schnell erkannt. Apache, Flaneur, Dandy, Lumpensammler: Sie alle eint, dass sie als Sozialcharaktere der Moderne in deviantem Antlitz klassische Konzepte bis zur Entfremdung travestieren und deren Dispositionen als Entwürfe einer auf das moderne Gebot hin stattfindenden Versenkung widerspiegeln. Allein diese spezifische Funktion der Spiegelung kann als modern gelten, „[d]enn der moderne Heros ist nicht Held – er ist Heldendarsteller“38. Die Zurüstung der Moderne auf den Heldendarsteller findet als Reaktion auf die in ihr getätigten Aussonderungsverfahren statt. Und ähnlich wie die Aussonderung der Ambivalenz als typisierende Erscheinung der Moderne immer mehr Ambivalenz produziert, kann die Reaktion auf einen für den Heros zu ungastlichen Zeit-Ort wie die Moderne lediglich die Maskierung sein. Sie findet in der Blasiertheit des Dandys und Flaneurs genauso wie in der Verweigerung des Lumpensammlers ihren Ausdruck und ist als Effekt des Ausschlusses durch die Moderne immer auch eines ihrer Produkte. Benjamin reiht in diesem Kapitel zur Moderne noch nicht den Spieler unter ihre Figurationen. Einerseits würde er als Garant des Devianten, der ökonomischen Verweigerung und der Unproduktivität in das Ensemble passen; andererseits ist der Spieler keine Figur der Maskierung, im Gegenteil: Das Glücksspiel demaskiert. Es provoziert, es zeigt den Spieler in Rage und Rausch (zumindest seine Hände, wenn Stefan Zweigs Mrs. C. geglaubt werden darf, die ja in ihren Schilderungen einen Kontrast zum kontrollierten Antlitz des Spielers betonen), es bringt alles, was er in herkömmlichen sozialen Situationen zu verstecken bedacht ist gegen den Willen und gegen das Bewusstsein zum Vorschein; oder es paralysiert, setzt den Reaktions- und Einfühlungsradius aus. In beiden Fällen automatisiert es und entkräftet die Selbstbeherrschung, zugunsten einer Aktivierung der Dispositionen des Spielers, die sich 37 Ebd., S. 584. 38 Ebd., S. 600.
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nicht mehr nur als psychologische, sondern auch als maschinelle Aktivierungen bedeutungsloser Reflexe in der Situation des Spiels äußern. „Das Spiel verwandelt die Zeit in ein Rauschgift“39, schreibt Benjamin an anderer Stelle aphoristisch und deutet damit auf das nötigende Potenzial der materialisierten Kontingenz im Glücksspiel, unter Berücksichtigung der temporalen Gleichgültigkeit, die es erzeugt. Denn die Zeit akkumuliert im Hasard ihr objektives Vergehen, ohne dass der Spieler Notiz nimmt. Bis zum Austritt aus dem Spiel ist der Drang zum Anschluss an die nächste Runde die einzige relationale Nacheinander-Verbindung, die es noch gibt. Dieser Drang versetzt in einen nur aus sich selbst heraus gültigen Zustand der Bemessung des derzeitigen Spielstandes, der zum reinen Vorgänger eines folgenden Spiels wird. Eine solche Logik führt in einen Separatismus von außerludischer Zeiterfahrung, der als Rausch rezipiert wird. Dieser Zustand, der durch den Glücksapparat und den Zwang zur Wiederholung aktiv wird, infiziert jeweils einen potentiellen nächsten Zustand, der so das Ende des Spiels weiter aufschiebt. Eine Runde gleicht der kommenden Runde, wodurch alle Spielstände nur aus sich heraus gewonnen sind, keine andere Begründung als sich selbst haben und damit den Zufall und die Akausalität als sich selbst bedingenden Seinsentwurf außerhalb der Lebenszeit setzen.40 Selbst die heroischen Muster Benjamins sind weniger als Kontingenzbewältigung aufzufassen, denn als Kontingenzinstrumentalisierung: Sie verfahren mit den Geboten der Moderne, ohne sie zu reduzieren oder zu bekämpfen; stattdessen anerkennen sie ihre Ursprünge, ohne ihnen affirmativ oder destruktiv entgegenzutreten. Über das anfängliche Zeitbewusstsein denkt Benjamin schließlich auch in Über einige Motive bei Baudelaire nach. Das Gedächtnis wird hier mit Freud als Instrument der Gegenwartserfahrung und -regulierung untersucht, welches in Kooperation mit dem Bewusstsein einen Reizschutz gegen die „Chocks“41 der Moderne verfertigt. Diese avancieren so zum integralen Bestandteil eines modernen Inventars. Die Entität des Reizes ist bereits als permanentes Moment der technisierten und sinnlich überfordernden Landschaft moderner Großstädte kanonisiert.42 Insbesondere die industrielle Massenverfertigung der Chocks durch Maschinen, die also parallel zu ihrer jeweils 39 Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, S. 57. 40 Am Ende des IX. Kapitels von Über einige Motive bei Baudelaire entlarvt Benjamin den Zusammenhang von Zeit und Rausch im Spiel als Teil seiner Interpretation des Gedichts Le jeu. Vgl. Benjamin, Charles Baudelaire, S. 635f. Vgl. auch Baudelaire, Le jeu, S. 95f. Das Gedicht separiert zwar augenscheinlich Poeten und Spieler im Sinne der Aktivität des lyrischen Ichs, legt aber eine wesentliche Nähe zwischen poetischem und ludisch-aleatorischem Prozess nahe. 41 Vgl. u.a. Benjamin, Charles Baudelaire, S. 613. 42 Vgl. ebd., S. 613ff. Vgl. zum Diskurs der Reizüberflutung um 1900 v.a. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S. 116ff. Simmel bearbeitet die sinnliche Reizüberlastung innerhalb industrialisierter moderner Räume mit dem Schlagwort der Nervosität.
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praktischen Funktion des Fabrizierens von Waren und Gütern eine Überproduktion assimilatorischer Reize durchführen, generiert die Anpassung des modernen Lebewesens an die Automaten. Benjamins einschlägiges Bild für diese Interaktion der Fremdübernahme durch Maschinen, die ihren eigentlichen Schrecken in der Industrie- und Fabrikarbeit besitzt, findet sich in der konsequenzlosen Wiederholung, der „Vergeblichkeit“, der „Leere“, dem „Nicht-vollenden-dürfen“43 des Glücksspiels: „Was der Ruck in der Bewegung der Maschinerie, ist im Hasardspiel der sogenannte coup. Der Handgriff des Arbeiters an der Maschine ist gerade dadurch mit dem vorhergehenden ohne Zusammenhang, daß er dessen strikte Wiederholung darstellt. Indem jeder Handgriff an der Maschine gegen den ihm voraufgegangenen ebenso abgedichtet ist, wie ein coup der Hasardpartie gegen den jeweils letzten, stellt die Fron des Lohnarbeiters auf ihre Weise ein Pendant zu der Fron des Spielers. Beider Arbeit ist von Inhalt gleich sehr befreit.“44
Der Entfremdungsakzent der Inhaltsleere ist auch mit der paradigmatischen Unabhängigkeit des Zufalls zu erläutern. Das Glücksspiel enthält nur leere Zeichen, aber keine aus ihm selbst heraus begründeten Bedeutungsfüllsel. Doch Glücksspiele sind faszinierend, unter anderem, weil es einen Moment der Spannung gibt, nicht nur über das Anzeigen des neuesten inhaltslosen Zeichens, sondern insbesondere darüber, wie dieses Zeichen schlussendlich mit Bedeutung aufgefüllt werden kann. Die Betonung einer Qualitätsgleichheit der Wiederholung von Spiel und Lohnarbeit ist deshalb trügerisch. Während der Spieler durch die Assimilation des Zufalls aus den chancesetups des Glücksspiels eine automatisierte Wiederholung ohne Reflexion durchführt, ist der Wiederholungszwang des Arbeiters von gänzlich anderer Gestalt. Er dient der äußerlich diktierten Erwerbstätigkeit ohne Horizont des Gestalteten, was die Erfahrung der Entfremdung für den Arbeiter in besonderem Maße reserviert. Die Wiederholung der Fabrikarbeit dehnt die Zeit, separiert den Arbeiter von der Produktion, und symbiotisiert ihn mit den Maschinen, wohingegen die Wiederholung des Spielers eine eigene Zeit einsetzt, ein Verhältnis zum Konzept des Produzierens aus-
43 Benjamin, Charles Baudelaire, S. 633. 44 Ebd. Auch Adorno und Horkheimer ergründen die moderne Interaktion zwischen Mensch und Maschine als Adaptionsleistung des Arbeiters und darin „Selbstentäußerung der Individuen, die sich an Leib und Seele nach der technischen Apparatur zu formen haben“. Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 36. Hannah Arendt unterstreicht ihrerseits die Nähe von modernem Arbeiter und Maschinenwelt in Bezug auf deren Realitätsrezeption: „For a society of laborers, the world of machines has become a substitute for the real world, even though this pseudo world cannot fulfill the most important task of the human artifice, which is to offer mortals a dwelling place more permanent and more stable than themselves.“ Arendt, The Human Condition, S. 152.
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setzt und ein assimilatorisches Verhältnis durch die Maschinen des Zufalls zum Laufen bringt. Man kann sich diesen fundamentalen Unterschied anhand des kurzweiligen Spiels verdeutlichen, das rauschartig durch eine potentielle Unendlichkeit der Spielzüge rast, im Gegensatz zur erfahrenen Monotonie der Fabrikarbeit, die eine von der Arbeitszeit regulierte Periode wiederholender Handgriffe äußerlich als materielles Gebot bürgerlich-kapitalistischer Produktionsweise aufzwingt und den Rausch im besten Fall durch den Schmerz der Langeweile ersetzt.45 Die Introspektion durch die Leere und das Nicht-Vollendendürfen ist grundsätzlich verschieden, während die darin brachliegende Sinnhaftigkeit und Inhaltslosigkeit beider Tätigkeiten als Gemeinsamkeit bestehen bleibt. Diese Inhaltsleere des Spielens kann als semantische Abstraktionsfähigkeit des Spielvorgangs aufgewertet werden. Benjamin zählt die zentralen Elemente, aus denen sich die Bedeutung des Nicht-Bedeutens rekrutiert, in seiner Theorie des Hasard als Allegorie des modernen Chocks auf: Die Wiederholung, die Infektion der Spieler durch das Spiel und seine Abgerissenheit von einer Sphäre des Seins, welche konsequentiell, semantisch und temporal Grenzen aufzieht. Darin liegen einerseits Bestimmungen über die Moderne, während andererseits eine Theorie des Hasard als Zufallsspiel angeboten wird, die wiederum Theorien der Moderne beeinflusst. Das ist umso dringlicher, als dass Benjamin leider nichts über den Zufall schreibt.46 Denn zum geltenden Prinzip des Hasardspiels werden die Dispositionen des vom Chock getroffenen Spielers erst als Dispositionen des ansteckenden Zufalls, der immer gleich Zufall ist, doch darin immer andere Zeichen ausspuckt. Benjamin findet mit einem Hinweis auf eine Lithografie von Alois Senefelder prägnante Worte für diese Effekte des Spiels: „[D]ie aufgebotenen Figuren zeigen, wie der Mechanismus, dem die Spieler im Hasardspiel sich anvertrauen, an Leib und Seele von ihnen Besitz ergreift, so daß sie auch in ihrer privaten Sphäre, [...] nicht mehr anders als reflektorisch fungieren können.“47 Der angesprochene „Mechanismus“ ist kein anderer als der Zufall, im Hasardspiel von den Maschinen des Zufalls erzeugt. Benjamin resümiert: „Sie [die Spieler, S.T.] leben ihr Dasein als Automaten und ähneln den fiktiven Figuren Bergsons, die ihr Gedächtnis vollkommen liquidiert
45 Vgl. dazu auch Reith, The Age of Chance, S. 137f. 46 Kompensationen dazu stellen einige Fragmente der Passagen dar, wenn etwa eine interessante Bemerkung zur Unmöglichkeit der „Deutung des Zufalls“ und über die reflexartige Reaktion auf ihn vorgenommen wird. Vgl. Benjamin, Aufzeichnungen und Materialien, S. 639. Vgl. auch Weidmann, Flanerie, Sammlung, Spiel, S. 127ff. Weidmann arbeitet die für Benjamin entscheidende geschichtsphilosophische Rolle des Glücksspiels heraus. Vgl. ebd., S. 130. 47 Benjamin, Charles Baudelaire, S. 633f.
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haben.“48 Er spricht hier freilich von einer Existenz des Spielens, die sich auch außerhalb der Spielsalons fortsetzt. Dem widerspricht allerdings die Intensität der ludischen Technik, die zunächst exklusiv am Spieltisch stattfindet. Nur wenn das „Immer-wieder-von-vorn-anfangen“ als „regulative Idee des Spiels“49 aktiv ist, sind auch die Symptome des Spiels im Gange. Insbesondere die Literatur des 19. Jahrhunderts zeigt auf, inwiefern die Totalität des Spielens am Ort des Spiels, nämlich im Casino, einen Raum des anderen zeitlichen Erfahrungsbewusstseins darstellt. Selbstverständlich gilt auch außerhalb des Casinos in vielen Fällen die Formel des infizierten Spielers, die sich aber angesichts einer Konfrontation mit Wirklichkeit verändert präsentiert, denn „Spielen bedeutet auch Identitätsverlust oder zumindest Identitätswechsel“50. Im Spiel ist das Subjekt ein anderes, und auch nach dem Spiel findet es in seine herkömmliche Identitätskonstruktion nicht zurück. Benjamin betont die Signifikanz Baudelaires bezüglich des Hasard in „psychologischer Hinsicht“, die von der „technischen“ unterschieden wird.51 Diese wichtige Differenzierung unterstützt eine Lesart des Spiels, die sich zunächst umfassend auf ihre aus der eigenen Situation und den eigenen Begriffen heraus ergebende Konstitution bezieht, bevor auf die sozialen, historischen, mithin politischen oder eben psychologischen Kontexte des Hasard verwiesen wird. Was Benjamin mit der Assimilation der Apparate zunächst beschreibt, zeugt eher von einer Reduktion und Auslagerung psychologischer Elemente durch das Spiel. Die Erfahrung räumt ihren Platz für die Physik des Zufalls. Erst von dort gewinnt die Figur des Spielers wieder Gewicht für zivilisatorisch oder (inter-)subjektiv relevante Phänomene, und kann – mit der philosophischen Brisanz der Kontingenz ausgestattet – diese als Dispositionen des Zufalls sowie Dispositionen der Instrumente des Hasardspiels neu berechtigen und bewerten. Mit der Beachtung des Glücksspiels als Geldspiel und Transaktionsform sticht die Ökonomie aus diesen Kontexten heraus und präzisiert die Position des Spielers in der Moderne. Über die ökonomische Dimension kommt das Geld in seiner materiellen wie auch symbolischen Charakterisierung von Austauschverhältnissen auf die Agenda, welche sich in der Neuzeit als Katalysatoren erwerbsmäßiger Deregulation entfalten. Die Codierungssehnsucht der Sprache, von der Derrida gesprochen hat, äh-
48 Ebd., S. 634. 49 Ebd., S. 636. Benjamin ist weniger an einer einzigartigen Zeiterfahrung des Spiels interessiert, als an den Komponenten des Hasard, die helfen, die Zeiterfahrung des Chocks zu verstehen. Später erklärt er den entsprechenden Modus mit Baudelaires Spleen-Begriff: „Aber im spleen ist die Zeitwahrnehmung übernatürlich geschärft; jede Sekunde findet das Bewußtsein auf dem Plan, um ihren Chock abzufangen.“ Ebd., S. 642. 50 Brittnacher/Janz, Einleitung, S. 12. 51 Benjamin, Charles Baudelaire, S. 634
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nelt nicht nur der Arbitrarität des Geldwertes, sondern fällt mit dieser als vermeintlichem Objekt der Begierde im Zeichensystem des Spiels zusammen. Der Hasard bildet börsianische Formen des Tausches sowohl von Geld als auch von Zeichen (etwa für Geld) ab, die mit dem Instrument des Zufalls in Bewegung gesetzt sind. Den Bewegungen des Geldes ist damit Tribut zu zollen.
D AS
ÖKONOMISCHE
U NTERGESCHOSS (S IMMEL /D EFOE )
Georg Simmel, dessen Moderne-Begriff ähnlich wie der Benjamins von einer Orientierung an Baudelaires Mischwesen aus Flüchtigkeit und Ewigkeit zeugt,52 hat in seiner Philosophie des Geldes (1900) eine Theorie zur ökonomischen Referentialität geliefert. Simmels Ansatz der Aufteilung in analytische und synthetische Untersuchung konzentriert sich neben einem kulturellen Konstrukt namens Geld auch auf eine Darstellung von Sinnbildung, die unter dem Namen „Geld“ zirkuliert. So entsteht eine Erörterung dessen, was Geld in Zeit und Raum darstellt, parallel zu einer Erörterung der Bedingungen dieser Darstellbarkeit. Simmel unternimmt damit eine Überblendung des symbolischen Gehalts wie auch des materiellen Wertes von Geld als Verständnisakt eines allgemeinen Lebensbegriffs: Mit dem Geld lernen wir etwas über das Leben in seiner Ganzheit, wie auch über seine veränderbaren Momente, in denen es sich als Leben ausdrückt und präsentiert. Das Interesse am Geld legitimiert sich aus der Eigenschaft dieses Gegenstandes, innerhalb seiner Analyse einzelne Beobachtungen in einem interdisziplinären Diskurs aufzugreifen: „Wenn es eine Philosophie des Geldes geben soll, so kann sie nur diesseits und jenseits der ökonomischen Wissenschaft vom Gelde liegen: sie kann einerseits die Voraussetzungen darstellen, die, in der seelischen Verfassung, in den sozialen Beziehungen, in der logischen Struktur der Wirklichkeiten und der Werte gelegen, dem Geld seinen Sinn und seine praktische Stellung anweisen.“53 52 David Frisby macht auf den an Baudelaire geschulten Horizont aufmerksam, der durch Simmel, „perhaps the first sociologist of modernity in the sense which Baudelaire had originally given it“, etabliert wurde. Frisby, Fragments of Modernity, S. 2. Dieser Ausgangspunkt führt zu einer Konstellation, in der Simmel, Kracauer und Benjamin anhand ihrer Modernetheorien versammelt werden: „In their different ways, Simmel, Kracauer and Benjamin were all concerned with the new modes of the perception and experience of social and historical existence set in train by the upheaval of capitalism.“ Ebd., S. 4. 53 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 10. Mit ähnlicher philosophischer Verve greift Jochen Hörisch das Thema neunzig Jahre später gedankenreich wieder auf, allerdings auf einer strikt historischen Ebene situiert. Es finden sich in diesem Zuge gleichwohl viele anregende Gedanken zur Bedeutung (und Poesie) des Geldes, samt einer gleichwertigen Frage nach
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Diese zum einen Teil historische („diesseits“) und zum anderen Teil ahistorische („jenseits der ökonomischen Wissenschaft vom Gelde“) Konstruktion fragt einmal nach der Funktionalität von Geld, kümmert sich aber genauso darum, inwiefern ein Konzept von Bedeutung zuvörderst in ihm sichtbar wird. Das erkenntnistheoretische Potenzial dieses Ansatzes verbirgt sich hinter der perspektivischen Schärfung von Geld als Wertbildungsbarometer und -instrument in Personalunion, als eigentlicher Gegenstand des Tausches und dessen gleichzeitige Metaebene, als Mittel der Darstellung von Wert, welches im selben Zug dafür einsteht, dass überhaupt Wert existiert, sowie als Vermittler von Zwecken, Interessen und Bedürfnissen, dessen Bewegung der Vermittlung bereits den ihm eigenen Zweck, das ihm eigene Interesse, sein mit ihm verknüpftes Bedürfnis ausspricht. Geld ist in diesem Sinne ein von Simmel ausgearbeitetes „Beispiel“, welches „nicht nur die Gleichgültigkeit rein wirtschaftlicher Technik zeigt, sondern sozusagen die Indifferenz selbst ist, insofern seine ganze Zweckbedeutung nicht in ihm selbst, sondern nur in seiner Umsetzung in andere Werte liegt“54. Es wird ersichtlich, dass einer dieser umgesetzten Werte die Demonstration und Durchführung des philosophischen Doppelansatzes ist, mit dem Simmel hier verfährt. Das Geld ist deswegen mehr als jene „Einzelheit des Lebens“, die aufzeigt, wie ihr „die Ganzheit seines [des Lebens, S.T.] Sinnes“55 innewohnt. Die einzigartigen Dispositionen des Geldes lassen es als Beispiel zwar fakultativ betrachten, werden aber als das Beispiel obligatorisch. Aus diesen Zusammenschlüssen entsteht ein gleichsam unifizierender Ausdruck von allgemeiner Bedeutungstheorie, der parallel dazu einen soziologischen Anspruch vorträgt. Die Rede von der Indifferenz des Geldes spürt zunächst einer Verfassung irreduzibler Bedeutung nach, die aus einem permanenten Ping-Pong von Gegenseitigkeit, in einem Relativismus entsteht. Das Begehren eines Gegenstandes drückt sich (zumal in einem komplexen ökonomischen Marktsystem) nicht in der Rückführung auf ein anderes Register, jenseits der Menge von Gegenständen, etwa im Verbrauch und der Konsumtion dieses Objekts aus, sondern in einem anderen Gegenstand, der für ihn einzutauschen ist. Der Wert dieser Gegenstände wird dadurch überindividuell: Derjenige Wert des einen Gegenstands ist in einem anderen Gegenstand abgebildet, nicht dem Vorgang des Bedeutens. Eine mediale Verwebung von Sinn und Sein im Geld als insofern ontosemiologischer Leiteinheit bildet dahingehend die prägnanteste Beobachtung. Von dort wird gezeigt, wie in genuin neuzeitlich-säkularer Funktion die „substantielle Ontosemiologie des Abendmahls“ durch das Geld abgelöst wird: „Geld stellt eben nicht nur Äquivalenzen zwischen nichtgleichen Dingen, sondern auch funktionale Korrespondenzen zwischen Abstrakta und Sachen, Denk- und Realabstraktion [...] bzw. Sinn und Sein her. Geld ist das ontosemiologische Leitmedium von Neuzeit und Moderne.“ Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 31 und S. 214. 54 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 12. 55 Ebd.
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aber in den Bedürfnissen, für deren Befriedigung er angefertigt wurde. Die heterogene Weise gegenseitiger Bezugnahme schwillt in einem ausdifferenzierten Markt zu einem eigenen Kosmos an, deren ständiges Aneinander-Messen auf einen universalen und darin, zu einem gewissen Grad, formalisierten Tauschgegenstand zurückgreift: „Die technische Form für den wirtschaftlichen Verkehr schafft ein Reich von Werten, das mehr oder weniger vollständig von einem subjektiv-personalen Unterbau gelöst ist.“56 Der Relativismus besteht in der selbstgenügsam anmutenden Relationalität der Gegenstände untereinander. Es scheint, „als ob die Dinge sich ihren Wert gegenseitig bestimmten“; sie treten „in gegenseitige objektive Relation“57. Das Reich der Werte ähnelt dem Netz der Differenz, zumindest im Sinne dessen, was Simmel dem Bereich des Wirtschaftens vorbehält. Dort wird das Prinzip des Opfers notwendig, nämlich die Schwierigkeit der Erlangung von Gegenständen, die sich im Tausch, der Abgabe eines Gegenstandes für einen anderen, wiederfindet. Nur aus ihrer Relativität, der Bezugnahme aufeinander, erlangen sie ihre ökonomische Differenz; allein der „Austausch, der zwischen ihnen vorgeht [den Objekten der Wirtschaft, S.T.]“ kann ihnen „die spezifische Differenz, die wir wirtschaftlich nennen, zusetzen“58. Speziell in diesem Transaktionsgebilde gewinnen die nämlichen Objekte als ökonomische nicht Wert und Bedeutung aus sich selbst, sondern daher, dass sie nicht die anderen Objekte im Mobile der Wirtschaft sind. Die relationalen Differenzen des Wertes weisen Familienähnlichkeiten zur Arbitrarität des Zeichens auf. Das Geld selbst hingegen erlangt in der komplex ausdifferenzierten Marktwirtschaft einen Status höchster Klarheit als Repräsentant dieses Reiches und dieses Netzes, da es einen eigenen Teil des Kreislaufes bildet, ihn aber auch zugleich zur Gänze darstellt: „Denn in ihm [dem Geld, S.T.] hat der Wert der Dinge, als ihre wirtschaftliche Wechselwirkung verstanden, seinen reinsten Ausdruck und Gipfel gefunden.“59 Der Name Geld signalisiert die Relationen von Gegenständen, seine Philosophie formuliert indessen ausdrücklich die Relationalität, die Natur dessen, wie Dinge korrespondieren: „Wenn nun der wirtschaftliche Wert der Objekte in dem gegenseitigen Verhältnis besteht, das sie, als tauschbare, eingehen, so ist das Geld also der zur
56 Ebd., S. 55. 57 Ebd., S. 52f. 58 Ebd., S. 71. 59 Ebd., S. 121. Dieser Status des Geldes wird später zur Lektüre Balzacs äußerst hilfreich. Samuel Weber, einer von Balzacs wichtigsten Interpreten, hat die dafür entscheidende Formel bereits in seiner Studie zum Peau de chagrin geliefert: „Money is both one commodity among others, inasmuch as it is gold or silver, and at the same time primus inter pares, since it stands over against all other commodities as that which represents their value of exchange in general, and thus allows for their circulation.“ Weber, Unwrapping Balzac, S. 22.
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Selbstständigkeit gelangte Ausdruck dieses Verhältnisses.“60 Wohlgemerkt: Simmel spricht hier nicht vom real gedeckten Gegenwert, etwa von Edelmetallmünzen, sondern von einem Phänomen, das sowohl ideell als auch substantiell zu verstehen ist. Relativität und Überindividualität der vom Geld gekennzeichneten Verhältnisse führen eine „Doppelrolle“ mit sich, in der Geld etwas Bestimmtes bedeutet – den Wert einer Ware – und zugleich bedeutet, dass es etwas Bestimmtes bedeutet.61 Es misst „einerseits die Wertverhältnisse der austauschenden Waren untereinander“ und bedeutet so ihren Wert; und es tritt „andererseits aber selbst in den Austausch mit ihnen“ ein, bedeutet seinerseits im Kreislauf dieser Bedeutungen, stellt „so selbst eine zu messende Größe“ dar: „Das Geld gehört also zu denjenigen normierenden Vorstellungen, die sich selbst unter die Norm beugen, die sie selbst sind.“62 Anhand dieses Verständnisses von im Geld sich eigens vorgeschalteten Philosophemen konturiert sich jenes „Stockwerk“, das Simmel „dem historischen Materialismus unterzubauen“ gedenkt, „derart, daß der Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden“63. Die Bedeutung von Geld liegt in einem ökonomischen Untergeschoss begraben, von dem aus überhaupt Tausch, Wert oder Opfer als Dispositionen die kulturelle Beziehung zwischen Basis und Überbau, Materialität und Idealität regulieren und sie in gegenseitiger Beeinflussung in Kraft setzen. Die politische Ökonomie wird von einem bis dato unbetretenen Keller philosophischer Ökonomie getragen. Der Austausch hat weitere Andockstationen: für die Beziehung der sprachlichen Zeichen untereinander oder auch für ästhetische Prozesse.64 Bei Simmel gewinnt er mit letzteren an Relevanz bezüglich einer permanenten Mobilität des Wertens („die
60 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 122. 61 In gewisser Weise hat sich Nietzsche diese Differenz des Geldes schon einmal als Bildspender für eine Metapher zum Status der Wahrheit zunutze gemacht: „[D]ie Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“ Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, S. 374f. Die Erkenntnis, dass ein unintelligbles Stück Metall durch eine Bedeutungsbelegung, aber auch durch das sinnfällige Versprechen, dass es Bedeutung überhaupt geben kann, Wert erzeugt, stellt umgekehrt einen integralen Moment der Simmelschen Argumentation dar. 62 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 126. 63 Ebd., S. 13. 64 Vgl. ebd., S. 47f.
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allgemeine Relativität der Welt“), mit der Pointe: „Für den absoluten Bewegungscharakter der Welt nun gibt es sicher kein deutlicheres Symbol als das Geld.“65 Wenn die Doppelrolle des Geldes in Abstraktion und Gegenständlichkeit, die von dieser Abstraktion betroffen ist, bereits in einen chaotischen Zirkel führt, erhält die Form des Glücksspiels (als Geldspiel) eine noch eklatantere Funktion; denn selten konzentriert sich diese Gestalt der absoluten, puren Bewegung des Geldes, das selbst bereits die Bewegung der Welt symbolisiert, sachdienlicher als am Spieltisch, wo es niemals nur das Materielle des Geldes, sondern immer auch dessen transzendentale Ausgangsposition für die Möglichkeit des Spielens ist, das in allererster Linie als zufallsbasiertes Tauschmanöver von Zeichen gültig wird. Die Geltung dieser Mobilität figuriert das Geld: „[I]t is vital for the game to be meaningful, as it is the medium through which participants register involvement in a game. In modern gambling, money is both a means of communication and a tangible symbol of the player’s presence.“66 Das Spiel um Geld findet insofern niemals nur als materielles statt, das um Geld im Sinne der Güter spielt, die es im Warenkreislauf darstellt. Das Geld hat mit demselben Impetus an der Darstellung des Spiels Anteil, das zum wichtigsten Teil aus Darstellungen formaler Zeichen (Zahlen, Farben etc.) besteht, die sich im Betrag des Spiels wiederfinden. Der numerische Abgleich und Tausch von Werten unterliegt keinen ökonomischen Regeln per se, sondern dem vereinfachten Mechanismus des Zufalls, dessen eigene Ökonomie sich in den Zeichen des Geldes ausdrückt. Wenn das Geld den Wert der Dinge wie auch ihre relativistische Grundkonstitution am Reinsten ausdrückt, so bringt das Glücksspiel mit seinen formalisierten Zeichen, die wiederum in Geld zu übersetzen sind, diesen Relativismus über die Abkürzung des Zufalls seinerseits zur Darstellung. Im Spiel geht es um die Wiederholung von Zeichen, die einen Akt des Zufalls abbilden, von dem sie ermittelt wurden. Die Bewegung dieser Zeichen ist einerseits defizitär, sofern sie nur als formalisierte Platzhalter wahrgenommen werden, würden sie nicht in ihrer Übersetzung in Geld wieder an die Bedingung ihrer Darstellung erinnern. Die Zeichen des Zufalls im Geldspiel repräsentieren insofern mit dem Geld en miniature weniger diejenigen Größen, die das Geld im relativistischen Warenkreislauf misst, als diejenige Bedingung aus dem ökonomischen Untergeschoss, die dem Zufall eine sonst unmögliche, weil außerhalb des ökonomischen Relativismus nicht vorhandene Ausdruckschance einräumt. Das Geld gibt dem Zufall im Glücksspiel Bedeutung auf Kredit. Auch dieser Wert des Geldes bildet sich in den formalen Zeichen des Spiels ab, die im selben Moment in Geld übersetzt sind. Diese Repräsentationsleistung des Geldes gewinnt mit einer historischen Amalgamierung von Zufall und Ökonomie an Relevanz. Im synthetischen Abschnitt weist Simmel auf die akzelerierenden Kräfte der Neuzeit hin, in denen die Zahlen als 65 Ebd., S. 714f. 66 Reith, The Age of Chance, S. 146.
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Zeichen des Geldes mit der Aufwertung der Wahrscheinlichkeitsrechnung einhergehen: „Die geistigen Funktionen, mit deren Hilfe sich die Neuzeit der Welt gegenüber abfindet und ihre inneren – individuellen und sozialen – Beziehungen regelt, kann man großenteils als rechnende bezeichnen.“67 Der mathematische Bezug zur Welt sieht sich zugleich mit einer Überforderung des Rechnens konfrontiert, wonach die massive Einsatzfähigkeit algorithmischen und arithmetischen Denkens in einer Entgrenzung der Variablen floriert. Peter Sloterdijk sieht die neuen Rechnenden unter dem Wappen eines „Glücksadel[s], der als das legitime Kind der Neuzeit dem Schoß der Fortuna allein entspringt“, als „eine Gesellschaft aus nachtwandlerisch Reichgewordenen, Berühmten und Begünstigten, die nie recht begreifen werden, was sie nach oben getragen hat.“68 An der Schnittstelle von Geld und Glück ist die individuelle Antizipation ebenso zuverlässig oder unzuverlässig wie das Glück oder Unglück seiner einzelnen Mitspieler irreduzibel begründet werden kann. Eine Arbitrarität der Moderne entspricht darin auch immer einer Arbitrarität ihrer Daten. Die Neuzeit rechnet unter diesem Credo mit dem clinamen, der sich in Gestalt des Unberechenbaren neben dem Willen zur Berechnung dialektisch einnistet.69 In einem Essay von 1910 kommt Simmel auf dieses Unberechenbare anhand der Figur des Abenteurers zu sprechen: „Der Abenteurer nun, um es mit einem Worte zu sagen, behandelt das Unberechenbare des Lebens so, wie wir uns sonst nur dem sicher Berechenbaren gegenüber verhalten.“70 Diese Behandlung besteht also in einer bestimmten Form der phänomenologischen Souveränität, sei diese „berechtigt oder irrend“71, die Teil einer bestimmten Erwartungshaltung ist. Der Begriff des Abenteuers gelangt mit der von Simmel postulierten Verschiebung in ein Paradoxon, schließlich zeichnet sich das „Unberechenbare des Lebens“ gerade durch die Suspension von Erwartungshaltungen aus. Souveränität im Sinne von Sicherheit darf nur bestehen, wenn nicht mehr erwartet und wenn nicht mehr gerechnet wird: Eine gesetzte 67 Simmel, Philosophie des Geldes, S. 612. 68 Sloterdijk, Sphären II, S. 859. 69 Heidegger kombiniert das Primat des Kalkulierens mit der Vorherrschaft des Gründens: „Die Berechenbarkeit der Gegenstände setzt die unbeschränkte Geltung des principium rationis voraus. So bestimmt dann die gekennzeichnete Herrschaft des Satzes vom Grund das Wesen des modernen, technischen Zeitalters.“ Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 177f. Max Weber hatte zuvor bereits die Entzauberung der Welt aus dem Topos des Rechnens abgeleitet, dessen Sinnlosigkeit außerhalb seiner praktischen Einsatzfähigkeit – Weber spielt hier u.a. mit Tolstoj auf die unberechenbaren Bereiche Erkenntnistheorie und Ethik an – ein selbstreferentielles Moment vom wissenschaftlichen Positivismus suggeriert. Vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 87-92. Ein unterminierter Wille zum Satz vom Grund wird damit zum Topos der Moderne. 70 Simmel, Das Abenteuer, S. 46. 71 Ebd.
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Sicherheit also, die in einer Reinheit des Erlebens, seiner Unempfänglichkeit für Planung und Erinnerung einfach für sich besteht. Das Abenteuer zeichnet sich als pure Erfahrung aus, deren Sinn nur in ihr selbst liegt. Simmels Argument spricht ein situativ Unberechenbares an, das gültig wird, weil es nicht allein ein Risiko darstellt – egal, ob mit Aussichten auf Erfolg oder Nicht-Erfolg –, sondern weil es die Frage nach dem Risiko gar nicht mehr stellt. Das Unüberblickbare wird durch die Verabschiedung des Überblicks irrelevant. Vor diesem Hintergrund erläutert sich Simmels Minimaldefinition des Abenteuers als von der Kausalität des Lebens abgelöstes Intervall: „Und zwar ist nun die Form des Abenteuers, im allerallgemeinsten: daß es aus dem Zusammenhange des Lebens herausfällt.“72 Das Vakuum des Abenteuers trennt zwangsläufig den Inhalt des Erlebens von seiner Qualität. Diese Unterscheidung verdeutlicht, inwiefern das Abenteuer trotz seines Ausschlusses Teil des Lebens ist.73 Sein Desinteresse am Inhalt, mithin an der im Kontext des Lebens regierenden Bedeutung einer jeweiligen Erfahrung, geht mit dem Primat der Erfahrung des Abenteuers einher, welche, wie festgestellt, sich durch die paradoxe Sicherheit dem Unberechenbaren gegenüber auszeichnet. Gerade in diesem exklusiv erfahrbaren, nicht außerhalb des abrupten Erlebens zu reproduzierenden Zustand, der sich aus dem Leben zurückzieht, verbergen sich wiederum allgemeine Erkenntnisse über das Leben – schon allein, weil es uns über die Differenz zwischen Bedeutung eines Momentes für sich und der Bedeutung desselben Momentes im Ganzen aufklärt. Zugespitzt ausgedrückt ist Simmels Essay selbst als Ausformulierung dieser Erkenntnisse identisch mit dem, was das Abenteuer im Zusammenhang des Lebens bedeutet. Gerade im Zeitalter der Berechnung arbeitet das Abenteuer unter dieser Ägide an solchen Tendenzen der Quantifizierung mit, die sich in den Ausnahmesituationen scheinbar regulärer Produktionsverfahren abbilden, d.h. in den nicht vorgesehenen, den überraschenden, wirtschaftlich kontingenten Profiten. Die neuzeitliche Profanisierung der âventiure entwickelte ein Schlagwort, das sowohl die kontingente Dimension von Ökonomie einfängt, als auch zeigt, wie sich diese Kontingenz genuin in den Gegenständen der Ökonomie abzubilden vermag. Sie situiert das Wort im Bereich des kaufmännischen Risikos, seiner Prozesse wie auch seiner Ergebnisse: „Aus der Bedeutung von Abenteuer als glücklichem oder unglücklichem Zufall ergibt sich
72 Ebd., S. 39. Zur Interpretation dieser komplizierten Verortung des Abenteuers, vgl. u.a. Thomä, Ankunft und Abenteuer, S. 32f., wo die Rezeption des abrupten Abenteuers als „Urlaub vom Ich“ bezeichnet wird. 73 „Indem es aus dem Zusammenhange des Lebens herausfällt, fällt es – dies wird sich allmählich erklären – gleichsam mit eben dieser Bewegung wieder in ihn hinein, ein Fremdkörper in unserer Existenz, der dennoch mit dem Zentrum irgendwie verbunden ist.“ Simmel, Das Abenteuer, S. 40.
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schließlich auch die Verwendung des Wortes für die zufallende Sache selbst. Unerwartete Einkünfte, zufällig erworbene Güter und Spiele sowie die darin erzielten Gewinne, wie etwa Schützenpreise, werden Abenteuer genannt.“74 Der Begriff erfasst sowohl die Einlassung auf den Zufall als auch die Erfahrung des Zufalls in ihrer pleonastischen Charakterisierung als unerwartet, als zufällig. Simmel wiederholt mehrfach, dass die unmittelbare Gegebenheit einer Erfahrung mit ihrer Eingliederung in einen Zusammenhang konkurriert. Das Abenteuer akzentuiert schließlich, dass die abrupte Erfahrung einer Gegebenheit als solche sinnlos, weil zusammenhangslos ist. Es tut dies, indem der davon unabhängige Zugang zu einer höheren Bedeutungserstellung blockiert bleibt. Nur aufgrund dieser Introspektion auf das Sinnlose der Erfahrung reden wir überhaupt vom Abenteuer. In einer absurden Bewegung wird dies zugleich insgesamt zum Sinn dieser Erfahrung. Das Abenteuer besteht essentiell darin, der sinnlosen Erfahrung den elaborierten Sinn äußerer Sinnlosigkeit zu spendieren, es als „das unvergleichlich gefärbte Erlebnis“ zu verstehen – egal, ob es eine handlungsreiche, handgreifliche Irrfahrt in unerschlossene Gebiete oder ein parenthetisches amouröses Stelldichein ist –, „das sich nur als ein besonderes Umfaßtsein jenes Zufällig-Äußeren durch dieses Innerlich-Notwendige ausdeuten läßt“75. Von daher stellt auch das ökonomische Abenteuer, der zufällige Profit, keine Erfahrung eines materiellen Gewinns dar, der also in der Bedeutung seiner intersubjektiven Wertrepräsentation bestünde, sondern den Sinn von dessen Unerwartbarkeit. Das abenteuerliche Trachten nach Geld, die Spekulation, ist mitnichten als ein Begehren von einem Quantifizierbaren, einem berechenbaren Zuwachs zu verstehen, sondern als Drang zu den Wiederholungen eines Unerwartbaren, inklusive derjenigen Tiefe des Erlebens, die mit dem eigenen Inhalt nichts mehr zu schaffen hat.76 Diese Gegenseitigkeit von Abenteuer, Zufall und Geld ruft letztlich wieder das Glücksspiel auf den Plan. Bereits die existenzielle Dimension in der Begriffsgeschichte des Abenteuers bündelt sich auf einer Bedeutungsebene des Vagabundierens, die semantische Verwandtschaften zwischen Abenteurern und Gauklern, dem „spilman“, dem „lotterer“ und anderen hinterlassen hat.77 Für Simmel liegt mit dem Zufall des Hasard entsprechend eine Wesensgleichheit zu seinem Abenteuerbegriff vor:
74 Welzig, Der Wandel des Abenteuertums, S. 440. 75 Simmel, Das Abenteuer, S. 44. 76 Die Sinnhaftigkeit dieses Inhaltsleeren steht zweifelsohne auf einer Formulierungsprobe, wie Thomä angemerkt hat: „Simmels abenteuerliches Selbst rechtfertigt sich aufgrund der Ablösung des eigenen Erlebens von historischen Abläufen – einer Ablösung, die in der Versprachlichung dieses Erlebens ihre Bewährung findet.“ Thomä, Ankunft und Abenteuer, S. 35. 77 Vgl. Welzig, Der Wandel des Abenteuertums, S. 446.
110 | G RUNDRISSE „Der Spieler ist zwar der Sinnlosigkeit des Zufalls preisgegeben; allein indem er auf dessen Gunst rechnet, indem er ein durch diesen Zufall bedingtes Leben für möglich hält und verwirklicht, stellt sich ihm der Zufall doch in einen Zusammenhang des Sinnes ein. Die typische Abergläubischkeit [sic!] des Spielers ist nichts anderes als die greifbare und vereinzelte, deshalb aber auch kindische Form dieses tiefen und umfassenden Schemas seines Lebens: daß in dem Zufall ein Sinn, irgendeine notwendige – wenn auch nicht nach der rationalen Logik notwendige – Bedeutung wohne. Durch den Aberglauben, mit dem der Spieler den Zufall durch Vorzeichen und mystische Hilfsmittel in sein Zwecksystem hineinziehen will, enthebt er ihn seiner unzugänglichen Isoliertheit, sucht in ihm eine zwar nach phantastischen Gesetzen, aber immerhin doch nach Gesetzen verlaufende Ordnung. Und so läßt auch der Abenteurer den außerhalb der einheitlichen, von einem Sinn gelenkten Lebensreihe stehenden Zufall dennoch irgendwie von diesem umfaßt sein.“78
Nichts weniger als die Abschottung des Zufalls von der Bedeutung des Lebens, deren sinistere Sinnhaftigkeit im Kompensationsversuch magischer Deutungen belegt wird, liegt mit jedem Würfelwurf mit auf dem Spieltisch. Der Moment ist nur als Auszeit vom Leben erfahrbar, doch das an ihn gekettete Sinndefizit holt das Leben als Akteur der Sinngebung zurück. Hinter diesem Gedanken verbirgt sich eine Theorie, die auch die Ökonomie des Spiels abdeckt. Eine charakteristische, für das Spiel unabdingbare Indifferenz dem verspielten oder erspielten Geld gegenüber kommt während der abenteuerlichen Inhaltslosigkeit des Spiels zum Tragen, das im ludisch-aleatorischen Moment nicht als materieller Gewinn oder Verlust erfahren wird, sondern als Konfrontation mit zufällig produzierten Zeichen: „Wie für die eigentliche Spielernatur gar nicht der Gewinn von soundsoviel Geld das entscheidende Motiv ist, sondern das Spiel als solches, die Gewaltsamkeit des von Glück zu Verzweiflung und wieder zurückgerissenen Gefühls, die gleichsam tastbare Nähe der dämonischen Mächte, die zwischen beiden entscheiden – so ist der Reiz des Abenteuers unzählige Male gar nicht der Inhalt, den es uns bietet und den man, in anderer Form geboten, vielleicht wenig beachten würde, sondern die abenteuerliche Form seines Erlebens, die Intensität und die Gespanntheit, mit der er uns gerade in diesem Falle das Leben fühlen lässt.“79
Die isolierte Wertlosigkeit des Geldes, das ja nur im Reich der Werte anhand dessen gültig wird, was es selbst im Wert bemisst, avanciert in der Isolation einzelner Coups des Hasard zum immateriellen Zeichen. In seiner Darstellung der Erfahrung eines eklatant Zufälligen erhält es allerdings eine andere, durchaus ökonomische Gültigkeit. Dieses ökonomische Untergeschoss zeugt immer noch davon, wie das Leben auch in der Wiederholungsschleife des Glücksspiels vorhanden ist. Nicht der Inhalt 78 Simmel, Das Abenteuer, S. 43. 79 Ebd., S. 53.
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des Glücksspiels – seine kulturellen Codes, seine Spielvarianten und seine materielle Bedeutung – sättigt es begrifflich. Wie der Abenteurer ist der Spieler „Beispiel des unhistorischen Menschen, des Gegenwartswesens. Er ist einerseits durch keine Vergangenheit bestimmt [...], andererseits besteht die Zukunft für ihn nicht“80. Die Kontingenz der Zukunft fällt für eine ahistorische Kontingenz unter den Spieltisch, die sich punktuell im Geld des Spielers abbildet, das nämlich nicht mit seinem Wert in Zeit und Raum, sondern mit seiner konzeptionellen Darstellungskraft bedeutet. Dies ist allerdings nur möglich, weil es noch einen Wert in Zeit und Raum besitzt. Die beständige Konfrontation mit der Inhaltsleere des Zufalls bestimmt die Identität und Intensität des Glücksspiels mit dem Geld auf eine sinnhafte Weise. Wenn also auch nicht um Geld als Profit, nicht um seinen materiellen Wert gespielt wird, so nimmt das Geld als Formation des ökonomischen Untergeschosses doch eine unverwechselbare Rolle ein. Zum Spiel gehört nicht zwangsläufig das Ziel, durch die Kontingenz eine Wirkung auf das eigene Leben oder die autobiografische Entwicklung zu erzielen, sondern lediglich die in Zeichen von eins bis sechs, zwischen Rot und Schwarz abgebildete und in Geld umgerechnete Kontingenz in ihrer zufälligen und abenteuerlichen Amplitude zu erfahren.81 Nun sollte dahingehend die Erfahrung des Spiels von der ästhetischen Darstellung einer Spielerfahrung unterschieden werden. Inwiefern ist ein Zufallsspiel, das vom Spieler als Abenteuer erfahren wird, in seiner Darstellung auch selbst ein Abenteuer, ohne dass die Unterschiede zwischen beiden missachtet werden? Beide schaffen die ihnen eigene Momenthaftigkeit, welche nach Simmel in ähnlicher Qualität besteht. Die Erfahrung ästhetischer Darstellung gilt für Simmel nämlich als eine entscheidende Analogie zum Abenteuer, schließlich ist es „das Wesen des Kunstwerkes, daß es aus den endlos kontinuierlichen Reihen der Anschaulichkeit oder des Erlebens ein Stück herausschneidet, es aus den Zusammenhängen mit allem Diesseits und Jenseits löst und ihm eine selbstgenugsame, wie von einem inneren Zentrum her bestimmte und zusammengehaltene Form gibt“82. Das Kunstwerk harmonisiert aus diesem Blinkwinkel mit dem Abenteuer, das es darstellt, sofern es als etwas, das aus dem Leben fällt, wiederum etwas darstellt, welches ebenfalls aus dem Leben fällt. Ein Verfahren, das diesen Ausschnitt im Ausschnitt akzentuiert, wird unmittelbar an die Frage nach der Verlebendigung von Akausalität im Erzählen geführt. Sie entspricht der Wiedergabe von den Zeichen des Glücksspiels. In diesem Sinne müssen
80 Simmel, Das Abenteuer, S. 42. 81 Vgl. Frisby, Fragments of Modernity, S. 66: „The fortuitousnes and uniqueness are heightened in experience. Again, anticipating another of Benjamin’s motifs, that of the gambler, Simmel records the affinity between the adventurer and the gambler. [...] The game challenges the seriousness of everyday routine.“ 82 Simmel, Das Abenteuer, S. 41.
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Untersuchungen, die unabhängig von der kulturellen, ökonomischen, sozialen, politischen oder historischen Identität von Hasardeuren das Glücksspiel beobachten, sich zugleich mit den Rechnern, dem Glücksadel, den Aufsteigern und Parvenus, den Geldjägern beschäftigen. Sie können als solche typisiert werden, weil es ihr Leben ist, das daraus besteht, vom Abenteuer unterbrochen zu werden. Die Doppelhelix aus analytischer und synthetischer Geldwirtschaft, die jenes ökonomische Untergeschoss bei Simmel erstellt hat, bildet auch ein narratologisches Untergeschoss dieser Untersuchungen mit Blick auf das Glücksspiel im erzählenden Text und seinem Verhältnis zum Erzählen der gültigen, sinnhaften Umgebung. Wenn Simmel im Abenteuer die dafür charakteristische Stellung ohne „gegenseitige Durchdringung mit den benachbarten Teilen des Lebens, durch die dieses ein Ganzes wird“ definiert und sie mit dem Bild einer „Insel im Leben“83 ausstattet, ist der Weg zum bewährtesten Insulaner der Literaturgeschichte nicht weit. Daniel Defoes Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe (1719) entwickelt in der Tat einige Aussagen zum Geldabenteuer. Peter Schnyder zufolge avanciert der Text sogar zum „bürgerlichen Abenteuerroman schlechthin“, Vertreter und Primus einer Gattung, die „mit einigem Recht auch als Paradigma für den neuen Roman überhaupt angesehen werden kann“84. Tatsächlich birgt diese Diagnose vom „bürgerlichen Abenteuerroman“ ein scheinbares Oxymoron, setzt das Abenteuer doch dezidiert auf die außergewöhnliche Erfahrung, abseits des Alltäglichen.85 Verständlich wird es in der permanenten Transformationslogik86 des kapitalistischen Individuums, dessen ökonomische Produktionsleistung auf der einen Seite ein scharfer rationaler Akt ist, dessen Alltag und dessen Leben aber nichts anderes umfasst, als mit dem Alltag zu brechen, das eigene Leben permanent zu modifizieren. Diese Geste hat mit der Reise- und Ereignisthematik des Abenteuers ein treffliches Bild gefunden.87 Die 83 Ebd. 84 Schnyder, Alea, S. 146. 85 Vgl. u.a. Klotz, Abenteuer-Romane, S. 14ff. 86 „Crusoe’s ‚original sin‘ is really the dynamic tendency of capitalism itself, whose aim is never merely to maintain the status quo, but to transform it incessantly.“ Watt, The Rise of the Novel, S. 65. 87 Allerdings gibt es auch Relativierungen hinsichtlich einer etwaigen Charakterisierung Robinsons als bürgerlichem Subjekt par exellence. Rüdiger Campe etwa beschreibt Robinson nicht als „Nachkonstrukteur der Kultur in der Natur aus dem Geist des technischen Wissen“, sondern als „Überlebenden, der aus der feindlichen Natur, der Natur des Sündenfalls, errettet wird durch unwahrscheinlicherweise gewährte Hilfen“. Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 190. Selbstverständlich kann gerade eine solche Beobachtung unterstützen, dass es sich mit Robinson um eine Figur handelt, zu deren Leben es gehört, die subjektiven Interventionsmaßnahmen absichtlich herunterzufahren, was gleichzeitig eine permanente interventionistische Entscheidung ist.
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Beziehung dahinter ist eine zwischen der Ökonomie einerseits und der Ausnahmeerscheinung von Robinsons Erfahrung auf der abenteuerlichen Insel andererseits, seinem Urlaub vom Leben, welcher einen so großen Teil des Textes einnimmt, wie er für Robinsons Lebenszeit lang gewesen ist. Die Personifizierung sowohl des irrationalen Abenteuers als auch der scheinbar rationalen ökonomischen Subjektivität überbrückt eine gewisse Inkompatibilität: Die subjektive Entscheidung kommt gerade darin zum Ausdruck, sich selbst zugunsten einer abenteuerlichen Erfahrungsdichte fallen zu lassen. Beide Momente finden ineinander statt und werden sinnvoll, weil gerade nicht zu entscheiden ist, ob sie einen Begriff der sicheren Berechnung (von Einlassungen auf das Unberechenbare) oder des erfüllenden Unberechenbaren, die jegliche Einlassung Lügen straft, bedient. Robinson Crusoe bietet daher rhetorisch eine durchgängige Opposition zwischen einer außersubjektiven Providenz („Providence“) und der subjektiven Entscheidungsfindung an, die den Protagonisten regelmäßig in Gefahr bringt („hazard“).88 Die Auseinandersetzung beginnt mit dem Konflikt in Robinsons Elternhaus – der Vater, „who was very ancient, had given me a competent share of learning, as far as house-education, and a country free-school generally goes, and design’d me for the law“89 – und zieht sich bis zu den Erlebnissen und Überlebenskämpfen auf der Insel. Symptomatisch sind nun die vom Ich-Erzähler Crusoe nachträglich angefertigten Einordnungen der Entscheidungen seines jüngeren Ichs. Der Lebensweg erhält so seine Färbung der Notwendigkeit gerade dadurch, dass einschneidende Alternativpunkte hervorgehoben und isoliert werden. Dazu gehört insbesondere die Gesinnung, zunächst der elterlichen Sicherheit, schließlich dem wirtschaftlichen Wohlstand entflohen zu sein, dessen Robinson sich bereits in jungen Jahren in Brasilien als Tabakbauer rühmen konnte, um angesichts eines lukrativen Geschäfts, das ihn in seiner Abenteuer- und Reiselust wieder auf die hohe See steuerte, einsam und verlassen auf einer Insel nahe der Orinocomündung zu stranden. Gleich zu Beginn des Buches wird dieses Inszenierungsverhältnis zwischen Notwendigkeit des Geschehenen und seiner abenteuerlichen, selbstgenügsamen Gegenwärtigkeit – d.h. gewissermaßen für die Verhandelbarkeit jenes paternalistischen Designs, das in „design’d me for the law“ steckt – reproduziert: „But as it was always my fate to choose for the worse, so I did here.“90 Die Aussage zur eigenen Entscheidungsweise positioniert sich hinterhältig zwischen Entschuldigung und Understatement und zwischen der Unauflösbarkeit von Schicksal und Entscheidung, mitsamt der Invariabilität der Vergangenheit aus 88 „But I was to have another trial for it still; and Providence, as in such cases generally it does, resolv’d to leave me entirely without excuse.“ Defoe, Robinson Crusoe, S. 10. „It was the utmost hazard, the boat came near us, but it was impossible for us to get on board, [...].“ Ebd., S. 12. 89 Ebd., S. 5. 90 Ebd., S. 15.
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der Position des Eingedenkens: Ein Mann, so könnte man resümieren, der achtundzwanzig Jahre auf einer einsamen Insel verbracht hat, wird dem Eingedenken schon immer ein Mann gewesen sein, der achtundzwanzig Jahre auf einer einsamen Insel verbracht hat. Robinson war immer an seinen Willen gekettet, der wiederum dazu bestimmt war, das nicht Wünschenswerte zu wollen. Dahingehend liegt eine brisante Ironie vor: Zwar mögen die Entscheidungen Robinsons beinah im Stile des Bildungsromans denkbar misslich gewesen sein, notwendige Irrtümer quasi, so haben sie dennoch nicht nur die Figur letztlich zu seiner absurden Erkenntnis geführt, sondern stellen auch für die Erzählung des Romans einen unverhandelbaren Status dar. Ohne die von transzendentaler literarischer Instanz sekundierten schlechten Entscheidungen gäbe es keine Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque, wie es bereits zusammenfassend im ausführlichen Titel heißt. Dafür, dass Robinson als der Robinson erzählen kann, der er ist, besteht ein unhintergehbarer Imperativ der von der Figur ungewünschten Entwicklungen. Jener Satz beinhaltet in diesem Sinne die literarische Motivation des zweckgerichteten Erzählens aufgrund der Zufälligkeit eines Abenteuers, die für die Erzählung zum notwendigen Sinn wird. Er drückt dabei zugleich die Subjektivität desjenigen Lebens aus, das auf der Insel aus diesem Leben für achtundzwanzig Jahre herausfällt und das doch in der Sinnerstellung durch den Roman, im Eingedenken eines Schicksals, stets das konsequentiell Falsche wollen gemusst zu haben, wieder in Kraft gesetzt wird. Der Satz respektiert dabei die Illusion eines willensfreien Charakters, die zum Selbstverständnis wie zur Irritation des wirtschaftenden Subjektes gehört; er attestiert ihm zusätzlich, überhaupt nur eine solche Figur sein zu können, weil er in die fundamentalen Konfliktsituationen im Text gezwungen wird, die ihm erst eine Stimme und einen narrativen Horizont verleihen, vor dessen Hintergrund ihr Leben zum Abenteuer und der Text zum Roman als neuzeitlicher Gattung werden konnte.91 Er konstituiert sich aus der Ambivalenz solcher Statements, die der Möglichkeit von Kontingenz genauso Raum verschafft, wie dem „design“ und dem „fate“, die Robinson so sehr quälen, gerade weil er sich gegen beide zur Wehr zu setzen anschickt. Mit der 91 Ian Watts einflussreiche Studie zum frühneuzeitlichen Roman betont, inwiefern Defoes berühmter Text „some of the most important tendencies of the life of his time“ beinhaltet, die ihn wiederum von generischen Abenteuerromanen unterscheiden: „[P]rofit is Crusoe’s only vocation, and the whole world is his territory.“ Watt, The Rise of the Novel, S. 67. Gerade der gegenwartsaffine Mitteilungsgestus wird damit zum Merkmal des modernen (im Sinne von neuzeitlichen) Romans. Seine neuerschaffene Individualität, die u.a. in den Privatunternehmungen des homo oeconomicus zum Ausdruck kommt, bildet geradezu die Voraussetzung für einen Erfahrungsbegriff, wie ihn Simmels Abenteuertheorie verlangt. Vgl. ebd., S. 60-65.
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unauflösbaren Parallelität beider Möglichkeiten produziert das Unberechenbare genau diese Ambivalenz, in der die Kontingenz ihr wahres Gesicht zeigt, demzufolge sie selbst offenlässt, ob sie wirklich kontingent sein kann. Die Figur Robinsons bringt Abenteurer und Unternehmer zusammen, weil sie sowohl auf die Sinnhaftigkeit der Lebenspause wie auf deren moderne Repräsentation in der Ökonomie des Geldes rekurriert: Wirtschaften und Profitieren kann ein Abenteuer sein, es kann als bloß Zufälliges erfahren werden, dessen Unmittelbarkeit sich in der Philosophie des Geldes wiederholt. Vor der entwickelten Partitur aus Kontingenzempfindung und Kontingenzverwaltung in der Moderne und durch den Ausdruck „Moderne“ liest sich Benjamins Aussage: „Die Moderne ist sich am wenigsten gleich geblieben“92 noch einmal im Zusammenhang ihrer Verbindung zur Überproduktion von Ambivalenz (und Geld). Die Schwierigkeiten, nicht etwa ein Gleiches im Sinne definitorischer Eingrenzung für den Begriff der Moderne zu finden, sondern vorzugshalber ihre Erzeugnisse, Phänomene und Diskurse in Anbetracht gegebenenfalls äquivalenter Eigenschaften und Beschaffenheiten auf ihn zurückstrahlen zu lassen, schlägt angesichts der ständigen Verschiebung und Bewegung des Terms fehl. Denn auch wenn Formen der Begriffsbildung der Moderne, ihre Differenzierung ins Epochale und Kulturelle, in Makround Mikroerscheinung, sich selbst treffen und ihrerseits dialektisch modern erscheinen, sind diese aufgrund der schwer zu realisierenden Ambivalenz im definitorischen oder analytischen Unterfangen wiederum an der Intension des Begriffes vorbeigefallen. Es ist in der Tat zweifelhaft, ob diese Ambivalenz überhaupt präzise darstellbar ist. Eine prophylaktische Skepsis wäre hier allerdings nicht ausreichend, da sie wieder nur eine skeptische Moderne denkt. Die Annäherung über das ökonomische Untergeschoss Simmels erzeugt das Bild einer Moderne, deren Natur in den relativistischen Darstellungen von Geld synekdochisch enthalten ist. Denn wenn der absolute Bewegungscharakter der Welt nicht nur beredt vom Geld vertreten wird, sondern auch an jener Unterwelt partizipiert, auf der die Basis der Moderne erst wieder lastet, findet dasjenige, was Kontingenz und Akausalität zum Schlüsselbegriff dieser Welt macht, seine funktionale Analogie. Im Robinson Crusoe ist es das „fate to choose for the worse“, dessen Logik opak bleibt. Die Unbegründbarkeit dafür, was denn nun „the worse“ hervorgebracht hat, nuanciert diese moderne Kontingenz. Der Umstand der Destabilisierung aus sich selbst heraus trifft auch das Spiel, insbesondere in der modernen Ausprägung von Spielen mit und gegen den Zufall. Die Moderne ist insbesondere dort als literarisch relevant pointiert, wo Arbitrarität, Ambivalenz und Kontingenz in Gestalt ihrer Korrespondenzen zur Akausalität durch den literarischen Text exponiert sind, wo also die moderne Wiederholung von Kontingenz im Text wiederholt wird. Dieser Bezug ergibt sich aus den poetischen Mustern der Texte selbst. Ein entsprechender Moderne-Begriff begreift den Zufall in den 92 Benjamin, Charles Baudelaire, S. 593
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Gegenständen ästhetischer – in diesem Fall literarischer und insbesondere narrativer – Auseinandersetzung gleichsam als arbiträre Betätigung sowie als Betätigung der Arbitrarität. Die Konzentration einer solchen Auseinandersetzung findet in der Aktualisierung des Zufalls: am Spieltisch statt. Bevor gezeigt wird, wie diese Aktualisierung inszeniert wird und sich selbst inszeniert, ist mit der literarischen Signifikanz des erratischen Spielbegriffs ein weiterer Player der Kontingenzproduktion zu konkretisieren.
3. Poetologie des zufälligen Spiels
B EGREIFEN
DES
S PIELS
UND
S PIELE
DES
B EGRIFFS 1
In der Frage nach einer Philosophie des Spiels kommen Geschichte und Systematik des Begriffs zusammen, sofern die Geschichte des Spiels als Geschichte seiner systematischen Umkodierungen verstanden wird, in denen lediglich die Veränderbarkeit und Variabilität, die geradezu universelle Flexibilität des Ausdrucks konstant bleibt. Dieses Potenzial des Spiels und seine umfangreiche Einsatzfähigkeit hinsichtlich teilweise stark zu unterscheidender Sachverhalte kulturellen Handelns und philosophischer Fragestellung wird auf den Überschuss des Wortes selbst zurückgeführt: „Heterogenität der Konnotationen“2 oder auch „Holismus des Spiels“3 sind in seiner Verwendung selbst angelegt und halten es strukturell so vage wie verlockend. Es wird dahingehend als Konzeption des Reizvollen wie auch des Unbestimmten eingesetzt. „Man kann sagen, der Begriff ‚Spiel‘ ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern“4: Ludwig Wittgensteins Äußerungen zum Spiel sollen auch die Sprache selbst treffen, deren nebulöse Grenzziehungen im Konzept des Spiels genauso angezeigt werden wie sie in ihm aufgehen. Mit dem Kriterium der Familienähnlichkeiten, von denen aus Analogieschlüsse des sprachlichen Bedeutens und Verstehens einerseits benannt und andererseits vorgenommen werden, ist das Spiel nicht allein als Mechanismus von Sprache markiert, sondern in Relation zu ihr gesetzt. Spiel und Sprache besitzen ihrerseits eine Familienähnlichkeit, die beide Konzepte nach den Verfahren des Spielens zusammenführt. Die Kooperation tritt im Sprachspiel zusammen und generiert einen Umstand, der die Offenheit des Wortes sowohl bedingt als auch stetig
1
Die folgende Herleitung des Spielbegriffs arbeitet mit Textbeispielen und Argumenten, die ich gestrafft bereits in einem Aufsatz verwendet habe, dort allerdings mit dem Fokus auf das Verhältnis von Spiel und Arbeit. Vgl. Thede, Arbeitsspiele.
2
Pekar, Art. „Spiel“, S. 1063.
3
Matuschek, Literarische Spieltheorie, S. 3.
4
Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 280.
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reproduziert und der in der offenen Frage: „Ist es der Mensch, der spielt, oder das Spiel selbst?“5 dokumentiert ist. Diese Frage macht auf eine wesentliche Differenzleistung von Spiel und Sprache aufmerksam und betont zusätzlich den Unterschied zwischen Spiel als theoretischem Konzept und als menschlicher (bzw. tierischer) Aktivität. Ob das Spiel nämlich in der ersten Hinsicht, etwa in Bezug auf Literatur,6 eine Metapher oder der adäquate Begriff zur Beschreibung ist, der also Literatur selbst unter die Menge der Spiele ordnet, entzieht sich einer generalisierbaren Klärung, wie auch diese spezifische Art der Undeutlichkeit zu den Konsequenzen einer Rede über das Spiel gehört. Die Verwirrung manifestiert sich, sobald man im Falle eines Votums für die metaphorische Verwendung des Spiels klären müsste, was genau in der Nebeneinanderstellung der Tätigkeit des Spielens und der Prozesse des Literarischen als tertium comparationis zu gelten hätte. Das ist sicherlich eine fallabhängige Frage, die im Angesicht der jeweiligen Verwendung zu bearbeiten wäre, aber auch dort zumindest auf experimentelle Spieldefinitionen zurückfallen würde, da das Gemeinsame der Metapher zwischen Spiel und Literatur abermals eine Bedeutung des Spiels entwerfen müsste. Die Frage nach der pragmatischen Hierarchie des Spiels drückt die kulturelle Signifikanz des Spielens als Tätigkeit sowie die begriffliche Demarkationsfläche der Offenheit, des Exaltierten, des Entgrenzten, Verführerischen, Selbstreflexiven und Zufälligen aus, wie auch ihre permanente Verhandelbarkeit, die sich einem allgemeinen definitorischen Ergebnis verschließt. Einerseits stiftet es so einen Rückzugsraum des explikatorischen Überflusses, von dem aus alles und nichts gesagt werden kann, und andererseits hilft es als Zeichen von Uneindeutigkeit am Herzen semantischer, referentieller und diskursiver Antinomien zu operieren.7 Ersteres hält als Einwand gegen die dialektischen Fähigkeiten des Begriffes her, während letzteres diese genau dort zu kompensieren weiß, wo die Benennung eines Unnennbaren provokant zur Debatte steht. Beide Argumente sind seit der Antike virulent, wobei die Tendenz zur Aussonderung des Spiels aus dem philosophischen Begriffsrepertoire als das Andere des Ernstes bis in die Neuzeit dominiert hat. Die erhebliche Kontradiktion zwischen Spiel und Ernst war durch die Strahlkraft Platons und Aristoteles’ konsolidiert. Platons Rhetorikstudie im Phaidros bezieht sich auf die Funktionalisierung kunstfertiger 5
Matuschek, Literarische Spieltheorie, S. 4.
6
Vgl. Anz/Kaulen, Einleitung, S. 1.
7
Matuschek, Literarische Spieltheorie, S. 7 und S. 22: „Mehr als nur eine Verlockung scheint es geradezu ein Zwang zu sein, daß so viele Autoren immer dann, wenn sie für das Ganze, was sie meinen und Mühe haben, bündig zu benennen, am Ende auf den Spielbegriff verfallen. Dessen Suggestionskraft vertrauen sie an, was mit keinem anderen Wort zu sagen sei.“ „Es ist die Semantik von Spiel, die zwischen Vagheit und konkreter Vorstellbarkeit die anregendste Mitte hält. [...] Auch als Universalie bleibt Spiel anschaulich.“
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Rede und Schrift mit ernster – und nicht spielerischer (paidia) – Absicht.8 Entsprechende ästhetische Muster fügen sich auch in die Mimesis-Diskussion der Politeia: „Dieses also, wie sich zeigt, ist uns ziemlich klargeworden, daß der Nachbildner nichts der Rede Wertes versteht von dem, was er nachbildet, sondern die Nachbildung eben nur ein Spiel ist und kein Ernst, [...].“9 Das Spiel wurde damit in einem engeren Sinne als rhetorischer und ästhetischer Begriff tradiert, als der er auch bei Schiller im 18. Jahrhundert wiederkehrt, wenn auch nur unbefriedigend rehabilitiert. In der Ästhetischen Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) fällt der berühmte Chiasmus zur Charakterisierung von Mensch und Spiel als Verkündung der anthropologischen Harmonisierung. Die Einsicht, dass der Mensch nur dort spielt, „wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist,“ aber auch „nur da ganz Mensch“ ist, „wo er spielt“10, ist weniger eine Neubewertung eines alten Begriffs, als eine Taufe des Wortes. Der Nominalismus führt weiter fort von einem Strang suggestiver Entgrenzung, hin zu einer Kompatibilität von Freiheit und dem Verstand verbundener Handlung.11 Spiel wird zum Begriff der Vermittlung antagonistischer Kräfte, die durch das Voranschreiten des Vernünftigen in Gang kommt und sich in ästhetischen Sachlagen entfaltet. Das Moment der Vereinbarkeit, und nicht das Spiel, stellt dabei das Kriterium dar. Die Kunstphilosophie sah sich im zwielichtigen Konflikt, das Notwendige des künstlerischen Werks, allen voran den poetischen Gehalt und seine bildende Komponente, mit der freien schöpferischen Komposition in Einklang zu bringen, die ebenfalls im Werk zum Ausdruck kommt. Der Gedanke, nach dem das Spiel im besten Fall aus freien Stücken das Notwendige ermöglicht und das Bestehende und Verfügbare in seiner idealen Gestalt realisiert, lässt den Schiller-
8
Platon, Phaidros, 276b: „Sage mir aber dieses, ob ein verständiger Landmann den Samen, den er vor andern pflegen und Früchte von ihm haben möchte, recht eigens im heißen Sommer in einem Adonisgärtchen bauen und sich freuen wird, ihn in acht Tagen schön in die Höhe geschossen zu sehen, oder ob er dieses nur als ein Spiel und bei festlichen Gelegenheiten tun wird, wenn er es denn tut; jenen aber, womit es ihm Ernst ist, nach den Vorschriften der Kunst des Landbaues in den gehörigen Boden säen und zufrieden sein, wenn, was er gesäet, im achten Monat seine Vollkommenheit erlangt?“ Vgl. auch ebd., 276e277a. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1176b: „Die Glückseligkeit besteht mithin nicht in den Vergnügungen, nicht in Spiel und Scherz. Es wäre ja ungereimt, wenn unsere Endbestimmung Spiel und Scherz wäre, und wenn die Mühe und das Leid eines ganzen Lebens das bloße Spiel zum Ziel hätten.“ Vgl. auch Aichele, Philosophie als Spiel, S. 39ff.
9
Platon, Politeia, 602b.
10 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 614. 11 Vgl. Pias, Falsches Spiel, S. 44. Vgl. auch Jahn/Schilling, Einleitung, S. 13, wo auf das Primat der Freiheit im Spiel hingewiesen wird, welches in der Ästhetik Kants und Schillers den Phänomenen Kontingenz und Zufall vorgezogen wird.
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schen Spieltrieb als Kompromisslösung einer Kunstproduktion erscheinen, die zwischen poetischer Funktionalität und unabhängigem Genie oszilliert. Der Zufall wird darin im Reich der Notwendigkeiten festgesetzt: „Die Vernunft stellt aus transzendentalen Gründen die Forderung auf: es soll eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Sachtrieb, das heißt, ein Spieltrieb sein, weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Notwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit den Begriff der Menschheit vollendet.“12 [Hervorh. S.T.]
Schiller entnimmt dem Spielbegriff einen Lehensdienst zur Erhellung und in seiner kompensierenden Ambiguität auch Verschleierung ästhetischer Erfahrung als Akt der Vernunft. Die modale Vereinigung des Zufälligen mit dem Notwendigen zahlt den Preis eines ausgesetzten Zufalls, dessen Regulation nur die eine Seite der Medaille vom Spielen beachtet. Erst in Abgrenzung dazu, nämlich in der Ästhetik der Frühromantik, wird Spiel auch als Begriff uneindeutiger Festlegungen wieder aufgewertet. William Lovells frivole Begrüßung der eigenen Spielleidenschaft zeugt noch im ausgehenden 18. Jahrhundert von mehr als zaghaften Rekonfigurationen ludischer Empathie. Just von der Ästhetik um 1800 wird das Konzept durch die Philosophien der Fundamentalontologie, Destruktion und Dekonstruktion ins 20. Jahrhundert weitergereicht.13 Die entscheidenden Hinweise stammen dabei von Friedrich Schlegel, der im Gespräch über die Poesie das dialogische Rahmenschema zur Diskussion und Verhandlung des Themas in Szene setzt. Die Präsenz der Vernunft im teleologischen Modell Schillers wird in der Zusammenkunft romantischer Gemütlichkeit verlassen; stattdessen setzt der Text auf das produktive Nebeneinander von pluralistischen poetologischen Ansätzen. Schon damit wird der Weg formal und propositional fort von einer ästhetischen Positionalität vorgegeben, wie sie Schiller repräsentiert, hin zur Relationalität, die das adäquate Merkmal kunsttheoretischer Debatten wie auch des Kunstwerks selbst sein soll. Dieser Modus zeugt einerseits von einer transzendentalpoetischen Struktur auch in ästhetisch-philosophischen Texten, innerhalb derer sich aber auch performativ von einem Ausgleich zwischen Formtrieb und Sachtrieb abgewandt wird. Antonio bemerkt mit Blick auf Spinoza, inwiefern Sache und Form nicht mehr in den Klimax ihres vernünftigen Schulterschlusses streben müssen, sondern auf der einen, sinnlichen Ebene direkt zugänglich sein können, während die andere, zerebrale Dimension eine mysteriöse Leerstelle behalten darf: „[J]edes Werk des Genies sei
12 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 610. 13 Matuschek, Literarische Spieltheorie, S. 20: „Spiel wird das Losungswort für eine Zeit, in der die Begriffsfestigkeit von Wahrheit und Wirklichkeit vergangen und der Instabilität des Möglichen gewichen ist.“ Vgl. auch ebd., S. 5-10, S. 17-19 und S. 215-250.
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zwar dem Auge klar, dem Verstande aber geheim.“14 Ludoviko hatte zuvor Spinoza als „den Anfang und das Ende aller Fantasie“15 gefeiert, womit das ideelle Schlagwort für einen Zugang zur eingeschränkten Verständlichkeit genannt ist. Dieses Unverständliche bezieht sich schließlich auf den „tiefen unendlichen Sinn“16, den anzuzeigen bzw. zu bezeichnen die Maxime romantischer Poesie sein soll. Die Unendlichkeit des Deutens und die darin angenommene Hypertextualität bilden die Grundlage der poetisierten Welt, die schließlich mit der Schlüsseleigenschaft des Spiels überblendet wird: „Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk.“17 Die Charakterisierung setzt mit der Ewigkeit des Sich-Selbst-Bildens auf permanent mögliche Rekonfigurationen, die zum einschlägigen ästhetischen Mechanismus avancieren. Sie emanzipieren das Kunstwerk von seinem tendenziell auch bei Schiller noch heteronomen Korsett, was mit dem Spiel nicht nur illustriert, sondern als ein Modus stetiger Variabilität und Mobilität ausgewiesen wird. Das Kunstwerk (und die Welt) folgt nicht nur einer Poetologie des Spiels, sondern es fällt mit der Agenda des Spielens zusammen. Der Begriff wird fortan zum Mitspieler in der literaturtheoretischen Moderne. Die eine Seite der literaturtheoretischen Potenz vom Spiel siedelt in dieser systematischen Aufstellung, die in Form seines Bedeutungsanspruchs sich auch in der Diversität und im Methodenpluralismus der Literaturwissenschaften seit den 1990erJahren als anwendbar erwiesen hat.18 Der epistemologisch fragwürdige und befragende Charakter des Spiels ist darin auf die Struktur des literarischen Textes in seiner selbstreflexiven sprachlichen Ausprägung relevant, wohingegen die Festlegbarkeit vom Spielen als selbstgenügsamer Tätigkeit sich in Ideen über konstitutive Prozesse des Literarischen zwischen Produktion, Interaktion und Rezeption eingemeindet hat. Auf der anderen Seite tritt die anthropologische und kulturwissenschaftliche Anschlussfähigkeit hinzu. Die einschlägigen Definitionsversuche des kulturellen Phänomens vom Spielen haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihren immensen Wirkungen hinsichtlich der Behandlung des Begriffs eine weitere wesentliche Zäsur gezeitigt, wobei nach wie vor Johan Huizingas Pionierarbeit Homo ludens (1938) und Roger Caillois’ daran anschließende Verfeinerung Les jeux et les hommes (1958) die aussagekräftigen Beobachtungen enthalten. 14 Schlegel, Gespräch über die Poesie, S. 322. 15 Ebd., S. 317. 16 Ebd., S. 323. 17 Ebd., S. 324. 18 Vgl. hierzu Anz/Kaulen (Hrsg.), Literatur als Spiel. Thomas Anz und Heinrich Kaulen zeigen mit ihrem Sammelband, wie umfänglich der Term auch hinsichtlich aktueller und heterogener theoretischer Entwicklungen und einzeldisziplinärer bzw. methodischer Spezialisierung sein kann.
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Huizingas kulturanthropologische Spieltheorie, nach der Spiel nicht als Element in oder von Kultur verstanden werden soll, sondern vielmehr als ihr Ursprung19, insofern „daß Kultur in Form von Spiel entsteht, daß Kultur anfänglich gespielt wird“20, arbeitet primär mit Wettkampfverhältnissen, aus denen heraus jeweilige kulturelle Kanäle nach und nach angelegt wurden, unter anderem auch Kunst und Literatur.21 An späterer Stelle konkretisiert er: „Kultur beginnt nicht als Spiel und nicht aus Spiel, vielmehr in Spiel. Die antithetische und agonistische Grundlage der Kultur ist im Spiel gegeben, das älter und ursprünglicher ist als alle Kultur.“22 Diese Überlegungen sind von einem stattlichen formalen Eigenschaftskatalog des Spiels eingerahmt, wonach es als „freie Handlung“ zu begreifen ist, „die als ,nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt abheben.“23
19 Karl Eibl merkt dankenswerterweise an, dass der deutsche Untertitel vom Ursprung „irreführend“ sei, da es Huizinga nicht um eine „kausalgenetisch[e]“ Reihung von Spiel auf Kultur ginge, sondern das spielerische Element in kultureller Betätigung. Dieser Fokus ist im Original (Proeve eener bepaling van het spel-element der cultuur) auch vorhanden. Eibl, Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 12. Dennoch ist es kaum übersehbar, dass Huizinga eine Argumentation entwickelt, in der sich nicht allein ein spielerischer Aspekt in den heterogensten Beschäftigungen des Menschen identifizieren ließe, sondern die die Ausprägung und Evolution dieser Beschäftigungen ganz und gar der spielerischen Neigung des Menschen zuschlagen. Auf der Höhe dieses Zusammenhangs sei auch meine folgende Argumentation und Beschreibung von Huizingas Ursprung der Kultur im Spiel zu verstehen. 20 Huizinga, Homo ludens, S. 57. 21 Da Huizinga den rituellen und liturgischen Charakter zuungunsten ästhetischer Überlegungen für seine Theorie hoch einstuft, wird eine Ästhetik des Spiels im engeren Sinne nicht im Homo ludens verhandelt. Vgl. ebd., S. 134-138. Einzig die Äußerungen im Unterkapitel Dichtersprache ist Spielsprache entwickeln eine kurze Ästhetik des Rätsels (und verwenden damit hermeneutische Überlegungen), die monokausale Zusammenhänge zwischen Wettbewerb und sprachlicher Chiffrierung herstellen. Vgl. ebd., S. 148ff. 22 Ebd., S. 88. 23 Ebd., S. 22.
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Dem Versuchscharakter entsprechend, ein so ungedecktes Experiment wie das der Spieldefinition zu wagen, zollt dieser Wurf Tribut, indem er über Disjunktionen und adverbiale „trotzdem“-Wendungen eingesteht, dass klare Bezüge des Gegenstandes nur mit Einschränkungen haftbar gemacht werden können. Als leitende Linie zieht sich gleichwohl das Abgrenzungsverhalten des Spielens durch diese Definition, das sich dementsprechend als belastbar erwiesen hat. Die Eigenständigkeit des Spiels „außerhalb des gewöhnlichen Lebens“, ohne „materielles Interesse“, „innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums“ betont jene Zweckentbundenheit und Ineffizienz bzw. Unproduktivität des Spiels, mit der es als selbst vorgenommener Ausschnitt aus der Positivität einer wie auch immer gesetzten Vorstellung von Alltag, Gewöhnlichkeit oder Realität gefasst wird. Diese parenthetische Funktion des Spiels ist durch ein aktives Vermögen bestimmt, derartige Einschnitte selbstständig zu konstituieren und zu provozieren, und dabei die Neigung und die Gefahr, jene Positivität zu absorbieren, unter Rücksichtnahme auf etwaige Rückkoppelungseffekte in deren Richtung, auszudrücken. Eine Veranschaulichung liefert Huizinga kurz zuvor, indem er den Spielverderber vom Falschspieler unterscheidet, der das qualitativ geringere Ärgernis darstelle. Während dieser zwar die Regeln verletzt, die Abgrenzung des Spiels aber unangetastet lässt, geradezu für sein falsches Spiel auf den Respekt ihr gegenüber angewiesen ist, zerstört jener das Eingefasste und die Einlassung auf das Spiel. Der Spielverderber weist auf die verschwommenen Ränder des Spiels und zwingt damit, diese zu überschreiten und darin zu vernichten.24 Eine bis zur Ontologie reichende Behandlung des Spiels fundiert seinen autonomen und separatistischen Seinsausschnitt mittels der Qualität seiner Gefährdung, die sich bemerkenswerterweise als simple Identifizierung ihres ontologischen Bereichs entpuppt. Das Ende des Spiels fiele so mit seiner Anerkennung als Spiel zusammen. Eine Reflexion des Gegenstandes verdirbt seinen ontologischen Status. Caillois – der die souveräne ontologische Stellung des Spiels aufgreift25 – bemängelt Huizingas Konzentration auf die Spiele als Tätigkeit. Seine strikte Suche nach Kriterien hätte sich allein durch eine Begrenzung des Spiels auf ein aktionsgeladenes Ursprungsvermögen des Menschen gespeist, welches in diesem Zustand nicht hinreichend gekennzeichnet und differenziert würde. Gerade das Primat von Wettkampfspielen simplifiziere und reduziere den Begriff. Insofern widmet sich Caillois noch einmal den Spielen als Erfahrung und schlägt eine provisorische Unterteilung in durch Regeln geleitete und in Partien begrenzte Formen des anstrengungs-, geschickund geduldbestimmten ludus, sowie in die fantasiebetonte paidia vor. Ludus aktiviert
24 Vgl. ebd., S. 20. 25 Caillois spitzt das Kriterium der Abgrenzung auf Aspekte einer von der Wirklichkeit abgetrennten und fiktiven Betätigung („séparée“ und „fictive“), sowie als genuin unproduktives Geschehen („improductive“) zu: Caillois, Les jeux et les hommes, S. 43.
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die Felder der (Wett-)Kampfspiele bzw. des gegenseitigen Messens (agôn) und diejenigen des Zufalls (alea), während paidia zu Rollen- und Fantasiespielen (mimicry) und ebenso kryptischen wie ihrerseits entgrenzenden Rauschspielen (ilinx) tendiert. Alle Kategorien sind flexibel; Mischformen werden angenommen und diskutiert.26 Der Vorteil von Caillois’ Typologie liegt aber nicht nur in der nunmehr unterteilenden Möglichkeit, hinsichtlich distinkter Spiele auf die durch sie aktivierten kulturellen, sozialen, mithin auch politischen, ökonomischen, überhaupt institutionellen, psychologischen und diskursiven Verfahren und Einbindungen verweisen zu können, sondern insbesondere in der Tragweite eines Anerkennens und Theoretisierens der Heterogenität in der Rede vom Spielen. Dieses begriffliche Inventar bemerkt abermals das Register an rubrizierenden Möglichkeiten des Spiels in Gestalt seiner Bedeutungsverschwendung, hinter der sich tendenziell viele kategorisch unterschiedliche Extensionen verbergen. Die fragwürdige, zumindest explizit zu differenzierende Zuständigkeit des Spiels wird dabei von der Bündelung solcher kontrastartigen Tendenzen in nur einer Vokabel konterkariert: Eine Betonung vielfältiger Möglichkeiten, inwiefern das Spiel eigentlich nicht bedeutet, ist nicht exklusiv in seinem Holismus gegeben, sondern wird ebenso in seiner erzeugten Polysemie deutlich. Die Bedeutung seiner Einsatzfähigkeit als rein willkürliche Setzung ist relativiert und im konkreten Einsatz noch immer nicht einer Präzision und Konkretion, sondern eher der Zurücknahme, mithin der Demarkation des Ungenauen zugutezuhalten. Das philosophische Instrument des Spiels unterrichtet nicht über eine Eigenschaft von etwas, sondern immer nur über die eigene Offenheit und Defizienz: Eine Station, von der aus – ob metaphorisch oder nicht – Offenheiten und Defizienzen bestimmt werden können. Einen auch theoriepolitisch interessanten Vorschlag jenseits des kulturwissenschaftlich fokussierten Aktionspotenzials vom Spiel stellt Ruth Sondereggers zur Jahrtausendwende erschienene Dissertationsschrift Für eine Ästhetik des Spiels dar, die inmitten dekonstruktivistischer und hermeneutischer Widerstreite eine Abstraktion über das Spiel anstrebt. Das bereits vorliegende Amalgam stellt dabei Schlegels Ästhetik des Spiels dar: „Der von mir vorgeschlagene Spielbegriff macht – ästhetisch gesehen – nicht nur auf die der Hermeneutik analogen Probleme der Dekonstruktion aufmerksam; vielmehr wird über einen mit Schlegel rekonstruierten Spielbegriff auch die Berechtigung beider Positionen ebenso sichtbar wie die Tatsache, daß und warum hermeneutische und dekonstruktive (Anti-)Ästhetiken gleichermaßen nicht in der Lage sind, der autonomen Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen Rechnung zu tragen.“27
26 Vgl. ebd., insbes. S. 47-75 und S. 92. 27 Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels, S. 10.
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Das Spiel wird hier weder als Vehikel von Verstehen oder Nicht-Verstehen eingesetzt, noch als Negation einer Ästhetik, die sich an Verstehen oder Nicht-Verstehen orientiert, sondern als eigentliche Gestalt ästhetischer Erfahrung, angesichts derer Fragen nach (Nicht-)Erkenntnis und (Nicht-)Verständnis überhaupt zurückgewiesen werden können: „Die ästhetische Erfahrung endet weder beim Verstehen noch beim Nichtverstehen [...]. Die ästhetische Erfahrung endet gar nicht. Ihr Spiel ist ein strukturell unendliches.“28 Sondereggers Argumentation mündet in einer radikalen Autonomieästhetik, nach der strikt zwischen ästhetischer Erfahrung und der Reflexion auf diese Erfahrung unterschieden werden muss. Die Differenz dient der Unterminierung sowohl traditioneller als auch zeitgenössischer ästhetischer Positionen, die eine eingefrorene Festsetzung der ästhetischen Erfahrung anstreben – sei diese als Relation des Verstehens oder als Relation des Nicht-Verstehen-Könnens festgehalten. Gerade die Unendlichkeit des Spiels verfertigt eine Autonomie der Kunst, derzufolge eine „wechselseitige Souveränität“29 zwischen ästhetischer und nicht-ästhetischer Sphäre fassbar sei und jede Fremdbetrachtung der einen Seite auf die andere eine entstellende bleiben muss. Der Kniff besteht darin, dass Kunst nicht allein in Abgrenzung zur außerästhetischen Epistemologie autonom, sondern allein in dieser Abgrenzung und unter Einbezug dieser Abgrenzung als autonomem Akt gleichsam souverän sein kann. Dieser Schritt hinter die Kulissen der Kunstautonomie erzwingt mit dem Versuch, eine ästhetische Erfahrung außerhalb der ästhetischen Erfahrung zu theoretisieren – sie nämlich als philosophischen Vorschlag vorzubringen –, einen Spielbegriff, der als Konstrukt einer ins Unendliche gelangenden Selbstbedingung dient. Plausibel wird ein solcher Anspruch mit Blick auf die automatische Prozessualität des Spiels, die aus eigener Autorität heraus wirkt und eine selbstreflexive Instandsetzung – das Spiel des Spiels – legitimiert. Das unendliche ästhetische Spiel ist akausal, da es nach seiner Sprengung zeitlicher und semantischer Begrenzung jenseits der Zusammenhänge von Verstehen oder Nicht-Verstehen platziert ist. Es ist persistent, weil es sich nicht erklären muss und auch eine Negation der Erklärung nicht den herkömmlichen Platz des Erklärens wiederum hinterrücks besetzt. Es lohnt, hier ein weiteres Mal an Wittgensteins Credo vom „Begriff mit verschwommenen Rändern“ zu erinnern, das sich sowohl auf die Selbstbezüglichkeit des Spiels als auch auf seinen topologischen Drang der diffusen Grenzbestimmung bezieht. Solche auf Unabhängigkeit, aber ebenso Reflexion und Rückkoppelung geeichten Dispositionen haben dazu geführt, dass deren Bestimmungen ex negativo – lange Zeit eine favorisierte Möglichkeit, das Spiel zu greifen – sich inzwischen zusätzlich verkompliziert haben.30 Dahingehend wird die terminologische Ineffizienz
28 Ebd., S. 14. 29 Ebd., S. 359. Vgl. auch S. 342f. 30 Vgl. Malaby, Anthropology and Play und Motte, Playing in Earnest.
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des Spiels interessant, nach der sich das Problem ergibt, warum es als dergestalt ungenaues Objekt doch in seiner hohen Frequenz implizit als praktikabel ausgewiesen ist: Ein Problem, welches die Ökonomie des Spiels thematisiert. Das Verhältnis zwischen Ökonomie und Spiel basiert darauf, dass Spielen mit gewissem Recht als Gegentendenz zu Produktivität und Effektivität sowie als Aktant des Überflusses kursiert. Programmatisch imaginiert Johannes Bilstein als Urszene des Spiels den „überflüssige[n] und nutzlose[n] Hüpfer“ eines Kindes, der „die Ausgangs-Bewegung allen Spielens sein“ könnte, und stellt den „Zusammenhang einer gnadenlosen Ökonomie des Lebens“ her, nur um diese als Zustand einer Kontradiktion im nächsten Nebensatz zu entlarven: Der Sprung des Kindes ist „[e]in fröhlichnutzloses Spiel sozusagen, das sich eben den Zwängen der Ökonomie entzieht, dem es eben gar nicht darum geht, möglichst effektiv von a nach b zu kommen.“31 Wohlgemerkt: Eine nutzlose, unproduktive Ökonomie bleibt eine Ökonomie, ein Ordnungsmuster, die ausschließlich von Seiten einer bereits interpretierenden Perspektive, etwa einem ideologischen Produktivismus, nicht optimal organisiert sein könnte. Der Hüpfer des Kindes als Spiel ist nur von außerhalb einer spielerischen Aktivität verschwenderisch. Im Spiel ist er hingegen allein durch die Verschwendung von Bewegung erfüllt – ein Punkt, an dem sich die Phänomene Literatur, Spiel und Geld/Ökonomie treffen, wenn als ihnen Gemeinsames der Überfluss im Sinne des Verschwendeten bzw. des Nicht-Gedeckten und darin der Fiktion identifiziert wird, wie Jochen Hörisch statuiert: „Dichtung ist eben Fiktion: sie muß nicht durch wirkliche Ereignisse oder durch Realien gedeckt sein.“32 Pragmatik und Bedeutung des konzeptuellen Hüpfers vom Spiel können auch immer eine Bedeutungsverschwendung und provokative Ungenauigkeit sein. Insofern gibt es im strengen Sinne kein „other of play“: Selbst wenn ein rein ökonomisches Interesse den Spielbegriff negieren würde, negiert das Spiel nicht die Vor- und Zuhandenheit dieser Interessen, sondern greift sie vielmehr auf, konterkariert sie und gliedert sie wiederum in seine eigene Ökonomie ein, so ungeordnet diese auch sein mag. Mit den Ausschlusstermen des Spiels – Produktivität/Ökonomie, Ernst, Arbeit, Realität etc. – und den spielerischen Verfahren mit solchen Termen ist letztlich eine einschlägige literarische Projektionsmöglichkeit hergestellt.
F IKTIONSSPIELE Der soziokulturelle Anspruch Huizingas und Caillois’ und die spielerisch unendliche ästhetische Erfahrung Sondereggers lassen unter Rücksichtnahme ihrer Erkenntnisse
31 Bilstein, Spiel-Glück und Glücks-Spiele, S. 69. 32 Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 20. Vgl. auch ebd., S. 95.
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Platz für ein Drittes, nämlich eine Poetologie des Spiels, mit der auf genuin literaturtheoretische Instrumentalisierungen des Spiels gewiesen werden kann. Eine zentrale Einsicht für diesen Ansatz liefert zunächst eine antithetische Spielfunktion, die als Fiktions- und Produktionsmaßstab des Literarischen nachzuzeichnen ist. Im kleinen Vortrag Der Dichter und das Phantasieren (1908) behauptet Freud: „Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit.“33 Anhand dieser Feststellung entwickelt er ein auf die mimicry des Kinderspiels gesetztes und im tagträumerischen Fantasieren des Erwachsenen kontinuierliches Analogon zwischen Spiel und literarischem Produktionsprozess. Zugänglich wird die Analogie zunächst anhand der ereignisdrängenden und figurenpsychologischen Wunscherfüllung in der Genreliteratur. Da es Freud um die Frage nach literarischer Inspiration und Stoffentwicklung geht, bleibt die Anwendbarkeit zwar auf motivische Normativität beschränkt, die tendenziell auch den realistischen Roman bürgerlich-psychologischer Provenienz des 19. Jahrhunderts fokussiert,34 liefert aber gleichsam einen bis heute anschlussfähigen Lösungsvorschlag zur Fiktionalität: Das Fantasiespiel des Kindes (und des erwachsenen Tagträumers) ist in seiner manipulativen Modellierung von Realitätserfahrungen genuiner Bestandteil des Literarischen, im engeren Sinne des kolportierenden narrativen Aktes. Diese Beobachtung kann freilich jener eisglatten Grundlage des Gegenbezuges zu einer ihrerseits nicht leicht zu klärenden „Wirklichkeit“ kaum entkommen, auf den bisweilen als abgesetzter Rahmen für den Spielprozess vertraut werden muss. Kendall Walton nimmt in Mimesis as Make-Believe (1990) ähnliche Analogien zwischen Tagtraum und Fiktion für seine analytisch-philosophische Investigation des Themas wieder auf und überträgt diese auf universal-ästhetische Begegnungen, in der unabhängig von Medium und Form mit den Objekten der Kunst – von der Spielzeugpuppe über den Roman bis zum abstrakten Gemälde – „games of make-believe“ gespielt würden.35 Repräsentation, Mimesis und Fiktion bilden darin ein semantisch bis zur Verwechslung ineinandergreifendes Erfahrungsspektrum der Kunstrezeption, welches sich durch die Trennung außerästhetischer „Wahrheiten“ von fiktionalen bzw. ästhetischen Tatsachen („fictional truths“36) legitimiert. Die Trennung findet per Selbstregulation der Spiele statt. Der theoretische Mehrwert des Spiels ergibt sich aus seiner Tendenz des Abtrennens eines je nach Spezifikation besonderen, nicht-normativen Bezugssystems zu einem anderen allgemeinen, der Besonderheit entrückten Gebildes. Fiktion wird zum Raum, den die mimicry von einem anderen Erfahrungsausschnitt abtrennt, in dem die 33 Freud, Der Dichter und das Phantasieren, S. 171. 34 Vgl. ebd., S. 177. 35 Vgl. Walton, Mimesis as Make-Believe, v.a. S. 13-21, S. 35-43 und S. 54-57. Vgl. zu dem Komplex auch: Zipfel, Zeichen, Phantasie und Spiel als poetogene Strukturen literarischer Fiktion, S. 71-76. 36 Walton, Mimesis as Make-Believe, S. 35.
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autolegitimen Funktionen des Spiels nicht herrschen. Die Unterbrechung der Fiktion müsste von daher dem Spielverderben gleichen, indem der „Zauberkreis des Spiels“37 reflektiert, darin expliziert und eindeutig markiert wird. Allerdings haben formale Experimente gezeigt, etwa das der Autofiktion, inwiefern eine solche Reflexion die ästhetische Erfahrung keineswegs zusammenbrechen lässt, sondern vielmehr neu bestätigt. Auch wenn analog zum Spiel die alleinige ontologische Markierung formal noch Teil des Prozesses vom Spiel sein kann, verlässt sich eine solche Überlegung immer auf eine mehr oder weniger intendierte Aussetzung außer-ludischer bzw. außer-fiktionaler Normen. Die Abtrennung wäre nicht zwingend nicht-bewusst, was die Rede von der Willing Suspension of Disbelief bereits zur Kenntnis genommen hat. Deren Schwippschwager, die Games of Make-Believe, verstärkt die Mechanismen, indem die Formen des Kontrollverlusts von einer Konnotation der freiwilligen Einwilligung in eine Veränderung der epistemologischen Kategorien zu einer Art des Seins aufgewertet werden.38 Obgleich Fiktionalität in Analogie zum Spiel ein produktives Surplus gefunden zu haben scheint, bleibt es fragwürdig, inwiefern zwei so umstrittene und streitende Konzepte wie Spiel und Fiktion sich gegenseitig befruchten können. Die alleinige Feststellung einer Schnittmenge läuft Gefahr, den einen schimärischen Erfahrungsbereich mit verschwommenen Rändern durch den anderen zu substituieren.39 Waltons Fiktionstheorie geht letztlich vom Menschen als spielerischem Akteur aus. So immersiv, unkontrollierbar und kontingent ein jeweiliges Spiel auch sein mag, so sehr wird es als Phänomen des menschlichen Bewusstseins angeboten, von dem aus mehr oder weniger kontrolliert die Kontrolle abgegeben wird. Hans-Georg 37 Huizinga, Homo ludens, S. 20. 38 Vgl. Walton, Mimesis as Make-Believe, S. 21ff. Walton redet von sogenannten „prompters“, die „imaginations“ induzieren, bleibt aber gegenüber der Frage nach dem Zwangsstatus der „imaginations“ und schließlich auch der „games of make-believe“ vage. 39 In zugleich apokryph wie häretisch analytischem Ansatz geht dahingehend Remigius Bunia mit seinem Vorschlag vor, Fiktionen als Entfaltung einer Faltung, als Objekte eines jeweiligen „Faltungsmanagement[s]“ und darin als „Unterscheidungen zu verstehen, die das Unterschiedene gleichzeitig als Identisches kennzeichnen.“ Bunia, Faltungen, S. 98. Bunia arbeitet u.a. mit Waltons Buch an seinem Fiktionsbegriff. Vgl. ebd. S. 30ff. Seine Einzelfällen vorbehaltene Theorie bestreitet, dass fiktionale Konstrukte anhand einer Struktur als Fiktionen ersichtlich werden können, verabschiedet sich aber nicht von dem Anspruch, Fiktionalität dennoch zu beschreiben: „Fiktion ist eine Faltung, insofern es aufgrund von Eigenschaften eines Textes keinerlei zwingende Gründe gibt, ihn als fiktionalen oder als nicht-fiktionalen Text einzuordnen.“ Ebd., S. 99. Es wäre interessant gewesen zu sehen, inwiefern Bunia auch das Spiel als Faltung behandeln würde. Ein Kapitel unter diesem Titel verwendet den Ausdruck allerdings eher zweckorientiert zur Feststellung von narrativer Ordnungskritik, etwa in Julio Cortázars Rayuela. Vgl. ebd., S. 348ff.
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Gadamer hat dieser produktions- und rezeptionsästhetischen Poetologie des Spiels eine Alternative beigestellt, die gegen Freud den Akzent auf das Spiel als Akteur des Spielens verschiebt. Das Spiel selbst ist nicht auf seinen materiellen Regel- und Bewegungskorpus begrenzt, sondern zieht seine souveränen Grenzen selbsttätig, wodurch die Gesamtheit der Spielerfahrung unter seine Seinsweise fällt. Die ästhetische Gültigkeit dessen besteht in der vom Spiel extrahierten Seinsweise des Kunstwerkes, das nicht mehr gegenständlich in eine interaktive Subjektrelation tritt, sondern eine ontologische Einfassung bedeutet: „Wenn wir im Zusammenhang der Erfahrung der Kunst von Spiel sprechen, so meint Spiel nicht das Verhalten oder gar die Gemütsverfassung des Schaffenden oder Genießenden und überhaupt nicht die Freiheit einer Subjektivität, die sich im Spielen betätigt, sondern die Seinsweise des Kunstwerkes selbst.“40
Der subalterne Status des Subjekts in der Medialität des Spiels, das sich menschlicher Wirte bedient, führt weniger zu einer Unterwerfung des Spielenden als zu einer Unabhängigkeit von ihm: „Das Subjekt des Spieles sind nicht die Spieler, sondern das Spiel kommt durch die Spielenden lediglich zur Darstellung.“41 Es kristallisiert sich eine mediale Selbstgenügsamkeit des Spiels, dessen Automatik auf ein „Primat des Spieles gegenüber dem Bewußtsein des Spielenden“ angewiesen ist, nach der sich das „Hin und Her der Spielbewegung wie von selbst ergibt.“42 Die zweck- und ziellose Hin- und Herbewegung akzentuiert eine spontane Instandsetzung ohne äußere Einwirkung und Anbindung. Diese Einschätzung der Entsubjektivierung ebnet den Weg apsychologischer Spielbegriffe, die den lusorischen Status einer automatischen, nicht-intentionalen Abgrenzung von semantisch distinkt kodierten Räumen theoretisierbar macht. Die Abgeschlossenheit des Spieles ist von den Zwängen eines außerludischen Bewusstseins nicht nur befreit, sondern konstituiert ihrerseits einen Ort, an dem dieses Bewusstsein als solches aktiv ausgesetzt ist, indem die Instrumente einer nicht-spielenden Logik – Subjektkontrolle, Wille, Psyche – interventionsunfähig sind: „[A]lles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird.“43 Der Erfahrungsapparat des Spielers wird kolonisiert, der Mensch schließlich assimiliert:
40 Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), S. 97. 41 Ebd., S. 98. 42 Ebd., S. 100. 43 Ebd., S. 101f.
130 | G RUNDRISSE „Der Spielende erfährt das Spiel als eine ihn übertreffende Wirklichkeit. Das gilt erst recht dort, wo es als eine solche Wirklichkeit selber ‚gemeint‘ wird – und das ist dort der Fall, wo das Spiel als Darstellung für den Zuschauer erscheint.“44
Ein performatives „Gespieltwerden“ gehört insofern auch zum Spiel, als es seine ontologische Grenzziehung und Einpressung aus sich selbst heraus markiert. Weniger die tatsächliche Grenze als der Bestand eines Innen und Außen vom Spiel liegt seiner Epistemologie zugrunde. Das Spiel beinhaltet darin auch ein Moment der Darstellung, wodurch die Darstellung des Spiels selbst immer auch in eine Repräsentation von Mustern des Darstellens fließt. Die ästhetische Darstellung des Spiels ist bereits das Spiel im ästhetischen Spiel, wodurch sich ein Reflexionskatalog öffnet, der im Spielraum die Techniken seiner Repräsentationskonditionen offenbart. Gadamers Spieltheorie bringt insoweit Komplexität in den Fall des Spielens, als sie auch innerhalb der menschlichen und kulturellen Aktivität die systematische Eigengesetzlichkeit des Begriffs mit seinem „tiefen unendlichen Sinn“ (um noch einmal Schlegel zu wiederholen) miteinbezieht. Der Vorteil eines Schlaglichts auf das Spiel, das auch in der Aktivität des Menschen autonom bleibt, besteht in der Möglichkeit, die sinnstreuenden Mechanismen als Rezeptionswirkungen des Spielers zu verstehen, die ihn von der Profanität einer alltäglichen Ordnung trennen. Das Casino und alea erreichen eine solche Separation und Assimiliation über die exklusiven Einbrüche des Zufalls. Nicht eine gesteuerte Immersion und Imagination, keine freiwillige Delegierung intersubjektiver Handlungen an spontanistische Spielregeln, sondern die unmittelbare Konfrontation mit den akausalen Protuberanzen des Zufälligen erschafft einen von psychologischer, soziologischer, kultureller und philosophischer Zuständigkeit transzendierten Begegnungszirkel. Das Fallen des Zufalls ist die entsprechende Hin- und Her-Bewegung, die den Glücksspieler bedient und von den Zuschauern begierig beobachtet werden will.45
44 Ebd., S. 104. 45 Über diese Form des abgegrenzten Raumes im Spiel äußert sich auch Hans-Jost Frey hinsichtlich literarischer Texte als „Spielraum von Möglichkeiten [...], der so konstituiert ist, daß er nicht den Schein linearer Eindeutigkeit anstrebt, sondern sich als Raum gibt, worin vieles gleichzeitig und nebeneinander geschieht.“ Frey, Der unendliche Text, S. 283. Diese in der Nische von Synchronisation statthabende Verschwisterung von Kontingenz und Literatur baut auf die grundsätzliche Vergleichbarkeit verschiedener Modi der Nichtfestlegbarkeit, konzentriert sich aber auf keinen etablierten Begriff von Kontingenz.
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E RZÄHLUNG
DES
H ASARD
Sowohl die fiktions-, produktions- und rezeptionsaffinen Poetologien des Spiels als auch die apsychologische Theorie Gadamers bauen auf das Spiel als Introspektionsapparat, der einmal aktiv und einmal deaktivierend eine folgenreiche Trennung zwischen nicht-ludischem und ludischem Wirklichkeitsausschnitt verfertigt. Beide lassen in ihrem Erlebnisgehalt keine qualitativen Unterschiede bezüglich der Realität zwischen den jeweiligen Ausschnitten zu. Und beiden Theorien ist gemeinsam, dass sie dieses Vermögen des Spiels implizit auf mimicry, gegebenenfalls auch auf ilinx festlegen müssten. Hinsichtlich der Exklusionsgeschichte des Spiels ist darin bemerkenswert, dass der Begriff nicht nur lange Zeit eine marginale Rolle im philosophischen Diskurs gespielt hat, sondern auch mit seiner Anerkennung als tragfähigem Theoriebegriff intratypologische Diskriminierungen hinnehmen musste. Alea teilt theoriegeschichtlich eine gewisse Anrüchigkeit mit dem Zufall, so wie Glücksspiele als anrüchige Beschäftigung mit historischem Ballast zu kämpfen haben. Dabei bleibt eine Poetologie des Spiels, die den Gegenstand des Spielens tendenziell weniger interessant findet als die Technik, auch Äußerungen über den Zufall schuldig. So wie die Fantasie als Technik der mimicry Fiktionstheorien auf den Plan gerufen hat, ist der Zufall in Gestalt seiner sabotierenden und sabotierten Rolle, die er im Gefüge von Zusammenhängen einnimmt, tendenzielles Strukturmerkmal der narrativen Kompilation von Ereignissen bzw. ihrer sprachlichen Kausalverbindungen. Hasard bzw. alea wirft dahingehend die Frage auf, wie die ihnen inhärente Struktur des Zufalls mit der Struktur des erzählenden Textes interagiert. Ein solcher Fall ist mit der Einbettung des Hasard in den Text zu beobachten, wo die strukturelle Interaktion noch einmal wiederholt bzw. konzentriert wird. Da es sich um eine poetologische Beobachtung handelt, kann das Glücksspiel dort nicht ausschließlich als auf seine Kontexte im kulturellen, sozialen, juristischen oder politischen Sektor reduziert und darin als historisch und psychologisch denotiert verstanden werden. Stattdessen beziehen primär diejenigen Effekte und Dispositionen des Glücksspiels eine erzähltheoretisch gravierende Position, aus denen eine ahistorische und apsychologische Ableitung auf die Mechaniken des Narrativs möglich ist. Diese Ableitung gelingt über den moralisch, diskursiv und semantisch desinteressierten Zufall. Die Bedienung eines Zufälligen im Text über die Bedienung eines Zufallsapparates im Glücksspiel wird so auf mehreren Ebenen relevant: Ganz basal zunächst als diegetischer Hasard. Eine Sequenz des Glücksspiels ist gleichwertig mit anderen Erzählsequenzen zu betrachten, wodurch diegetische Rückschlüsse, etwa auf eine oder mehrere Figuren bzw. Handlungsepisoden, zugelassen werden. Der Hasard kann hier auch lediglich elliptisch oder teichoskopisch eingesetzt werden, wie es etwa in den Briefen des Lovell geschieht. Dieser berichtet darin zwar von seiner Tätigkeit des Spielens, aller-
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dings nie von den je konkreten Spielsituationen. Es handelt sich kaum um die Darstellung eines Spiels, schon eher um die Darstellung eines Spielers, der von seiner Neigung Auskunft gibt. Der Unterschied besteht insbesondere darin, dass im Lovell kein mathematisch zu aktualisierender Zufall einer Glücksmaschine zur Darstellung gebracht wird. Das Glücksspielen wird jedoch erst mit diesem Versuch zu einem Prozess der abbildenden Aushandlung um Werte des Zufalls, die in der Regel in Geldwerte bzw. in Gewinn und Verlust übersetzt sind. Dieser Prozess des Aushandelns kann außerdem als gleichzeitige Verhandlung über die Struktur des Textes, auf der Ebene eines narratologischen Hasard, verstanden werden. Insbesondere, wenn die Erzählung das Ergebnis eines Spiels als konsequentiell ausweist, ist der Hasard nicht allein als Geldspiel verfasst, sondern auch als Delegierung der folgenden Erzählsequenz an die Akausalität des Zufälligkeitssinns im Glücksspiel. Das Rouletterad zeigt so nicht allein Farb- und Zahlenwerte an, die wiederum als Ergebnis Gewinn oder Verlust quantifizieren, sondern es deutet darin auch auf kompossible oder imkompossible46 Möglichkeiten einer folgenden Erzähleinheit. Schließlich kommt darin eine metaleptische Funktion des Hasard zur Geltung. Die Differenz zwischen der Bedienung des bios einer Figur und der nachfolgenden narrativen Handlungsmöglichkeit entblößt den Gehalt eines Zustandekommens von Wahrscheinlichkeit in der Erzählung. Dass diese Logik des Wahrscheinlichen de facto in dem Moment an zufällige Entscheider umverteilt wurde, annonciert die autonome und souveräne Willkür der Erzählung. Es stellt sich dahingehend noch einmal die Frage, ob die Wirkung des Hasard aus Akausalität konsequentiell oder nicht-konsequentiell ist: Ein Problem, das auf die Antinomien des Zufalls und die Kontingenz der Kontingenz rückverweist. Denn wenn man dem reinen Zufall im Glücksspiel Einfluss auf die folgenden Handlungseinheiten zuspricht, müsste ihre Ursache nichts Anderes sein als dieser Zufall. Man kann als Grund nur die Akausalität des Glücksrades und ergo keine Gründe für die Konsequentialität des Spiels angeben. Wo sich das Werfen des Würfels gegebenenfalls begründen ließe, sofern etwa eine Motivation für das Spiel angegeben werden kann, muss der Fall des Würfels unbegründbar bleiben. Ihm, und nur ihm ist aber der Einfluss auf das Ereignis zuzusprechen. Auch hier gilt: Wer an den Zufall glaubt, wird mit seinen Grundrissen konfrontiert und dementiert ihn. Die Betrachtung der Kontingenz von Kontingenz in den Antinomien des literarischen Hasard lokalisiert jenen gespaltenen Zustand der Möglichkeiten, durch den sich Kontingenz letztlich auszeichnet. Das Verhältnis zwischen der Arbeit der Figur am Glücksrad und der Arbeit an der Struktur des Textes ist dabei nicht als unverbunden zu verstehen. Der Glücksspieler symbolisiert seine narrativen Effekte nicht. Den Hasard mit der Struktur des Textes in ein Verhältnis zu setzen ist im engeren Sinne noch keine Interpretation, 46 Zu Leibniz’ auch romantheoretischer Innovation der Kompossibilität, vgl. Schnyder, Alea, S. 125 und Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 142-150.
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sondern der Ausgangspunkt von Interpretationen des Textes. Wenn Erzählungen spatial, temporal und semantisch portioniert sind,47 muss es Übergänge zwischen den Einheiten geben. Der Zufall ist eine Möglichkeit dieses Übergangs und in seiner Reinform – am Spieltisch – beides zugleich: Ereignis für die Figur der Erzählung und Transgression der laufenden Sequenz. Da die Inszenierung dessen auf besonderen temporalen, spatialen und semantischen Zwängen der Darstellbarkeit von Zufall beruht, vollzieht sich zugleich eine Darstellung in formaler Hinsicht genau dieser Plattentektonik der Narration in Erzähleinheiten. Der gesonderte Bereich, der hier potentiell aufgebaut wird und vom Rest der Erzählung und ihrer „Normalität“ abgetrennt ist, entspricht der ludischen Immersion, die durch den Zufall hervorgerufen wird und ein der fiktionalen Realität ontologisch abtrünniges Séparée gestaltet. Dass es diegetisch häufig als Casino ausstaffiert ist, erleichtert die innenarchitektonische Identifikation dieses wirklichkeitskonstituierenden Bereichs. Da die Verbindung von Technik und Motiv des Glücksspiels als Darstellung einer Reflexion auf die innere Koordination des erzählenden Textes gelesen werden kann, ist von hier aus eine Wiederholung der kulturellen Diskurse des Glücksspiels möglich: In erster Linie den der Ökonomie, der angesichts des Glücksspiels (meta-)narrativ als verschwenderisches Konstituens des erzählenden Textes mit der motivischen Signifikanz von Geld und Tausch hinter dem Spieltisch engzuführen ist. Bernhard Jahn und Michael Schilling machen in der Einleitung zu ihrem Band Literatur und Spiel einen Vorschlag, prinzipiell zwischen motivischen, strukturellen, formalen, diegetischen und produktionsästhetischen Funktionen des literarischen Spiels zu unterscheiden.48 Diese Reihung wäre noch mit dem Gedanken zu ergänzen, dass die Aktivierung einer Struktur des zufälligen Spiels im literarischen Text die anderen Funktionsbereiche noch einmal verschiebt, sodass sie unter den Vorzeichen des Zufälligen anders gelesen werden müssen. Dabei ist weiterhin zu beachten, dass der Zufall zwar als Instrument ökonomischer Prozesse aufgefasst werden kann, so wie er auch als Mechanik in epistemologischen, psychologischen und anderen Feldern eine Rolle spielt, jedoch als Mechanik oder Instrument selbst keine semantische und paradigmatische Anschlussstation bildet. Mit dem Zufall kann theoretisch jedes semantische Feld bedient werden, weil er sich selbst (semantisch) nicht begründen muss.49 47 Dieser Eindruck beruht auf Lotmans Ereignisbegriff, nach der das Ereignis nicht nur strukturell zwingend für den literarischen Text ist, sondern sich als Grenzüberschreitung manifestiert, die überhaupt erst durch eine gestalterische Portionierung der Erzählung in unterschiedliche Felder, deren Grenzen überschritten werden können, möglich ist. Vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 332. 48 Vgl. Jahn/Schilling, Einleitung, S. 8-24. 49 Gerda Röder hat diese Nicht-Semantik in der Verknüpfung von Erzähleinheiten, zwischen denen Fortuna (als Erzählprinzip) sich positioniert, bereits für den Barockroman erfasst: „Solange der Glaube an Fortuna das Bild der Welt beherrscht, braucht der Erzähler keine
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Insofern kann ein Spiel mit dem Zufall zugleich verschiedenste Sequenzen der Subjektentwicklung einleiten, da die Binaritäten, auf die mit dem philosophisch egalitären und symbolischen Konstrukt Geld50 verwiesen ist, willkürlich gesetzt sein können. In der Praxis des Zufallsspiels muss von der Erzählung kein Grund eingerichtet werden für das Ergebnis. Da dies für den Möglichkeitsraum des Erzählens aber auch generell gelten kann, lokalisiert das Glücksspiel mit seiner motivischen und diegetischen Akausalität eine allgemeine und basale condition narrative, der angeschlossen werden kann, dass Erzählen und Spielen sich ähnlich ähneln wie Spiel und Sprache und, auf der anderen Seite, wie Fiktion und mimicry. Sie bilden ein gemeinsames Sprachspiel der Akausalität. Auf abermals anthropologischer Ebene wurden Erzählung und Spiel von Albrecht Koschorke zusammengedacht, der die jeweilige Eigengesetzlichkeit der Aktivität von homo narrans und homo ludens hervorhebt: „Tatsächlich sind Erzählungen in einem gewissen Sinn Erzählspiele – regelgeleitet, mit unter Umständen großen Einsätzen, aber innerhalb des gegebenen Regelsystems in den meisten Spielzügen frei.“51 Koschorke identifiziert in kritischer Auseinandersetzung mit Huizinga die umspannende Indifferenz des Glaubens und Nicht-Glaubens an pararealistische oder von Realität getrennte Aktivität als Gemeinsamkeit zwischen Erzählen und Spiel. Homo ludens und homo narrans ähneln sich aufgrund ihrer Willing Suspension of Disbelief. Beide anthropologische Figuren zeichnen sich durch eine Handlung aus, deren spatiale und temporale, mithin sozial bis zum Bersten aufgeladene Begrenzung und Eingrenzung Metaprobleme sozialer bzw. kultureller Beschäftigung anbieten. Wenn die Erzählung als Standort von Kontingenzmaximierung und eben nicht allein psychologische Verknüpfung der einzelnen Episoden herzustellen: es genügt der Verweis auf die launische Glücksgöttin, der die Verantwortung für das Erzählte zugeschoben wird, um auch die merkwürdigsten Episoden glaubhaft zu rechtfertigen.“ Röder, Glück und glückliches Ende im deutschen Bildungsroman, S. 31. Diese Charakteristik des Zufalls im Roman sei mit dem Vordringen des Bildungsromans mehr und mehr zurückgenommen worden. Vgl. ebd., S. 63f. In der Evolution des Erzählens im 19. Jahrhundert nimmt die narrative Instandsetzung des Zufälligen jedoch gleichermaßen wieder zu, wie etwa hinsichtlich des grammatischen und existenziellen Subjekts sowie des Situationsprinzips in der Novellistik bei Kleist gezeigt wurde. Vgl. Herrmann, Zufall und Ich, S. 379 und S. 406. 50 Hörisch spricht von einer „skandalöse[n] semantische[n] Armut des Geldes“: „Geld informiert über die Zahlungsfähigkeit seines Besitzers und über den Tauschwert von Gütern; das ist (fast) schon alles. Über den Charakter und die Absichten seines Besitzers, über seine Herkunft, über seine weitere Verwendung sowie seine Auswirkungen auf Psyche und Lebenswelt gibt Geld sowenig Auskunft wie über den Gebrauchswert einer Ware oder über die Schäden, die ökonomische Prozesse im Ökosystem anrichten.“ Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 66. 51 Koschorke, Wahrheit und Erfindung (2012), S. 12.
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-minimierung verstanden wird,52 ergibt sich die Frage nach den Mechanismen dieser Kontingenzmanifestierung, bzw.: Es fallen Apparate im Text besonders auf, die als Kontingenzapparate tradiert sind. Die Erzählung verweist auf ihre Grundmuster, wenn Kontingenz explizit in ihr produziert werden soll. Dahingehend muss der Begriff des Hasard bzw. des Glücksspiels tentativ eingegrenzt werden: Um ein ausreichendes Verhältnis zwischen kontingenter Reflexion eines Textes und der Struktur des Zufalls markieren zu können, sind die Formeln der Erzählung interessant, die eine Darstellung des theoretisch formalisierbaren mathematischen Zufalls beinhalten. Nur wenn ein konkret ahistorischer und apsychologischer Raum den Zufall unberührt lässt, kann von einer genuinen Darstellung von Zufall gesprochen werden.53 Strategisch akzentuierte Spiele, etwa Poker und Whist, sind darin ausgeschlossen, gleichzeitig werden allerdings die Funktionen von Rouletterad und Würfel als potentielle Maschinen des Zufalls betont, die die Struktur der Erzählung lenken und die Konditionen ihres Arrangements preisgeben.54 Hier kommt wiederum eine Ökonomie des Spiels als Ökonomie des Erzählens auf den Plan. Die Verzögerung und Ineffizienz als Urszene des Spiels findet sich im Gedanken einer Verzögerung von Referenz durch ihre Multiplikation in poetischer Sprache wieder.55 Die Verhinderung einer ungefilterten Mehrwertproduktion durch
52 Ebd., S. 11: „In einer Vielzahl von Erzählungen wird Kontingenz keineswegs gebannt, sondern geradezu heraufbeschworen.“ 53 Guthke markiert die Welt des Hasardspiels als „Raum des Zufalls im Guten und Bösen, der Ungewißheit und Unkalkulierbarkeit, der Hoffnung und Enttäuschung, Verheißung und Bedrohung, eine Welt der Kontingenz, in der, frei nach Valéry, alles möglich ist und nichts wahrscheinlich“. Guthke, Der Glücksspieler als Autor, S. 365. 54 Die Vorhandenheit eines Glücksspiels des reinen Zufalls, bei dem Können, d.h. Taktik und Berechnung, keine Rolle spielen, ist in der Soziologie nicht unumstritten. Theoretisch involviert jedes Hasardspiel potentiell Fähigkeiten des Eingreifens seitens der Spieler; und sei es nur im Auszählen gewisser Verteilungswahrscheinlichkeiten. Vgl. Elster, Gambling and Addiction, S. 311f. Da diese Berechnungen aber den Zufall bekanntermaßen nicht abschaffen – im Gegensatz zur gegenseitigen Möglichkeit der Psychologisierung etwa im Poker – ist die vehemente Unkontrollierbarkeit der Kontingenz noch immer genuin zuhanden, bzw. erwirkt die hier darzustellenden narrativen Effekte. Vgl. auch Ekeland, Zufall, Glück und Chaos, S. 12ff. Ekeland spricht von der mechanischen Einschränkung des Zufalls, wie sie an einer Gegenüberstellung zwischen Billard und Würfel kenntlich wird, was die geistige Existenz – im wahrsten Sinne des Wortes – einer Zufallserzeugung und damit den genuin zufälligen Effekt aber nicht leugnet, sondern begründet. 55 Vgl. Jakobson, Closing Statement, S. 371: „The supremacy of poetic function over referential function does not obliterate the reference but makes it ambigious.“ Die durch die poetische Funktion getätigten Eingriffe hinsichtlich Bedeutung nehmen auf diese Weise
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das Spiel und durch den literarischen, in diesem Sinne erzählenden Text soll nicht allein als Analogon einer Verhinderung ökonomischer Geradlinigkeit verstanden werden, sondern als Teil einer bedeutungsskeptischen Ökonomie des Textes selbst. Sie entfaltet sich zur Beobachtung, wenn das Glücksspiel im erzählenden Text als Medium des Zufalls inszeniert wird. In dieser Hinsicht kann zwar nicht die Frage beantwortet werden, wer spielt: der Mensch oder das Spiel. Aber es kann insinuiert werden, dass dort, wo das Spiel im Text auftritt, vom Text gespielt wird. Mehr noch: Dort wo das Glücksspiel im Text als aleatorisches Spiel nachgebildet vorkommt, muss sich auch der Text einer Analyse hinsichtlich seiner Zufälligkeit stellen. Er erzwingt diese Analyse geradezu. Eine solche Struktur ist der Antinomie des Zufalls freilich weiter unterworfen. Wie ein Glauben an den Zufall gleichzeitig ein Nicht-Glauben an den Zufall sein muss, wie die Artikulation von Kontingenz auch immer kontingent destabilisiert wird, muss auch der Signifikanz eines narrativen Zufalls einerseits Zufälligkeit und darin Nicht-Bedeutung zugestanden werden, ohne andererseits ihr metanarratives Ausdruckspotenzial zu verschwenden. Dieser wiederum nukleare Zustand zeigt sich deutlich in Erzählungen, die auf das Glücksspiel setzen: Es kann stets als Funktion der Handlung begriffen werden, mit Hilfe derer alternative sequentielle Punkte – die Möglichkeiten der Erzählung – bestimmt werden. Da die Form seiner Bestimmung eine des Zufalls ist, steht diese Funktion gleichermaßen sofort wieder in Frage. Das Voranschreiten auf einem Strang der Ereignisse als zufällig begründen zu müssen, relativiert die Signifikanz des Zufalls sofort, hat aber darin seine Bedeutung als Ausstellungsstück der kontingenten Funktionen von Erzählung auch unmittelbar erfüllt. Die Deutlichkeit einer solchen Exhibierung der Erzählung und seiner Dispositionen hängt von der jeweiligen Inszenierung ab. Sie kann nicht universell auf Glücksspieldarstellungen übertragen werden, aber sie findet sich, als ausschließlich über Zufallsapparate darstellbar, genuin im Vorgang des Hasard wieder. Eine Vertiefung dieser strukturellen Signifikanz zeigt in der Veranschaulichung, inwieweit eine gewisse Sensibilität der Erzählung für die eigene Struktur als kontingente Anlage, deren Kontingenz immer auch selbst kontingent sein muss, notwendig ist, um Aussagen über das Erzählen zu treffen. Weder hinreichend noch notwendig, aber mit den guten Gründen des Zufalls, der Willkür und der Akausalität ist das Gespür für die historische Neuerung und Reflexion von Text und Zufall als Signatur von Moderne zu lesen: im Ensemble seiner polyvalenten literaturhistorischen und ästhetischen Merkmale, in seiner reflektierten historischen, nichtsdestotrotz ungefähren Markierung auf einem Zeitstrang „nach der Revolution“, und als rotierendes Gelenk von Ambivalenz, im Sinne eines durch Ambivalenz produzierten und sodann selbst Ambivalenz produzierenden Konstrukts. die Einschränkung ihrer referentiellen Wirkung vor, was sie zumindest aus der Perspektive bedeutungssuchender Kommunikation als kontraproduktiv bzw. unökonomisch markiert.
Hasard-Narrative im 19. Jahrhundert. Möglichkeiten der Kontingenz im Erzählen
4. Zufallswiederholungen E.T.A. Hoffmanns Spieler-Glück
D RAMATISCHE W IEDERHOLUNGEN DES S PIELERS (I FFLAND /L ESSING ) Die anthropologischen Theorien zum Spiel haben angedeutet, inwiefern die Praxis des Spielens kultur- und epochenübergreifend besteht. Das gilt auch für die verfeinerte Praxis des Glücksspiels. Viele Spiele vertrauen auf die Technik des Zufalls, um mit einem Set an Regeln und Grundausrichtungen immer wieder neue Abläufe und Inhalte zu generieren. Beim Glücksspiel findet im maximalen Fall ausschließlich ein zufälliges Ereignis statt, dem wiederum mit seiner Übersetzung in ökonomische Transaktionen Inhalt spendiert wird. Strategie- und Entscheidungsminimierung bedingen dabei die Zufallsmaximierung. So wie auf den Gewinn gewartet wird, kennt auch die stetige prozedurale Erzeugung von Zufällen eine in der Masse an Wiederholungen aufscheinende und wiederkehrende Extravaganz dieser Zufälle. Diese Extravaganz funktioniert als Erzählung. Mit den Fragen nach Indetermination und nach Besitz bedient das Hasardspiel ein zivilisatorisch breit gefächertes Feld. Aus der Zusammenkunft eines Spielens mit dem Zufall um symbolische oder materielle Güter innerhalb diverser Tauschrelationen ergibt sich eine Topik des Glücksspiels, die die Dramatisierung und Konflikterzeugung des Zufalls sichtbar werden lässt, und zugleich Aussagen über die Rolle des Zufalls und des Tauschens im Rahmen der aktuellen Episteme zulässt, vom altindischen Epos bis in die Glücksspieldebatten des 20. Jahrhunderts.1 Das breite themati-
1
Vgl. Frenzel, Art. „Spieler“, S. 656. Für eine Aufschlüsselung nach verschiedenen frühzeitlichen Hochkulturen, vgl. McMillen, Understanding Gambling, S. 6, sowie Kavanagh, Dice, Cards, Wheels, S. 7ff. Vgl. auch Huizinga, Homo ludens, S. 68f., wo das altindische Mahābhārata (ca. 4.-5. Jhd. v. Chr.) als Zeugnis der sakralen Bedeutung des Würfelspiels
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sche Spektrum wurde verstärkt seit der Frühen Neuzeit aufgegriffen, mit einschlägigen Bearbeitungen auf den Theaterbühnen des 18. Jahrhunderts.2 Dort konnte mit dem Schicksal des Spielers und der Weltvergessenheit des Hasard eine Vorführung des vernünftigen, funktionierenden Subjekts ex negativo stattfinden. Die Bühne wird zugleich als Schauraum des skandalösen Spielens verwendet, was zugleich eine vermehrte Instrumentalisierung des Motivs etablierte. Die Konzentration auf die Figur des Spielers, weniger auf das Spiel, verwundert dabei kaum, schließlich drängt sich eine Signifikanz der verwendeten materiellen und symbolischen Güter in ihrem spezifischen Verhältnis zu der biografischen Situation des Spielers penetrant in den Vordergrund, wie auch die Form des Spielens mit dem Zufall als integralem Bestandteil dieser Biografie eine Verhältnisgleichung zwischen der Fassbarkeit und Verfügbarkeit jener Güter und dem Phantasma der Zufallsdomestizierung erstellt. Die Stereotypen des Glücksspielens als Auseinandersetzung mit dem Zufälligen um den hohen Preis eklatanter Verschuldung besetzen eine je von diskursiven Kontexten abhängige Einordnung jener im Spiel verbrauchten materiellen und symbolischen Werte. Zugleich nahmen sie das Angebot wahr, sich den Modi von Gewinn und Verlust überhaupt darstellerisch und ordnend gegenüber zu verhalten. Dagegen rückt die problematische Darstellung von Zufall in Text und Inszenierung in den Hintergrund. Da es im Glücksspiel potentiell um all jenes gehen kann, was als Devotionalie der Tauschbarkeit repräsentations- und zirkulationsfähig ist, diskutiert es die lusorisch subjektiv verschobene und untergeordnete Wertigkeit des jeweilig zu Tauschenden im Spiel tendenziell als nicht-normativ, inklusive der daran gekoppelten Felder der Spielpassion, etwa Maßlosigkeit, Risikobereitschaft und Begierde des Verlierens. Ein derartiger Reflex des Glücksspiels ergibt sich vehement aus einer Konstellation, in der ein Wollen-Müssen des Spielers im Spiel in spezifischem Kontrast zur Bedeutung seines Wollens und Wollen-Könnens außerhalb des Spiels gezeigt wird. Das normative Votum bestimmt die extraludische Sphäre als objektiviertes Panoptikum, von dem aus kritisch auf die Absurditäten eines Spiels geblickt wird, die aber erst durch die Separation beider Seinsbereiche entstehen können. Dass ein Spiel dabei für das nicht-spielende Sein Konsequenzen nach sich zu ziehen vermag, bedingt den abschätzigen Blick. Er lässt allerdings häufig außer Acht, dass gelesen wird. Einen noch breiteren Überblick, der auch das alte China und Japan miteinbezieht, liefert Knapp, Gambling, Game and Psyche, S. 2-10. 2
Zur Spieler-Frequenz im Drama des 18. Jahrhunderts, vgl. Guthke, Der Glücksspieler als Autor, S. 355. Guthke stellt den Übergang des Spielmotivs vom Drama des 18. Jahrhunderts zur Erzählung des 19. Jahrhunderts etwa hinsichtlich der Ablösung der nüchternen und beherrschten Reflexion bei Lessing durch die „Gestaltung der Spielsucht“ bei Hoffmann und Puškin dar. Vgl. ebd., S. 361. Zur (Kürzest-)Geschichte des literarischen Glücksspiels, vgl. Frenzel, Art. „Spieler“, S. 658-666. Der insgesamt ausgezeichnet unterrichtete Artikel hat die gängigsten Lektüreempfehlungen parat.
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die ökonomische Effizienz außerhalb des Spiels unabhängig ist von der Ökonomie des Spiels, die in der Erfüllung seiner Abläufe und Züge besteht. Dem reinen Glücksspiel gelingt diese Erfüllung wie kaum einem anderen Spiel, da es lediglich auf der Anfertigung von Zufällen beruht. Der Fokus auf die Bedeutung derjenigen Gegenstände, um die gespielt wird, gliedert sich in verschiedene ineinandergreifende Register: So wird das klassische ökonomische Spiel erst mit der Ergänzung durch das Spiel um den eros komplett. Vor allem während der bürgerlichen Neuzeit, in der sich der Lebenshaushalt um diese beiden Bereiche von Beruf bzw. Gelderwerb und Familie zu gruppieren beginnt,3 entpuppen sich die materiellen Spiele nicht allein als ausschnitthafte Tauschverfahren um einzelne Geldwerte, sondern auch als ein Ganzes, das von den Pflichten des Citoyens abgekoppelt ist und in die Alltags- bis Liebesunfähigkeit führt. Die boulevardesken Rührstücke des 18. Jahrhunderts setzen nicht allein Geld und Ehre, sondern auch die Tauglichkeit zur politisch dirigierten Funktion als Ehepartner und Familienoberhaupt aufs Spiel. Den Tiefpunkt in dieser Struktur hat Baron von Wallenfeld in August Wilhelm Ifflands Der Spieler (1795) erreicht. Dieser muss sich im summarischen Ende, während einer Läuterungsszene, aus dem Munde des didaktisch versierten Generals Graf Bildau eine sarkastische Moralpredigt gefallen lassen. Die an den besorgten Sohn des Barons gerichtete Zusammenfassung eines konventionellen Spielerbildes adressiert über Bande den Baron höchstselbst, führt aber als gestellte Aktion ein Schauspiel im Drama auf, indem die verniedlichende Konfrontation mit dem Kind eine ergreifend moralische Reaktion unausweichlich vorbildet: „Du hast nichts mehr? Armer Spieler! – Mache es wie dein Vater. Hat der kein Geld mehr, so setzt er sich selbst, und Weib und Kind, Ehre und Leben.“4 Die Äußerung bestätigt eine durch das Stück so exemplarisch wie stereotyp wiederholte Ausweitung der verwerflichen Betätigung im Spiel, die vom basalen ökonomischen Dilemma nunmehr bis in die private und schließlich biologische Autodestruktion reicht. Das Stück wird der Aufdringlichkeit niemals müde, dem Kartenspiel des Barons seinen rechtmäßigen Platz in den Verhängnissen eines unschuldig schuldig Gewordenen zuzuweisen, sowie mit der Anwesenheit des Sohnes die essentielle Infantilisierung des Spielers zu untermauern. Das Spiel dient insbesondere als Klimax einer Inkompatibilität des niedergehenden Adels mit dem bürgerlichen Leben. Nicht nur, 3
Schleiermacher beobachtet etwa die ewige Wiederholung einer bürgerlichen Verantwortlichkeit den Zwecken des äußerlichen Lebens gegenüber. Er gliedert dieses Leben dabei in die beiden Bereiche des Gelderwerbs und der Familie, die in ihrer Zweierwirtschaft erst die Gesamtheit des oikos umfassen: „Wer nur zwischen den Sorgen des häuslichen und den Geschäften des bürgerlichen Lebens hin und her geworfen wird, nähert sich, je treuer er diesen Weg wiederholt, nur um desto langsamer dem höheren Ziele des menschlichen Daseins.“ Schleiermacher, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), S. 165.
4
Iffland, Der Spieler, S. 249.
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dass der Baron eine Gemeine des Volkes zur Ehefrau gewählt hat, er ersäuft noch den Kummer um das konsequenterweise ausgefallene Erbe des Onkels im Hasard. Dieser ist über die flache Entwicklungskurve entrüstet: „War mein Erbe, sollte mit der Comtesse meinem Hause ein Lüstre geben; – hat ein Bürgerding genommen; ist ein liederlicher Spieler.“5 Nach einigen grobgesponnenen Intrigen, die der eifrige General Graf Bildau wieder entwirrt, wird dem abtrünnigen Neffen und Ehemann eine zweite Chance gewährt. Zwar hat der Baron, als hauptberuflicher Erbe, den nur die plötzliche Arbeitslosigkeit in die ruinösen Spielhallen trieb, standesgemäß nichts Gescheites gelernt, jedoch ist es für eine Lektion in „menschlicher“ Erziehung, die er anstatt seiner „ritterlichen“6 hätte erhalten müssen, noch nicht zu spät. Der indezent bürgerliche Humanismus des Stücks setzt sich auf Befehl des Generals durch, dessen Güte den Baron zum Knecht im ackerbäuerlichen Idyll macht: „Ich habe ein kleines Gut, dreißig Meilen von hier, zwischen Bergen, Klippen und Waldströmen; es trägt mäßigen Vortheil, wenn es emsig behandelt wird; aber man kann davon leben; das soll dem Knaben gehören. Dort lerne arbeiten, dort bessere dich. Thust du es nicht, weint Schwiegervater und Frau ferner um dich, so wirst du geschieden, und kommst Zeit Lebens auf die Festung. Mein Ehrenwort darauf!“7
Baron und Familie bedanken sich eifrig für diese Wohltat. Keine Diskussion: Die Spielsucht ist überwunden. Ifflands Stück zeigt neben der didaktischen Konfliktfunktionalisierung, wie die spielerische Abkapselung von den außerludischen Gegenständen des Lebens als blockierender Irrweg der politischen, ökonomischen und menschlichen Bildung bearbeitet wurde. Es gliedert sich füglich in den Topos des frühreifen Irrtums, aber auch das Versteckspiel der Kabale, dies freilich mit plakativen Ausmaßen. Die Schmähung des Spielerdaseins bemisst sich an seiner Deaktivierung einer normativen Pflichterfüllung des Staatsbürgers, dessen Wiederherstellungsposse am Spiel die exemplarische Korrektur eines einfach etablierten Störfaktors durchexerziert. Derartige ideologische Perspektiven werden schließlich von Texten wie Tiecks Lovell differenziert und abstrahiert. Der statische Hintergrund des Frivolen und Sozialkritischen wird zum Eiapopeia frühnihilistischer Antibürgerlichkeit umgedeutet, in der sich schließlich eine ökonomische Autonomie des Hasard entwickelt. Sie entzündet sich an der Erkenntnis von geschlossenen Zufallsséancen, statt an deren Inkompatibilität und Antithetik zu außerludischen Konjunkturlogiken festzuhalten. Die politisch-historische Dimension beschränkt sich bei Iffland weitestgehend auf die hintergründige Verhandlung der Erosionen des alten Adels. Das Spiel dient
5
Ebd., S. 158.
6
Ebd., S. 251.
7
Ebd., S. 252f.
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als Indiz für die historische Entwicklung des Ersten Standes, welches im letzten Aufbäumen des Ancien Régime zu Beginn des 18. Jahrhunderts gleichermaßen Modernisierungserscheinungen ikonografisch begleitete, wie die politische und ökonomische Relativierung der Kaste akzentuierte. Als dramatischer Stoff knüpft das Glücksspiel an das zunehmend verbreitete Bild an, die freizeitliche aristokratische Verausgabung an den Hasardbänken mit der steigenden Möglichkeit unanständiger Verschuldung zusammenzudenken. Spätestens seit dem colbertistisch-dekadenten Regierungsstil Louis XIV. erhielt das adelige Spiel eine prägnante Legendenbildung, deren Anekdoten noch in den Spielerkolportagen der späten Aufklärung zur Problemerzeugung dienen.8 Dass die Ausmaße des Spiels ein staatliches Interesse der Geldverwaltung und des Mitverdienstes am Spiel mit einer biopolitischen Verantwortungssimulation in Widerstreit treten lassen, gehört bis heute zu den Hauptdiskussionspunkten einer politischen Glücksspieldebatte, hat jedoch mit den Einrichtungen und der Etablierung staatlicher Lotterien und den stetig schwankenden juristischen Handhabungen seine Ursprünge noch in der Blüte- und anschließenden Abstiegsphase der absolutistischen Regierungsmodelle des 17. und vor allem 18. Jahrhunderts.9 In Ifflands Drama illustriert noch der verführerische Bankier von Posert, wie eine produktive Verwaltung des Glücksspiels die exzessive Lust des Spielers ausbeutet und zur Problemkonstitution taugt, wenn auch nur auf wackeligen Grundfesten. So wird auch Posert durch den segensreichen General letztlich sanktioniert, kurz nachdem er die Kur des verhängnisvollen Spielers Wallenfeld eingeleitet hat. Die literaturwissenschaftliche Glücksspielforschung hat in jenen historischen Frühzeiten des staatlich begleiteten Glücksspiels einen besonders prägnanten Lackmustest gefunden, von dem aus frühkapitalistische Archäologie betrieben, und eine Ästhetik des Hasard bestimmt werden kann. Diese Konzentration auf den Glücksspieldiskurs der Frühen Neuzeit wird von der spezifischen Funktionalisierung des Glücksspiels hervorgerufen, die nämlich historische Umbruchsphasen und soziale, politische oder ökonomische Positionen in ihm ablesbar gestaltet hat. Sie konnten aufblühen, sobald Sensibilität für einen Diskurs von Veränderbarkeit der Welt erreicht war. Das umgängliche adelige Spiel als banaler Zeitvertreib musste dazu sein rituelles Muster zugunsten der Offenheit des Spiels aufgeben, in dem die ruinöse Tendenz schließlich bittere Realität werden konnte.10 Allerdings wurde sich dem 8
Vgl. Kavanagh, Dice, Cards, Wheels, S. 68 und Zollinger, Geschichte des Glücksspiels, S. 58-69. Für einen informativen Überblick zu diversen Rechtssituationen des europäischen Hasard der Neuzeit, vgl. ebd., S. 23-30.
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Das nichtadelige Spiel wurde so einerseits durch Lotterien gefördert, andererseits als Freizeitbeschäftigung auch immer wieder unterdrückt. Vgl. hierzu ebd., S. 108-145.
10 Vgl. Strobel, Eine Kulturpoetik des Adels in der Romantik, S. 228. Für einen Überblick zur Bedeutung des Glücksspiels im absolutistischen Adel, vgl. ebd., S. 233ff. Vgl. auch Richard, „Putting to Hazard a Certainty“, S. 182f.
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Spiel unter den Vorzeichen von Aufklärung und Empfindsamkeit nicht ausschließlich negativ angenähert. Parallel zum Kodex einer moralischen Fragwürdigkeit gegenüber Gott oder Vernunft im Sinne liederlicher Lebensführung, der als Ordnungsheil einer Leistungsfiktion verstanden werden kann,11 entwickelten sich literarische Relativierungen und Einschnitte, die das Glücksspiel als motivisches Prinzip jenseits didaktischer und devianter Belegungen verhandelten.12 Prototypisches Beispiel für differenzierte und zunehmend komplexere Repräsentationen des Spielers – wenn schon nicht des Glücksspiels – ist Lessings Minna von Barnhelm (1767). Lessing lässt seine merkwürdige Figur Riccaut13 im zweiten Auftritt des vierten Aktes als selbstpersiflierenden französischen Adeligen nicht nur in Gestalt des Boten mit dem Überbringen froher Fügung im Fall Tellheim erscheinen, sondern ebenso als leidenschaftlichen Hasardspieler, der in Minna eine Gleichgesinnte findet: „Ich muß Ihnen bekennen, daß ich – gleichfalls das Spiel sehr liebe, – [...] Daß ich sehr gern gewinne; sehr gern mein Geld mit einem Mann wage, der – zu spielen weiß. – Wären Sie wohl geneigt, mein Herr, mich in Gesellschaft zu nehmen? mir einen Anteil an Ihrer Bank zu gönnen?“14
Minnas Charakterisierung als Spielerin fasst die Konfliktlinie des Stücks als erotischstrategisches Vorgehen zusammen, das in humorvolle und verwickelte Situationen führt, und bekräftigt deren dramaturgische Mechanik des Zufalls. Der Kontrakt mit Riccaut erübrigt sich folgerichtig, sobald dessen Falschspiel zur Sprache kommt – Minna spielt nur mit dem echten Zufall, dem jedoch im Lustspiel an der ein oder anderen Stelle ebenfalls nachgeholfen ist. Berühmtestes Beispiel ist der rettende Auftritt des Grafen von Bruchsall im letzten Akt, der allerdings nicht ausschließlich als Instanz des Eingreifens, sondern auch als Bestätigung des Zufälligen gelesen wurde.15 Hier entfaltet sich eine vergleichende Debatte zwischen dem von Minna abgelehnten „Corriger la fortune“16 Riccauts und der poetisch-interventionistischen 11 Vgl. Beise, Zur Genesis der modernen Spieler-Figur in der Frühen Neuzeit, S. 21. 12 Zur Etablierung eines sachlich differenzierten Spielers während der Frühen Neuzeit, vgl. ebd., S. 25-32. 13 Das Kapitel zur Minna in Jan Söhlkes Arbeit »verderben, verführen, verwüsten, bestechen« hat mir geholfen, Riccaut besser einschätzen zu können. Für einen Einblick in die Studie vor Publikation sei Jan Söhlke an dieser Stelle herzlich gedankt. 14 Lessing, Minna von Barnhelm, S. 74. 15 Vgl. Kirchmeier, Glück im Spiel, S. 53f. Zur Gestalt Riccauts als Hasardeur, vgl. ebd., S. 41ff. und Küpper, Spiel und Zufall in Gotthold Ephraim Lessings „Lustspiel“ Minna von Barnhelm, S. 43ff. 16 Lessing, Minna von Barnhelm, S. 75.
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deus ex machina, die, ähnlich zum Falschspieler, so unsichtbar wie möglich das Geschehen hinsichtlich bestimmter Interessen manipuliert. Die kritische Position Minnas gegenüber dieser Technik färbt das glückliche Eintreffen des Grafen unterschiedlich, denn es kann sowohl als dramatische Korrektur ihrer Attitüde eines möglichst nicht zu beeinflussenden Zufalls gelesen werden, ebenso aber auch als Bestätigung eines reinen Zufalls, der sein Gewicht hier nach den Regeln des Lustspiels auf den glücklichen Ausgang geworfen hat, darin aber als unverbindlich zu verstehen wäre. Die Auseinandersetzung mit den ambivalenten Eingriffen des Zufalls verschiebt sich damit ansatzweise in Richtung einer kontingenten und nicht mehr pflichtgemäß moralischen, rationalistischen oder empfindsamen Bearbeitung des Hasard. Die Figur des Riccaut fällt derweil als Falschspieler überraschend schnell wieder aus dem Stück heraus. Analog betreibt er auch mit dem Diskurs des Hasardeurs ein falsches Spiel. Wird Ifflands Spieler später noch vor dem eigenen Sohn gedemütigt – und parallel zu ihm auch der Charakter des Hasardeurs – ist Lessings Spieler-Inszenierung nicht determiniert. Allein die merkwürdige Funktionslosigkeit Riccauts, der nicht viel mehr als ein humoristisches Intermezzo abzugeben scheint, deutet dies an. So kommentiert Minnas Dialog mit Riccaut auch die Eigenökonomie des Spiels: Sein kurzer Eingriff als stellvertretender Spieler für Minna wird im Moment des Falschspiels wieder zurückgenommen. Die Schickung Riccauts wird durch seine Tilgung tatsächlich noch einmal korrigiert. Seine Partie bleibt ungültig, so wie ihre Gültigkeit in der prompten Annullierung ihrer aufflackernden Funktion für das Handlungsgefüge besteht. Die Szene ist dahingehend für das Stück eine reine Verschwendung, wie sie Ifflands General Bildau nicht stärker in Rage bringen könnte, kommentiert aber zugleich die dramatische Rolle des Zufalls und seine Manipulation, sowie mit dem comic relief die Eigengültigkeit dessen, was im Ganzen als Überfluss erscheint. Darin erhält die Figur des Spielers letztlich doch einen auffälligen Eigenwert. In kaum zu überschätzendem Maße wird Glücksspiel bei Lessing neben diesem dramaturgischen und nebenher auch politischen Diskurs mit dem Militär verbunden. Aus den Reihen der Leutnants und Obersten rekrutiert sich noch vor dem adeligen Spieler das denkwürdigste Hasard-Milieu. Mit dem Zufallsspiel reagiert es sozial und habituell adäquat auf ihre eigene Geworfenheit in ein Gefechtsfeld, das durch ein zufälliges rencontre der Waffen gesteuert ist.17 Die maschinelle Zufallsproduktion der Schlacht insistiert auf einem technischen, darin an Intentionalität desinteressierten Kontingenzbegriff.18 So prominent wie auch verstörend kehrt Lessings Soldaten-
17 Zur gängigen Spielpraxis unter Militärs im 18. Jahrhundert, vgl. Zollinger, Geschichte des Glücksspiels, S. 94-108. Vgl. zu diesem Diskurs auch das elfte Kapitel Offizierscasino dieser Arbeit. 18 Zur Kontingenz in militärischen Auseinandersetzungen und Kampfhandlungen, vgl. Morson, Contingency, Games, and Wit, S. 132 und S. 136.
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glück dementsprechend im finalen Dialog zwischen Paul Werner und Franziska zurück, der mit den letzten Worten des Stücks und gleichsam den ersten Worten für den Rest ihres gemeinsamen Lebens gleich wieder deren Ende anvisiert und so den wohl zynischsten Heiratsantrag des aufgeklärten Dramas darstellen dürfte: „Topp! – Über zehn Jahre ist Sie Frau Generalin, oder Witwe!“19 Die Ausrichtung auf das Leben in Form einer Wette, die also auch das Ende des Lebens mit der Bestätigung eines Zufälligen mitdenkt, kommt sowohl durch das idiomatische „Spiel mit dem Leben“ als auch durch das kontingente Leben und Überleben des Soldaten zustande. Die formale Analogie zwischen Spiel und Krieg ergibt sich aus dem Einsatz von randomizern, die insbesondere als Schusswaffen und ihrer verqueren Logik mechanisch begründeten Ankommens einer Kugel das Fallen des Würfels oder die Roulettekugel ersetzen. Die mechanischen Erzeuger dieses Zufalls sind in ihrer topischen Verdichtung und in ihrer semantischen Anbindung an den Rest der Erzählung eingeschränkt. Historisch herzuleitende Präferenzen von zufallserzeugenden Maschinen im literarischen Text können in vielen Formen dynamischer Mobilität bestehen, die von selbstbewegenden äußeren Einflüssen abhängen, deren Variablen also nicht ermittelbar sind, etwa das Schiff, welches in den Sturm gerät,20 oder die erratische Konfrontation von Kriegsgeräten, aber auch anderer Waffen und Situationen, zum Beispiel im Duell. Die Apparate des Glücksspiels gehören mit einem besonderen Platz in diese Reihe. Im Gegensatz zu den einer Naturgewalt unterlegenen Segeln, im Gegensatz zur Arkebuse, zum Florett oder zur Kanone, besteht ihre Funktion ausschließlich und exklusiv darin, den Zufall zu erzeugen. Sie visieren kein Ziel an, außer demjenigen, eine Destination des Hasard zu erreichen. Einer dynamischen Fortbewegung wie derjenigen des Schiffes oder der Pistolenkugel ist eine andere Destination vorgeschaltet – der ferne Hafen oder der andere Körper –, die zu einem gewissen Grade kontrolliert werden kann. Sie nicht zu kontrollieren, wird jedenfalls als Ausnahmeerscheinung erfahren. Die Unkontrollierbarkeit und Bestimmungslosigkeit des Würfels und der Roulettekugel ist hingegen ihre Regel und eigentliche Destination, die
19 Lessing, Minna von Barnhelm, S. 110. 20 Dieses Beispiel findet sich etwa in den Providenz-Diskursen des Robinson Crusoe. Auf der verhängnisvollen Fahrt, die Robinson in seine jahrzehntelange Einsamkeit verschlagen wird, heißt es im Zuge eines eklatanten Kurswechsels: „With this design we chang’d our course, and steer’d away N.W. by W. in order to reach some of our English islands, where I hoped for relief; but our voyage was otherwise determined, for being in the latitude of 12 deg. 18 min. a second storm came upon us, which carry’d us away with [...].“ Defoe, Robinson Crusoe, S. 35. Der Text zeigt die Interventionen des Sturmes als akausalen Grund für die literarische Problemkonstitution des Romans: Robinson landet auf der Insel, weil die Erzählung diese Ankunft benötigt und erzwingt. Beide Modi sind in der Schickung des Sturmes versammelt.
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daraus resultiert, dass die entsprechenden Geräte tatsächlich zu nichts Anderem taugen, als immer wieder automaton und tyche zu produzieren. Wenn der Zufall ebenso als Produkt von Sprache und insbesondere literarischem Sprechen verstanden wird – akzentuiert unter anderem im komödiantischen Mittel des Aneinander-Vorbeiredens bzw. der Verwechslung – sind Momente der Kontingenzerzeugung, die ein Text als sein Thema anbietet, für sein Verständnis essentiell. Diese Angebotslage spitzt sich in Lessings Lustspiel zu.21 Mit der Relation zwischen Glücksspiel und Lustspiel ist eine maßgebliche Position des Spielers im Drama des 18. Jahrhunderts gegeben. Wenn er zu diesem Zeitpunkt auch nicht exklusiv für das Theater reserviert ist, nimmt er innerhalb der dramenhistorischen Relevanz der bürgerlichen Bühnen eine stetige Rolle ein.22 Dem Spieler werden in dieser Zeit neben den didaktischen Funktionen auch kompensatorische Angelegenheiten zugeordnet: „Es scheint, als ob das provozierende Moment, das in der Figur des Spielers liegt, sich nach der Jahrhundertmitte zunehmend auf das Spiel selbst als Indiz verlorener metaphysischer Rückversicherung verlagert hätte.“23 Das Spiel ist zugleich in seiner poetischen Aufstellung zu präzisieren, nach der die Dramatisierungsgelegenheiten, die karikaturistischen wie auch melodramatischen Rollen, die der Spieler übernehmen kann, eine Affinität zwischen Bühne und Hasard bewirkt. Füglich wird sie mit Blick auf die poetischen Mechanismen des Theaters, in denen mimicry und alea gegeneinandergehalten werden, und die ihre unverzügliche Legitimation einer Handlungswendung dem Spielerglück oder -pech willkürlich entnehmen können, um es motivisch zu instrumentalisieren. Das Spiel im dramatischen Text deutet negativ auf inszenatorische Providenz, wenn der Zufall als moralisch und poetisch ungerechtfertigter Weg, wahlweise als Teufelspakt oder emotionale Dysfunktion bestimmt ist. Vonseiten dieser Abgrenzungsgröße kann gezeigt werden, wie das Stück in Kausalität, Providenz und Zusammenhang zurückführt. Die „Ökonomie des Dramas“ enthält mit dem Glücksspiel einen Weg in die „Gültigkeit der Theodizee“24, zumindest für die unter aufklärerischer Doktrin stehenden Theaterautoren. Ihre exakte poetische Belegung des Glücksspiels lässt derweil die motivische Tragfähigkeit fragwürdig erscheinen: Wenn in der Funktionalisierung des
21 Minna maximiert das Mittel der Verwechslung in ihrer Inszenierung der Ringintrige, die in einem Maße auf das Missverstehen Tellheims baut, dass sie als Ringparabel über die Vorzüge kontingenter Kommunikationssituationen gelten kann. Vgl. Lessing, Minna von Barnhelm, S. 79-87, insbes. S. 86f. 22 Vgl. Albert, Corriger la fortune?, S. 128. 23 Vgl. ebd., S. 124. Vgl. auch Morson, Contingency, Games, and Wit, S. 131. 24 Jahn, Das Spiel des Zufalls und die Ökonomie des Dramas, S. 144f. Allerdings werden bereits unter den Auspizien von Sturm und Drang die betreffenden Kategorien der Zufallsleugnung gelockert. Vgl. ebd., S. 147f.
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Glücksspiels der Zufall geleugnet bzw. aussortiert wird, ist lediglich von einem Nominalismus des Hasard zu sprechen. Die Destination des Zufalls wurde in der gen Wirkung orientierten Schaubühne durch die Produktion moralischer Verbindlichkeiten überlagert. Es ist dies sicherlich eine Frage der historischen Entwicklung der Gattungen. Denn die Tendenzen einiger Dramen im 18. Jahrhundert zur Theodizee und einschlägiger Prosatexte im 19. Jahrhundert zur Unordnung und transzendentalen Heimatlosigkeit ist auch in der Umgestaltung des Zufalls enthalten.25 Derartige Umgestaltungen vollziehen sich allerdings nicht dominant anhand einer literarisch lebendigen Glücksspieltopik. Der Diskurs ist in weiten Teilen auf der Nebenbühne illustrativer und randständiger Verknüpfungen anzusiedeln. Mit seiner flankierenden Belichtung ökonomisierter Darstellung verschiedener Devianzen, Schicksalsschläge oder historischer Zusammenhänge reproduziert es vielmehr einen gesellschaftlichen Nischenraum, der zu einer bestimmten Zeit mit einer bestimmten Bedeutung assoziiert gewesen ist. Die Rolle des Glücksspiels modifiziert sich mit der Rolle des Zufalls nach der Jahrhundertwende. „Romantik ist Moderne“, schreibt Karl Heinz Bohrer, die „im Zeichen einer modernen Ästhetik und Bewußtseinsanalyse“26 steht und darin mit der Literaturtheorie und -praxis der Ära um und nach Schlegel den ästhetischen und formalen Kontext modernen Schreibens herausarbeitet. Diese Herangehensweise wendet sich gegen die „Kritik der Romantik im Zeichen eines teleologischen Idealismus und historischen Positivismus“, die „eine Verhinderung der Moderne als Kontingenzbewußtsein, also als Bewußtsein vom Zufall und Zerfall“ stattfinden ließ, derweil dieses Bewußtsein von „der romantischen Poesie entdeckt“ und „von Baudelaire emphatisch gedacht und weiterentwickelt worden ist“27. Diese Wendung in der Bewertung von Bedeutungsstreuungen etabliert ebenfalls Auswirkungen auf die literarische Repräsentation des Zufalls. Ein Stichdatum für die Substantialisierung dieser Wendung anhand des Glücksspiels könnte E.T.A. Hoffmanns Veröffentlichung einer kleinen Erzählung im Jahre 25 Vgl. Beise, Spielers Erzählungen, S. 152. Vgl auch Schnyder, Alea, S. 255, wo der Übergang zur „Psychologisierung und Anthropologisierung“ des Spielers im 18. Jahrhundert erläutert wird. Der Schwenk von der Praxis auf die Psyche des Spielers bzw. seine Subjektivität hat zur dramatischen Ausprägung dieser Figur beigetragen. 26 Bohrer, Die Kritik der Romantik, S. 23. 27 Ebd., S. 11. Ein argumentativ und methodisch programmatischer Beispieltext ist etwa Schlegel, Über die Unverständlichkeit. Über Strobl hinaus ist zudem Menninghaus’ Bestimmung des frühromantischen Diktums vom Unsinn parallel zur Eingliederung des Zufalls in die Struktur der Poesie interessant: „Während die ‚klassische‘ Form alle Kontingenz kraft konsequenter Durchbildung in ästhetische Notwendigkeit zu verwandeln strebte, proklamiert die frühromantische Märchentheorie gerade das Zulassen und Freisetzen, ja die bewußte Produktion von Kontingenz.“ Menninghaus, Lob des Unsinns, S. 56.
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1820 sein. Die Rolle des Hasard für den Weg in ein modernes Kontingenzempfinden wird dort mit einem deutlichen Impetus hinsichtlich der Brisanz des Stoffes neu verhandelt. Sie gilt es, mit Blick auf die mit der Erzählung bewusst erzeugte poetische Ablösung versunkener Stereotype des Topos herauszuarbeiten, von wo aus gleichsam die Koordination einer Literatur der Kontingenz vorgenommen wird, und zwar sowohl, was die gattungspoetischen Abonnements, als auch die konventionellen narrativen Verfahren und Inklusionen glücksspielassoziierter Diskurse angeht.
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SERAPIONTISCHEN
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E.T.A. Hoffmanns dritter Band der Serapions-Brüder erschien im September 1820 bei G. Reimer. Er enthält die Erzählung Spieler-Glück, die zuvor in der Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1820 bereits abgedruckt wurde, in Hoffmanns Kompilation allerdings durch Kommentare und Poetikdiskussionen der Serapions-Brüder ergänzt ist. Theodor trägt die Geschichte vor, ferner sind Vinzenz, Lothar, Cyprian, Sylvester und Ottmar anwesend. Spieler-Glück findet damit während einer jener seltenen Versammlungen statt, an denen alle Serapions-Brüder teilnehmen. Theodors Text hat die undankbare Aufgabe, an das Fräulein von Scuderi anzuschließen, welches nicht nur „den vollen Beifall der Freunde“ erhält, sondern auch mit dem Prädikat „wahrhaft serapiontisch“ ausgezeichnet wird, unter der Beobachtung, dass die Erzählung üblicherweise „auf geschichtlichen Grund gebaut“ wäre, von dort aber „hinaufsteige ins Fantastische“28. Hier erfüllt die Fiktionalisierung eines außerliterarischen Kuriosums die eingängige Bedingung des serapiontischen Prinzips, demzufolge eine Poesie der Wahrhaftigkeit im Sinne produktionsästhetischer Integrität erreicht werden solle. Die poetische Vorgabe ist insbesondere dort erreicht, wo ein „inneres Schauen“ an detaillierter Plastizität so weit investiert ist, dass keine Restriktionen durch die Vorgaben des Verstandes mehr spürbar sind. Damit sei eine entsprechende darstellerischer Dichte für die Repräsentation des inwärtigen Bildes zu gewährleisten – das Fantastische ist der fantasia noch deutlich verbunden.29 Ein pragmatisches Konstitutivmerkmal dessen stellt die virtuose Transponierung wahlweise historischer Begebenheit oder quellenbasierter Inspiration bereit, 28 Hoffmann, Die Serapions-Brüder, S. 853. 29 Zum Kodex des serapiontischen Prinzips, vgl. ebd., S. 69. Mit dem namensgebenden Serapion wurde außerdem eine Gestalt der poetischen Wahrscheinlichkeit integriert. Sie markiert die Entlarvung einer mit dem Wissen vom Statistischen in Kraft tretenden Vernunft, die das Besondere eines individuellen Ausfallens aus normalistischen Mittelwerten personifiziert und verkündet. Vgl. Schneider, Serapiontische Probabilistik, S. 260f. Das Prinzip gewinnt damit an Kontur als Poetik einer durch (Un-)Wahrscheinlichkeit gelenkten Moderne, die – egal ob in realistischen oder nicht-realistischen Schreibverfahren – je nach
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getreu der Überlegung, dass ein bemerkenswertes Einzelereignis, ein absonderliches Detail auf einem Gemälde oder eine seltene Anekdote, aus ihren jeweiligen Rahmen herausgelöst und in die eigenständige Wahrhaftigkeit poetischer Gestaltung, Ergänzung und darin Vereinnahmung zu führen sei.30 Damit sind Anknüpfungspunkte zu Schlegels Ästhetik gegeben, die mit ihrer Universalpoesie den außertextuellen Bereich der Welt ästhetisiert. Die romantische Poesie „umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang. [...] Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.“31
Hoffmanns Gestaltung der Serapions-Brüder beteiligt sich mit der metapoetischen Geselligkeit und deren intra- und metadiegetischen Verschlingungen insoweit an einer Repräsentation des Weltromans, als die Diskussionsbeiträge außerhalb der intradiegetischen Fiktion situiert sind, aber zugleich als Teil der literarischen Darstellung fungieren. In dieser Position beschreiben sie in einem Zuge auch ihre eigenen Lektüreanforderungen. Dabei verkörpert und ironisiert Hoffmanns ästhetisches Kolloquium jene sakrosankte Instanz, die Schlegel tabuisiert hatte, und demonstriert kess, dass die Präsentation des Kunstideals allein Sache der Dichterinnen und Dichter ist. Ihre Willkür sieht sich einer freiheitsstiftenden Agenda gegenüber, die nur in der Praxis poetischer Beschäftigung performativ zu erfüllen ist. Eine ästhetische Akausalität wird damit zur kunstphilosophischen Ausgangsposition der Literatur, die eigens im Text zur Darstellung zu bringen sei. Da dies eine subjektive Angelegenheit der Selbstzensur des Dichters ist, der zu prüfen habe, „ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkünden unternommen“, bevor das Erzeugnis in die intersubjektive Arena der Freunde gelassen werden darf, wo „die Darstellung ins äußere Leben“32 gelangt, konturieren sich Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriffe, die von einer ontologischen und empirischen Vorabbelastung abgekoppelt werden. Die Schönheit der Wahrheit und Wahrheit der Schönheit gelingt über die Immanenz der dichterischen Inspiration, die sich in die dynamische poetische Struktur der Welt einfügt, nachdem Interesse das Wahrscheinliche/Realistische über das Unwahrscheinliche/Fantastische, oder umgekehrt, kennzeichnet. 30 In Form der Verlebendigung von bildkünstlerischen Rahmungen u.ä. wird die PygmalionGeste als leitender Inspirationsmechanismus zu einem „Lieblingsmotiv“ Hoffmanns. Owari, Versteckspiel des Zeichens, S. 52-67. 31 Schlegel, Athenäums-Fragmente, S. 182f. 32 Hoffmann, Die Serapions-Brüder, S. 69.
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sie aus ihr gewonnen wurde. Das Wechselspiel zwischen ästhetisierter Welt und welthaltiger Kunst findet unter dem wehenden Banner der Unabschließbarkeit statt. „Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden“, schreibt Schlegel. „Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“33 Hoffmann inszeniert diese ästhetische Grundfigur der Destinationslosigkeit formal mit den Möglichkeiten eines intermedial offenen und poetisch souveränen Erzählens, strukturell durch seine kommentierende Konstruktion, sowie inhaltlich mit Thematiken des gestreuten Bedeutens und Figurationen der Kontingenz, vom Wahnsinnigen bis zur Kunst selbst. Die Metapoetik der Serapions-Brüder und ihr umfassendes diskursives und stoffliches Repertoire erzeugen ein narratives Panorama des frühen 19. Jahrhunderts, zu dem – neben den historischen Erzählungen, den Kunstmärchen, der Künstlernovelle oder der Detektivgeschichte – bezeichnenderweise auch eine sich explizit mit Zufall und Glücksspiel befassende Gegenwartserzählung gehört. Sie fällt in ihrer Zeit-Ort-Koordination, die ein extradiegetisches Jetzt und eine geografische Nähe des Kurortes Pyrmont fixiert, aus dem serapiontischen Spektrum heraus, das sich in den meisten Fällen aus historischer und geografischer Distanz legitimiert. Das serapiontische Prinzip korrigiert sich seiner Transformationslogik zufolge im Spieler-Glück selbst, genauso wie dieser Text für sich, aber auch in seinen Rahmendialogen, den literarischen Hasard umzugestalten beginnt. Dazu gehört die Relativierung des sozialkritischen Spielerdiskurses. In der exemplarischen Besprechung durch die Serapions-Brüder wird Theodors Bearbeitung zwar selbst noch als konservativ ausgewiesen, doch gehört dieses suggestive Lektüreangebot zu den Fallstricken des Ordens, das an der Erzählung selbst zu messen bleibt. Lothar bemerkt im Anschluss an Theodors Vortrag vom Spieler-Glück zuallererst, dass dieser selbst als Spieler gelten könne, „dem nur zuweilen die Moral in den Nacken schlägt“34. Diese Kritik reformuliert eine Forderung nach einem didaktisch erlösten Spielerdiskurs. Lothar scheint dabei der Versuch Theodors entgangen zu sein, diese Forderung bereits einzulösen. Unabhängig davon, dass seine Äußerung letztlich auf die üblichen Abhandlungen über den produktionsästhetischen Prozess überleitet, bleibt außerdem vage, wem die Moral in den Nacken schlägt: Dem Spieler Theodor oder dem Erzähler. Die Verbindung von „echtem“ Spieler und Poet stellt die Erzählung selbst gleich eingangs her. Dort geht es um „ein[en] junge[n] deutsche[n] Baron – wir wollen ihn Siegfried nennen“35. Es handelt sich hier um eine Anonymisierung, die zugleich eine literarische Grundhandlung aufzeigt, nämlich diejenige der Figurenbenennung. In geschwinder Willkür weist sie auf die Kontingenz des entsprechenden Taufaktes hin, 33 Schlegel, Athenäums-Fragmente, S. 183. 34 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 887. Vgl. auch Schnyder, „Va banque!“, S. 72. 35 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 857.
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spielt dabei die Partie um die Identitäten des Spielers mit, und tritt andererseits bereits in einen Kreislauf der Namen und ihrer Bedeutung ein, welcher im späteren Verlauf der Geschichte noch relevant ist. Bis dato fällt Siegfried im sommerlichen Pyrmont noch durch seine Abstinenz vom Spiel auf. Er ist darin ein Außenseiter, der es vorzieht, „entweder auf einsamen Spaziergängen sich dem Spiel seiner Phantasie zu überlassen“ – er darf damit als Kandidat für den serapiontischen Zirkel gelten – „oder auf dem Zimmer dieses, jenes Buch zur Hand zu nehmen, ja wohl sich selbst im Dichten – Schriftstellen zu versuchen“36. Man erfährt, wie dieses Spiel der Fantasie bald durch das Spiel der Karten substituiert und von Siegfried schließlich mit demselben Energie- und Kraftaufwand, mit derselben Konzentration und Introspektion verfolgt wird, die er zuvor noch für das Poetische reservierte. Lothar könnte in dieser Entwicklung Anhaltspunkte für seine kritische Bemerkung von der auftretenden Moral gefunden haben. Das Angebot, den Spieler als verschwenderischen Agenten zu lesen, der das poetische Gewicht der Fantasie in den leeren Wiederholungszwang des Spiels umverteilt, ähnelt auf den ersten Blick in der Tat noch einem elitären Zufallsverbot. Dieser etwaige moralische Aspekt fiel auch der zeitgenössischen Rezeption auf, die ihn, im Gegensatz zu Lothar, tendenziell begrüßte.37 Angesichts des bereits etablierten Spielerthemas wurde dabei die ebenfalls vorhandene Analogie von ludischer und poetischer Tätigkeit übersehen. Die Geschichte Ludwigs muss gerade kein Schisma zwischen beiden bedeuten, sondern unterstreicht eine Kontur des poetischen Subjekts, die in hoffmannesker Provenienz eine manchmal ironische, manchmal unheimliche Lebensunfähigkeit des Künstlers artikuliert. Nachdem moralisch-pädagogische Konfigurationen der empfindsamen und kolportierenden Glücksspieltradition des 18. Jahrhunderts als bevorzugt dramatisches Element etabliert waren,38 kündigt sich im Konvolut der Serapions-Brüder ein zäsuraler Versuch zur Neubearbeitung dieses literarischen Gegenstands bereits im Vorfeld des Spieler-Glücks an, der sich eingangs mit formalen Erwägungen beschäftigt. Zunächst geschieht dies mittels Überlegungen betreffs einer gattungsästhetisch interessierten Poetik: 36 Ebd. 37 Vgl. zur Rezeption den Kommentar zur Erzählung in Hoffmann, Die Serapions-Brüder, S. 1534ff. Auch in jüngerer Zeit wurde die Erzählung noch einmal als didaktisch eindeutig interpretiert. Vgl. Gerlach, E.T.A. Hoffmanns Spielerglück, S. 28. Gerlachs Aufsatz liefert mit seiner normalistischen Prämisse eine an entscheidenden Punkten blockierte Lektüre. 38 Die Erzählung spricht, in anderem Kontext, noch einmal deutlich selbst Skepsis gegen das Primat des empfindsamen Dramas aus, sofern die folgende Äußerung des Chevaliers auch nicht metaphorisch, stattdessen als literaturkritischer Ausbruch isoliert verstanden werden darf: „Die abgeschmackte Theater-Szene fängt an mich zu langweilen.“ Hoffmann, Spieler-Glück, S. 875.
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„Sind, sprach Lothar, sind die Bedingnisse des Drama’s und der Erzählung aber nicht in ihren Grund-Elementen so von einander verschieden, daß selbst der Versuch, den Stoff einer Erzählung zu einem Drama zu verarbeiten, oft mißlingt und mißlingen muß?“39
Theodor kehrt den Gattungswechsel im Spieler-Glück um, wenn er das Glücksspiel als ein seinerzeit bei Lessing oder Klinger, insbesondere aber als Häufung seiner Stereotype in Ifflands und Kotzebues Lustspielen dramatisch einschlägiges Sujet zum Gegenstand einer Erzählung erhebt. Diese Geste der Umgestaltung reformuliert parallel dazu das Verhältnis zur Quelle der Erzählung. Kein einer Chronik entnommenes oder anders mediatisiertes Ereignis, das vom inneren Schauen einzuverleiben wäre, dient als Vorlage. Stattdessen wird eine Gegenwartserzählung vorgelegt, die auf oraler Überlieferung bzw. dem eigenen Erleben aufbaut und von Theodor daher mit dem Ausfallprinzip geschmückt ist: „Ich habe, sprach Theodor, mich diesmal in ein anderes Feld gewagt, und bitte im voraus um eure Nachsicht. Übrigens liegt meiner Erzählung eine wirkliche Begebenheit zum Grunde, die mir indessen durch kein Buch sondern durch Tradition zugekommen.“40 [Hervorh. S.T.]
Das „andere Feld“ bezieht sich auf das triviale Thema vom Spieler sowie die Bearbeitungsoptionen zugleich, wobei die erbetene Nachsicht sich gegebenenfalls erübrigen könnte, wenn Theodors Verfahren den Stoff enttrivialisierte. Individualerfahrungen dringen mit ihren privaten Erzählanlässen in die poetische Struktur und verhelfen so einer entsprechenden Narration, die mit den rudimentären Instanzen von Autor-, Erzähler- und Leserschaft zu spielen beginnt. Das Glücksspiel erreicht mit seinen um 1800 bestehenden Koordinaten ein Abbild der historischen Gegenwart, wie es innerhalb dieses Kontextes überhaupt das Gespür für die Erfahrung des Gegenwärtigen, des ahistorischen Spiels, spiegelt. Der Habitus des Hasardierens an öffentlichen Spielbänken fällt mit seinen politischen Lizenzen der prä- und postrevolutionären Neuzeit zusammen, wie es auch mit der Neueinrichtung eines Empfindens vom Jetzt paktiert. Derartige Parameter ebnen den Weg in die an ihrer sozialen Gegenwart bzw. gegenwärtigen Archäologie interessierten Texte des aufkommenden europäischen Realismus bzw. der literarischen Nobilitierung der „wirkliche[n] Begebenheit“.
39 Hoffmann, Die Serapions-Brüder, S. 855. Manfred Schneider weist zudem auf das Gesamtkonzept der im narrativen Rahmen integrierten Erzählungen und Novellen als bevorzugten Gattungen. Hoffmann unterscheidet sich dahingehend von den großen Vorbildern der Novellensammlung – v.a. Boccaccio und Goethe – durch den Wechsel vom mündlichen zum schriftlichen Erzählen. Vgl. Schneider, Serapiontische Probabilistik, S. 263. 40 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 856.
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Entsprechende Markierungen sind unter dem Zeichen des Gegenentwurfs aus dem Serapiontischen heraus etabliert. Die Prämissen des Textes – wider die Konvention, wider die (historische) Quelle, wider das Drama – können noch um „wider Iffland“ ergänzt werden. Die Freunde spotten über die misslungene Portierung von dessen Schauspiel Die Jäger in die erzählende Form, kurz bevor das Spieler-Glück einsetzt, wodurch sich Iffland als Vertreter des Rührseligen (und dadurch Nicht-Serapiontischen) in die Reihe der expliziten Abgrenzungsgrößen verwiesen sieht. Dieser gattungsästhetische und qualitativ wertende Kommentar platziert sich vor der Spielerzählung und verknüpft sich so mit der provokanten Hervorhebung des Glücksspiels als gültigem Erzählstoff,41 der sich nicht bereits als lasterhaftes Vorbild oder kurzweiliges dramatisches Intermezzo erschöpft. Die moralisch belegbaren Passagen des Textes können in das Permutationsschema eingeordnet werden, etwa dahingehend, dass eine Bewertung und Konsequentialität des Spiels uneindeutig bleibt. Mehr noch: Diese Uneindeutigkeit im Windschatten seines Hasard-Narrativs zu inszenieren wird zur einschlägigen Innovation des Textes. Persiflierend demonstriert dies das gebrochene Happy End, demzufolge jener Baron Siegfried, der innerhalb der Erzählung als Rahmenfigur eingesetzt wird, äquivalent zu Ifflands Spielerfigur (ebenfalls ein Baron), letztlich dem Spiel entsagt: „Der Baron erkannte die Warnung des Himmels, der ihm, als er eben sich dem Abgrund näherte, den Chevalier Menars in den Weg führte zu seiner Rettung, und gelobte, allen Verlockungen des täuschenden Spielerglücks zu widerstehen. Bis jetzt hat er getreulich Wort gehalten.“42
Die Reaktion von Hoffmanns Baron parodiert im Modus des fixen Gelöbnisses, das sich aus einer kategorischen Distanz ergibt, die zwischen jener „Warnung des Himmels“ und den Tiefen des „Abgrund[s]“ liegt, die Reaktion von Ifflands Wallenfeld über ihre aufdringlich kokette Anbiederung an ein teleologisch vorgebildetes Schicksal des Spielers. Jener Chevalier Menars bricht zuvor mit der paternalistischen Rolle des Generals Bildau, indem er sich selbst nach seiner Erzählung in der Erzählung als 41 Die gegenseitige Überblendung von Zufall und Erzählen wurde sodann auch als Vorgang einer formalen Integration gedeutet. U.a. vermutet Achim Küpper diesen Vorgang etwa in der Gattungsausprägung der Novelle mit seiner unerhörten Begebenheit. Vgl. Küpper, Einleitung, S. 15. Vgl. auch Gendolla, Erdbeben und Feuer, S. 197. Für einen ausführlicheren Vergleich mit den Spielertypen bei Iffland (und in Heinrich Zschokkes Roman Das Goldmacherdorf von 1817), vgl. Pastor, Blicke in ein „elendvolles Ich in widriger Nacktheit“?, S. 82ff. und S. 85ff. Pastor pointiert einen literarischen Positionswechsel dem Hasard gegenüber bei Hoffmann (aber auch Heine, Balzac, Schnitzler etc.) mit der Abkehr von zugeschnittener Tugendmalerei hin zum Agens des Glücksspielens. 42 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 887.
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pathologischer Spieler entpuppt. Der letzte Satz des Textes besticht dabei durch die deiktische Konstruktion des „Bis jetzt“, die als temporale Modifikation in Kontinuität zum Verhältnis zwischen Suchtspieler und Zukunft zu lesen ist. Ist dessen letzte Runde nur als letzte vor der nächsten definiert, in der das permanente Werden des Spiels immer wieder einen Hauch der rasant voranschreitenden Gegenwart nachbildet, beschränkt diese Formel ihre Bilanz auf den Stand der brüchigen Gegenwart, verspricht darin aber keine Garantie für die Zukunft, wodurch eine stetig offene Möglichkeit des Wortbruchs klafft.43 Diese Möglichkeit wird nicht allein durch Sylvesters Revision solcher Eidesstatt später im Anschluss an Theodors Vortrag noch einmal ausgesprochen, sondern in den bis zur bipolaren Störung sprunghaften Spielerfiguren, die das Spieler-Glück selbst entwirft, bereits vorbereitet.44 In der für hoffmanneske Geschichten nicht ungewöhnlichen Präsentation einer Serie von Wiederholungsfiguren sind vier parallel gestaltete Spieler aneinandergereiht, die sich alle durch ihr unwahrscheinliches Glück am Spieltisch auszeichnen.45 Die Staffel reicht vom Wucherer Vertua über den besagten Chevalier Menars, der als intradiegetischer Erzähler in der dritten Person von den eigenen Erfahrungen als Spielsüchtiger berichtet, bis zu Siegfried, der dieser talking cure beiwohnt. Zusätzlich zählt auf der Ebene der Serapions-Brüder noch Theodor mit einem Komplementärnarrativ46 selbst zu den Glückskindern des Spiels. Diese Wiederkehrer entsprechen kaum der allenthalben verführerischen Rubrik des schauerromantischen Doppelgängers.47 Die narrativen Feinheiten ihrer seriellen Verweisung und ihres mehrschichtigen genealogischen sowie psychologischen Zusammenhangs kommen zuvörderst 43 Zur Relativität des „Bis jetzt“, vgl. Schnyder, „Va banque!“, S. 78. 44 Sylvester entlarvt, dass die von Theodor entworfenen Spielernormen jene „bewiesene Tapferkeit“, die Siegfried am Ende zugesprochen bekommt, als „sehr schwer, vielleicht unmöglich“ zu realisierende Standfestigkeit bereits wieder in Frage stellen. Hoffmann, Die Serapions-Brüder, S. 892. 45 Gelegentlich wird als fünfter im Bunde noch der auch im Text nebenbuhlerische Offizier Durvenet hinzugezählt, etwa bei Schnyder, „Va banque!“, S. 77. Man erfährt aber zu wenig über dessen Spielerkarriere, um diese Ergänzung erhärtend rechtfertigen zu können. 46 Theodor berichtet von seiner selbst erlebten, in „Tradition“ vorgefundenen Quelle der Erzählung, die in einer eigenen Spielepisode besteht, inklusive unwahrscheinlichen Glücksphasen. Die intradiegetische Erzählung des Spieler-Glücks bezieht so die fiktionale „Wirklichkeit“ ihres Rahmens als Bezugswelt ein und zeigt, wie eine als unwahrscheinlich erfahrene Behauptung der Fiktion – das enorme Glück im Spiel – durch eine Referenz auf das „echte“ Leben glaubwürdig gemacht wird. Es demonstriert den massiven statistischen Ausfall in der Realität, der dadurch geradezu zum Grundmoment des Erzählens wird. Vgl. Hoffmann, Die Serapions-Brüder, S. 888-892. 47 Mario Grizelj spricht etwa von einer „doppelten Doppelgängerstruktur“. Grizelj, Verschachtelte Ordnungen, verschachtelte Identitäten, S. 77.
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mit den Ähnlichkeiten ihres Zufalls zustande, kaum aber aufgrund einer etwaigen zufälligen oder determinierenden Verwechselbarkeit ihrer Personen. Die Figur des Doppelgängers lässt offen, wie sie die schlagende Verschiedenheit der einzelnen Figuren erklären könnte, die nämlich allenfalls in der Wiederholung des „glücklichen“ Zufalls Gemeinsames aufweisen.48 Spieler-Glück fordert die Differenz ein zwischen dem Doppelgänger, der das eine dem anderen verwechselbar macht, und der Wiederholung, die auf eine klare Unterscheidung des einen vom anderen zu setzen hat. Das Unterschiedene der Zufallssucht jener Wiederkehrerfiguren wird sich in diesem Sinne erst in der Verteilungsinterpretation ihrer je eigenen Zufälle gleich. Ihre dortige Gemeinsamkeit des unwahrscheinlichen Glücks äußert sich schließlich bei Siegfried, stellvertretend für die anderen Figuren, folgendermaßen: „Er [Siegfried] fand sich bei der Bank ein mit dem festen Vorsatz, die bedeutende Summe, die er eingesteckt, zu verlieren; aber auch im Spiel wurde ihm das Glück, das ihm in Allem, was er unternahm, zur Seite stand, nicht untreu. Jede Karte, die er wählte, gewann. Die kabbalistischen Berechnungen alter geübter Spieler scheiterten an dem Spiel des Barons.“49
Würde die kabbalistische Kalkulation gegen die probabilistische getauscht, wäre als intelligibler Rest immerhin die bezifferbare Unwahrscheinlichkeit als Ausdruck einer Diversität stehen geblieben, die dementsprechend aufsehenerregend rezipiert wird. Es handelt sich bei der Berechnung um eine Mystifizierung des Zufalls, die seine potentielle Einseitigkeit im Rahmen gleichwahrscheinlicher Ereignisketten konsequent zu ignorieren bereit ist. Als Gunst erscheint dieser Zufall kaum aufgrund der materiellen Gratifikation, die mit dem Glück einhergeht, sondern nur bezüglich seiner verstörenden Einseitigkeit. Eine ethische Frage nach dem Glück im Sinne der guten Lebensführung, der eudaimonia, ist in diesem Moment des titelgebenden Spieler-Glücks nicht enthalten. Das Glück hält weder als eine Form korrekter Schicksalsordnung noch als subjektive Wunscherfüllung her, schließlich plant Siegfried gar nicht zu gewinnen. Der stetige Erfolg im Spiel klebt aus dieser Perspektive als kontraintentionales Geschehen vielmehr wie Pech an ihm, wodurch die Rede vom Glück um seine intentionslose Tendenz der Zufallsverteilung erweitert und im Sinne nach-
48 Auch die Feststellung eines „gespenstische[n] Zug[es]“ der Figuren relativiert sich, da dieser Eindruck ja erst aufgrund der Wiederholung des Unwahrscheinlichen aufkommt. Genauso wäre die poetische Doppelung verschiedener Elemente auf der „Sachebene“ und „Formebene“ mit einem Begriff der Wiederholung zu beschrieben. Vgl. ebd., S. 77ff. Zur Struktur der Wiederholung, vgl. auch Pabst, Schicksal bei E.T.A. Hoffmann, S. 169. Pabst lässt allerdings den Effekt des Wiederholens durch die Erfüllung des (exogen eingeschränkten) „Fatums“ vom Spielen fließen. Vgl. ebd., S. 173. 49 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 858
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probabilistischer Ausdeutungen terminologisch relevant wird.50 Die entfaltete Konkurrenz zwischen Kontingenz und Fortuna äußert sich in der Designationsschärfe der Rezipienten dieser Spiele: „Übrigens konnt’ es nicht fehlen, daß die Geschichte von dem wunderbar glücklichen Spiel des Chevaliers von Mund zu Mund lief, und daß noch allerlei rätselhafte geheimnisvolle Umstände hinzu gedichtet wurden, die den Chevalier als einen Mann, der mit den höheren Mächten im Bunde, darstellten.“51
Diese Zuschreibung des Wunderbaren wird später mit einem rationalen Verdacht vervollständigt, der aber gleichfalls davon zeugt, inwiefern die Aktivität der Kontingenz auch unter Aufklärern und ihrer juristisch gebildeten Institutionen als Affront gewertet wird: „Man beschuldigte ihn [den Chevalier, S.T.] überdem des falschen Spiels, sein unerhörtes Glück sprach für die Wahrheit der Anklage.“52 Das unmittelbare Indiz eines Falschspiels fußt auf einer novellistisch „unerhört“ wirkenden Qualität. Diese ist allerdings weniger aus der Sachlage von Kontingenz und Zufall abgeleitet, als deren Auslegung mit dem bereits narrativ bündelnden Term des Glücks aufgezwungen. Der Text bietet mit diesem unwahrscheinlichen, deswegen aber nicht zwangsläufig unheimlichen Glück der Spieler eine fantastische hésitation zwischen zwei Lektüreregistern an: Eine überkodierte Bedeutungssuche, gemäß derer „höhere Mächte“ und „Abgrund“53 interveniert haben; und die Möglichkeit des Unwahrscheinlichen als statistischem Ausfall, bei der keine höhere oder niedere Bedeutung hinter der probabilistischen Merkwürdigkeit steckt. In der Erzählung selbst wird noch in Richtung des ersten Stranges kommentiert, namentlich durch die manipulativen Erzähler – allen voran Menars – und mit der abschließenden Konzentration auf den Rezipienten Siegfried. Es wird gleichzeitig die Möglichkeit der anderen Variante materialisiert und darin ein wesentliches Moment der Kontingenz inszeniert, das sich durch die Implikationen des Wiederholungsnarrativs ergibt. Eine Interpretation des 50 Die Kontradiktion zwischen Glück als normativer Vokabel für eine positive Wendung und deskriptiver Bedeutung für die einseitige Wahrscheinlichkeit wird von der Erzählung einmal selbst ausgenutzt. Sie redet dort über den Wahnsinn desjenigen, der diese Einseitigkeit eben nicht als positive Wendung empfindet: „[...], denn wahnsinnig müßte doch der Spieler sein, der sich über sein Glück entsetze.“ Ebd., S. 859. Zur Polysemie des Glücks, vgl. Stadler, Über Sonderlinge, Spieler, Dichter, S. 287f. Vgl. auch Schnyder, „Va banque!“, S. 75f. Betreffs einer romantischen Wende der Verhältnisse vom Wünschen zum (Un-)Glück im Märchen, vgl. Menninghaus, Lob des Unsinns, S. 142-148. 51 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 865. 52 Ebd., S. 882. 53 Der Abgrund fungiert als einschlägig leere Trope in der bereits zitierten Endpassage des Textes. Vgl. ebd., S. 887.
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Spieler-Glücks bedeutet in diesem Sinne, Siegfrieds Interpretation von Menars’ Erzählung zu interpretieren und in das Verhältnis zu den anderen Interpretationsangeboten seines Textes zu stellen. Siegfrieds Lektüre des Spiels in Menars’ Erzählung gewährt Anhaltspunkte impliziter Interpretationstheorien. Diese Theorien sind einerseits auch Teil einer Interpretation der gesamten Erzählung, wie sie parallel dazu zum Interpretament der Binnenerzählung avancieren. Dieser Blick durch zwei Spiegel unterliegt dem Aktionsbereich des Zufälligen, denn der Text enthält einerseits starke Anreize für die Bewertung des Spielerdaseins als Schicksal, welches auf Tod endet, zeigt aber andererseits auf, inwiefern eine solche Festlegung bestritten werden kann. Das eine ist eine designationseifrige Deutung, in der die einzelnen Teile unabhängig von ihrem Ist-Status dasjenige bedeuten, was ein Leben im Spiel schließlich bedeuten könnte. Einer solchen „wunderbaren“ Lesart sitzt Siegfried auf.54 Die andere markiert die Zusammenhangslosigkeit einzelner Ereignisse der Erzählung, insbesondere zwischen Spiel und Tod. Die Simultanität beider Varianten liegt unter der Deutung des Zufalls begraben, der entweder das Schicksal des Spielers bedeutet – oder gar nichts bedeuten kann. Das Werden der serapiontischen Poetik versammelt sich in dieser Ambivalenz, die ihren Reiz mit der herausfordernden Destinationslosigkeit des Glücksspiels erhält. Als Suggestionskraft ihrer internen Deutungsmuster und der an sie heranzutragenden Deutungen strebt dabei das Prinzip der Wiederholung in den Vordergrund.
AUTOMATISCHE DES Z UFALLS
W IEDERHOLUNGEN DER S IGNIFIKANTEN
Mit der Wiederholung restituiert Hoffmann keine Identitäten, sondern weist auf die Differenz zwischen einem bestimmten Register an Gemeinsamkeiten und deren Nacheinander hin. Die Wiederholung eines Selben ist in ihrem kostümierten Ablauf des Wiederholens zugleich etwas Anderes als dieses Selbe. Freud erörtert die Wiederholung als Erbringung eines Gewesenen – abermals mit dem Analysandum des Kinderspiels und seinem lustvollen Herstellungsversuch eines Selben exemplifiziert55 –, das bis hin zum anorganischen Vor-dem-Leben reicht: Ein Trieb, den es dorthin treibt, wo es keinen Trieb mehr gibt.56 Die regressive Wiederholung bietet mit diesem Todestrieb sowie ihrem Bedingen von Lust (von dort aus jenseits des Lustprinzips verortet) eine Perspektive auf die psychologische Kausalität des Textes von Hoffmann an. Dort tritt zunächst das Glücksspiel als unchiffrierter Zwang des 54 Vgl. hierzu auch die Hoffmann-Interpretation in Strobel, Eine Kulturpoetik des Adels in der Romantik, S. 240. 55 Vgl. Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), S. 245f. 56 Vgl. ebd., S. 248.
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Wiederholens bestimmter Begebenheiten auf, die ein stures Reaktivieren von Zufall bzw. Glück lostreten. Die in Hoffmanns Erzählung offensiv einander ähnlich gestalteten Spielerfiguren lassen diese Wiederholung sodann in den narrativ konstruierten Erben wiedererkennen, was den Wiederholungszwang der Erzähler herausarbeitet. Sie wiederholen permanent jene Wiederholungszwänge der Spieler, kombinieren sie miteinander unter der Betonung ihrer Ähnlichkeiten und möchten ihre kollateralen Spielerfahrungen – bis zum Abgrund – als Wiederholungen von Bedeutung verstanden wissen. Menars’ Erzählung insistiert auf diesem Relais, bei dem die Wiederholungen des Spiels und somit die Wiederholungen des Spieler-Glücks auch die Wiederholungen des Spielerschicksals zu bedeuten behaupten. Dieser Fokus eröffnet einen Blick auf das narrative Arrangement des Spiels. Seine Triebwelt findet weniger in der unbewussten Wiederholung einer Begebenheit als in der automatischen Wiederholung des zufälligen Signifikanten statt, der in Hoffmanns Glücksspiel-Erzählung gleichsam ein Zufallssignifikant ist. Lacan spricht hinsichtlich einer permanenten, ortslosen Zirkulation des Signifikanten von „l’automatisme de répétition“, der solange willkürlich wirkt, wie er nicht in die symbolische Kette („chaîne symbolique“) gefädelt ist oder die symbolische Ordnung („l’ordre symbolique“) beschreibt.57 Eine vom Subjekt abstrahierte stetige Wiederkunft der Spielsignifikanten von Kartenwerten, Geldwerten und Äußerungen der Croupiers wird im Spieler-Glück als Merkmal des Wiederholungszwangs vom Spieler angeboten, auch ohne Siegfrieds Ordnung und die darin enthaltene Schicksalsneurose herstellen zu müssen. Für ein solches Verständnis der Erzählung ist die Bedeutung des Wiederholungskonstrukts innerhalb der Verschachtelung des Textes und gegen die Subjektivität der Spieler essentiell. Die Tätigkeit des Glücksspielens besteht in dieser Hinsicht aus der Wiederholung von Zufallsaktualisierungen. Diese rein formale Tätigkeit wiederholt sich ihrerseits in der Erzählung durch verschiedene Figuren, inszeniert sich darin biografisch determinierend, ist aber letztlich nur auf die Determination seines Vorganges, nicht auf direkte biografische Konsequenzen festzulegen – entgegen Siegfrieds Interpretation. Es wiederholt sich allein die Wiederholung des Zufälligen. Insofern findet sich ein strukturelles Analogon zu Freud, als die Spieler mit ihrem Wiederholungszwang permanent das Anorganische des toten und darin interesselosen Zufalls bedienen, wodurch sowohl Lust- als auch Realitätsprinzip unter den Spieltisch fallen. Gerade dieser Modus der Wiederholung beschreibt einen Raum, in dem nicht der psychologische Drang der Spieler zum Spiel oder ihre Verfasstheit während des Spielens relevant ist, sondern die (immer wiederkehrende) Konfrontation des bios der Spieler mit dem Zufalls-automaton: „L’automatisme de répétition“ ist auch der automaton der Wiederholung, die Durchdringung der Wiederholung mit dem Zufall.
57 Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, S. 11f.
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Es ist diese Konfrontation, die auf struktureller Ebene des Erzählens wiederholt wird, zuungunsten eines biografischen Abgrundes als Destination des Spielers. Dieser Komplex findet an den Schnittstellen der jeweiligen Spielerfigurationen statt, zunächst während der initialen Motivation zum Spiel, die bei Siegfried und Menars kategorisch verschieden ist, sich betreffs der Intensität hingegen qualitativ gleicht. Siegfried verfällt dem Spiel aufgrund des ludus, „da nicht der Gewinn, sondern recht eigentlich das Spiel ihn anzog“58. Bei Menars ist die Chrematistik verantwortlich: „Nicht Spielsucht, nein, der gehässigste Geldgeiz war es, den der Satan selbst in seinem Innern entzündet! – Mit einem Wort, es war der vollendetste Bankier, wie es nur einen geben kann!“59 Der eine Spieler konsumiert das Spiel, der andere den Geldgewinn, wobei auch letzterer schließlich seinen Weg weniger in materiellem Genuss beschreitet als in der Aufzehrung permanenter Wiederholungen. Beide Varianten der Spielsucht gleichen sich insofern über ihr jeweiliges sekundäres Konsumgut, das sich als eine unablässige Wiederholungsschleife entpuppt. Der konstante Verzehr dieser Wiederholungsschleife wiederum wiederholt sich mit den verschiedenen Spielerfiguren der Erzählung, von Vertua bis Theodor. In beiden Formen des Verfallens an Glücksspiele ist die Bewegung des Spiels genuin mit der Mobilität von Geld verknüpft. Karten- und Münzwerte unterscheiden sich nicht als Faktoren des Zeichenaustausches, der in der Zahlenkombination des dubiosen Pharospiels60 oder in der in diesen Werten verschlüsselten monetären Repräsentation enthalten ist. Geld und Spiel verfahren jeweils als Medien des konstanten, sich gleichenden, persistenten und (mit den Effekten des Verfallens und Verfalls) aggressiven Austausches. Hinsichtlich dieser Wiederholungsmechanismen wird die im Spieler-Glück vorgeschlagene Typologie eines „echte[n]“61 Spielers einerseits und eines materiellen Spielers
58 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 859. 59 Ebd., S. 867. 60 Pharo, das adelige Spiel der Könige (daher ursprünglich auch „Pharao“), gilt als seinerzeit beliebtestes Spiel der Kurorte, Fürstenhöfe und dramatischen Spielfigurationen, das mit einer eminenten Gefahr der hohen Verschuldung praktiziert und so zur Illustration des sinkenden Adels eingesetzt wurde. Vgl. Jahn, Das Spiel des Zufalls und die Ökonomie des Dramas, S. 135ff. 61 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 867. Die Unterscheidung zwischen echten (eigenen, autonomen, spielbetonten) und materiellen (fremden, heteronomen, gewinnbetonten) Spielern findet sich im Ansatz schon bei Pascal, der „l’amusement de jeu“ und „le gain“ als Mechanismen des Spielens zunächst distinkt betrachtet, schließlich aber beides zusammenführt. Pascal, Pensées (1669), S. 125. Allerdings lässt das spezifische Vergnügen eines Spiels um Gewinn beide noch getrennt erscheinen. Betreffs Hoffmanns Erzählung wird auf diese Trennung tendenziell zu stark vertraut. Vgl. etwa Nitsch, Rechner und Seher, S. 56ff. Nitsch verknüpft die Leistung der Unterscheidung nachvollziehbar mit dem frühromantischen
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andererseits hinfällig, wohingegen die Unterscheidung eines eigenen Spiels – bei Hoffmann das selbstgenügsame, autoreferentielle, mithin autoerotische Spiel62 – vom ersatzweise vorgenommenen Spiel für ein exogen vorgegebenes Ziel zu trennen ist. Dass die Beschäftigungsintensität über die jeweiligen Wiederholungsmechanismen gleichbleibt, wird von der Erzählung bzw. vom Chevalier derweil eingestanden: „Ach, rief der Fremde, ach, eben dieses Glück ist die entsetzlichste hämischste Verlockung der feindlichen Macht! – eben dieses Glück, womit Sie spielen, Baron! die ganze Art, wie Sie zum Spiel gekommen sind, ja selbst Ihr ganzes Wesen beim Spiel, welches nur zu deutlich verrät, wie immer mehr und mehr Ihr Interesse daran steigt – alles – alles erinnert mich nur zu lebhaft an das entsetzliche Schicksal eines Unglücklichen, welcher, Ihnen in vieler Hinsicht ähnlich, ebenso begann als Sie.“63
Der Chevalier bestätigt, trotz der angesprochenen Unterscheidung von „zweierlei Arten von Spieler[n]“64, ihrer Gemeinsamkeit im „Glück, womit sie spielen“, im Weg in das Spiel und in ihrem „ganze[n] Wesen beim Spiel“. Das Wiederholungsprinzip der Erzählung besteht nunmehr in der Wiederholung verschiedener Wiederholungszwänge des Spielers. Dass die beiden intradiegetischen Spieler Vertua und Menars schließlich sterben müssen, Siegfried jedoch auf der rettenden Potenzialität des „Bis jetzt“ zumindest gegenwärtig noch verschont bleibt, ist nur bedingt ein Bruch mit der Wiederholung, die damit kokettiert, den Spieler wie auch die Erfüllung der Wiederholung durch Erzählen zu kurieren. Denn erstens sterben Vertua und Menars nicht in Folge ihrer Spielsucht, sondern in einem Fall an Altersschwäche, im anderen an einem (möglicherweise sogar durch die Wiederholung des Erlebten im Erzählen ausgelösten) Nervenschlag. Zweitens waren beide Figuren im Laufe ihrer Karriere als Glücksspieler ebenfalls kurzfristig kuriert, darin aber auch – wie es der Schlusssatz mit Blick auf Siegfried impliziert – „[b]is jetzt“ ewige Rekonvaleszenten, nur um das Spiel an kontingenten Punkten in ihrem Leben wieder aufzunehmen. Der finale Rückfall des alten Vertua vollzieht sich etwa auf dem Sterbebett und enthüllt darin einerseits die persönliche Bedeutung des Spiels in der Vita, andererseits aber genauso
Kunstdiskurs, verliert darüber aber die kongruente Inszenierung beider Typen durch die Mechanismen des Zufalls aus den Augen. 62 Vgl. auch Freud, Dostojewski und die Vatertötung, S. 285f.: „Das ‚Laster‘ der Onanie ist durch das der Spielsucht ersetzt, die Betonung der leidenschaftlichen Tätigkeit der Hände ist für diese Abteilung verräterisch. Wirklich ist die Spielwut ein Äquivalent des alten Onaniezwanges, mit keinem anderen Wort als ‚Spielen‘ ist in der Kinderstube die Betätigung der Hände am Genitale benannt worden.“ 63 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 863. 64 Ebd., S. 866.
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deutlich seine Nicht-Bedeutung als Phantasma eines Sterbenden, für den die Zeichen des Spiels nichts als Immanenz zu bieten haben: „Seit jener Nacht, als er sein ganzes Vermögen an des Chevaliers Bank verlor, hatte er nicht wieder eine Karte berührt, aber in den letzten Augenblicken des Lebens schien das Spiel seine Seele zu erfüllen ganz und gar. Während der Priester, der gekommen, den Trost der Kirche ihm zu geben im Dahinscheiden, von geistlichen Dingen zu ihm sprach, lag er da mit geschlossenen Augen, murmelte zwischen den Zähnen – perd – gagne – machte mit den im Todeskampf zitternden Händen die Bewegungen des Taillierens, des Ziehens der Karten.“65
Das konfessionelle Sterberitual zerbricht mit der performativen Simulation bzw. mit seiner Mimikry des Spielens durch den moribunden Vertua die sakrale Ebene. Es findet ein Vorspielen des Spiels statt, das einen maschinisierten, in binären Codes stammelnden Spieler zeigt, der die automatisierten, mathematischen Bewegungen des Bankiers imitiert. Sie verlagern den Agenten des Spiels in einen von Metaphysik und Intersubjektivität enthobenen Bereich. Die körperliche Erschöpfung des Spielers erzeugt eine transzendentale sowie soziale Einsamkeit, die mit autoreferentieller Subjektivität und Semiotik belegt ist: Der Chevalier registriert die Signifikatslosigkeit exakt derselben Todessignifikanten Vertuas, unmittelbar bevor er selbst zu spielen anfängt: „Nun erst trat der Gedanke, wie wunderbar das Glück ihn an der Pharobank begünstigt hatte, lebendig vor seine Seele und träumend und wachend sah er Karten, hörte er das eintönige – gagne – perd des Bankiers, das Klirren der Goldstücke.“66 „Perd“ und „gagne“ erscheinen hier nicht nur als jeweils austauschbare Laute, sondern sind in ihrer Beliebigkeit untereinander auch durch die Stellung im Text als vertauscht und vertauschbar exponiert: Bei Vertua stehen sie in der Reihenfolge „perd – gagne“, beim Chevalier genau umgekehrt. Die vertauschte Abfolge ist als Indifferenz ihrer jeweiligen Signifikate mit dem Abgleich beider Stellen in den Text eingetragen. Es geht nicht um Gewinn oder Verlust, sondern die Wort- und Spielkunst der Zeichen. Die Verwechslung der sprachlichen Signifikanten sowohl untereinander als auch mit dem nichtssagenden Klang der klirrenden, fallenden Goldstücke, die den Tönen des Bankiers hierarchisch beigestellt sind und eine monofone Klangkulisse ohne Bedeutung installieren, erzeugt eine Äquilibration und Adaption des Spielers an seine maschinell bestimmte, semantisch leere Umwelt. Sie manifestiert sich in der feindlichen Übernahme von Psyche und Körper: „Ohne daß er es selbst bemerkte, regte sich 65 Ebd., S. 880. Die Szene des Sterbenden als Glücksspieler könnte von einer Anekdote um Lessing inspiriert worden sein, von dem erzählt wurde, er hätte „noch auf dem Totenbett Nummern für die Lotterie gewählt“. Guthke, Der Glücksspieler als Autor, S. 357. 66 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 865f. Zur Funktion der Gallizismen im Text und dem Spiel Pharo, vgl. Schnyder, „Va banque!“, S. 77.
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in dem Innern des Barons die Lust an dem Farospiel, [...].“67 Das Unbewusste dieser Lust ergibt eine Paradoxie, die sich angesichts einer Fremdbeherrschung durch das Spiel in Hoffmanns Hasard-Inszenierung fügt. Über Menars heißt es später: „In einer Art von Betäubung erwachte er am andern Morgen“68, dem Morgen nach dem ersten Spiel, zunächst ohne Erinnerung an die vergangene Nacht. Die Nähe zum toxischen Rausch setzt sich als Transformationsprozess ins intellektuell Verkümmerte und ungepflegte Äußere fort: „Das wilde, wüste Leben des Spielers vertilgte bald alle die geistigen und körperlichen Vorzüge, die dem Chevalier sonst Liebe und Achtung erworben hatten.“69 Die Katerstimmung nivelliert abermals den Unterschied zwischen einem Spiel des Spiels und dem Spiel des Geldes wegen: Beide Tätigkeiten erwirken denselben Rauschzustand und sind sich in diesem Sinne als wiederholende, aber leere Austauschmanöver gleich. Die Transaktion von Körper und Geist für die Wiederholungen des Zufalls beschreibt weniger einen sozialen Verfall als eine asoziale, ahistorische, intraludische Ökonomie, die ein Erzählen des Lebens vom Erzählen des Spiels unterscheidet. Eine Lebensunfähigkeit des Spielers wird von der Aufbereitung des Zufalls als Schicksal des Glücksspielers kontrastiert, worin bei aller Redundanz eine Determination à la Siegfried bereits enthalten ist und dieser zugleich widersprochen wird. Die Paradoxien aus Derridas Satz vom „believe in chance“ befinden sich auch in diesem Gedanken, der den Bogen vom Vorgang des Spiels zur Funktionsweise des Textes schlägt. Der Text befragt das Glücksspiel nach seinem kontingenten Gehalt, indem er aufzeigt, dass das Schicksal der Kontingenzsucht – der Sucht nach den indeterminierten Zeichen des Zufälligen im Glücksspiel70 – nur dann mit jenem obskuren Abgrund in Zusammenhang steht, den Siegfried glaubt, nach den Schilderungen Menars’ vor sich erblicken zu können, wenn man, wie der Baron – als Vertreter des alten Adels – dieses Schicksal vorab bestätigt. Unter der determinierenden Rezeptionsprämisse, die Siegfried nach Ablauf der Erzählung des Chevaliers annimmt und darin das Erzählte gewissermaßen vereindeutigt empfängt, wird jene Kausalität zwischen Spiel und Abgrund, die das marode „Bis jetzt“-Gelöbnis motiviert, interpretatorisch durch die Figur konstruiert. Die Botschaft der Möglichkeit schlägt so unmittelbar und verzögerungslos, so unverschoben in eine unhaltbare Präzision über, dass diese Läuterung eine pädagogische Rezeptionsintention ironisiert. Gleichzeitig demonstriert Spieler-Glück, dass eine stakkatoartige Wiederholung der Kontingenz im Spiel, wie sie Vertua auf dem Sterbebett zur Aufführung bringt, ein Rauschen der arbiträren Zeichen evoziert, in dem jene Kausalität zwischen Spiel und Abgrund untergehen muss. Siegfried, der sich eingangs dem „wehmütig ernsten 67 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 859. 68 Ebd., S. 866. 69 Ebd., S. 867. 70 Vgl. Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, S. 39.
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Blick“ und gleichzeitig „düstren Auge“71 Menars’, in dem die erstarrende Rückkehr zur determinierenden Lesart bereits enthalten ist, entziehen möchte, ist als Spieler unempfänglich für einen solchen Kausalismus. Der Baron vom Ende der Erzählung, der die „Warnung des Himmels“, das Zeichen der Erzählung von Menars zu erkennen glaubt, restituiert sie. Vice versa die Wiederholung: Für den Spieler ist sie lediglich die Mechanik der Zufalls- bzw. Glücksproduktion, für den Baron das Vorzeichen des Zeichens, welches ihn in den Abgrund verdammt, der wiederum selbst nur für letzteren als eindeutiger (moralischer) Signifikant besetzt ist, ansonsten als Chiffre des Abstiegs und Fallens fungiert, des dunklen, tiefen und nicht-begründbaren (Ab-)Grundes und seiner Risse. Genau diese Indifferenz zwischen Gültigkeit und Ungültigkeit der Wiederholung lässt auch die Wiederholungsstruktur der Erzählung offen: Nur weil auch den Leserinnen und Lesern von sich ähnelnden Begebenheiten berichtet wird, bietet der Text noch längst keine eindeutige Manifestation einer Bedeutungswiederholung vom Schicksal des Spielers. Die Formen der kausalen sowie der akausalen Exegese werden dabei nicht miteinander in Konkurrenz gebracht, sondern im Laufe des Textes als Schichtungen des Möglichen in Szene gesetzt. Diese Kontingenzvermittlung verweist auf jenen Zug des Signifikanten, weniger zu bedeuten, als penetrant wiederzukehren.72 Die Erzählung des Chevaliers erschließt sich vor dem Hintergrund Lacans als Monolog über die Notwendigkeit der Wiederholung des Signifikanten (erst recht „pour autant que le signifiant [...] matérialise l’instance de la mort“73), angetrieben vom unerfüllbaren Begehren der zufälligen Wiederholungstätigkeit im Glücksspiel, dessen Signifikanten in genuine Akkordanz gestellt werden mit einem Signifikanten des Todes. Doch gleichzeitig wird die Regel hinter diesem Verweis dementiert bzw. als Teil der Ordnung dem Verständnis des sortierenden Akteurs überlassen, der aus beiden Modalitäten ein Ganzes basteln kann. Letztlich wiederholt die Wiederholung des Zufalls ein solches Selbes, das als eine vom Zufall erzeugte Differenz inszeniert ist. Die Wiederholungen des Spielers sind einerseits Teil des Ausdrucks, sich von Bedeutung in der Welt zu überzeugen und diese abzusichern, was etwa in der transzendenten Komponente des Spiels zum Vorschein kommt, nämlich dem Aberglauben des Spielers als Glaube an das Glück, die 71 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 859. 72 „C’est bien ce qui se passe dans l’automatisme de répétition“, bestätigt Lacan die wiederkehrenden Aktivität des Signifikanten. Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, S. 29. Die „incidence“ des Signifikanten ist mit seiner Reihung auf die symbolische Kette nur durch jenen Wiederholungszwang verständlich, der nämlich beides ermöglicht: die stetige Entgleitung wie auch die perspektivische Anschauung etwaiger Bedeutung. Der Signifikant „ne se maintient que dans un déplacement [...], ceci en raison de son fonctionnement alternant en son principe, lequel exige qu’il quitte sa place, quitte à y faire retour circulairement“. Ebd. 73 Ebd. S. 24.
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Bestimmung, das Schicksal oder die Destination.74 Sie sind jedoch andererseits in ihrem einzig möglichen Wankelmut, nach dem der Zufall verschiedene Ergebnisse erzeugt, immer auch der gespenstische Einbruch eines interesselosen Nicht-Bedeutens. Die Differenz zwischen beidem wird im Spiel der Spieler wiederholt, in der Erzählung und Interpretation ihrer Geschichten und schließlich auch in der Erzählung und Interpretation des Spieler-Glücks als Ganzem. Immer verbirgt sich eine Wiederholung derselben Differenz zwischen Zufall und Schicksal hinter den im und vom Text vorgenommenen Wiederholungen, die dessen eigene Bedeutung spaltet und streut. Die Suche nach der Absicherung des Zufalls im Spiel ist in diesem Sinne auch gleichzeitig ein voyeuristischer Drang, die Differenz von Zufall und Schicksal anblicken zu dürfen. Für den literarischen Text ist dies nicht nur ein psychologisches Problem, sondern auch eine Frage der Gestaltung eines Moments, in dem die logische Summe seiner Textteile – seien es sprachliche, symbolische, handlungsrelevante oder doch wieder psychologische Faktoren – in ihrer für den Interpreten als Ordnung nachzubildenden Reihung stetig zerrinnt. Diesen konstanten Wiederholungsreihen entspricht die Wiederholungsgestalt der Kürzestpartien im Glücksspiel. Ihr stetiger Neuanfang, demzufolge eine Partie wieder bei Null beginnt und vorangegangene Ergebnisse nicht länger als existent zu betrachten hat, sichert das Gefangensein im Spiel mit den Gitterstäben des Erzeugens vom gewesenen Selben ab. Sie illustriert darin die Konstitution der Erzählung des Chevaliers, die in einem Drang zum Verständnis mündet, welches sich als ein Verständnis der Wiederholung entpuppt. Hoffmanns Kontingenzinszenierung zeigt, wie Kontexte und Darstellungsgebote eines Kontingenzträgers Glücksspiel an die Struktur der Kontingenz selbst andockt. Die Erschlaffung, Assimilation und Mechanisierung75 des Spielers durch das Spiel findet zunächst in seiner mimetisch akkuraten Erscheinung statt, als Habitus des Spielers, die aber zugleich als Paralysierung und Infektion der erzählten Figur durch die Antinomien der Kontingenz auf der Repräsentationsebene beschreibbar wird. Die Kontingenz des Glücksspiels breitet sich von der psychologischen Ausschaltung des literarischen Subjekts auf eine ahistorische Ebene (auch im Sinne von: außerhalb der histoire, in den Gefilden des discours) aus, wo sie als maschinelle Akteurin die Logik der Figur ersetzt. Das Glücksspiel wird in dieser Hinsicht erst erfüllt, wenn die Ökonomie der strategischen Interventionsmöglichkeit des Lebens durch die Ökonomie des Zufalls im Spiel getauscht wird. Dieser strukturelle Aspekt des Glücksspiels taxiert in der Hasard-Repräsentation einen materiellen Gegenwert, in Gestalt der ökonomischen Verpflichtungen, die das Spiel an den Spieler heranträgt.
74 Vgl. Reith, The Age of Chance, S. 175ff. Speziell zur Wiederholung als Kategorie der Bedeutungserstellung, vgl. ebd., S. 178f. 75 Zur Maschinisierung des Spielers, vgl. auch Schnyder, Alea, S. 256ff.
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(U HR -)Z EIT
DER
Ö KONOMIE
Spieler-Glück kennzeichnet gleich eingangs einen wirtschaftlichen Status, von dem aus die institutionelle Dimension des Glücksspiels auf ihren Produktivgehalt hin verstanden wird: „Von Tage zu Tage mehrte sich der Zufluß vornehmer reicher Fremden und machte den Wetteifer der Spekulanten jeder Art rege. So kam es denn auch, daß die Unternehmer der Farobank dafür sorgten, ihr gleißendes Gold in größern Massen aufzuhäufen als sonst, damit die Lockspeise sich bewähre auch bei dem edelsten Wilde, das sie, gute geübte Jäger, anzukörnen gedachten.“76
Das Spiel funktioniert nicht ohne seine extraludische ökonomische Bedeutung, deren Rolle in Hoffmanns Erzählung ähnlich ambivalent ist, wie das Schicksal des Spielers, sofern der private Ruin als Resultat einer ökonomischen Übertreibung gelten kann: entweder als materieller Ruin im haushohen Verlust, oder als charakterliche Integritätseinbuße im haushohen Gewinn. Das autoreferentielle Spiel ist nur durch seine formale Erzeugung von Zeichen gültig, die aber in ihrer Verrechnung als materielle Gewinne und Verluste durch das äußere Leben der Spieler in Bedeutung treten. Die Gültigkeit des Spiels besteht nun aber nicht allein in der Gültigkeit seiner marktwirtschaftlichen Bedeutung, sondern in einer simultanen Ungültigkeit derselben im Spiel. Diese Simultanität von Ökonomie außerhalb und Anökonomie innerhalb des Spiels erstellt schließlich eine Innen-Außen-Wirtschaft des Hasardspiels: Es erhält seinen lusorischen Sonderstatus, weil es mit einem signifikanten Einsatz hantiert, der während des Spiels insignifikant ist. Ökonomie wird in diesem Sinne zum Rahmenwerk eines Tausches von Sozialität gegen Asozialität, von Historizität gegen Ahistorizität, von Kausalität gegen Akausalität und von Subjektivität gegen die Automatisierung des Zufalls.
76 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 856. Beachtenswert ist die Hinzuziehung der Jagdmetapher für das Glücksspiel. Diese abermalige Spitze gegen Ifflands Die Jäger zeigt, inwiefern das Thema mehr sein kann als nur „Forstwissenschaft“, nämlich – ebenso wie das Glücksspiel – als noch zu etablierender Begriff zeitgenössischer literarischer Äußerungen gewonnen werden soll. Vgl. Hoffmann, Die Serapions-Brüder, S. 856: „Nebenher ist mir aber auch die wissenschaftliche Tendenz dieses Dramas [Ifflands Jäger, S.T.] aufgegangen und ich kann es nicht tadeln, daß in jener Bibliothek unter der Rubrik: Forstwissenschaft, sich auch Ifflands Jäger befanden.“ Es ist zudem darauf hingewiesen worden, inwiefern das Pharospiel allein mit seiner Nomenklatur des Bankiers und seinen Spielregeln bereits einen ökonomischen Diskurs aktiviert. Vgl. Jahn, Das Spiel des Zufalls und die Ökonomie des Dramas, S. 135ff.
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Zu der Gestalt eines passenden autoreferentiellen ökonomischen Einflussbereiches, in dem nämlich nur formale Tauschregeln inhaltsleere Bedeutung hervorbringen, gehört die Passivität des Subjekts. Dieses Verhältnis ist eingangs mit einer Anekdote über Siegfried auf den Punkt gebracht. Er verlor einst zweimal „seine goldne mit Brillanten reich besetzte Uhr“, und zweimal kam sie auf wundersame Weise zu ihm zurück: Zuerst ausgerechnet als Gewinn einer Lotterie und ein zweites Mal als Entlassungsgeschenk für treue Dienste.77 Die merkwürdige Zirkulation, nach der die Uhr wie magnetisch zu ihrem ursprünglichen Besitzer ohne Aufwand, Entscheidung oder gar Begehren schließlich sogar im Wert erhöht zurückzukehren pflegt, erregt nicht allein wegen ihrer erstaunlichen Unwahrscheinlichkeit Aufmerksamkeit, sondern insbesondere aufgrund des zufälligen Austausches, der von ihr mitgetragen wird. Das Prinzip des Tauschens wird in die Binarität von Besitzverlust und -gewinn gereiht und als Sache der tyche verstanden. Der Darstellung von tyche wird an anderer Stelle das auffällige Bild einer „unsichtbare[n] Hand“78 spendiert, die als transzendentale Gliedmaße sowohl des Zufalls als auch von Regularität zum sinnlich wie epistemologisch absenten Organisationszentrum ökonomischer Prozesse herhält. Mit der Uhr untermauert schließlich eine Maschine die entsprechende Mechanisierungstendenz. Ihre Präzision als Gegenstand der Zeitanzeige (sowie als Besitzartefakt von Siegfried) widerspricht zwar der exaltierten Alogik von Zufallsmaschinen, weist aber eine ähnlich geisterhafte Wiederholungstendenz auf. In Fragen der Wiederholung sind Uhr und Spielkarten beide punktgenau. Die Wiederholung der Wiederkehr jener Uhr funktioniert selbst so akkurat und verlässlich wie ein Uhrwerk79 und setzt die Maßstäbe für die Wiederholungszwänge der Spieler, indem sie das Prinzipienineinander von Zufall und Wiederholung als Instanz der Inaktivität des Subjektes beschreibt. Der automaton des Spiels erzeugt einen entkernten Agenten, der das Spiel über sich ergehen lassen muss. Schließlich akzentuiert die Uhr mit ihrer Wiederkehr das Wiederholen als zeitliches Prozedere. Sie kündigt die Maßeinheiten der Wiederholung als bedeutungskonstituierende Zeit der Erzählung an. Die Zeit des Spielers präsentiert sich hier jedoch weniger im grammatischen oder narratologischen Tempus als in der diegetischen 77 Vgl. Hoffmann, Spieler-Glück, S. 857f. 78 Ebd., S. 866. 79 Mit Blick auf Poes Purloined Letter verwendet auch Lacan das Bild der Uhr, um den automatischen Ablauf der Geschehnisse zu betonen („Dès lors tout se déroule comme dans une horloge“), wobei unklar bleibt, ob sich dieser Vergleich auf die Prozedur des ersten Diebstahls vom Brief bezieht oder auch auf den notwendigen Anschluss jenes zweiten, von Dupin ausgeführten Diebstahls zutrifft. Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, S. 13. In jedem Fall ist die Präzision der Ereigniskette nur als solche korrekt, wenn sie über die von Lacan etablierte Lesart eines Wiederholungsautomatismus hinsichtlich der im Brief verdeutlichten symbolischen Kette verstanden wird.
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Verschachtelung der Spielerfiguren, die zeitlos auf ein gleiches Schicksal der Wiederholung festgelegt werden, auch wenn die Erzählung des Chevaliers den Fluch vermeintlich gebrochen haben könnte. Das Schicksal der Spieler wird zu einem Bestandteil dieser uhrwerkartigen Wiederholungsstruktur, der proleptischen Kontingenz. Analog zur wiederkehrenden Uhr ist das Schicksal immer dasselbe, aber mit variablen Werten: Die Spieler erfahren ein Schicksal der Providenz, wenn man das Spiel selbst als Sache der Providenz versteht, als vorgezeichneten Weg in jenen Abgrund, bei dem die unsichtbare Hand (die transzendentale Struktur der Erzählung, die Menars mit seiner Binnenerzählung personifiziert) eingreift. Versteht man das Spiel selbst hingegen als Akt des Kontingenten, als alea und Hasard, ist das Schicksal des Spielers immer die Kontingenz. Das Schicksal ist insofern stets dasselbe, als es, einmal als providentiell verstanden, immer providentiell sein muss, und einmal als kontingent verstanden, immer kontingent zu sein hat. Spieler-Glück bietet den Spieler in seiner kontingenten Varianz an, indem es ein Bekenntnis auf semantischer Ebene zu der einen, und ein Dementi dieses Bekenntnisses auf sequentieller Ebene zum anderen synchronisiert und so die Zweideutigkeit nicht preisgibt. Die Ebenen des Bedeutens finden über das Thema des Glücksspiels zusammen, das nämlich ein Leben (der Spieler) mit dem Erzählen dieses Lebens sowie mit den Bedingungen des Erzählens überhaupt an der ökonomisch maximal reduzierten Tätigkeit des Setzens auf den Zufall zusammenführt. Das Leben der Spieler ist ein anökonomisches, selbst wenn es finanziell produktiv ist. Dieses anökonomische Leben der Spieler erhält in Hoffmanns Erzählung jedoch einzig über die Ökonomie des Glücksspiels, die Wiederholungen des Zufälligen, seinen Sinn. Dieselbe Ökonomie erweist sich damit auch als narrative Ökonomie, die nämlich im selben Maße auf die Wiederholung einer Zufallsrepräsentation setzt, wie ihre Spieler. Diese Aufstellung des Textes fügt dem Spieler noch das Bild seines Todes hinzu, bemerkenswerterweise mit der Anschauung seines Gehirns, das an einer Stelle martialisch offengelegt wird und als kaputtbares Organ das verlorengegangene Epizentrum eines Seins außerhalb des Spiels anzeigt: „Es geschah, daß ein Jüngling von gutem Hause sich, nachdem er sein ganzes Vermögen an der Bank des Chevaliers verloren, im Spielhause und zwar in demselben Zimmer, wo des Chevaliers Bank etabliert war, eine Kugel durch den Kopf jagte, so daß Blut und Hirn die Spieler bespritzte, die entsetzt auseinander fuhren.“80
Der Revolver – spätestens seit Werther ein akkreditiertes Instrument zur Selbsttötung – komplettiert neben der Uhr und dem automatischen Zufall der Spielkarten das Ensemble von Maschinen, die so oder so die Destination des Spielers darstellen. Auch 80 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 882.
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hier findet technische Präzision statt, wenn die martialische Tat wie gewünscht in chaotischer Unordnung des Mündungsfeuers resultiert. Dass das Gehirn des Spielers getroffen wird und in seiner banal organischen Form die anderen Spieler „bespritzt“, seziert ihren orgiastischen Antirationalismus und wiederholt die Zufallsautopsie, die von der Erzählung selbst vorgenommen wird. Das zerebrale Zentrum des Spielers wird dazu als Sitz des Verstehens wie auch des Nicht-Verstehens den Hasardeuren in seiner zersetzenden Gespaltenheit am Spieltisch vorgeführt. Hoffmann baut auf diese Ambivalenz des Verstehens der Wiederholung im Spiel. Siegfried missversteht zunächst die Annäherungsversuche des Chevaliers als Duellforderung: „Ich glaube, erwiderte der Baron betreten, ich glaube Sie zu verstehen und bin bereit, Ihnen Genugtuung zu geben, wie Sie es verlangen.“81 Dieser lehnt dankend ab, er sei kein Freund von Duellen, stattdessen möchte er eine Geschichte erzählen, seine Geschichte, wie sich später herausstellt, die auch die Geschichte des Barons sei. Der Chevalier macht ihn auf diese Weise mit seiner Erzählung und ihren Ereignissen vertraut, die auf einem providentiellen Wiederholungsbegriff beruhen. So inaktiv, wie der Baron die Wiederholungen vorher nur am Spieltisch rezipieren konnte, so intentional kommt er am Ende zur zweifelhaften Deutung der Wiederholung des Abgrundes als persönlichem Schicksal, das Teil der großen Wiederholung des Todes wäre. Der mit der Pistole bewaffnete Hasardeur inszeniert ein Schicksal, das die Spieler aus ihrer schicksalslosen Tätigkeit des Spielens herausreißen. „Nur der Chevalier blieb gleichgültig“, heißt es über die nüchterne Reaktion des Hasardeurs auf den Freitod, „und fragte, als alles sich entfernen wollte, ob es Regel und Sitte wäre eines Narren halber, der keine Conduite im Spiel besessen, die Bank vor der bestimmten Stunde zu verlassen.“82 In diesem Sinne wird das Sein des Spielers außerhalb des Spiels zum Tod des Spielers, der diese Rolle den anderen Spielern intensiv vorführt. Nicht das bios wird in dieser Szene prekär, sondern der ludus, der von einem Schicksal und einer providentiellen Wiederholung gar nichts weiß. Dass im Spieler-Glück Missverständnisse bezüglich der Zuordnung von Zufallsspiel und Schicksal des Spielers lauern, bezeugt eine psychologische Studie, die sich Hoffmanns Erzählung annimmt. Sie berichtet, Menars würde seine Verfehlungen bzw. seine Spielleidenschaft und die damit einhergehende Mangelhaftigkeit für die private Verantwortung mit dem Leben bezahlen.83 Sein Tod ist indes völlig unabhängig vom Spiel, wie alle in der Erzählung gestorbenen Wiederholungstode. Nichts zeigt dies so deutlich wie das unmotivierte Sterben von Vertuas Tochter Angela, zugleich Menars’ Angetraute. Der Chevalier verspielt sie in einem seiner Rückfälle an ihren ehemaligen Verlobten, jenen rachsüchtigen Obristen Duvernet, nur um bei Eintritt in ihr Zimmer so höhnisch wie zynisch feststellen zu müssen: „Schaut hin! – den 81 Ebd., S. 861. 82 Ebd., S. 882. 83 Vgl. Wahrig-Schmidt, Spiel-Zwang, S. 177.
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Leichnam meines Weibes habt Ihr gewonnen!“84 Menars’ Erzählung bricht drei Sätze später ab, ohne dass eine eigentliche Zuordnung dieses Todes in Form einer Todesursache getätigt wurde. Der symbolische Tod Angelas als Akt der Erschöpfung in einer unglücklichen und demütigenden Ehe und zugleich einer martialischen Pointe der Binnenerzählung wirkt als verhängnisvolle Klimax in der Konstruktion unvollständig, da er Angelas durchaus entscheidende Rolle im Ereignisgefüge vergisst. Schnyder sieht Angelas Funktion erst gar nicht in der Opfer- oder Verliererrolle, sondern über ihren fahrlässigen Betrug des Obristen bzw. betreffs ihrer korrumpierenden Eitelkeit als „integrale[n] Teil eines verhängnisvollen Systems“85 des Glücksspiels. Spätestens hier sollte erwähnt werden, dass es sich bei den literarischen Spielerfiguren des 18. und 19. Jahrhunderts fast immer nur um Männer handelt. Frauen dürfen oder sollen nicht spielen, doch, wie bei Iffland, leiden sie häufig unter der Spielsucht ihrer Männer, Väter und Söhne. Dieses Bild wandelt sich auch mit Hoffmanns Charakterisierungen nicht. Es mag sein, dass Angelas Schicksal als sich rächende Untreue gegenüber dem Obristen gelesen werden kann; nur legt diese Lektüre die Figur auch wieder auf ein vollständig vom Spiel der Männer abhängigen Schicksal fest. Das „verhängnisvolle System“ funktioniert genauso gut oder schlecht, wie die Anwendung eines Schicksalsbegriffs auf die Wiederholungsfiguren des Spiels. Somit ist Angelas Tod durchaus Teil jener Doppelbedeutung des Zufalls in der Erzählung. Auf semiotischer Ebene könnte sich Angelas Tod insofern bereits über die Funktion der Spielkarte „Dame“ in den Pharopartien ankündigen. War es in Hoffmanns Elixieren des Teufels (1815/16) noch das vom Leibhaftigen eingestreute Ebenbild der geliebten Aurelie, die der abtrünnige Kapuzinermönch Medardus bei einer Kartenpartie am Fürstenhof in der Spielkarte zu erblicken meinte, und die ihm immer wieder zum Gewinn verhalf,86 so ist sie im Spieler-Glück dafür vorgesehen zu verlieren. Zunächst trifft dies Angelas Vater: „‚Die Dame‘, sprach der Alte, und in dem nächsten Abzug hatte die Dame verloren! – Der Alte prallte zurück und lehnte sich an die Wand regungs- und bewegungslos, der starren Bildsäule ähnlich.“87 Die Schockstarre Vertuas erklärt sich einmal aufgrund des fürchterlichen Verlustes und darin als Paralyse des materiellen Spielers. Zugleich ist sie als Schrecken des „echten“ Spielers zu verstehen, der mitansehen muss, dass sein Spiel vorbei ist und er 84 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 887. 85 Schnyder, „Va banque“, S. 72. 86 „Ohne mich zu besinnen, zog ich die letzten fünf Louisd’ors, die ich noch bei mir trug, aus der Tasche, und setzte sie auf die Dame. Sie gewann, nun setzte ich immer fort und fort auf die Dame, und immer höher, so wie der Gewinn stieg. Jedesmal, wenn ich wieder die Dame setzte, riefen die Spieler: nein es ist unmöglich, jetzt muß die Dame untreu werden – und alle Karten der übrigen Spieler schlugen um“, d.h., sie verloren. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 157. 87 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 870.
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gezwungen wird, in die außerludische Welt zurückzukehren. Beide Deutungen sind die Seiten desselben Blattes, weil das Ende des Spiels mit der ökonomischen Null zusammenfällt. Diese Harmonie wiederholt sich sodann mit der Dame beim Spiel um Angela zwischen dem Obristen und Menars: „‚Es gilt‘, sprach der Chevalier dem Obristen ins Ohr, als die neue Taille begann, und schob die Dame auf den Spieltisch. – Im nächsten Abzug hatte die Dame verloren. Zähneknirschend zog sich der Chevalier zurück und lehnte, Verzweiflung und Tod im bleichen Antlitz, sich ins Fenster.“88
Hier ist der Verlust des Geldes im Sinne des eros angeführt, der zuvor von der Welt des Spiels und dem darin enthaltenden bios separiert wurde, als Menars, seines spielfernen Alltags überdrüssig, sich einen Weg in den Rückfall zurechtlegt: „Er konnte nicht begreifen, wie er eines Weibes halber eine Welt verlassen können, die ihm allein des Lebens wert schien.“89 So ist die Dame vielmehr auf anderer Ebene Verliererin: Die patriarchischen Machtverhältnisse weisen sie als Spielball einer männlichinfantilen Wettleidenschaft aus. Dahingehend wird der Verlust einer geschlechtlichen Determination wieder aktiv: Die Krise im Angesicht des Zufalls ist auch eine Krise des Mannes. Die eigene Rolle in der Ordnung zusammen mit der Infragestellung einer Gewissheit von Ordnung durch den Zufall gefährdet zu sehen, stellt auch bei Hoffmann die schärfste Angst der Alpha- und Betamännchen dar. Zwar reicht die randständige Inszenierung Angelas lange nicht zur Ausweisung eines feministischen Paradigmas, wohl aber als zaghaftes Angebot in Richtung einer umfassenden Begutachtung des Glücksspiels unter genderkritischem Fokus, die offenbar noch aussteht. Der Austausch zwischen Spiel und Leben geriert sich in einer manischen Sprunghaftigkeit, die über die Bedeutung der Ökonomie des Lebens entscheidet. Nicht Angelas Tod, sondern ihr Einsatz als Tauschgut in einem Spiel bestätigt diese Rolle des Hasard für Leben und Tod der Spieler. Die Ungültigkeit des Lebens vom Hasardeur wird maximiert, um die Gültigkeit des Hasard minimal aufrecht zu erhalten. Der Spieltrieb ist auch immer ein Todestrieb der Wiederholung, der jenseits von Moral 88 Ebd., S. 885. Vielleicht liegt hier auch ein intertextueller Kontrast zu Lessings Minna vor, bei der die Dame noch im Zuge einer Spielmetaphorik als schlagende Karte im politischen Konflikt Tellheims ausgewiesen ist: „Der König war eine unglückliche Karte für Sie“, meint Minna, „die Dame [...] wird Ihnen desto günstiger sein.“ Lessing, Minna von Barnhelm, S. 84. Umgekehrt reproduziert wiederum Puškins Pique-Dame das romantische Motiv der Verlebendigung des weiblichen Bildes auf der Spielkarte. Nachdem Hermanns Dame unwahrscheinlicher- und verhängnisvollerweise durch ein As geschlagen wird, heißt es: „In diesem Augenblick glaubte er zu bemerken, daß die Pique-Dame ihm mit einem schadenfrohen Lächeln zuzwinkerte.“ Puschkin, Pique-Dame, S. 56. 89 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 881.
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und Warenfetisch aufgestellt ist. In diesem Sinne erzeugt er eine besondere zeitlose Zeit, die Siegfrieds Uhrenanekdote illustriert: Die Uhr(zeit) ist fort, aber nur, um wie ein brav apportierter Signifikant pünktlich zurückzukehren und dann wieder zeitig zu verschwinden. Sie ist immer irgendwo, aber nicht zwangsläufig da. Nichts Anderes geschieht mit den Zeichen während der Spielzeit, die in einem systemischen Transaktionslimbo zu keinem festen Platz außer ihrer stetigen Mobilität gehören. Spieler-Glück entwickelt in dieser Selbstrepräsentation einen exemplarischen Einspruch zur soziografischen Darstellung des Spielers. Die Erzählung ist vor allem dort nicht moralisch, wo sie die etwaigen moralischen Wendungen über die in ihr als alea angelegte Kontingenz in den Wirbel der Möglichkeiten verbannt und dies mit multiperspektivischen Bewertungen sekundiert.90 Betreffs der aktiv vorgenommenen Deutungsstreuung als Interpretationsangebot des Zufalls hat Hoffmanns Erzählung etwas mit Kleists Prosa gemeinsam, von der es an einer Stelle heißt, in ihr würde „der sinnstiftende Bezugspunkt aufgegeben“91. Diese Formel ist jedoch kommentarbedürftig, da dem angesprochenen Verlust offenbar wieder Sinn zugewiesen wird, bestehe dieser auch im akausalen Strukturspiel des Zufalls. Ein narratives Surplus im Vorgang dieser Markierung erwirkt Hoffmann indes mit der thematischen Aufbereitung über den Hasard, dessen Referenzen strikt die zufällige Struktur als solche aufrechterhalten und immer wieder ansprechen, aber noch nicht in Form einer direkten sequentiellen Kontrollabgabe narrativ zum Zuge gelangen: Das Spiel als Spiel wird nicht erzählt, nur vom Verhältnis zwischen Leben und Spiel. Hoffmanns Erzählung bahnt damit den von ihm aktivierten Assoziationen des Zufalls und der Ökonomie des Zufälligen einen serapiontischen Weg. Dieser Weg erfüllt sich über eine mobil gehaltene Wiederholungsschleife, die sich von den Akten der beschriebenen Spielerfiguren über die Figuren selbst hin zum Eigenkommentar der aufgewendeten Signifikanten züngelt. Die Zeitökonomie der wiederkehrenden Uhr stellt für das Verständnis dieser Mechanismen ein Bild zur Verfügung, das überhaupt den Begriff des Spieler-Glücks als unwahrscheinliche Abweichung normalisierter Erfahrung erhellt, und doch eine Interpretation des Zufälligen ermöglicht. Aus dieser Logik wird die narrative Konstruktion mit ihren verschachtelten Erzählebenen
90 Ein Beispiel: Der Chevalier hat zunächst Mitleid mit dem ruinösen Spiel des Vertua, welches er aber bald suspendiert, als ihm nämlich zugetragen wird, dass dieser ein schlimmer Wucherer sei. Nur wenige Seiten später wendet sich das Blatt abermals, als Vertua seinen unschönen Ruf zu widerlegen weiß. Der Chevalier wie auch die Leserinnnen und Leser müssen ratlos bleiben, welcher von diesen dreien als der „tatsächliche“ Vertua gelten darf. Vgl. ebd., S. 868-876. 91 Beise, Spielers Erzählungen, S. 165, wo auch die wichtigsten in diese Richtung deutenden Forschungsergebnisse hinsichtlich des Erdbebens von Chili aufgeführt sind. Vgl. auch Gendolla, Erdbeben und Feuer, S. 202ff.
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auf den automaton der Wiederholung geführt, der in nuce bereits im Habitus des Spiels nistet. Der Spieler, so ein Zwischenfazit, spielt nicht, um zu gewinnen, auch nicht, um etwas zu gewinnen, also weder aus persönlichen oder öffentlichen, ökonomischen oder politischen Gründen. Er spielt auch nicht um des Spielens willen (wie Simmel noch behauptet hat) – stattdessen wird er allmählich vom Spiel gespielt. Sein Spiel ist genauso grundlos, wie der Zufall im Spiel. Diese Eigenheit ausgearbeitet zu haben, gebührt den Spielertexten, die im Anschluss an Hoffmanns Beitrag entstanden sind. Bevor sich den entsprechenden Autoren gewidmet wird, die auf Hoffmanns moralisch transzendierter Glücksspieldarstellung aufbauen und sie schließlich mit unmittelbaren Spielszenen garnieren, die sich den konkreten Fallstricken von Zufallsrepräsentationen aussetzen, soll in einem Ausfallschritt die Karriere der Kontingenzinszenierung noch etwas deutlicher gemacht werden. Die Einverleibung des Kontingenten im Signifikanten ist dabei eine Chance, Kontingenz überhaupt literarisch darzustellen. In der mit Spieltheorien anschaulich gemachten Durchsetzung des Privatdetektivs bei Edgar Allan Poe findet sie eine einzigartige Kontur, mit der das Spektrum nachrevolutionärer Kontingenzrepräsentationen auch einmal ohne das Motiv des Glücksspiels ergänzt werden kann.
Exkurs: Dupins Analyse
D ER F ALL
DES
D ETEKTIVS
Die Fortentwicklung des Kriminalgenres erschafft im 19. Jahrhundert mit dem Privatdetektiv einen Sozialcharakter, dessen literarische Gestaltung mit der Problemgeschichte einer urbanen Moderne verflochten ist. Das Operationsgebiet des Detektivs ist in vielen Fällen ein städtisches, in deren komplexer Infrastruktur sich das Element des Indizes offen versteckt. Nicht umsonst kann Poes Ermittler Auguste Dupin sich die Ehrenmedaille der Ausformulierung dieses Charakters anheften, schließlich war er es, der mit der Lokalisierung des Purloined Letter (1845) nachgewiesen hat, dass sich das Indiz nicht mittels seines Bedecktseins auszeichnet, sondern vielmehr durch sein chamäleonhaftes Untergehen im Zeichensystem, wo es immer etwas Anderes bedeutet. Nur für den Detektiv bedeutet es dabei sein Indiz-Sein. Dieses Moment der Designation von Zeichen ist für die Entwicklung der Detektivgeschichte kaum zu überschätzen. Der Privatdetektiv typisiert gerade als Privatier das Individualistische in der Rolle des Außenseiters und Nonkonformisten. Die sozialallergischen Eigenschaften des institutionslosen Ermittlers gehen mit einer überlegenen Sensibilität für Deutungsverfahren einher, die nicht nur die Auslegung der mannigfaltigen kriminalistischen Symbole und Zeichen beinhalten, sondern auch den Blick dafür, welche Elemente des semiotischen Rauschens um sie herum überhaupt von Interesse und Belang, sprich signifikant sind. Die detektivische Sortierung geschieht über Verfahren der Selektion und Kombination. Die dafür spezifische intellektuelle Provenienz des Quer- und Andersdenkens scheint als Kollateralsymptom den Detektiv geradezu an seine Ausfallposition zu ketten. Ausgebildete Fähigkeiten der Detektion ähneln in dieser Gestalt von Hervorbringungs- und Auslegungskonzepten literarischen Vorgängen, die hinsichtlich der Ereigniskaskade eines Verbrechens lektüreartige Rekonstruktionen der dem Delikt zugrundeliegenden Erzählung durchführen. Das Verbrechen hat eine Geschichte, die nachzuvollziehen zum novellistischen Teil der Detektiverzählung wird, nämlich des Unerhörten, das dem Erzähltwerden einer Detektivgeschichte erst seinen
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Sinn verleiht. Dass dies nicht selten ein Mord ist, unterstreicht, inwiefern das Ende der einen Erzählung – in diesem Fall eines Menschenlebens – den Anfang ihrer Rekonstruktion und Lektüre durch die privilegierte Gestalt des Detektivs ermöglicht und in dessen Analyse wiederum zu einer narrativen Konstruktion anwächst. Eine Auseinandersetzung und Wiederholung literarischer Spezifika ist von daher der Struktur moderner Detektivgeschichten inhärent, wenn auch im Maße der Funktionalisierung und Konditionierung graduell höchst unterschiedlich durchgeführt.1 Die analytische Tätigkeit des Detektivs wird durch die Konstruktion eines Falls hervorgerufen, der als autonomer Schauplatz den Erzählanlass stiftet und in diesem Akt selbst als zunächst autonomes Konstrukt firmiert. Die Arbeit des Detektivs an dem Fall ist sodann die Arbeit eines Lesens der Indizien, was ihn unter die Rezipienten der Geschichte sortiert, aber auch per se von sonstigen Leseinstanzen unterscheidet. Denn der Akt der Deutung durch den Detektiv situiert sich als ein Bruchstück des insgesamt zu deutenden Textes, in dem alle homodiegetischen Elemente den Leserinnen und Lesern als extradiegetischer Instanz entgleiten. Der Ermittler gehört zum fiktionalen Gebilde, dessen eigene Gesetzlichkeit und Kausalität die Grenzen zur extradiegetischen Sphäre anhand wahrscheinlicher Zusammenhänge überschreitet, etwa im apriorischen Sinne eines Logikrätsels, und doch eine Ursache-WirkungsLogik ermöglicht, die im Endeffekt ihre eigene Kausalität heimlich hervorzubringen und schlussendlich aus der Maschine zu zaubern vermag. Das Rätsel balanciert auf dem poetischen Effekt seiner kontingenten Auflösung. Der Detektiv ist in diesem Sinne nicht unbedingt ausschließlich Hermeneutiker, dem an einer Sinnübersetzung des Geschehens gelegen ist, sondern aktiver Methodenpluralist der Interpretation. Eine Legitimation bestimmter Verfahren des Interpretierens gehört zu seinem theoretischen Inventar, was kurioserweise in der Problematisierung der besonders frühen Ermittlerinkarnation Auguste Dupin ersichtlich wird – und danach in der umfassenden Entwicklung des Genres kaum mehr eine Rolle spielt.
1
Für eine Sammlung gängiger Erläuterungen des literarischen Auftritts vom Detektiv nach 1800, vgl. Knight, Crime Fiction 1800-2000, insbes. S. 9-21. Neben dem romantischen Interesse an gesellschaftlich prekären und marginalen Charakteren bzw. Fällen wird versucht, mit Foucaults Unterscheidung von souveräner Macht und Disziplinarmacht ein Agens der Einmischung und Sanktionierung als Grundlage des Detektivs zu entwickeln. Vgl. ebd., S. 16. Die Großstadt als anonymisierender und analytischer Nährboden könne mit den sozialhistorischen, politischen und privaten, ökonomischen und semiologischen Implikationen als Ort privilegiert werden, an dem eine Figur wie der Detektiv wahrscheinlich wird, was Poe dann auch auskostet. Vgl. ebd., S. 18f. und S. 28f. Nach wie vor so kurios wie erhellend bezüglich der literaturhistorischen Position des Detektivs liest sich außerdem Alewyn, Ursprung des Detektivromans.
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Edgar Allan Poes drei Erzählungen um Dupin arbeiten sich ganz bewusst und aktiv an der Kontingenzverschränkung ab, die sie als Detektiverzählungen unhintergehbar produzieren. Die ersten beiden Texte, The Murders in the Rue Morgue (1841) und The Mystery of Marie Rogêt (1842/1843), thematisieren ihre Prämisse jeweils mit einem kurzen essayistischen Vorwort, das formal die Aggregatänderung der theoretischen und darin fiktional indifferenten Sätze einer Erzählung zu den handlungsrelevanten und mimetischen Sätzen anschaulich macht. Das Sequel um Marie Rogêt spricht in seinem Epigraph und seinen ersten Absätzen dieses Verhältnis sogar explizit an, nicht nur, weil es auf einem verbürgten Mordfall basiert, den Poe seinen Dupin vom Lehnsessel aus per Lektüre der Zeitungsberichte bearbeiten lässt (und so auch selbst bearbeitet), sondern weil er diese fiktionstheoretisch interessante Konstellation mit der Wirklichkeitserstellung als Schauplatz des Zufälligen einleitet. In dem vorangestellten Motto aus Novalis’ Moralischen Ansichten heißt es: „Es giebt eine Reihe idealischer Begebenheiten, die der Wirklichkeit parallel läuft. Selten fallen sie zusammen. Menschen und Zufälle modifiziren gewöhnlich die idealische Begebenheit, so dass sie unvollkommen erscheint, und ihre Folgen gleichfalls unvollkommen sind.“2 Dieses erst in späterer Auflage eingefügte Zitat thematisiert die schlagende Differenz zwischen Dupins Ermittlung und den nach Erstveröffentlichung hervorgetretenen Erkenntnissen über den Verbleib der historischen Mary Rogers, die dem beschriebenen Fall der Marie Rogêt in der Erzählung nicht nur ähnlich sieht: Bis auf Schauplatz und Namen sind beide Verbrechen sogar aufs Detail deckungsgleich, was die Erzählung als besonderen Zufall inszeniert. Mit Novalis sind zugleich Anhaltspunkte über die Arbeit des Detektivs als Denken des Zufalls ausgestreut: Die Entmathematisierung scheinbarer Logikrätsel formiert einen Diskurs der kriminalistischen Auflösung. Sie geht nicht zwangsläufig aus den bekannten Prämissen, sondern vielmehr aus einer Kenntnis über die Kontingenz der relevanten Indizien hervor. Kein Wunder, dass sich der als Meister der Deduktion berühmt gewordene Sherlock Holmes in seinem ersten Abenteuer A Study in Scarlet (1887) explizit vor Watson von Dupin distanziert: „Now, in my opinion, Dupin was a very inferior fellow. That trick of his of breaking in on his friends’ thoughts with an apropos remark after a quarter of an hours’ silence is really very showy and superficial. He had some analytical genius, no doubt; but he was by no means such a phenomenon as Poe appeared to imagine.“3 Holmes verkennt hier als Ideologe der Wahrscheinlichkeiten Dupins Leistung der kontingenten Reihung. Er ist hingegen mit dem Schlagwort des „imagine“ auf der richtigen Fährte. Dupins der Deduktion von Holmes entgegenstehende
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Zit. nach Poe, The Mystery of Marie Rogêt, S. 199. Doyle, A Study in Scarlet, S. 14. Inwiefern einschlägiger Wert auf diese Aussage gelegt werden darf, bleibt fragwürdig, schließlich verzeichnet Watson in einer Tabelle mit Bewertungen einzelner Kenntnisse Holmes’ hinter „Literature – Nil“. Ebd., S. 11.
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Ermittlungsmethode basiert auf jener mit Novalis angesprochenen (unwahrscheinlichen) Zufälligkeit, die in einer banalen Sammlung von Tatsachen zum Ausdruck kommt, und die bei Poe zum Bestandteil des Hervorbringungsprozesses im Erzählen avanciert. In The Mystery of Marie Rogêt kommt der Erzähler nicht umsonst auch bereits in erster Auflage während jener theoretischen Abrisse auf die „doctrine of chance, or, as it is technically termed, the Calculus of Probabilities“ im Sinne der Entmathematisierung von Detektivarbeit zu sprechen und zwar vierzig Jahre, bevor der wissenschaftliche Positivismus bei Doyle deren Durchbruch erst besiegeln konnte: „Now this Calculus is, in its essence, purely mathematical; and thus we have the anomaly of the most rigidly exact in science applied to the shadow and spirituality of the most intangible in speculation.“4 Die Gewohnheit und Gewöhnlichkeit, das Unwahrscheinliche in die Sphäre des Fantastischen zu verlegen, erhebt es im selben Zuge zur Komponente des Fiktionalen. Es wird hier eine Ahnung gegeben vom Zusammenspiel des Ausfalls als Erzählanlass mit der statistischen Abweichung, die durch Zufall entsteht. Sie wird allerdings erst als Abweichung und als Ausfall in der Interpretation zur Erzählung, dahingehend, dass die Interpretation bereits ein Arrangement erstellt, in dem beides Sinn ergibt – magische Unwahrscheinlichkeit und Zufall. Dupins Erfolg als Detektiv, so lassen bereits die Vorüberlegungen der Murders in the Rue Morgue erahnen, erklärt sich nunmehr daher, dass es ihm möglich ist, eine Analyse des reinen Zufalls vorzunehmen, der also nicht mehr als Ausfall und Diversität bereits Teil einer Ordnung ist und etwa von der normalistischen, polizeilich fokussierten wahrscheinlichen Ordnung bereits ausgesondert wurde. Seine gewissermaßen vorurteilslose Lektüre des gleichermaßen interessefreien Zufalls dockt nahtlos an die Möglichkeit der Kontingenzinszenierung an, die der Text strategisch bis zur Schlusspointe durchführt. „I am not now writing a treatise, but simply prefacing a somewhat peculiar narrative by observations very much at random“5: Der Text platziert zuerst Überlegungen über die Vorgänge des Analysierens vor den im Titel angekündigten Mordfall. Dass es sich dabei um Beobachtungen „very much at random“ handelt, unterstreicht einen unsystematischen und auf Unvollständigkeit angelegten Fokus, mit dem die weitestgehend anonyme Ich-Erzählinstanz als subjektivierter Exeget ihrer Erlebnisse eingeführt wird, bevor sie schließlich die Schilderungen derselben vornimmt. Die Beliebigkeit ihrer Beobachtungen nebst der willkürlichen Analogien errichtet ein narratives Konstrukt, welches zwischen der Ereignishaftigkeit des Erzählten und der Tragweite theoretischen Einordnens vermittelt. Der erste Abschnitt enthält mitsamt seinen essayistischen Prolegomena bereits den absurden Tötungsakt an Madame
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Poe, The Mystery of Marie Rogêt, S. 200.
5
Poe, The Murders in the Rue Morgue, S. 118.
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L’Espanaye und ihrer Tochter, auf den nämlich die Konnotationen des im Text allenthalben an Kreuzwegen des Handelns ausgesetzten Wörtchens „peculiar“6 genauso geworfen sein können, wie auf die bemerkenswerte Art und Weise der Dechiffrierung dieses Todes durch Auguste Dupin. Dessen als „imagination“7 charakterisierte Form der Analyse erhält in der Hinführung ihr Äquivalent über eine Theorie des Spiels, derzufolge systematisch vollständig regulierte Spiele von denjenigen zu unterscheiden seien, die noch eine strategische Unwägbarkeit mit sich führen. Die zumindest theoretisch mathematische Perfektion einer Schachpartie kann in ihrer Erfülltheit nicht mit den aposteriorisch psychologischen Verfahren des Analytikers in der Dame oder beim Whist mithalten:8
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Vgl. ebd. Das Wort, welches in der Attribution der Erzählung („peculiar narrative“) eine autogenerische Zuschreibung anbietet, wird mit Blick auf die Charakterisierung Dupins und die Zustandsbeschreibung der Tat wiederholt, etwa wenn von jener „peculiar analytic ability“ Dupins kurz vor der Spazierszene gesprochen wird, oder nach der Begehung des Tatortes, in deren Anschluss die dialogische Beweisaufnahme kaum ohne das Wort mehr auskommt. Ebd., S. 122. Vorher stellt der Erzähler noch seinerseits fest, dass das Wort selbst etwas seltsames an sich hat: „There was something in his [Dupins, S.T.] manner of emphasizing the word ,peculiar‘, which caused me to shudder, without knowing why.“ Ebd., S. 134. Es wird damit zum leitenden Prädikat, unter dem erstens die Erzählung, zweitens die detektivische Beobachtungsgabe sowie drittens die durch sie geordneten Indizien zusammenfinden, und das dementsprechend jene gespensterhafte Deutungsmöglichkeiten umreißt, die Dupin zur Verfügung stehen, weswegen der arme Erzähler auch vor dem blanken Wort erschaudert. „Peculiar“ übernimmt eine ähnliche Funktion, wie das Wörtchen „odd“ im Purloined Letter, das insbesondere in der Kürzesterzählung vom Jungen, der ein Ratespiel von geraden und ungeraden Zahlen perfektioniert hat, seine semiologische Extravaganz unterstreicht. Vgl. Poe, The Purloined Letter, S. 346f. Dieses „odd or even“-Spiel wird in meiner Untersuchung zugunsten einer Konzentration auf den Vergleich zwischen Whist und Schach hintangestellt. Vgl. auch Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, S. 39.
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Poe, The Murders in the Rue Morgue, S. 121. Wir erhalten hier einen Term, der in unterschiedlichen Flexionen, Hendiadyoinen und Konnotationen für den Gehalt einer Literatur, deren Verhältnis zu Alltagssprechakten über einen Fiktionsbegriff erschlossen werden soll, im 20. Jahrhundert eine eigene Karriere hinlegte. Vgl. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, v.a. S. 292ff. Die literarische Imagination eines Dupin wird zur Instanz, die selbst wiederum zur Imagination befähigt ist, und sie zur Nachzeichnung des bestehenden Textes verwendet. Diese Nachzeichnung wird dadurch deckungsgleich mit dem Vorgang der Handlung selbst.
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Man könnte hier mit Iser ebenso von konstitutiven Spielen sprechen, die nur aus ihren Regeln und nichts Anderem bestehen (z.B. Schach), und regulativen Spielen, die aus ihren
180 | H ASARD-N ARRATIVE „Whist has long been noted for its influence upon what is termed the calculating power; and men of the highest order of intellect have been known to take an apparently unaccountable delight in it, while eschewing chess as frivolous. Beyond doubt there is nothing of a similar nature so greatly tasking the faculty of analysis. The best chessplayer in Christendom may be little more than the best player of chess; but proficiency in whist implies capacity for success in all these more important undertakings where mind struggles with mind.“9
Der Analytiker wird hier zum Psychoanalytiker avant la lettre, der sich in einer Lektüre des Gegenübers profiliert. Dabei wird die Prämisse des spielerischen „mind struggles with mind“ innerhalb der Erzählung als Zeichenproblem ausgeführt, das nicht ausschließlich auf intersubjektiver Verfügbarkeit besteht, sondern durch Ferndiagnosen funktioniert, insbesondere mit der Mediatisierung von nacherzählten Zeugenaussagen und Zeitungsberichten. Ihre Gestaltung zur Deutung von potentiell bedeutungstragenden Einheiten, die in Analogie zu sprachlichen Operationen gesetzt sind, hat mit Lacan beginnend den Anstoß zu einer ganzen Kette von Dupin-Lektüren gegeben, die sich wohlgemerkt für jenes dritte Abenteuer um den Purloined Letter interessieren.10 Die Absage einer Ermittlung über die in diesem Brief verschlossene Mitteilung zugunsten einer Mitteilung über die Konfigurationen des Mitteilens im Brief geht von der Anerkennung seiner spezifischen Medialität im literarischen Sprachzusammenhang aus. Eine der Bedingungen dieser Lektüren findet sich derweil bereits im Debüt des Detektivs, dessen semiprofessioneller Deutungstrieb in einem Ensemble sich verschiebender Signifikanten nicht nur gebraucht, sondern dort allein notwendig wird. Bestünde nicht der Zwang einer Interpretation dessen, was in seinem Bedeuten etwas Anderes bedeuten kann und dieses aufgrund ständiger Bewegung auch tut, bräuchte man auch keinen Detektiv. Er wird umgekehrt als fiktionale Gestalt nur in einem Raum als Detektiv aktiv, dessen einzige Funktion die Deutungsbedürftigkeit darstellt. Sofern dem literarischen Text, in dem dieser Raum existiert, eine äquivalente Funktion zukommt, wird der deutungsgetriebene Detektiv zugleich zum deutungsbedürftigen Objekt. Dieser Interessenkonflikt stellt den Leserinnen und Lesern einen Profi der Analyse (wenngleich Privatdetektiv) gegenüber. Die Konfrontation findet abermals an jener Achse statt, „where mind struggles with mind“. Lese-
Regeln und noch etwas mehr zusammengestellt sind (z.B. Dame, Whist, Poker). Vgl. ebd., S. 468f. 9
Poe, The Murders in the Rue Morgue, S. 119. Die Autoperformativität dieser Zuschreibung, mit der durch den Erzähler selbst ein psychologisches Spiel gegen die Leserinnen und Leser eröffnet wird, markiert den Aufbruch eines Genres, das nur dort überzeugend wird, wo die Leserinnen und Leser das Spiel verlieren, sprich: den Tathergang nicht vor dem Detektiv erraten können. Vgl. Nygaard, Winning the Game, S. 229ff.
10 Für einen Überblick, vgl. ebd., S. 227.
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rinnen und Leser bekommen damit die Aufgabe, sich nicht auf das Spiel der Ermittlung des Detektivs einzulassen und den Tatort mit ihm abzuschreiten, um das Rätsel zu lösen, sondern bei den eigenen Kompetenzen zu bleiben und eine Deutung nicht der diegetischen Deutungsobjekte vorzunehmen – darum kümmert sich Dupin –, sondern dessen Arbeit als komplementäre analytische Bewegung der Interaktion mit sich bewegenden Signifikanten zu behandeln. Der tragende Mechanismus dieser Bewegung ist die Kontingenz, die in ihrer Belegung als Funktion des Signifikanten zugleich eine der Varianten ihrer eigenen Inszenierung preisgibt. The Murders in the Rue Morgue ermittelt, inwiefern eine solche Inszenierung sich aus der Struktur des literarischen Detektivs ergibt. Hierzu sticht jene einzelgängerische Nebenwirkung dieses Metiers heraus. Die hermetische Lebensweise des Erzählers und Dupins zeugt von einer nicht durch Sozialität gekennzeichneten, vielmehr mit der Aufwertung des Lesens und Deutens ausgestatteten Fähigkeit zur (Psycho-)Analyse: „Had the routine of our life at this place been known to the world, we should have been regarded as madmen. [...] We existed within ourselves alone.“11 Das dioskurische Miteinander bringt in diesem Satz noch die philosophisch-erotische Formel mit, ineinander zu existieren, neben einer absoluten Introspektion, nach der allein im Geiste und im eigenen Ich gelebt wird, jenseits intersubjektiver und materieller Bedürftigkeit. Die Fabel des einsamen Detektivs am Rande und außerhalb der Gesellschaft findet hier eine erste Bühne. Sie konnte entstehen, weil mit der Großstadt ihre wichtigste Ressource bereitgestellt war. Die Idiosynkrasien, die den Detektiv gesellschaftlich isolieren und pathologisieren, konnten sich in einem Raum derartiger Anonymität adäquat verbergen, dort gedeihen und entsprechende Menscheninseln magnetisieren und ausgestalten. Dupins epistemologische Vorzüge wiederum bestehen in Techniken einer Lektüre und Nutznießung dieser hochkomplexen äußerlichen Umgebung, die nunmehr zu einer Analytik des kontingenten, vom Flaneur besiedelten Raumes erweitert sind.12 Die Einführung des Meisterdenkers vollzieht sich von daher in Form einer Spazierszene, die notwendigerweise das Abschreiten der großstädtischen Kontingenz begleitend demonstriert. Entsprechend sind die Stationen des Ausflugs zugleich als Symbole des Gedankenflugs vom Erzähler gestaltet, die Dupin als notwendige und kausale Aneinanderreihung ausliest, und die doch nur wirksam werden können, weil sie eine kontingente Reihung darstellen. Wären sie aus sich heraus notwendig, würde seine Antwort auf einen verborgenen Gedanken des Erzählers kaum dessen konsternierte Reaktion hervorrufen: „In an instant afterward I recollected myself, and my
11 Poe, The Murders in the Rue Morgue, S. 122. 12 Vgl. Benjamin, Charles Baudelaire, S. 542-547, wo das Verhältnis zwischen Detektiv und Flaneur auch mit Poe erörtert wird.
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astonishment was profound.“13 Das Spiel würde seinen Glanz des Zaubertricks einbüßen. Eines der Elemente in der Gedankenkette, die zu dem berühmten, von Sherlock Holmes geschmähten Kunststück führte, trägt die Möglichkeit der Abweichung mit dem Verweis auf Epikur bereits in sich: „I knew that you could not say to yourself ‚stereotomy‘ without being brought to think of atomies, and thus of the theories of Epicurus; and since, when we discussed this subject not very long ago, I mentioned to you how singularly, yet with how little notice, the vague guesses of that noble Greek had met with confirmation in the late nebular cosmogony, [...].“14
Wie auch die anderen Dominosteine, kann diese Referenz auf den Atomismus nur von ihrer Position in einem fragilen Mobile heraus geltend gemacht werden, die in ihm einen festen Platz hat und für seinen Aufbau notwendig ist. Dieses gilt gleichzeitig für Epikurs Status als intertextueller Referenz, als die der griechische Philosoph funktional wird. Dass diese in eine Affirmation läuft, die wiederum einer Gesetzlichkeit, mit der Dupin hier verfährt, zu widersprechen droht, löst die Notwendigkeit abermals auf. „Is this pure chance? Is it insignificant?“15, fragt Derrida in My Chances / Mes Chances bezüglich der Erwähnung von Epikur. Denn wenn es purer Zufall und auf der semantischen Ebene insignifikant wäre, müsste man gerade hier die Konstruktion einer Bedeutung des Zufälligen per zufälliger Einstreuung des Zufallsforschers Epikur hervorheben. Die Verknüpfung mit dem Namen ist auch ein Fallen, nicht nur des Ich-Erzählers kurz vorher in den Asphalt,16 sondern der clinamen in den Namen Epikurs. Genau diese Fälle nimmt Derrida zum Anlass, uns Dupin als Analytiker einer Perlenkette im Inneren unseres Erzählers anzubieten, dessen Berechnung der Gedankenflanerie nicht etwa trotz der Abweichung kleinster atomarer Bewegungen gelingen kann, sondern nur, weil er in der Beweiskette nichts anderes als die Fälle des Zufalls erörtert: „Indeed, he had made calculations, but in a way that reckons with apparantly random (hasardeux) incidents that are very small, minuscle, quasi-atomic particles and that, curiosly, have an essential relationship to the throwing, ejecting, and trajecting movement of the fall. Dupin interprets these cases as symptoms.“17
13 Poe, The Murders in the Rue Morgue, S. 123. 14 Ebd., S. 125. 15 Derrida, My Chances / Mes Chances, S. 11. 16 „You stepped upon one of the loose fragments, slippeld, slightly strained your ankle, [...].“ Poe, The Murders in the Rue Morgue, S. 125. 17 Derrida, My Chances / Mes Chances, S. 12.
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Das Auslesen der zufälligen Fälle in der Assoziationskette des Erzählers beansprucht Bedeutung als spielerische Theorie des Bedeutens, „where mind struggles with mind“, während der konkrete Inhalt dieser Assoziationen immer den Zufall bedeutet, aber diesen materiell – etwa mit der Referenz auf Epikur – auch bestätigt. Auf dieses Arsenal an miteinander interagierenden Signifikanten macht Dupin aufmerksam, indem er ihr Fallen kurz einfriert und es darin ersichtlich und auffällig werden lässt. Die Erfahrung des Fallens kennt er schließlich aus erster Hand. Er selbst ist ein Absteiger, ein Gefallener, nämlich ein ehemalig begüterter Erbe, der im ökonomischen Geflecht abgestiegen und sogleich aus ihm herausgefallen ist. Seine Erwerbstätigkeit als Detektiv findet folgerichtig nicht innerhalb dieser Ordnung statt. Sie ist kontingent, weil sie sich ihm nicht aufnötigt. Seiner Verarmung zum Trotz verfügt Dupin nämlich noch über ein bescheidenes Auskommen, welches ihm das vergeistigte Boheme-Dasein im Faubourg St. Germain ermöglicht. Die Detektivarbeit betreibt er aus intellektuellem Vergnügen, nicht aus wirtschaftlicher Not.18 Lacan bemerkt, dass sich Dupin im Purloined Letter für die Aktion der Austragung des unzustellbaren Briefes – verstanden als Signifikant –, tatsächlich also für die Herstellung einer Wiederholungsordnung bezahlen lässt: „N’est-ce pas à bon droit en effet que nous nous croirons concernés quand il s’agit peut-être pour Dupin de se retirer lui-même du circuit symbolique de la lettre, – nous qui nous faisons les émissaires de toutes les lettres volées qui pour un temps au moins seront chez nous en souffrance dans le transfert. Et n’est-ce pas la responsabilité que leur transfert comporte, que nous neutralisons en la faisant équivaloir au signifiant le plus annihilant qui soit de toute signification, à savoir l’argent.“19
Geld als Generalsignifikanten der Nicht-Signifikation zu verstehen ist in der Ökonomie des Textes wiederum integrales Konstitutiv ihres Mehrwertes. Dupin bereichert sich aufgrund der Auslesung der symbolischen Ordnung, zumindest dort, wo er sie zur Lösung des Falles ausnutzt. Ähnliches geschieht auch in den Murders in the Rue Morgue: Dort kann Dupin den Fall nur lösen, indem er sich aus der einen Identifikation, die mithin eine gewöhnliche soziale und ökonomische Ordnung ist, in die anökonomische, asoziale Einsamkeit des Lehnstuhls zurückzieht und von dort gleichermaßen auf einer textuell ebenfalls ausgesetzten, aber supervenierenden semantischen Ebene die Verschiebungen jener Ordnungen beobachtet, nur um bei einer anderen, stimmigen Ordnung, die gleichzeitig „true“20 ist, wieder aufzusetzen, und den Fall an 18 Vgl. Poe, The Murders in the Rue Morgue, S. 121. 19 Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, S. 37. 20 „Truth is not always in a well. In fact, as regards the more important knowledge, I do believe that she is invariably superficial. The depth lies in the valleys where we seek her, and not upon the mountain-tops where she is found. The modes and sources of this kind of error
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Ort und Stelle auf eine Art und Weise zu lösen, wie die Signifikanten der Auflösung zu bedeuten pflegen: Unauffällig.
K ONTINGENTE AUFLÖSUNG Dupins Methode stellt einen Gegenentwurf zur „method of the moment“ dar, mit der die Pariser Polizei verfährt und die auf Präsenzen und dem Schluss auf die wahrscheinlichste Lösung setzt. Die Gendarmen sind die eigentlichen facteurs de vérité:21 „They [the government agents, S.T.] have fallen into the gross but common error of confounding the unusual with the abstruse. But it is by these deviations from the plane of the ordinary, that reason feels its way, if at all, in its search for the true. In investigations such as we are now pursuing, it should not be so much asked ‚what has occurred,‘ as ‚what has occurred that has never occurred before‘.“22
Die Suche nach einem Ereignis, das noch nicht statistisch erfasst ist, sagt nicht nur etwas ex negativo über das jeweilige Ereignis aus, dessen Minimalkriterium im Ungewöhnlichen besteht. Sie informiert ebenso über die herkömmliche Instandsetzungen von Ereignissen, die als signifikant erkannt werden können, weil sie in ihrer statistischen Relevanz als Teil einer Ordnung zur Kombination bereits vorliegen. Diese Domäne zu abstrahieren verlegt die Ermittlung an einen Ort, wo zwar nicht alles möglich ist, wohl aber all jenes, das als Möglichkeit noch nicht erfasst wurde – ein Ort also, an dem alles andere möglich ist. Gerade in diesem Verfahren werden die
are well typified in the contemplation of the heavenly bodies.“ [Hervorh. S.T.] Poe, The Murders in the Rue Morgue, S. 133. 21 Derrida versucht in seiner gleichnamigen Replik auf Lacan zu demonstrieren, inwiefern Lacans Text dafür einsteht, dass sich die Psychoanalyse überall selbst findet und damit auch „la vérité de la vérité“ produziert. Derrida, La carte postale, S. 442. Barbara Johnsons Antwort darauf wurde bereits in der Einleitung dieser Studie erwähnt. Es ist aber nochmals zu unterstreichen, dass Lacans Lektüre von Poe vielmehr zeigt, dass die von Dupin aufgedeckte Ordnung keine unveränderliche Wahrheit beinhaltet, sondern in den Veränderungen der Briefzirkulationen auch Veränderungen von Wahrheit erblickt, darin vielleicht auch etwas Wahres, indem nämlich Poes Text den Blutkreislauf des Signifikanten sichtbar werden lässt. Diese Perspektive verdeutlicht nebenbei, warum Dupin den Fall überhaupt lösen kann. Die entsprechende „Lösung“ allerdings ist etwas Anderes als eine „Wahrheit der Wahrheit“, oder ein Beispiel oder Beweis dafür, dass Wahrheit als Präsenz und Singuläres immer ankommt, um sich als „die Psychoanalyse“ zu präsentieren. 22 Poe, The Murders in the Rue Morgue, S. 135.
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Taten des Detektivs deckungsgleich mit den strukturellen Anforderungen der Detektivgeschichte. Was mit einem Minimum an statistischer Möglichkeit gleichzeitig ein Maximum an Plausibilität für den Tathergang erzeugt, ist für den Detektiv so sehr die Lösung, wie es für die Kriminalerzählung bzw. Detektivgeschichte Aufschub der Lösung und des Logikrätsels darstellt. Nur in diesem Aufschub bleibt sie lebendig. Da für The Murders in the Rue Morgue die Lösung Kontingenz heißt, findet sie nicht nur eine befriedigende Antwort auf diese Anforderung, die sie mit Dupins Äußerungen selbst aufgestellt hat, sondern skelettiert gleichzeitig die eigene Erzählung zum Prototyp ihrer Gattung. Die Erzählung exhibiert insofern Kontingenz als Lösung, als sie einen Träger der entfesselten Gewalt findet, dessen Figuration sowohl die mit den gegebenen Indizien angebotene Sachlage trifft als auch nicht trifft. Zu diesen Indizien zählt primär die Aussage einiger Ohrenzeugen des Todeskampfes. Sie alle berichten von einer ungewöhnlichen Sprache, die während des Tathergangs zu hören war und die sie selbst jeweils nicht beherrschen. Sie gehöre aber unbedingt zu den gängigen europäischen Sprachen. Die Differenz zwischen zutreffenden und zugleich nichtzutreffenden Indizien erklärt sich nun wie folgt: Die Einzelbeschreibungen verwirren, weil sie sich in den jeweiligen bereits interpretatorischen Zuordnungen widersprechen, etwa hinsichtlich der vorgeblichen Sprachen. In der interesselosen Beschreibung lediglich physikalisch-akustischer Laute, darin stummer Signifikanten, die nur darin übereinstimmen, dass sie nicht zu bedeuten scheinen, stimmen alle Zeugenschaften überein. Dupin erkennt hier die Differenz zwischen der bereits vorgenommenen Interpretation bzw. Aufreihung einer symbolischen Kette, und ihrer leeren Elemente, die folgerichtig ihrer Ordnung wieder entsockelt werden müssen: „Now, how strangely unusual must that voice have really been“, überlegt er, „about which such testimony as this could have been elicited! – in whose tones, even, denizens of the five great divisions of Europe could recognise nothing familiar.“23 Auf diese Weise formt sich ein alternatives Interpretament, welches nicht länger bereits angeordnete Indizien beschaut, sondern aus der vorgenommenen Anordnung ein Negatives destilliert. So werden die Signifikanten, die für Zeugen und Polizei lieber falsche Sprachen zu bedeuten haben, bevor sie gar nicht bedeuten sollen, vom fahrlässig aufgestülpten Signifikat befreit. Eine als intentional belegte Tat wird nunmehr als reine Kontingenz imaginiert; der als Gewaltakt eines Menschen deklarierte Vorgang wird in seiner Nullsetzung als semantisch leere, höchstens in Form einer Relation viable Handlung eines automatischen Zufalls in Erwägung gezogen. Die Intentionalität der Tat kann so als pure Intervention einer Mechanik anerkannt werden: der Mechanik des Zufalls bzw. des Orang-Utans. Die Animalisierung wird allerdings retrospektiv wieder durch eine Anthropomorphisierung relativiert, etwa wenn es um das Spiegelstadium des Tieres geht: 23 Ebd., S. 137.
186 | H ASARD-N ARRATIVE „Returning home from some sailors’ frolic on the night, or rather in the morning of the murder, he [the owner, S.T.] found the beast occupying his own bed-room, into which it had broken from a closet adjoining, where it had been, as was thought, securely confined. Razor in hand, and fully lathered, it was sitting before a looking-glass, attempting the operation of shaving, in which it had no doubt previously watched its master through the key-hole of the closet.“24
Gleich drei menschliche Handlungen werden dem Affen hier zugestanden. Neben dem Akt des Rasierens noch zwei Momente des Schauens: Einmal der unheimliche voyeuristische Blick durch das Schlüsselloch, der mit der Fähigkeit des Lernens belegt ist. Und sodann das Erkennen des eigenen Ichs im Spiegel, vor dem das Gelernte nicht bald genug angewendet werden kann. Der Mord wird in der Gestalt eines evolutionär eng Verwandten des Menschen als menschlicher Akt angereichert, sodass es zu einer menschlichen Tat eines Tieres, im Sinne von anthropomorpher Mimesis kommt, die als Gewaltakt und Tötungsdelikt zivilisatorisch und eurozentrisch ausgelesen wurde.25 Der Orang-Utan erklärt uns in seiner Gestalt die Kontingenz. Seine Tat folgt zu keinem Zeitpunkt einer irgendwie konzertierten und kontrollierten Choreografie, die rekonstruierbar wäre, so wie seine Laute keinem deutbaren Signifikanten entsprechen, solange das Set an Deutungen noch auf langage fixiert bleibt. Nur weil das Signifikat menschlich zu sein verspricht, kann der Signifikant nicht auch ein nichtmenschlicher gewesen sein. Das analytische Spiel Dupins des „mind struggles with mind“ folgt derselben Verweisflotte von Signifikanten auf andere Signifikanten, wie sie Dupin noch beim Spaziergang mit dem Erzähler per Unterbrechung kurz stillstellte, ohne aber ein Signifikat einzufügen. Dupin muss im neuen Fall nunmehr das nicht arrangierte Bühnenbild einer automatisierten Tat als leere Ordnung lesen, um es verstehen zu können. Die Bedeutung des Tatorts und der Zeugenaussagen greifen dort ineinander, wo ihre Bedeutung im Akausalen und im Nicht-Bedeuten situiert wird. Es geht also nicht darum, Kontingenz zu deuten, sondern Kontingenz als Deutungsresultat zu erkennen. Mit diesem Schritt wird ein in späteren Detektiverzählungen stets zu bedenkendes (und zuweilen triviales) Element eliminiert: Das Tatmotiv. Der Orang-Utan steht auf diese Weise in einem nur für Dupin ersichtlichen Zusammenhang zum Mordfall, so wie er narrativ nicht als solcher angedeutet, aber auch nicht ausgeschlossen wird. Die Lösung muss eine unwahrscheinliche sein, derer es
24 Ebd., S. 150. 25 Es gilt sich allerdings vor dem intrinsischen Missverständnis zu hüten, den Affen als menschlich kodiert zu lesen, ihn aber zugleich in der Rolle des Mörders als unmenschlich zu deuten. Dies ist ein Fehler, den bereits der Erzähler begeht. Die Gestalt des Gorillas hat außerdem in dieser Hinsicht berechtigterweise postkoloniale Lesarten des Textes provoziert. Vgl. Nygaard, Winning the Game, S. 250ff.
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aber viele frei wählbare gibt, und die dennoch nur in Gestalt des Orang-Utans letztlich auf diegetischer und narrativer Ebene aufzugehen vermag. Denn so notwendig sein Auftreten für den Anlass und den Ausgang der Erzählung und überhaupt ihre gesamte ereignisbasierte Konstitution ist, so notwendig ist er auch in formaler Hinsicht für die auf Ermittlung, Ungewöhnlichkeit und Überraschung setzende Dramaturgie. Diese Form der Notwendigkeit trifft gleichzeitig den sprachlichen Zusammenhang des Erzählens und seiner ambivalenten Faktizität insgesamt. Die Interrelation zwischen der diegetischen, narratologischen und metaleptischen Ebene wird hier mit einer Figur belegt, die in allen Instanzen kontingent ist: Diegetisch, weil sie die andere Möglichkeit personifiziert, auf der Dupin permanent insistiert. Deshalb konnte nur er das Tier erkennen, aber er konnte auch nur erkennen, weil es sich bei dem Tier um einen Kontingenzträger handelt. Dieses Erkennen wurde durch seinen Rückzug aus der diegetischen Ordnung in den Lehnstuhl ermöglicht. Der Orang-Utan ist ferner narratologisch kontingent, da der Text seiner Lektüreerfahrung die Willkür der Erzählung zuweist, die ganz allein über den verifizierbaren Tathergang Autorität beansprucht. Mit dem Orang-Utan, einer Figur, die vorher keine Indizien im Text, d.h.: in der genuin sprachlich-textuellen Anordnung der Tat und des Tatortes hinterlassen hat, und auch nicht als potentieller Verdächtiger proleptisch aufgeführt ist, schmuggelt uns der Text einen Mörder unter, der gar kein Mörder ist. Die Erzählung vermag die Täterschaft des Affen deshalb so gut zu begründen, weil sie von der Erzählung nicht begründet werden muss. Die Kontingenz des Affen besteht darin, wie bemerkt wurde, dass er kaum bis gar nicht zu erraten ist, dass das anfangs beschriebene Spiel immer ein agonales (Dupin und die Erzählung gegen den Rest) wäre, das mit dem Publikum stattfindet, dem der Affe plötzlich „out of the blue“26 präsentiert würde. Der Orang-Utan aus der Maschine ist insofern nicht-notwendig, als die Lösung des Falles eine der diegetischen Kontingenz ist; genauso aber ist er notwendig, weil die Lösung der Kontingenz eine kontingente Lösung sein muss. Zuletzt ist die Figur des Tieres in Form ihrer Operationalität am Text kontingent, weil sie die allgemeine Konstitution der Erzählung entlarvt. Diese zeichnet sich durch die Nicht-Begründung aus, deren Grenzen also nicht in erster Linie Kausalität darstellen, sondern jene „imagination“, von der eingangs die Rede gewesen ist. Kausalität ist stattdessen von der fiktionalen Konstruktion in „imagination“ okkupiert, indem sie als urhebendes Prinzip misslicher Bedeutung notiert wird. Das Ergebnis einer textanalytisch polizeilichen „method of the moment“ wäre, dass der (literarische) Text nichts zufällig lassen sollte, wenn er bedeuten möchte. Die Korrumpierung durch diese Form der Interpretation trifft mit Dupins Entdeckung auch die Rezipientinnen und Rezipienten. Derrida erwähnt mit Blick auf eine andere Erbengeneration von Interpreten des Interpretierens: „Each of them has simultaneously interpreted and 26 Ebd., S. 250. In diesem Sinne wurde auch die Interpretationslogik der Texte Poes als Überbietungskampf genannt. Vgl. ebd., S. 227.
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reduced a random series.“27 Er hält mit dieser Aussage die Staffel zu Poes Text, in dem die Gegenbewegung einer Akkumulation des Zufälligen auf etwas Nicht-Bedeutendes erst die Detektivarbeit ausmacht. Insofern stellt Dupins Kunststück des Auslesens vom Ich-Erzähler beim Spaziergang weniger die Blaupause einer Ermittlung dar, als vielmehr die Entlarvung der Simplizität von aufeinander aufbauenden Symbolen, die sich zu einer Kette reihen. Diese Reflexion der symbolischen Ordnung führt durch den gesamten Text. Wenn Dupin am Ende zwar die zufälligen Ereignisfälle ordnet und damit ihrer Zufälligkeit entkleidet, gelingt dieser Akt doch nur als Rezeption des Zufalls. Damit ist die analytische Agenda klar: Sobald analysiert wird, liegt ein Analysandum vor, das als solches bedeutet und immer auch den Zufall bedeutet, ja allenthalben überhaupt erst in seiner Bedeutung als Zufälliges bedeuten kann. Ohne diese Prämisse wäre der Fall in der Rue Morgue nicht nur nicht lösbar gewesen, sondern erst gar nicht in Gang gekommen. Dupins Involvierung selbst ist nichts anderes als ein Zufallsfund, nämlich eine zufällige Begegnung des Lesens in einem weiteren Wald der Symbole – der Abendzeitung: „Not long after this, we were looking over an evening edition of the Gazette des Tribunaux, when the following paragraphs arrested our attention.“28 Gerade hier wird ein den Privatdetektiv auszeichnendes Moment deutlich: Er ist niemals notwendig zuständig, sondern lediglich im Falle des Zufalls. Allein die staatlichen Behörden, die Exekutive, die Polizei ist immer ins Korsett jeder Ermittlung eingesperrt, die sich in ihrer statistischen Normierung auf die falsche Wiederholung konzentriert, nämlich diejenige der Lektüre des demografischen Mittelwerts. Es lohnt hier, auf Lacan zurück zu kommen. Der Wiederholungszwang macht uns die symbolische Kette des Textes von der bloßen Inzidenz der Signifikanten unterscheidbar und gleichsam ihr In-Eins-Fließen deutlich. Auch in der Rue Morgue wird die Bedeutung des willkürlich Bedeutenden zugänglich, wenn auch nicht anhand eines „reinen Signifikanten“29 wie dem Brief, dafür aber über den ungestümen Signifikanten des Zufalls und der Unordnung: den Orang-Utan. Er besteht darauf, dass er Signifikanten mitbringt, die geordnet werden können.30 Die Spuren des Verbrechens 27 Derrida, My Chances / Mes Chances, S. 19 28 Poe, The Murders in the Rue Morgue, S. 126. 29 Vgl. Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, S. 16. „Nous verrons que leur déplacement est déterminé par la place que vient à occuper le pur signifiant qu’est la lettre volée, [...].“ [Hervorh. S.T.] 30 Lacan beschreibt dieses Ordnen als einen sich verschiebenden Blick, der im Purloined Letter sich über die beiden Diebstahlszenen des Briefes vom König/der Polizei, die nichts sehen, bis zum Minister/Dupin erstreckt, die alles erkennen. Vgl. Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, S. 15. Auch in den Murders verfügt Dupin über einen solchen Blick, indem er im derangierten, verschobenen und verzerrten Bild des Tatortes aus den Zeitungen den Affen zu erblicken vermag.
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haben für die unterschiedlichen Beobachter unterschiedliche Bedeutungen: Dupin sieht ihnen etwas Anderes an als alle anderen Zuschauer, nämlich die Möglichkeit des Orang-Utan. Dass sich auch die Leserinnen und Leser bei den Beobachtern eingemeinden, ist lediglich für den Effekt der Enthüllung des Detektivs wichtig. Nicht als Detektiv, sondern als der Detektiv der Erzählung erblickt Dupin von privilegierter Position aus die Kontingenz, die Möglichkeit aller Möglichkeiten. Die Tatortbegehung dient sodann nur noch der Verifizierung seiner Möglichkeitsebenen. Genau diese Diskrepanz schien bereits Holmes zu stören: Während dessen Ermittlungen ein notwendiges Arrangement unter Einbeziehung aller Details rekonstruieren, resultiert das Überraschungsmoment bei Poe aus einer für Doyle illegitimen Erhöhung von Kontingenz im jeweiligen Fall sowie in der Erzählung des Falles. Das geht so weit, dass eine unmittelbare Indizienschau gar nicht mehr notwendig wird zur Lösung. The Mystery of Marie Rogêt wird dieses Moment bis an sein Extrem treiben, indem der Fall gar nicht gelöst wird, sondern nur vorausgesagt wird, was zu tun ist, um die Lösung zu erfahren. Die Lektüre des Zufalls im Fall wird damit als von der juristischen Tatsache unabhängige Aufklärung markiert. Diese Interpretation beendet The Murders in the Rue Morgue aber noch nicht, weil sie impliziert, inwiefern sie noch selbst interpretiert werden muss. Bezüglich der Diversifizierung einer ermittelnden Hermeneutik wurde bemerkt: „It is not enough to remark that the text commonly depicts an exemplary act of decoding; this would confine us to the level of representation. Rather, the text is itself manifest as an intensely busy sign-system, for which the reader is necessarily activated as self-conscious decoder. In reading, he actualises the exemplary hermeneutics of the text.“31
Das analytische Spiel schafft sich seine eigenen Probleme, deren Lösung eine äquivalente Konzentration erfordert. Das ist auch Sache der Detektivgeschichte, die stets ihre eigenen, privaten Anlässe hat. Eine Erzählung, die die Aufklärung eines Falles thematisiert, ist in dem Maße autonom, wie der Vorgang einer Aufklärung nur durch die Erzeugung eines in ihr bestehenden Falles plausibel erscheint. Sei es Hoffmanns Glücksbegriff oder Poes Detektion: Beide erteilen eine wichtige Lektion darin, wie Kontingenz narrativ zur Darstellung kommen kann. Repräsentativ zeigt sie bereits der Titel bei Poe an. The Murders in the Rue Morgue erstellt eine Ordnung in der Verortung des Mordes in einer Straße, die mit dem Namen der Leichenhalle („Morgue“) einen angemessenen Raum für das Tote aktiviert. Es erscheint lexikalisch sinnvoll, dass hier Leichen gefunden werden, obwohl lediglich zwei Signifikanten gleichzeitig ein Paradigma – das des Todes – bedienen. Trotz dieses Nexus ist und bleibt es eine kontingente Annahme, daraus Notwendigkeit und Bedeutung zu ziehen. Die Kontingenz dieser Annahme wiederum ist, gerade nach 31 Crasnow, The Poetics of Contingency, S. 59.
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der Lektüre des Textes, das eigentliche Bedeutungsangebot der beiden Signifikanten und ihres gemeinsamen Paradigmas. Der Text zeigt auf, dass das Kontingentsein der Kontingenz als eine Sache der Sprache sich insbesondere als Sache des literarischen und, um es einzugrenzen, narrativen Sprechens beobachten lässt. Im Akt der Fiktionalisierung des Sprechens treten mit den Prozeduren des Fingierens Erzeugungsprozesse auf, die in detektivischer Selektion und Kombination münden.32 Gerade diese beiden Operationen scheinen sich der Kontingenz begrifflich zu verschließen, implizieren sie doch gesteuerte und intentionale Akte. Sobald sie sich allerdings selektiv für die Kontingenz entscheiden und diese intentional mit den Stoffen des Textes kombinieren, schaffen sie Figurationen des Zufälligen, die in ihrer Stellung im narrativen Akt stets diese Doppelposition zwischen Kontingenz und Kontingenzinszenierung einnehmen. Die Inszenierungen der Erzählungen von Hoffmann und Poe insistieren, sie nicht nur auf etwas zu beziehen, das prinzipiell anders sein kann, und auch nicht nur darauf, dass etwas als etwas Anderes ausgelegt werden kann. Kontingenz wird stattdessen dort aufgerufen, wo etwas, das anders sein kann auch gleichsam zeigt, inwiefern dieses Anders-SeinKönnen als etwas Anderes ausgelegt werden kann. Die Kontingenz im Text als Kontingenz der Kontingenz ist stets eine ständige Interpretation nicht nur des kontingenten Sachverhalts, sondern der Kontingenz dieses Sachverhaltes. Diese Kontingenz ist potentiell auch immer etwas Anderes als Kontingenz, etwa der Teil einer auflösbaren Ordnung in der Deutung durch die Leserinnen und Leser. „La narration double en effet le drame d’un commentaire, sans lequel il n’y aurait pas de mise en scène possible.“33 Lacan benötigt Poes Erzählung, um etwas über die symbolische Ordnung auszusagen. In meiner Untersuchung war Poe notwendig, um einen Begriff von der Kontingenz in dieser Ordnung zu schärfen. Zur Verdeutlichung sei noch auf Wolfgang Iser verwiesen, der eine ähnliche Position über das Spiel und den Signifikanten formuliert hat. Die Zeichen-Relation zwischen Karte und Territorium ist in der Fiktion spielerischen Prozessen einer Hin-undHer-Bewegung unterworfen, die eine Differenz zwischen Karte und Territorium abermals doppelt: „Aufgehoben ist die Differenz insofern, als der fiktionalisierte Signifikant Karte und Territorium zugleich ist. Durchgehalten ist die Differenz insofern, als der Signifikant die Bedingung dafür abgibt, sich zur Karte ein Territorium hinzudenken zu müssen.“34 Diese pendelnde Bewegung zwischen Eigengesetzlichkeit des
32 Verstanden als „Akte des Fingierens“, die „sich auf die Grenzüberschreitung von Text und Textumwelt bzw. auf eine solche innertextueller Bezugsfelder“ beziehen. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 34. 33 Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, S. 12. 34 Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 428.
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Signifikanten und seiner Hervorbringung eines Signifikats bricht ihn dergestalt entzwei, dass er in seinem fiktionalen Vorkommen sowohl bedeutet als auch das Bedeuten entwirft: „Das Sprachspiel des gespaltenen Signifikanten präsentiert sich daher als Vollzug einer Sprachhandlung und deren Inszenierung zugleich. Daher muß der Signifikant vom Bezeichnen abgetrennt werden, um ausspielen zu können, was im Bezeichnen angelegt ist; auf diese Weise wird der Vollzug selbst sein eigener Gegenstand. So vermögen literarische Texte über das Wie der Kommunikation zu sprechen, und das ist deshalb notwendig, weil sie von etwas handeln, das nicht unmittelbar gegeben ist, sondern hervorgebracht werden muss.“35
Poe baut diesen Gedanken als Prozess von Kontingenz auf, gerade weil es sich um die Signifikanten des Anders-Sein-Könnens und darin der Spielbewegung handelt: Dem gespaltenen Signifikanten der Kontingenz, dem die eigene Kontingenz stets zueigen ist. Das Vermögen von literarischen Stoffen, denen Kontingenz bereits gegenständlich und integral ist, aus ihrer stetig wiederholenden motivischen Aktivierung von Kontingenz in der Diegese heraus auch die Struktur ihres Textes zu infizieren und zu kapern, kommt mit dem Glücksspiel, das einer dieser Stoffe ist, als Repräsentation seiner Technik des Zufalls gänzlich zum Tragen. Den anschlussfähigen Spielsaal dessen bietet aber ein anderes Paris als das von Dupin, das ihm dennoch in den Fällen der Zufälle recht ähnlichsieht: Balzacs Hauptstadt des Zufalls in der Comédie humaine.
35 Ebd., S. 430.
Balzacs Tilgungen. La Comédie humaine und die Wirklichkeit der Kontingenz
5. Avant-propos Gesetze des Zufalls
G ESCHICHTE
UND
E RZÄHLUNG DES V ORWORTS
Im Sommer 1842 erschien erstmals eine Ausgabe gesammelter Werke Honoré de Balzacs unter dem Titel La Comédie humaine. Diese auf schließlich zwanzig Bände anwachsende Sammlung ließ neben den Contes drôlatiques nur noch das in den 1820er-Jahren unter Pseudonym verfasste, der gehaltlosen Gelegenheitsarbeit oder hyperventilierenden Überstilisierung1 verdächtige Jugendwerk sowie einige kleinere Schriften außen vor. All die anderen seit 1829 unter Balzacs Klarnamen (seit 1830 auch mit Adelsprädikat) veröffentlichten Schriften bildeten bereits einen üppigen Stapel, der mit den von Furne, Dubochet, Hetzel und Paulin herausgebrachten Œuvres complètes bilanzierende Zugänge in editorischer Homogenität versprach. Diese werkgeschichtliche Zäsur wird mit der Festlegung auf den Titel der Menschlichen Komödie gut dreizehn Jahre nach ihren ersten Stichbohrungen abgerundet. Es findet damit auch die Bestätigung eines ineinandergreifenden und zusammenhängenden Erzählzyklus statt, dessen Projektcharakter und Augenschein eines langangelegten Experiments vom anthropologisch-literarischen Schulterschluss seines frischen Titels dirigiert ist. Dieser Schritt wird mit einer theoretischen Verlautbarung in Form eines kleinen Textes zementiert, der unter dem schlichten Namen Avant-propos ausdrücklich für diese Kompilation der Serie angefertigt wurde.2
1
Balzac hat sich selbstironisch etwa in den Illusions perdues darauf bezogen. Lucien Chardon kann dort selbst in der Provinz mit seinen naiven Liebesepisteln nicht reüssieren. Der auf Hohn treffende Vortrag des Gedichtes À Elle basiert auf einem Gedicht Balzacs aus den 1820er-Jahren. Vgl. Balzac, Illusions perdues, S. 203f. Zu diesem Gedicht, vgl. Berthier, La critique littéraire dans ‚Illusions perdues‘, S. 69f.
2
Der Titel wurde in einem Brief von 1840 genannt. Vgl. Farrant, Balzac, Satire and Subversion, S. 19f. Zur Entstehungsgeschichte der Edition und des Vorworts vgl. u.a. Galpin,
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Bereits in der ersten Phase des Unterfangens existierte mit den verschiedenen Études, die wiederum die bekannten Scènes unter sich versammelten, das systematische Set an Überschriften. Die Études de mœurs au XIXe siècle bildeten schließlich einen strukturierten autopoetischen Titel samt Arbeitsplan. Die Selbstbenennung als Studie deutet ein enzyklopädisches Anliegen an, in dem eine in Richtung belastbarer Erläuterungen orientierte Komponente der Texte herausgehoben erscheint. Etwaige epistemologische Ambitionen setzen sich in ein deutlich programmatisches Verhältnis zu ihrer primär ästhetischen Gestaltung. Der luzide Bezug zu einem außerliterarischen Erfahrungsbereich ist in erster Instanz weniger mit der Veränderung der Welt durch Literatur oder mit der Restitution eines anachronistischen poeta doctus beschäftigt, als mit der schlaglichtartigen Erzeugung eines Gesellschaftsfaksimiles zugange, das sich in einer mit der „Wirklichkeit“ näherungsweise korrespondierenden Bezugsgröße einstellt. Damit geht die Auseinandersetzung zwischen Geschichtsschreibung und Literatur in eine weitere Runde. Die seit Aristoteles kategorische Gefechtslinie entlang von Besonderem und Allgemeinem wird indirekt aufgegriffen und einmal mehr zu verwischen getrachtet.3 Der ästhetische Kitzel der Comédie entsteht gerade in einer literarischen Kompensation des historiografischen Versäumnisses, bis dato eine Gesellschaftsgeschichtsschreibung hintangestellt zu haben. An diesem Einsatzpunkt werden beide Einheiten nicht länger im Zwist gedacht, sondern miteinander vereint.4 Dem Spezifikum des Faktischen ist eine Sinuskurve changierender menschlicher Kräfte beigestellt, deren Rolle für die Ausbildung von historischem Be-
A Balzac Centenary. Vgl. auch die Einführung zum Avant-propos aus der Edition Gallimard: Fargeaud, Introduction. 3
Vgl. Aristoteles, Poetik, 1451b. In Umkehrung zu Balzacs Einfassung der Geschichte in die Poesie, ist bereits zur Sattelzeit von einer spezifischen Annäherung beider Darstellungsmuster mittels der Poetisierung des Geschichtlichen zu reden, wie Rüdiger Campe gezeigt hat. Das Konvergenzkriterium Wahrscheinlichkeit stammt dabei ebenfalls aus der Poetik und wird noch bei Balzac eine (wenn auch anders konnotierte) Rolle spielen. Vgl. Campe, Wahrscheinliche Geschichte – poetologische Kategorie und mathematische Funktion.
4
Laut Hugo Friedrich sogar mit Erfolg: „Für gewisse Vorgänge in der Gesellschaftsgeschichte von 1789 bis 1840 ist sogar das Werk Balzacs ein Dokument, das von keinem anderen der Zeit überboten worden ist und heute noch mehr Material- und Erkenntniswerte enthält als selbst die bestdokumentierte wissenschaftliche Darstellung.“ Friedrich, Drei Klassiker des französischen Romans, S. 16f. In Friedrichs Zitat wird ersichtlich, wie fließend die Grenze zwischen Quelle und Darstellung in Balzacs Werk rezipiert wird. Diese janusköpfige Stellung erhöht noch das ästhetische Gewicht, mit dem sich die Literatur zur Kennzeichnung ihrer extratextuellen Geschichte empfiehlt.
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wusstsein und damit historiografischer Bedeutung eingefangen wird. Der dazugehörige Modus ist das Erzählen, im Unterschied zum Aufzählen und Zuordnen datierbarer Tatsachen.5 Dieser Ansatz lässt sich zunächst in den Erzählsituationen lokalisieren. Balzac setzt vielfach einen fingierten Chronisten ein, der sich in das Privatleben zahlreicher Akteure mischt, um über deren zwischenmenschlich universelle Funktion zu berichten. Diese Abgrenzung zur frühneuzeitlichen Memoirenform oder zu den Brief- und Herausgeberfiktionen der Romantik versucht in Akkumulation verschiedener Scènes – der Menge an Reinszenierungen charakteristischer Momente des öffentlichen und privaten Lebens bzw. philosophischer und wissenschaftlicher Debatten – den grand récit eines vollständigen epochalen Zusammenhangs begehbar zu machen.6 Der ganze gesellschaftliche Raum, der die Verkettungen moderner Ausdifferenzierungen beherbergt und somit auch die literarisch-publizistische Sphäre (und darin auch die ästhetischen Bedingungen von Balzacs Erzählentscheidungen)7 selbst beinhaltet, wird in der Erzählung reproduziert; er stellt sich geradezu durch kaum etwas anderes als durch Narrative dar. Ein deskriptiver Rückgriff auf die Gesamtheit des menschlichen Miteinanders von Balzacs Epoche ist nicht länger verdammt, additiv die kleinsten Einzelheiten demografischer Statistik und historischer Tatsächlichkeit zu benennen. Stattdessen wird ein Gesellschaftsroman als Summe seiner Mikroerzählungen aufgeführt. Im Avant-propos resümiert Balzac das Projekt: „En dressant l’inventaire des vices et des vertus, en rassemblant les principaux faits des passions, en peignant les caractères, en choisissant les événements principaux de la Société, en
5
Zur Überwindung der aristotelischen Binarität in einer „Ineinssetzung des ‚Allgemeinen‘ [...] seiner Romane mit dem Historischen“, vgl. Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet, S. 86.
6
Es kursieren – bei Autoren, die in Balzacs Ergiebigkeitsklasse spielen, nicht unüblich – verschiedenste literaturhistorische Kontinuitäts- und Diskontinuitätserkenntnisse. Für den Effekt der vielen Figuren wird etwa der noch näher zu betrachtende Versuch der ‚vraisemblance‘ verantwortlich gemacht. Déruelle nimmt dies zum Anlass, mit Auerbach von einem „roman serieux“ zu reden, der den trivialen Alltag literarisch ernst nimmt und durch ein Aufzeigen der klimaktischen Konfliktpunkte dieses Alltags – etwa in den Überschreitungen der Intrige – veredelt. Vgl. Déruelle, Balzac et la digression, S. 35ff.
7
Adornos Doppelcharakter der Kunst, der selbst die Autonomieästhetik – bis zum l’art pour l’art – als Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses kennzeichnet, und so das Kunstwerk darüber bestimmt, „als Produkt gesellschaftlicher Arbeit des Geistes stets fait social“ zu sein, lässt sich auf faszinierende Art und Weise in den literarischen Beschreibungen Balzacs über den Literaturbetrieb wiedererkennen. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 335.
198 | BALZACS T ILGUNGEN composant des types par la réunion des traits de plusieurs caractères homogènes, peut-être pouvais-je arriver à écrire l’histoire oubliée par tant d’historiens, celle de mœurs.“8
Die Regulation der Verhältnisse leitet sich aus den ephemeren Leidenschaften der Individuen her.9 Ihre Wiedergabe fokussiert keine quantitativ-empirischen Investigationen, offenbar aber einen unsichtbaren sozialen Hintergrund. Die forces sociales gehen von der Kupplung eines „moteur social“10 einerseits als außerindividuelle, intentionslose Verhältnisse aus und sind doch nur in den individuellen Empfindungen zu situieren: „Die Gesamtheit der gesellschaftlichen Bestimmungen drückt sich ungleichmäßig, kompliziert, verworren, widerspruchsvoll in dem Gewirr von persönlichen Leidenschaften und zufälligen Geschehnissen aus. Die Bestimmung der einzelnen Menschen und Situationen erfolgt jedesmal aus der Gesamtheit der gesellschaftlich bestimmenden Kräfte, nie einfach und direkt.“11 Dass dieses Gewirr damit aus einem Gemisch der konkurrierenden Bestände Leidenschaft und Zufall Synergien erzeugt, soll im Folgenden als Rahmung einer Interpretation Balzacs beschrieben werden, deren Scheitelpunkt in der erzählerischen Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Kräften der „passions“ bzw. ihrer sozialen Erscheinungen und dem anarchischen Takt des Zufalls aufzukämmen ist. In diesem Widerstreben zwischen genau statuiertem Ordnungsdenken Balzacs und den immer wieder eingeflochtenen Antithesen wird versucht, das moderne Moment seiner durchaus konservativen Erzählverfahren ins Scheinwerferlicht zu rücken.12
8
Balzac, Avant-propos, S. 11.
9
Scheffel weist dabei auf die „weite Extension“ der „passions“ bei Balzac hin, die nämlich auch die für ihn gewichtigen Vorstellungen von „pensée“ und „volonté“ umfassen und als urtümliche Formkräfte von Gesellschaft überhaupt zu denken sind. Scheffel, Figurationen der Leidenschaft, S. 211.
10 Balzac, Avant-propos, S. 11. 11 Lukács, Balzac und der französische Realismus, S. 53. Nur einen Absatz später betont Lukács, dass die subjektiven Innerlichkeiten des balzacschen Personals gerade keiner romanhaften „Maschinerie“ entsprechen, in der Sujet für Sujet von Ereignis zu Ereignis verhandelt wird. Insbesondere das letzte Drittel des hiesigen Abschnitts über Balzac, welches vom Peau de chagrin handelt, versucht zu zeigen, inwiefern die sequentielle Verknotung durch „passions“ und „hasard“ auf eine Art und Weise getaktet ist, die das Verdikt einer automatischen Bannung von Spieler und Text ausspricht. 12 Die These, Balzac wäre ein noch altmodischer Autor auf der Schwelle zur Moderne, zirkuliert in der Romanistik aus verschiedenen Perspektiven. Eine paradigmatische Studie, die sich charakteristisch am Übergang zum widerspenstigen Kronprinzen Flaubert abarbeitet, liegt von Joachim Küpper vor. Küpper interessiert sich für die feinen Kontinuitäten und Diskontinuitäten nach dem von Foucault postulierten Epistemwandel seit 1800, die sich
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Z UM G ESETZ DER „ UNITÉ
DE COMPOSITION “
Balzacs Vernetzung einzelner Teile zu einer Reihe diegetischer Geschlossenheit setzt auf die Zusammenstellung exemplarischer Sozialcharaktere mitsamt den privilegierten Momenten ihrer repräsentativen Erlebens- und Handlungsbereiche. Mit der Selbsternennung zur Menschlichen Komödie – die sich dem großen Vorbild Dante etwa über die literarische Einkerkerung verschiedenster gesellschaftlicher Funktionsträger annähert und somit analoge archivarische Arbeit leisten möchte – ist auf die Versammlung eines Maximums ebensolcher Bastionen sozialer Ausschnitte verwiesen, die nämlich in gegenseitiger Ergänzung selbst ein beispielhaftes System für eine Einsicht in die menschliche Natur bereitstellen. Insofern kommt die Comédie mit einem systematischen Arbeitsplan daher. Sowohl ihre Verzweigungsstränge als auch eine systemisch unterfütterte Gestalt des Poetischen werden unisono arrangiert. Bereits seit den 1830er-Jahren existierte das berüchtigte Baumdiagramm der Einteilung in die zweifelsohne am weitesten erschlossenen Études de moeurs, die spärlicheren Études philosophiques sowie die bis zuletzt stiefmütterlich behandelten Études analytiques. Da diese Gruppierung ein wesentliches Licht auf die Theorie hinter Balzacs etwa anhand einer Umformung der Wirklichkeits- zur Objektivitätsillusion bzw. zum roman sans sujet kristallisieren. Balzacs Rolle wirkt dahingehend so bedeutend wie kontingent: Die Geschichte des französischen Romans von Flaubert bis zum Nouveau Roman sei nämlich „als ein Rivalisieren mit dem balzacschen Roman und zugleich mit dem jeweiligen unmittelbaren Vorgänger in bezug auf das stabil bleibende Darstellungsideal“ zu begreifen. Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet, S. 4. Dieser Konkurrenz zwischen Flauberts formaler Überbietung und Balzacs zufälliger Repräsentation eines ancièn roman wird ein ganzes Kapitel gewidmet. Dass die Leistung des jüngeren anhand seiner programmatischen Zurücknahme präsentischer Erzählerinterventionen beschrieben werden kann, stellt mit dem von der Realitätsdarstellung bei Küpper verschobenen Interesse hin zur Affektpolitik ein wichtiges Argument bei Martin von Koppenfels dar. Vgl. Koppenfels, Immune Erzähler, S. 12 u. S. 105-109. Vgl. auch Samuel Webers ersten Satz, „Balzac is unmodern“, den dessen verdienstvolle Schrift zum Peau de chagrin ausführlich überprüft. Weber, Unwrapping Balzac, S. 3. Für eine klassische Revision, die Balzac doch noch an der Seite der Modernen situiert, vgl. Butor, Balzac et la réalité. Interessanterweise strotzt die BalzacForschung nur so von kleineren und größeren Arbeiten, die in minutiöser Beschreibung des gewaltigen Projekts kleinere und größere Rehabilitationsversuche ihres Favoriten zu unternehmen scheinen. Diese sind angesichts der eigenen Argumentation gar nicht unbedingt angezeigt, da sich nämlich häufig am enormen Einfluss und der durchaus hohen Beliebtheit unter weiteren großen Namen der Literaturgeschichte (z.B. Hofmannsthal und Dostoevskij) abgearbeitet wird. Vgl. exemplarisch den Eintrag im Cambridge Companion to European Novelists: Tilby, Honoré de Balzac.
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Schreibpraxis scheinen lässt, sie komplementär für das Verständnis der in ihr enthaltenen Texte bedacht werden kann, kommt seinem hinführenden Geleitwort eine besondere Rolle in der Erläuterung des Gesamtkonzeptes zu – schließlich beteiligt es sich als theoretische Bekanntmachung der Hintergründe jener poetischen Études am Gestus dieser noch zu bestimmenden Prosagattung und fungiert zugleich als Teil des Systems. Im Avant-propos bestätigt Balzac unmittelbar die Klärungsbedürftigkeit seines suggestiven Titels: „En donnant à une œuvre entreprise depuis bientôt treize ans le titre de La Comédie humaine, il est nécessaire d’en dire la pensée, d’en raconter l’origine, d’en expliquer brièvement le plan, en essayant de parler de ces choses comme si je n’y étais pas intéressé.“13 Die holistische Statur der menschlichen Komödie aus objektiver Perspektive zu schildern, tut dem Anspruch genüge, den charakteristischen Zirkel zwischen einzelnen Leuchttürmen einer Epoche und ihrem imaginären Ganzen, das einem noch nicht zusammengesetzten Puzzle gleicht, als notwendig zu erbringende Form der Weltbeschreibung nachzuliefern. Für Balzac hat dies zur Folge, die eigene Zeit und ihre Ausprägungen als literarischen Stoffbereich auszumessen. Diese Aufgabe bildet das Fundament der Comédie, und zwar in Form der invariablen Grundidee, des vorauseilenden Einfalls („pensée“) oder des unhintergehbaren Ursprungs („l’origine“), aus dem sich nicht nur „le plan“, sondern auch und überhaupt die Planung und das strukturelle Moment der Planbarkeit ergibt. Der Plan richtet sich nach der Autorität des Gesetzmäßigen und stellt zugleich Gesetzmäßigkeiten dar. So wird schließlich eine Auseinandersetzung mit dem Gesetz im Vorwort der Comédie eine wesentliche Stellung beziehen, die vielleicht als nicht weiter verwunderlich gelten könnte, würde sich nicht noch ihr Spielverderber des Zufalls einmischen. Die Geschichte des Avant-propos zeugt zunächst ihrerseits von einer Topik der Zufälle und Umstände, mit der Balzacs Gegenwartsabbildung erst plausibel wird. Noch sieben Jahre vor den Œuvres complètes hatte sich der Journalist Félix Davin des Versuchs einer Einführung in Balzacs narrativen Kosmos angenommen, das auf Drängen von Balzacs Verleger Pierre-Jules Hetzel nun ersetzt werden sollte. Es war alles andere als selbstverständlich, dass Balzac persönlich die Sammlung einleiten würde. Auch Charles Nodier wollte nicht, Hippolyte Rolle sollte nicht und George Sand konnte schließlich nicht termingerecht das Gewünschte abliefern. Balzac gelang es nicht, eine Neuverwendung von Davins früherer Version durchzusetzen, und blieb damit selbst als einzig möglicher Verfasser übrig. Insbesondere unter dem misslichen Zeitdruck der anstehenden Publikation ist es der Insistenz Hetzels und seinem eher nötigenden als überzeugenden Bitten zu verdanken, die persönlich aufgesetzten Erläuterungen vorliegen zu haben. In einem Brief an Ewelina Hanska beschreibt
13 Balzac, Avant-propos, S. 7.
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Balzac im stress- und beschwerdereichen Duktus, der der ukrainischen Gräfin, künftige Mme Balzac, bereits wohlvertraut geworden sein dürfte, wie sehr ihm der missliebige Mehraufwand zusetzte: „Je viens de relire l’Avant-propos qui commence la Comédie humaine. Il a 26 pages et ces 26 pages m’ont donné plus de mal qu’un ouvrage, car elles prennent, par la circonstance, un caractère de solennité qui effraie celui qui prononce ces quelques paroles en tête d’une collection si volumineuse.“14
Den Avant-propos angesichts solcher Turbulenzen als Verlegenheitslösung, als „morceau de circonstance“15 zu betrachten, setzt ihn mit der Gesinnung jener von ihm eingeleiteten Texte in Verbindung. Dass eine esoterische Funktionalität des Kunstwerkes in Spannung mit seinen Produktionsumständen gerät, kristallisiert sich nicht nur anhand der Arbeitsweise jener Journalisten und literarischen Autoren, die die Welt der Comédie bevölkern, sondern weist auch auf eine ihr eigene Facette. Ihr erschlagender Umfang kann als das jeweilige Produkt jener anekdotenreichen Publikationsbesonderheiten verstanden werden, mit denen Balzac zu kämpfen hatte. Eine Korrelation zwischen den produktionsspezifischen Umständen, in die sich der Autor unfreiwillig manövriert hatte, zwischen den exorbitanten Schulden also, die anzuhäufen für den selbstbewussten Geschäftsmann, der Balzac auch war, kaum ein Problem darzustellen schien, und jener enormen Anzahl an Texten, mit denen wenigstens die dringendsten Händel bedient werden sollten, gewähren Einblick in einen Aspekt jenes quantitativen Gebots der Comédie. Théophile Gautier, Zeitgenosse, Freund und Kollege, bemerkte als offenkundiger Vertreter dieser freilich kühnen biografisch motivierten und kunstevolutionistischen These: „[...E]t pour soutenir ce qu’il appelait en riant sa dette flottante, Balzac déploya des ressources d’esprit prodigieuses et une activité qui eût absorbé complètement la vie d’un homme ordinaire.“16 Dass Kreativität dem Moment der Bredouille entspringt, in Balzacs Fall der materiellen Einkesselung, kann letztlich mit dem Konfliktmanagement einer aufstrebenden Produktionslogik zwischen Druckerei, historischer Kolportage und Journalismus unter anderen anhand der Szenen um Lucien Chardons prekäre Situation als alleingelassenem, zunehmend mittellosem Walter-Scott-Epigonen in Un grand homme de province à Paris (1839), dem zweiten Buch der Illusions perdues, überprüft werden. Im Bereich des hier verschärften Materialismus mehren sich die Überschneidungen von Theorie und Praxis der Comédie humaine. Denn trefflicher als das spekulative Potenzial in Gautiers Ansatz gewinnen in den Romanen um Lucien die dort niedergelegten Spuren einer Verknüpfung von Produktionsumständen und Ästhetik im 14 Balzac, Lettres à Madame Hanska II, S. 98. 15 Fargeaud, Introduction, S. 4. 16 Gautier, Honoré de Balzac, S. 72.
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Zeitalter des Hochkapitalismus an Bedeutung. Dessen Irritationen reichen von persönlichen, Luciens Eitelkeit verletzenden Kränkungen bis zum Abgrund der materiellen Null. Dass innerhalb des bohemistischen Umfelds im Quartier Latin, welches ihn zunächst auffängt, ohne falschen Opportunismus zwischen politischen Debatten und kunstphilosophisch-idealistischen Erwägungen existiert wird,17 steht für die letzte Bastion vor der materialistischen Tatsächlichkeit ein, die Lucien später im Bereich des Verlags- und Zeitschriftenwesens als Wirklichkeit anerkennen wird. Diese neue Szenerie formuliert schließlich die enge Verbindung von Geld als privilegiertem ontologischen Marker – nur die Ware ist wahr – mit dem Kunstwerk als Handelsartikel. Die Taxierung richtet sich dabei weniger nach dem aktuellen Stand liquiden Kapitals – das könnte selbst die sozial Hochgestellten zum Teil in arge Bedrängnis führen – als nach dem antizipierten, äußerlichen Nutzen, dem ein Versprechen der Umsetzbarkeit innewohnt. Es ist die Spekulationsmarge auf Talent, Mode oder auf die Namen, welche eigene Werte gestattet bekommt und die Agenda der Pariser Szene organisiert, darin auch und vor allem ihren Kunstdiskurs anreichert, sodass Lucien in einem Moment der Erkenntnis, nach seiner ersten Niederlage, zu sich sagt: „Mon Dieu ! de l’or à tout prix ! [...], l’or est la seule puissance devant laquelle ce monde s’agenouille. Non ! lui cria sa conscience, mais la gloire, et la gloire c’est le travail !“18 Das Geld ist eine feine und nicht zu verachtende Sache in der ungewöhnlichen Metropole, nur ersetzt es nicht in allen Fällen das schillernde Potenzial des Ruhmes, der hier noch vom idealistischen Lucien in einen direkten Kausalnexus mit eifriger Arbeit gestellt wird. Diese jedoch wird angesichts ihrer Gegenspiegelung nicht im Gebrauchswert ihres transaktionalen Nutzens, sondern der Veredelung des-
17 Die Gruppe um d’Arthez greift dabei ein breites Spektrum der Künste und Wissenschaften ab, das allerdings in der Verbindlichkeit und Treue füreinander sowie der Akzeptanz der Ideen des Einzelnen jenes Quartier Latin gewissermaßen als aus der Zeit gefallenen Ruheraum der Überzeugungen wie auch der produktiven Salonkultur ausweist. Vgl. Balzac, Illusions perdues, S. 315-318, wo es zum Abschluss als Beleg der brüderlichen Gleichzeitigkeit des Ungleichen heißt: „Ces neuf personnes composaient un Cénacle où l’estime et l’amitié faisaient régner la paix entre les idées et les doctrines les plus opposées. Daniel d’Arthez, gentilhomme picard, tenait pour la Monarchie avec une conviction égale à celle qui faisait tenir Michel Chrestien à son fédéralisme européen [...].“ 18 Ebd., S. 287. „Monde“ ist weniger in ontologischer oder kosmologischer Dimension zu verstehen, als in seinem Verweis auf die hohe, nämlich mondäne Gesellschaft. Vgl. Farrant, Balzac, Satire and Subversion, S. 26. Während Un grand homme de province à Paris zwischen der definitorisch offeneren „monde“ und „societé“ als terminologisch verbindlicherer Klausel changiert, bevorzugt das Avant-propos „societé“ allein. Bei der Rede von „monde“ dominiert hier eine ontologische Verwendung, wenn auch mit einer bedeutsamen Ausnahme des Zufalls, auf die später eingegangen wird.
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jenigen, der das Werk fabriziert, gemessen. Ohne Geltungssucht wird nicht gearbeitet: Diese Einstellung wird zumindest aus Sicht der Freunde um d’Arthez später zum denkbar schlechtesten Zeugnis für einen angehenden Dichter. Einige Passagen nach Luciens Geistesblitz bestätigt sein Konkurrent Châtelet im Zwiegespräch, welch geringer ästhetischer Wert dem Werk doch im Gegenlicht seiner sozialen Instrumentalisierung zukommt. Ausgerechnet von seinem Nebenbuhler erhält Lucien die Gebrauchsanweisung für die strategische Anpassung in der Großstadt: „Réfugiez-vous dans une mansarde, faites-y des chefs-d’œuvre, saisissez un pouvoir quelconque, et vous verrez le monde à vos pieds ; vous lui rendrez alors les meurtrissures qu’il vous aura faites là où il vous les aura faites.“19 Diese früheste aller Kehrtwenden junger Künstler im Paris der 1820er-Jahre stellt zugleich die unmittelbare Konfrontation mit dem klandestinen Gesetz der großen Boulevards dar. Die dominant äußere Funktionalität sowohl der Menschen als auch ihrer Werke in Form ihrer Nützlichkeit für die beständigen Rolleninvarianzen der intriganten Karrieristen, die sich an der Seine tummeln, bezeugt neben der in ihr verborgenen soziologisch erstaunlichen Erkenntnis auch eine poetische Entdeckung. Das Werk zumindest zur einen Hälfte als Produkt eines quantifizierbaren sozialpolitischen Manövers zu betrachten, attestiert dem ästhetischen Gehalt eine strikte heteroreferentielle Dimension, die als ihrerseits literarischer Verweis in den Illusions perdues wiederholt ausformuliert wird. Dieses Verhältnis bestimmt geradezu ein Spezifikum dieses Textes, sich nämlich literarisch an der Realität von Literatur zu versuchen, wodurch ein Text zusammenkommt, dem unterstellt werden kann, selbst den Geheimverträgen ebendieser Realität zu entstammen. Während die Begebenheiten um Lucien – sie werden noch genauer zu beobachten sein – entsprechenden Einblick gewähren, legitimiert der Avant-propos dieses Konstrukt, indem er für die Positionierung der Schilderungen der Menschlichen Komödie mit seiner idée fixe20 bürgt. Dass er sich selbst an die Spitze jener menschlichen Komödie setzt, deren Mitteilungen gönnerhaft zwischen interner Aussage und äußerer Genese vermitteln, befördert ihn zur vermischten Rubrik, die sowohl poetisch (als Mitteilung dessen, was die Romane beschäftigt) als auch poetologisch (als ästhetisches Bekenntnis zur Systematik dieser Beschäftigung) agiert. Balzacs Bedenken in seinem Brief an Mme Hanska zeugen von dem Balanceakt, eine unter dem Vorzeichen naturwissenschaftlicher Präzision stehende Reihe ihrer ästhetischen Faszination nicht zu berauben, sie nicht einer enzyklopädischen Hermetik jener erschlagenden
19 Balzac, Illusions perdues, S. 288. 20 Vgl. Astruc, Balzac et l’idée fixe. Der Begriff der Idee ist nicht nur aufgrund von Balzacs hauseigener Philosophie und inflationären Verwendung so beliebt, sondern auch, weil er das Unternehmen der Comédie wie auch vieler ihrer obsessiv auf einen Grundgedanken konzentrierten Figuren zugleich beschreibt.
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Folianten zu überlassen, aus der sie wohlgleich diese Faszination überhaupt erst generiert. Die Arbeit des Avant-propos besteht darin, das systemische Alleinstellungsmerkmal auszubuchstabieren, zugleich aber dessen exklusive poetische Gestalt zu beschreiben. Entsprechend war es für Hetzel undenkbar, Gewähr für das explorative literarische Monument zu erwarten, wenn es nicht mit Balzacs Namen unterzeichnet wäre. Die bestechende Anweisung bestand dabei vorausschauenderweise in dem koketten Rücktritt des Schriftstellers hinter die Gestalt seiner Schriften, die das nicht einfache Spiel mit der literarischen Wirklichkeitsbeschreibung weiterspinnen können. Hetzel schreibt in einem Brief an Balzac: „Un résumé, une brève explication de la chose, écrite, signée par vous ce qui implique une grande sobriété et une mesure très grande, voilà ce qu’il faudrait.“21 Der Plan sah eine Perspektivierung vor, in der aus der ersten Person dasjenige sichtbar zu machen sei, was die Leitlinie der versammelten Texte seinerzeit geboren hat, in Übereinstimmung damit, was diese Linie selbst formuliert und reproduziert. Die Form der Explikation, der lückenlosen Adressierung dessen, was sich abspielt, wie es funktioniert und mit welchen Ursachen es sich welchen Konsequenzen gegenübersieht, gehört von Anfang an zu den grundlegenden stilistischen Entscheidungen, die das Antlitz der gesamten Comédie geprägt haben. Wiederholungen der einflussreichen systemischen Faktoren, des Ewig-Gleichen und ostentativ Typischen intersubjektiver Gesetzmäßigkeiten im erzählenden Text zwar einerseits nachahmend stattfinden zu lassen, sie aber andererseits in ihm durch die napoleonische Krönung22 des allwissenden Erzählers transparent zu machen: Das setzt jenes Überangebot der narrativen Praxis im Holismus der menschlichen Komödie in Kraft. Wir werden sehen, in welch missliche Situation diese hoheitliche Erzählerfigur sich manövriert, wenn sie sich an einer transzendenten Schickung ausgerechnet der verdeckten Karten des Glücksspiels versucht. Die Ausmaße der bis dato erfolgten Beschreibung jenes Frankreichs zwischen Revolution, Restauration und Bürgerkönigtum in den Texten der Comédie kleidete sich mit seiner insistenten Hypernarration – der potentiellen Verschränkung aller Einzeltexte zu einem großen Roman – in ein Gewand des poetologisch Programmatischen. Erst im verbundenen Erzählen wird diese Grundidee transparent, deren Praxis 21 Hetzel à Balzac (fin juin 1842). In: Balzac, Correspondance 4, S. 465. 22 Die Verbindung von Balzacs Projekt zum Kaiser der Franzosen mag tatsächlich aufschlussreich sein, schließlich belegt Balzacs historiografische Grundausrichtung nicht nur ein massives Interesse an der napoleonischen Ära, die ohnehin aus dem Erfahrungsschatz seiner Generation kaum herausgerechnet werden kann, auch in professioneller Hinsicht zeigte sich der Autor dem Feldherrn überaus verbunden. Offenbar hielt sich Balzac eine Napoleonfigur am Arbeitsplatz, mit einem Post-It versehen, das ihn erinnern sollte, Napoleons Vorhaben mit der Feder zu vollenden. Zu dieser Verbindung, vgl. u.a. Besser, Balzac’s Concept of Genius, S. 132ff. Vgl. auch Wilms, Balzac, S. 78.
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einer Vermittlung von Text und sozialem, ideengeschichtlichem, politischem Kontext durch die Wiederholung, und mit dem Vorwort auch durch die Erläuterung sichtbar wird. Die Menschliche Komödie literatursoziologisch als Erzeugnis einer bestimmten Konstellation zu betrachten, die sie selbst wiederum beschreibt und kommentiert, führt in einen Erzählzyklus, deren im einzelnen Text vorhandene Linearität mit den chronologischen und historischen Non-Linearitäten des Ganzen produktiv kontrastiert wird. Für Balzac, als Produzenten, wie für die Leserinnen und Leser der Comédie öffnet sich diese Gesellschaftsstudie mit multiplen, hierarchisch ausgeglichenen Ein- und Zugängen.23 Ein solcher Kollisionskurs entspringt dem holistischen Anspruch, aus dem Ganzen jeweilige Einzelteile eher grob als chirurgisch herauszutrennen. Als Komplementärchiffre zum Ganzen der Comédie humaine mag der Avant-propos dabei nicht viel Neues berichten, insbesondere für die genauen Kenner Balzacs unter seinen Zeitgenossen.24 In Form eines ihrer Bestandteile fügt es sich allerdings organisch in den Duktus der fiktionalen Schriften. Hetzel bittet Balzac einmal, er möge wie eine Figur seines umfangreichen Personals klingen: „Parlez comme un de vos héros, et vous ferez une chose utile, indispensable.“25 Tatsächlich weist das voluminöse, nicht gerade bescheidene, aber auch nicht uncharmante Pathos mit seinem monofon ertönenden Vibrato starke Ähnlichkeiten zur abwechslungsarmen Erzählerstimme der Romane auf. Als Analogisierung mit den Autoren und Journalisten der Illusions perdues erhält das kurze Vorwort auf diese Weise eine monologische Gestalt, die als Romanpoetologie den literarischen Texten nicht nur entnommen erscheint, sondern in ihnen auch bereits geäußert wurde. So ist Balzacs basaler Ausgangspunkt, „je vis que, [...], la Société ressemblait à la Nature“26, auch Teil der in den Texten der Comédie selbst formulierten Erkenntnisse. Daniel d’Arthez, einer ihrer vielversprechendsten Autorgestalten, möglicherweise idealisiertes Selbstportrait Balzacs, und zugleich kühler Kopf, wenn es um die Einschätzung der literarischen Situation in seinem Paris geht, wird der poetologischen Ratschläge im Laufe von Un grande homme de province à Paris nicht müde. Kurz nach der ersten Begegnung mit Lucien stellt er schnurstracks eine Beobachtung an, die den Ausdruck des Avantpropos moduliert: „Qu’est-ce que l’Art, monsieur ? c’est la nature concentrée. [...] La Société repousse les talents incomplets comme la Nature emporte les créatures 23 Vgl. hierzu Blumenbergs perspektivisches Modell, das weiter unten noch Beachtung findet. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 23. 24 Zumindest verlangt es offenbar eher nach spezifischen Blicken, um den Mehrwert des Vorworts zu ermitteln: „Taken merely as a preface, the Avant-propos tells us amazingly little about the Comédie that was not already said by Davin about the Études de moeurs.“ Galpin, A Balzac Centenary, S. 214. 25 Hetzel à Balzac (fin juin 1842). In: Balzac, Correspondance 4, S. 465. 26 Balzac, Avant-propos, S. 8.
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faibles ou mal conformées.“27 Insbesondere die kurzen assertorischen Formen und der einhergehende apodiktische Gestus, womit große Fragen wie der nach der Kunst im Indikativ und per Kopula Eigenschaften und Prädikate (in diesem Fall der Naturähnlichkeit) zugewiesen werden, machen den stilistischen Nachdruck Balzacs aus.28 Die Verschränkung von Natur, Kunst und Gesellschaft stellt das ästhetische Grundverständnis dar, mit dem Balzac seine Comédie motiviert. Aus dem Korrespondenzverhältnis dieser Art entspringt jene anspruchsreiche, dabei auch unbesonnene, ihre Dissonanzen ignorierende Wirklichkeitsverdopplung29, die den Gesamtcharakter des Werkes beschreibt und den Balzac im Verlauf seines Vorworts ausführt: „En copiant toute la Société, la saisissant dans l’immensité de ses agitations, il arrive, il devait arriver que telle composition offrait plus de mal que de bien, que telle partie de la fresque représentait un groupe coupable, et la critique de crier à l’immoralité, sans faire observer la moralité de telle autre partie destinée à former un contraste parfait.“30
Das Postulat, eine Gesellschaft im Ganzen abzubilden, trägt eine mimetische Hyperbel vor, in der schließlich der systemische Charakter der Comédie zum Ausdruck kommt. Die Struktur der Comédie entspringt dem Strukturellen der darzustellenden Gesellschaft. Dazu gehört auch die Überschreitung doktrinärer Barrieren, was sich sodann in der vorbehaltlosen Darstellung auch von Schattenseiten äußert, die in ihrer politischen Inopportunität Kritik auf sich gezogen hat, aber umso mehr für das ganzheitliche Abbildende einstehen soll, von dem Balzac überzeugt ist. Die mit ihren Sympathien nicht unbedingt eindeutige Einbindung von Verbrechern, Hochstaplern, 27 Vgl. Balzac, Illusions perdues, S. 310. 28 Vgl. hierzu etwa Benjamins Formulierung, Balzac hege eine „Vorliebe für uneingeschränkte Aussagen“. Benjamin, Charles Baudelaire, S. 541. Dass es sich beim balzacschen Erzähler um einen Restaurator der erhabenen Wirkung des Dramas handeln würde, hat Martin von Koppenfels anhand der Verwandlung King Lears in den Père Goriot gezeigt. Was Balzacs Roman dem Stück Shakespeares inhaltlich schuldet, wird dabei durch eine vordergründig szenische Schreibweise auch gattungspoetisch ergänzt. Balzacs extrem auktorialer Erzählstil – „Quelle allen Wissens über die Affekte“ und möglicherweise Zahnrad einer „patriarchalen Erzähltheorie“ – vervollständigt dieses Bild der angelegten Interventionsmaschen im Père Goriot. Koppenfels, Immune Erzähler, S. 106ff. Vgl. auch Warnings Begriff vom Erzähler als Mystagoge, der seine Gestik des „Zeigenden“ bzw. sein „Rezeptwissen“ betont. Warning, Chaos und Kosmos, S. 38-44. 29 Dass nämlich Verdopplung durch (sprachliche) Übertragung gestört werden könnte, scheint für Balzac kaum eine Rolle zu spielen. Vgl. Engler, Einleitung, S. 8. 30 Balzac, Avant-propos, S. 14f.
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Betrügerinnen und Betrügern sowie anderen sinisteren Gestalten beteiligt sich an einer Literaturfähigkeit des Infamen, die auch das Glücksspiel in seinen Wirbel reißen wird.31 Mit der Garantiemacht der Natur für die Gesellschaft sticht so auch die Grundidee hinter der Comédie hervor. Sie wird mit dem Postulat einer „unité de composition“ auf den Punkt gebracht.32 Balzac bezieht diesen erkenntnisgeschichtlichen Gesichtspunkt auf mystizistische, philosophische und naturwissenschaftliche Traditionen des 17. und 18. Jahrhunderts. Deren monadische Epistemologie samt ihrem Denken einer unsichtbaren Einheitlichkeit, die als metaphysischer Äther heterogenste Erscheinungen aus unterschiedlichen Wissensausschnitten begründet, beruft sich auf einen Zusammenhang aller Dinge, das große Gemeinsame oder das Absolute.33 Zur Verdeutlichung arbeitet Balzac mit den zeitgenössischen Auseinandersetzungen dieses Denkens in seinen naturwissenschaftlichen Umdeutungen. In einem Lagerstreit der französischen Naturforscher Georges Cuvier und Étienne Geoffroy Saint-Hilaire an der Académie des Sciences aus dem Jahre 1830 spitzt sich die Debatte zu. Balzac verweist bereits in den Illusions perdues auf diese Kontroverse, mittels eines gewissen Meyraux, der zur Plejade um Daniel d’Arthez gehört. Die Namensähnlichkeit zum Académie-Mitglied Pierre-Stanislas Meyranx wird durch beider Involvierung – des fiktiven Meyraux und des historischen Meyranx – in benannten Disput bestätigt.34 Es handelte sich dabei um einen vehement geführten Ordnungsstreit der damaligen Haute Volée der Naturforschung, die sich betreffs der Grundausrichtung einer vergleichenden Zoologie uneins gewesen ist. Ob dem Prinzip der Diskontinuität (Cuvier), nämlich der bloß funktionellen Ähnlichkeit zwischen den Arten verpflichtet, die allerdings nicht als substantielle Gleichförmigkeit zu verstehen ist, oder demjenigen der Kontinuität (Saint-Hilaire), der naturgeschichtlich umspannenden Verwandtschaft, der Vorzug zu geben sei, spaltet die streitenden Lager.35
31 Adorno hat in dieser Vermenschlichung des Verbrechers eine Gemeinmachung mit dem Bürger erkannt. Vgl. Adorno, Balzac-Lektüre, S. 142. 32 Balzac, Avant-propos, S. 7. 33 Balzac lässt u.a. Emanuel Swedenborg, Georges-Louis Leclerc de Buffon und Gottfried Wilhelm Leibniz für seine methodischen Überlegungen bürgen. Vgl. Balzac, Avant-propos, S. 7f. 34 Vgl. Balzac, Illusions perdues, S. 317. Vgl. auch den Kommentar zu Meyraux in der Ausgabe bei Gallimard. 35 Für einen systematischen Überblick der verschiedenen Positionen und des genauen Streits, vgl. Piveteau, Le débat entre Cuvier et Geoffroy Saint-Hilaire sur l’unité de plan et de composition, insbes. S. 343-358. Betreffs Meyraux’ initiierender Rolle in diesem Streit, vgl. ebd., S. 350ff. Balzacs inzwischen enthusiastisches Verhältnis zu Saint-Hilaire ist Gegenstand bei Laubriet, L’intelligence de l’art chez Balzac, S. 278ff.
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Cuvier erhält als Herold jener vergleichenden Zoologie ein besonderer Platz in Form eines eigenen Kapitels in Michel Foucaults Les mots et les choses (1966) zugebilligt. Wenn auch der Akademienstreit auf die zwei Variablen einheitliche Form versus ähnliche Funktion heruntergebrochen werden kann, so bleibt doch das Cuviersche Verdienst, überhaupt die entsprechenden Organisationsmodelle mit der Innovation funktionaler organischer Abgleiche in das biologische Vokabular eingeführt zu haben:36 Eine binäre Klassifikation etwa Linéescher Provenienz, mit der in systematischer Nomenklatur die gesamte Natur in tabellarischer Form abgebildet werden soll, wird durch die Leerstellen, die aus Varianzen entstehen, offengehalten. Für Foucault materialisiert sich damit in Cuviers Arbeit der Übergang vom klassischen, taxonomischen System zum modernen. Das taxonomische Modell, welches Klassifikationen insbesondere anhand äußerlich wahrnehmbarer, variabler Merkmale vornahm, ist nun durch eine kontextsensitive Anordnung der primären Funktionszuschreibungen ersetzt. Die äußere, anatomische Zusammensetzung, etwa von Lungen und Kiemen, wird zugunsten ihrer Funktionserfüllung des Atmens zurückgestellt: „[Cuvier] dissout, sinon l’individualité, du moins l’indépendance de l’organe.“37 Er macht damit die Implikationsmuster der Funktionen des Organs lesbar. Dieses neue Set ermöglicht eine Zusammenführung dieser Implikationen unter eine Leitlinie: „Cette préeminence d’une fonction sur les autres implique que l’organisme dans ses dispositions visibles obéisse à un plan.“38 Damit ist der Schritt in Richtung eines zugrundeliegenden Musters getan, von dem ein Verständnis für seine einzelnen Teile erst ausgehen kann: Ein nicht zu ignorierender Sprung, gerade für den Status dessen, was der Avant-propos in Balzacs Poetologie wiederum darstellt. Er artikuliert den signifikanten Übergang vom reinen Benennen und stichwortartigen Gliedern einer bestimmten Vielfalt, die in einem vollständigen Diagramm auch vollständig wiedergegeben ist, zu einem erklärungsbedürftigen und damit berichtenswerten Zusammenhang der Dinge. Dass Cuvier allerdings evolutionistisch auf der Entwicklung der verschiedenen Körper, inklusive ihrer Zwischenstufen beharrte, während Saint-Hilaire eine supraformale Einheit und damit die Vorstellung von einem Körper, der in allen Körpern angelegt ist, verteidigte, führte Balzac zu seinem Votum für letzteren, für dasjenige also, was sein Erzähler in den Illusions perdues zuvor noch den Pantheismus, „qui vit encore et que l’Allemagne révère“39, genannt hat. Eine Naturphilosophie, die so 36 Vgl. auch Gießmann, Netze als Weltbilder, S. 246f. 37 Foucault, Les mots et les choses, S. 276. 38 Ebd., S. 279. 39 Das Wort fällt im Zusammenhang mit Meyraux’ Involvierung in den Akademienstreit. Hier das vollständige Zitat: „Meyraux d’abord, qui mourut après avoir ému la célèbre dispute entre Cuvier et Geoffroy-Saint-Hilaire, grande question qui devait partager le monde scientifique entre ces deux génies égaux, quelques mois avant la mort de celui qui tenait
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von einer Gesamtverwandtschaft jeglicher Bestandteile miteinander ausgeht, fasst die „unité de composition“ als tatsächliche, substantielle Form.40 Balzac reformuliert im Avant-propos diesen Ausgangspunkt: „Il n’y qu’un animal. Le créateur ne s’est servi que d’un seul et même patron pour tous les êtres organisés. [...] La Société ne fait-elle pas de l’homme, suivant les millieux où son action se déploie, autant d’hommes différents qu’il y a de variétés en zoologie ?“41 Die aspirative Funktion bei Cuvier wird dabei nicht unbedingt vom Stickstoff dieser Einheitlichkeit ausgemerzt. Stattdessen wird ihr eine universal ineinandergreifende Grundform unterstellt: Jeder Mensch wird als Rohling durch seine Beziehung zum Lebensraum formatiert. Dieses Maß an immer feiner werdender Differenzierung aus einer Grundform heraus bestimmt das Projekt Balzacs und von hier aus bricht seine systemische Poetologie auf: So wie sich eine auf jene Einheit gründende Funktionsbeschreibung des biologischen Organismus erstellen lässt, sei auch die Gesellschaft zu fassen, die nämlich in ihren Ausprägungen, einzelnen Mikrogeschichten und sozialen Typen abermals einen summarischen Schwenk in die Totale zulässt. Der zu begutachtende Raum der sozialen Artenvielfalt ist die französische Gesellschaft selbst: „La Société française allait être l’historien, je ne devais être que le secrétaire.“42 In dieser Aufgabe formuliert Balzac einen in Personalunion eingesetzten poetologischen wie auch anthropologischen Anspruch: Die analytischen Qualitäten des erzählenden literarischen Textes werden exponiert, indem eine gesellschaftshistorische Untersuchung der menschlichen Sitten narrativ durchgeführt und der epistemologische Mehrwert darin gleichzeitig ästhetisch erzeugt wird. Dabei ist die stromlinienförmige Verlaufskurve des Gesetzmäßigen mindestens ebenso interessant, wie dasjenige, was vom Gesetz reguliert wird. Das System der Comédie humaine, ihr Name und die Erklärungsschuld für ihre Verzweigungen gehen mitsamt der „unité de composition“ von der Darstellbarkeit eines Ganzen über die Darstellung der Form ihrer einzelnen Teile aus. Der Mensch zeichnet sich durch seine modulierten, nicht unbedingt vertikal aufstrebenden, sondern vielmehr horizontal diversifizierten Gesellschaftsentelechien aus. Er kann in diesem Sinne mit den pour une science étroite et analyste contre le panthéiste qui vit encore et que l’Allemagne révère.“ Balzac, Illusions perdues, S. 317. 40 Vgl. Gaillard, La science: Modèle ou vérité, S. 73: „Contrairement à ceux qui, à l’époque, croient que l’unité est dans l’esprit du naturaliste et non dans les choses, Balzac affirme que l’unité de composition est une vérité ontologique, et pas seulement logique de la substance.“ Es gehört zu den Grundauffassungen Balzacs, die Ideen auch materiell zu denken. Gedanken und Wille stehen mit den Ereignissen in der Welt in direktem Zusammenhang, wie später noch am Peau de chagrin zu zeigen sein wird. Vgl. Laubriet, L’intelligence de l’art chez Balzac, S. 277. 41 Balzac, Avant-propos, S. 8. 42 Ebd., S. 11.
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einzelnen Typen gefasst werden, die in dieser Welt siedeln. Dieses Mobile funktioniert aber nur, wenn die hierfür erforderlichen Formaspekte, anhand derer die Beschreibungen vorzunehmen sind, im selben Maße für den Menschen als kulturelles Wesen einstehen können, wie es die organologischen Formen für den Gesamtplan dahinterstehender Spezies tun. Mit dieser Zuordnung von Form und Wesen liegt eine Regularität vor, die auch eine Regularität des Reguliertseins darstellt: Eine Gesetzmäßigkeit, die sich einerseits in Zeit und Raum entfaltet und andererseits das Wissen vom Plan, vom Muster, von der Regel bzw. vom Gesetz selbst hervorbringt. Mithin bietet dieser programmatisch-systemische Ausgangspunkt der soziologischen Poetologie Balzacs einen Ort, der insgesamt für eine Epistemologie des Gesetzes einsteht: Als Vorläufer der „unité“ nennt Balzac noch „la belle loi du soi pour soi“.43 Auch die Autorschaft selbst wird mit dem Gesetz belegt: „La loi de l’écrivain, ce qui le fait tel, ce qui, je ne crains pas de le dire, le rend égal et peut-être supérieur à l’homme d’état, est une décision quelconque sur les choses humaines, un dévouement absolu à des principes.“44 Das naturwissenschaftliche Gesetz der menschlichen Sphäre, die darzustellen ist, mündet in einer poetischen Gesetzlichkeit, einer vom Gesetz dirigierten Darstellung. Die Verpflichtung an Prinzipien des Darzustellenden korreliert mit der Verpflichtung an die formale Grundidee. Der Text wird zum Gegenstand, in dem – gegebenenfalls wieder pantheistisch – seine transzendentalen Prinzipien immer siamesisch verschwistert mit dem ohnehin Gesagten ausgedrückt werden. Diese Hingabe an das Gesetz wird somit zum allgemeinen Gesetz der ästhetischen Agenda.45 „Toujours la Loi“46, möchte man mit Baudrillard sagen, der in L’échange symbolique et la mort (1976) das ausgehende 19. Jahrhundert als Zeitalter des Gesetzes auch in seinen nachlebigen Theorien auffasst: Selbst marxistisch-revolutionäre oder freudianisch-unbewusste Abwehrtheorien gegen die Gegebenheiten des „Äußeren“ werden unter der Inquisition des Gesetzes gefasst (wobei dem späteren Freud Rehabilitation zugestanden wird). Schon bei Balzac ist zumindest die politische Idee der Veränderung historischer Klassenverhältnisse fadenscheinig, wenn etwa Lucien zugleich Artikel mit einander inkompatiblen Einschätzungen sowohl in oppositionellen als auch
43 Ebd., S. 8. 44 Ebd., S. 12. 45 Vgl. auch Weber, Unwrapping Balzac, S. 6: „By designating a world of fiction that claims to transcend the individual works: a world with its own, relatively autonomous and consistent laws, with its specific topography and chronology, its recurring characters and interrelated events, the Comédie humaine can be seen as attempt to put fiction in its (proper) place.“ 46 Baudrillard, L’échange symbolique et la mort, S. 9.
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konservativen Blättern veröffentlicht.47 Im Avant-propos verteidigt Balzac entsprechend seine (mit d’Arthez geteilte) royalistische Gesinnung gegenüber der demokratischen Idee: „L’Election, étendue à tout, nous donne le gouvernement par les masses, le seul qui ne soit point responsable, et où la tyrannie est sans bornes, car elle s’appelle la loi.“48 Was Balzac hier ablehnt ist einerseits die Statur des Gesetzes als leitende Einheit, die aber andererseits über die Doktrin der Massen und der Wahl variabel wird. Gegenüber der juristischen Kodierung, die sich dadurch auszeichnet, übertretbar zu sein, ja in ihrem Kern Regeln für den Fall der Übertretung beschreibt, bewegt sich Balzac zwischen einem szientistischen Verständnis von Naturgesetzen (und damit Ableitungen, die weitere Ableitungen zulassen), und der Idee einer bestimmten Zuteilung: Welche (sozialen) Typen gibt es, die über welche Marker zusammen ein Ganzes erstellen? In seinen Gesichtszügen entspricht diese Gesinnung jenem statistical law, das Ian Hacking als Innovationsmoment des 19. Jahrhunderts identifiziert: Wir können eine Gesellschaft vollständig statistisch beschreiben und deren Regelmäßigkeiten bzw. (antizipierbare) Wiederholungen erkennen, die in ihrer Gesetzmäßigkeit analog zur denjenigen der zeitgenössischen Mechanik funktionieren.49 Die Verschränkung von physikalischem Gesetz und gesellschaftlichen Abläufen gehört zu den großen Ideen des 19. Jahrhunderts, die bei Balzac ihren romanpoetischen Platz einnehmen. Ein leitender Faktor in der Comédie ist und bleibt dahingehend die Ökonomie, das materielle, äußere Zeichen, im Widerstreit zur oberflächlichen Innerlichkeit. Die Arbeit Derridas am nomos der Ökonomie gibt dahingehend Anhaltspunkte für die Verbindung von Balzacs Gesetzen und seiner thematischen Ausrichtung auf die Wertewirtschaft seines Figurenensembles.
Z OON
OIKONOMIKON UND ODYSSEISCHE
S TRUKTUR
In Donner le temps führt Derrida 1991 frühere Erörterungen zur Gabe und zur Zeit mit dem Unmöglichen zusammen. Wenn das Geben unweigerlich in eine zirkuläre Struktur führt, so wird sein Wesen bereits mit der Implikation des Kreises getilgt. 47 Vgl. Balzac, Illusions perdues, S. 457. Auf diese äußerst spannende Sequenz wird später näher eingegangen. 48 Balzac, Avant-propos, S. 13. Die in dieser Untersuchung fokussierte Figur der Tilgung als Moment des Erzählens bei Balzac erhält angesichts solcher Äußerungen zusätzlich eine restaurative, wenn nicht konterrevolutionäre Färbung. 49 Vgl. Hacking, The Taming of Chance, S. 115ff. Auf dieser Grundlage zieht sich eine Linie der Debatte um freien Willen und Determinismus bis zur Quantenmechanik des 20. Jahrhunderts. Ein bedeutendes Schlagwort dieser Theoriesprache lautet „statistical fatalism“. Vgl. auch ebd., S. 121. Vgl. zudem Bell, Circumstances, S. 8f.
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Diese Figur resultiert aus dem ökonomischen Verbund, dem expliziten Gabentausch oder der impliziten Verpflichtung, die mit der Gabe einhergeht. Sie kann nicht mehr Gabe sein, sofern sie die Schuld mitgibt. Die Evokation des Ökonomischen durch die Gabe macht sie unmöglich, auch wenn ihr Begriff besteht, und zwar nicht zu einer paradoxen Konzeption unter vielen, sondern zu derjenigen Form, die das Unmögliche überhaupt einnimmt. Das Unmögliche kann als ein Geben von Möglichem verstanden werden, das nur durch den Entzug des Möglichen möglich wird. Diese Form des Unmöglichen ist durch nichts anderes als durch die Unmöglichkeit der Gabe beschrieben. Sie gibt unleugbare konzeptuelle Gültigkeit vor, deren Hauptaufgabe darin besteht, ihr eigenes Konzept zu verleugnen. Bevor die Konsequenzen und Details dieses Gedankens ausgeführt werden, befasst sich Derrida mit eben jener Form des Kreises bzw. der in ihm gestaffelten Rückkehr, welcher die Gabe anheimfällt, ohne ihr anheimfallen zu dürfen. Genau diese Form ist die Form der Ökonomie, wie Derrida in einer Beobachtungskette an den Bestandteilen „oikos“ und „nomos“ unter anderem folgert: „Qu’est-ce que l’économie? Parmi ses prédicats ou ses valeurs sémantiques irréductibles, l’économie comporte sans doute les valeurs de loi (nomos) et de maison (oikos, c’est la maison, la propriété, la famille, le foyer, le feu du dedans). Nomos ne signifie pas seulement la loi en général, mais aussi la loi de distribution (nemein), la loi du partage, la loi comme partage (moira), la part donnée ou assignée, la participation. Une autre sorte de tautologie implique déjà l’économique dans le nomique comme tel. Dès qu’il y a loi, il y a partage : dès qu’il y a nomie, il y a économie. Outre les valeurs de loi et de maison, de distribution et de partage, l’économie implique l’idée d’échange, de circulation, de retour.“50
Die unmittelbare Koalition zwischen der Ökonomie und dem Gesetz besteht im Gesetz des Hauses, unter dem der Ort der Rückkehr oder Heimkehr angezeigt wird. Damit ist auch etwas über das Wesen des Gesetzes gesagt: So wie die Ökonomie eine Sache des nomos ist, ist das Gesetz ein mit dem Haus Verwachsenes. Gesetze sind ökonomisch, insofern sie nicht nur als „la loi en général“ betrachtet werden, sondern ihre Regeln der Zuordnung als gesetzlich erscheinen lassen. Es ist Sache des Gesetzes, nach Gesetzen zu funktionieren. Zuordnungen (nemein) basieren auf Gesetzen, aber auch die Möglichkeit, überhaupt zuordnen, teilen, zuweisen oder teilhaben zu können, ist von der obersten Instanz Gesetz eingeräumt und geschützt. Das Gesetz inkarniert beides, seine distinkte Funktionsweise und seine eigenen Verfahren, nach denen es selbst aufgebaut und beschaffen ist. Dass mit dem abstrakten Gebilde des Gesetzes die je konkreten Gesetze erst sichtbar und spürbar werden, entspricht wiederum seiner Gesetzmäßigkeit. Hier tritt die Kreisförmigkeit auf den Plan: „Elle se
50 Derrida, Donner le temps, S. 17.
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tient au centre de toute problématique de l’oikonomia, comme de tout le champ économique : échange circulaire, circulation des biens, des produits, des signes monétaires ou des marchandises, amortissement des dépenses, revenus, substitution des valeurs d’usage et des valeurs d’échange.“51 Die Ökonomie liest sich in diesem à la Derrida auf das Spiel der Strukturen zielenden Beobachtungsverkehr als Satrap des Gesetzes. Die Dinge, die sich um den nomos des Hauses drehen, sind dahingehend überraschend konkret und deswegen vielleicht etwas verdächtig: Von Gütern und Produkten ist die Rede, aber auch von der Simmelschen Philosophie des Geldes, der Bedeutung seines Zeichens oder der in gegenseitiger Bezugnahme aufgebauten Gebrauchs- und Tauschwerte. Sie alle bewegen sich permanent, ohne ihre Entfernung zum Zentrum des Kreises zu verändern. Der konzentrische Reigen verhält sich zu seiner Heimat wie Lucien Chardon zu der seinen in Angoulême: Auch er bricht am Ende des ersten Teils der Illusions perdues von dort nach Paris auf, um am Ende des zweiten Teils wieder zurückzukehren, und schließlich, zum Abschluss des dritten Teils, wieder fortzugehen. Tatsächlich wird die Gesetzmäßigkeit der Ökonomie in Balzacs Text zur Struktur dieser Deterritorialiserungsdramaturgie. Balzacs Besinnung auf die historische Nähe der Erzählungen und den naturalistischen Gestus, dessen Hauptgegenstände ja die Sitten und Leidenschaften sein sollen, kommt nicht mehr ohne eine ökonomische Konfliktkonstruktion aus, die sich in den genannten Taxierungen des (symbolischen) Kapitels kristallisiert. Die Spannweite dieser ökonomischen Darstellung erstreckt sich von dort aus auch potentiell auf die Zirkulation vieler weiterer semiotischer Einheiten, wie Roland Barthes in S/Z anhand von Balzacs Erzählung Sarrasine (1831) resümiert: „La voie économique découvre l’évanouissement de toute monnaie fallacieuse, Or vide, sans origine, sans odeur, qui n’est plus indice, mais signe, récit rongé par l’histoire qu’il transporte.“52 Der Zusammenbruch der Ökonomie („un effondrement généralisé des économie“), den diese Novelle darstellt, trifft damit nicht nur die Ökonomie des Geldes („l’économie de l’argent“), hinter der klassischerweise überhaupt die Struktur von Ökonomie sichtbar zu werden verspricht, sondern auch eine sprachliche bzw. semiotische („l’économie de langage“), generative („l’économie des genres“) und körperliche bzw. materielle („l’économie du corps“) Zirkulation.53 Die Ökonomie auf dieser Ebene zu denken mag mithin für diejenigen Beobachtungen förderlich sein, die Barthes’ Schluss einer „métonymie effrénée“54 stützen. Dass nämlich die metonymisch aufgezwungene und damit ursprungslose bzw. materiell leere Bedeutung der genannten Bereiche in die Repräsentationskrisis führt, die Sarrasine seinerseits wie-
51 Ebd., S. 18. 52 Barthes, S/Z, S. 221. 53 Ebd. 54 Ebd.
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der darzustellen versuche, ist Teil der einzelnen Repräsentationsprobleme: „Sarrasine représente le trouble même de la représentation, la circulation déréglée (pandémique) des signes, des sexes, des fortunes.“55 Die ökonomische Interferenz einzelner Bereiche steht in diesem Geflecht für die Repräsentationsinterferenzen metonymisch ein. Auch wenn diese Bereiche hier in gleichrangiger Beziehung gedacht sind, so hat die Ökonomie des Kapitals doch mit seiner quantifizierbaren Messlatte den Vorzug, in der semiotischen Extravaganz der Zahlen herauszustechen. Und so sind es bei Balzac gerade die Verläufe von verfügbaren Beträgen, anhand derer sich die individuellen Leidenschaften und damit auch die Kontinuitäten der Erzählung bündeln. In La maison Nucingen (1837) hält der Humorist Jean-Jacques Bixiou einmal parenthetisch fest: „Tout bonheur matériel repose sur des chiffres.“56 Dieser an autopoetischen Einwürfen reiche Text friert damit die für Balzac signifikante Verbindung von Glück als Quantifizierbares ein, und zwar nicht in der Reihenfolge, dass das Erzählen Zahlen beinhaltet, sondern umgekehrt die Zahlen von Glück (oder auch Unglück) erzählen. Der Kontoauszug wird zum Roman, weil der Geldfluss als roter Faden der dahinterstehenden sozialen Beziehungen und individuellen Leidenschaften fungiert: „Alles hängt zusammen, überall walten Beziehungen, alles dient einem geheimen und sinisteren Zweck. [...] Es formiert sich ein System universaler Abhängigkeiten und Kommunikationen. Die Konsumenten bedienen die Produktion. [...] Das Kreditwesen kettet das Schicksal des einen an das des anderen, mögen sie es wissen oder nicht.“57 Dieses Statement Adornos unterstreicht, inwiefern die gesellschaftliche Überlagerung verschiedener Schichten und Ränge über das Austauschmittel des Kapitals Erzählungen bedingt – Erzählungen, die sich wiederum in Geld rückübersetzen lassen.58 Ein Auszug aus einem Brief, den Lucien anlässlich seiner erfolgten Kränkung durch Mme Bargeton an seine Schwester richtet, verdeutlicht diese Relation. Der hoffnungsreiche Dichter, in dessen geografischer Schickung nach Paris sowie biografischer Schickung in den literarischen Ruhm von Seiten der gesamten Familie gewissermaßen investiert wurde, beklagt darin den angekurbelten Geldfluss in der großen Stadt, dessen Turbulenzen zugleich seine Geschichte erzählen: 55 Ebd., S. 222. 56 Balzac, La maison Nucingen, S. 346. 57 Adorno, Balzac-Lektüre, S. 144f. 58 Jochen Hörisch beobachtet ein narratives Moment des Geldes darin, dass es Verbindung stiftet und gemein macht, und zwar noch zwischen den entferntesten Teilnehmerinnen und Teilnehmern verschiedenster Communities, wodurch die fremdesten Begegnungen plötzlich im Konkurrenzwesen oder in der geschäftlichen Partnerschaft Bedeutung bekommen: „Ohne Geld gäbe es die meisten (Kultur-, Religions-, Personal- etc.) Kontakte nicht, die das Konfliktpotenzial in sich bergen und freisetzen, das Geld gewiß friedlicher lösen kann als Diebstahl, Raub und Krieg.“ Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 317.
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„Mme de Bargeton a eu honte de moi, m’a renié, congédié, répudié le neuvième jour de mon arrivée. En me voyant, elle a détourné la tête, et moi, pour la suivre dans le monde où elle voulait me lancer, j’avais dépensé dix-sept cent soixante francs sur les deux mille emportés d’Angoulême et si péniblement trouvés. À quoi ? diras-tu. Ma pauvre sœur, Paris est un étrange gouffre : on y trouve à dîner pour dix-huit sous, et le plus simple dîner d’un restaurat [sic!] élégant coûte cinquante francs ; il y a des gilets et des pantalons à quatre francs et quarante sous, les tailleurs à la mode ne vous les font pas à moins de cent francs. On donne un sou pour passer les ruisseaux des rues quand il pleut. Enfin la moindre course en voiture vaut trente-deux sous. Après avoir habité le beau quartier, je suis aujourd’hui hôtel de Cluny, rue de Cluny, dans l’une des plus pauvres et des plus sombres petites rues de Paris, serrée entre trois églises et les vieux bâtiments de la Sorbonne. J’occupe une chambre garnie au quatrième étage de cet hôtel, et, quoique bien sale et dénuée, je la paye encore quinze francs par mois. Je déjeune d’un petit pain de deux sous et d’un sou de lait, mais je dîne très-bien pour vingt-deux sous au restaurat [sic!] d’un nommé Flicoteaux, lequel est situé sur la place même de la Sorbonne. Jusqu’à l’hiver ma dépense n’excédera pas soixante francs par mois, tout compris, du moins je l’espère. Ainsi mes deux cent quarante francs suffiront aux quatre premiers mois.“59
Lucien ist mittlerweile im Quartier Latin angekommen, demjenigen Viertel, das eine finanziell prekäre Boheme in allererster Linie mit der Askese des Künstlers zusammenführt. Doch diese Situation scheint nicht nur den nötigen Raum zur literarischen Betätigung zu gewährleisten, sondern auch die Freiheit von den willkürlich zirkulierenden Zeichen des Geldes, die pandemisch, wie Barthes in Klammern hinzufügte, auch und gerade die Arbeit des Schriftstellers zu stören drohen. Dies geschieht in dem Auszug an die Schwester einerseits mit einer Verschränkung von Geld und Zeit: Nach der vorliegenden Rechnung zählt der verbliebene Betrag etwa vier Monate. Und andererseits erzählt dieses Geld in seiner Rechnung von der Ökonomie des Lebens in Paris. Die Niederlagen, die Lucien bis dato erlitten hat, wie auch seine prospektiven Projekte sind in Zahlen mit den Maßeinheiten Sous und Francs übersetzt. Balzacs Anthropologie der Leidenschaften schreibt auf dieser Basis an einem zoon oikonomikon. Dasjenige, was den Menschen zum zoon politikon bestimmt, nämlich seine Entelechie, die Polis zu bilden, gilt auch für seinen Haushalt, wie Aristoteles in der Eudemischen Ethik berichtet.60 Damit erhält die Verbindung von Öko-
59 Balzac, Illusions perdues, S. 292. 60 Aristotle, Eudemian Ethics, 1242a: „For man is not only a political but also a house-holding animal.“ Aristoteles ist mit diesem Ausdruck weniger an der wirtschaftlichen Prozessierung von Kapital und der Bedeutung seiner Zeichen gelegen als an der Apostrophierung eines sozialen Konsens, bzw., im engeren Sinne, Freundschaft. Der soziale Aspekt ist bereits in der Unterscheidung zwischen intersubjektiver Realgüterwirtschaft (oikonomia) und der entgrenzenden Geldwirtschaft (Chrematistik) angelegt: „Es gibt aber noch eine andere
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nomie und Gesellschaft einen Grundstock, von dem aus die Erzählung einer Gesellschaft sowohl in ihrer intersubjektiven Verbindung als auch ihrer narrativen Struktur als ökonomische darstellbar ist. Bei Derrida ergänzt ein zirkulärer Charakter diese Struktur, für den er mit Odysseus den Namen jener Figur vorbehält, die das Begehren nach Rückkehr beheimatet: „On aurait ainsi à suivre la structure odysséique du récit économique.“61 Diese ökonomische Erzählung siedelt dabei zwischen dem Ausgangspunkt der determinierenden Zuteilung und der ihr eigenen Kontingenz: „L’oikonomia emprunterait toujours le chemin d’Ulysse. Celui-ci fait retour auprès de soi ou des siens, il ne s’éloigne qu’en vue de se rapatrier, pour revenir au foyer à partir duquel le départ est donné et la part assignée, et le parti pris, le lot échu, le destin commandé (moira).“62 Luciens Schreiben an die Schwester erwähnte einen Ursprungsbetrag, mit dem er sein Leben auf den Pflastern der Champs Elysées und den Spazierwegen des Jardin du Luxembourg zu bestreiten trachtete. Dass dieser Betrag wider Erwarten bereits auf dem Weg zu diesen Orten sich auf wundersame, fast übernatürliche (und zumindest für die Leserinnen und Leser verschlossene) Art und Weise verflüchtigt, gehört in den von Derrida akzentuierten Bereich von Ökonomie. Das zugeteilte Los („lot échu“) bzw. die zugewiesene Schickung („destin commandé“) sind beide wertlos, weil sie im erzählerischen Nebel versteckt gehalten werden. Über Luciens Reise heißt es: „Lucien, qui allait en poste pour la première fois de sa vie, fut très-ébahi de voir semer sur la route d’Angoulême à Paris presque toute la somme qu’il destinait à sa vie d’une année.“63 Dass auch hier mit dem Verb „destiner“ gearbeitet wird, es nämlich um das Schicksal derjenigen Summe geht, die für ein ganzes Jahr vorgesehen war, prägt dem Konzept der Schickung einen annullierenden Stempel auf. Das Geld ist als derjenige Vorrat bedeutend, der keiner gewesen sein wird. Sein Schicksal entspricht einer Vorsehung, die aber keine Vorhersehung darstellt. Mit dem Plan ist auch seine Intentionalität kontingent durchbrochen. Der Zirkel führt in die Wertlosigkeit dieser Schickung, anhand derer sie sich aber erst manifestieren kann: Hätte es die Zuordnung des Geldes nicht gegeben, die eine synchronisierte Entsendung von Lucien samt seinen Illusionen darstellt, fiele sein Ver-
Gattung von Erwerbskunst, die man vorzugsweise und mit Recht als die Kunst des Gelderwerbs oder der Bereicherung bezeichnet. Sie ist schuld daran, daß man meint, es gebe für Reichtum und Besitz keinerlei Grenze. Manche halten sie wegen der nahen Verwandtschaft mit der eben besprochenen Kunst [die Haushaltungskunst, S.T.] mit ihr für eins und dasselbe; in Wirklichkeit ist sie es nicht, steht ihr aber freilich nicht sehr fern; die eine von ihnen ist die natürliche Erwerbsweise, die andere ist es nicht, sondern vielmehr ein Produkt einer gewissen Erfahrung und Kunst.“ Aristoteles, Politik, 1256bf. 61 Derrida, Donner le temps, S. 18. 62 Ebd. 63 Balzac, Illusions perdues, S. 256.
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lust auch nicht in dieses bedeutsame Gewicht. Was genau bei den verlorenen Illusionen verloren geht, mag in seiner Abstraktion und Vielfältigkeit einer interpretierenden Beschreibung vorbehalten bleiben; die Bewegung des Verlorengehens indes bündelt sich in der zählbaren Veranschaulichung des Geldverlustes. Man kann die hier geschilderte Problematik auch so verstehen, dass das Geld, welches Lucien mit sich führt, umsonst ist. Auf diese Weise tritt ein Moment der Tilgung64 auf, welches den Finger in die Wunde der ökonomischen Zirkularität und seiner Erzählung legt: Wenn eine Bewegung stattfindet, die mit seiner Rückkehr zum Ausgangspunkt die Veränderung unmöglich macht – und nichts anderes als eine Veränderung, die die Gabe mit Schuld belastet, stellt ihre Unmöglichkeit dar – muss sich der Gehalt dieser Bewegung an seiner Bedeutung für sich selbst messen lassen. In diesem Sinne folgt die ökonomische Erzählung einerseits seinem Gesetz der Zirkularität, das in sich von den Gesetzen der Zuteilung, der moira bestimmt ist. Nietzsches Rede von der moira in der Morgenröthe hatte bereits gezeigt, wie prekär wiederum eine solche Heimstatt zwischen Kontingenz und Providenz siedelt. Diese prekäre Zirkularität wird in den ökonomischen Erzählungen Balzacs erstellt, nämlich als Mischung aus imperativem Gesetz und instanzlosem Zufall. So wie das Geld Luciens getilgt, und dann ein anderes Geld, das aber auch dasselbe Geld, d.h.: ein wertgleicher Betrag ist, wieder erwirtschaftet wird und verwendet werden soll, ist die Tilgung abermals rückgängig gemacht. Das Streben innerhalb dieser Tilgungen spielt auch narrativ eine Rolle. Auch die Schickung der Erzählung wird in der Bewegung der Erzählung wieder getilgt. Die Bedeutung dessen gewinnt spürbares Gewicht für die Gestalt des Erzählens der Comédie überhaupt. In gewissem Sinne gehört bereits die Zementierung des Gesetzes im Avant-propos zu dieser Struktur der Tilgung. Balzac verschreibt sich einer ästhetischen Konsolidierung jener Gesetzmäßigkeit, die das Wirken von Zusammenhängen erst ermöglicht und garantiert. Signifikant werden dadurch jedoch all jene Momente, die ein derartiges narratives Spezifikum, das sich selbst als Norm inszeniert, unterbrechen. Dies gilt nicht weniger für die Erläuterungen des Vorworts, welches einen exemplarischen konstitutiven inneren Widerspruch zwischen Gesetz und Willkür in sich bündelt, der die Gesetzmäßigkeit des Gesetzes unterbricht: Gesetz als die automatische Befehlsbefolgung der Zusammenhänge; und Willkür als gesetzesmissachtende Automatik, die kaum etwas mit dem Willen bzw. der Intention, aber viel mit der Unabhängigkeit von Regeln gemeinsam hat. Die Hauptrolle darin spielt abermals 64 Es ist damit etwas Kongruentes zu dem gemeint, was Derrida Annullierung der Gabe nennt: „Car voici l’impossible qui semble ici se donner à penser. C’est que ces conditions de possibilité du don (que quelqu’ ‚un‘ donne quelque ,chose‘ à quelqu’ ‚un‘ d’autre) désignent simultanément les conditions de l’impossibilité du don. Et nous pourrions d’avance traduire autrement: ces conditions de possibilité définissent ou produisent l’annulation, l’annihilation, la destruction du don.“ Derrida, Donner le temps, S. 24.
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der Zufall, dessen Signifikant „le hasard“ sich wiederum als zufälliger Signifikant, als Zeichen, das den Zufall bringt, herausstellt.
Z UFALL ,
GRÖSSTER
R OMANCIER
Angesichts von Barthes’ Diagnose eines ökonomischen Zusammenbruchs der Darstellbarkeit in Sarrasine stellt sich die Frage, ob es sich hier um eine Eigenheit genau dieser Erzählung handelt oder ob diese sich nicht auf Muster eines breiteren Erzählbegriffs übertragen lässt. Umgekehrt wäre zu erläutern, inwiefern Barthes unbedingt genau diesen Text und keinen anderen benötigt, um die Arbeit der Äquivalenzen verschiedener Codes auch in ihren Widersprüchen und Krisen fassen zu können. Der generelle Komplex, der mit Sarrasine stark gemacht wird, bleibt in jedem Fall bestehen, nämlich die Beschreibung einer pluralistischen Öffnung der Struktureingänge in einen Text anhand eines Beispiels. Der mühsame Gang, Lexem für Lexem, Satz für Satz, zuweilen Wort für Wort, Morphem für Morphem, durch den Barthes die Kodierungen des Textes treibt, wirkt angesichts dieses intensiven close readings auch mit dem Mehrwert seiner fraglos üppigen Bilanz jener angestrebten offenen Lektüre auffällig aufwendig. Die deckungsgleich am Text vorgenommene Differenzierung jeglicher seiner Bedeutungsmomente stellt auf anschauliche Art und Weise dar, wie ein Text nur noch mehr Text zu produzieren imstande ist. Dass eine etwaige Aufwand-Nutzen-Kalkulation in der Pointe mit der Erosion der Ökonomien konfrontiert wird, gehört gewiss zu den Ironien von S/Z. Die augenscheinlichste, ökonomisch fragwürdigste dieser Irritationen stellt analog dazu Barthes’ Taktik der Textauswahl dar. Unter den Zwangscharakter der Metonymie ließe sich auch Balzacs Novelle als Gegenstand der Analyse in S/Z reihen und damit diese Entscheidung zur Metonymie der erodierten Ökonomie stilisieren, ähnlich wie der Schrägstrich im Titel von Barthes’ Studie ja vielmehr eine Aufhebung von Trennungen anzeigt und dabei gegen seine klassische Funktion der korrekten Individuation angeht. Sarrasine kommt jedenfalls die Rolle zu, eine solche Metonymie zu erfüllen und es fragt sich, ob diese Aufgabe nicht auch wieder eine erzwungene ist. Es muss dieser eine Text sein, der eine monolithische Struktur des Erzählens in der Lektüre öffnet. Doch in Anbetracht dieser Figur der Öffnung darf es doch nur ein Text von vielen sein. Barthes stellt diese seine Auswahl des Textes entsprechend als Fund dar, als Resultat eines nebligen Hinweises bei Jean Reboul, der seinerseits durch Georges Bataille gelenkt wurde, und ihn zum Glied in einer stillen Post werden lässt, eines „report, dont j’allais, par le texte lui-même, entrevoir toute l’étendue“65. Die Suche nach dem Text, geleitet von der Vorstellung eines „texte idéal“, der vom Gedanken einer
65 Barthes, S/Z, S. 23.
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strukturalistischen Erschöpfung, von klarem Ein- und eindeutigem Ausgang, von einer Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenzugängen befreit und ohne offene Lektürevorgabe denotiert ist, verzichtet eben wie dieser Text Barthes’ auf das „principe de décision“: das Entscheidungsprinzip, dem der Sinn üblicherweise zu folgen hätte. Es ist ersetzt durch den „coup de dés“66. Ein solcher Würfelwurf ist es, der Sarrasine in Barthes’ Lektürevorschlag seinen sinnvollen Status verleiht, und doch ist der Novelle ein Schimmer von Notwendigkeit beigelegt (sofern ein solcher Schimmer möglich ist), vielleicht am Deutlichsten darin illustriert, dass der Titel von S/Z, die Überschrift dieser Studie, sich erst aus den Buchstaben in Balzacs Text, seinem Innersten ergibt. Balzac, verschrien als „fondateur du réalisme moderne et auteur typiquement démodé“67 zugleich, beweist in Barthes’ poststrukturalistischem Lektüreversuch, wie willkürlich einerseits eine solche rubrizierende Belegung des Literatursystems anmutet, und wie zuverlässig andererseits ein öffnender Parcoursritt durch die Lexeme eines Textes in seiner Reflexion des Zufälligen einen Eigenwert des Textes im kontingenten Darstellungsbruch aufzuschließen vermag. Prägnant scheint dabei, dass die Würfelwürfe und ihre ebenso grund- und entscheidungslosen Ökonomien ohne Hauptzugänge nicht allein eines der Ergebnisse von Barthes’ Lektüre darstellen, sondern mit der Zufallsträchtigkeit bei Balzac abermals metonymisch harmonisieren: Der Grad jenes zufälligen, aber für die Studie notwendigen Zusammentreffens zwischen Balzac und Barthes steht sowohl für das Projekt hinter S/Z ein als auch für das Antlitz des Zufalls in der Comédie humaine. Seiner Verpflichtung auf das Gesetz kann Barthes eine im Text entschlüsselbare Entpflichtung, und damit der zerstörten Ökonomie des Darstellens diejenige der Rezeption konstruktiv entgegenhalten, gerade weil der Autor von Sarrasine, „grâce à sa thématique subversive, fournissait à l’auteur de S/Z de beaux arguments contre le réalisme, contre la règle et contre le Signe“68. Dieses Antlitz des Zufalls bringt Balzac bereits im Avant-propos dezidiert in Stellung. Zunächst basiert ja die Analogie der biologischen Spezies auf einem Ensemble unveränderlicher Merkmale, die ein Raster eindeutiger Zuordnungen zulassen. Für Balzac wird nun aber die Veränderbarkeit dessen, was er den Tier- und Pflanzenarten parallel laufen lässt, nämlich die sozialen Typen einer bestimmten historischen Community, zum Wesensmerkmal. Die für ihn axiomatische Analogie zwischen dem Gesetz der Natur und demjenigen der Gesellschaft wird ergo von einem besonderen Surplus entscheidend modifiziert: „L’État Social a des hasards que ne se permet pas la Nature, car il est la Nature plus la Société.“69 Balzac führt mit dem Zufall nicht
66 Ebd., S. 12. 67 Bremond/Pavel, De Barthes à Balzac, S. 9. 68 Ebd. 69 Balzac, Avant-propos, S. 9.
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allein einen zusätzlichen Summanden an, der seinen literarischen Fokus auf den Menschen plausibilisiert, sondern der der ganzen mühsam aufgebauten Analogie wieder den Garaus macht.70 Schon die Formulierung bietet eine windige Mengenlehre. Dasjenige, was das soziale Wesen konstituiert, ergibt sich aus einer Addition jener Gesetzmäßigkeiten der Natur und der Gesellschaft selbst, die als Definierendes jener sozialen Gestalten zu lesen ist. Damit tritt die Frage nach dem Erstgeborenen auf den Plan: Bestimmt sich die Gesellschaft durch die Summe der bereits von ihr geformten Individuen und ihrer Funktionen oder sind diese Individuen von einer aus dem Schaum geborenen Gesellschaft prädeterminiert, um sodann erst einen Begriff von der Gesellschaft aufbauen zu können?71 Die beachtenswerte Konstruktion von Balzacs Satz scheint mit ihrer mise en abyme einer klaren Aussage entzogen: „L’État Social“, die Stellung innerhalb der sozialen Rangfolge, enthält neben der Natur noch „la Société“, die ihr eigenen Regeln. Hier kommt sodann ein noch viel schärferes Problem der Aussage zum Tragen, denn dieses mengentheoretische Verhältnis rekrutiert sich aus dem Zufall. Ist dieser den Systemen der Naturforscher unbekannt, stellt er die mühsam proklamierte Analogie zwischen Natur und Gesellschaft sogleich wieder auf den Kopf, tilgt sie sogar. Für die soziale Ordnung wird er unabdingbar. Es ist ja nun eine Eigenheit des Zufalls, nicht irgendeine zusätzliche Eigenschaft eines Begriffs oder Gegenstands zu sein, sondern deren eigenes Wesen wiederum im Kern zu verändern. Wird dieses Wesen der „unité de composition“, das auf den gigantischen Schultern des Gesetzes lagert, mit dem Zufall in Verbindung gebracht, so gliedert sich dieser nicht einfach als eine Wesenheit von vielen unter jene, sondern stellt das gesamte Konstrukt in Frage. Gewissermaßen geschieht dies bereits in dem zitierten Satz von Balzac, der einer genüsslichen Paradoxie nicht entbehrt: Die Gesellschaft als Natur inklusive Gesellschaft zu postulieren, klingt in den Ohren des sprachanalytischen Logikers horribel. Dass aber die entschieden zusätzliche Qualität des „État Social“ der Zufall sei, welcher der Natur einerseits eklatant abgehe, sie also ad hoc wieder aus dem Spiel nimmt, sich andererseits aber aus dem Umstand ergebe, dass Gesellschaft und doch wieder Natur zusammentreten – und man beachte die Kausalkonjunktion „car“, die wie zur Untermauerung der misslichen Formulierung angeführt ist – bricht die Formel auf einen epistemologischen Rest herunter: Die Gesellschaft wird zum Zufall; das ist ihr Gesetz und kann zugleich kein Gesetz sein.72 70 Kablitz spricht in einer Nebenbemerkung davon, dass das Wort „hasard“ im Zusammenhang des Avant-propos „nur ein anderes Wort für ein Erklärungsdefizit der zunächst präsentierten Theorieskizze“ sei. Kablitz, Erklärungsanspruch und Erklärungsdefizit im Avant-propos von Balzacs Comédie humaine, S. 268. 71 Vgl. Bell, Circumstances, S. 5ff. 72 Dass bereits die Formatierung einer „unité“ wieder in die „diversité“ führt, hat Maxime Perret dazu veranlasst, einen dialektischen Ausgleichseffekt widerstrebender Aussagen bei
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In anderer theoretischer Formulierung wurde auf den Kontrast zwischen der paradigmatischen Klassifizierung der Zoologie und der syntagmatischen Dramatisierung gesellschaftlicher Wirklichkeit verwiesen.73 Es geht nicht länger um die punktuelle Darstellung naturgeschichtlicher Periodizität. Klassifikationsmythen der Gesellschaft erzwingen vielmehr ihre veränderbaren Varianzen. Mit dieser Veränderbarkeit hält auch das Ereignis, die Grenzüberschreitung Einzug in die Natur der Gesellschaft: Mit der Möglichkeit einer Bewegung vom einzelnen Statusfeld zu einem völlig neuen, wie sie Lucien exemplarisch mit der Reise nach Paris, dort ins bohemistische und schließlich journalistische Milieu ergreift, werden soziale Abbildungen von Balzacs Epoche wie auch seine Vision des literarischen Textes konstituiert, der letztlich als Nachzeichnung derartiger Grenzüberschreitungen funktioniert.74 Die methodische Analogie der Umweltdetermination, die die verschiedenen sozialen Typen erzeugt, ist auf der Grundlage der sozialen Zuteilung aufrechterhalten, doch in ihr wirkt eine Kontingenz dieser Zuteilung, die sie stante pede wieder tilgt. Der entsprechende Konflikt übersetzt sich in die Gesellschaftsdramaturgie: „La femme d’un marchand est quelquefois digne d’être celle d’un prince, et souvent celle d’un prince ne vaut pas celle d’un artiste.“75 Die heimliche Rücknahme der Urbeobachtung einer Naturanalogie gipfelt in der Literarizität dessen, was am zwischenmenschlichen Verhältnis dem Tier- und Pflanzenreich für immer ausgesperrt bleiben muss: „La description des Espèces Sociales était donc au moins double de celle des Espèces Animales, à ne considérer que les deux sexes. Enfin, entre les animaux, il ya peu de drames, la confusion ne s’y met guère; ils courent sus les uns aux autres, voilà tout. Les hommes courent bien aussi les uns sur les autres; mais leur plus ou moins d’intelligence rend le combat autrement compliqué.“76 Balzac zu identifizieren: „Comme toujours chez Balzac, chaque vérité trouve un contreexemple pour la démentir.“ Perret, L’‚Avant-propos‘ de la ,Comédie humaine‘ et le XVIIe siècle littéraire français, S. 296. Vgl. auch Farrant, Balzac, Satire and Subversion, S. 24: „Difference and diversity are as important as homogeneity [...] Disparities, as much as comparisons and parallels, form the continuously evolving frame of Balzac’s investigation.“ Vgl. auch die Betonung der Notwendigkeit des Zufalls für Balzac bei Lukács, Balzac und der französische Realismus, S. 54ff. 73 Vgl. Warning, Chaos und Kosmos, S. 14. 74 Zur Verbindung von Lotmans Ereignistheorie und Balzacs poetischem Programm, vgl. ebd., S. 14 und Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet, S. 96. Ich danke zudem herzlich Sebastian Huber für wertvolle Hinweise hinsichtlich des Ereignisbegriffs. 75 Balzac, Avant-propos, S. 9. 76 Ebd.
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Der Ergänzungsbedarf des menschlichen Miteinanders behauptet eine Analogie in der hier angesprochenen Doppelung, die aber gerade mit nicht analogisierbaren Qualitäten über diese Grundfigur hinauswächst und sie für den neuen Zustand wieder obsolet werden lässt. Das Motiv dessen ist die neue Mobilität der sozialen Typen, die in einer postaristokratischen Logik und ihren Aufstiegs- und Abstiegsnarrativen den archimedischen Punkt jenes sozialen Zufalls bezeugt, mit dem sich Balzac beschäftigt.77 Die Zugänge in Richtung dieses Zufalls erschaffen die „drames“. Diese gattungspoetologische Verschränkung kommt jedoch zumindest mit einem Zusatz, wenn nicht mit einer weiteren Tilgung daher, nämlich mit der Mündung des Romans. In seiner tendenziellen Entgrenzung, die sich nicht mehr durch regelpoetische Koordinaten zügeln oder wenigstens als Überschreitung markieren lässt, wird der Roman zum Produkt der Zufallsentgrenzungen: „Le hasard est le plus grand romancier du monde.“78 Dasjenige, was von der Natur im System der (Natur-)Wissenschaften analytisch gefasst wird, erhält durch den Zufall in seinem menschlichen, gesellschaftlichen Äquivalent, dem zoon oikonomikon, eine derartige Entsystematisierung bzw. Rücknahme der paradigmatischen Verbindlichkeit, dass sich die tatsächlichen deskriptiven Darstellungsverfahren der historiografischen Reflexion erübrigen. Was diese Zufälle an Kontingenzen produzieren, wird zur Sache des Erzählens und der literarischen Erörterungen gemacht, gerade weil die Verbindung der Zufälle untereinander nur durch das Narrativ zu bewältigen sind. Bei Balzac sind diese Zufälle über die Zirkulation der variablen Äußerlichkeiten einer zunehmend auf quantifizierbare bzw. umsetzbare Codes setzenden kapitalistisch produzierenden Gemeinschaft handhabbar gehalten. Die Veränderungen materieller Repräsentationen eines individuellen Lebens führen diejenigen Geschichten mit sich, die in ihrer Addition wiederum die ganze Epoche widerspiegeln sollen. Das paradoxe Gesetz dieser Gleichung macht den Zufall aus, indem die Darstellung der entsprechenden Narrative auch immer Konstruktionen des Zufalls sind. 77 Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts perfektionierte diese Aufsteigertopik. In Frankreich markieren neben Balzac noch Stendhals Le rouge et le noir (1830), und später Gustave Flauberts Éducation sentimentale (1869) und Guy de Maupassants Bel Ami (1885) kritische Phasen dieser Mobilität. Für einen Abgleich von Balzac und Flaubert, vgl. Jauß, Die beiden Fassungen von Flauberts ‚Education sentimentale‘, S. 305f. Der Parvenu beginnt sich bereits in der französischen Prosa des 18. Jahrhunderts in Richtung seiner späteren Karriere zu entwicklen. Autoren wie Pierre Carlet de Marivaux (Le paysan parvenu, 1734/35) oder der Abbé Prévost (Manon Lescaut, 1731) bildeten die Vorläufer des Romans um Provinzaufsteiger, Spieler und Duellanten. Zu diesem Zeitpunkt erfuhren diese Figuren freilich in erster Linie Läuterungen und Besserungen. Das Aufsteigertum eines Julien Sorel oder eben eines Lucien Chardon verschiebt sich hingegen in eine hedonistische oder egozentrische Ebene. 78 Balzac, Avant-propos, S. 11.
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Bei Balzac besteht der Zufall entsprechend zuallererst in der Rahmung von sozial flexibilisierten Zusammenhängen. Er ironisiert damit das Vernunftwesen als adaptives Tier, das sich institutionell in seiner sozialen Umgebung generisch ausdifferenziert: „La Société ne fait-elle pas de l’homme, suivant les milieux où son action se déploie, autant d’hommes différents qu’il y a de variétés en zoologies?“79 Die Vielfalt der Gattung homo sapiens erreicht durch die gesellschaftliche Rekonfiguration diesseits des Unbehagens in der Kultur singuläre Komplexität. Anpassungsmodi, die den Zufall gleichzeitig anerkennen und ihm unterliegen, organisieren den Menschen der zivilisatorischen Moderne, der er nur dort ist, wo er ganz Mensch ist (und umgekehrt nur ganz als Mensch in der Zivilisation anzunehmen sei).80 Seine willkürliche Position in der sozialen Hierarchie diminuiert ihn zum habituell lächerlichen Wesen. Das entsprechende Agens ist die Komödie. Der Zufall ergibt sich aus den Vielheiten der hierin enthaltenen formalen Bedingungen für die Romanserie, indem die Spezies Mensch vertikal und horizontal, geografisch, soziologisch und demografisch durchmessen wird und zwangsläufig narrativen Überschuss produziert, der als formaler Bestandteil auf die ästhetischen Bedingungen der Comédie zurückkoppelt.81 Hasards des „État Social“ entsprechen den Ambiguitäten und Ambivalenzen quantitativ mächtiger und dementsprechend verknoteter sowie unverbindlicher Stränge der akzelerierten modernen Ausdifferenzierungen der gesellschaftlichen Praxis und ihrer politischen und ökonomischen Einheiten.82 Die erzählerische Fülle versucht diesen Effekt formal nachzuinszenieren. Das Zufällige als Kategorie menschlicher Praxis innerhalb ökonomischer, sozialer und politischer sowie individueller – psychologischer oder emotionaler – Konstellationen verbindet das aristotelische Verständnis des Zufälligen mit der spontanen, nicht-regulierten sowie nicht axiomatisch begründbaren Konstitution und Ap-
79 Ebd., S. 8. 80 Diese Analogie zum Spielen bei Schiller ergibt sich aus Balzacs Andeutungen, die Natur des Menschen ausschließlich im Sozialen freilegen zu können, die wiederum Natur und Gesellschaft in Koalition ist. Eine folgenreiche anthropologische Mengenlehre wie diese verhält sich strukturell ähnlich zum Sach- und Formtrieb und darin Natur und Gestaltung koordinierenden Spieltrieb der Ästhetischen Erziehung: Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, insbesondere S. 596ff. u. S. 614. 81 Hugo Friedrich zufolge schlagen sich derartige Vielheiten neben der handlungsgetragenen Ausuferung etwa in Schilderungen von Massenszenen oder exzessiven Privatgeschichten, aber auch in deren sprachlich entgrenzter Darstellung nieder, welche „der von ihm [Balzac, S.T.] betonten sachlichen Vergleichbarkeit von allem mit allem“ Rechnung trägt. Friedrich, Drei Klassiker des französischen Romans, S. 87 u. 95. 82 Zu diesem Zufallsbegriff bei Balzac, vgl. Köhler, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, S. 46-51.
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plikation von Begegnungen, Verhältnissen und Vorkommnissen, bis hin zum sozialen Konflikt.83 Konkrete Konventionen aktivieren opportunistisches Agieren; vielmehr jedoch beansprucht insbesondere die Struktur des Willkürlichen als treibende Kraft des intersubjektiven Interagierens und der Bewegung in semipermeablen sozialen Hierarchien grundsätzliche Anerkennung. Die Anpassung an den krypto-evolutionären Kampf in der modernen Großstadt ist eine Einwilligung in die Domestizierung durch den Zufall, der sich selbst dadurch auszeichnet, nicht zu domestizieren zu sein. Nicht zuletzt spielt auch die Hierarchisierung des Figurenensembles eine Rolle, denn die sozialen Kämpfe handeln nicht nur vom Wettbewerb um die bessere Qualität als Schriftsteller, Journalist oder Liebhaber, als Unternehmer oder Dandy, sondern auch von der Bewertung durch eine ausgewählte Elite, welche Aufstieg und Fall der Charaktere diskursiviert, darin rezensiert und schlussendlich (etwa per Intrige) zu regulieren trachtet. Es dominiert die Begierde um den Aufstieg, häufig zu Lasten der Mitstreiter, die das Gesellschaftsmobile nur noch unverbindlich institutionell fixiert, vielmehr aber diskursiv flexibilisiert: Wer einen guten Ruf hat, über wen also entsprechend gesprochen wird, ist Träger des symbolischen Kapitals. Auch wenn das Ziel zuweilen die Gunst des alten Adels, am besten die des Königs ist, Ernennung zum Pair von Frankreich inklusive, und dieses mithin über strategische Verbindungen erreicht werden soll, die etwa per lukrativer Heirat feudale Tendenzen kaum leugnen können, so sind sie stets als Ideen ausgewiesen, die letztlich mit der Praxis des Aufsteigens und Emporkommens zusammengehen. Denn diese ist als ein in betriebswirtschaftlichen Verhältnissen eingeklemmtes Unterfangen ausgewiesen, mit unternehmerischer Projektartigkeit aufgeladen, in welcher nicht allein eine interdisziplinäre Phänomenologie der Restaurationszeit ablesbar ist, sondern auch der Konstruktionscharakter von Balzacs eigener poetischer Arbeitsweise selbst zum Vorschein dringt. Wir befinden uns hier weiterhin auf der Ebene des „État Social“, dem Zufall, der in Begegnungen von Subjekten und ihren ineinandergeschobenen Handlungen besteht und der immens zur Kontur der Gattung Roman beigetragen hat. Joseph Vogl betont, dass es „gerade die Virulenz von unüberschaubaren und vielfältigen Vor- und 83 Als eines der praktischen Beispiele für die Sprachspiele des Zufalls nennt bereits Aristoteles den Marktplatz mitsamt seinen zufälligen Begegnungen und seiner ökonomischen Folie für materielle Transaktionen, etwa zwischen Schuldner und Gläubiger. Aristoteles, Physik, 196a-197b. Rüdiger Bubner bemerkt dazu: „Eine bestimmte Handlung liegt zugrunde, die jemanden auf den Markt führt mit dem Ziel, zum Gericht zu gehen oder ein Schauspiel zu sehen. Dies macht es möglich, daß etwas anderes eintritt, das sonst nie eine Realisierungsaussicht erhalten hätte und als Zufall gewürdigt wird, falls es sich ereignet.“ Bubner, Die aristotelische Lehre vom Zufall, S. 9. Die Anschlussfähigkeit Balzac besteht genau in dieser Konstellation, die er dem „État Social“ über seine urbanen Gelegenheiten zumisst.
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Zufällen der Gesellschaft“ ist, also all die Unbekannten in der Handhabbarkeit von relevanten Begebenheiten bestimmter sozialer Konstellationen, „die dem Roman [...] seine eigene Wahrheit verleiht“, die ihn wahrscheinen lässt, weil auch die Realität als von Zufällen geprägt rezipiert wird.84 Die Erfahrung des Zufalls geht mit der Entwicklung des Romans einher. Karl S. Guthke bringt eine klassische narrative Struktur dieser Verarbeitung der Zufallserfahrung auf den Begriff der Zufalls-Peripetie: „[D]ie Zufalls-Peripetie, d.h. die Anwesenheit der entscheidenden Person [...] am entscheidenden Ort im entscheidenden Moment, beruht auf dem zufälligen Sichüberkreuzen zwei Ereignisreihen [sic!], deren Eigenverlauf ebenfalls von Zufällen durchsetzt ist.“85 Zufallskaskaden führen zum Umschlag einer verdichteten, ereignishaften Situation, in der zuweilen erst die Erzählanlässe auffindbar sind. Mit der strukturellen Notwendigkeit, die die Peripetie rein begrifflich bereits impliziert, ergeben sich jedoch wieder die Probleme, die dem Zufall in Auseinandersetzung mit seiner narrativen Designation, seiner ökonomischen Schickung zukommen. Diese Dimension richtet den Blick auf etwaige Techniken, die überhaupt dafür einstehen, dass es Zufälle geben kann, die ergänzende Physik des Hasard vom „État Social“. Es ergibt sich die Schwierigkeit, inwiefern eine Vorstellung des Zufälligseins der Welt, der abseits inhaltlicher und thematischer Abläufe eines Textes siedelt, poetologisch für Balzac relevant werden kann. In einem an Mme Hanska gerichteten Brief vom 20. Januar 1838 liefert Balzac einen Hinweis auf diese Verknüpfung. Er setzt sich anlässlich einiger misslicher Gerüchte um seine Person mit dem Gegensatz seines vermeintlich allumfassenden strategischen Überblicks und der nunmehr offenen Flanke, die ihn derzeit angreifbar macht, auseinander. Zwei Analogien werden geliefert, um zu erklären, inwiefern seine Situation durchaus produktiv, ja auch seine Fehlbarkeit notwendig sein kann. Erstens bietet dem feisten Alleswisser nur noch ein wagnishaltiges Moment der absichtsvollen Überraschung im Zufall Gelegenheit der Abwechslung und Herausforderung: „Quand un homme arrive à être de première force au wisth [sic!], qu’il sait à la 5me carte jouée où sont toute les autres, croyezvous qu’il n’aime pas à laisse sa science de côté pour savoir comment ira le jeu par les lois du hasard?“86 Der Bildbereich bleibt fraglich. Kann denn derjenige, der die Verteilung der möglichen Spielzüge bereits früh durchschaut hat, überhaupt noch so agieren, als verfüge er in Wahrheit nicht über dieses Privileg, um dem Zufall seine Geltung zu verschaffen? In jedem Fall wird der „hasard“ hier als Gegenfigur zur kontrollierenden Erkenntnis angeboten. Zufälle durchkreuzen die Garantien des Überblicks. Doch auch wenn dieser Weg ein freiwillig beschrittener zu sein scheint, kann Balzacs Analogie nur zulässig sein, sofern dieser Überblick noch den freien Raum für die Anheimgabe an das Plötzliche möglich lässt – und angesichts eines solchen 84 Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 140. 85 Guthke, Der Glücksspieler als Autor, S. 374. 86 Balzac, Lettres à Madame Hanska I, S. 573.
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toten Winkels ja kein vollständiger Überblick mehr ist. Noch deutlicher wird die Katachrese mit der zweiten Analogie: „Enfin, chère et pieuse catholique, Dieu savait d’avance que Ève succomberait, et il l’a laissée faire.“87 Selbst ein transzendentales Wissen, so ließe sich dieser Satz verstehen, der direkt an die Whist-Analogie anschließt, gerät in die Widersprüche zwischen Determinismus und Indeterminismus. Das göttliche Wissen kann eine Intervention nicht bedingen, wenn es sowieso auf dem bedingungslosen Ablauf vorgesehener, also in ihrer Potenzialität bereits geschehener Ereignisse basiert. Die Entscheidung, Eva gewähren zu lassen oder nicht, stellt sich hingegen nur, wenn ihr Schicksal ohnehin noch nicht festgelegt ist und die transzendentale Instanz dann also auch noch nicht vom Sündenfall Kenntnis haben kann. Die Nacheinanderstellung einer so profanen Tätigkeit, wie dem Glücksspiel, und einer theologisch, aber auch philosophisch hochtrabenden Frage, wie dieser (spinozistischen) nach der Bedingung göttlicher Determination, macht zunächst die Konzentration dieses fragwürdigsten Gegensatzes in den Repräsentationen von Zufall kenntlich. Sodann wirft es mit der kosmischen Maximalanalogie der göttlichen Instanz aber auch ein poetologisches Anliegen auf: Gibt es Entsprechungen dieser Rolle des Zufalls bei den Erzählinstanzen, insofern eine berechnende Kontrolle der häufig auktorialen (heterodiegetischen, null-fokalisierten) Erzähler Balzacs auch durch ein unsicheres Zittern oder eine Spannung vor dem, was sich unweigerlich ereignen wird, erkennen lassen? Zugleich reiht sich diese Verbindung in die Sichtweise der im Glücksspiel veranschaulichten Weltlogik. Der Zufall und seine Ökonomie muss dahingehend innerhalb von Balzacs Darstellung, und das heißt: innerhalb der von ihm aufgeworfenen Poetik des Romans als gesellschaftsanalytischem Instrument noch konturiert werden.
87 Ebd.
6. Spiel gegen die Wirklichkeit
E XKURS : S PIELTISCH F RANKREICH Bevor sich der Wirklichkeitsreflexion bei Balzac gewidmet wird, soll eine kurze Betrachtung des ökonomischen Wirklichkeitsentwurfes, in dem jener Zufall des „État Social“ eingeprägt scheint, auf den metaphorologischen Gehalt des Glücksspiels hinweisen. Diese Geschichte beginnt noch vor der Revolution. Im 18. Jahrhundert hatte die französische Regierung mit der bitternötigen Sanierung ihrer Staatsfinanzen alle Hände voll zu tun. Die zögerlichen Korrekturen im Steuer- und Abgabensystem trugen gehörig zu den Ereignissen seit Ende der 1780er Jahre bei. Der drohende Staatsbankrott fungierte in seinem politischen Horizont hinsichtlich der Französischen Revolution auch als Auslöser einer anziehenden Reformkultur, die das Diskussionspotenzial auf finanziellem Sektor genauso veränderte.1 Der Umschwung wird nicht zuletzt im sprachlichen Bildbereich sichtbar. Die diskursive Annäherung an die fiskalische (Re-)organisation, die sich schließlich unter der Nationalversammlung im Winter 1789 vollzieht, sprach an prominenter Stelle dem Glücksspiel als Bildspender für wirtschaftliche Prozesse Relevanz zu. Nachdem das Motiv im Zuge frühneuzeitlicher philosophischer und mathematischer Innovationen auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie bereits als Modellierung statistischer Erwartbarkeiten aufgewertet wurde, erschloss eine bis heute bekannte Metaphorisierung betriebs- und volkswirtschaftlicher Formationen dem Glücksspiel weiteren diskursiven Raum, der wiederum ein Moment des Irrationalen kennzeichnet. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde an der Idee des Spielens als Lebensverschwendung in einem ökonomischen Sinne weitergesponnen. Der Markt des Spiels wurde als vom Gesamtmarkt fundamental unterschieden betrachtet, Spieler gerieten zu jenen Akteuren, „who neither produced nor consumed. Gamblers brought no product to market and, to make matters worse, they took from those who did [...]. The
1
Vgl. Bosher, French Finances, S. 125ff.
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gamblers’ mixture of work and play was particularly grating to employers who worried about the recreations of those obliged to labor for a living. Gambling was doubly odious for it not only induced its victims to defy injunctions to save, but also made them lose all sense of the carefully measured time necessary for wage labor“2. Die Verbindung von Spiel und Finanzwelt beschreibt auch Huizinga: „Man spielt am Roulettetisch und man ,spielt an der Börse‘“, inklusive der Beobachtung, dass der Spieler „[i]m ersten Fall“ zugeben wird, „daß sein Handeln Spielen ist, im zweiten nicht“3. Die Gemeinsamkeit ist hier plötzlich der Profit: „In beiden eben genannten Fällen ist das Streben, Gewinn zu machen, maßgebend. Im ersten wird im allgemeinen die reine Zufälligkeit der Chance zugestanden, wenn auch nicht völlig, denn es gibt ja ‚Systeme‘, um zu gewinnen. Im anderen Falle macht sich der Spieler irgendeinen Wahn vor, er könne die zukünftige Tendenz des Marktes berechnen. Der Unterschied der Geisteshaltung ist äußerst gering.“4 Die Assoziation der Staats- und Privatfinanzen, des Kredit- und Zinswesens oder der Vertrauens- und Versprechenstheorie in Papier- und Münzgeld mit der Semantik und Praxis des Glücksspielens fand einen ersten Kulminationspunkt, als eine produktionsfremde, insbesondere agrikulturell fragwürdige Praxis reiner Finanztechnokraten, „Bank directors“, „money-dealers“ und „new dealers“5 im Frankreich der Revolutionszeit die Kritik Edmund Burkes auf sich zog: „Your legislators [der Franzosen, S.T.], in everything new, are the very first who have founded a commonwealth upon gaming, and infused this spirit into it as its vital breath. The great object in these politics is to metamorphose France from a great kingdom into one great play-table; to turn its inhabitants into a nation of gamesters; to make speculation as extensive as life; to mix it with all its concerns; and to divert the whole of the hopes and fears of the people from their usual channels into the impulses, passions and superstitions of those who live on chances.“6
Dieser vielzitierte Auszug wendet sich kaum nach Beginn des Geschehens, nämlich bereits 1790, gegen das Revolutionäre der Revolution, gegen die „metamorphose“ nicht nur konkret jener absolutistischen Hegemonie, die für Burke der Ausweis eines „great kingdom“ ist, in „one great play-table“, sondern auch gegen das Ausmaß des Prinzips von Veränderung.7 Schließlich richtet sich seine Kritik auch gegen die Ver-
2
Fabian, Unseemly Sentiments, S. 154f.
3
Huizinga, Homo ludens, S. 64
4
Ebd. Vgl. auch Heinemann, Spiel und Spekulation, insbes. S. 203f.
5
Burke, Reflections on the French Revolution, S. 188.
6
Ebd., S. 189.
7
Der junge Marx verfährt in einer prägnanten Passage zur Französischen Revolution auffällig mit dem Begriff der Verwandlung. Ihm geht es insbesondere um die Einsicht darein,
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wandlung einer auf Gewissheiten ruhenden politischen Situation in eben eine metaphorisch mit dem Glücksspiel gebannte Kontingenz des gesellschaftlichen Zustandes. Spekulation als Schlagwort dieser nur minimal antizipierbaren Kontingenz sei nunmehr kein einzelner Ausschnitt, sondern sogleich „as extensive as life“, deckungsgleich mit dem Ganzen dieser neuen französischen Gesellschaft. Die „usual channels“, die zementierte Einpassung der sozialen Akteure und ihrer Dispositionen sind schließlich von den Spekulanten und Spielern, mehr noch: ihren Leidenschaften durchgestrichen. Eine Theorie, die mit Blick auf ihre Vokabeln die aufdringliche Präsenz spielender Dandys bei Balzac verfolgen lässt – es ist schließlich der Konsens ihrer Impulsivität, demzufolge die hierarchischen Spiele der Einflussnahme auch im restaurativen Paris Ausdruck der Sitten und Leidenschaften ist, die die Comédie bedingen. Burkes Rüge gegen diesen ubiquitär gewordenen Lebensstil enthält dabei aber noch konkrete Anliegen im Bereich der wirtschaftspolitischen Ausrichtung Frankreichs. Sein Argument bezieht sich unter anderem auf die Enteignung der Kirche durch den französischen Staat Ende 1789, wodurch einerseits der desaströse Haushalt ausgeglichen und andererseits die private Hand, der Citoyen, in seiner wirtschaftlichen Kraft gestärkt werden sollte. Die Dechristianisierung während der Revolution, deren politische Dimension von Burke über ökonomische Überlegungen eingefangen wird, sattelt auf einer Analogie des Irrationalen. Burke weist seine Kritik der bürgerlichen Ökonomie, zuvörderst auf dem Gebiet der Landwirtschaft, als Reaktion auf die willkürliche Kirchenpolitik der Revolution aus: „[A]nd if the word ,enlightened‘ be understood according to the new dictionary, as it always is in your new schools, I cannot conceive how a man’s not believing in God can teach him to cultivate the earth with the least of any additional skill or encouragement.“8 Das Revers der Aufklärung in der Revolutionsphase zwischen Déclaration des droits de l’homme et du citoyen und Aufwertung des Dritten Standes bildet einen Kontrast zur freilich von der Vorgängerpolitik provozierten Autorität und Spekulation im wirtschaftlichen Sektor bzw. in der Auseinandersetzung mit den anderen Ständen, angefangen bei der Kirche. Burkes markierender Gegenentwurf des Glücksspiels entspringt den etablier-
dass mit der Revolution die politischen Unterschiede auf soziale Unterschiede abgekürzt würden, womit der Übergang zum konstitutiven Moment der nachrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft abgeschlossen wäre: „Erst die französische Revolution vollendete die Verwandlung der politischen Stände in soziale oder machte die Ständeunterschiede der bürgerlichen Gesellschaft zu nur sozialen Unterschieden, zu Unterschieden des Privatlebens, welche in dem politischen Leben ohne Bedeutung sind. Die Trennung des politischen Lebens und der bürgerlichen Gesellschaft war damit vollendet!“ Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844), S. 284. 8
Burke, Reflections on the French Revolution, S. 188.
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ten Vorurteilen, unterstreicht aber insbesondere das Element des Zufälligen im Unterschied zum wissens- und erfahrungsbasierten Handeln.9 Dass es mit den Assignaten eine Politik der kurzfristig gedachten Politik zum zentralen Mittel der Staatssanierung brachte, die auf der Landenteignung der Kirche basierte, institutionalisierte schließlich das spekulative Moment. Diese durch erst längerfristig abzustoßende Güter des zweiten Standes gedeckten Staatspapiere kamen bald als reguläres Zahlungsmittel in Umlauf, und stellten so nichts weniger als eine Gelderfindung dar. Tatsächlich sollten diese Chimären rasch Probleme bereiten, insbesondere aufgrund der wirtschaftspolitischen Kontinuität zum Ancien Régime, die sich in der ruinösen Potenz jener Papiere wiederfindet.10 Die Assignaten weisen in ihrem prekären Status zwischen Anleihe und Papiergeld über die Kontraste zwischen Providenz und Kontingenz bzw. kontrolliertem und spekulierendem Agieren als Untermauerungsassonanzen einer Illustration moderner ökonomischer Verhältnisse mit dem Zufall bzw. dem Glücksspiel hinaus. Die Glücksspielanalogie hat sicherlich mit der probabilistischen Dimension, etwa des prosperierenden Versicherungswesens und des Geschäfts mit Staatsanleihen zu tun; die semantische Schnittmenge, welche diese Analogie und ihre Frequenz aber überhaupt erzeugt, findet sich derweil in der Ungewissheit der Zukunft bzw., wie Joseph Vogl im Gespenst des Kapitals (2010/11) unterstreicht, in der Gleichsetzung von gegenwärtiger Zukunft (das, was aus der Logik des Jetzt heraus zu erwarten steht) und zukünftiger Gegenwart (das, was tatsächlich eintritt).11 Vogl zeichnet Burkes Zitat anhand einer These des Marquis de Condorcet nach, derzufolge Assignaten in ihrem Doppelzustand „eine Verwirrung über die Art und den Zeitpunkt der künftigen Handlung, die hier versprochen wird“12 bedingen; die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen sind von Burke mit dem Spielbegriff eingefangen. Diese Relation fügt sich in Vogls von Differenz (und Différance) geprägte Lektüre der Geschichte des modernen Kapitals. Seine gedankenreiche, an entscheidenden Punkten auch literarisch exemplifizierte Parapsychologie erörtert das Spektrale 9
Zu bedenken ist allerdings, dass freie Spekulationen bereits vor der Revolution gebräuchlich und etabliert waren. Vgl. Bosher, French Finances, S. 190: „Throughout the ancien régime a great number of financiers and bankers, French and foreign, had always engaged in speculation with securities, public and private, long-term and short-term; in the reign of Louis XVI this business had become more volatile with speculators buying and selling on the Paris bourse, combining and competing to realize profits in everything from insurance and real-estate to international exchange operations.“
10 Vgl. ebd., S. 245: „More important, that distinction [zwischen Ancien Régime und Nationalkonvent, S.T.] became impossible because the Treasury was obliged to use more and more assignates for day-to-day spending.“ 11 Vgl. Vogl, Das Gespenst des Kapitals, u.a. S. 168. 12 Ebd., S. 73f.
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der modernen Geldwirtschaft und der Finanzmärkte unter den Auspizien des monetären Datenflusses. Insbesondere die Aufschlüsselung einer kapitalistischen „De-Präsentation von Welt“13 fokussiert die semiotische Differenz als Analysekonzept für die zwischen Geld als Zeichen und einer kruden Leerstelle des damit Bezeichneten bestehenden Störung. Das aufgeschobene Signifikat ist über häufig nicht materiell Vorhandenes supplementiert, etwa über antizipierte Preise, fremde Schulden und Kredite mit nebulösen Zinsversprechen, oder auch einfach über die erratische Entität Geld höchstpersönlich, und d.h.: „Kreditgeld und also Versprechen auf Geld“, das „die Symmetrie von Tausch und Gegentausch“ auflöst.14 Massiven Anteil an der Auflösung vorausgehender und bedingender Prozesse hat die Ökonomie des „unendlichen Aufschub[s]“15. Mit den Assignaten um 1800 installiert und künstlich belebt, indem „unproduktives Geld mit Zeugungskraft versehen“ sowie die Kapitalzirkulation „mittels der Verkäuflichkeit von Schulden“ stimuliert wurde, ist dieses Konstrukt nicht nur auf eine reelle und eindeutige Beziehung zwischen Wertzeichen und Gut, sondern auch auf die Zeit losgelassen.16 „Die Zeit gerät aus den Fugen“, schreibt Vogl mit Anrufung der zögerlichen Hand Hamlets, die keineswegs gerecht tätig sein muss, nur weil sie eine unsichtbare Hand ist: „Die Zeit gerät aus den Fugen. Der Kapitalverkehr wird durch seine innere Zukunftssucht bestimmt, die Zukunft selbst produktiv und macht von nun an die Finanz- und Kreditökonomie zum Maßstab ökonomischer Modernisierung überhaupt.“17 Hinsichtlich der ökonomischen Struktur der Gabe hatte bereits Derrida auf die Unsichtbarkeit der Zeit hingewiesen: „Le temps en tout cas ne donne rien à voir. Il est au moins l’élément de l’invisibilité même.“18 Der Gedanke führt auf eine semantische Irreduzibilität des Ökonomischen bzw. ihr zentrales Zirkulationssystem, das letztlich auch „des signes monétaires ou des marchandises“ betrifft.19 Die Signifikanzerosion in ökonomischen Zusammenhängen findet sich aufgrund dieser herausstechenden Eigenschaft der simulierenden Benennung in einigen Theoriesprachen des späten 20. Jahrhunderts.20 Vogls Projekt
13 Ebd., S. 94. 14 Ebd., S. 79. 15 Ebd., S. 81. 16 Ebd., S. 80. 17 Ebd., S. 81. Die Entmythisierung der ideologischen Instrumentalisierung von Adam Smiths berühmter, aber in den Wealth of Nations (1776) nur homöopathisch belegbarer Formel spielt auch für Vogl eine Rolle. Vgl. Ebd., S. 39f. 18 Derrida, Donner le temps, S. 17. 19 Ebd., S. 18. 20 So auch im weiten Reich der Simulakren: „Il y a eu ex-termination (au sens littéral du terme) des réels de production, du réel de signification.“ Baudrillard, L’échange symbolique et la mort, S. 19.
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sticht durch seinen konkreten Blick auf verschiedene historische Momente der Akzeleration dieser Entwicklung, die mit den entsprechenden Interpretationen zusammengetragen werden, und als Studie einer Möglichkeit der zeitkritischen Bündelung dieser Theorien heraus. Daher wird die hiesige Ankunft der Glücksspielmetapher im ökonomiekritischen Bereich zu betrachten sein. Das gespenstische Moment der temporalen, ökonomischen und semiotischen Differenz bündelt sich Vogl zufolge radikal seit der von ihm sogenannten zweiten Idylle des Marktes mit der Aufkündigung von Bretton Woods 1973, die eine zugespitzte Entfesselung der Finanzmärkte nach sich zog, in den Futures und Termingeschäften. Ein derartiges Geschäft sei „dann gerechtfertigt, wenn ihm die tatsächliche Lieferung des entsprechenden Guts oder Basiswerts folgte – eine Demarkation, die einen gleitenden Übergang von echtem Handel über Spekulation zu bloßem Glücksspiel an den Börsen anhalten und abklären sollte“21. Spekulation wird von Vogl an anderer Stelle als unentscheidbarer Term zwischen Handel und Casino ausgewiesen, „Zufallsbewegungen sind zum Merkmal effizienter Märkte geworden“22. Auch ein Bestseller wie Niall Fergussons The Ascent of Money (2008) verweist hinsichtlich des Ungewissheitsparadigmas regelmäßig auf das Glücksspiel, etwa wenn über die für Missbrauch hochanfälligen Geschäfte mit Staatsanleihen bilanziert wird: „Even as recently the 1970s, as inflation soared around the world, the bond market made a Nevada casino look like a pretty safe place to invest your money.“23 Mit Fergussons populärwissenschaftlicher Arbeit (und der entsprechend auf Intuitionen setzenden Sprache) zeigt sich eine gewisse Begrenztheit des Glücksspiels als interdiskursivem Element.24 Der Bildbereich der Glücksspielmetapher ist nach ihrer geradezu inflationären Instrumentalisierung in der Gefahr, simplifizierende Muster für komplexe Zusammenhänge zu liefern. Ausgerechnet die semiotische Komplexität des Börsenhandels scheint das Glücksspiel nämlich nicht einfangen zu können, da deren Fabrizierung einer De-Präsentation mit seinen soziologischen und historischen Prämissen ungleich mannigfaltiger funktioniert, als der symmetrische
21 Vogl, Das Gespenst des Kapitals, S. 92. 22 Ebd., S. 99. 23 Fergusson, The Ascent of money, S. 109. 24 Peter Schnyder entwickelt eine Theorie zur Metaphorologie des Glücksspiels, die es in einem ersten Schritt als interdiskursives Element in Anschluss an Foucault und Jürgen Link kennzeichnet, womit eine Verbindung „verschiedene[r] differenzierte[r] ‚diskursive[r] Formationen‘“ untereinander gemeint ist. Schnyder, Alea, S. 20. Vgl. auch Schnyder, Kontingenzpolitik. Schnyder gelingt dabei eine eindringliche Beschreibung der gegenseitigen Beeinflussung von Spielmetapher und Spielkultur, die das Spiel „in der Zeit seit der Aufklärung als Inbegriff des Irrationalen“ zu verstehen hilft. Schnyder, Alea, S. 22.
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Zufallsgedanke zwischen beiden Wirklichkeitsausschnitten einfangen könnte. Dennoch scheint es auf den Strängen der Entzeitlichung und auch der Semiotik einige Analogien zu geben, die insbesondere durch Vogl klarer geworden sind. Dessen ambitionierte Kommentare hinsichtlich der Verantwortungslosigkeit dieser politisch signifikanten Différance lassen sich, auch wenn einschlägige Unterschiede zwischen der Zeit um 1800 und der Post-Bretton-Woods-Phase gemacht werden, in der Ökonomie und auch im literarischen Glücksspieldiskurs nach der ersten Idylle des Marktes feststellen. Vogl weist dahingehend auf die Analogie zum Text hin, indem sowohl Text als auch „spekulatives Zeichenspiel“ als „Lektüreproblem“25 gewertet werden. Mit der Zeit nach Bretton Woods erreiche dieses eine sogenannte postmoderne Sphäre, nach der ein „Regime flottierender Signifikanten ohne Anker und Maß, ohne die Sicherung durch ein transzendentales Signifikat“26 zu beobachten sei. Die hier erfolgte Beschwörung von Konzeptionen aus Derridas Frühwerk behält sich die Ambiguität des Spielens vor.27 Derridas Spielbegriff korreliert insofern mit der Glücksspielanalogie bei Vogl, als er die Trope für semiotisch identifizierbare Instabilitäten innerhalb der anvisierten Struktur, sei es die übergeordnete des wissenschaftlichen Diskurses oder die Phänomenologie der Ökonomie, bereitstellt. Die entsprechenden Rahmenbedingungen und Konventionen haben sich allerdings bereits im Frühkapitalismus einschneidend entwickelt und die zerfallende Lesbarkeit des Marktes beeinflusst, wie sie die Assignatenpolitik etwa vorantrieb. Der als postmoderne Lektüre gekennzeichnete Prozess ist – unter entsprechendem Bewusstsein seiner historischen Verschiebung – bereits auf die Marktgesetze der Restauration übertragbar. Auch Jochen Hörisch insistiert auf dieser Charakteristik des Geldes, die er mit der fiktionalen Basis von Jeremias Gotthelfs Roman Geld und Geist (1842-1844) in einer Reihe von Antithesen und Inversionen belegt: „Geld ist rational und irrational, Geld ist heimisch ( = ökonomisch) und unheimlich, Geld ist dingfest und abstrakt, Geld ist real und irreal, Geld simuliert nur wirkliche Werte, und Geld gilt zugleich als der eigentliche Wert, Geld ist satanisch und göttlich, Geld ist leblos-kalt und gespenstisch lebendig, Geld ist ein pures Mittel und wird zum reinen Zweck, kurzum: Geld ist 25 Vogl, Das Gespenst des Kapitals, S. 21. 26 Ebd., S. 87. 27 Vgl. Derrida, La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines, S. 409f., wo Derrida mit dem Spiel dasjenige in der Struktur beobachtet, das ihr inneres Strukturiertsein, ihre Formstabilität flexibilisiert und ambiguiert. Mit dem Begriff des Spiels und seiner Bedeutung für die Substitutionalität der Struktur bzw. ihrer Differenzen wird hier der historische Prozess eines „décentrement [...] de la structuralité de la structure“ neu gelesen, in dem jenes „signifié transcendental ou privilégié“ zur Disposition gestellt wird. Ebd., S. 411f. Mit Lévi-Strauss illustriert Derrida später die supplémentarité als genuines Substitutionskonzept, das über einen „signifiant flottant“ verfügt. Ebd., S. 423f.
234 | BALZACS T ILGUNGEN der Inbegriff des Sekundären, das sich zum Primären zu potenzieren droht – Geld bedroht (göttlichen) Geist.“28
Die ökonomische Nutznießung dieser Differenzen, die sich im Geld erzeugen, ist seit demjenigen, was an der Französischen Revolution eine politisch ökonomische Zäsur gewesen ist, Gegenstand theoretischer und populärer Reflexionen und Kritik, die mit all den inneren Widersprüchen und analogen Differenzen des Spielens um Geld mit dem Zufall metaphorisch belegt werden. Burkes unmittelbare Kritik spielt auf ein Ressentiment des Irrationalen an, ähnlich wie Fergussons Vergleich zwischen Las Vegas und dem Anleihemarkt, der zugunsten der Casinometropole ausfällt, eine Ironie der Investition als bewusstem Instrument zur eigenen Vorteilssteigerung erstellt. Beide Äußerungen verwenden dabei ein epistemologisch zweischneidiges Schwert, indem sie nämlich einfache Wahrheiten aussprechen, die an dem großen Problem weiter mitarbeiten, es bei den ökonomischen Abbildern komplexer und differenzierter Gesellschaften mit einem Konstrukt zu tun zu haben, das der oberflächlichen Einsicht essentiell vernebelt entgegentritt. Die Undurchsichtigkeit der Märkte entzieht sie einer hürdenlosen Einsicht. Dieses Moment in seine Untersuchungen einbezogen und die Wette auf die Zukunft mit der epistemologischen Hintertriebenheit des Kapitals zusammengebracht zu haben, gehört zu den großen Reizen der Lektüre Vogls. Das Vertrauen in ein rational determiniertes Handeln der algorithmisierten Pseudoinstanz des Marktes bei gleichzeitiger Absenz moralischer Kontrollmechanismen birgt den interessanten Zusammenhang, ein System absoluter Kontingenz ausgerechnet über krypto-providentielles Wunschdenken installiert zu haben. Vogl verwendet für diese Ideologie des Guten im Markt, die häufig aus seinem Regularismus gezogen wird, den Neologismus der Oikodizee.29 In der Oikodizee „wirkt noch immer die Vorsehung des Marktes. Diese Hoffnung auf irdische Providenz aber endet nicht wie früher einmal die philosophischen Versuche der Theodizee in einem panglossischen Gedankenexperiment, sondern in einem weltweiten sozialen Großversuch, der bis auf Weiteres im Gange ist“30. Der Katechismus des Marktes ist demjenigen des abergläubischen Spielers eher unähnlich, schließlich ist das Providenzverhältnis im Markt ein überindividuelles und für den Spieler ein ganz persönliches, beinah egozentrisches. Gemeinsam ist lediglich die Unlesbarkeit beider Prozesse. Das Glücksspiel ist permanenter Versuch und stellt als solches ein stetiges probabilistisches Experiment ohne epistemologischen Mehrwert dar. Zwar gibt es mit dem Abgleich zwischen Wette und zufälligem Ergebnis semantische Alternativen zwischen Gewinn und Verlust, die aber nur auf den eigenen Kontext, die Spielregel und den Einsatz referieren. „Die Spekulation ist der Normalfall finanzökonomischer Transaktion“, schreibt 28 Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 317. 29 Vgl. Vogl, Das Gespenst des Kapitals, S. 25ff. 30 Ebd., S. 114.
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Vogl.31 Beim Glücksspiel – und hier zeigt sich die Begrenzung der Analogie – ist sie der einzig mögliche Fall. Die Dechristianisierung durch einen Katechismus des Marktes abgelöst zu sehen, führt zur Totalen des Spiels zurück, das Burke auf ganz Frankreich projiziert hatte. Balzacs Verknüpfung von Zufall, Markt und Mensch ist den Erfahrungen der französischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte nach 1800 geschuldet.32 Vor dem epistemologisch gleichermaßen korrumpierten wie gespenstischen Moment des Kapitals wird das Zufallsspiel, ebenso wie der intrigante, spielende Dandy bei Balzac als Figuration dieser Zusammenhänge schließlich interessant: Sind ökonomische Verfahren und Ziele des Geldes immer auch Spiele mit der Wirklichkeit, so ergeben sich schließlich Äquivalenzen zwischen diesen Spielen, den Glücksspielen und überhaupt dem pathologischen Wirklichkeitsverhältnis, das Balzacs Figuren an den Tag legen.
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Der Avant-propos legt mit seinem Literaturkonzept der Wirklichkeitsverdopplung Zeugnis davon ab, weshalb dort, wo Balzacs Name fällt, derjenige des Realismus nicht weit ist.33 Und doch wirft auch diese Parallele Probleme auf, schließlich schiebt sich eine noch der Romantik verbundene Seite als Zwischenschicht in Balzacs Projekt. Ernst Robert Curtius beschreibt diese hybride Situation in seiner Studie von 1923 anhand der geradezu metaphysischen Erhöhung jener Gesellschaftstopik zu Zeiten der Comédie humaine: „Die Gesellschaft ist für die Geschlechter des neunzehnten Jahrhunderts wirklicher als Gott und Natur, sie ist die Wirklichkeit selbst geworden.“34 Dass die Wirklichkeit entsprechend bei Balzac noch keinem naturalistischen Konzept verpflichtet ist, aber die stoffliche Auswahl essentiell gliedert, indem
31 Ebd., S. 95. 32 Auf eine emphatische Umwendung von Burkes Diktum der „nation of gamesters“ durch Balzac hat Wolfram Nitsch gedeutet. Vgl. Nitsch, Rechner und Seher, S. 64. 33 Die Reichweite dieser Verbindung und ihrer Kritik ist so groß wie das Werk Balzacs selbst. Vgl. exemplarisch Béguin, Balzac lu et relu; Butor, Balzac et la realité; Friedrich, Drei Klassiker des französischen Romans; Dubois, Les romanciers du réel; oder das summarische Kapitel Le réalisme in Barbéris, Le monde de Balzac, S. 91-133. Vielen Darstellungen ist der Fokus auf den durch Balzac eigens formulierten und eingetriebenen Realitätsanspruch in der Comédie sowie auf die literaturhistorische Konstellation, in die er sich einfügt, gemeinsam; dabei scheint sein Status zwischen der exemplarischen Hervorbringung eines realistischen Ansatzes innerhalb dieser Konstellation sowie einer Kanalisierung der ästhetischen Verschränkung seiner Zeit durch die Comédie zu oszillieren. 34 Curtius, Balzac, S. 234.
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sie die Totalität der Wirklichkeit in die Totalität des überlebensgroßen Gesellschaftsromans überführen möchte, bereitet den Boden für ein soziologisches Kausalitätsinteresse, dessen poetische Praxis jedoch von einer „Causalitätsmystik“35 zeugt. Die praktischen Zusammenhänge der Dinge stehen auf der Liste Balzacs ganz oben, allerdings ist genau diese Priorität untrennbar mit dem Rätselhaften des Zufalls verbunden. Das darin enthaltene, von Curtius hoch bewertete Geheimnis – und „[d]ieses gehört ja zum Bestande der romantischen Seelenwelt“36 – sowie das gelotst Tragische, wenn etwa die materielle Verschuldung Luciens auch mit der metaphysischen Frage nach Schuld enggeführt wird, hält die Wirklichkeit als dramatisierte Konstruktion aufrecht. Balzacs Texte bestreiten demgemäß eine konstruktive innere Auseinandersetzung zwischen romantisch-metaphysischer Melodramatik und realistischer Topik. Dasjenige, was literarisch seit der Frühromantik nirgendwo so stark wie in einer metaphysischen, religiös-magischen Vorstellung von Kunst selbst verortet wird, flankiert von den Impressionen des Traums oder mit einer mittelalterlichen Mystik assoziiert, findet sich jetzt auf die Gesellschaft bzw. deren Realität übertragen. Der überhöhende Status des Unendlichen und Absoluten im intersubjektiven Geklüngel des bürgerlichen Frankreichs erzeugt in dieser Kombination möglicherweise den besonderen Reiz von Balzacs Erzählungen. Adornos Zusammenfassung dessen lautet: „Den Totalitätscharakter der Gesellschaft, den zuvor die klassische Ökonomie und die Hegelsche Philosophie theoretisch dachten, hat er [Balzac, S.T.] schlagend aus dem Ideenhimmel zur sinnlichen Evidenz hinabzitiert.“37 Den bearbeiteten Themen kann so jeweils ein realer und ein metaphysischer Wert zugeordnet werden: eine profane Entsprechung in der Wirklichkeit, die in Kosten und Nutzen umzurechnen ist und dabei die Sequentialität von Handlungen materiell beschreibbar werden lässt, und eine zugleich transzendierte, zuweilen posauniert verkündete Bedeutung, in der die unendliche, einheitliche Gesetzmäßigkeit der Welt verborgen liegt und als Universalformel konserviert ist. Liebe – einer der strahlendsten Gegenstände balzacscher Begierde – wird etwa in ihrem Torso der Ehe zur ordinären Voraussetzung für sexuellen Gewinn, eine Möglichkeit der Entgrenzung sozialer Hierarchien für die eine Seite, eine Prostitutionsware für die andere, und ist doch triumphaler Statthalter aller Leidenschaften, in denen sich die überzeitlich außergewöhnliche Rolle des Menschen widerspiegelt.38 Genau an dieser Sollbruchstelle liegt eines der faszinierendsten Gestaltungsverfahren Balzacs, nämlich die Divergenzen profaner Anstrengungen Einzelner zu beschreiben, die im sozialen Korsett nicht nur überleben und immobil existieren, sondern besser leben möchten, nach Höherem 35 Ebd., S. 19. 36 Ebd., S. 35. 37 Adorno, Balzac-Lektüre, S. 140. 38 Zu dieser Funktion der Liebe, vgl. Warning, Chaos und Kosmos, S. 14.
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streben, dabei aber die Niederungen der materialisierten Prinzipien geflissentlich ignorieren. Dieses Gelenk hinterlässt auch stilistische Spuren: Exzessive Dialogizität, die das menschliche Drama an der Halsschlagader ihrer Begegnungen sucht, wechselt sich mit mehr oder weniger stark kommentierenden Erzählereingriffen ab, deren höchstmögliche Wissensausschüttung sich an allgemeinen Wahrheiten über die Regeln des Miteinander abarbeitet oder den konkreten Hintergrund der Handlung derart bereichert, dass wir jederzeit im Bilde sind über die auch absichtlich geheimen Schattenkabinette des Geschehens. Konsequenterweise kristallisiert sich hier eine wichtige Unterscheidung, nämlich zwischen den Verfahren einer literarischen Wirklichkeitsannäherung und der akkuraten Beschreibung eines Wirklichkeitsausschnittes. Offensichtlich liegen damit bereits zwei verschiedene Wirklichkeitsbegriffe vor: Der erste tendiert zur Wahrscheinlichkeit, die den Maßstab für die interne Glaubwürdigkeit der Erzählung bildet. Der zweite beschäftigt sich mit der konkreten Ansiedlung in einer außertextuellen Realität. Beide Wirklichkeiten haben als literatur- und kunstfähiges Paradigma den Grundstock dessen bereitgestellt, was sowohl die Rede vom formalen realistischen Erzählen, als auch vom historischen Epochenbegriff „Realismus“ instanziiert: Wirklichkeit beschreibt einerseits, dass sich der „phantasiefreien Wirklichkeitsauffassung“ zu- und vom „Geschmack des Märchenhaften, Erfundenen, Müßigen“ abgewandt sowie zugleich „der Bereich der gesellschaftlichen Wirklichkeit“39 etabliert wurde, und andererseits eine Hinwendung zur Objektivität40, die Balzac mitnichten attestiert werden kann. Die Comédie humaine hat insofern an den Verschiebungen zwischen Roman und Wirklichkeit einen detaillierten Anteil, und weist dennoch zugleich Balzac als einen Mystiker des Wirklichen aus, der weniger eine fotografische Darstellung der „echten Welt“ anbietet, als einen transzendenten Kommentar diverser Wirklichkeitsfantasien, die wohlgleich Objektives und Sozialkritisches beinhalten.41 Sein Verdienst, zeitgeschichtlich relevante Faktoren als literarische Fakten geltend zu machen, setzt zusätzlich auf die Verbindung mit der „vraisemblance“42.
39 Friedrich, Drei Klassiker des französischen Romans, S. 13ff. 40 Vgl. Amiel, Realismus und Positivismus, S. 250f. 41 „Eben weil in der bürgerlichen Welt vom Entscheidenden nicht sich erzählen läßt, geht das Erzählen zugrunde. Die immanenten Mängel des balzacschen Realismus sind potentiell bereits das Verdikt über den realistischen Roman.“ Adorno, Balzac-Lektüre, S. 154. 42 Der Ausdruck kann als ein Funktionsterm der Literatur des 19. Jahrhunderts gewertet werden, dem etwa der berühmte éffet de réel zu Diensten ist. Barthes zufolge gehört es zum „réalisme moderne“, wahr zu scheinen und dementsprechend Äußerungen und Darstellungen zu beschwören, deren primäre Aufgabe es ist, das Geschilderte in ein wahrscheinliches Bild zu pressen: „[U]n nouveau vraisemblable naît, qui est précisément le réalisme [...].“ Barthes, L’Éffet de Réel, S. 88. Zur Verbindung mit Balzac, vgl. Perret, L’,Avant-propos‘
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Hierzu gehört insbesondere die Exposition des Wahrscheinlichen über den Versuch der quantitativ maßstabsnahen Kartografierung jener wendungsreichen französischen Epoche.43 Dort findet sich ein weiteres Indiz für den holistischen Fremdenverkehr: So wie in dessen Großstadtbiotop Paris ist auch im großangelegten Romangeflecht die Anzahl der Möglichkeiten dessen höher, was zu schildern wäre, wodurch auch die Frequenz des Zufälligen zunimmt. Stefan Zweig huldigt den hieraus erzeugten literarischen Innovationen, insbesondere dem „fruchtbare[n] Einfall“ der Wiederkehr der wichtigen Figuren und damit jenem die Einzeltexte verbindenden Netzwerk. Ergo identifiziert er eine solche „Durchgängigkeit der Typen“ nebst der daraus resultierenden „komplette[n] dichterische[n] Zeitgeschichte [...], die alle Stände, Berufe, Gedanken, Gefühle und Zusammenhänge umfaßt“ als wesentliche Funktion und speziellen Modus der Realitätsbeschreibung.44 Blumenberg hat die daraus resultierende Struktur der möglichen Ein- und Ausgänge mit dem Begriff des „perspektivischen Modell[s]“45 umschrieben, das er Balzac als erstem Autor zugesteht. Die sprachliche Vermittlung des Romans zwingt der Form eine raumzeitliche Linearität auf, die einer Realitätserfahrung von Gleichzeitigkeit zuwiderläuft. Der Roman ist gemeinhin in seiner Endlichkeit unvereinbar mit einer außernovellistischen Umweltserfahrung von Unendlichkeit. Mit dem Netzwerk der Romane Balzacs ergeben sich jedoch plötzlich Perspektiven auf eine Simultanität, die wiederum dem hoffnungslosen Streben nach unendlicher Realität des Romans geschuldet ist: „Damit aber läßt sich das Raffinierte der balzacschen Zyklusbildung erkennen“, schreibt Warning. „Sie modelliert Offenheit und Geschlossenheit zugleich, anders gesagt: Im Schein der Kontingenz eines zukunftsoffenen ‚présent qui marche‘ modelliert sie einen geschlossenen Kosmos, in dem jede je thematische Geschichte in eine Relation wechselseitiger Informationssättigung tritt mit ihrem horizontalen Pendant.“46 de la ,Comédie humaine‘ et le XVIIe siècle littéraire français, S. 302ff. und Küpper, Balzac und der Effet de réel. 43 Rüdiger Campe weist auf die probabilistische Dimension des realistischen Romans in Form eines Romans des Wahrscheinlichen hin. Vgl. Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 188: „Gemeint war [mit dem Realismus, S.T.] eine Art verbesserter oder verdoppelter Wahrscheinlichkeit [...]. Die so erzielte, realistische Wahrscheinlichkeit soll nicht nur das Spiel zufälliger Ereignisse dem wahren Sein der Dinge annähern, sondern zugleich darauf verweisen, daß sich das wahre Sein der Dinge im poetologisch modellierten Spiel der zufälligen Ereignisse darstelle.“ 44 Zweig, Honoré de Balzac, S. 142. Vgl. auch Friedrich, Drei Klassiker des französischen Romans; Jauß, Die beiden Fassungen von Flauberts ,Education Sentimentale‘, insbes. S. 314; Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet, insbes. S. 4ff. u. S. 91. 45 Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 23. 46 Warning, Chaos und Kosmos, S. 37.
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Und doch steht dieser Winkel eines Realitätskonzepts aus Anerkennung der Wahrscheinlichkeit in einem Spannungsverhältnis zur Kontingenz. Kontingenz öffnet aus sich heraus einen Dialog darüber, inwiefern dem Wirklichen Tauschbarkeit zukommt. In Bartleby oder die Kontingenz befasst sich Giorgio Agamben mit der Potenzialität des Denkens bzw. der Darstellbarkeit eines Denkens in Potenz. Dazu gehören die auf Willen, Denken und (Nicht-)Schreiben strahlenden Implikationen als Darstellungsform der Kontingenz. Das Problem zeitlicher Akte, welche aus der Notwendigkeit von Gegenwart erwachsen, löst er mit Aristoteles, indem auf die Notwendigkeit von Kontingenz verwiesen wird, die nämlich darin besteht, dass nicht eine Handlung der Gegenwart allein notwendig sei, sondern mehr eigentlich die Kontingenz dieser Handlung: „Mit anderen Worten, einzig die Tautologie (im wittgensteinischen Sinne) ,Morgen wird es eine Seeschlacht geben oder wird es keine geben‘ ist notwendig immer wahr, denn jedes der zwei Glieder der Alternative wird zur Kontingenz zurückgeführt, zu seiner Möglichkeit zu sein oder nicht zu sein.“47 Die Kontingenz beruht auf diesem Dünkel des Nicht-Eingetretenen. Die in Hermann Melvilles Erzählung gegebene Formel des Scriveners „I would prefer not to“ wird zur Tautologie, in der die Kontingenz auch vor dem Leibnizischen Eingedachten bewahrt ist.48 Bartleby sagt, ich schreibe oder ich schreibe nicht. Agamben erblickt in diesem Satz eine wichtige Nuance der Kontingenz, nämlich dass sie ein Mögliches bezeichnet, dessen Wirkliches unentscheidbar ist, was es mit Bartlebys Sprechakt – dies seine Besonderheit – auch bleibt: „Das ‚ich möchte lieber nicht‘ ist die restitutio in integrum der Möglichkeit, die sie im Gleichgewicht hält zwischen dem Geschehen und dem Nicht-Geschehen, zwischen dem Sein-Können und dem Nicht-sein-Können. Es ist die Erinnerung an das, was nicht war.“49 Diese Spannung zwischen Kontingenz und Wirklichkeit wird modifiziert auch im Glücksspiel permanent aufgerufen, nämlich im Setzen. Das Ergebnis des Spiels fällt den Klauen der Wirklichkeit und damit einer präsentischen Unhintergehbarkeit anheim. Doch die partielle Tilgung dieser Wirklichkeit durch den neuen Einsatz beschließt diesen Zugriff als Tantalusqual. Gerade die stetige Wiederholung der Proklamation auf eine vom Zufall geschaffene Reinform des „Rot oder Schwarz“ ruft die Erinnerung an die Alternativstränge genauso vergewissernd wieder auf, wie es Bartleby mit seinem Satz tut. Der Akt des Setzens ist die eigentliche Herausforderung und Bestätigung eines Sehen-Wollens und der Akzeptanz des Nicht-Wirklichen, aber 47 Vgl. Agamben, Bartleby oder die Kontingenz, S. 57. Agambens Beispiel hier ist abermals Aristoteles entlehnt. Vgl. Aristoteles, Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck, 19a. 48 Vgl. Leibniz, Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, S. 114: „Daß ich heute schreiben werde, war schon vor hundert Jahren wahr, ebenso wie es noch in hundert Jahren wahr sein wird, daß ich geschrieben habe.“ Vgl. auch Agamben, Bartleby oder die Kontingenz, S. 55 und S. 63. 49 Ebd., S. 64.
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Möglichen, dem ein Noch-Nicht zugeordnet werden muss, welches mit seiner verstörenden Gewalt auch in Bartlebys Phrase enthalten ist. Auf den Zufall im Spiel zu setzen, verwandelt sich aus dieser Hinsicht in das „I prefer not to“ des Spielers. Der Wirklichkeitsentzug in Austausch für diese Kontingenzerinnerung wird damit zu einem der gehörigen Suchtfaktoren des Spielers. Lucien, dessen auch semiotisch bezeichnender Namenswechsel von Chardon zum adeligen Zu- und Ersatz de Rubempré als Teil tendenziöser Wechselverhältnisse der modernen Großstadtkultur zu werten ist, avanciert etwa nicht nur vom bohemehaften Schriftsteller zum kurzfristig aussichtsreichen Journalisten, sondern synchron zum pathologischen Spieler, dessen eigene restitutio in integrum die Spielbänke im Palais-Royal sein werden. Seine drei Karrieren sind fundamental von der beschleunigten Metropole an der Seine initiiert. Ihr wird in der ironischen Kapitelüberschrift Un grand homme de province à Paris bereits eine kategorische Neuinterpretation des provinziell Großen und Bedeutsamen attestiert, das vor der Kulisse ihrer dandyesquen Boulevards und der Rue de la Paix relativiert ist und als rural und gewöhnlich erscheint.50 Karriereförderer in vielerlei Hinsicht ist der bereits desillusionierte Étienne Lousteau, mit dem Lucien die provinzielle Herkunft, lange aber nicht mehr das Missgeschick im urbanen Labyrinth gemeinsam hat: „Comme Lucien, Étienne avait quitté sa province, une ville du Berry, depuis deux ans. Son geste animé, son regard brillant, sa parole brève par moments, trahissaient une amère connaissance de la vie littéraire.“51 Die Nähe zu Lousteau verheißt eine Beschleunigung des intellektuellen und beruflichen Werdegangs. Als Insider im literarischen und journalistischen Pariser Publikationsdschungel eingeführt, der bald Luciens Aufmerksamkeit von den ästhetisch integeren, aber idealistischen Dichterkreisen um d’Arthez ablenkt, erweist sich Lousteau zunächst als mephistophelisch gefärbte Bekanntschaft und als Produkt des urbanen Raumes.52 Paris enthüllt als Ort des Egoismus und der menschlichen Kälte eine moralisch ambivalente conditio humana der Unverbindlichkeit. Ein solches Wespennest ver-
50 Auf der Rue de la Paix muss Lucien seinen drastisch reduzierten Status in der Hauptstadt erkennen: „Les personnes qui jouissent en province d’une considération quelconque, et qui y rencontrent à chaque pas une preuve de leur importance, ne s’accoutument point à cette perte totale et subite de leur valeur.“ Balzac, Illusions perdues, S. 264. 51 Ebd., S. 297. 52 Der faustische Pakt ist ein kaum verschleierter Topos bei Balzac. Vgl. hierzu die Begegnung Luciens mit Vautrin im letzten Teil der Illusions, sowie die eindeutigen Referenzen im Peau de chagrin: „À ce rire, la vive imagination de Raphaël lui montra dans cet homme de frappantes ressemblances avec la tête idéale que les peintres ont donnée au Méphistophélès de Goëthe.“ Balzac, La Peau de chagrin², S. 222.
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führerischer und wetteifernder Figuren produziert primär konkurrierende und paktierende Verhaltensmuster, die für einen nouveau venue wie Lucien im Tausch postadoleszenter Ideale und Illusionen für eine Kultur der Kompromisse und Kontrakte sowie der gegebenen und gebrochenen Versprechen münden. Einschlägig personifiziert findet sich das infernale Geschäft in Vautrin alias Trompe la mort alias Jacques Collin – man beachte das abermalige namentliche Wechselspiel –, der wiederum im Kostüm eines spanischen Geistlichen namens Carlos Herrera schließlich am Ende des dritten Teils der Illusions perdues Lucien in seine Abhängigkeit zwingen und folgerichtig nach Paris, die Kapitale der sklavischen Seilschaften im Sequel Splendeurs et misères des courtisanes (1838-1847), zurückgeführt haben wird. Während Vautrin aufgrund seines schwerstkriminellen Hintergrundes derartige Marionetten benötigt, um in der Stadt operieren zu können, gibt es auch souveräne Figuren, die im Kampf mit der Pariser Infrastruktur evolviert sind. Wesenseigener Vertreter dieses Prozesses ist insbesondere Eugène de Rastignac, der im Père Goriot (1834) noch die Rolle des durch jenen Vautrin Verlockten einnahm, letztlich der Schlange widerstehen konnte, um etwa im chronologisch später angesiedelten, aber früher entstandenen La Peau de chagrin (1831) selbst als Akteur der Persuasion aufzutreten.53 Nicht nur anhand des noch thematisch und stilistisch nicht ganz astreinen Verhältnisses zur Wirklichkeit kann man erkennen, wie Balzac ein doppeltes Spiel mit ihr treibt. Auch die illusionsverflüchtigende Realität seiner Parisrepräsentation zeichnet sich dadurch aus, die Wahrheit zu seinen Gunsten zu verbiegen. Balzac als realistischen Schriftsteller zu verstehen, stößt damit auf mindestens diesen inhaltlichen Widerspruch. Die Wirklichkeit an der Seine zeichnet sich zunächst dadurch aus, nicht mehr viel Echtes zu enthalten. Überall Maskerade, Schauspielerei, Als-Ob, Intrige. Diese Einsicht wirbt wiederum um ihre Wahrheit.54 Sie findet ihr Korrelat im Spiel, das früher oder später professionell geführt wird. Ob Lucien, Lousteau oder Rastignac: All diesen Verführern und Verführten ist gemeinsam, dass sie dem Eingedenken als Akteure erscheinen, die irgendwann gespielt haben werden – sowohl am Spieltisch als auch mit ihren Mitmenschen – und zugleich gespielt wurden – entweder vom Spieltisch oder ihren Mitmenschen. Die Dialektik dahinter führt in eine vom Zufall initiierte Charakteristik des Spielimpulses, mit der insbesondere eine Variante der Wirklichkeitsabschottung beschrieben werden kann.
53 Berühmtheit erlangte seine Kampfansage an die Stadt („ces mots grandioses“) in Anschluss an die melodramatische Beerdigung des Père Goriot: „A nous deux maintenant.“ Vgl. Balzac, Pére Goriot, S. 290. 54 Abermals angezeigt aus der authentischen Perspektive um den d’Arthez-Zirkel, die nicht nur den Sumpf des anderen Paris durchschauen, sondern ihrerseits wiederholt als Luciens „vrais amis“ betitelt werden. Balzac, Illusions perdues, u.a. S. 422.
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W IRKLICHKEITSENTZUG DES H ASARD I: S PIELENTSCHEIDUNGEN Glücksspiele stellen in Balzacs Paris der Restaurationszeit Miniaturen für die Kondition jener aggressiven Märkte und Börsen nicht nur hinsichtlich geldwirtschaftlicher Interessen, sondern auch sozialer Spannungen bereit. Das Werk der tyche bzw. des sozialen Zufalls wiederholt sich für die Pariser Akteure im automaton des Hasardspiels und beherbergt einen gewichtigen Faktor auf der Ebene ihrer Begegnungen. Mit dem Glücksspiel wird auch ihre Eignung zur Partizipation an der eigentümlichen Kultur des Zufalls und des taktischen Manövrierens überprüft. Es erhält in dieser Sondersituation trotzdem seinen autonomen Gehalt aufrecht, den es als strikt umgrenztes Spiel erwirkt. Ähnliches gilt für die Darstellung des Spiels: Es verbindet sich mit Balzacs Programmatik von den zufälligen Ereignisüberkreuzungen und Ereignisfolgen, die das menschliche Drama verknüpfen, und stellt doch mit eigenem Wert nicht nur die inhaltliche, sondern auch die mit ihr per Gesetz verbundene strukturelle Sequentialität des Erzählens auf die Probe. Interessanterweise darf das Training mit dem Zufall nicht außer Kontrolle geraten. Es könnte sich rächen, denn geistige und körperliche Tranquilisierung durch Sexualität, Alkohol oder Spiel wird nur im Einklang mit den daran geknüpften materiellen Interessen toleriert, nicht aber als Praxis reiner und exzessiver jouissance, die ohne Anbindung an etwaige Geschäfte dekontextualisiert wäre. Lucien wird im letzten Akt seines Pariser Aufenthaltes, der von seinem opportunistischen Wechsel vom Lager der Liberalen zu den Royalisten erzählt, dementsprechend auch mit Gerüchten, die seine Spielleidenschaft involvieren, kompromittiert: „Vernou parla de la passion de Lucien pour le jeu, et signala d’avance l’Archer comme une œuvre anti-nationale où l’auteur prenait le parti des égorgeurs catholiques contre les victimes calvinistes.“55 Die Hemisphäre des Glücksspiels gehört zu den Grundfesten sozialer Kompatibilität und Geselligkeit. Lucien wird damit in einer elitären Runde konfrontiert, der er nach seinen ersten journalistischen Verdiensten beisitzen darf. Neben den Aspiranten des Zeitschriftengeschäfts sowie Vertreterinnen und Vertretern des Theaters, die im eigentlichen wie im metaphorischen Sinne als Prostituierte gekennzeichnet sind, gehört auch ein deutscher Minister zur Runde. Die hier inszenierte Begegnung mit einem Vertreter der Politik lässt den Status des Privaten überhaupt als fragwürdig erscheinen und bestimmt stattdessen das freizeitliche Agieren, sei es im Gespräch oder eben beim Spiel, als hinterrücks professionalisierten und in diesem Interieur 55 Ebd., S. 517. Die Angriffe auf Lucien sind Teil einer umfangreichen Vernichtungsstrategie und adressieren neben der habituellen Dimension seiner Spielsucht auch eine politische (und ästhetische) Attacke, indem der von Lucien verfasste Roman über L’Archer de Charles IX gegen die journalistische Inkarnation seines Autors interpretiert wird.
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deutlich politisierten Akt, während die eigentlichen Staatsgeschäfte allenfalls Marginalien bleiben und so auch als Potemkinsche Dörfer markiert sind. Die Entpolitisierung der Politik aktiviert die Signifikanz der informellen sozialen Zirkel einer bestimmten Pariser Kaste, welche in Soireen und Plaudereien unter dem Schleier der Muße ihre interne Politik verhandelt. Lucien macht sich dort eines schlechten Zuges schuldig, als er die Unkenntnis eines bestimmten Spiels eingestehen muss: „Lucien, à qui le diplomate proposa une carte pour jouer le whist, excita la plus grande surprise quand il avoua ne pas savoir le jeu.“56 Rastignac hilft dem Konkurrenten sogleich aus der Bredouille und verspricht private Nachhilfelektionen im Glücksspiel. Er dirigiert ihn damit als arrivierter Kenner der Szene in die Traufe, denn der Schüler übertrifft bald den Meister: „Lucien avait promptement appris le whist. Le jeu devint une passion chez lui. Coralie, pour éviter toute rivalité, loin de désapprouver Lucien, favorisait ses dissipations avec l’aveuglement particulier aux sentiments entiers, qui ne voient jamais que le présent, et qui sacrifient tout, même l’avenir, à la jouissance du moment.“57 Coralie, ihres Zeichens Schauspielerin, Dirne und Geliebte des Pariser Novizen, verdoppelt mit ihrer radikalen Gegenwartsverbundenheit die Existenz Luciens im Spiel. Dieses fahrlässige Leben charakterisiert in Form einer solchen Co-Abhängigkeit gleichermaßen das Glücksspiel als zukunftsignorantes, die Zeit fragmentierendes, auf kurze Fristen angelegtes Phänomen. Das Sein im Spiel isoliert sich gegen ein Äußeres der temps vécue, deren Gebote im Spiel entpflichtet sind. Freuds Statement, dass der „Gegensatz zu Spiel“ keinesfalls Ernst sei, „sondern – Wirklichkeit“58, tritt hier über das Abtauchen in alea auf den Plan. Der Bezug auf das Kinderspiel in Freuds Vortrag, welches gemäß Caillois’ Typologie als mimicry sich gerade vom anstrengungs-, geschick- und geduldbestimmten ludus des alea unterscheidet,59 kann hier als produktive Erweiterung des Glücksspiels mitgezählt werden. Es besteht nicht allein aus seinen Regeln, sondern in der Praxis auch aus einer Introspektion, dergestalt, dass es den Spieler genauso beansprucht wie die fantasiebetonte paidia. Die Disjunktion zwischen der intellektualisierten Berechnung (und darin Beherrschung) des Hasardspiels und der tagträumerischen Isolation des Spielers à la Freud erweitert die Topografie des Spielhauses bei Balzac. Caillois’ Definitionen, nach der es sich beim Spiel um eine von der Wirklichkeit abgetrennte sowie fiktive Betätigung handelte,60 steht für eine räumliche Funktion ein: Spielhallen werden zu Orten der fikti-
56 Ebd., S. 485. 57 Ebd., S. 489f. 58 Freud, Der Dichter und das Phantasieren, S. 171. 59 Vgl. Caillois, Les jeux et les hommes, S. 48ff. u. S. 56ff. 60 Vgl. ebd., S. 43. Vgl. hierfür auch das Kapitel 3 zur Poetologie des zufälligen Spiels dieser Arbeit.
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onalen Produktion. Das literarische Glücksspiel beginnt bei Lucien eine Praxis narkotischer Distraktion des Spielers zu werden, die einen Erfahrungsbereich der Realitätsflucht anbietet. Dieser Eskapismus kündigt die kommenden Katastrophen des äußeren Lebens an, die mit der Rivalitätsintuition zwischen Spiel und Coralie antizipiert werden. Das Whist wird wohlgemerkt nicht als Kompensation zur Libido, sondern als ihr Konkurrent gedacht. Die Geliebte reagiert eifersüchtig auf das Spiel, nicht, weil es ihr die sexuelle oder emotionale Aufmerksamkeit Luciens streitig macht, stattdessen aber das zeitliche Kontingent für die Affäre okkupiert und somit auch hier die zeitliche Bedeutung des Spielens miteinbezieht. Gewissermaßen kann Lucien aufgrund des Spiels nicht mehr Coralie seine ganze Zeit geben. Grund genug, auf Derridas Donner le temps zurückzukommen. Das Initialzitat, mit dem Derrida dort seine Theorie der Gabe als Unmögliches in Bewegung bringt und die bereits verstreute und versteckte Ökonomie des Gebens in einem ausführlichen close reading offenbart, findet sich in einem Brief Madame de Maintenons, Geliebte des Sonnenkönigs, an Madame Brinon: „Le roi prend tout mon temps ; je donne le reste à Saint-Cyr, à qui je voudrais le tout donner.“61 Offensichtlich möchte Madame de Maintenon mitteilen, wie stark sie vom König beansprucht wird, im Verhältnis zu den Kapazitäten, die bleiben, um sich ihrer „fondation“62 namens Saint-Cyr widmen zu können. Derridas Interpretation weist auf die Differenzen in dem Zitat hin, die in der Überreizung vorhandener Zeit bestehen: Die gesamte Zeit steht gewissermaßen restlos dem König zur Verfügung. Dennoch gibt es einen Rest.63 Erschwerend kommt hinzu, dass die gesamte Zeit nicht allein mit einem Vokabular aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu messen ist, sondern vielmehr all jenes beinhaltet, das von der gesamten Zeit inhaltlich umspannt wird – also alles. „Tout mon temps“ kürzt sich insofern auf „tout“ ab, nämlich die Gesamtheit dessen, was die Person, welche Zeit gibt, überhaupt imstande ist, zu geben. Nirgendwo ist weniger Platz für „le reste“. Der abschließende Relativsatz beherbergt zudem ein weiteres „tout“, das sich möglicherweise auf diesen unmöglichen Rest bezieht. Entweder das Ganze dieses Restes oder die Ganzheit ihrer Zeit möchte Madame de Maintenon so gern Saint-Cyr widmen, sprich: Zeit geben, die nicht zu geben ist. Zu geben ist vielmehr, „par métonymie, [...] les choses dont on le remplit, dont on remplit la forme du temps, le temps comme forme ; il s’agit alors des choses qu’on fait cependant, ou dont on dispose pendant ce temps“64. Der Rest der Zeit ist wieder nur Zeit, doch die 61 Zit. nach Derrida, Donner le temps, S. 11. Derrida selbst, aber auch seine verdienstvollen deutschen Übersetzer weisen auf die Unübersetzbarkeit dieser Zeilen hin – insbesondere aufgrund des vieldeutigen „le tout“. Vgl. Derrida, Falschgeld, S. 13. 62 Derrida, Donner le temps, S. 14. 63 „Et pourtant, il faut souligner ce paradoxe, bien que le roi lui prenne tout son temps, il semble lui en rester, comme si elle pouvait en rendre la monnaie“. Ebd., S. 13. 64 Ebd., S. 14.
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Dinge darin, für die die Zeit metonymisch einsteht, können einen uneinlösbaren Rest übriglassen, der unerledigt bleiben muss, ein von der Zeit separiertes Übriges. Auch Balzac formuliert ein solches Paradoxon, das die Zeit des Glücksspiels anregend offenbart. Im Zuge von Luciens Einbindung in die neuen Zirkel seiner Aufmerksamkeit treten bereits genannte Schwankungen zwischen dem irrealen Glücksspielraum und den Liebesdiensten Coralies auf. Es heißt in frappierender Ähnlichkeit zu Madame de Maintenons Äußerung: „[L]es déjeuners, les dîners, les parties de plaisir, les soirées du monde, le jeu prenaient tout son temps, et Coralie dévorait le reste.“65 Ein bemerkenswerter Rollentausch der Geschlechter: Nicht die Liebhaberin, sondern der Liebhaber hat Schwierigkeiten mit seiner Zeit, die nicht durch die verantwortungsvolle Aufgabe der Stiftungsarbeit aus den Fugen gerät, sondern durch die verschwenderische Zerstörung von Dingen in der Zeit. Die produktive Arbeit ist durch den Glamour und das Who-is-Who von Déjeuners und Abendgesellschaften von morgens bis nachts permanent in der Zeit verschoben; daneben findet die Aufzehrung im Glücksspiel statt: daneben, weil es unklar bleibt, wann es eigentlich genau stattfindet, um Lucien seine Zeit unmöglicherweise zu nehmen: Es nimmt Lucien all seine Zeit, also alles andere, was hier die Zeit gültig werden ließe, bis nur der unmögliche Rest von Coralie begierig verschlungen („dévorait“) wird. Coralies hastiger, erotischer Bissen von Luciens Zeit verleiht dem Begehren nach einer eigenen Zeit Ausdruck, die der Zeit eines Anderen gewidmet ist. Das Glücksspiel erhält im Angesicht dessen die Rahmung der eigenen Zeit, die nämlich nicht mit anderen geteilt wird, sondern nur mit den Selbsttilgungen des Spiels, den ökonomischen Annullierungen der Gabe, von denen Derrida gesprochen hat. Hinter dieser eigenen Zeit für das Spiel, ohneeinander, verbirgt sich sogleich die eigene Zeit des Spiels, die sich von der anderen Zeit, in der den Dingen Bedeutung in der Realität zukommt, die sich also selbst genommen werden sollte, diametral unterscheidet. Luciens Spiel unterliegt durch die zeitliche, psychologische sowie Alltag und Geschäfte ausschließende Abgrenzung einem Separatismus von anderen Momenten seiner realgültigen Aufmerksamkeit, denen er Zeit schenken könnte. Das Spiel hingegen stiehlt ihm die Zeit. Diese gegenläufige Transaktion findet strukturell in der fiktiven Betätigung beim Spielen auch ein die Fiktionalität des Textes betreffendes Surrogat. Die erzählte Zeit des Spielers zeugt von einer eigenen Zeit in den rauschhaften Fiktionen des Realitätsverlustes. Zur Metamorphose des Dichters heißt es an einer Stelle: „Lucien vit pendant un mois son temps pris par des soupers, des dîners, des déjeuners, des soirées, et fut entraîné par un courant invincible dans un tourbillon de plaisirs et de travaux faciles. Il ne calcula plus. La puissance du calcul au milieu des complications de la vie est le sceau de grandes volontés que les poètes, les gens faibles ou purement spirituels ne contrefont jamais.“66 Die eingetretene Dyskalkulie 65 Balzac, Illusions perdues, 490f. 66 Ebd., S. 478.
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wird mit der poetischen Kreativität in Verbindung gebracht. Das Echte des Lebens ist auf eine Weise zur unbelastbaren Fiktion geronnen, die Balzac einmal in einem Brief an Mme Hanska als natürliche Rezeptur des Schriftstellers kennzeichnet: „Quand nuit et jour, mes forces et mes facultés sont tendues à composer, à écrire, à rendre, à peindre, à me souvenir, quand je suis à parcourir d’une aile lente et pénible, souvent blessée, les campagnes morales de la création littéraire, comment puis-je être sur le terrain des matérialités?“67 Der literarische Geist öffnet ein asymmetrisches Reich zum „terrain des matérialités“, dessen Illustration in den Illusions nur weniger parfümiert ausfällt als in diesen Äußerungen Balzacs, stattdessen dort die Welt der verlorenen Illusionen als rauschhaften Gegenentwurf zur eigenen materiellen Situation aufzählt. Einerseits liefert das Spiel Anhaltspunkte zur psychologischen Einordnung Luciens. Die habituelle Dimension der Figur bildet darüber hinaus jedoch ein Relais mit den urbanen Verhältnissen der Pariser Sozialstruktur sowie mit dem textuellen Arrangement des Romans. Hierzu liefern unterschiedliche Spielkulturen Distinktionsparameter. War Lousteau noch in Bezug auf Lucien eine, wenn auch nicht doppelgängerische, zumindest vorausgehende und orakelnde Figur, die den Provinzler einen Blick in die eigene, sodann in exponentieller Geschwindigkeit eingeholte Zukunft werfen ließ, so figuriert Rastignac, ebenfalls Emigrant der Provinzstadt Angoulême, einen – gerade im Hinblick auf das Glücksspiel – diametralen Kontrast. Im Père Goriot, einige Jahre vor den Ereignissen um Lucien angesiedelt, bezeugen wir Rastignacs ersten Gang ins Casino. Delphine de Nucingen, Tochter der Titelgestalt und zweckmäßig in wohlhabender Ehe verheiratet, dort aber ohne ausreichendes Auskommen ausgestattet, benötigt eine gewisse Summe, um diverse Schulden zu bedienen und eine entsprechende Konfrontation mit dem Ehemann zu vermeiden. Sie bittet den Pariser Neuankömmling um Hilfe: „—Êtes-vous allé quelquefois au jeu ? ditelle d’une voix tremblante. –Jamais. –Ah ! je respire. Vous aurez du bonheur.“68 Dieses im französischen Vokabular vorhandene Synonym des individuellen Lebensglücks („bonheur“) zu „fortune“ und „chance“ kulminiert in einer abergläubigen Auffassung, einen Erfolg im Spiel durch die Nicht-Erfahrung produzieren zu können – techne und Kalkulation sind eine Illusion des Spielers. Und doch hat eine Aussage wie diese einen rationalen Hintergrund, dass nämlich der neue Spieler noch vor den Fallen des Verlustes im Rausch gefeit ist. Die Schickung erfüllt sich, denn tatsächlich verläuft die Defloration Rastignacs an einem der Roulettetische des Palais-Royal erfolgreich. Das Spiel gelingt nicht allein, wie Delphine antizipiert, weil aufgrund der Naivität und Unkenntnis Rastignacs ein Anfängererfolg der glücklichen, da unbewussten Intuition zu erhoffen ist, sondern weil es als fremdes Spiel stattfindet, das nicht in eigenem Interesse bedient wird. Die Intuition sowie die Disziplin Rastignacs 67 Balzac, Lettres à Madame Hanska I, S. 573. 68 Balzac, Père Goriot, S. 170
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entspringen hier einer kategorischen Distanz diesem Spiel gegenüber, das zwar die Inbeschlagnahme durch dieses nicht eliminiert, wohl aber seinen fatalen (das Fatum des Spielers provozierenden) Reiz drosselt.69 Ein derartig fremdgebundener Spielanlass kontrastiert den zunächst selbstbezüglichen, schnell aber selbstgenügsamen Charakter von Luciens Partien. Die unterschiedlichen Praktiken des Spiels bei Rastignac und Lucien sind in diesem Sinne durch den jeweiligen Kontext angelegt. Luciens initiales Spiel motiviert sich über den charakteristischen Adaptionsdrang der Figur. Es wird zunächst zur Optimierung der eigenen Kompetenzen im sozialen Kampf betrieben, mutiert aber unmittelbar zur obsessiven Beschäftigung ohne äußeren Hintergrund und ist somit als autoreferentieller Akt markiert. Zwar wird auch hier die finanzielle Kalkulation der Einsätze, des Gewinns und der Verluste leidenschaftsfrei gehalten, jedoch auf die Annahme verlagert, dass der Spieleinsatz in lediglich numerischer Form, zur Aktivierung und Beibehaltung der ludischen, nicht der monetären Potenz, zu begutachten sei. Das Spiel motiviert sich selbst und es rekurriert und referiert sodann lediglich auf den Akt des Spielens, nicht auf dessen äußeren Zweck. Rastignac spielt hingegen in absentia für Delphine de Nucingen, zunächst und für die Dauer des Spiels – aber auch nicht länger –, ohne zu wissen, wofür die Freundin und spätere Geliebte den präzise festgelegten Betrag von sechstausend Francs benötigt. Selbst wenn die Bereitschaft Rastignacs für diesen Handel durchaus seinen eigenen Interessen bezüglich der Spekulantengattin und ihrer Familie zugutekommt, bleibt sein Erfolg dahingehend unabhängig vom Erfolg im Spiel, zumal die hundert Francs Einsatz ebenfalls von Mme de Nucingen stammen. Das Spiel mit fremdem Geld untermauert den externen Zweck, wodurch Rastignac nicht dem verführerischen Abgrund des eigenen Ruins begegnet. Ganz im Gegenteil. Über die Intimität des Geheimnisses zwischen den beiden steht er als Gewinner des Geschäfts bereits fest: „—Je veux bien que le diable m’emporte si je comprends quelque chose à ce que je vais faire, mais je vais vous obéir, dit-il avec une joie causée par cette pensée : ,Elle se compromet avec moi, elle n’aura rien à me refuser‘.“70 Das Spiel tritt nicht aus sich heraus in die Wirkung,
69 Huizinga und Caillois betonen das unproduktive Moment des Spiels, wobei Glücksspiele, insbesondere in derartigen literarischen Schilderungen, einen Sonderfall darstellen, da auch deren Spiel um Geld als unproduktiv gewertet werden kann, wenn es nämlich nur als Spielbedingung, aber nicht als primärer Erwerbsmoment vorgesehen ist. Das Spiel mit fremdem Geld unterminiert diese Regel, ist aber nicht als Indiz für eine etwaige produktive Tätigkeit ausgewiesen. Vgl. Huizinga, Homo ludens, S. 22: An das Spiel sei „kein materielles Interesse geknüpft“, bzw. Caillois, Les jeux et les hommes, S. 43: Das Spiel sei eine unproduktive Betätigung („improductive“). 70 Balzac, Père Goriot, S. 171.
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sondern wird als Einschnitt in der Entwicklung der Beziehung beider Figuren situiert.71 Dieses für Rastignac nur sekundär relevante, dafür aber an die Choreografie der Personen und den Fortgang der fabula gekoppelte Spiel ist mit einigem erzählerischen Aufwand dargelegt. Einsätze werden detailliert beziffert („Eugène jette les cents francs sur le chiffre de son âge, vingt et un“), die Sekunden zwischen Wette und Ergebnis mitgezählt („Un cri d’étonnement part sans qu’il ait eu le temps de se reconnaître. Il avait gagné sans le savoir“), Dialoge am Roulettetisch wiedergegeben („,Retirez donc votre argent, luit dit le vieux monsieur, l’on ne gagne pas deux fois dans ce système-là‘“) und schließlich ein rational geordnetes Ende inszeniert, in dem eine statistische Illusion sowie eine historische Analogie vorkommen: „‚Vous avez sept mille deux cents francs à vous, lui dit à l’oreille le vieux monsieur. Si vous m’en croyez, vous vous en irez, la rouge a passé huit fois. Si vous êtes charitable, vous reconnaîtrez ce bon avis en soulageant la misère d’un ancien préfet de Napoléon qui se trouve dans le dernier besoin‘.“72 Der Betrag ist erreicht, mit dem Erfolg solle nicht weiter gespielt werden, zumal das Nicht-Wissen des Spielers vom Spiel, wie es im Rahmen eines Gewinns kurz eingeworfen wurde („Il avait gagné sans le savoir“), bereits aufzeigte, inwiefern die reine Wiederholung der Zeichen ohne deren Bedeutung interpretieren zu können, für die Teilnahme, ja den massiven Einsatz ausreicht. Zugleich ist dieser Erfolg eng an die eigene Person Rastignacs geknüpft, wenn der Gewinn nämlich mit seinem Geburtstag koinzidiert und ihn persönlich, seine Biografie als Akteur dieses Spiels dadurch privilegiert. Allein die fremdgebundene Interaktion des Spielens – der erwünschte Betrag ist bereits erreicht – weiß die Partie zu beenden. Die exemplarische Unterscheidung des fremden Spiels Rastignacs und des eigenen Spiels Luciens lenkt auf dieser Ebene den Blick in Richtung des einerseits vom Äußeren des Spiels beherrschten und andererseits aus dem Inneren des Spielens süchtigen Spielers. Sie gehören zu denjenigen Faktoren, die für die Zweckge- oder entbundenheit und damit das Verhältnis zur außerludischen Wirklichkeit des Spiels sensibilisieren. An diesem Innen-Außen-Verhältnis orientiert sich schließlich die poetische Einbettung der Spiele. Rastignacs fremdes Spiel findet an einem narrativen Alternativmoment der Erzählung statt. Es siedelt, mit Barthes gesprochen, an einer Kardinalfunktion73, deren konsequentielle Varianten in den Räumen des Palais-Royal ausgemessen werden.
71 Vgl. Bell, Circumstances, S. 167. 72 Balzac, Père Goriot, S. 171. 73 Vgl. Barthes’ Unterscheidung zwischen Kardinalfunktion („fonctions cardinales“) als konsequentielle und Katalysen („catalyses“) als nicht-konsequentielle distributionelle Einheiten der Handlung. Barthes, Introduction à l’analyse structurale des récits, S. 9ff.
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Die Konsequenzen seines Spielens sind zweifelsohne limitiert, insbesondere aufgrund der gedrosselten Konstellation, nach der es nicht um Alles oder Nichts bzw. Rettung oder Bankrott geht. Dennoch ist die weitere Beziehung zwischen Rastignac und Mme de Nucingen von dieser in bezeichnenden Anteilen apsychologischen, nämlich zufälligen Prozedur des Glücksspiels beeinflusst. Die Opposition zwischen Figurenpsychologie und Technik des Spielens, zwischen zeitlich bzw. kausal sukzessivem Fortgang außerhalb der Spielhäuser und temporaler Exklave in ihrem Inneren, in dem aufgrund der politischen, sozialen sowie psychologischen Abtrennung zur Außenwelt auch ein Sonderfall der Diegese in Form eines handlungslogischen Vakuums klafft, exponiert ein epistemologisch entscheidendes Moment des Narrativen. Das für das äußere Sein konsequentielle Spielen im Spielsalon konturiert als rein technische Interaktion auch den literarischen Ursache-Wirkungs-Komplex, der hier nicht einen intermittierenden éffet de réel erzeugt, sondern den Bauplan der Erzählung als vom Zufall abhängigen bloßstellt.74 Der Spieltisch liegt als mikroskopischer Produzent der folgenden Erzähleinheit – in diesem Fall ein bestimmt getaktetes Gespräch zwischen Rastignac und Delphine – offen da. Modalitäten des Alternativpunktes sind nicht Teil einer charakterpsychologisch oder ereignishierarchisch stimmigen Komposition, sondern über die Kontingenz des Ausgangs eines Glücksspiels legitimiert. Nicht nur das Spielergebnis ist somit ein Zufallsprodukt, sondern es visualisiert eine fundamentale narrative Kontingenz,75 indem es als erzähllogische Konzession für unterschiedlichste Resultate eintreten kann, ohne semantisch oder paradigmatisch mit diesen Resultaten verbunden zu sein. Dieser casus ex machina ist kein poetologischer Ausdruck universaler Konfliktlösung, sondern ein tatsächliches Requisit des Narrativs. Es befindet sich im Palais-Royal und wird von den Figuren bedient. „Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit“: Der psychologische und temporale Ausstieg der Figuren aus der Erzählung, wenn sie das Spielhaus betreten, ist auch ein Auftauchen aus der Fiktion, die am Rouletterad oder am Whisttisch per Einsatz und Betätigung der Geräte – Rad, Karte oder Würfel – neu arrangiert wird.
74 In seinem berühmten Essay weist Barthes u.a. auch auf die Tendenz von „le réel“ hin, „que son énoncuation n’a nul besoin d’être intégrée dans une structure“. Barthes, L’Éffet de réel, S. 88. In der Tat scheint das Zufallsspiel eine Besonderheit innerhalb dieser Funktionsbinarität zu sein: Der Zufall kann keine Funktionen übernehmen und dennoch sind gewichtige Entscheidungen für den Fortgang der Erzählung an ihn gekettet. 75 Vgl. hierzu u.a. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans; Müller, Der Zufall im Roman; Nef, Der Zufall in der Erzählkunst.
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W IRKLICHKEITSENTZUG DES H ASARD II: AUFSCHUB IM S PIEL Entscheidend für die Möglichkeit der narrativen Koordinierung durch das Spiel ist dessen Anbindungsgrad. Aus der ludischen Abgeschlossenheit heraus interagiert es mit der äußeren Wirklichkeit der Figuren und der Handlung. Das fremde und das eigene Spiel muss nicht allein anhand der fremden und eigenen Kontribution, Distribution und Motivation des Einsatzes differenziert werden, sondern auch mittels der Relation nach Draußen, dem Grad der Verbundenheit zum Sein und zur Sorge des Spielers bzw. seines Interaktionsumfeldes. Die Solidarität mit einem äußeren, vom reinen Prozess des Spielens abgekoppelten, aber dennoch abhängigen Zweck, stellt je nach Intensität eine Kommunikation zwischen subjektiver Aktualisierung des Zufalls im Casino und der Außenwelt her. Rastignacs Spiel um sechstausend Francs für Mme de Nucingen ist von daher nicht allein ein symbolischer Akt. Es fungiert auch als narrative Markierung der zeitlichen und semantischen Ordnung der Erzählung, indem es sowohl Zeitlichkeit als auch Semantik, aber auch handlungsbasierende Kontexte mit dem Akt des Spielens aussetzt und dafür die kontextlose Wiederholung in Form von Spielzügen, die zufällige Werte erzeugen, einwechselt.76 Im Gegensatz zum virtuos aufstrebenden Rastignac exemplifiziert Lousteau die Destabilisierung und Schwächung des Opportunisten. Seine exzessive Spielsucht enthüllt ihn bald als mediokre Figur, deren gesellschafts- und publikationspolitischer Einfluss versiegt, auch weil die benötigten Energien im Casino ruhiggestellt sind. Eine Parallele zu Lucien wird zunächst antizipiert und später realisiert. Lousteau warnt den Wahlverwandten: „Défie-toi du jeu. Si je ne jouais pas, je serais heureux.“77 Dieses Menetekel bezieht sich nicht nur auf den Impuls des Spielens, sondern warnt vielmehr noch vor der Gefahr der einhergehenden Verabschiedung jeglicher materiellen Redlichkeit, die in einer Reproduktionsspirale des Spielens aufgrund der Reproduktion von Schulden festgefahren ist: „Je dois à Dieu et au diable. J’ai dans ce moment-ci les Gardes du Commerce à mes trousses. Enfin je suis forcé, quand je vais au Palais-Royal, de doubler des caps dangereux.“78 Das kennzeichnende Wissen vom Problem, ja sogar seine realistische Einschätzung ist keine Lösungsoption. Der 76 Benjamin sammelte ein Zitat von Edmund Bergler, welches das Hasardspiel in diesem Sinne ausweist als „die einzige Gelegenheit, in welcher das Lustprinzip mit seiner Gedanken- und Wunschallmacht nicht aufgegeben werden muß, resp. das Realitätsprinzip gegenüber dem Lustprinzip keine Vorteile bietet“. Zit. nach Benjamin, Aufzeichnungen und Materialien, S. 636. Die Beobachtung Berglers zielt auf die Innen-Außen-Relation des Glücksspiels ab, als nur perspektivische Verschwendung nämlich, die in ihrem eigenen Zirkel wieder ungültig wird, gerade weil dort eine Opposition zum äußeren Gehalt kreiert wird. 77 Balzac, Illusions perdues, S. 500. 78 Ebd.
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helle Gegenentwurf zum Spiel besteht in Lousteaus Phantasma vom Glück, was eher einen Hang zum Extremen, eine bipolare Weltsicht demonstriert, als dass hieraus das Spiel ex negativo als Unglück qualifiziert werden müsste. Dem Spiel wird die Schuld für die Schulden des Spielers zugewiesen, das damit die Verantwortung für den Glücksentzug trägt. Beide Begriffe, Glück (im Sinne von „être heureux“, das sich wie bei Hoffmann auf die eudaimonia bezieht und qualitativ vom spielerischen Glück unterscheidet) und Unglück, sind als Komponenten einer eskapistischen Imagination aus dem Maschinenraum des Casinos verbannt. Lousteau bezieht sich auf das Widersinnige seines Verhaltens, gibt aber in seiner erkennenden Ausflucht eher ein arationales Moment seiner Spielsucht preis. Das Wissen vom ruinösen Spiel verbindet sich mit der mangelnden Freiheit, es aufzugeben, weil seine Praxis mehr und mehr als wissensferne, maschinelle Logik verstanden werden kann. Das Palais-Royal, in welches er nicht magisch oder psychologisch, stattdessen physikalisch, also magnetisch gezogen wird – „forcé“ lässt neben dem Zwang auch an die physikalische Kraft denken – und das als Ort der Spielapparate und Glücksmaschinen einen von Mathematik und Physik durchdrungenen Raum darstellt, konstituiert eine Sphäre, in der Vernunft weder getrotzt noch geleugnet, sondern überhaupt nicht verhandelt wird. Außerhalb dieser Welt schuldet Lousteau „Dieu“ und „diable“, doch in ihr sind beide als manipulationsfähige Eintreiber des Providentiellen und der mephistophelischen Paragrafen nicht vorhanden. Einem metaphysischen Schicksal, einer koordinierten Vernunft und einer individuellen Psychologie wird kein Einlass in diesen Ort der interesselosen Geräte gewährt. So unterliegt trotz der Warnung auch Lucien diesem spezifischen Kraftfeld. Selbst wenn es von einem potentiellen Wissen von Wahrscheinlichkeit und von einer Ahnung vom Zufall epistemologisch durchdrungen ist, wirkt es unabhängig von den Stabilitäten der Verteilung oder den Quotienten aus Einsatz und Möglichkeiten des Einsatzes. Auf derartigen Funktionen des Verstehenwollens baut es vielmehr auf. Einen Akzent hinsichtlich dieser Eigenwertigkeit setzt Luciens selbstbezügliches Spiel. Die unmittelbare Kommunikationssituation mit Vorhergehendem und Nachfolgendem des Spielens ist zumindest graduell gestört. Der chronische, abwechslungslose Zustand wird hier auf narrativer Ebene aktiv, da die Erzählung neben den Weissagungen Lousteaus keine Konsequenzen der Spielerzüge ankündigt und so der Einfluss des je einzelnen Spiels auf konkrete Handlungseinheiten verschleiert ist. Luciens Spiele sind vorzugsweise Ellipsen. Die plötzlich geraffte Erzählung spricht allenfalls vom Spielen, tritt aber nicht mit dem Spiel über Zitate und Zwiegespräche in Dialog, wie es noch bei Rastignac zur Darstellung eines Spiels und einzelner Spielzüge geschah. Der Kontrast zu dessen zeitdeckenden Coups maximiert sich zuweilen in der Bündigkeit zweier ungeschmückt berichtender Kürzestsätze: „On joua. Lucien
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perdit tout son argent.“79 Beide Aussagen stellen Lucien und die Leserinnen und Leser ohne weitere Informationen über Dauer, Teilnehmer („on“) oder genauen Ablauf vor vollendete Tatsachen. Insbesondere die fatale Eigendynamik eines Prozesses, der in Leere endet, wird ausgespart. Etwaige Verhältnisse bei der narrativen Einbindung von Spielen zwischen Katalyse und Ellipse, und Kardinalfunktion und Evidenz werden immer wieder neu kombiniert. Tatsächlich lässt sich das Kürzestspiel Luciens als ein mehr oder weniger kontingentes Glied in den parallelen Ketten seines Lebenswegs lesen, das aber zur Charakterisierung dieses Weges, der notwendig mit dem Spiel verbunden ist, selbst wieder notwendig zu werden scheint. Balzac liefert eine prägnante Passage, die den Hybrid der Verfahren zur Inszenierung des Glücksspiels abschreitet, indem die Möglichkeiten der Bedeutung des Spiels auf kleinstem Raume versammelt sind. Diese Passage ist als Zäsur in Luciens Sturzflug positioniert – ihr folgt der verhängnisvolle Wechsel ins Lager der Royalisten – und doch nicht als alleiniger Urheber der resultierenden Katastrophen (Coralies Tod, der Bruch sowohl mit der literarischen als auch mit der journalistischen Elite in Paris, die wissentliche Verschuldung der Verwandten in Angoulême) und seines schmählichen Ostrazismus aus der Hauptstadt identifizierbar. Der Text präsentiert die nunmehr dioskurisch gewissermaßen an ihre gemeinsame Obsession geketteten Journalisten Lucien und Lousteau als toxisch in einer Situation Gefangene, welche von einer nachvollziehbaren Handlungslogik abgetrennt wirkt. Es liegt eine Interaktion zwischen Mensch und Maschine vor, die in der Magnetisierung und schließlich einer Assimilation des rationalen Wesens durch die technologische Realisierung des Zufalls am Spieltisch mündet: „Les deux amis renvoyèrent leur cabriolet et montèrent au jeu. D’abord ils gagnèrent trois mille francs, revinrent à cinq cents, regagnèrent trois mille sept cents franc; puis ils retombèrent à cent sous, se retrouvèrent à deux mille francs, et les risquèrent sur Pair, pour les doubler d’un seul coup; Pair n’avait pas passé depuis cinq coups, ils y pontèrent la somme. Impair sortit encore. Lucien et Lousteau dégringolèrent alors par l’escalier de ce pavillon célèbre, après avoir consumé deux heures en émotions dévorantes. Ils avaient gardé cent francs. Sur les marches du petit péristyle à deux colonnes qui soutenaient extérieurement une petite marquise en tôle que plus d’un œil a contemplée avec amour ou désespoir, Lousteau dit en voyant le regard enflammé de Lucien: ‚Ne mangeons que cinquante francs.‘ Les deux journalistes remontèrent. En une heure, ils arrivèrent à mille écus; ils mirent les mille écus sur Rouge qui avait passé cinq fois, en se fiant au hasard auquel ils devaient leur perte précédente. Noir sortit. Il était six heures. ‚Ne mangeons que vingt-cinq francs‘, dit Lucien. Cette nouvelle tentative dura peu, les vingtcinq franc furent perdus en dix coups. Lucien jeta rageusement ses derniers vingt-cinq francs sur le chiffre des son âge, et gagna: rien ne peut dépeindre le tremblement de sa main quand il 79 Ebd., S. 417.
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prit le râteau pour retirer les écus que le banquier jetait un à un. Il donna dix louis à Lousteau et lui dit: ‚Sauve-toi chez Véry!‘ Lousteau comprit Lucien et alla commander le dîner. Lucien, resté seul au jeu, porta ses trente louis sur Rouge et gagna. Enhardi par la voix secrète qu’entendent parfois les joueurs, il laissa le tout sur Rouge et gagna; son ventre devint alors un brasier! Malgré la voix, il reporta les cent vingt louis sur Noir et perdit. Il sentit alors en lui la sensation délicieuse qui succède, chez les joueurs, à leurs horribles agitations, quand, n’ayant plus rien à risquer, ils quittent le palais ardent où se passent leurs rêves fugaces. Il rejoignit Lousteau chez Véry où il se rua, selon l’expression de La Fontaine, en cuisine, et noya ses coucis dans le vin.“80
Die Stelle bezieht ihre Drastik zu großen Teilen aus der simplen Benennung von den Zeichen des Spiels, die aufgrund eines vorherigen, nicht bedeutenden Einsatzes bedeutend werden, sowie der Aufzählung verschiedener Beträge. Ein solcher Thermometerstil wird nur durch eine zeichenproduzierende Maschine möglich, wie sie im Glücksspiel um Geld vorliegt. Er ersetzt, ganz ökonomisch, dasjenige, was Balzac am meisten interessiert, nämlich die Darstellung von Wechselzuständen der Leidenschaften, durch die Übersetzung in Zahlen, in einfache Formeln und Signifikanten. Und er entkleidet die Mechanismen seiner eigenen elliptischen Dramatik, in der aus unbekannten Anlässen, zufällig, das Auf und Ab Luciens, Lousteaus, Châtelets, Mme de Bargetons, Rastignacs etc. eher benannt als gezeigt wird. Die oberflächliche Trivialität der Szene resultiert aus dieser Skelettierung eines Erzählstils, mit dem die Leserinnen und Leser den gesamten Roman über vertraut gemacht wurden. Balzacs poetischer Zugriff auf die menschlichen „drames“ und den menschlichen „combat“81 liegt in seiner signifikanten Logik der Abfolge verschiedener Werte einzelner Mitspieler seiner Texte in dieser Spielpassage offen zutage und wird fundamental mit dem Zufall begründet: Nicht nur, dass die Zufälle des „État Social“ zur strukturellen Gleichförmigkeit mit den maschinellen Zufällen des Glücksspiels getrieben sind – auch das Erzählverfahren zur Erzeugung und Erfassung dieser Sachverhalte erscheint im Angesicht dieser Zufallsstruktur als Operation des Willkürlichen. Kurzum: Diese Variante Balzacs, vom Glücksspiel zu erzählen, erzählt insbesondere davon, wie das Glücksspiel überhaupt vom Erzählen Zeugnis ablegt – den Verfahren und Abläufen der Narration, dessen, was im Erzählen geschieht. Wir sehen eine Kurve an einzelnen Werten, die einer zufälligen Festlegung entspringen, und deren Verlauf in ihrer Wechselhaftigkeit erst eine hyperbolische Dramatik aufweist, wenn er seinem unintelligiblen, nichtbedeutenden Organisator des Zufalls aus den Händen gerissen und in einen begründbaren, zu deutenden materiellen Gegenwert in der Realität gestellt wird.
80 Ebd., S. 510f. 81 Balzac, Avant-propos, S. 9.
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Von Luciens und Lousteaus Seite aus ist diese Realität außerhalb des Spielhauses lokalisiert. Zur eigenen Verortung zwischen Palais und Draußen nehmen beide ein pathologisches Verhältnis ein. Die topografische Situierung unterstreicht die Indifferenz zwischen äußerer und innerer sowie konsekutiver und konsequentieller Bedeutung des Spiels. Beide Akteure bleiben immer wieder auf der Treppe des Casinos stehen, wo sie also auf der Schwelle zwischen der autoreferentiellen Sphäre des Hauses und dem befreienden Draußen vegetieren, in das sich Lousteau nach Luciens Anweisung retten soll. Dieser Unentschiedenheit steht die besondere temporale Verfasstheit der Sequenz bei, die im stotternden Wechsel von exzessiven Zeitraffungen und Ellipsen die bipolare Störung und die spontanen Stimmungsschwankungen der Figuren substantialisiert. Die Auslassungen kontrastieren die gewöhnlich in epischer Breite wiedergegebenen Dialoge und Illustrationen einzelner Szenen, deren Konfliktpotenzial erst in den anknüpfenden Meditationen der Erzählinstanz und ihren Explikationen behauptet wird, wie um Verständnis dafür zu erzeugen, dass überhaupt Konflikte vorliegen. Diese Spielkonstellation präsentiert eine der selteneren Passagen, in denen sich diese Instanz zurücknimmt und allein über die Darstellung dessen, was passiert – selbstverständlich inklusive der konzentrierenden Auswahl relevanter Begebenheiten, die erst zu der einhergehenden Zeitraffung führen –, die dramatische Zuspitzung erreicht. Dahingehend scheinen die Relationen zwischen automaton – dem technischen Verfahren des Spiels – und zoe bzw. nous, Körper und Geist der Hasardeure, bemerkenswert. Die Zufallsapparate des Casinos greifen auf ihre Motorik zu, die Hände fangen zu zittern an, können sich aber den Maschinen nicht entziehen. Ihre Handlungsfreiheit ist perdu: Das Verhältnis zum Spiel ist in den immer wieder abgebrochenen Fluchtversuchen nicht länger dem eigenen Willen unterworfen. Schließlich verweist der Prozess des emotionslosen Tausches von Geldwerten, im permanenten Wechsel von Gewinnen und Verlusten bis zum schlagenden Bankrott, auf die Präsenz ökonomischer Signifikanten bei gleichzeitiger Referenzlosigkeit der monetären Einheiten und ihrer Transaktion – zumindest, solange die Figuren sich nicht vom Casino lösen können. Diese Kontingenz kann bis zur Austauschbarkeit von Rezession und Konjunktur extrapoliert werden, da Gewinn und Verlust nunmehr bloße Zahlen sind, die erst wieder Bedeutung erlangen, sobald die Taschen leer sind, der mögliche Einsatz auf null steht und das Spiel zwangsläufig beendet ist. Das Spiel als Metapher wie auch Explanans für Aktivitäten der Börse, die in Homologie zu literarischen Verfahren und Lektüren gestellt werden, ist durch seinen Zeitbezug hier verschoben. Spiel und Börse unterscheiden sich betreffs eines gewichtigen Details: Der Spekulant setzt auf die Kontingenz der Zukunft, während der Spieler zwar auch einen noch nicht eingetretenen Zufall provoziert, dieser jedoch im Ka-
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russell der Wiederholungen die Zeiten ununterscheidbar macht. Die Geschichtlichkeit der Börse hält das historische Déplacement, die Geschichtslosigkeit82 des Glücksspiels, auf wichtiger Distanz. Dieses erzählt dennoch eine Geschichte aus dieser Geschichtslosigkeit heraus. Die gesamte Szene ist eine Skizze einzelner Veränderungen eines Betrages, in denen die essentiellen Lotmanschen Transgressionen schlicht und in Fülle benannt werden, dies aber unter Verzicht auf sprachliche Ausformungen bzw. Elokution.83 Aufgrund dieser nominellen Drängung der Ereignisse auf dichtestem Raum, erhält die Szene ihren schwindeligen und anspannenden Effekt, der von beiden Figuren in ihren hastigen Bewegungen zwischen Spielsaal und Freiheit imitiert wird. Auch aus dieser Perspektive liegt eine Erzählung über die Struktur des Erzählens vor, die in den quantifizierbaren Beobachtungen zweier Spieler formalisiert wird. Die Heraussockelung aus dem Metaplot, die Indifferenz der großen Geschichte gegenüber, ergibt sich aus der Indifferenz, die der Spieler seiner realen Zukunft gegenüber einnimmt. Eine solche Zukunft, für die eine funktionale Anerkennung des Erlebnisses essentiell wäre, ist dem Spieler vollkommen verlorengegangen.84 Die Abgrenzung des Spiels von einem entgegengesetzten Positiven ermöglicht die in formaler Reinform ermittelte Distanz zur sequentiellen Ordnung des Erzählten. Ihre Zeit und ihr Ort umspannen die narrative „Wirklichkeit“. Die spatiale und temporale Reserve des Spiels taucht nicht nur in den klassischen Spieltheorien oder den Fiktionstheorien vom Spiel immer wieder als Abgrenzungstheorem auf, sondern stellt gleichfalls Grundfragen der Erzählanalyse dar.85 Paul Ricœur hat eine Aktivität zwischen Aussage und Aussageakt – eine Differenz, die genuines Merkmal des Erzählens ist – mit dem Spielbegriff verbunden.86 Beide Sphären sind jeweils einem Zeitbegriff zugeordnet (erzählter Zeit und Erzählzeit), denen jedoch noch eine individuelle Zeit der Erzählung beigestellt werden muss, die „expérience ficitive du
82 Vgl. Simmel, Das Abenteuer, S. 42. 83 Für die Verbindung Balzacs mit Lotman, vgl. Warning, Chaos und Kosmos, S. 9-13. 84 Zur literarischen Spielmetapher für den Spekulanten, die auf einem Verhältnis zur Zukunft aufbaut, vgl. Schößler, Börsenfieber und Kaufrausch, S. 15. 85 Zu denken wäre freilich zunächst an Gérard Genettes temporale Erzählstruktur, die das Verhältnis zwischen sequentieller Logik und deren narrativer Entfaltung als „ordre“ tituliert. Vgl. Genette, Discours du récit, S. 77ff. Das Vermögen zur „anachronie“ ist als genuines Merkmal jenes Unterschiedes zwischen „histoire“ und „récit“ im Akt des Erzählens verankert. Neben seiner potentiellen Signifikanz für die Ordnung von Erzählsequenzen bedient das Glücksspiel unter seinen Gesichtspunkten der Wiederholung und mikroskopischen Darstellungstendenz etwa eines Würfelfalls auch die Fragen nach „fréquence“ und „durée“ und eignet sich somit überhaupt zur Bearbeitung von Fragen der „temps du récit“. 86 Vgl. Ricœur, Temps et récit II (1984), S. 92.
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temps“, die in Korrespondenz zur „monde du texte“, der Eigenwertigkeit des Diegetischen steht.87 Zwischen den voneinander unabhängigen binären Zeiterfahrungen der Erzählung ruht damit ein nichtquantifizierbares Verhältnis, das der Erzählung erst Bedeutung über ihre eigene, von ihr erstellte zeitliche Erfahrung verleiht. Die Zeiten des Glücksspiels werden mitsamt ihrer Verdichtungspotenz aller drei Zeiterfahrungen relevant. Die objektive, quantifizierbare Zeit des Glücksspiels wird in der rauschartig, nur durch Reflexe auf aneinandergereihte Runden erfahrbaren subjektiven Zeit des Spielers ausgeblendet, erzeugt aber so wiederum ein eigenes Verhältnis der je für sich bestehenden Zeiträume. Diese sind in ihrer narrativen Darstellung an gewisse Gebote der Erzählzeit und erzählten Zeit gebunden, elliptische Sprünge in die Zeitraffung, oder asymptotische Zooms in Zeitdeckungen und -dehnungen. Innerhalb dieser Darstellung wird die von Ricœur beschriebene expérience ficitive du temps gemäß des Prinzips eines metanarrativen Hasard ihrerseits dargestellt: Die literarische „création temporelle“ findet sich in der Repräsentation einer expérience ficitive du temps durch das Glücksspiel wieder, auch weil ihr Modus überhaupt das Spiel ist: „C’est cette création temporelle qui est l’enjeu de la structuration du temps, qui luimême se joue entre temps mis à raconter et temps raconté.“88 Ein solches narratologisches Spiel der Zeiten wird im diegetischen Glücksspiel mit den Zeiten angefertigt. Die temporalen Modi entfalten sich aufgrund des Darstellungsproblems mechanischer und darin in der Zeit verankerter Glücksspielabläufe, die von Maschinen des Zufalls hervorgebracht werden und deren Eindringen in die Psyche des Spielers eine zeitliche Verwirrung erzwingt. Sie kann sodann wieder historisch gedeutet werden, denn die Selbsterfahrung der Zeitlichkeit des Subjekts89 in der Neuzeit und Moderne resultiert mit dem Glücksspiel, als Wiederholungsmaschine des immer selben zeitlichen Ausschnitts, geradezu in einem modernen Versuch, den Chronos zumindest kurz anzuhalten und stillzustellen.90 Zeit wird so zum 87 Ebd., S. 114. 88 Ebd., S. 120. 89 Zur subjektiven Zeiterfahrung im Erzählen seit Leibniz, vgl. Michel, Ordnungen der Kontingenz, S. 66. 90 Benjamin bietet an einer Stelle des Erzählers mit Lukács das Eingedenken des Romans als Sychronisationsverfahren von Zeit und Leben an, welches die sinnenthobene Wesen-ZeitTrennung der Gattung kompensiert. Vgl. Benjamin, Der Erzähler, S. 454f. Vgl. auch Lukács, Theorie des Romans, S. 109: „[D]ie ganz innere Handlung des Romans ist nichts als ein Kampf gegen die Macht der Zeit.“ Lukács führt dies im Gegensatz zur Epopöe an, die das Leben über die Zeit stellt. Ebd., S. 108f. Er beobachtet einen Grundzug der Verhandlung von transzendentaler Heimatlosigkeit als Kampf gegen die ständige Gegenwärtigkeit von Zeit (und darin Endlichkeit). Die Zeitaussetzung durch den Wiederholungsmechanismus im Spiel, wie auch in der temporalen Finesse der Darstellung des Glücksspiels, bildet diese Suche nach der verlorenen Überzeitlichkeit mit ab.
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Anliegen des narrativen Hasard als temporalem Akt und seiner Darstellung von narrativen Arrangements. Luciens Spiel gegen die Wirklichkeit findet als Auseinandersetzung mit seiner eigenen Wirklichkeit, seinem bios statt, und demonstriert zugleich, was seine Geschichte überhaupt als Roman des Hasard ausmacht. In dem Maße, in dem dieser Zugang als Transparenz einer allgemeinen Logik des Erzählens verstanden werden kann, ist der Roman um Lucien in der großen Stadt als erzählendes Angebot dessen zu interpretieren, wie eine Narration des Romans überhaupt aussehen könnte. Luciens Geschichte ist (nochmals in Lotmans Theoriesprache) nichts als eine Ansammlung an Grenzüberschreitungen, die in seiner Spielszene auf den kleinsten darstellerischen Nenner gebracht ist. Diese metaleptische Situierung seines Spiels soll mit einer ausklingenden Illustration bzw. Parallelkarriere abgeschlossen werden, nämlich mit der Wirklichkeitserzeugung, die Lucien als Journalist betreibt.
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Luciens Inkarnation als Hasardeur verdeutlicht, inwiefern seine Adaptionsfähigkeiten über das Ziel hinausschießen. Er ist den Regeln des Zufalls so überspitzt anheimgefallen, dass eine fantastische Kontrolle über den Hasard von der Kontrolle durch den Hasard überboten wird. Dabei fing dieser Weg in die Adaption des Zufalls recht anständig an. Bereits wenige Momente nach seinem ersten Niedergang in Paris entdeckt er prophetisch die Gesetze der Kleidung, die sein Talent bei weitem übertreffen. Nach einem Besuch bei einem deutschen Schneider in seinem Hotel dämmert ihm diejenige Einsicht, die ihn schließlich über seinen Idealismus hinwegtrösten wird. Die Erkenntnis, dass die Bekleidung seine in Paris vergangene und verwelkte Wirkung aus Angoulême restituiert, mündet in einer Reflexion auf die Gesetzmäßigkeit seiner neuen Umgebung: „Il se dit vaguement que Paris était la capitale du hasard, et il crut au hasard pour un moment.“91 Zunächst bleibt diese Einsicht „vaguement“, eine Ahnung eher als eine Feststellung. Sodann wird das fragmentarische Aufblitzen einer Hingabe an den Zufall und das Spiel als Struktur der Hauptstadt mit seinem Opponenten, dem Glauben, verschlungen. Einerseits bleibt in dieser Variante des derridaschen „believe in chance“ der Zufall als augenblickhafte, unvollständige Chiffre der urbanen Exploration, mithin der Arbeit in der Stadt bestehen. Andererseits erlaubt seine metaphysische Konnotation, den psychologischen Sprung Luciens fassbar zu machen. Der zaudernd begierige Übergang von der Naivität zum Hasard, der später im Roman durch eine berufliche Neuorientierung Luciens vom Romancier
91 Balzac, Illusions perdues, S. 289.
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und Dichter zum Journalisten seine strategisch-habituell, schriftstellerisch-gattungstheoretisch und publikationspolitisch stärker konzentrierte Entsprechung findet, bestimmt die einsetzende Abnabelung von den Provinzgewohnheiten.92 Die einschlägigen Überschreitungen kippen über den professionellen Sektor. Rang und Name des Dichters und besonders des Journalisten, so lernen wir im Laufe des Romans, beruhen beim Einlass in die entsprechenden Kreise noch auf einer gewissen stilistischen Redlichkeit, der Status ihrer Produkte aber ist schließlich von einer ästhetischen oder epistemologischen Qualitätsabsicherung ebenso losgelöst, wie Gewinn und Verlust im Spiel als von Erkenntnis und Interesse des Spielers unabhängig zu gelten haben. Die Publikationssphäre entpuppt sich vielmehr als virtuoser Orchesterraum der sozialen Klaviatur, indem sie erstens eine nepotistisch paktierende Reihe von Verlegern, Rezensenten und Schriftstellern auf kleinstem Raume zur gegenseitigen Unterstützung oder Flankierung vereint, und in dieser Praxis zweitens über Ereignisse der literarischen Veröffentlichungen weniger berichtet, als diese erschafft, provoziert und gezielt steuert.93 Der ökonomische Gegenwert der Kunst misst sich an diesem Vetorecht zwischenmenschlicher Interaktionen. Luciens historischer Roman, ein hoffnungsvoll in der Schublade wartendes und in Manier Walter Scotts verfasstes Werk, das offenbar nicht nur thematisch in der historischen Vergangenheit angesiedelt ist, sondern auch auf Luciens alte Welt in Angoulême sowie verfallende Schreibtechniken verweist, ist unmittelbar vor seiner Journalismuslaufbahn als Gegenstand der biografischen Ver-
92 Es handelt sich bei Luciens Vorgehensweise einerseits um eine Manier der Anpassung, die mit Recht über ein Begehren zur Mimesis im postromantischen Paris beschreibbar wäre; es wurde jedoch auch gezeigt, inwiefern die literarische Funktionalität von Luciens Adaptionsprogramm noch weiter nuanciert werden könnte und sollte, etwa hinsichtlich seiner theatralen sprachlichen Eigenwertigkeit. Vgl. Mörte Alling, Le désir mimétique dans Illusions perdues de Balzac, insbes. S. 31. Das entsprechende Vorverständnis, bei der Imitation handele es sich um ein Begehren um Imitation, wie es Mörte Alling anhand von René Girards Modell des „triangular desire“ rekonstruiert, könnte bereits durch die Verfeinerung mit Hilfe des Adaptionsbegriffs präzisiert werden: Die Imitation ist eine Technik der Anpassung in der Kampfzone Paris, die so in ihrer Zwischenwelt von Sein und Schein in Balzacs Beschreibung der Großstadt unterschiedliche Verbindungen eingeht. 93 Ein schöner Kommentar, der sich mit den Teichoskopien des Feuilletons bei Balzac beschäftigt, sein „eingelassene[s] Feuilleton“ sogar zum Anlass nimmt, von einem „exemplarische[n] Programm der Moderne“ zu reden, findet sich bei: Adorno, Rede über ein imaginäres Feuilleton, S. 362.
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bundenheit ausgewiesen: „N’avait-il pas un volume de poésies et un magnifique roman, L’Archer de Charles IX, en manuscrit ? il espéra dans sa destinée.“94 Die Bindung des eigenen Schicksals an dasjenige des Buches steht unter dem Zeichen ästhetischer Notwendigkeit: Das Schöne wird das Leben zum Guten wenden. Bevor sich das mangelnde strategische Gespür hinter dieser Hoffnung niederschlägt, schiebt sich d’Arthez’ Enthusiasmus der Eigenwertigkeit des genialen, aber auch asketischen Dichters dazwischen: „Vous avez des vêtements, vous n’avez ni femme ni enfants, vous avez pour cent vingt francs de hasard dans votre poche, et vous ne devez rien à personne.“95 Die Möglichkeit, nur in Eigenverantwortung und so in Freiheit zu schaffen, wie darin auch die Freiheit der Kunst zu garantieren, verkörpert ein bohemistisches Existenzbild, aus dem in Unabhängigkeit von kulturindustriellen und weiteren materiellen Parametern das unkorrumpierte und darin kompromisslose Werk hervorgeht. Die Wendung des produktiven Minimums von „cent vingt francs de hasard“ wird vom fleißigen d’Arthez zu derjenigen persönlichen Einschränkung verformt, in der sich erst ein artistischer Möglichkeitsfächer ausbreiten kann. Ganz anders der professionelle Literaturbetrieb. Dieser fokussiert die gewerbliche Einbindung der Distribution und kerkert den ästhetischen Gehalt des literarischen Textes im Ensemble der verlorengegebenen Illusionen ein. Dauriat, ein geschäftstüchtiger Verleger, erlegt den poetischen Enthusiasmus mit wenigen Worten sowie einem „regard assassin sur le beau Lucien“: „Moi, je ne m’amuse pas à publier un livre“, schimpft Dauriat, „à risquer deux mille francs pour en gagner deux mille ; je fais des spéculations en littérature : je publie quarante volumes à dix mille exemplaires.“96 Die Zahlen stapeln sich als quantifizierte Zweckentfremdungen erzählter Geschichten zur schwindelerregenden Astronomie der Massenware. Die Spekulation schluckt den Inhalt. Neben d’Arthez als integerer Dichterfigur und Dauriat als Akteur des frivolen Kunstmanagements eröffnet sich mit Lousteaus Eintrittsbillet in den Journalismus schließlich ein weiterer Bereich, der einerseits auf die stilistische Sicherheit des Poeten setzt, darin aber andererseits in erster Instanz die Vermittlung zwischen Literatur, Verlag und Publikum steuert. Die Kabale der Zeitungen und Zeitschriften formulieren letztlich nichts anderes als wahlweise positive oder negative Reklame, deren Aufmerksamkeitsgenerierung immer in Differenz zu den vorliegenden Werken steht. Vom Literaten tritt Lucien zu diesem metaliterarischen Diskurs über: Allein die Personalunion beider Sphären trägt schon den Makel der Vetternwirtschaft. Mit der neugewonnenen Macht glückt ihm nicht nur ein Teilerfolg gegen die aristokratischen 94 Balzac, Illusions perdues, S. 289. Auch die vom deutschen Schneider geschickten Gläubiger mit den Rechnungen für den neuen Rock und die mondänen Schuhe muss er bezahlen, noch immer „sous le charme des coutumes de province“ stehend. Ebd., S. 289. 95 Ebd., S. 310. 96 Ebd., S. 367.
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Widersacher um Châtelet und Mme de Bargeton,97 er mischt sich auch in die inzestuöse Gemeinschaft um Verlagswesen, Dichtung und Politik auf eine Art und Weise ein, die ihn für die entsprechenden Mitspieler endlich so wertvoll werden lässt, wie es seine literarischen Schriften allein nicht geschafft haben. Lucien verfasst auf Anweisung eine beißende Glosse zum Nachteil einer Neuerscheinung des Schriftstellers und Journalisten Raoul Nathan, und lernt, dass das eigentliche Ziel der Verunglimpfung dessen Verleger ist – Dauriat. Dieser soll nämlich den Einfluss des vormals geschmähten Lucien erkennen, um endlich seinen Gedichtband anzunehmen und zu veröffentlichen. Ein geheimer Plan, der unter Bedingungen reift, die Lucien noch zu erlernen hat. Denn die Voraussetzung für dieses Machtverhältnis ist eine pessimistische Poetologie, in der ein Wissen über die Deutungsoffenheit des Textes zweckentfremdet wird: „— Tu pensais donc ce que tu as écrit ? dit Hector à Lucien. — Oui. — Ah ! mon petit, dit Blondet, je te croyais plus fort ! Non, ma parole d’honneur, en regardant ton front, je te douais d’une omnipotence semblable à celle des grands esprits, tous assez puissamment constitués pour pouvoir considérer toute chose dans sa double forme. Mon petit, en littérature, chaque idée a son envers et son endroit ; et personne ne peut prendre sur lui d’affirmer quel est l’envers. Tout est bilatéral dans le domaine de la pensée. Les idées sont binaires. Janus est le mythe de la critique et le symbole du génie. Il n’y a que Dieu de triangulaire ! […] Rousseau, dans la Nouvelle-Héloïse, a écrit une lettre pour et une lettre contre le duel, oseraistu prendre sur toi de déterminer sa véritable opinion ? Qui de nous pourrait prononcer entre Clarisse et Lovelace, entre Hector et Achille ? Quel est le héros d’Homère ? quelle fut l’intention de Richardson ? La critique doit contempler les œuvres sous tous leurs aspects. Enfin nous sommes de grands rapporteurs.“98
Die Kritik macht sich eine hermeneutische Zirkularität und den damit verbundenen Aufschub literarischer Wahrheit qualitativ zunutze: Je nach Interesse kann auf der Grundlage derartiger Begründungsfülle vieler möglicher viabler Konstruktionen die finanziell einträgliche Textdiskussion in der Öffentlichkeit kontrolliert werden. Es ist gerade die Literatur, die in ihrer irritierenden Indifferenz und ihrer Funktion stetig erneuerter Deutungsbedürftigkeit erst einen Gegenstand bereitstellt, an dessen Natur die von Blondet geschilderte Willkürpolitik exerziert werden kann. Dass Blondet für
97 Es gelingt, beiden zwei Schimpfwörter als noms de plume in der vornehmen Welt anzuhängen, wie Lousteau zu berichten weiß: „Madame de Bargeton est décidément appelée l’os de Seiche dans le monde, et Châtelet n’est plus nommé que le baron Héron.“ Ebd., S. 447. 98 Ebd., S. 457.
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eine intentionslose, dialektische Literaturkritik einsteht, diese aber nicht kunstphilosophisch elaboriert, sondern ihrerseits als Agenda einer wahrheitslosen Wissenskreation proklamiert, setzt ihn als Chefideologen des klandestinen Mikromanagements seiner Profession ein. Die scharfe Waffe der Kritik hat mit dieser seiner Ausführung noch lange nicht ausgedient. Sie wird noch innerhalb der eigenen Stellvertreterkriege eingesetzt. Blondet erdichtet für Lucien, im Dienste des strategischen Theoriekonstrukts, einen Artikel, der seinerseits die Literaturkritik kritisieren soll. Es findet sich darin das parodistische Maximum der eigenen Tätigkeit, dessen materielle Basis von Vernou auf den Punkt gebracht wird: „Mais nous sommes des marchands de phrases, et nous vivons de notre commerce.“99 Lucien, so der Plan, soll entgegen jenes kürzlich publizierten Verrisses von Nathans Arbeit aus strategischen Gründen die frühere Meinung aufkündigen und in Lob umwandeln. Dauriat sei schließlich inzwischen genug geschadet und Nathan, der ebenfalls Journalist ist und Luciens anstehenden Gedichtband bedrohen könnte, darf der Allianz nicht verloren gehen. Wohlweislich haben die Kollegen Luciens Schmähungen nicht unter seinem Namen veröffentlich, sondern ein anonymes „C“ daruntergesetzt, das von nun an Luciens Alias für Vernous Journal, „qui est Gauche pure“100, sein soll. Unter einem anderen Kürzel muss Lucien jetzt eine Rehabilitierung Nathans veröffentlichen, die zugleich jenen ersten Artikel denunziert. „Mais que dire ?“101 fragt sich der Frischling zu Recht. Ihm und den Leserinnen und Lesern schwirrt schon der Kopf vor lauter Kürzeln, Buchstaben und Meinungen, mit denen in diesen Dialogen um sich geworfen wird. Blondet, der die gesamte Aktion kommandiert, weist darauf hin, dass der Leumund des Kritischen mit ebendenselben Instrumenten der ästhetischen Relativität gelenkt werden kann, wie sie auch bei der Literaturkritik zum Einsatz kommen. Neben dem Ästhetischen wird so auch die Theorie der Literatur zum beliebigen Gegenstand: „L’envie, qui s’attache à toutes les belles œuvres, comme le ver aux beaux et bons fruits, a essayé de mordre sur ce livre, diras-tu. Pour y trouver des défauts, la critique a été forcée d’inventer des théories à propos de ce livre, de distinguer deux littératures : celle qui se livre aux idées et celle qui s’adonne aux images. Là, mon petit, tu diras que le dernier degré de l’art littéraire est d’empreindre l’idée dans l’image.“102 Nathan, so die folgende Argumentation, 99
Ebd., S. 458.
100 Ebd., S. 457. 101 Ebd., S. 459. 102 Ebd. Balzac hat die Differenz zwischen Bild und Idee (deren Wiedervereinigung als Fluchtpunkt seines Stils gelten kann) bereits in einem Essay über Stendhals Chartreuse du Parme ausgeführt. Er spricht dort erstens von „l’Ecole des Images“, die eine Bannung der Dinge in die paradigmatischen Bilder des Erhabenen anstrebt, und zweitens von „l’école des Idées“, in der das syntagmatische Nacheinander der Ereignisse dominiert. Eine eklektizistische Verbindung beider Schulen findet nach eigener Aussage bei Balzac
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solle jetzt als Verteidiger des poetischen Bildes gegen die prosaische Idee gelobt werden. Damit aber nicht genug: In einem langen Monolog entwirft Blondet eine kleine Theorie des Romans, die Balzacs eigenes Programm wiederholt, in der heuchlerischen Gestik aber auch karikiert: „Notre jeune littérature procède par tableaux où se concentrent tous les genres, la comédie et le drame, les descriptions, les caractères, le dialogue, sertis par les nœuds brillants d’une intrigue intéressante. Le roman, qui veut le sentiment, le style et l’image, est la création moderne la plus immense.“103 Der Roman wird als modernes Amalgam der ausdifferenzierten literarischen Formen zur aktuellsten aller Gattungen. Bestechend ist das Bild zum Zusammenhalt der heterogensten Elemente: Ihre Verknotungen („nœuds“), die zugleich die Knotenpunkte der Grenzüberschreitung sind, indem sie die Ereignisse der Handlung („intrigue intéressante“) darstellen, waren genau diejenigen aufgezählten Momente, die in Luciens und Lousteaus Glücksspielrausch per Anzeige von Gewinn und Verlust als Zahlenwerte aufgeschrieben standen. Blondets eigener rascher Auswurf an vorgefertigten Einwürfen zur Erstellung einer konservativen poetischen Theorie erstickt in seinem Tempo beinah am eigenen Wort. Er erhält im bis zum Stichpunkt heruntergebrochenen Satz („Tirade contre Voltaire“104) eine sich überschlagende Dynamik, in der ebenso die verschiedensten Gesichtspunkte aneinandergereiht werden, um ihre Spannungen als Momente der Intrige und Dramatik zu offenbaren. Während dieses geschwinden Abspulens blickt auch das Programm Balzacs immer wieder hinter dem Vorhang hervor, am deutlichsten (und überaus selbstironisch) in der Anweisung: „Moque-toi des faiseurs de systèmes.“105 Die Aufspaltung der Runde in verschiedene literaturdiskursive Ansätze erinnert an die Salonfiktionen der Romantik, etwa an Hoffmanns Serapionszirkel, in dem sowohl hoffmanneske als auch anti-hoffmanneske Positionen bezogen werden. Bei Balzac wiederum vereinigt sich diese Verteilung der Theorie wieder, nur nicht in einer einzigen, sondern in allen Figuren, die in ihrem ästhetischen Utilitarismus wissen: Schön soll dasjenige sein, was ihnen gerade am meisten nützt. gerade in Abgrenzung zur traditionellen Literatur statt: „Quant à moi, je me range sous la bannière de l’Eclectisme littéraire par la raison que voici: Je ne crois pas la peinture de la société moderne possible par le procédé sévère de la littérature du dix-septiéme et du dix-huitiéme siècles. L’introduction de l’élément dramatique, de l’image, du tableau, de la description, du dialogue me paraît indispensable dans la littérature moderne.“ Balzac, Etudes sur M. Beyle, S. 274 u. S. 278. 103 Balzac, Illusions perdues, S. 459. 104 Ebd., S. 460. 105 Ebd. Zur wiederholten Einlassung auf Balzacs eigene romanpoetologischen Erwägungen in Blondets und anderer Äußerungen, vgl. Berthier, La critique littéraire dans ‚Illusions perdues‘, insbes. S. 78ff.
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Die Theorie der Literatur wird als kritischer Maßstab korrumpiert, indem sie als essentiell perspektivisch und relativ hingestellt wird, gleichzeitig aber impliziert, in der hiesigen Differenzierung etwas Wahres zu benennen. Die hier vollführte Erfindung von Theorien äußert sich am markantesten darin, dass sie ausschließlich in pragmatischer Virtualität ausformuliert werden, keine aber für tatsächlich belastbar zu gelten hat. In weiteren Artikeln soll diesen Konstrukten wiederum widersprochen werden, sodass ein fingierter Streit der Kritiker einen perspektivischen Rundumschlag inszeniert, der alle getätigten Aussagen fundamentlos werden lässt. Schließlich ist ein finaler Beitrag dafür vorgesehen, wiederum diesen letzten zu kritisieren und aus anderer Perspektive Nathan zu loben. Die Unterschriften für beide Veröffentlichungen sollen „L.“ und „Rubempré“ lauten. Als Destillat bleibt der erzielte Profit übrig: „C’est comme si tu ne disais rien, on dit cela de tous les livres. Tu auras gagné quatre cents francs dans ta semaine, outre le plaisir d’écrire la vérité quelque part. Les gens sensés donneront raison ou à C. Ou à L. Ou à Rubempré, peut-être à tous trois !“106 Die Aussagen heben sich gegenseitig auf. Diese Figur der Tilgung avanciert in ihrem zynisch-realistischen Eindruck, den sie vom Kunstbetrieb anfertigt, zum entscheidenden Mechanismus, dem sich Lucien auch im Hasard hingibt und schließlich gänzlich anheimfällt. So wie sich sein Geld vermehrt und wieder auflöst – sei es auf dem Weg nach Paris oder am Spieltisch –, so wie Coralie in sein Leben tritt und es wieder verlässt, so wie seine Karrieren beginnen und enden, seine Verbundenheit zu d’Arthez kippt (aufgrund eines weiteren Auftrags zum Verriss) und so wie ihn sein Weg letztlich nach Angoulême zurückführt, findet sich eine ständige Konfrontation mit der automatischen Annullierung dessen, was das Narrativ aufgebaut hat. Es ist dies das Gesetz der verschleppten Entwicklung Luciens, das nur mit der Ökonomie des Zufalls funktioniert. Seine kreisförmige, odysseische Bewegung wird auch in der Einordnung von Autorschaft à la Blondet deutlich. Das manipulative Wahr-Scheinen der Literatur und die bis zur Dissoziation reichende Multiperspektivität suspendiert die Authentizität des Autors. Wirklichkeit ist dasjenige, was der Publizist, der Schreibende kreiert, nur dass er dadurch selbst unwirklich wird.107 Der Roman schaltet sich in den Produktions- und Distributionsdiskurs von literarischen Texten ein und demaskiert die entsprechenden Publikationsverfahren als Spekulationspraxis, an einer Stelle, die sich mit dem Zustand einer Buchhandlung (die auch als Verlag tätig ist)
106 Balzac, Illusions perdues, S. 460. 107 Diese Form der Poiesis mag das akkurate Verhältnis Balzacs zur Wirklichkeit sein: Seine Leitfiguren der Erschaffung, berühmt etwa durch Vautrin oder Gobseck personifiziert, stellen stets den Versuch der Nachkomposition, wenn nicht Kreation der Realität dar, wie André Allemand ausführt. Vgl. Allemand, Unité et structure de l’univers Balzacien, S. 199.
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befasst, bezeichnenderweise mit der Metapher, „ces coups de cartes appelés publications“108. Die Entwertung des Ästhetischen ringt mit der merkantilen Aufwertung der Produktion literarischer Texte. Dass sich die Illusions perdues in allen ihrer drei Bücher gehörigen Platz für diese Elemente einer historischen Zäsur nehmen, in der die Gesetze der Literaturproduktion massive Umgestaltungen erfährt, und worin eine einzigartige Spannung zwischen ästhetischer Konditionierung und materialistischer Motivierung zugleich Perspektiven auf die Verfassung des Hochkapitalismus ermöglicht, verhalf dem aus Opportunismus erzkonservativen Balzac, seine Texte in Gegenstände prominenter ideologie- bis finanzkritischer Lektüren zu verwandeln. „In fast allen seinen Romanen schildert Balzac den kapitalistischen Aufschwung“, heißt es exemplarisch bei Georg Lukács. „‚Verlorene Illusionen‘ ist innerhalb dieses Prozesses die tragikomische Epopöe von der Kapitalisierung des Geistes.“109 Auch wenn diese triftigen Lektüren zuweilen dem Pathos der Inszenierung Balzacs höheres Gewicht zumessen müssen als einer etwaigen analytischen Kritik der politischen Ökonomie (Samuel Webers Interpretation stellt eine Ausnahme dar), so ist doch gerade diese Kapitalisierung des Geistes ein Gebiet, das bei Balzac minutiös beschrieben wird, gerade weil die Einbindung jener Spannkraft zwischen Ästhetischem und Materiellem im literarischen Text seinen symbiotischen Platz gefunden hat. Ein in Klammern verbannter Satz zur Analogisierung von Geld und Dichtung aus Jochen Hörischs Kopf oder Zahl scheint trefflich auf Balzac ummünzbar zu sein: „Geld macht alles zur Ware, Dichtung macht unabhängig von jeder Fachkompetenz alles zu ihrem Thema.“110 In der Comédie humaine wird dementsprechend nicht etwa alles zum möglichen Stoff, sondern der Stoff ist umgekehrt das Ganze dieses Werkes. An diesen totalisierenden Vereinnahmungen der Welt durch den Text schließt die immer wiederkehrende Beobachtung dieses anderen großen Totalisators namens Geld an, dessen Mechanismen der Kommodifizierung schließlich in einer Schleife auch jenen dichterischen Totalismus betrifft. Balzac zeichnet ergo die Presse als einen Akteur, der den Roman als Erzählmedium beeinflusst, ihn gewissermaßen in Händen hält, seinen Status als autonome Kunstform diffundieren lässt und ihm die Rolle ökonomischer Zweckkoalition überlässt. Im Erzähler charakterisiert Benjamin die einhergehende Entwicklung anhand der genuin sozioökonomischen Einbindung einer neuen Gattung der Mitteilung: Wir erkennen, „wie mit der durchgebildeten Herrschaft des Bürgertums, zu deren wichtigsten Instrumenten des Hochkapitalismus die Presse gehört, eine Form der Mitteilung auf den Plan tritt, die, soweit ihr Ursprung
108 Balzac, Illusions perdues, S. 497. 109 Lukács, Balzac und der französische Realismus, S. 48. Vgl. auch Adorno, BalzacLektüre; Samuel Weber, Unwrapping Balzac; und jüngst Piketty, Capital in the TwentyFirst Century, S. 411-416, sowie Moretti, The Bourgeois, S. 145. 110 Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 95.
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auch zurückliegen mag, die epische Form auf nie vordem bestimmende Weise beeinflußt hat. Nun aber tut sie das. Und es zeigt sich, daß sie der Erzählung nicht weniger fremd aber viel bedrohlicher als der Roman gegenübertritt, den sie übrigens ihrerseits einer Krise zuführt. Diese neue Form der Mitteilung ist die Information.“111 Zur Illustration seiner Theorie zitiert Benjamin den Begründer des Figaro, der prägnanter Weise diagnostizierte, seinem Publikum sei „ein Dachstuhlbrand im Quartier latin wichtiger als eine Revolution in Madrid“112. Informationen, abrupt überprüfbare Behauptungen, die in zeitlicher und geografischer Erfahrungsnähe verortet werden, sind einerseits die hochkapitalistischen Steigbügelhalter der Presse und andererseits sowohl die Auslöser einer Krisis des Erzählens, aber auch des Romans. Die Illusions perdues deuten auf diese Krise, indem der literarische Text – übrigens nicht nur der (historische) Roman, sondern auch der Gedichtband und in anderer Hinsicht noch das Drama – den Geboten der Ökonomie von Verlag und Presse ausgesetzt ist.113 Zugleich demonstriert die Darstellung des Journalismus, inwiefern diese Krise für den eigenen Roman wieder produktiv gewendet werden kann, nämlich als metapoetischer Stoff. Die Vergleichsformel des Brandes kannte indes auch Balzac. D’Arthez berichtet Lucien in einer seiner Parabeln, die sich in Aktualität und Zuhandenheit wiederum nach Zeitungsmeldungen anhören, von einer ganz ähnlichen Begebenheit: Ein armer Theaterautor, der sich und seine Familie verschuldete, um ein aussichtsreiches Stück im Odéon zu platzieren, steht kurz vor dem ersehnten Erfolg. Der endgültige Ruin klopft zwar gefährlich laut an die Mansardentür, doch am Tage der Generalprobe ist das Ende der Passionszeit bereits zum Greifen nahe: „‚Enfin il n’y a plus rien contre nous ! s’écrie-t-il. — Il y a le feu, dit la femme, regarde, l’Odéon brûle.‘ Monsieur, l’Odéon brûlait.“114 Diese unmittelbare Betroffenheit der Autoren-Community entfesselt mit dem Feuer auch das von Schicksalsschlägen gebeutelte Leben des bohemistischen Paris. Das abgebrannte Theater figuriert derweil die Hinwendung zum Roman: Dessen Erfolg ist nicht mehr vom entflammbaren Ort seiner Darbietung abhängig. Er tritt in einen anderen ökonomischen Bereich der Reproduzierbarkeit und Zugänglichkeit, nämlich der Druckereien und, wie gezeigt wurde, der Presse. Zudem 111 Vgl. Benjamin, Der Erzähler, S. 444. 112 Zit. nach ebd. 113 Im Baudelairebuch stellt Benjamin zudem klar, welchen monopolartigen Einfluss die Zeitschriften der Restauration hatten, der erst unter dem Bürgerkönigtum mit dem zugänglicheren Feuilleton gebrochen wurde. Vgl. Benjamin, Charles Baudelaire, S. 528. 114 Balzac, Illusions perdues, S. 310. Ein anderer Theaterbrand, nämlich der des Berliner Schauspielhauses am 29. Juli 1817, beendete abrupt die Theaterkarriere E.T.A. Hoffmanns, der dort gerade seine Vertonung von Fouqués Undine untergebracht hatte. Er wird sich im Anschluss daran ganz seiner Prosa widmen. Vgl. Safranski, E.T.A. Hoffmann, S. 374.
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reproduziert d’Arthez hier als Balzacs narratives Alter Ego ein wesentliches Moment seiner überdeterminierenden und regulierenden Erzählkonzeption. Wie so häufig reicht es nicht aus, eine Geschichte auserzählt zu haben. Der zeigende Dialogabschluss der Ehefrau des Autors drückt unmissverständlich aus, dass das Odéon brennt. Als könnte diesem eindeutigen Sprechakt nicht genug vertraut werden, muss d’Arthez noch in einer adressierenden Wiederholung ebendieses Sprechaktes klarstellen, dass das Theater tatsächlich in Flammen steht. Eine entsprechende Form des Dialoges mit einem imaginären Publikum, das sich weniger auf die impliziten Zusammenhänge seines Berichts verlässt als auf die unmissverständliche Ausführung dessen, was das Gesagte auch bedeuten soll, zieht sich durch die Illusions perdues wie auch durch viele andere Texte Balzacs. In einigen Teilen stellt bereits der AvantPropos eine solche redundante Bestätigung dessen dar, was sowieso bereits in der Comédie sichtbar wird. Doch gerade aufgrund einer solchen Situation werden die kleineren und größeren Widersprüche und Ambivalenzen besonders spürbar, wie sie etwa durch die Presseszene auf theoretischer Ebene aufbereitet sind. Mit dieser Szene wird ein Literaturkonzept der Illusions ersichtlich, das auf der von Blondet geschilderten Binarität besteht: Der Roman ist auch immer Ausdruck des Gegenteils dessen, was er eigentlich sagt, und manchmal ist er sogar mehreres zugleich. Balzacs derart gesponnene Tilgungen ökonomisieren den Roman an seinen sowohl in direkter Rede abgespulten Erkenntnissen als auch in seiner eigenen Logik der Handlungsknoten. Sie bestehen darin, das Erreichte immer wieder in Frage zu stellen und verknüpfen so die jeweiligen Interessen der Figuren mit ihrer Praxis. Das Glücksspiel und der Zufall gehen dabei mehr als nur metaphorische Verbindungen ein; sie sind ebenso Mechanismen der Gesetzmäßigkeiten von Paris, die sich in die Struktur sowohl der fiktiven Texte Luciens als auch des fiktionalen Textes von Balzac einschreiben. Die Agenda dieser Mechanismen ist dabei auch Teil jener französischen Geschichte, die der Comédie den Bezugspunkt einerseits vorgeben, und andererseits in ihr eine totale Mimesis finden soll. Diese Geschichte trägt Spuren einer politischen Ökonomie, die sich schließlich in den Leidenschaften des Einzelnen wiederfinden. Denn Luciens Aktionen sind im Wesentlichen Reaktionen auf ein subkulturelles Regelwerk, das in den Bedingungen der eigenen, neuen, modernen Zeiten ruht und in einem frischen Kreislauf rotiert, der aus Ökonomie, Macht und den Summen individueller Zustände besteht. Die krasse Verdichtung dieses Kreislaufes hat Balzac schon sehr früh bearbeitet. Sein erster großer Romanerfolg La Peau de chagrin (1831) hat den Prototyp für einen Zugang in das Zeitalter des Romans als Zeitalter des Glücksspiels geliefert. Eine Beschreibung seiner dichten Berührungspunkte von Zufall und Leben soll abschließend diese Poetologie noch einen Schritt weiterdenken.
7. Spiel um das erzählte Leben La Peau de chagrin
D IE
VERBOGENE
G ERADE
Abb.1: Titelei von La Peau de chagrin in der Gesamtausgabe der Comédie bei Gallimard1
Quelle: Honoré de Balzac: La Peau de chagrin. In: Ders. La Comédie humaine, hrsg. von Pierre-Georges Castex, Bd. X: Études philosophiques, hrsg. von dems., Thierry Bodin, Pierre Citron, Madeleine Ambrière, Henri Gauthier, René Guise und Moïse le Yaouamc. Paris: Gallimard 1979, S. 57.
Eine in verschiedenen Editionen unterschiedlich geformte schlangenartige Linie ist als Epigraph (in der Erstausgabe als Umschlaggestaltung)2 dem Beginn von Balzacs La Peau de chagrin vorangestellt, genauer aber seinem ersten Kapitel Le talisman, das nominell synonym für jenes titelgebende mysteriöse Lederschmuckstück steht. Entnommen wurde die nicht weniger rätselhafte Vignette Laurence Sternes Life and Opinions of Tristram Shandy (1759-1767). Die bei Balzac eingebettete Gestalt der Linie weicht von derjenigen bei Sterne erheblich ab. Verschiedene Ausgaben des 1
Die Originalbuchausgabe bei Gosselin von 1831 zeigt ein ähnliches, aber lange nicht deckungsgleiches Muster auf dem Umschlag. Balzac, La Peau de chagrin1.
2
Schnyder hat diese Entdeckung für sein Argument betont. Vgl. Schnyder, Alea, S. 363f.
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Tristram Shandy lassen sie aus verschiedenen Winkeln begutachten, sie tragen aber seit seiner Erstpublikation im 9. Buch aus dem Jahre 1767 stets eine Schleife, die es bei Balzac in keiner Variante gibt.3 Bei Sterne ist die Grafik während einer Unterhaltung im Zuge eines Fußwegs zur Witwe Wadman einmontiert, die sich anschickt, Uncle Toby zu becircen. Auf diesem verhängnisvollen Pfad kommt es deswegen immer wieder zu zögerlichen Freiersfüßen. Kurz vor Ende der Reise bleibt Toby abermals zaudernd und zweifelnd stehen. Die letzte Grenze vor dem Verlust des Junggesellenstandes scheint erreicht, und es heißt: „Nothing, continued the corporal, can be so sad as confinement for life – or so sweet, an’ please your honour, as liberty. [...] Whilst a man is free, – cried the corporal, giving a flourish with his stick thus –“4. Hier folgt das Muster, vom Corporal in den Sand geschnitten und vom Drucker zwischen die Zeilen gesetzt, als Illustration und sprachliches Surrogat. Die etwaigen Vorzüge der Ehelosigkeit mit dem phallischen Spazierstock als ihrerseits phallische Schlange zu inskribieren, damit den Gedankenstrich der Aposiopese zu entkräften, ihn zu entsockeln und zu deformieren, gibt ihm die Aura der Freiheit als Kontingenz, im Sinne von: Alles ist möglich, jegliche Abschweifung der Lebenslinie steht offen, die weder vom normativen Korsett noch von einer Theodizee des Bildes bzw. seiner Produktion gefangen gehalten wird. Dass es sich nämlich nicht nur um ein offenbar austauschbares Muster handelt, dem lediglich der Schwung der Linien und damit das Anzeichen der Digression gemeinsam ist, kann anhand der unterschiedlichen Formen in diversen Ausgaben bereits erkannt werden. Diese Indifferenz gegenüber der konkreten Form ist ein Erzeugnis der spontanen Kritzelei, die wiederum einen Akzent auf die Verbindung zwischen der Kontingenz des Bildes und der Kontingenz seiner Produktion setzt. Eine eindringliche Interpretation von Balzacs Schlangenlinie in genauer Auseinandersetzung mit Sterne bzw. der verschiedenen grafischen Gestaltungen hat Peter Schnyder geliefert.5 Seine Auslegung pointiert, inwiefern es sich hier um einen „willkürliche[n] Aufhänger für eine allgemeine Reflexion über die Kontingenz des Lebens“ handelt, der zugleich „eine sehr konkrete Anspielung auf die grundlegende Kontingenz des Erzählens“ zu bedenken gibt.6 Dahingehend gilt es den Punkt zu betonen, dass die Linie neben dieser Übertragungsleistung eine Figuration des Kontingenten in der Produktion des Erzählens wie auch in der Produktion eines Bildes – sei es sprachlich oder bildkünstlerisch – darstellt. Das Muster ist in seiner jeweiligen Gestalt austauschbar, aber dass es als ein solches Muster zugleich an genau den Punkten bei Sterne und Balzac erscheint, erzeugt einen in seiner Kontingenz notwendigen Signifikanten. Seine Leistung besteht insofern darin, beides zu sein: Die sinnvolle 3
Vgl. Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman1 IX, S. 17.
4
Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman2, S. 575f.
5
Vgl. Schnyder, Alea, S. 363-375. Vgl. auch Weber, Unwrapping Balzac, S. 11ff.
6
Schnyder, Alea, S. 374.
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Montage eines Kontingenzmarkers, wie auch die kontingente Gestalt der Kontingenz. Sternes Erzähler unterstreicht die Kraft des Bildes: „A thousand of my father’s most subtle syllogisms could not have said more for celibacy.“7 Diese These ließe sich auf die Kontingenz übertragen: Auch die logische Verfasstheit des Argumentes bzw. des Syllogismus hätte das Wesen der Kontingenz im Erzählen kaum so treffsicher einfangen können, wie es diese verführerische Schlange einerseits in ihrer kontingenten Hervorbringung mit dem Spazierstock im Sand und andererseits als dessen variables Abbild innerhalb und schließlich vor einer Erzählung erreichen konnte. Balzac bedient sich dieses epistemologischen Mehrwerts durch das Zitat. Die Entsockelung der Montage bei Sterne und seine kontextlose Einfügung als Epigraph verändert den Schwung dieser Linie: Einmal, weil sie sich schlaufenlos vom Original massiv unterscheidet. Die Kontingenz der verunglückten und doch stimmigen Zitation ist damit besonders klar ersichtlich. Und zweitens, weil sie am Kopfe des Romans zunächst unverständlich wirkt. In Form eines parodistisch irritierenden Spiels mit den Üblichkeiten des Epigraphs wird die Aufgabe des Romans im 19. Jahrhundert als Arbeit an der Kontingenz angemeldet, noch bevor in den hermeneutischen Zirkel des eigentlichen Textes eingestiegen wird. Möglicherweise ist diese Irritation einer der Gründe, weshalb einige editorisch wenig kritische Ausgaben insgesamt auf die Linie verzichtet haben. Tatsächlich haben diese Ausgaben dadurch bereits den allerersten Buchstaben von La Peau de chagrin getilgt. Die gleichermaßen poetologische wie produktionsästhetische Referenz an die Kontingenz bildet sich des Weiteren in der eigentlichen Gestalt der Schlange ab, deren spontane Auswölbungen einerseits die Signatur einer (künstlerischen) Freiheit mit sich führt, die dennoch stromlinienförmig vom einen Ursprungsort sich zum Endpunkt bewegt. Es liegt zwischen dieser offensichtlich einwandfreien Bestimmung von Anfangs- und Endpunkt eine imaginäre Gerade, doch die eigentliche Verbindung beider Punkte ist freilich mit ihren ebenso unwidersprochen notwendigen Abweichungen alles andere als die kürzeste Wegstrecke. Im Spektrum der Kurvendiskussion handelt es sich um einen der Regelmäßigkeit linearer Funktionen widersprechenden Funktionsgrafen, der zugleich dysfunktional ist – ein nicht unerhebliches Moment des gesamten Romans. Der daran gekoppelte Zufallsbegriff kann abermals vom im späteren 19. Jahrhundert durch Peirce aufgegriffenen Versuch abgegrenzt werden, dem Zufall eine ontologische Basis zu verleihen. In einem zu Lebzeiten nicht publizierten Vortrag, den Peirce Anfang 1884 unter dem Titel Design and Chance gehalten hat, gelangt er von seinem Vorhaben, die Logik von Axiomen nach ihrer eigentlichen Genauigkeit („exactitude“) zu befragen, zur Untersuchung der wissen-
7
Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman2, S. 576.
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schaftlichen Basisannahme, „that every event has a cause“, inklusive ihrer Korrektur.8 Diese etwa in der Mechanik bedeutsame Ausgangsposition des Satzes vom zureichenden Grund führt Peirce unweigerlich zu einer Ontologie jenes aristotelischen Zufallsbegriffs, der ja gerade mit der An- bzw. Abwesenheit von Begründung verfährt. Im Ganzen ist Peirce an einer Kritik des (natur-)wissenschaftlichen Diskurses seiner Zeit, insbesondere aber der Felder Mathematik, Physik und Logik interessiert: Woraus ergibt sich eine Notwendigkeit der aktuellen Formulierungen von Grundannahmen, Axiomen und den daraus folgenden Gesetzen bzw. generell ihrer Zusammenhänge? „Why are the three laws of mechanics as they are and not otherwise? What is the cause of the restriction of extended bodies to three dimensions? And then the general fact that there are laws, how is that to be explained?“9 Peirce schreitet hier von einem spezifischen Gesetz in einem Klimax zur Ontologie des Gesetzes voran. Mit der hohen Abstraktionsstufe, überhaupt einen Begriff vom (Natur-)Gesetz zu haben, ist der Punkt erreicht, der unweigerlich auf die irreduzible Argumentation zielt, dass Grund und Gesetz nicht zu begründen sind, aber auch kaum als Konzeptionen a priori gelten können. Peirce’ Vorschlag ist nun, dass auch in den diskursgeschichtlichen Veränderungen dem Gesetz gegenüber sich die leichten Abweichungen vom Gesetz niederlegen, nämlich im Momentum des Veränderns. Die Regel dieser Veränderung wiederum ist der Zufall („chance“), die aber selbst vor dem Hintergrund der Ausführungen nie ganz exakt sein kann und gerade darin sich selbst bestätigt: „Chance will sometimes bring about a change in every condition; or, at least, this is as near a correct statement of the matter as can readily be drawn up, for quite correct it certainly is not.“10 Es ist bezeichnend, welche Zugeständnisse an die sprachliche Präzision zu tätigen sind, um das Gemeinte von einer Ontologie des Zufalls, der reinen Darstellung einer Theorie, die dem Zufall Sein zuspricht, ausdrücken zu können. Man ist versucht, Peirce eine gewisse Obsession der szientistischen Nobilitierung des Zufalls zu unterstellen, die dahingehend in einer merkwürdigen Visualisierung des Zufalls mündet. Das inszenierte Gedankenexperiment arbeitet wie so häufig mit dem Glücksspiel; es entwirft, wie unter derart anspruchsreichen Modellen üblich, zur Bemessung eines großen Zusammenhangs auch ein Szenario der quantitativen Entgrenzung. Hohe Zahlen entblättern starke Regelmäßigkeiten, und so werden auch hier Milliarden Zufallswürfe mit dem Würfel am Spieltisch um Geld imaginiert, die trotz ihrer einzigartigen Wiederholung von Zufallsmanifestierung („pure chance“) eine statistische Erwartung erfüllen: „[W]e know very closely how those million players will stand at the end of a million bets.“11 Das Gedankenexperiment geht noch einen Schritt weiter: 8
Peirce, Design and Chance, S. 217.
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Ebd., S. 218.
10 Ebd., S. 220. 11 Ebd.
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Da in der Vorannahme von „pure chance“ alles möglich ist, und alles Mögliche früher oder später eintritt, wird es auch in einigen Fällen dieser Milliarden Würfe wiederum Abweichungsfälle von der statistischen Mitte geben. Der Gedanke verfolgt dabei das Muster, dass die Erwartungshaltung an dieses erste antizipierbare Set von Würfen durch weitere Sets ergänzt werden kann, etwa eines, in dem sich die Chancen erhöhen, nach einem gelungenen Wurf weitere gelingende Würfe wahrscheinlicher werden zu lassen. Eine Zweiklassengesellschaft der verlierenden und gewinnenden Spieler wäre die Konsequenz. Somit unterliegen nicht nur die einzelnen Würfe einer statistischen Alternation, sondern auch die Gesamtheiten der zu erwartenden statistischen Sets würde sich im Universum des Zufalls verändern. Die Erkenntnis des Ganzen ist, dass sich auch die Veränderung verändert: „Suffice it to say that as everything is subject to change everything will change after a time by chance, and among these changeable circumstances will be the effects of change on the probability of further change. And from this it follows that chance must act to move things in the long run from a state of homogeneity to a state of heterogeneity.“12 Die Illustration dieser Veränderungsbewegung geschieht mit zwei einmontierten, unkommentiert gelassenen Graphen.13 Die Differenz beider Kurven zeigt an, wie sich die Veränderung verändert hat. Durch die Abweichung einer der Grundlagen des „statistical law“ ist auch die Gleichförmigkeit der großen Ergebnisse modifiziert. Wenn aber diese Gleichförmigkeit durch nur eine Abweichung in Frage gestellt ist, sich aber Abweichungen ständig vollziehen, sind gewissermaßen unendlich viele Einschnitte in diese Gleichförmigkeit denkbar. Und dennoch befindet sich eine solche Theorie des Zufalls auf dem schmalen Grat zwischen der Regelmäßigkeit des statuierten Zufalls und seiner Statur der nichtbegründbaren Abweichung. Peirce’ Kurven versuchen die Mannigfaltigkeit des Zufalls nach wie vor intelligibel zu halten. Gerade dieser sterile Zufall scheint im künstlerischen Text Balzacs bereits mit der exzentrischen Schlangenlinie, die eben nicht allein Mannigfaltigkeit, sondern Individualität bestimmt, überboten. Die Linie im Epigraph des Peau de chagrin ist dessen verschiedenen Erzählkausalitäten gegenüber beides: gerade und 12 Ebd., S. 220f. 13 Ebd., S. 220. Peter Schnyder hat darauf hingewiesen, inwiefern die Individualität des „Einzelschicksals“ von Balzacs Kurve „immer in einem prekären Verhältnis zu den statistischen Kurven steht, in denen die überindividuellen Bewegungen des unsichtbaren Gesellschaftskörpers visibilisiert werden“. Schnyder, Alea, S. 369. Mit dieser überzeugenden These sei hier abermals der Fokus auf Peirce’ Visibilisierung eines regelmäßigen Zufalls verwiesen, der offenbar einen schärferen Kontrast liefert, weil es eben nicht der innersoziale Kontrast zwischen Subjekt und Gesellschaft ist, sondern ein interdisziplinärer zwischen einer Mathematik des Zufalls bzw. des clinamen und der Kontingenz des Erzählens, sowie der Übertragung dessen, was vom Erzählen verstanden, geordnet und reproduziert wird.
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krumm. Sie führt von A nach B, ohne dass Aufbruch und Ankunft dieses Weges anders denkbar wären, doch das Dazwischen, was ja der sensus litteralis dieser Linie ist, ihr genommener Weg, ist essentiell von Digressionen und Umständlichkeiten bestimmt, von der Verzögerung der Ankunft, wie sie Toby im Tristram Shandy initiiert. Sie folgt damit einem wesentlichen Element dessen, das für Jakobson die poetische Funktion ausmacht, denn die Konzentration auf die Gestalt der Linie und nicht auf den Weg, den sie zeichnet, hebt das formalistische Privileg hervor, das sie als Metonymie des Romans verkörpert.14 Die klare Umgrenzung verleiht der Linie dabei Dynamik: Ihr schlangenartiges Äußeres sieht so aus, als würde sie nicht allein einen Weg für die Bewegung vorgeben, sondern als könnte sie sich zugleich auch eigenständig voranbewegen. Ludwig Tieck hat im William Lovell eine kurze Beschreibung geliefert, in der die Stellung der verkrümmten Linie als Symbol des Lebens zugleich auf die ästhetische Funktion des Erzählens hinweist. In einem Brief an Karl Wilmont schreibt Mortimer: „Wenn ich gerade aufgelegt wäre, über die wunderbaren Wege der Vorsehung Betrachtungen anzustellen, so hätt ich heute dazu die schönste Gelegenheit. Denn wahrlich, nichts ist so seltsam, keine Linie läuft in den wunderbarsten Verschränkungen so schief und krumm, um in sich selbst zurückzukehren, als es so oft die Begebenheiten und Vorfälle in dieser Welt tun.“15 Mortimer fabuliert hier darüber, wie vom Leben erzählt werden kann, nämlich vorzugsweise in seinen Ausfällen und „wunderbarsten Verschränkungen“, die eher in der Rezeption als Besonderes poetisch werden, im Erkennen des Zufalls gewissermaßen, als in ihrer profanen Eingliederung in die gewöhnlichen Mechaniken der Welt. Wenngleich hier also ein Möbiusband des rationalen, bürgerlichen, providentiellen Mortimer beschrieben wird, so steht doch abermals die Zuständigkeit des Romans für das Leben und somit auch für die Sensibilität aller poetischen Konzentration der Abweichung und des Besonderen zur Debatte. Die scheinbar anregendste Verbundenheit solcher apragmatischen Umständlichkeiten mit der formalen Beschäftigung des literarischen Textes mit sich selbst, wird in der verbogenen Geraden eingefangen. In ihr hat Balzac die verborgene „Schlange im Gras“ („in erba l’angue“)16 – nämlich den Ratschluss der Fortuna in Dantes Bildbereich – sichtbar gemacht, nur dass ihrer Weisungsbefugnis jetzt nicht mehr das Geschick der Völker unterworfen ist, sondern das erzählte Leben im Roman. Die metapoetische Assoziation des kleinen Epigraphs ist deswegen so signifikant, weil Balzacs Roman genau in dem Zwischenstadium der Kontingenz lesbar ist, das 14 Vgl. Jakobsons Äußerungen zur poetischen Funktion als Fokussierung der „message for its own sake“ bzw. die rudimentäre Definition: „The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination.“ Jakobson, Closing Statement, S. 356 u. S. 358. 15 Tieck, William Lovell, S. 259. 16 Dante, La Commedia. Die Göttliche Komödie, S. 110f.
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auch die Zeichnung für sich einnimmt. Diese synästhetische Übertragung betrifft das Verhältnis zwischen Linie und Kausalität im Roman, dabei auch seine temporale Struktur. Die Lebensgeschichte Raphaël de Valentins wird weder in chronologischer Reihenfolge noch in gänzlich aufzulösender Ursache-Wirkungs-Relation erzählt. Tatsächlich ist der Status von Ursache-Wirkung selbst prekär. Die Konstruktion von La Peau de chagrin lässt sowohl zu, dass die Ereignisfolge des Textes als geschnürte Perlenkette beschreibbar ist, als auch als kontingente Aneinanderreihung unabhängiger Begebenheiten, denen mit dem ebenfalls doppelbödigen Chagrinleder ein Stempel des Zusammenhangs aufgedrückt werden kann oder nicht. Das Leder wird somit zu Überschrift und Metonymie der Textstruktur, wie es auch vom Motto der Kurve metonymisch und als Titel des ersten Kapitels gefasst worden ist. Ebenso wie die Kurve eine Funktion der Nicht-Funktion ist, spielt der Roman mit Rang und Einfluss seines Inventars, das je nach Zugang sowohl funktional als auch nicht funktional wird. Das primäre Beispiel für diese Rolle liefert das Glücksspiel. Seiner initialen Verwirrung von Funktion und Dysfunktion gilt es nachzugehen.
Ü BERFLUSS
DES
Z UFALLSSPIELS
Das perspektivische Modell markiert in der Struktur der Comédie einen Strang des ständigen Verzugs und Aufschubs. Die zugangsreiche Größe des Unternehmens entlässt die einzelnen Texte zunächst aus einer werkchronologischen Verbindlichkeit, unter der die eine Lektüre von A bis Z stattfinden müsste, und setzt damit auch eine gestörte Abfolge der einzelnen Begebenheiten, Biografien und Karrieren in Szene. Rastignac tritt 1831 im Peau de chagrin auf; wir lernen ihn hier retrospektiv kurz vor der Revolution von 1830 kennen. Dies legt die zeitliche Eingangssituierung des Textes nahe („Vers la fin du mois d’octobre dernier“17), dem wiederum die Erzählstränge mit Rastignac noch etwas vorausgehen. In seinem nächsten Auftritt im Père Goriot von 1835 springen wir auf Rastignacs Anfangstage in Paris zehn Jahre zuvor zurück. Die Ausstellung eines hermeneutischen Zirkels innerhalb dieser Chronologie funktioniert über die Frage, ob der frühere Roman vom bereits etablierten Rastignac nun seine später erzählte Vorgeschichte verständlich werden lässt oder umgekehrt. Da der Père Goriot zugleich der erste Text Balzacs war, der jene entscheidende Idee von der Wiederkehr der Figuren umsetzt und damit vielmehr die diegetische Homogenität des Projekts zementiert, wird Rastignacs Premiere im Peau de chagrin zusätzlich unterstrichen. Anhand seiner Rolle kann begutachtet werden, inwiefern die Geschicke der menschlichen Komödie literarische Infinitesimalität etablieren, ohne selbst unendlich sein zu können, so groß die Textmasse auch geworden ist. Dass dieses Ganze niemals beendet werden kann, ist auch Teil der Charakterisierungen Balzacs. 17 Balzac, La Peau de chagrin², S. 57.
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Ständige Verzögerungen, Tilgungen und Prozesse des Wartens treiben die in permanenter Sorge um sich ergriffenen Figuren um, insbesondere, wenn es um das Festsetzen und Erreichen von Etappenzielen geht. Ein prägnantes Beispiel für diese Rahmung im Fragment liefern abermals die Illusions perdues, auch jenseits von Lucien, nämlich mit David Séchards großangelegter Revolution des Buchdrucks, dessen zugehörige Patentierung ihm ohne eigenes Verschulden misslingt, aber dennoch kein tragisches Ereignis darstellt. Diese spezifische Harmonie zwischen perspektivischen Strukturen und Themen des Fragmentarischen in der Comédie war zu ihrem Beginn noch nicht gänzlich ersichtlich. Der benjaminschen Beobachtung vom Ende des Lebens als Horizont des Romans wird hier mit einer geschlossenen Erzählung entsprochen, die zwar in einem Epilog noch über den Tellerrand blickt, aber ansonsten die Existenz der Erzählung an das Leben ihres Protagonisten kettet. Dessen Einführung verschweigt uns jegliche individuellen Informationen. Name und Herkunft verstecken sich in den ersten Sequenzen hinter einem Nebel, der zunächst einer großangelegten Glücksspielszene die Bühne überlässt. Der erste Schritt des Romans übertritt direkt die Schwelle ins berüchtigte Palais-Royal: „Vers la fin du mois d’octobre dernier, un jeune homme entra dans le Palais-Royal au moment où les maisons de jeu s’ouvraient, conformément à la loi qui protège une passion essentiellement imposable. Sans trop hésiter, il monta l’escalier du tripot désigné sous le nom de numéro 36.“18
Jene noch gesichtslose Gestalt, die lediglich durch die vage Apostrophierung als „jeune homme“ anschaulich wird, betritt das El Dorado des Lasters. Die Frage nach einer realen Identität wird für seine Reservierung als bestimmtem Archetyp des Spielens beiseitegelassen. Die anonyme Figur findet ihren zielgerichteten Weg „sans trop hésiter“ in den nunmehr exakt angegebenen Spielsaal mit der Nummer 36. Dort verlangt es die Ordnung dieses eigentlich zwielichtigen Ortes, den Hut abzugeben: „Quand vous entrez dans une maison de jeu, la loi commence par vous dépouiller de votre chapeau.“19 Wieder ist es das Gesetz, das als Kontrollgremium auch die von ihm entferntesten Zugriffsorte – in diesem Fall eine Höhle des Zufalls – unter sich versammelt. Die Übergabe findet an das physiognomische Gegenteil des jungen Mannes statt. Der Garderobier ist „un petit viellard [...], qui se leva soudain en montrant une figure moulée sur un type ignoble“, und der „sans doute avait croupi dès
18 Ebd. Balzac kehrt mit all seinen spielenden Pariser Parvenus – Lucien, Lousteau, Rastignac, hier Raphaël de Valentin – ins Palais-Royal ein. 19 Ebd.
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son jeune âge dans les bouillants plaisirs de la vie des jouers“20. Die genauere Beschreibung dieser Figur äußert tatsächlich umfassende Informationsbereitschaft des Erzählers. Mit der Erwähnung einer längst verspielten Jugend dieses tückischen Charakters wird dem jungen Mann ein etwaiger Spiegel der Zukunft vorgehalten, dessen prophetische Warnung sich aus der Umgebung des Palais-Royal ergibt. Die Gegenüberstellung von Jugend und Alter übersetzt sich insofern in ein Bild aus Vergangenheit des einen und Zukunft des anderen, als impliziert wird, dass der „petit viellard“ im jugendlichen Spieler sein eigenes früheres Ich erblickt. Der Unbekannte verkörpert noch den Geist des Unschuldigen, während der Rezeptionist „la pâle image de la passion réduite à son terme le plus simple“ präsentiert: „Dans ses rides il y avait trace de vieilles tortures, il devait jouer ses maigres appointements le jour même où il les recevait. [...] C’est le jeu incarné. Si le jeune homme avait contemplé ce triste Cerbère, peut-être se serait-il dit : ‚Il n’y a plus qu’un jeu de cartes dans ce cœurlà !‘“21 Ein ums andere Mal übernimmt der Text selbst eine Interpretationsleistung. Dass es sich hier suggestiverweise um die Begegnung mit dem personifizierten Glücksspiel handeln soll, wird nicht vom Text gezeigt, sondern durch die Erzählerrede mitgeteilt. Die kommentierenden Eingriffe des Erzählers unterbrechen seinen knappen Bericht oder die direkte Rede ihrerseits auf einer dialogischen Ebene, indem sie Leserinnen und Leser zu adressieren scheinen. In der entsprechenden Festsetzung von Vergangenheit und Zukunft legt sich eine Strickung des Providentiellen nieder. Das Reich des Spiels führt vom unschuldigen Herz in den Abgrund des erkalteten Automaten, in dessen Brust nunmehr die tote Abfolge des Kartendecks zu finden ist. Diese Durchgangsstation vor dem eigentlichen Spielsaal bekommt die Färbung der Vorhölle, die durch „ce triste Cerbère“ bewacht wird. Das Providentielle dieser Innenarchitektur wird dabei unmissverständlich benannt: „L’inconnu n’écouta pas ce conseil vivant [den alten Mann, S.T.], placé
20 Ebd., S. 57f. 21 Ebd., S. 58. Michael Scheffel hat anhand dieser Gegenüberstellung diskutiert, inwiefern sich die notorische Determination der Leidenschaftstypen auf die Physiognomie der Figuren, „ihr Gesicht, ihren Körper und ihr Leben“ auswirkt. Diese Korrelation ist in der Tat gerade anhand der vielbesprochenen Spielszene, die den Vorhang für die Comédie humaine wie augenscheinlich keine zweite geöffnet hat, direkt ablesbar. Scheffel weist darauf hin, dass uns das Äußere des Unbekannten seinerseits unbekannt bleibt, da sein unschuldiges Herz eben noch nicht im Strudel der Leidenschaften ihren Körper und ihr Leben durchformen konnte. Scheffel, Figurationen der Leidenschaft, S. 213. Für markante Lektüren dieser Szene, vgl. Schnyder, Alea, S. 348-363; Weber, Unwrapping Balzac, S. 14-29; Knapp, Gambling, Game and Psyche, S. 43-71.
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là sans doute par la Providence, comme elle mis le dégoût à la porte de tous les mauvais lieux.“22 Vor dem Hintergrund der Annahme, dass das zukünftige Ich als Menetekel platziert ist, wird der Eindruck vom Selbstbezug des Erzählers weiter aufgehellt. Im kulturellen Kontext adressiert eine solche Aussage die Erfahrungswerte von einem Gesellschaftsausschnitt der Spielsüchtigen. Ihr ist aber mit der Markierung einer Prophezeiung ein klarer metaphysischer Wert beigelegt, der ohne Weiteres auch auf die Rolle des Erzählers gemünzt sein kann, schließlich ist es in der Ausstattung bzw. Selektion und Kombination des literarischen Raumes seine Entscheidung gewesen, einen derart klaren Akzent auf die providentielle Darstellung des Alten zu legen und diesen auch noch in Form einer gedoppelten Bestätigung nach außen zu kehren. Die Erwähnung einer providentiellen Kraft, die ihn dort mit einem gewissen Interesse platziert hat, vollführt nichts anderes als eine Selbsteinschätzung des Erzählers über das eigene Erzählen, das hier um seine Signifikanz ringt. An dieser entscheidenden Schranke den Hut abgeben zu müssen, ist eine gleichermaßen symbolische Geste, in der nicht nur Kopfbedeckung gegen Garderobennummer getauscht wird, sondern auch der Kopf als Sitz von Vernunft und Intelligenz gegen den Rausch der Zahlen.23 Im Anschluss an diese missliche Transaktion, die bereits den Verlust des letzten Hemdes mit der Abgabe eines Kleidungsstücks prognostiziert, setzt sich der Weg des Unbekannten fort: „Il entra résolument dans la salle où le son de l’or exerçait une éblouissante fascination sur le sens en pleine convoitise.“24 Dieses ist die zweite Tür, die er durchschreitet, die zweite Schwelle, die übertreten wird. Beide Zugänge, zunächst ins Haus und dann in den Spielsaal, ergeben eine Steigerung der Entschlossenheit des Spielers. „Sans trop hésiter“ ermittelte noch ex negativo die Sicherheit des Schritts. Es wächst schließlich zum aktiven „résolument“, womit auch in der semantischen Verschiebung vom Ausschluss des Zögerns zur Bestätigung und verfestigenden Untermauerung der Absicht die transgressive Bewegung, die sich vollführt, ersichtlich wird. Dieser Klimax wird im Spielsaal schließlich unterbrochen. Das Innere des Casinos korrigiert den Bildbereich ins Martialische. Seine Architektur erhält eine Ästhetik des Hässlichen, „les maisons de jeu n’ont qu’une poésie vulgaire, mais dont l’effet est assuré comme celui d’un drame sanguinolet. Les salles sont garnies de spectateurs et de joueurs, de vieillards indigents qui s’y traînent pour s’y réchauffer, de faces agitées, d’orgies commencées dans le vin et prêtes à finir
22 Balzac, La Peau de chagrin², S. 58. 23 Die zerebrale Assoziation wird dabei abermals von der Erzählung selbst vorgenommen. Vgl. ebd. In der Suizidszene bei Hoffmann wurde eine interdiskursive Verbindung von der Anatomie des Gehirns zur Irrationalität des Spielens bereits diskutiert. Siehe dazu das 4. Kapitel Zufallswiederholungen dieser Arbeit. 24 Balzac, La Peau de chagrin², S. 58.
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dans la Seine ; la passion y abonde, mais le trop grand nombre d’acteurs vous empêche de contempler face à face le démon du jeu.“25 Dem Spieler wird hier mit dem Zuschauer erstmals ein weiterer Charakter des Spielhauses beigestellt. Er ist in ein Brot-und-Spiele-Thema eingewoben, das Paris als Hauptstadt des Spiels den Analogien vom Stierkampf in Spanien und von den Gladiatorenduellen des alten Roms beistellt.26 Das somit zum Massenspektakel erhobene Glücksspiel, dessen Kultur eine Dialektik aus Bühne und Voyeur zuerkannt wird, erzeugt mit dem Rezeptionsakteur eine Funktion, die die Situation der Leserinnen und Leser widerspiegelt.27 Das Theater des Glücksspiels zeichnet sich dadurch aus, dass „le hasard“ als Regulator des Geschehens Autorschaft zugestanden wird, die von der Exposition bis zur Katastrophe die Dramaturgie im Griff behält.28 Da es sich in der Logik der Spielbeschreibung gewissermaßen um echte Schicksale handelt, die „dans le vin“ beginnen und möglicherweise „dans la Seine“ enden, ist dieser Zuschauerklientel ein morbider Zug verliehen.29 In dieser Pathologie des Zuschauens lebt noch die Erfahrung der souveränen
25 Ebd., S. 59. 26 „Si l’Espagne a ses combats de taureaux, si Rome a eu ses gladiateurs, Paris s’enorgueillit de son Palais-Royal, dont les agaçantes roulettes donnent le plaisir de voir couler le sang à flots, sans que les pieds du parterre risquent d’y glisser.“ Ebd. 27 Vgl. Benjamin, Charles Baudelaire, S. 636. Dort beschreibt Benjamin den Dichter analog zum Spieler als „um seine Erfahrung betrogene[n] Mann“, der das „Rauschgift“ ausschlägt, „mit dem die Spielenden das Bewußtsein zu übertäuben suchen“. Im zugehörigen Gedicht Baudelaires heißt es: „Enviant de ces gens la passion tenace, [...].“ Baudelaire, Le jeu, S. 96. Dieser Neid des freilich dichtenden Zuschauers scheint dem herkömmlichen Beobachter und seiner Schaulust in Balzacs Roman noch unbekannt. Der voyeuristische Blick ist hier weniger mit dem des Produzenten als demjenigen der Rezeption gemein gemacht, der allerdings auch den aufdringlichen Kommentaren von Balzacs Erzähler in die Hände spielt. Diese Verschränkung auf inszenatorischer Bühnenebene, die mit dem Publikumsraum ineinander fällt, bestimmt eine poetische Schaulust des Vulgären dieser Sequenz. 28 Zu entsprechenden Raum- und Zeitbezügen des Glücksspiels, vgl. Reith, The Age of Chance, S. 138-145. 29 In zahlreichen Ankündigen wird das Spiel des Unbekannten als eines um Leben und Tod markiert, allen voran mit einer Montage Rousseaus: „Oui, je conçois qu’un homme aille au Jeu ; mais c’est lorsque entre lui et la mort il ne voit plus que son dernier écu.“ Balzac, La Peau de chagrin², S. 59. Diese Verbindung gehört zum interdiskursiven Standardrepertoire einer Spielmetaphorologie. In einer Passage, die den Einsatz im Spielen als Merkmal des Spieles begreift, nennt Huizinga unter den möglichen Investitionen, die in „symbolischer Art“ oder in Form von „materiellem Wert“ auftreten können, auch „das Leben des Spielers“. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich sein Beispielregister offensichtlich aus möglichst typischen Stellvertretungen mit durchaus literarischem Rückhalt speist („ein gol-
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Macht fort. Die berüchtigten Hinrichtungsschauplätze der Hauptstadt haben nach Ancien Régime und Terreur im Inneren des Palais-Royal ihr Surrogat gefunden: „Sept ou huit spectateurs, debout, rangés de manière à former une galerie, attendaient les scènes que leur préparaient les coups du sort, les figures des acteurs, le mouvement de l’argent et celui des râteaux. Ces désoeuvrés étaient là, silencieux, immobiles, attentifs comme l’est le peuple à la Grève quand le bourreau tranche une tête.“30 Dieser regressive Blick in die vergangene französische Geschichte passt dem regressiv wirkenden Erzähler seinen Horizont an. Sein erklärender Erfahrungsschatz liegt in der Geschichte, während die Distribution von Informationen und Bildern bald von der Literaturgeschichte reformiert wird, sodass seine Ausführungen wie Erklärungsversuche des zeitgenössischen, modernen öffentlichen Glücksspiels mit einem antiquierten Bildspender wirken. Dabei ist ein nicht zu unterschätzender Anteil der Anwesenden noch jener französischen Generation an Senioren zugehörig, die ihre antrainierte Schaulust des Elends nunmehr in den hiesigen Hallen befriedigen kann. Diese Gerontokratie des Spielens im Zwielicht der eintretenden Jugend bildet einen historischen Kontrast zwischen moderner Praxis und altehrwürdiger Geschichte des Glücksspiels ab, wie auch die strukturelle Vermengung seiner prominent und ausführlich platzierten Darstellung aus dem Munde eines paternalistischen Erzählers strömt. Insofern stellt der Auftritt des geisterhaften jungen Mannes den Höhepunkt dieses Aktes dar, wie er auch ein früher Höhepunkt für Leserinnen und Leser des noch in der Exposition befindlichen, keine zehn Minuten alten Textes ist: „L’intérêt de ce coup [der des jungen Mannes, S.T.] était si grand que les vieillards ne firent pas de mise […].“31 Im Verlauf von La Peau de chagrin stellt sich heraus, dass sich diese Szene, gemessen am chronologischen Ablauf des Erzählten, tatsächlich mitten im dritten Akt befindet, an einem Drehmoment der Biografie des Unbekannten nämlich. Diese Querstellung von Chronologie des Erzählten zur Chronologie des Erzählens ergibt sich mit einem exzessiven Monolog des jungen Mannes, der fast vollständig den zweiten Teil namens La femme sans cœur besetzt. Raphaël de Valentin, so sein Name, erzählt dort in direkter Rede seinen Bildungsroman von der späten Adoleszenz bis zum Gang ins dener Becher“, „eine Königstochter“) bzw. anthropologischen oder ethnografischen Beobachtungen entnommen ist („das Wohl des gesamten Stammes“). Huizinga, Homo ludens, S. 62. „Das Leben des Spielers“ scheint eine anthropologische Zeitlosigkeit mit der literarischen Moderne zu verbinden. Das Spiel wird im selben Zuge von Arbeit und Habgier abgeschottet. Der Lohn ist zwar etymologisch mit dem Gewinn in Verbindung zu bringen, allerdings: „Wagen, ungewisse Aussicht auf Gewinnen, Unsicherheit des Ausgangs und Spannung bilden das Wesen der Spielhaltung. Die Spannung [...] läßt den Spieler, sobald sie hoch steigt, vergessen, daß er spielt.“ Ebd. 30 Balzac, La Peau de chagrin², S. 60. 31 Ebd., S. 62.
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Casino. Der Tag des Spiels und der Tag dieses Monologs, d.h.: ein Höhepunkt der Erzählung dieses Lebens und die Erzählung des ganzen Lebens, fallen zeitlich ineinander. Wie im ersten Satz des Romans zu lesen war, liegen beide für den Erzähler in der Vergangenheit („Vers la fin du mois d’octobre dernier“). Die performative Infragestellung zeitlich korrekter Abfolgen erhält in Raphaëls Erzählung eine Ausführung, die mit dem inneren Erleben verschaltet wird: „Pour juger un homme, au moins faut-il être dans le secret de sa pensée, de ses malheurs, de ses émotions ; ne vouloir connaître de sa vie que les événements matériels, c’est faire de la chronologie, l’histoire des sots ! […] Mais, reprit le narrateur, maintenant la lueur qui colore ces accidents leur prête un nouvel aspect. L’ordre des choses que je considérais jadis comme un malheur a peut-être engendré les belles facultés dont plus tard je me suis enorgueilli.“32
Das strukturelle Spiel des Romans mit der Zeit ist hier in wenigen theoretischen Polemiken dargestellt. Zunächst fabriziert es eine Annäherung an das punktuelle Innere der Figur in einer spezifischen Situation über die ausführliche Beschreibung vom Inneren des Spielsaals. Mit der großangelegten Erzählung Raphaëls von sich selbst wird seine Vorgeschichte akzentuiert, die in der Konzentration der Abfolge innerhalb des Romans ebenso viel Gewicht zugesprochen bekommt, wie die vorvergangene Spielszene. Balzacs Geschichtsschreibung der Sitten hatte sich somit schon sehr früh von einer binären Zuordnung von Datum und Begebenheit emanzipiert. Gerade in der Konstruktion einer anachronistischen Informationspreisgabe ist dabei die perspektivische Changierung erfüllt.33 Die veränderte Belichtung aus einer veränderten zeitlichen Position lässt das Vergangene wie das Erzählte gerade so verschoben dastehen, wie für Raphaël die Ordnung der Dinge („L’ordre des choses“) sich nach einiger Zeit modifizierten. Mehr noch: Sie können das Unglück zum Glück aufwerten. Nach dieser Formel des verkannten Status richtet sich auch der narrative Einfluss des zuvor erprobten Glücksspiels. Ist dessen providentielle Einkleidung durch den Erzähler auf das Ende hin choreografiert, der Spieler darin als moribundes Wesen gekennzeichnet, was durch Raphaëls suizidale Koketterie bestätigt wird,34 so bleibt der konsequentielle Einfluss des Spiels in der Abfolge des Romans unentscheidbar. 32 Ebd., S. 130. 33 Bettina L. Knapp liefert in ihrer Interpretation eine kurze Synopsis der Begebenheiten in korrekter Reihenfolge, ohne auf die Situierung dieser Erzähleinheiten im Text einzugehen, wahrscheinlich dem vordergründig psychologischen und psychoanalytischen Ansatz ihrer Arbeit geschuldet, wenn auch nicht durch diesen zwangsläufig provoziert. Vgl. Knapp, Gambling, Game and Psyche, S. 44ff. 34 Er spricht auch noch an späterer Stelle von „mon suicide qui gronde“. Balzac, La Peau de chagrin², S. 130.
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So sehr die Destination dieses Hasard vom Erzähler festgelegt wurde, so wenig hält sich die Erzählung daran. Diese Untreue nistet bereits in der Darstellung des Spiels, die die einmischenden Kommentare mehr und mehr verdrängt, wie auch die spärlichen Eigenschaften des Spielers abnehmen. Hier endet auch die mehrfache Annäherung an das Spiel. Betrat er das Haus noch „sans trop hésiter“, um sich im Innern „résolument“ in den Spielsaal zu begeben, so ist sein letzter Schritt an den Spieltisch nicht mehr mit einem individuellen Zustand prädiziert, sondern lediglich der automatischen, bemerkenswerterweise nicht länger abschweifenden Geraden geschuldet: „Celui-ci marcha droit à la table, s’y tint debout, jeta sans calcul sur le tapis une pièce d’or qu’il avait à la main, et qui roula sur Noir.“35 [Hervorh. S.T.] Trotz all dieser Wiederholungen der Annäherung an das Spiel wird gerade das anschließend geschilderte Spiel nicht wiederholt. Hier liegt der stärkste Unterschied zu Luciens und Lousteaus exzessiver Spielszene, der mit dem Peau de chagrin ein äußerst ungewöhnliches, nämlich einmaliges und darin aber umso nachdrücklicher determiniertes erzeugt.36 Haus („sans trop hésiter“), Saal („résolument“) und Tisch („droit“): Die psychologische Anwesenheit der Figur wird Stück für Stück zurückgefahren, bis ein Zustand maschineller Trance erreicht ist. Analog zu den monofunktionalen Spielwerkzeugen der Zufallsproduktion findet eine kontextlose Spielsituation statt, bei der auch der Erzähler sich nur noch in der Aufzählung dessen übt, was zu begutachten ist. Mehrere Kuriositäten fallen in der geschilderten Gebärde des Einsatzes vom unbekannten Spieler auf. In der deiktischen Präparierung („Celui-ci“) sowie in der puren Beobachtung der einzelnen Bewegungen, die er vollführt, macht der Erzähler sich und die Leserinnen und Leser plötzlich mit den geifernden Zuschauern des Spiels gemein, die eben noch so eindringlich wie distanziert auf Arche- und Stereotypen festgelegt waren. Wenn einer der kenntnisreichsten dieser Spektatoren, nämlich der Bankier, später, nach dem Spiel, feststellen wird, dass es sich hier nicht wirklich um einen Spieler gehandelt habe – „autrement il aurait groupé son argent en trois masses pour se donner plus de chances“37 –, wird lediglich ein Moment wiederholt, das in der eigentlichen Spielsequenz bereits registriert wurde. Der junge Mann hat „sans calcul“ gehandelt, er hat tatsächlich sogar mit seiner aktiven Missachtung der Involvierung 35 Ebd., S. 62. 36 Ein mehrfacher Eintritt wurde oft aus unterschiedlicher Perspektive und in unterschiedlicher Zählung beschrieben. Vgl. Weber, Unwrapping Balzac, S. 26; Schnyder, Alea, S. 350; Bell, Circumstances, S. 180. Hier soll der Akzent von dieser Verzögerung durch die Eintrittswiederholung auf den dreimaligen Sog der Architektur von Haus, dann Saal, schließlich Spieltisch verschoben werden. Insofern handelt es sich nicht nur um einen dreifachen Anlauf des Eintretens, sondern vielmehr um eine dreifache Annäherung über drei Transgressionen in drei Stadien an den Spieltisch. 37 Balzac, La Peau de chagrin², S. 64.
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in den Prozess von Auswahl und Verteilung der Wahrscheinlichkeiten den Zufall in seiner Kinetik des Zu-Fallens stärker bestätigt, als es die sonst anwesenden Zufallssüchtigen verstehen können.38 Das Kalkül im Spiel ist nichts weiter als eine schimärische Sinnverteilung, die weniger mit dem Spiel als mit den individuellen Eigenheiten der Spieler zu schaffen hat. Der Unbekannte hingegen verzichtet auf diese Leerstelle der Hoffnung und setzt nicht im Bewusstsein des Setzens, sondern setzt auf den Wurf des Zufalls, der für ihn den Einsatz zu tätigen hat: Er wirft das Geldstück als Devotionalie des Daseins im Spiel auf den Spieltisch, wo es wie ein Würfel auf Schwarz landet und damit das automatische Zeichen, um das erst noch in einem weiteren, eigentlichen, ludischen Zug gewürfelt werden muss, genauso zufällig aktiviert, wie das Verhältniszeichen des Zufalls schließlich auszuspielen ist.39 Der Augenblick des Wurfes („jeta“) auf das Auszuwerfende komprimiert einen nicht-deskriptiven Zugang zur Abweisung des Satzes vom zureichenden Grund im Spiel. Das Spiel des Unbekannten bedeutet so auch die eigene Selbstreferentialität: Es bezeichnet Rot oder Schwarz in Abhängigkeit von Einsätzen, sodann Gewinn oder Verlust, sofern mehrere Einsätze gewagt wurden. Schließlich setzt es hier vermeintlich auf Leben oder Tod. In solchen Fällen gewinnt nicht nur die Dynamik des Glücksspiels oder des Spielens an morbidem Hautgout; das Spiel der Zeichen, insbesondere qua Markierung ihrer Arbitrarität, ist stattdessen als Barometer der Existenz ausgewiesen. Dieser Kette ist mit Wurf auf den Wurf ein weiterer Zufall vorgeschaltet, in dem überhaupt seine Zufälligkeit als Grundlosigkeit ersichtlich wird. Das Zeicheninstrument im Glücksspiel, sei es ein Würfel, eine Karte oder das Rouletterad, ist zunächst autonom, d.h., es bezeichnet etwas Unbekanntes oder nicht genau Ausgehandeltes. Mit dem Setzen kommt eine private Belegung der Zeichen hinzu, die ihr die jeweilige Signifikanz von Gewinn oder Verlust verleiht. Raphaëls Setzen ist ein anderes: Er bestimmt nicht selbst, was gewisse Zeichen für ihn zu bedeuten haben, sondern setzt auch darauf. Nun scheint hier eine kategorische Divergenz zur vorher umfangreich etablierten Erzählsituation des providentiellen Spielens im providentiellen Spielhaus, des vorgeschickten Spielerschicksals, der bilderreich gefestigten Zuschauersituation – der auch die Rezipientinnen und Rezipienten unterworfen sind – und insbesondere der konsolidierten Erzählinstanz vorzuliegen. Anhand der rhetorischen Veränderung letzterer lässt sich ablesen, wie in der dichten Darstellung eines Spiels sich diese vorgenommenen Schickungen als unterminiert und doppelbödig herausstellen – eine Entformatisierung, die als diagonale Operation den gesamten Text prägt. Im Einsatz auf den Einsatz vertieft sich die Plattentektonik des Peau de chagrin, der als Roman 38 Vgl. Weber, Unwrapping Balzac, S. 28. 39 Vgl. Bell, Circumstances, S. 160. Im Gegensatz zu Bell, der in seiner apodiktischen Rhetorik meint, dieses Setzen auf das Setzen sei „obviously a rehearsal“, möchte ich es als tatsächlichen Teil des Spiels lesen, das der Unbekannte, aber auch die Erzählung selbst mit den Zufällen spielt.
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vor allem über die Antizipation von Schicksal beschreibbar ist, das sich strukturell wie narrativ aufspaltet: Seine gesamte Logik kann auf die Intentionen und Leidenschaften dieses jungen Mannes genauso zurückgeführt werden wie auf ein ihm vorbestimmtes Schicksal. Es handelt sich um die zweifache, irreduzible Möglichkeit des Textes, die in ihm aufeinanderfolgenden Ereignisse lediglich zu notieren, und sie zugleich für den Zustand seiner Gesamtheit denotiert zu haben. Der noch immer gestaltlose und inhaltsleere Unbekannte ist im Zeitraum seiner Anwesenheit im Spiel automatisiert, wie auch der providentielle Geltungsbereich des Kommentars einer stufenweisen Abfolge von Beschreibungen gewichen ist. Der voluminöse Aufwand zur Festsetzung seines Spiels auf Leben oder Tod schwindet im Anschluss an die Abfuhr des Lebens im Spiel. Vor dem Spiel war noch „[l]a morne impassibilité du suicide“40 auf seinem Gesicht zu erkennen. Nachdem tatsächlich Rot fällt und mit dem letzten Geldstück auch die letzte Chance auf eine Chance getilgt wurde, begibt er sich folgerichtig an die Quais der Seine. Allein, er verwirklicht dort sein Vorhaben nicht. Bereits an dieser Stelle ist nicht länger entscheidbar, welche Funktion das Spiel im Text überhaupt hatte, am sichtbarsten anhand der Frage, ob es konsequentiell war oder nicht. Die entwertende, tilgende Reinszenierung wird bei Balzac selten noch einmal so deutlich wie in dieser Konsistenzfrage des Peau de chagrin: Wie ist ein Spiel zu deuten, das dermaßen ausgiebig die Vorzeichen der Erzählung bestimmen sollte, das als Anfang des Romans sogleich das Ende seines Protagonisten beschloss, dieses aber nicht materialisiert, im selben Zuge auch gleich wieder vergessen, abgekoppelt scheint und somit vom chronologischen Ende der Erzählung und der Ereignisse her – die nämlich im letzten Teil wieder zusammenfallen – einen Anflug des Überflüssigen erhält? Kurzum: Wo liegt die sequentielle Legitimität dieser Szene, aus der eine oberflächliche Bedeutung destilliert werden könnte? Sowohl die Chronologien in Balzacs Roman als auch die Kausalitäten lassen diese Frage nur begrenzt offen, denn entscheidbar ist zumindest, dass zwei Möglichkeiten gleichberechtigt nebeneinanderstehen und gerade darin die Kontingenz zu einer Feinheit seines Erzählens in Konstruktion und Dargestelltem stilisieren. Die Schickung des Spiels ist einerseits in ihrer Führung ins Leere, in ihrer Setzung auf einen Tod, der nicht unmittelbar eintritt als großangelegter, aber dysfunktionaler éffet de réel genauso plausibel, wie als erstes Glied einer Kette aus Kontingenzen, die schließlich doch in einen Tod Raphaëls führt, der als nachgeschobener, äußerst umständlicher Suizid auf Wunscherfüllung verstanden werden kann. Der suizidale Spaziergang an der Seine führt ihn nämlich in das verhängnisvolle Antiquariat, inklusive Erwerbung des Chagrinleders; von dort zurück durch die Eingangstür und ins Leben, von wo aus ihn eine Zufallsbegegnung mit seinen Freunden zur ausgedehnten Erzählung seiner Vorgeschichte führt; an Ort und Stelle trifft nach Abschluss dieser bio-
40 Balzac, La Peau de chagrin², S. 61.
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grafischen Ausführungen in der Jetzt-Zeit des Romans die Nachricht einer plötzlichen Erbschaft ein, auf deren Grundlage er zum reklusiven, degenerierenden Dandy wird, der nach mehreren weiteren Verwicklungen schließlich den Schwächetod des Spätgeborenen stirbt.41 Dieses Ende auf die Begebenheiten des Anfangs im PalaisRoyal zurückzuführen und gleichzeitig davon isoliert betrachten zu können, funktioniert aufgrund der Strickungen des Textes und seines sinisteren Verhältnisses zum Zufall. Nach dem verlorenen Spiel resümiert der Erzähler, zu neuer Stärke erwachsen: „Combien d‘événements se pressent dans l’espace d’une seconde, et que de choses dans un coup de dé!“42 Der Vorfall des Zufalls enthält weniger die nachfolgenden Ereignisse, vielmehr aber das Möglichkeitsspiel des Romans, auf dem Zusammenhang der Ereignisse basieren zu können und im selben Moment von ihnen abstrahieren zu dürfen. In dieser Szene hat sich kaum ein reales Ereignis, das uns Verbindlichkeit über die Person des Unbekannten liefert, abgespielt, dafür aber das Ereignis des Zufalls, das – wie Balzac später im Avant-propos ja bestätigen wird – die Ereignishaftigkeit des Romans ist. Der Inhalt des Ereignisses vom Zufall ist ein rein formaler, in dem nur sich selbst bedeutende Signifikanten genannt, aber nicht geordnet werden. Gerade deshalb handelt es sich um einen Vorfall, ein Ereignis, von dem nur gewusst wird, dass es stattgefunden hat, aber nicht, wozu es funktional wird, bzw., was es bedeutet.43 Zumindest in diesem Moment liegt eine Erkenntnis, die eine potentielle Dysfunktionalität der Spielszene ein für alle Mal tilgt: Selbst wenn sie für die Auslegung der Vorgänge des Textes berechtigterweise als unbedeutend, als trivial markiert würde, so ist es doch in privilegiertem Maße diese Szene, die die Möglichkeit ihrer eigenen Tilgung und Dysfunktionalität artikuliert. Ihre Arbeit besteht so oder so darin, die potentielle Nicht-Bedeutung ihrer selbst transparent zu machen. Und so erweist sich die Kontingenz nicht nur als exponierte Möglichkeit des Erzählens, sondern als ebenso im Erzählen bevorzugt exponierbar. Mit der Darstellung und
41 Mit einem Wortspiel wird auf die Differenz dieser Erbschaft, die von einem Onkel aus Kalkutta eintrifft, hingewiesen: „C’est une fortune incalcuttable! s’écria le juguer.“ Ebd., S. 208. 42 Ebd., S. 63. Hier wird das Potenzial der besonderen Spielzeit betont, zuweilen in Sekundenschnelle eine Ereignisvielfalt ganzer Romane zu konzentrieren. Genau auf diesem Potenzial siedelt ein Sinn dieser Eröffnungsszene als Spielszene. Vgl. dazu auch Molesworth, Chance and the Eighteenth-Century Novel, S. 91f. 43 Das jeweilige zufällige Ereignis inkorporiert immer auch das Ereignis des Zufälligen, dass also etwas Zufälliges geschehen ist. Das Zufällige ist als Eigenschaft eines Ereignisses auch immer Ereignis selbst; es betont seine besondere Form des Einzelfalles, die den derridaschen Spuk des Ereignisses – seine unmögliche Möglichkeit, von ihm zu sprechen – betont. Vgl. dazu Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, S. 36.
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Schickung des reinen Zufalls durch die Kanäle einer prekären Glücksspielszene konstruiert Balzac in diesem Roman die Bedeutung eines fragwürdigen Bedeutens. Der eigentliche Gegenstand des Textes, der diese doppelten Möglichkeiten intakt hält, ist jedoch das Chagrinstück selbst. In der umfangreichen Lektüre dieses Romans, die Samuel Weber vorgelegt hat, und die insbesondere von den symbolischen und realen Warenkreislaufen in marxscher Theoriesprache geleitet ist, heißt es: „He [Raphaël, S.T.] goes to the casino in order to lose, and yet, hours later, he takes possession of the peau de chagrin.“44 So ungefragt, wie dieses Lederstück sich in die Mechanismen des Romans drängt, so wenig ist sein eigener Mechanismus aufzulösen. Wir können nicht letztgültig erkennen, ob es tatsächlich als tödliche Wunschmaschine operiert, als die es von seinem Verkäufer beworben wird, oder lediglich eine Antiquität darstellt, auf die Raphaël sein Schicksal überprojiziert. Sicher ist damit nur die Unentscheidbarkeit, die es mit sich führt: Diese Unentscheidbarkeit zwischen Schicksal und Intention bzw. Wunsch oder Wille aber ist in ihm so festgeschrieben, wie es sonst bipolar gespalten ist. Die Dysfunktionalität eines Spiels, das im Munde des auf Providenz des Spielens fokussierten Erzählers klare teleologische Besetzungen erfährt, gerade darin sich aber die Möglichkeit der Nichterfüllung vorbehält, wird in La Peau de chagrin wieder zum Telos der Darstellung. So erhält das Spiel auch wieder eine Funktion. Wenn überhaupt, so kann in dieser Wechselwirkung eine logische Auseinandersetzung mit den kontingenten Zuständen der Texte Balzacs stattfinden. Die Entscheidung für die gebrochene Sequentialität der Ereignisse findet mit dem Palais-Royal an einem Ort statt, der analog zu den Illusions perdues als Raum der Bilder und Geschichten einen außerweltlichen, fiktionalen Gegenentwurf zum realen bios Raphaëls darstellt. Das Casino gewährleistet zugleich die Atmosphäre von Fluktuation, Transaktion, des Austausches und der Verwirrung dieses Austausches, worin die Ursache-Wirkungs-Relationen außer Kraft gesetzt sind. Raphaëls zögernder, schlangenlinienartiger Weg an den Wassern der Seine nach dem Besuch des Spielhauses ist von dem Zustand zwischen Tod und Leben noch durchzogen. Nach seiner dreifachen Näherung gen Spieltisch findet ein dreifacher Abschied von den Parametern des Lebens statt. Am Quai Voltaire findet er auf wundersame Weise („d’une manière véritablement fantastique“) doch noch ausgerechnet drei Sous in den magischen Untiefen seiner Tasche. Ungeachtet dessen, dass das selbstbewusst angekündigte Spiel um den letzten Sous als Spiel um Leben und Tod mit diesem Nebensatz bereits wieder erübrigt wurde, kehrt er nicht etwa ins Palais zurück,45 sondern geht erstens an den Bücherständen vorbei, verschenkt zweitens die letzten Münzen an ei-
44 Weber, Unwrapping Balzac, S. 122. 45 „But, as in the casino, the young man is short-changed: and thus, the mystery – and the story – are preserved.“ Ebd., S. 34.
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nen alten und einen jungen Bettler, die abermals Anfangs- und Endpunkte des etablierten Schicksalsbegriffs personifizieren, und blickt drittens eher schwermütig als sehnsüchtig einer schönen Unbekannten hinterher: „C’était, de sa part, un adieu à l’amour, à la femme.“46 Diese Abschiede von der Kunst der Bücher, von der Ökonomie des letzten Geldes und von der Liebe vervollständigen die biografische Entleerung, indem sie, wie wir später lernen werden, die drei Hauptbedürfnisse des aufstrebenden Schriftstellers Raphaël de Valentin negieren, der sich neben der Dichtung und Philosophie auch zwischen zwei Frauen gefangen und stets durch Armut und Abstieg bedroht sieht. Mit dem nun folgenden Eintritt in jenen Antiquitätenladen wird abermals ein Ort außerhalb der Wirklichkeit, ein Reservoir des Fiktionalen inszeniert: „[I]l sortit de la vie réelle, monta par degrés vers un monde idéal, arriva dans les palais enchantés de l’extase où l’univers lui apparut par bribes et en traits de feu, comme l’avenir passa jadis flamboyant aux yeux de saint Jean dans Pathmos.“47 Gemäß einer literarischen Gattungsgeschichte, die von der Entwicklung der Epopöe zum subjektbasierten Roman berichten könnte, schreitet Raphaël im artifiziellen Interieur des merkwürdigen Geschäfts am altgriechischen Epos und Artusroman vorbei, um im 19. Jahrhundert schließlich bei sich selbst als Roman des dernier cri zu landen: „Après s’être emparé du monde, après avoir contemplé des pays, des âges, des règnes, le jeune homme revint à des existences individuelles.“48 Hieran anschließend wird das gesamte stoffliche Register vom Mönchsroman über die Seefahrergeschichte gezogen. Der Gang mündet in der metafiktionalen Kontemplation, die offenkundig die Gegenwart des Romans, dieses Romans kommentiert, der noch immer auf der Schwelle von Leben und Tod residiert: „Enfin, doutant de son existence, il était comme ces objets curieux, ni tout à fait mort, ni tout à fait vivant.“49 Am Ende dieser Kette aus Kuriositäten steht das Chagrinleder, dessen vorgebliche Zauberkraft zwischen genau diesen Kräften vermittelt. Seine Regel besagt, je mehr gelebt wird, je mehr gewünscht und erfüllt wird, desto näher rückt der Tod. Die Wunscherfüllung wie auch die todbringende Macht ginge von dem Lederstück aus, das zugleich einen Messapparat des Fortschritts dieser Proportionalität darstellt: Es schwindet, und sobald es verschwunden ist, stirbt sein Besitzer. Damit besetzt es entweder materiell als tatsächlich fantastisches Instrument oder ideell als Symbol synekdochisch exakt einen Platz zwischen Material und Idee, die vom Antiquitätenhändler mit der Verzehrung durch Wollen und Können einerseits und der Askese des Wissens andererseits konzentriert wird: „Vouloir nous brûle et Pouvoir nous détruit; 46 Balzac, La Peau de chagrin², S. 66f. 47 Ebd., S. 70. Schnyder hat in seiner Lektüre auch eine Erörterung des Antiquitätenladens geliefert. Vgl. Schnyder, Alea, S. 375-379. Vgl. auch das Kapitel The Store in: Weber, Unwrapping Balzac, S. 35-43. 48 Balzac, La Peau de chagrin², S. 72. 49 Ebd., S. 73.
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mais Savoir laisse notre faible organisation dans un perpétuel état de calme.“50 Die Dichotomie findet viele Wiederholungen im Text, sei es durch den aufgeworfenen Wissenschaftsdiskurs, der am unschuldigen Lederstück zu seiner chemisch induzierten Vergrößerung im letzten Drittel durchexerziert wird, oder in den beiden Frauen, die Raphaël beschäftigen, wobei Fœdora, die Titelgestalt des zweiten Romanteils, als Femme sans cœur die unheilvolle erotische Versuchung der femme fatale aufruft, während Pauline hingegen das fragile, unwahrscheinliche Ideal verkörpert.51 Der Zugriff auf den Körper, wie er durch das Chagrinleder stattfindet, könnte nicht deutlicher auf dieses autopoetische Lebensthema Balzacs hindeuten, das ihn immer wieder Maschinenmenschen der Künstlerexistenzen untermischen lässt. Beim Verlassen des Spielsalons wird diese zum Chagrinstück proleptische Assimilation durch die Zufallsmaschinen bestätigt: Raphaël vergisst um ein Haar seinen Hut, wird aber vom alten Zerberus noch rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht: „[L]e joueur restitua la fiche par un mouvement machinal [...].“52 Diese zum Automat gewordene Existenz des Idealisten wird sich nie ganz verflüchtigen und ist insbesondere im letzten Kapitel der Agonie präsent: „Presque joyeux de devenir une sorte d’automate, il abdiquait la vie pour vivre, et dépouillait son âme de toutes les poésies du désir. [...] Au sein du luxe, il mena la vie d’une machine à vapeur.“53 Ein derartiges Interesse an den automatisierten Körpern soll abschließend geordnet werden. Einen Anknüpfungspunkt liefert dabei ein kurzer Blick in Balzacs Familienalbum.
N ACHLEBEN : B IO -Ö KONOMIE Laure Surville, geborene Balzac, äußert sich 1858 in ihren biografischen Bemerkungen zum bereits seit fast einer Dekade verstorbenen Bruder (Sa vie et ses oeuvres d’après sa correspondance), wie auch einige Biografen nach ihr,54 zunächst über den gemeinsamen Vater und seine Vorbildrolle für die im Hause Balzac zirkulierenden Ideen. Bernard-François Balzac (1746-1829), der bis in die 1770er-Jahre noch Balssa hieß, muss man sich offenkundig als mit prägnanter Tatkraft und originellem Enthu-
50 Ebd., S. 85. 51 Vgl. zur Charakterisierung Paulines den Epilog, S. 293: „[L]a reine des illusions, la femme qui passe comme un baiser, la femme vive comme un éclair, comme lui jaillie brûlante du ciel, l’être incréé, tout esprit, tout amour.“ 52 Ebd, S. 64. 53 Ebd., S. 217. 54 Vgl. u.a. Keim/Lumet, Honoré de Balzac; Satiat, Balzac ou la fureur d’écrire.
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siasmus ausgestatteten Bonvivant vorstellen, dessen auffälliges und impulsives Gemüt ihm zuweilen auch den Ruf eines Exzentrikers eintragen hatte.55 Unter den erwähnenswerten Eigenheiten sticht eine eifrige Obsession und Fixierung auf die eigene Gesundheit hervor: „Il s’arrangeait si bien de l’existence qu’il voulait vivre le plus longtemps possible. Il avait calculé, d’après les années qu’il faut à l’homme pour arriver à l’état parfait, que sa vie devait aller à cent ans et plus ; pour atteindre le plus, il prenait des soints extraordinaires et veillait sans cesse à établir ce qu’il appelait l’equilibre des forces vitales. Grand travail, vraiment !...“56
Als Resultat einer Berechnung weist das Ergebnis eines höchst unwahrscheinlich zu erreichenden Alters von über hundert Jahren für ein vollkommenes Lebensstadium auf ein gewisses ironisches Temperament hin; andererseits ist die Einnahme diverser Tinkturen und Elixiere ein gültiges Indiz für eine angemessene Seriosität, sich dem genannten Ziel zu nähern. Die abschließende Interjektion Survilles unterstreicht dahingehend das Laboriöse des Unterfangens, die Arbeit am Körper. Hierin entschlüsselt sich die Extravaganz als kreativer Impuls im Hinblick auf ein Projekt, das letztlich nichts anderes als eine Investition darstellt. Bei der Sorge um die physische Stabilität handelt es sich nicht allein um eine somatische Selbsttherapie; der optimierte Körper wird vielmehr seinerseits als Spekulation auf nachhaltige Geschäfte verwendet, wenn das lange Leben per Leibrente zum Instrument materieller Konsolidierung avanciert. Ein Teil des Vermögens von Balzac père floss in staatliche Rentenpapiere (es ging auf das grand livre)57, während der andere in die Caisse Lafarge wanderte, eine 1791 gegründete Tontine, bei der er einer der stärksten Mitbieter („un des plus forts actionnaires“) gewesen sei.58 Die während des 18. und frühen 19. Jahrhunderts beliebten lotterieähnlichen Rentenversicherungen namens Tontinen59 funktionierten gemäß des K.O.- bzw. Winner-takesit-all-Prinzips: Der letzte Überlebende einer Versicherungsrunde erhält den gesamten Betrag. Konkret bedeutete Bernard-François Balzacs Anlage somit ein doppeltes Risiko, schließlich hing die ökonomische Situation der Familie nunmehr sowohl in 55 Vgl. Keim/Lumet, Honoré de Balzac, S. 3ff. 56 Surville, Sa vie et ses oeuvres d’après sa correspondance, S. 7f. 57 Vgl. Bosher, French Finances, S. 240. Das grand livre de la dette publique war eine staatliche Abgabeform, gemäß derer „a set of registers on which every rente of more than 50 livres a year would be inscribed and [that] arrange[s] for a unified system of payment in the Treasury“. 58 Surville, Sa vie et ses oeuvres d’après sa correspondance, S. 8. 59 Vgl. Art. „Tontine“. In: Le Grand Robert de la langue française, S. 1281. Der Eintrag entnimmt sein Belegzitat bezeichnenderweise einem Text von Balzac. Er hält zudem den Hinweis bereit, dass der Begriff einem regelähnlichen Kartenspiel entlehnt wurde.
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nicht unbedeutendem Maße tatsächlich vom Wohlbefinden des Patriarchen ab, als auch von der Situation bei Lafarge, die angesichts teils skandalöser Misswirtschaft alles andere als gesichert war. Der verantwortliche Balzac blieb trotz der Krisenperioden guter Dinge, von Lafarge eines Tages ausgezahlt zu werden und als letzter Überlebender das Rentenspiel zu dominieren: „[M]ais sa belle et verte vieillesse lui donna l’espoir de partage un jour avec l’Etat, à l’extinction des concurrents de sa classe, l’immense capital de la tontine.“60 Laure Surville inszeniert den Vater mit solchen Anekdoten retrospektiv als einerseits von markanten Idiosynkrasien und andererseits von kalkulierender Intelligenz und Durchsetzungsfähigkeit geprägt; die Parallelen zum berühmten Sohn sind vor allem unter Berücksichtigung der stofflichen Anschlüsse in den Pariser Reflexionen61 der Comédie humaine interessant. Balssas-Balzacs Biografie ist mit zahlreichen Zäsuren und weißen Flecken durchsetzt, die sich typischerweise aus der sich permanent wandelnden Sozialstruktur Frankreichs des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ergeben: „It is impossible to follow him [Bernard-François Balzac] through all the different wanderings necessitated by his functions, [...].“62 Bereits in jungen Jahren ist er angeblich im Conseil du Roi unter Louis XVI. tätig; während der Revolution arbeitete er unter anderem für das Marineministerium und war später, unter dem Direktorium, als leitender Offizier für die Versorgung der Truppen (als Directeur des vivres) im strategisch wichtigen Tours stationiert, wo er sich alsbald auch niederließ.63 Verbindungen zunächst zur Prominenz des Ancien Régimes bauten sich zu Netzwerken und Seilschaften während der Revolutionszeit aus, sodass die für Opportunisten so fruchtbare Instabilität dieser Periode Frankreichs im Umbruch auch den tatkräftigen Vater eines ihrer bekanntesten literarischen Chronisten gedeihen ließ. Insbesondere die wendungsreichen und schleierhaften Lebensentwürfe der zahlreichen Spitzel und Geheimpolizisten etwa in Splendeurs et misères des courtisanes dürften sich somit nicht allein an berühmten Mitläufern, Gesinnungslosen und politischen wie sozialen Chamäleons à la Joseph Fouché, Pierre Coignard oder EugèneFrançois Vidocq orientieren lassen, sondern ebenso gut an den Hakenschlägen und
60 Surville, Sa vie et ses oeuvres d’après sa correspondance, S. 8. 61 Damit ist nicht zwangsläufig die Sektion der Scènes de la vie parisienne in Balzacs sprunghafter, systematisch zuweilen schlecht nachzuvollziehender Ordnung der Dinge gemeint, sondern vielmehr jene Texte, die das Paris der Restaurationszeit als Schauplatz konkurrierender (symbolischer) Kapitalströme inszenieren. 62 Keim/Lumet, Honoré de Balzac, S. 4. 63 Vgl. Satiat, Balzac ou la fureur d’écrire, S. 3.
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Metamorphosen im Leben des Vaters.64 Dieser fühlte sich erst spät zum Familienoberhaupt berufen, heiratete nicht vor seinem 52. Lebensjahr und knebelte seinen Wohlstand sodann über besagte Tontine an den eigenen Körper und damit wohlgemerkt ebenso an die von Surville eher nebenher erwähnte „extinction des concurrents de sa classe“. Diese Beiläufigkeit einer von der Tiefe des Einzelschicksals geprägten Äußerung ist mit der bürokratischen Kodifizierung zu erklären. Unter dem Siegel der gegenseitig zuzustimmenden Abmachung im Kontrakt verschwindet die dem Tod eigene existenzielle Semantik vom Lebensende zugunsten der technischen und utilitären Färbungen, die in der Rede von der „extinction“, der Löschung und Auslöschung besagter Konkurrenten, zur Geltung kommt. Der Tod der anderen wird angesichts der Regeln der Tontine zur Bestätigung des eigenen Lebens, verliehen mit einer spezifisch produktivistischen Note durch die materielle Gratifikation. Die Produktionsmittel sind mit dem eigenen Körper, seiner Qualität und Ausprägung sowie seiner Instandhaltung und Wartung gegeben. Als Form des Sich-Selbst-Bewirtschaftens soll die daran gebundene Produktionspraxis mit ihren begleitenden, vorausgehenden und konsequentiellen Ideen im Sinne einer Bio-Ökonomie, also einer Transaktion verstanden werden, bei der der Körper gleichzeitig als Produktionsmittel wie auch als Produkt eingesetzt ist. In einer für Balzac typischen Aufrechnung eines asketischen Lebens zur Bestreitung eines bestimmten Projekts, liefert auch Raphaël de Valentin Auskunft über einen Dreijahresplan, innerhalb derer „un ouvrage“ entstehen soll, „qui pût attirer l’attention publique sur moi, me faire une fortune ou un nom“65. Das ganze Projekt wird als Wette ausgewiesen, die zur Erlangung von Ruhm oder Vermögen das Spiel mit dem Spieler identifiziert: „Ce fut comme un pari [sic!] fait avec moi-même, et dont j’étais le joueur et l’enjeu.“66 Diese Gesinnung hat einiges mit der Tontine gemeinsam. Sie verkörpert im Vergleich etwa mit der Assignatenwirtschaft einen Sonderfall innerhalb der von Vogl dargelegten Signifikatenverwirrung. Zwar liegt auch hier ein Terminhandel vor, der fraglos ebenfalls von jener üblichen Ungewissheit der Zukunft betroffen ist, jedoch bindet sich diese Ungewissheit an das eigene Leben in Form der Unversehrtheit des 64 Curtius betont die Charakterisierung Vautrins u.a. anhand von Coignard und Vidocq. Vgl. Curtius, Balzac, S. 401. Zur Inspiration durch den suspekten Vidocq, der nicht nur als Innovator der Kriminologie und des Ermittlertyps gilt, sondern mit Balzac auch persönlich bekannt gewesen ist, vgl. ebd., S. 457. Vgl. auch Reboussin, Vautrin, Vidocq et Valjean. Neben den Metamorphosen dieser Charaktere spielen auch deren Eingriffe in das eigene Schicksal eine große Rolle – ein Modus, der für das Literaturverständnis, das etwa Vautrin als „Macher“ beschreibt, von hoher Relevanz ist. Balzacs Vater kann als eine der frühesten Gestalten in der Erlebenswelt des Schriftstellers gelten, der diese Rolle ebenso ausfüllt. 65 Balzac, La Peau de chagrin², S. 133. 66 Ebd.
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eigenen Körpers. Die Produktionsverhältnisse sind durch die Produktivkraft der instrumentellen gegenwärtigen Zukünfte bestimmt und damit entscheidend als kontingent entfaltet. Es besteht in der Produktionsidee des Körpers, der als Produktivkraft auf ein spezifisches Produktionsverhältnis rekurriert, eine ganz besondere Relation, in der Spieler und Spiel miteinander identisch sind:67 Das Spielen meint in der Tontine simpel Dasein; die Ware ist das Leben, also jener Bereich, der Waren überhaupt erfahrbar macht. In Balssas Tontine wird das Leben als Produktionsmaschine eingesetzt und der Körper entsprechend behandelt und gepflegt.68 Im Gespenst des Kapitals nennt Vogl mit der Bioökonomik einen ähnlich gelagerten Begriff. Bioökonomik weist auf die zur Ertragssteigerung virulenten Optimierungsfragen hinsichtlich der „Vitalstandards von Populationen“ hin: „[D]ie Verknüpfung von biologischer, sozialer und ökonomischer Reproduktion“69 ist letztlich auch im Zusammenhang mit Balzac von eminenter Bedeutung. Während sich Vogl eher für die direkten Zusammenhänge von Fertilität, Humankapital und Zinserträgen im Spektrum seiner Überlegungen zwischen sozialer Bedingung und Entwicklung des modernen Marktes interessiert, kann die Bio-Ökonomie eine ebenfalls durch Foucault angeregte Machtrelation zwischen Leben und Geschäft kennzeichnen, die den für Vogl relevanten Verhältnissen durchaus entspringt, aber einen stärkeren Akzent auf die Individualkonkurrenz der balzacschen Hasardeure legt.70 67 Marx unterscheidet im Vorwort der Kritik der politischen Ökonomie (1859) zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen hinsichtlich der Bedingungen, die eine „materielle[...] Entwicklungsstufe“ bereitstellt, etwa betreffs technischer Errungenschaften und den Verhältnissen, die sich daraus ergeben: „Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.“ Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 8. 68 Hörisch hat auf die Kontingenz des eigenen Lebens im Spiel der Lebensversicherung hingewiesen: „Es ist ein temporaler Beziehungswahn, wenn Leute massenweise und der offensichtlich gebrechlichen Einrichtung der Welt [...] zum Trotz [...] Lebensversicherungen über 30 Jahre abschließen – und damit nicht nur verkennen, daß man seines Lebens schlechthin nicht sicher sein kann, sondern auch kaum mehr sinnvoll steuerbare Kapitalmassen freisetzen, die möglicherweise die Unsicherheiten induzieren, gegen die sie eingesetzt werden.“ Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 112. 69 Vogl, Das Gespenst des Kapitals, S. 138f. 70 Der Begriff „Bioökonomie“ kommt, neben seiner staatlich-politischen Verwendung für die zukunftsorientierte Nutznießung neuer Technologien, in einem großen transdisziplinären Diskurs vor (allerdings mit unterrepräsentierter Beteiligung der Literaturwissenschaften). Diverse Interesseschwerpunkte analysieren mit seiner Hilfe die Bewirtschaftung sowohl des menschlichen Körpers als auch der Natur, wobei Prozesse der Kommodifizierung von Organen, Eizellen, Embryonen, aber auch die reproduktiven Zyklen etwa in der Abfall-
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Die konzeptionelle Grundmenge der Bio-Macht und Bio-Politik setzt die bereits bei Balzac bestehenden Parameter. In La volonté de savoir (1976) gliedert Foucault die Macht „de faire vivre ou de rejeter dans la mort“, welche seit dem klassischen Zeitalter ein „vieux droit de faire mourir ou de laisser vivre“ ersetzt hat, in zwei sich nach und nach stärker umschlingende Entwicklungsstränge: Erstens finden wir denjenigen Pol, der das Automatische des Körpers, „comme machine“, anvisiert, womit die Konzentration und Verwertung der je einzelnen physiologischen Kinetik sowie seine „intégration à des systèmes de contrôle efficaces et économiques“ gemeint ist; und zweitens sei eine panoramatische Form mit der auf demografisch-physiologische Kontrolle und Regulation ausgerichteten „bio-politique de la population“ zu beobachten.71 Die großangelegte Fusion beider Stränge zum Instrumentarium der BioMacht ist sodann als prägendes Phänomen des 19. Jahrhunderts ausgewiesen und darin ein konstitutives Element des Kapitalismus: „Ce bio-pouvoir a éte [...] un élément indispensable au développement du capitalisme ; celui-ci n’a pu être assuré qu’au prix de l’insertion contrôlée des corps dans l’appareil de production et moyennant un ajustement des phénomènes de population aux processus économiques.“72 Bio-Ökonomie bedeutet in diesem Verständnis nicht allein die Ökonomisierung und Kommodifizierung des Körpers, sondern ein instanzenloses ökonomisches Interesse an einer Kapitalisierung durch das Leben dieser Körper selbst, ihrer Einreihung in den ökonomischen Kreislauf und ihrer Selbstpflege für die Bedingungen des Marktes, nebst den Geschäften, die mit dieser Instandhaltung betrieben werden können. Eine materielle Produktivmachung des Lebens unter dem verborgenen Zugriff der anonymen Bio-Macht auf der Grundlage einer Anpassung und Kontrolle der ökonomischen Demografie, des Normalmaßes von Arbeit sowie der individuellen körperlichen Signifikanz konstituiert ein Leben, das sich selbst als wertschöpfend einsetzt.73 und Müllbewirtschaftung als Teilerscheinungen eines Kapitalismus des späten 20. und 21. Jahrhunderts gelesen werden. Vgl. dazu den Sammelband Lettow (Hrsg.), Bioökonomie. Die profitable Sparte der Pharmaindustrie würde in diesem Sinne genauso Teil einer Bioökonomie wie die Subventionierung von Stammzellenforschung oder die Errungenschaften des Recyclings. Jeder Cent, der mit oder gegen das Ozonloch, mit oder gegen das HI-Virus, die DNA-Forschung und schweißabweisende Deodorants in Zirkulation gerät, ist Teil dieser Bioökonomie. Die relevanten Zusammenhänge zum Kapitalismus neoliberaler Provenienz bearbeitet etwa Cooper, Life as Surplus. Vgl. auch Schaper-Rinkel, BioPolitische Ökonomie, S. 168ff. 71 Foucault, Histoire de la sexualité I: La volonté de savoir, S. 181-183. 72 Ebd., S. 185. 73 Zum Gedanken einer jeweils über Foucaults Bio-Macht legitimierten Verbindung zwischen Biopolitik und -ökonomie, vgl. Larsen, Wahr-Sprechen und Biomacht, S. 20-24. Dass dabei das klassische Recht des Souveräns in eine Macht umschlägt, unter der die Gefügigkeit noch ein besonders einschneidendes und stabilisierendes, weil schwierig zu
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Bernard-François Balzacs Fokus auf den eigenen Körper wirkt angesichts dessen wie ein prägnantes Beispiel für Foucaults Auswertung: „L’homme occidental apprend peu à peu ce que c’est que d’être une espèce vivante dans un monde vivant, d’avoir un corps, des conditions d’existence, des probabilités de vie, une santé individuelle et collective, des forces qu’on peut modifier et un espace où on peut les répartir de façon optimale. Pour la première fois sans doute dans l’histoire, le biologique se réfléchit dans le politique [...].“74 Dieser letzten Behauptung kann ein alternatives Register beigesellt werden, nach dem sich das Biologische im Ökonomischen reflektiert, ein Relais mit der beruflichen Karriere, dem materiellen Besitz sowie der Produktionsweise in den Fabriken und Städten bildet. Denn wo Foucault die Vokabel der Politik in Lemmata des Verwaltens, der Kontrolle und der Regulierung einkleidet (contrôle, régularisation), würde die Ökonomie zunächst mit Ausdrücken der Transaktion, der sozialen Relation zwischen Konkurrenten und Partnern operieren, sodann durch Effektivierungsbegriffe der damit zusammenhängenden Optimierungs- und Investitionsprozesse präzisiert. Das Leben, im Sinne Foucaults, ist zum Gegenstand ökonomischer Verhältnisse transponiert. Eine solche Perspektive akzentuiert den Druck der Bio-Macht auf die Ressorts des Marktes, der Produktion und der Arbeit. Die Beschreibung Foucaults der eher stabilisierenden Gegenbewegungen zur Bio-Macht, die nämlich ebenso auf den Begriff des Lebens abzielen, lesen sich wie die wesentlichen Koordinaten des Hochkapitalismus, wenn sie als Ingredienzien des Produktfetischismus moderner Gesellschaften zur Optimierung des Individuums durch die Möglichkeit von Konsum verstanden werden: „Le ,droit‘ à la vie, au corps, à la santé, au bonheur, à la satisfaction des besoins, le ,droit‘, par-delà toutes les oppressions ou ,aliénations‘, à retrouver ce qu’on est et tout ce qu’on peut être [...].“75 Die anschließende Betrachtung von Sexualität als intensivem Hauptbeispiel zur Kristallisierung solcher Verhältnisse76 konstituiert sich über die darin angelegte Okkupation der Physis sowie über ihre Bedeutung für demografische Fernsteuerung.
beobachtendes Moment der Subversion darstellt, wurde bereits in Foucaults Ausführungen zur Disziplinargesellschaft in Surveiller et punir (1975) ausgearbeitet. Es ginge nicht mehr darum, einen Befehl unmittelbar durchzusetzen, die Körper der anderen zu unterwerfen, „pour qu’ils fassent ce qu’on désire“, sondern darum, eine pseudo-freiwillige Einvernehmlichkeit in die Macht-Technologien zu inkludieren („pour qu’ils opèrent comme on veut“), was ihre Effizienzsteigerung bei gleichzeitiger Maximierung der Unterwürfigkeit ermöglicht: „La discipline majore les forces du corps (en termes économiques d’utilité) et diminue ces mêmes forces (en termes politiques d’obéissance).“ Foucault, Surveiller et punir, S. 140. 74 Foucault, Histoire de la sexualité I: La volonté de savoir, S. 187. 75 Ebd., S. 191. 76 Vgl. ebd., S. 192.
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Sexualität spielt im großangelegten Leidenschaftsmotiv bei Balzac eine Hauptrolle. Seine verschobene Gestalt als ökonomisches Dispositiv findet es im Sujet von Angebot und Nachfrage körperlicher Liebe: Prostitution ist die einzige Möglichkeit zum besseren Leben in der großen Stadt. Coralie, Luciens Geliebte, wird als Schauspielerin eingeführt, die ihre Existenz einerseits als Mätresse Camusots absichert, deren beruflicher Erfolg aber unmittelbar mit den Intrigen um den metaliterarischen Diskurs im journalistischen Paris verbunden ist. Auch Lucien fällt dieser Linie anheim. Seine Situation verschärft sich, als er sich von seiner Geliebten aushalten lassen muss: Gemäß der Formel Pech im Spiel, Glück in der Liebe, hilft die Schauspielerin ihrem Liebhaber nach einer durchzechten Nacht über die Runden: „Le lendemain, en sortant de chez elle et revenant au quartier latin, il trouva dans sa bourse l’argent qu’il avait perdu.“77 In Anbetracht dessen, dass er den Schuldenausgleich nach einer gemeinsamen Liebesnacht zugesteckt bekommt, wird die Praxis der Prostitution sequentiell erfüllt und dabei lediglich in der Umkehrung der geschlechtlichen Konvention diskursiv nicht aufgerufen. Dass aber Luciens Weg durch Paris als Adaptionsleistung immer wieder an seine Schönheit und weniger seine Leistung gekoppelt ist, verzeichnet ihn als Investor auf die eigene Physiognomie.78 Der Ausgleich des Körpers für den geistigen Fleiß eines d’Arthez spitzt sich schließlich zu: „[L]es frais de la conversation parisienne et le jeu absorbaient le peu d’idées et de forces que lui laissaient ses excès. Le poète n’eut plus alors cette lucidité d’esprit, cette froideur de tête nécessaires pour observer autour de lui, pour déployer le tact exquis que les parvenus doivent employer à tout instant [...].“79 Das Surrogat führt zur umfassenden Impotenz: „Le grand homme de province avait reçu, joué, perdu le prix de plus d’un article en perdant aussi l’envie de le faire.“80 Insbesondere Prostitution und Selbstmord stellen bei Balzac die Topik zur Verhandlung des Körpers zur Verfügung. Claudia Albert gibt den Hinweis, wie während des 18. Jahrhunderts Wollust und Kuppelei, darin auch Prostitution, in finanztragende Unternehmungen kanalisiert wurden. Die Verschwendung sexueller Energie ist durch die Steuerung in lukrative Ehen kompensiert; genauso hat auch der Staat mit der Lotterie die Spielsucht der Bevölkerung auszunutzen gewusst.81 Diese Nähe zwischen Energieüberschuss und Eingliederung in den Fiskus ist eine maßgebliche Einheit bioökonomischer Macht. Eine Praxis, die wie die Tontine an der Schnittstelle zwischen Glücksspiel und Geschäft platziert ist, integriert indes die soziokulturellen und -historischen Kon-
77 Balzac, Illusions perdues, S. 417. 78 Vgl. Dieter, Anna-Lisa, Adonis in Paris oder Orient im Okzident. 79 Balzac, Illusions perdues, S. 491. 80 Ebd., S. 496. 81 Vgl. Albert, Corriger la fortune?, S. 118f.
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texte, die gemäß ihres Regularismus komplementär zum technischen Aspekt einfließen und Aufschluss über die semantische Einspeisung des Spielens geben können. Die Regeln der Tontine deuten sowohl auf die restaurativen als auch die reformerischen Kräfteverhältnisse des frühen 19. Jahrhunderts. Nostalgische Gefühle gegenüber der aristokratischen Epoche kommen in ihr über die pyramidenförmige Hierarchisierung von Besitz zum Ausdruck, die sich gemäß feudaler Ideen bis zur Spitze züngelt, wo das Zepter des einzelnen Repräsentanten die in diesem Fall monetären Fäden bündelt. Absolutismus und Ancien Régime bleiben so in der Tontine konserviert, zumal das Spiel selbst als Relikt des 18. Jahrhunderts sich noch in die Napoleonische Ära retten konnte; ihre Praxis wird gleichwohl durch die Umkehrung der Primogenitur, nach der nicht mehr der Erstgeborene, sondern der Letztüberlebende zum Begünstigten ernannt wird, modifiziert. Die Gnade der Geburt ist mit dem Kampf des Überstehens und Überlebens vertauscht, das agonale Prinzip ist durch den kontingenten Ablauf zersetzt. Tontinen verweisen mit dem besonderen Verhältnis zwischen Versicherungskalkül und Spielregeln zudem bereits auf latente Demokratisierungs- und insbesondere offen identifizierbare Kapitalisierungsprozesse, Bürokratisierungen des Lebens sowie die zu einem gewissen Grad willkürliche soziale Durchlässigkeit, für die Bernard Balssas Diätetik auch in Laure Survilles Erinnerung Pate zu stehen hat. Zirkulationsmuster und Tauschprinzipien sind konstitutiv für die Tontine, aus der wiederum derartige Mechanismen des zwischenmenschlichen Transfers – seien sie ökonomisch oder sozial oder beides – umgekehrt als Funktionen des balzacschen Oeuvres ableitbar sind, wenn sie dort nämlich das Personal und ihre Interaktionslogik strukturieren: Flexibilität und eine generelle Substitutionalität der Persönlichkeit, des Besitzes, der Affären, des Standes, ja sogar der Namen unter dem Siegel der amoralischen Spontaneität und damit des Gewinns und des Verlustes bestimmen die Stoffe der Comédie humaine. Die saturierten gegenwartsanalytischen Qualitäten der Comédie humaine sind streng an ihre formalen Besonderheiten gekettet. Dabei bilden die Prinzipien der Tontine anhand der besonderen Radikalität dieses Spieles einen potentiellen Hintergrund.82 Die Grundkonstellation des Ausscheidens aller Beteiligten bis auf den letzten Glücklichen verweist auf jenen für Balzacs Figuren essentiellen Egoismus, ihren radikal aszendierenden Charakter, gleichwohl auf ihre instabile Position im sozialen Gefüge. Hinzu tritt jene in Form bioökonomischer Lesart zweifache Funktionalität: Die Tontine ist sowohl ein Spiel zum Tode als auch zum Leben hin, denn sie erzeugt einerseits durch das K.O.-System ein verschärftes Erlebnis vom reinen Selbstzweck des Risikos, aufgrund des mangelnden Proporzes ist sie andererseits ein Spiel des maximalen Gewinns. Demarkation von Vergeblichkeit und Anerkennung des Sinns, 82 Zur motivischen, auf die textuelle Nachzeichnung der aufstrebenden Versicherungsanstalten im frühen 18. Jahrhundert konzentrierten Freilegung des ökonomischen Risikos und auch der Tontine, vgl. Tilby, Playing with Risk.
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oder: Auto- und Heteroreferentialität im Glücksspiel finden mit den Spielregeln der Tontine einen Superlativ, der auch in den Strukturen der Comédie humaine wirkt. La Peau de chagrin materialisiert diesen Komplex in jenem mysteriösen Lederstück, das im Roman nicht nur als obskure Antiquität gelesen werden kann, sondern auch ein bezeichnendes Verhältnis zwischen Unbewusstem, Ware und Körper determinieren soll. Dem Verhältnis aus Spiel, Zufall, Tod und Leben ist darin noch das Moment des Erzählens über dieses Verhältnis beigegeben, das sich nahtlos integriert.
AUSBLICK : D ER REGULATIVE E RZÄHLER La Peau de chagrin verfügt über unentscheidbare Doppelzustände, die den Moment der Setzung, welcher der Auflösung einer Spielsituation ja inhärent ist, mit sich führt. Man kann auswürfeln, was der Hasard bedeutet, ob das Chagrinleder profan oder magisch ist. Die Glücksspielszene verwebt noch zum Auftakt der Comédie humaine Ökonomie, Kontingenz und Erzählen. Sie bringt die Erzählung in Bewegung und hält sie bis zum Schluss zusammen. Ihre self-fullfilling prophecy ist wiederum eine selfdefeating prophecy, sei es, dass diese Vermischung auf der Ebene des Erzählten selbst zur Realität der gegenwärtigen Kulturindustrie gehört, wie in den Illusions perdues, oder zu den Problemen, mit denen das Erzählen selbst inszeniert wird. Das Lederstück ist dabei der Gegenstand, in dem sich dieses Gewebe bündelt und nochmals ableitet. Es manifestiert die Kontingenz von Raphaëls Schicksal wie auch die Kontingenz dessen, dass dieses Schicksal nur eine entfunktionalisierte Schickung ist und als solche durch nichts so gut gekennzeichnet werden kann, wie durch sein Kontingentsein selbst. Damit ist nicht allein die Verfasstheit des Wissens von Kontingenz als Wissen von der Ökonomie der Möglichkeiten gemeint, deren poetische Reflexion Joseph Vogl mit Leibniz eindringlich nachzeichnet.83 Vogls Darstellung sieht den Roman nicht allein als Raum der Möglichkeiten, sondern als möglichen Raum, der seine Optionen arrangiert, ordnet und in ihnen eine Ordnung der Welt widerspiegelt. Es liegt darin noch der „Horizont des (Nicht-)Wissens“, weswegen der Zufall „ein doppeltes Darstellungsproblem in sich“ trägt, „das die – narrative – Artikulation der Daten einerseits an die Grenze des Überblicks im Tableau bzw. Diagramm heranführt, sie andererseits der fundamentalen Spannung zwischen Verwicklung und Entwicklung, Verwirrung und Auflösung unterwirft“84. Eine Seite später unterscheidet Vogl epistemologische und aleatorische Wahrscheinlichkeit, eine Differenz, in der auch der Zufall zwischen seiner Demarkation als Wissen von Wahrscheinlichkeit und ande-
83 Vgl. Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 154ff. 84 Vgl. ebd., S. 160.
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rerseits als berechenbare, mathematisch-statistische Entität aufgeht. Scheinbar bezieht sich das Darstellungsproblem nur auf den epistemologischen Drall, muss sich aber unter dem Credo der unmöglichen Heranziehung statistischer Daten zur mimetischen Bearbeitung hyperkomplexer mechanischer Bewegungen beugen, in denen der aleatorische Zufall sitzt. Der Zufall kann in vielerlei Hinsicht als funktionelle Abrufung jener sozial willkürlichen Struktur, die Balzac in seiner Vorrede zentral in Szene setzt, gelesen werden. Allerdings erschöpft sich diese Relation niemals vollständig in ihrer rein symbolischen, allegorischen oder metonymischen Potenz, die das metapoetische Moment des Glücksspiels ignorieren und dem Motiv eine lakaienhafte Position zuweisen würde. Stattdessen findet sich ein Verfahren, das von Effekten der Synchronisierung ausgeht: Psychologische Dimensionen der sozialen Anpassung bzw. der sozialen Willkür und das Hasardspiel enthalten sich jeweils gegenseitig und bleiben gleichzeitig jeweils autonom. Der Zufall beim Glücksspiel kann simplifizierend, aber mit Recht als Metapher für die Subjektivität und Arbitrarität – politisch gesehen auch für die Ungerechtigkeit – moderner Gesellschaften gelesen werden; er darf in einer solchen Interpretation aber nicht seine souveräne Erscheinungsform einbüßen. Sozialer Hasard wie auch reiner Zufall finden dementsprechend nicht aufeinander aufbauend und sich gegenseitig inaugurierend statt, sondern fließen parallel zueinander, als charakteristisches Duo aus zivilisatorisch bedingter Instabilität des sozialen Menschen und Glücksspiel, die nebeneinander, aber unabhängig voneinander, aufeinander verweisen. Ein Charakteristikum dieser unabhängigen Zusammenarbeit hat Balzac dabei ausführlich dokumentiert, nämlich das Verfahren der Tilgung. Getilgt werden nicht nur die Beträge, Aussichten und Schicksale, sondern auch die Artikulationen ihrer gesetzhaften Normen, sowie die Artikulation ihrer Inszenierung durch die Erzählung. Das Erzählen von Glücksspiel ist in Balzacs Texten als ein Prozess markiert, der durch Ankündigung und Annullierung funktioniert. Zudem scheint sich noch eine weitere Funktion der Comédie mit dem Spiel zu verbinden. Das Mobile der sozialen Charaktere entwirft an vielen Stellen prototypische Figuren, die in ihr jeweiliges Metier – etwa die Habgier des Wucherers Gobseck – so starr eingepasst sind, wie dieselben Typen in Dantes Inferno ihr jeweiliges Laster per Umkehrung in der Strafe ewig wiederholt nachinszeniert erhalten.85 All diese Figuren sind monolithisch auf ihre eine Eigenschaft reduziert – der „petit viellard“ an
85 Ein an dieser Stelle relevantes Beispiel für das contrapasso, das auch Gobsecks Schicksal zeigen könnte, bietet sich im Siebten Gesang des Inferno. Die Geizigen und die Verschwender sind dort miteinander in einer Art Rotation als perpetuum mobile versammelt, unterbrochen von Begegnungen, aus denen die Bewegungsrichtungen wieder neu hervorgehen. Auf diese Weise ähneln sie den materiellen Zirkulationen, für die sie einstehen: „So liefen sie im Kreis, dem lichtlosen, die einen rechts herum, die andern links, bis zum Punkt
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der Rezeption des Palais-Royal hat es für die Spielsucht exemplifiziert, die sein einziges Definiens als Mensch und Romanfigur geblieben ist. Im Kontrast dazu stehen die ganzen mobilen Figuren Balzacs: Rastignac, Raphaël oder Lucien ist dabei nicht allein Entwicklung über den Zeitraum eines oder mehrerer Texte und die Erprobung verschiedenster Leidenschaften gemein,86 sondern auch, dass sie alle drei irgendwann im Hasard ein Gegenstück zu den Leidenschaften gefunden haben, von der aus sich ihre Schickung erfüllte (Rastignac), sich umkehrte (Lucien) oder als indifferente Tilgung erwies (Raphaël). Die Offenheit der Spielleidenschaft, so fixiert sie in den Eingängen des Palais-Royal anmutet, lässt sie als pluralistischen Zugang zum Thema einer Sittenstudie privilegiert erscheinen. Es stellt sich die Frage, ob sich in Balzacs narrativen Verfahren neben der Möglichkeit einer „patriarchalen Erzähltheorie“87 oder des mystagogischen Erzählers88 auch diejenige eines regulativen Erzählers einreihen ließe, dessen sichtbare Hand höchst aktiv für eine Überdetermination des Textes sorgt, die seine Verständlichkeit gewährleisten soll. Jener Eindruck einer „logischen Inkonsistenz“ oder eines „vorläufig geordneten Chaos“, der Joachim Küpper zufolge die „realitätssimulierende Wirkung“ des balzacschen Textes begründet, indem er eine Lawine gleichzeitiger, dabei unterschiedlichster Themen, Figuren und Handlungsstränge unter die eine Struktur des Erzählens presst: jener Eindruck gilt auch für diese Struktur selbst, deren Spiel die stetige Dissonanz zwischen Eingedenken und Kontingenz reproduziert, allen Interventionen des Erzählers zum Trotz. Gerade im Spiegel der Einwürfe durch die Erzählinstanz wird eine neue Hypothek aufgenommen, die der Text in seinen unabsichtlichen „coups de dés“ nie ganz wird auslösen können. Wenn Vogl eine Oikodizee bereits für das 18. Jahrhundert stark machen kann, lässt sich die darin geschärfte Erkenntnis von sich gegenseitig regulierenden Prozessen auch auf die literarische Entwicklung einer neuen Romankultur im 19. Jahrhundert übertragen, deren Theodizee sich am oikos die Zähne auszubeißen beginnt. Das Vertrauen auf Mechanismen des Erzählens funktioniert angesichts eines Erzählerduos, wie demjenigen im Peau de chagrin – neben dem auktorialen Erzähler kommt auch Raphaël persönlich zum Zuge –, ähnlich wie das Vertrauen in die Märkte, und das Ergebnis dieses Vertrauens erweist sich als äquivalent irrational und kontingent. Dieses gestörte Verhältnis findet sich im Épilogue des Romans reinszeniert, der einen Dialog zwischen Erzähler und
gegenüber, um sich dort wieder ihre Schimpfgesänge zuzuschreien.“ Dante, La Commedia. Die Göttliche Komödie, S. 107. 86 Zu dieser Beobachtung, vgl. Scheffel, Figurationen der Leidenschaft, S. 214. 87 Koppenfels, Immune Erzähler, S. 108. 88 Vgl. Warning, Chaos und Kosmos, S. 38ff.
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Rezipient vorstellt, und dessen Einstiegsfrage „Et que devint Pauline ?“ zwar zu beantworten versucht wird (vielleicht auch mit Erfolg), dabei aber am ungeduldigen Zuhörer offensichtlich mehrmals vorbeigeredet wird.89 Die Funktionsweise von La Peau de chagrin führt damit weniger in eine Schlangenlinie als einen Zirkel. Der Roman bezieht sich in seiner ästhetischen Selbstauskunft häufig auf die bildende Kunst, wobei das Hauptinteresse in der Synchronizität und damit dem zeitlichen Register des Nebeneinanders besteht, das der erzählende Text als sprachliches Nacheinander nicht unmittelbar stiften kann. Dem kommt etwa eine historiografische Dimension zu, als Raphaël den Antiquitätenladen betritt und angesichts der seltenen exotischen Kleinode, die genauso Ikonen der Gegenwart darstellen wie auch „toutes les œuvres humaines et divines“, welche als metaphysischen Schätze vom Kreatürlichen und Materiellen säkularisiert erscheinen. Während andere, banale Gegenstände divinatorisch apostrophiert sind, wird festgestellt: „Le commencement du monde et les événements d’hier se mariaient avec une grotesque bonhomie.“90 Dann wieder betrifft die Gleichzeitigkeit die persönliche Lebenszeit, wie etwa das erzählte Leben Raphaëls im zweiten Buch, das die Freskenartigkeit seiner Autobiografie betont, die er „comme un même tableau, où les figures, les couleurs, les ombres, les lumières“ vor dem inneren Auge sieht.91 Das vorangestellte Bild der Schlange fügt sich in diese Ausstellung der Bilder, auch wenn es die zirkuläre Struktur der mit ihr flankierten Erzählweise nicht fasst. Seine Reichweite erlangt das Hasardspiel erst dadurch, dass es nicht nur etwa ein skandalöses Verhältnis zum Zufall repräsentiert, sondern per Brisanz des Zufalls, der zunächst eine komatöse Antinomie ist, die Konfrontation mit sich im Glücksspiel inszeniert, woraufhin sich der hermeneutische Zirkel aus seinem historischen Ort und seiner Symbolik zu bewegen beginnt. Denn auch der hermeneutische Zirkel birgt die im Peau de chagrin losgelassene zirkuläre Struktur: Das Wesen der Spielszene konturiert sich erst mit der Kenntnis des Rests, der wiederum durch diese Rekonfiguration eine andere Bedeutung erhält. Die Notwendigkeit des Zufälligen in den Signifikanten des Textes, nebst seiner eigenen Zufälligkeit, ist auch in einer Aufgabenstellung an die Leserinnen und Leser durch den Roman enthalten, denn er zeigt sich in der beiläufig zur Lektüre statthabenden Rekonstruktion seines Aufbaus. Dass diese zirkuläre, odysseische Struktur zum wesentlichen Kennzeichen der Spielerdarstellung im Roman des 19. Jahrhunderts avanciert, hat sich anschließend noch einmal in aller Deutlichkeit im beispielhaftesten Spielerroman seiner Zeit gezeigt: Dostoevskijs Igrok.
89 Vgl. Balzac, La Peau de chagrin², S. 292f. 90 Ebd., S. 69. 91 Ebd., S. 120.
Zirkuläre Zufallgeschichte. Fëdor Dostoevskijs unendlicher Spieler
8. Fall des Zéroismus
F ALLBEISPIEL In Hoffmanns Spieler-Glück oder Puškins Pique-Dame avanciert das Spiel zum satisfaktionsfähigen literarischen Stoff. Balzacs Peau de chagrin verzichtet auf ein vergleichbares Verfahren, bei dem der Text einen Topos ins Zentrum setzt. Raphaëls Ausflug ins Palais-Royal setzt die Erzählung in Bewegung und ist an der Organisation der Heldenbiografie strukturell beteiligt. Das Spiel erzeugt einen ausführlichen Eingang in den Text, assoziiert sich mit dem narrativen Aufbau sowie dem soziologischen Anspruch, nur um das Paradigma dieser Initiierung auf der Aussageebene letztlich wieder zu vergessen. Im Maße der Initialposition und des konsequentiellen Zuschnitts, den das Spiel als Alternativpunkt von Raphaëls Erzählung darstellt, sowie seiner kontrastierenden Dysfunktionalität, wird es wohlgleich auf anderer Ebene im Fortgang der Lektüre erinnert: Wann immer Fragen nach dem Status des Heldenschicksals angeboten werden, können sich die Leserinnen und Leser auf diesen Anfang des Textes und die Bedingungen von dessen Route in den Antiquitätenladen zurückbeziehen. Der mehrfache Eingang ins Palais-Royal führt zum Eingang in das merkwürdige Geschäft und stellt zugleich den Eingang in den Text dar. Sei der Eingriff des Glücksspiels auch im Leben seiner Hauptfigur ein zentrales Ereignis, findet es wohlgleich vom äußersten Rand des Romans her statt. Das Spiel wird von diesem Rand aus eher im Text vergraben als motivisch aktiviert. Eine stärkere Kontinuität zu Hoffmanns wichtigem Spielertext, der das Spiel in einem bestimmten, nicht durch eine narrative Instanz monolithisch geprägten Sinn zur leitenden thematischen Einheit befördert, lässt indes noch einmal Dostoevskijs Kurzroman Der Spieler / Igrok (Игрок, 1866) erkennen. Hier treten schließlich wesentliche Faktoren einer permanenten Lebensform im Spiel zusammen, mit denen eine maßstäbliche Gestalt des Glücksspieltextes im 19. Jahrhundert etabliert ist. Dazu gehört zunächst der biografische Zeigefinger: Wer über das Spielen schreibt, spielt auch selbst; die Spielerzählungen seien nichts weniger als Kompensationen und Umgangsmaßnahmen mit dem eigenen Laster. Lessing, Hoffmann oder auch Schnitzler
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können ein Lied von dieser Verknüpfung singen, für niemanden aber scheint das Behauptete so stark eingefordert wie für Dostoevskij. Zahlreiche Interpretationen seines Spielertextes deuten auf dessen persönliche Spielpassion, der er während seiner Deutschlandreisen in den 1860er-Jahren frönte.1 Als besondere Variante dessen kann Freuds Dostoevskijanalyse von 1927 gelten, die nämlich ausschließlich an der Person und gar nicht am Roman interessiert ist. Mit verschiedenen Zeugnissen über den Spieler Dostoevskij arbeitet Freud das Moment wiederholter Selbstbestrafung im Hasard heraus, lässt dabei dessen literarische Äußerungen in Igrok hingegen gänzlich unerwähnt, und gerät mittels dieser Entscheidung erst gar nicht in die Verlegenheit, den Roman zum autobiografischen Dokument der Abbitte zu stilisieren.2 Freud erkennt in der Stoffwahl des russischen Dichters insbesondere eine Faszination für Verbrecher und destruktive Agitatoren, die mittels ihrer Täterschaft eine Figur der Erlösung per Schuldaustreibung bereitstellen. Zur Praxis dieser Austreibung über masochistische Hingabe an die Schuld gehöre schließlich auch die Spielleidenschaft: „Das Schuldgefühl hatte sich, wie nicht selten bei Neurotikern, eine greifbare Vertretung durch eine Schuldenlast geschaffen und Dostojewski konnte vorschützen, daß er sich durch den Spielgewinn die Möglichkeit erwerben wolle, nach Rußland zurückzukommen, ohne von seinen Gläubigern eingesperrt zu werden. Aber das war nur Vorwand, Dostojewski war scharfsinnig
1
Michel Butor versteht nach Darlegung des Spielers Dostoevskij seinen zugehörigen Roman gar als „exorcisme“ der ruinösen Angewohnheit. Butor, „Le joueur“, S. 22. Rudolf Neuhäusers gut unterrichteter Artikel kommt erst spät, nämlich in der zweiten Hälfte, auf den Text zu sprechen; vorher wird in ganzer Breite die Vorgeschichte des Spielers in Dostoevskijs Biografie verortet. Vgl. Neuhäuser, F.M. Dostoevskij, S. 85-89. Vgl. auch Helfant, The High Stakes of Identity, S. 122-129, und Knapp, Gambling, Game and Psyche, S. 98-100. Wie viele andere führt Knapp einen Brief Dostoevskijs an, in dem er bereits 1863 dem Journalisten Nikolaj Strachov die Konzeption einer Spielergeschichte ankündigte. Vgl. ebd., S. 100. Eindringlich gestaltet sich die Verbindung bei Gerigk, Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller, S. 281f. Gerigk deutet auf die Zusammenhänge der narrativen Finessen in Igrok mit seinen Produktionsumständen, etwa des Diktats. Zu den Deutschlandreisen Dostoevskijs, vgl. ebd., S. 273-278. Zum allgemeinen Problem der Ineinssetzung von Dostoevskij und seiner Hauptfigur Aleksej, sowie zur Geschichte der Entstehung des Textes, vgl. Frank, Dostoevsky, S. 521f.
2
Freud liefert in wenigen Absätzen einen sehr einsichtsreichen Abriss über das Phänomen des Spiels. Als erhärtendes Material verwendet er interessanterweise doch noch einen literarischen Text, ausgerechnet aber nicht den Roman Dostoevskijs selbst, der nur implizit durchscheint, sondern Stefan Zweigs Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau. Vgl. Freud, Dostojewski und die Vatertötung, S. 284f.
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genug, es zu erkennen, und ehrlich genug, es zu gestehen. Er wußte, die Hauptsache war das Spiel an und für sich, le jeu pour le jeu.“3
Die Ausgangspunkte und Beobachtungen dieser These Freuds könnten nicht nur für Dostoevskij selbst gelten, nicht nur auf seine Spielerfigur Aleksej Ivanovič anwendbar sein, sondern auch auf die im Anschluss an die romantischen Darstellungen des Spielers sich etablierenden Bilder vom Hasard insgesamt zutreffen. Der autonomieästhetische Anflug des je pour le jeu stellt Verbindungen zwischen einer masochistischen Künstlergestalt der Moderne und dem Heros Spieler über eine anökonomische Konfiguration her, die nämlich an einer Schnittstelle von extra- und intraludischer Sphäre platziert ist. Indes kannte Dostoevskij das Glücksspiel nicht allein aus eigener Anschauung, zu der er während seiner Lovellschen Reisen durch Westeuropa Gelegenheit hatte, sondern auch durch die Lektüre. Balzac, den er als junger Mann ins Russische übersetzt hatte, und die Erzählungen Hoffmanns, neben Schiller der wichtigste deutschsprachige Einfluss, gehören zu seinen Referenzen.4 Es kann dennoch kaum von einer Intertextualität des Glücksspiels gesprochen werden: Zwar flackern im Laufe von Igrok zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Hoffmanns Spielern auf – unter anderem die Prokrastination des Endes vom Spiel, die Erschlaffung des Spielerkörpers oder der automatische Tausch des eros –, jedoch wirken diese in ihrer individuellen Ausarbeitung zu abgewandelt, um sie direkt auf das deutsche Vorbild festzulegen. Ähnliches gilt für die Darstellung von Spielszenen, die mit ihren genuinen narrativen Geboten sich sowieso an einem bestimmten Set an Parametern abarbeiten. Sie stellen nur bedingt eine intertextuelle Wiederholung dar, gerade weil sich Glücksspielszenen gleichen, denn das Glücksspiel wiederholt stets das Gleiche. So bleibt ein ideengeschichtlicher Einfluss das Hauptmerkmal von Dostoevskijs Hoffmannlektüre, nämlich der Ansatz, sich in einer in Zeit und Raum fixierten Spielererzählung auf den Hasardeur als Untersuchungssubjekt zu konzentrieren und dessen interesselose Passion auszudifferenzieren. Zur Konzeption Igroks gehört eine über drei Viertel der Erzählzeit strikt geübte Reduzierung des spatialen und temporalen Rahmens. Bis zum dreizehnten Kapitel vergehen nur wenige Tage an einem Ort; die restlichen fünf Kapitel hingegen sprengen dieses Verhältnis und lassen beinahe zwei Jahre verstreichen, die die Handlung
3
Ebd., S. 283.
4
Vgl. u.a. Gerigk, Wirklichkeit auf Widerruf, S. 58, und, vom selben Autor, Gerigk, Dostojewksijs Entwicklung als Schriftsteller, S. 300f., sowie, als Vergleich von SpielerGlück und Igrok, Gerigk, „Spielerglück“, S. 157. Hoffmann, der im Ausland beliebt war, wurde bereits in den 1820er-Jahren ins Russische übersetzt, u.a. auch Spieler-Glück. Vgl. Helfant, The High Stakes of Identity, xviii.
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durch Paris und anschließend zurück nach Deutschland geleiten. Dostoevskijs Portionierungen porträtieren unterschiedliche Wege in das Spiel, um schließlich in einer Freudianischen (Auto-)Destruktion per absoluter Entscheidung für das Spiel zu münden. Der Spieler stellt dahingehend zwar keinen Verbrecher im juristischen Sinne dar, gleichwohl bringt er einen Täter hervor, der sich in Manier Raskolnikovs oder Dmitrij Karamasovs dem Schicksal zu fügen trachtet. Die Haftanstalt ist dabei gegen die freien Spielsäle Europas eingetauscht. Eine Festlegung auf die eine ereignishafte Tat wird mit dem Vorlauf des Spiels unmöglich, das aus vielen vereinzelten kleinen Ereignissen zusammengesetzt ist. Mit dieser Perspektive wird der Fall eines Spielers geschildert, ohne dass sich die eine spezifische Veränderung lokalisieren lässt, aus der heraus dieser Fall im Momenthaften gültig würde. Der Fall des Spielers verwischt damit dasjenige, was Susanne Lüdemann als „Paradox der Normalität“ beschrieben und zum Merkmal des gewachsenen Interesses an der interdisziplinär orientierten Fallgeschichte bestimmt hat: „Ein Individuum wird zum ‚Fall‘ durch das, was an ihm gerade nicht individuell, sondern mit anderen Individuen vergleichbar ist. Das Interesse am ‚Fall‘ ist also dem Interesse an der Eigentümlichkeit des Einzelnen, am schlechthin Singulären seiner Person und seiner besonderen Schicksale, zunächst einmal entgegengesetzt. Andererseits wird das Individuum zum ‚Fall‘ erst dadurch, dass seine Geschichte von der Normalbiographie seiner Standes- oder Zeitgenossen in irgendeiner Weise abweicht, dass sie nicht reibungslos oder konfliktfrei verläuft, sondern durch ein besonderes Ereignis [...] aus der Bahn ihres erwartbaren oder regulären Verlaufs geworfen wird.“5
Spielergeschichten als Fallgeschichten überdenken ihrerseits die irreguläre Tat, da sie einerseits das ständige Herausfallen aus der probabilistischen Erwartbarkeit zum Inhalt haben und andererseits mit dieser Beständigkeit der Wiederholung einen eigenen Abstand zur Norm der Fallgeschichte einnehmen, von dem aus auch auf die Gattung selbst ein Licht geworfen wird. Was für Schiller und Kleist die Bespiegelung eines Konflikts zwischen normalistischen Leitvorstellungen und individuellen Abweichungen ist, die in der literarischen Darstellung einen besonderen und darin auch neu konfigurierenden Diskurs erhalten, ist für Dostoevskijs Hasardeur in die Wiederholungen selbst eingelassen, die das spielende Individuum fabriziert.6 Es ist nicht das
5
Lüdemann, Literarische Fallgeschichten, S. 208f.
6
Zu Kleist hat Christian Moser bereits die Verbindung der Kontingenz des Falles zur Kontingenz des Lebens ermittelt: „Kontingent ist bei Kleist nicht das Ereignis, das den ‚Fall‘ hervorruft, sondern der menschliche Entwicklungszusammenhang in toto, der einer natürlichen Gesetzmäßigkeit zu folgen scheint und sich doch im ganzen als ziellos erweist.“ Moser, Angewandte Kontingenz, S. 8. Mit dieser Überlegung zum Fall wird ersichtlich,
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eine „besondere Ereignis“, das es aus dem Rahmen dieser Leitvorstellung treibt, sondern die permanente Aktualisierung vieler verschiedener Zufälle, die eine solche Abweichung erstellt und in ihrer Faszination das spielende Subjekt aus einem normalistischen Kreis ausschließen. Auch so kann eine ausblickhafte Einordnung Schnyders zu verstehen sein, der Dostoevskijs Roman als Darstellung eines „dionysischen AntiNormalisten“7 klassifiziert. Spieler stehen als Exzentriker den epistemologischen Parametern und Handlungsmustern der bürgerlich-überwachenden und sanktionierenden Gesellschaft gegenüber, hinterfragen diese Gesellschaft auf graduell andere Art und Weise, als es der geächtete Verbrecher vermag, stellen dabei genauso etwaig definierte oder implizite Leitvorstellungen, aber auch die Leitvorstellung vom kontingenten Ereignis zur Disposition, das ja erst den Fall konstituiert. Die Täterschaft des Glücksspiels dissoziiert in einer Sukzession verschiedener Coups und kann folglich keine isolierbare Tat zu erkennen geben. Sie konkretisiert jedoch einen kontingenten und entwischenden Begriff von Tat und Täterschaft, der ebenso in traditionellen Fallgeschichten debattiert wird und sich dort als Teil einer prozeduralen Dynamik des Lebens entpuppt.8 Dostoevskijs Fantasieort Roulettenburg, zugleich Hort des Spielphantasmas, inkorporiert diese Verschiebung: Er kann in seiner Fiktionsmarkierung, die allein seinem Namen innewohnt, die also einen Überfluss der Determination darstellt, keinen „echten“, in Chronik und Geschichtsschreibung verankerten Fall beherbergen. An diesem Ort ereignet sich aber die eine exemplarische Spielergeschichte Aleksejs, die nämlich klarstellt, dass es so etwas wie eine typische Spielergeschichte gar nicht gibt. So regelmäßig das Glücksspiel den antinormalistischen Herausfall erprobt und deswegen in einem Rauschen der vielen Vielspieler wieder untergeht, so individuell ist doch die Geschichte jedes einzelnen Falls des jeu pour le jeu. Roulettenburg kann in seiner Infrastruktur als musterhafte Kopie der deutschen Spielermetropole des 19. Jahrhunderts gelten, wie sie Wiesbaden, Baden-Baden oder Bad Homburg darstellten, weniger jedoch als deren Amalgam. Als Nicht-Ort ist es „Emblem“ und „Phantasma“9, das die Minimalkriterien jener müßiggehenden Bäder-Kultur aufruft, inwiefern das Spiel die Aussicht des Falls in seinen Mechanismen sowieso beständig wiederholt. 7 8
Schnyder, Alea, S. 396. André Jolles hat bereits darauf hingewiesen, dass der Fall nicht nur die Darstellung seines eigenen Prozesses, sondern auch die Darstellung seiner Abweichung und dessen Verhältnismäßigkeit ist: „In dem Kasus ergibt sich die Form aus einem Maßstab bei der Bewertung von Handlungen, aber in der Verwirklichung liegt die Frage nach dem Werte der Norm. Bestehen, Gültigkeit und Ausdehnung verschiedener Normen werden erwogen, aber diese Erwägung enthält die Frage: wo liegt das Gewicht, nach welcher Norm ist zu werten?“ Jolles, Einfache Formen (1930), S. 190.
9
Gerigk, Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller, S. 277.
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mit der die Vorbildstädte zum Schlaraffenland eines internationalen Glücksspieltourismus populär wurden. Da allerdings am Ende des Textes noch die „realen“ Städte Bad Homburg und Baden-Baden besucht werden (wenngleich aus ihnen keine näheren Erzählungen entspringen), wird ein Kontrast zur geografischen Verfügbarkeit erzeugt, der Roulettenburg das Siegel des Traumortes in einer historisch verbürgten Umwelt verleiht. Die Erzählung liefert das Beispiel eines Spielers, dessen Obsession mit dem Zufall sich als Fallgeschichte des devianten Zufalls – als Zufallgeschichte – entfaltet. Der Fall wird dabei als etwas Aleatorisches belegt, das sich in seiner Dramaturgie äußert, nach der das Geschehnis auch hätte anders kommen können, denn wie es gekommen ist, war nicht-ursächlich.10 Insofern der Ausfall durch Zufall und Kontingenz in Aleksejs Erlebnissen zustande kommt und eine durative Seinsform erstellt, liefert Igrok eine Offenbarungsschrift dieses Erkenntnisbereichs vom Zufall, die zunächst einen möglichen Weg in eine solche Existenz hinein schildert, um sich dann einer Zementierung dieser Art des Seins zu widmen. Es ist dies auch eine Funktion Aleksejs als literarischer Figur, nämlich aus einer spezifisch poetischen Epistemologie heraus das Beispiel des Spielers zu liefern.
B EISPIEL
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Neben den Kolportagestücken der Sattelzeit oder Gogols Komödie Die Spieler / Igroki (1842) liegt auch mit Dostoevskijs Roman ein Text vor, der den Akteur des Glücksspiels in den Titel befördert.11 Igrok trägt nominell das Beispiel des Spielers vor. Da es im Russischen weder den bestimmten noch den unbestimmten Artikel gibt, wird der Status des titelgebenden Spielers ambivalent: Handelt es sich um die Darstellung eines Spielers, dessen Geschichte als typische Entwicklungskurve des Falls gelten kann, oder steht die Darstellung eines blanken Individuums zu erwarten, das sich nach einigen Begebenheiten schließlich nur noch dadurch auszeichnen wird, der Spieler zu sein? Der Roman beäugt beide Möglichkeiten. Dabei fällt ein Großteil der Aufmerksamkeit noch immer der Darstellung des Spiels selbst zu, bzw. der Auskunft über die Varianten und Invarianten der Spielwiedergabe. So muss Aleksej, als eine 10 Vgl. dazu Balke, Den Zufall denken, S. 71. Balke erarbeitet in seinem Aufsatz u.a. anhand von Althussers Lektüre des Wittgensteinschen Falls eine solche Aleatorik des casus. 11 Die Wahl des Titels geht allerdings auf den halbseidenen Verleger Dostoevskijs zurück; der Autor selbst plante, den Text Roulettenburg zu taufen. Die Einreihung in die erfolgreiche Serie an Igrok-Texten trägt hier insofern auch möglicherweise das Anrüchige der Reklame. Vgl. dazu Egeberg, Reading the Gambler as Roulettenburg, S. 40. Egebergs Text konzentriert sich insgesamt auf die allseits besprochene Merkwürdigkeit des Schauplatznamens.
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reiche russische Erbtante im Kurort auftaucht und mit zügelloser Neugierde allerlei Fragen bezüglich des Roulette vorträgt, auf das Demonstrationsgebot des Hasard hinweisen: „Schließlich antwortete ich, daß man am besten alles mit eigenen Augen ansehen solle und eine richtige Beschreibung ziemlich kompliziert sei.“12 Die komplizierte Beschreibung („описывать трудно“13) des Spiels wird in der Demonstration kompensiert. Beispiele liefern, was eine allgemeine Explikation zu visualisieren nicht imstande ist. Das Erlernen der Regelsysteme des Roulette lässt diese Verlässlichkeit des Beispiels wiederkehren: „Für jedes Einsatzsystem konnte man auf der Stelle ein Beispiel [пример, S.T.] zeigen, so daß vieles sich sehr leicht und schnell begreifen und behalten ließ.“14 Dieses Zeigen des Spiels betont seinen Status „In-derSzene“ und entzieht es so der narrativen Übertragung. Die Erzählung setzt insofern auch im Bericht des Erzählers auf das wiederholte Vortragen von Spielen, wobei diese teichoskopische Inszenierung ja ausgerechnet als ungenügende ausgewiesen ist. Es gilt, das Beispiel, wenn nicht viele Beispiele zu sehen, um das Spiel zu erfahren. Dieser Hintergrund betont ein bühnenartiges Inszenierungsgebot des Hasard. Bereits während Aleksejs erstem Besuch der Roulettebänke, der mit einer ersten Beschreibung derselben einhergeht, kommt er auf eine Nicht-Darstellbarkeit zu sprechen, mit der sich wiederum die Faszination des Spiels erklärt: „Zuerst galt es ja den Ablauf des Spiels zu erforschen; weil ich, ungeachtet der Unzahl von Beschreibungen des Roulettes, die ich stets mit solcher Gier verschlungen hatte, nichts von seinem eigentlichen Funktionieren begreifen konnte, solange ich es nicht mit eigenen Augen sah.“15 Diese Gier auf die Beschreibung entspricht auch der Rezeptionshaltung von Leserinnen und Lesern der Spielgeschichten, jene Spannung der Observation einer Spielerfahrung, die sich durch eine immanent erfahrene Undarstellbarkeit dessen auszeichnet, was gerade darzustellen probiert wird. Die Konfrontation mit dem „echten“ Spiel stellt nun den uneinlösbaren Abgleich mit diesen Beschreibungen dar, deren Aufnahme in diese hiesige Beschreibung ein entscheidendes autoperformatives Surplus artikuliert. Die Möglichkeit dieser Formeln siedelt in der spezifischen Ich-Erzählersituation, die sich räumlich und zeitlich so nah wie möglich am Geschehenen aufhält, und doch bereits wieder den nötigen Abstand gewonnen hat, um eine adäquate Reflexion zu ermöglichen. Igrok verfügt über einen autopoetischen Untertitel,
12 Dostojewskij, Der Spieler², S. 105. Im Folgenden wird der zu Recht gerühmten Übersetzung Swetlana Geiers der Vorzug gegeben. Wo angemessen, soll das russische Original und die Übersetzung von Arthur Luther hinzugezogen werden. 13 Dostoevskij, Igrok, S. 259. „трудно“ verweist in diesem Fall auf die Schwierigkeit der Beschreibung. In Arthur Luthers Übersetzung heißt es dementsprechend, dass „es recht schwerfalle, eine Beschreibung davon zu geben“. Dostojewskij, Der Spieler1, S. 74. 14 Dostojewskij, Der Spieler², S. 113. Dostoevskij, Igrok, S. 263. 15 Dostojewskij, Der Spieler², S. 21.
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der die entsprechende Erzählsituation bereits beschreibt: Aus den Aufzeichnungen eines jungen Mannes (Из записок молодого человека). Einige wichtige Verfahren werden hier bereits aufgedeckt: Der fiktionale Text Dostoevskijs fällt mit einem fiktiven, diegetisch existenten Text zusammen, der, auch wenn er mit dem Eindruck einer Tagebuchsituation spielt, die allgemeinere Gattung der Aufzeichnung aufruft, bzw. der „записок“, das beschriebene Blatt Papier, welches in verschiedenen Kontexten auch als Niederschrift vorkommen kann. Die Schriften Aleksejs erweisen sich als ein Notizbuch mit schriftstellerischem Odeur um zerfasernde Begebenheiten in und nach Roulettenburg. Dabei handelt es sich um Auszüge dieser Schriften, die einen fragmentarischen Gestus der Beschreibung des Spielers betonen. Diese spezifische homodiegetische Hand-Augen-Koordination – die Unmittelbarkeit von handelnder und beobachtender Instanz – wird mit Aleksej schließlich auf einen jungen Mann festgelegt. Das Spielersymptom ist ein ums andere Mal männlich besetzt und hier mit der postadoleszenten Verirrung angereichert. Ihm wird zugleich mit der Identität als Igrok eine Dramatik der formatierbaren Jugend angehängt. Bevor auf diese wichtigen Gestaltungsentscheidungen näher eingegangen wird, gilt es die rudimentäre Situation des Textes zu konturieren. Igrok setzt ohne Umschweife mit der Rückkehr nach einer Schickung ein: „Endlich bin ich nach vierzehntägiger Abwesenheit zurück. Die Unsrigen waren schon seit drei Tagen in Roulettenburg. Ich hatte gedacht, sie warteten Gott weiß wie ungeduldig auf mich, aber das war ein Irrtum. Der General gab sich außerordentlich souverän, behandelte mich höchst herablassend und schickte mich zu seiner Schwester. Es war klar, daß sie irgendwo Geld aufgetrieben hatten.“16
Aleksej kehrt von einem Ausflug nach Paris zurück, der in einer Angelegenheit zur Geldbeschaffung für die „Unsrigen“ stattfand, jene in Roulettenburg auf großem Fuße residierende russische Gesellschaft, deren Sprösslinge vom intellektuellen Hauslehrer unterrichtet werden. Der General steht beim fadenscheinigen Franzosen des Grieux tief in der Kreide, was vor allem in Anbetracht seines Vorhabens, mit der anspruchsvollen, mondänen Mademoiselle Blanche anzubändeln, äußerst ungünstig ist. In all diesen Angelegenheiten, dies wird nach drei Sätzen klar, stellt Geld das dominante Instrument zur Regulation der Verhältnisse dar. So ist auch die von Aleksej fiebrig angestrebte Aussprache mit Polina, der Stieftochter des Generals, im ers-
16 Ebd., S. 7.
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ten Satz sogleich von ökonomischen Formalitäten bestimmt: „Zuerst ging es natürlicherweise um die Geschäfte [делах, S.T.].“17 Die scheinbar selbstverständlichste Verbindung von Geld, zwischenmenschlichen Beziehungen und dem Hintergrund des Glücksspiels wird auch in Igrok eingefordert. War Aleksejs Schickung wie auch der nicht näher bezifferte Geldgewinn, der sich in seiner Abwesenheit zutrug, eine nur parenthetische Rettung, die die Entourage nicht wirklich in Sicherheit wird bringen können, so stellt die wichtigste Gelddestination zu diesem Zeitpunkt noch immer der heiß erwartete Tod jener vermögenden Erbtante dar, der Babuschka18. Diese Setzung auf den Tod wird sich nicht erfüllen. Die überraschende Ankunft der einprägsamen Babuschka in Roulettenburg, nebst ihrem ruinösen Experiment mit dem Spiel, dessen Eigendynamik noch zu beschreiben sein wird, stellt einen Höhe- und Wendepunkt des Geschehens dar. Diese Ereignisse werden die bio-ökonomische Hoffnung des Generals, aber auch von des Grieux und Mademoiselle Blanche auf den Tod der Matriarchin schließlich vollständig zerstreuen. Es ist auch in diesem Fall der Zufall des Glücksspiels, der einer Bestimmung des Geldes – zur Schuldentilgung und zur Verführung der Mademoiselle Blanche – eine andere, kontingente und gleichwohl funktionale Wendung gibt, wenn der Einsatz des Geldes nämlich in seiner Zerstreuung resultiert. Polina stellt einen alternativen Entwurf zu ihrem charakterlosen Stiefvater und seinen wenig anständigen Freunden dar, erinnert in den Momenten ihrer Idealisierung durch Aleksej gar an Balzacs gleichnamige Pauline, zuweilen aber auch an Delphine de Nucingen. Analog zu Delphines Bitte an Rastignac schickt sie Aleksej im ersten Kapitel zu seinem allerersten Besuch in den Spielsalon, um an ihrer Statt Geld aufzutreiben. Dieses erste Spiel als fremdes Spiel nimmt ebenso wie im Père Goriot einen maßvollen Ausgang. Aleksejs Schilderungen werfen indes bereits einige Schatten voraus, indem er das Spiel für sich als sein eigentliches Vorhaben vor Ort ankündigt: „Ich gestehe, es war mir unangenehm; ich hatte zwar beschlossen zu spielen, 17 Dostojewskij, Der Spieler², S. 14. Dostoevskij, Igrok, S. 212. „дело“ hat weitere lexikalische Einträge (u.a. Angelegenheit, Beschäftigung, Fall), die im Kontext von Swetlana Geiers Übersetzung in „Geschäfte“, die als Geldgeschäfte zu verstehen sind, aufgehen. Auch Polina ist vor diesen nicht gefeit: „Ich brauche Geld um jeden Preis“, gesteht sie, wobei hier Geier dem ökonomischen Diskurs Rechnung trägt und dessen Markierungen in die Übersetzung einfließen lässt: Das Geld wird mit dem „Preis“ einer Redewendung taxiert und ironisiert. Das Original enthält diesen zusätzlichen Geldsignifikanten („um jeden Preis“) nicht: „мне во что бы ни стало нужны деньги.“ Dostojewskij, Der Spieler², S. 14. Dostoevskij, Igrok, S. 212. 18 Die бабушка (babuschka) ist wohl die Großmutter des Generals, die aber auch zuweilen als Tante bezeichnet wird, da dies überhaupt die Anrede für ältere Damen ist. Es liegt ein direktes Verwandtschaftsverhältnis mit dem General vor, nicht aber mit Polina, die nämlich das Mündel des verwitweten Generals ist.
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aber ich hatte keinesfalls vor, es für jemand anderen zu tun.“19 Die Restriktion durch Fremdverantwortung nimmt den Kitzel aus dem Spiel, das dennoch seine Protuberanzen durchscheinen lässt: „Den Gedanken, daß ich mit dem Spielen nicht für mich selbst anfing, empfand ich als störend. Es war eine äußerst unangenehme Empfindung, und ich wäre sie am liebsten so schnell wie möglich losgeworden. Immer wieder schien es mir, daß ich, indem ich für Polina spielte, mein eigenes Glück untergrübe. Sollte es denn wahr sein, daß man nur an den Spieltisch treten braucht, um sofort vom Aberglauben [суеверие, S.T.] angesteckt zu werden?“20 Der Konflikt zwischen der äußeren Kraft des Lebens, der sich hier im Gewinn für Polina bemisst, und dem Faszinosum des Wiederholungszwangs im Spiel und seiner Bedeutungsfabel erhält eine noch in der Exposition befindliche Markierung. Gerade das fremde Spiel bietet dabei eine Möglichkeit, in der diese Konfliktsituation bereits beschrieben werden kann, aber noch nicht auserzählt werden muss, ja offenbar noch nicht auserzählt werden darf, um nicht die Prozessualität des Weges in das Spiel zu untergraben. Der antizipationsreiche Text Aleksejs kündigt in dieser Manier immer wieder die Verhandlung zwischen Prophezeiung und Eintritt an: „Ich wußte definitiv seit langem schon, daß ich Roulettenburg nicht so verlassen würde, wie ich gekommen war; daß in meinem Schicksal [судьбa, S.T.] unbedingt etwas Radikales und Endgültiges eintreten würde. Mag es auch komisch sein, daß ich so viel von dem Roulette erwarte, aber die landläufige Meinung, es handle sich beim Spiel um etwas ausgesprochen Törichtes und Absurdes scheint mir noch komischer.“21 Aleksej streitet die stereotype Schickung des Spiels ins Antirationale ab – und damit auch seine aufklärerische Denunziation – und bestimmt mit seiner Schickung ins schicksalslose Spiel das Drehmoment seiner Schilderungen. Die Erwartung eines Schicksals – irgendeines Schicksals im Zufall – liefert ein Beispiel für Dostoevskijs „besonderes Verhältnis zur Wirklichkeit“.22. Es besteht in der Hervorhebung von novellistischer Unwahrscheinlich-
19 Dostojewskij, Der Spieler², S. 20. 20 Ebd., S. 25. Dostoevskij, Igrok, S. 218. 21 Dostojewskij, Der Spieler², S. 21. Dostoevskij, Igrok, S. 215. Es finden sich zahlreiche Stellen, die eine erwartungsreiche Aussage wie diese enthalten: „Ja, uns steht allerlei Entscheidendes bevor.“ Dostojewskij, Der Spieler², S. 66. 22 Gerigk, Vorwort, S. 9. In einem Folgeaufsatz dieses Bandes zum Verhältnis zwischen Dostoevskij und Schiller unterscheidet Gerigk zwischen deren „intelligible[m]“ Menschenbild, das wunderbare, romaneske Geschehnisse mit sich führt, und ein durch Čechov etabliertes „empirisches“ Menschenbild, das dementsprechend die profane Nacktheit des unverzauberten Lebens in die Literatur führe. Vgl. Gerigk, Dostojewskij und Schiller, S. 41ff. Wichtig ist die dabei entwickelte poetische Stoßrichtung Dostoevskijs, die Gerigk zufolge im „Umschlagen scheinbarer Zufälle in eine objektive, sinnträchtige Wirklichkeit“
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keit, die Dostoevskij zur Aufführung bringt, und mit der ein narratives Konzept formuliert wird, demzufolge das suspekt Zufällige gerade im Roman wahrscheinlich wird. Aleksejs Erwartung betrifft damit nicht nur einen biografischen Umschlag, sondern auch ein romanhaftes Ereignis, das seinen Text zu konstruieren hilft. In seinen Äußerungen spielt zudem ein gewisses masochistisches Pathos eine Rolle, das zwischen der Unterwürfigkeit Aleksejs gegenüber Polina und der immer möglichen Rettung in die Sinnlosigkeit des Spiels vermittelt. Seine Selbstkasteiung der Generalstochter gegenüber entwirft das Bild eines „Sklave[n] jener antiken Kaiserin, die sich vor ihm entkleidete, alldieweil sie ihn nicht zu den Menschen zählte“23. Mit der Einschätzung des unwürdigen Subalternen, der in des Grieux paranoid einen unschlagbaren vermeintlichen Nebenbuhler erkennt, setzt er sich selbst als inhaltsleer. Aleksejs Wahn führt zu Dialogen, in denen er eine beinah ironische Melodramatik auffährt, wenn er sein Null-Sein – „daß ich vor Ihnen eine Null bin“24 – nicht stark genug betonen kann. Die Anknüpfung zum omnipräsenten „Zéro“ der Erzählung, die nicht nur die Unterwürfigkeit Aleksejs wiederholt, sondern auch die Sinnlosigkeit der Zufallswiederholung aufruft, konstruiert einen numerischen Parallelismus, der das Beispiel des Spielers in einer Obsession mit der Null, in einem Zéroismus vorführt.25 Es verwundert nicht, dass eine Erkenntnis des Spielerseins ausgerechnet mit der Erfüllung von der später pathologischen Zéro-Obsession der Babuschka am Roulette stattfindet. Entgegen der probabilistischen Ratschläge setzt die alte Dame mehrere Male hintereinander auf Zéro – und gewinnt: „‚Zéro‘ rief der Croupier. ‚Na also!!!‘ Babuschka sah mich in unbeschreiblichem Triumph an. Ich war selbst ein Spieler; eben in dieser Minute spürte ich es.“26 Aleksej findet im bestätigungsfreien Zufall einen mühselig gesuchten Affirmationsfall, weil er ihm die Bedeutung des Beispiels aufgezwungen hat: Ihm wurde endlich ein Beispiel des Spiels geliefert, das seine Interpretation, seinen Aberglauben auf eine Weise zulässt, besteht: „Phantastisch ist daran das Hervortreten der Teleologie aus der augenfälligen Kontingenz.“ Ebd., S. 43. Im Spieler, so eine hier zu entwickelnde Gegenthese, stellt sich das Verhältnis von Teleologie und Kontingenz, wie fast überall, als nicht ganz so simpel heraus, was insbesondere am Widerstreit zwischen Faktizität und Wunder des Zufalls liegt, den die Erzählung inszeniert. 23 Dostojewskij, Der Spieler², S. 19. 24 Ebd., S. 45. 25 Einen weiteren Aspekt der Null hat Hansen-Löve auf sprachlich-stilistischer Ebene Dostoevskijs ausgeführt, nämlich den sogenannten Null-Diskurs als Terminus u.a. für die bei Lachmann bereits identifizierte „Zerstörung schöner Rede“ in den Romanen Dostoevskijs – eine These, die anhand der profanen Gespräche und der geringen Stilisierung durch die Sprecherinnen und Sprecher durchaus auch mit Igrok gestützt werden könnte. Vgl. Hansen-Löve, Zum Diskurs des End- und Nullspiels bei Dostoevskij, S. 309ff. 26 Dostojewskij, Der Spieler², S. 116. Zu dieser Szene, vgl. auch Butor, „Le joueur“, S. 27.
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dass er sich seiner eigens aufgepfropften Bedeutung als Null endlich über das Spiel exemplifizierend rückversichern kann. Die Beispielhaftigkeit des Spiels demonstriert das Fallbeispiel des Spielers. Eine weitere Dimension des Beispiels kommt über das für Dostoevskij ungewöhnliche interkulturelle Arrangement zum Tragen. Igrok stellt den einzigen Text des Autors dar, der nicht in Russland angesiedelt ist. Es handelt sich um ein internationales europäisches Setting, in dem die damals klassische Pentarchie beinah vollständig exemplifiziert wird. Wesentliche Vertreter finden sich versammelt und mit kulturellen, teils literarischen Stereotypen belegt: Des Grieux und Mademoiselle Blanche kommen aus einem Frankreich à la Balzac, das von Kurtisanen, Hochstaplern und Spekulanten bevölkert ist – eine Kaste, der diese beiden Zuschnitte schließlich selbst auch angehören, wie bereits eingangs unterstellt werden könnte und sich später bestätigt.27 Mit dem Schauplatz und einer unerhörten Begebenheit um eine Berliner Baronin und ihren karikaturhaften Gatten finden sich die strengen deutschen bzw. preußischen Tugenden versammelt. Schließlich vertritt der Zuckerfabrikant Mr. Astley das selbstbeherrschte und majestätisch englische Gemüt – mit ihm stellt auch seine Nation den einzigen Teilnehmer zur Verfügung, der nie in den Spielsälen zugange ist. Allein die russische Entourage beträgt sich skandalös und überauffällig. General und Co. fertigen ein Bild der durch den Westen korrumpierten Slawen an: „O je, o je, dieses Ausland“28, ruft der von den Regeln der Spielermetropole heimgesuchte Bedienstete Potapytsch, nachdem er Aleksej vom blamablen Betragen der Babuschka am Roulette Bericht erstattete. Zwischen all diesen Akteuren befinden sich als Kleinkriminelle und Handlanger identitätslose polnische Figuren, die als Spielball zwischen der Zarenmacht und den mittel- und westeuropäischen Reichen eine subalterne Rolle bekleiden.29
27 Des Grieux ist möglicherweise sogar als Anspielung auf den gleichnamigen Chevalier Des Grieux aus der Manon Lescaut zu verstehen. 28 Dostojewskij, Der Spieler², S. 147. 29 Zur Charakterisierung der einzelnen Akteure, vgl. Frank, Dostoevsky, S. 522f. Zum spezifisch russischen Verhältnis zum Glücksspiel, vgl. das Kapitel Kartenspiel in: Lotman, Rußlands Adel (1994), S. 144-174. Lotman liefert eine literarisch anschauliche kulturelle Geografie des Zarenreiches, wobei der Fokus dieses Spielkapitels insbesondere auf der Romantik liegt. Dabei weist Lotman nach, wie sich im modernisierten 19. Jahrhundert das Karten- und andere Hasardspiele in die russische Kultur einzuschreiben vermochten. Vgl. auch Helfant, The High Stakes of Identity. Helfants Studie beschreibt insbesondere den Übergang vom noblen adeligen Spiel in Russland zu Dostoevskijs existenzieller Dimension des jeu pour le jeu.
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Igrok wird häufig als Zeugnis für Dostoevskijs slawophile Gesinnung rezipiert, der zufolge der isolierte Eigenwert russischer Identität – weder europäisch, noch asiatisch – von westlicher Dekadenz abgegrenzt werden soll.30 Tatsächlich ist insbesondere die Babuschka als Vertreterin des alten, vorpetrinischen Russland in Szene gesetzt. Die Patriarchin wird nicht umsonst als die „gestrenge“ 31 (грозная) tituliert. Swetlana Geier wie auch Arthur Luther übernehmen hier die wörtliche Bedeutung des russischen Грoзный / groznyj, das als Attribut Ivans IV. (1530-1584) Berühmtheit erlangte, in Zentraleuropa häufig als „der Schreckliche“ misslich übersetzt – eine Zuschreibung, die sich nämlich über Ivans fehlgeschlagenen Feldzug gegen Livland festsetzte. Erst Pjotr I. (1672-1725), der im Großen Nordischen Krieg (1700-1721) schließlich das Reich bis nach Finnland ausdehnen, und Schweden zugunsten Preußens auf sein Festland zurücktreiben konnte, dadurch Russland gen Europa öffnete, durfte sich ergo fortan „der Große“ nennen. Die subtile, sicherlich auch ironische Nebeneinanderstellung von Babuschka und Ivan festigt ihre Rolle als versunkene Vertreterin des altgläubigen Moskowitischen Großfürstentums. Mit einem Ensemble exemplifizierender Darstellungsverfahren und kultureller Einbettung beispielhafter Charaktere ergibt sich eine Identitätsverkettung Aleksejs, die in seinem Unbehagen als personifizierter Null und beispielhaftem Spieler aufgrund der „Zéro“ eine Koalition aus extraludischer und intraludischer Leere schmiedet. Diese Personalunion wird mit derjenigen auf inszenatorischer Ebene, die einzig ihm Stimme und Gewicht verleiht, kontrastiert.
V ERFASSER , E RZÄHLER , Z ÉRO Die Skizzen Aleksejs weisen ihn nicht nur als Synchronisierung von Verfasser, Erzähler und Figur aus, sondern lassen auch immer wieder ein spezielles zeitliches Verhältnis der Niederschrift zum Geschehenen, d.h.: der Schilderungen zum Geschilderten erkennen. Durch die kleinen, manchmal täglichen, manchmal nur stündlichen Abstände, die zwischen Begebenheit und Résumé liegen, wird anhand der Einträge schrittweise in einer unmittelbaren Vergangenheit fortgefahren. Mit diesem zeitlichen Aufbau erfährt die Leserin und der Leser per Pressestil stets das kürzlich sich unmittelbar Ereignete, dessen Einordnung und Konsequentialität nicht nur auf dieser Rezeptionsebene noch aufgeschoben wirkt, sondern auch für die Beteiligten selbst zu erfahren noch aussteht. Insofern findet keine retrospektive Entwicklung der Figuren
30 Zur Auseinandersetzung zwischen Westlern und Slawophilen vor dem Hintergrund Igroks, vgl. Foster, Doubting the West, S. 97f. 31 Dostojewskij, Der Spieler², S. 88.
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statt, sondern ein aktuelles, schriftliches Reagieren durch den Erzähler.32 Eine etwaige Nähe zum Briefroman wird durch den fehlenden homodiegetischen Adressaten im Ansatz wieder verschoben. Dass es einen solchen Empfänger im Niemandsland der erzählten Welt doch noch geben könnte, lässt eine Bemerkung Aleksejs während der Beschreibung seines ersten, fremden Spiels für Polina durchscheinen: „Übrigens, wenn ich hier meine Beobachtungen mache und Erfahrungen sammle, so tue ich es keineswegs, um das Roulette zu beschreiben; ich brauche das alles für mich selbst, um zu wissen, wie ich mich künftig verhalten soll.“33 Hier wird einmal mehr die Repräsentationsschwierigkeit des Spiels aufgerufen. Aufgrund aber der überflüssigen Feststellung, ausschließlich für sich selbst Notizen vorzunehmen, wird erst der Verdacht erweckt, dass es sich um ein Manuskript handelt, welches sich tendenziell auch an ein Publikum richtet. Aleksejs Text erhält durch solche Unwägbarkeiten einen unklaren Status zwischen memorierendem Zettelkasten und auf Publikation gerichteter Ausarbeitung.34 Für eine ungestaltete Überrestquelle aus Roulettenburg sprechen mehrere verstreute éffets de réel. So erfahren wir in nüchterner Gemeinsamkeit mit Balzacs Held aus La Peau de chagrin vergleichsweise sehr spät den Rufnamen des hiesigen Spielers. Nach einem kleinen Skandal um den Berliner Baron wird der General erstmals erpressbar und zeigt so auch erstmals uneitles Interesse an Aleksej, das mit dem erstmaligen Nennen von dessen Namen einhergeht.35 Nachdem auch in Hoffmanns Erzählung nur ein gefälschter Name des Spielers Siegfried genannt wurde, setzt sich so ein Trend zur erkennungsdienstlichen Verschleierung des Hasardeurs fort. Aleksej 32 Angeblich soll Dostoevskij selbst in großer Hast den Spieler als Gelegenheitsarbeit verfasst haben, um seinen Knebelvertrag mit dem Verleger zu erfüllen. Die Nähe einer solchen Anekdote zu Balzacs Schuldenkolportagen ist offensichtlich. Möglicherweise handelt es sich bei Igrok jedoch um einen von langer Hand geplanten Text, wenngleich sich dessen Diktat vergleichsweise rasch vollzog. Auch die sorgfältige Gestaltung des Textes zeugt von einem gründlichen Vorlauf. Vgl. Gerigk, Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller, S. 279. Für Hansen-Löve ist Dostoevskijs Stenografiestil, der auch Aleksej selbst zugeordnet werden kann, ein Indiz gegen „das Bachtinsche Ideal eines polyphonen Sprechers“; er verkörpere „vielmehr das eines kunstvollen Übersetzers der Kürzel des inneren Stenogramms auf den Diktierblock seiner Frau“, bzw., in Aleksejs Fall, in den eigenen Block. Hansen-Löve, Zum Diskurs des End- und Nullspiels bei Dostoevskij, S. 304. 33 Dostojewskij, Der Spieler², S. 25. 34 Butor vermutet hinter der vorgeschriebenen Faszination Aleksejs für das Spiel eine Hoffnung, einst einen Roman über das Spiel nach Anschauung schreiben zu können – ein Versuch, der freilich nach hinten losgeht, wie auch bereits bei Hoffmann das Schreiben durch das Spiel ersetzt wurde. Vgl. Butor, „Le joueur“, S. 25. 35 Vgl. Dostojewskij, Der Spieler², S. 65: „Um Gottes willen, um Gottes willen, Alexej Iwanowitsch“, fleht der General, „geben Sie doch dieses unsinnige Vorhaben auf!“
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bleibt eine ganze Weile, wie seine Vorgänger, nominell leer, insignifikant und auch darin durch das Spiel formatierbar. Einen weiteren Realitätseffekt stellt das markante Vergessen zusätzlicher Figuren dar. So werden manchmal Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gesellschaft des Generals angeführt, die keine weitere Rolle spielen, etwa die Schwester des Generals. Diese Fokussierung eines mehr und mehr begrenzten Personals verdichtet die Geschehnisse nach dem unerwarteten Erscheinen der Babuschka sowie die zunehmende Konzentration des Erzählers auf seine persönliche Interesselage im Zuge der Begegnungen mit dem Spiel. Die Erzählung tritt mit dieser verstreuten Verteilung von Informationen und Wissen in einem bestimmten Rhythmus, peu à peu und ohne sich von der Szenerie zu entfernen, an ihren Helden heran, bis schließlich nur noch er – die selbsternannte Null – zum relevanten Spieler des Geschehens herangereift ist. Dieses Aufgehen im Hasard schlägt sich formal in den Schilderungen Aleksejs nieder. Kurz vor dem endgültigen Ruin Babuschkas werden die Aufzeichnungen gänzlich abgebrochen und erst einen Monat später weitergeführt. Was ist geschehen? Neben dem Niedergang der resoluten Dame kommen sich Polina und Aleksej plötzlich näher, doch nach einer durchzechten Nacht, auf die eine schlagartige Krankheit Polinas folgt, ist der günstige Augenblick verpasst. Des Grieux und Mademoiselle Blanche reisen ab; Aleksej, durch einen fantastisch hohen Gewinn plötzlich in der Gunst der oberflächlichen Französin gestiegen, geht mit ihr unerwartet nach Paris. Dieser Zeitsprung mit seinen gewaltigen Umschlägen wird in einer schlicht gehaltenen Entschuldigung eingeleitet: „Nun ist fast ein ganzer Monat vergangen, seit ich diese meine Aufzeichnungen, die ich unter dem Einfluß von Eindrücken, die zwar konfus, aber sehr stark waren, begonnen hatte, nicht mehr angefaßt habe.“36 Dies ist auch als Auskunft über den eigenen Erzählstil zu begreifen: Eine besondere Nähe zu Realbegebenheiten, die sich in Aleksejs nahen Beschreibungen äußerte, wurde in der rauschhaften Spielnacht für die Zufallswiederholungen eingetauscht. Im Folgenden gibt es immer noch allenthalben ausführliche Dialoge, allerdings dominiert inzwischen der additive Erzählerbericht, wie Aleksej selbst bemerkt: „Übrigens läßt sich jetzt alles zum Teil auch kürzer erzählen: Der unmittelbare Eindruck ist eben etwas ganz anderes…“37 Nachdem der üppige Betrag in Paris schnell verprasst wurde, zieht Aleksej zurück nach Deutschland, wo er sich als Faktotum verdingt, immer nur, um einen Minimalbetrag sogleich in die Spielhäuser tragen zu können. Von dieser seiner neuen impressionistischen Existenz erfahren wir wiederum erst im abschließenden Kapitel, das abermals exponentiell mehr Zeit zwischen sich und den letzten Eintrag geschoben hat, und mit derselben Floskel beginnt wie der andere Zeitsprung: „Nun sind 36 Dostojewskij, Der Spieler², S. 148. 37 Ebd., S. 149. Zum Zeitproblem bei Dostoevskij, vgl. auch Gerigk, Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller, S. 283.
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bereits ein ganzes Jahr und acht Monate vergangen, seit ich diese Aufzeichnung auch nur eines Blickes gewürdigt habe, und erst jetzt, in meinem Elend und meiner Sehnsucht nach Zerstreuung, habe ich sie überflogen.“38 Je gefestigter der Spieler, desto weniger wird geschrieben. Hoffmanns Aufrechnung, nachdem der Dichter Siegfried von seiner Inkarnation als Hasardeur verdrängt wird, gilt auch für Dostoevskijs Text. Die einhergehende Durchbrechung der Zeitinszenierung macht gerade dadurch das dichte Verhältnis zur temporalen Struktur des vorher Erzählten erkennbar.39 Dort waren keine Prolepsen, sondern nur Prophezeiungen eines neunmalklugen Hauslehrers möglich, der unbedingt an das Prophetische glauben möchte – und sei es dasjenige des Zufalls. Die Flucht aus Roulettenburg wird wiederum als Erfüllung dieses seines Begehrens plausibel. Mister Astley ist es, der zu Aleksejs Widerwillen den vorgezeichneten Weg nach Paris voraussagt: „Leben Sie wohl, ich bin fest überzeugt, daß Sie heute nach Paris abreisen.“40 Die Skepsis Aleksejs schwenkt wohlgemerkt vom einen Moment zum anderen, ohne Grund, in hohen Enthusiasmus um. Dass gerade die Grundlosigkeit diesen Sinneswandel des Spielers unterstreicht, wird von ihm dabei klar erkannt. Aleksej sagt sich im Stillen: „Wenn nach Paris, dann nach Paris.“41 Diese stumme, aber deutliche Redundanz artikuliert die Verwandlung der Voraussage in unmittelbare Einlösung, einfach weil das Grundlose zum neuen Inhalt und Ideal geworden ist. Aleksej fügt hinzu: „Das ist eben mein Los.“42 Im Original
38 Dostojewskij, Der Spieler², S. 205. Auch im Original wird eine Floskel – hier mit „Nun sind...“ übersetzt – wiederholt: „вот уже […]“. Dostoevskij, Igrok, S. 281 und S. 311. 39 Zum Zeitbezug der Erzählung liegt eine ergiebige Analyse von Jeff Love vor, der diese nicht narratologisch interpretiert, sondern als strukturelle Spur einer Metaphysik- und Existenzkritik bestimmt, die in Igrok exemplarisch und avant la lettre ausgelegt ist: „Indeed, it seems to me that the self-consuming logic of the gambler, the delight and despair in possibility at the expense of actuality, is a crucial pre-figuration of the ambiguous responses to the collapse of metaphysics that have shaped the most important and influential debates of the twentieth century. On the one hand, there is the delight in liberation from metaphysics, a delight announcing itself in the Derridean ‚infinite play of the signifier‘ and a final escape from the oppressive structures of Platonic thought. On the other hand, there is despair over the decay or destruction of values, the dissolution of the tradition that forms the dark center of many twentieth-century fictions indebted to Dostoevsky like Celine’s Journey to the End of the Night, Broch’s Sleepwalkers and Kafka’s The Castle.“ Love, Narrative Hesitation in The Gambler, S. 379. 40 Dostojewskij, Der Spieler², S. 185. 41 Ebd., S. 189. 42 Ebd.
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behält die Wendung sichtlich ihre Redundanz: „в париж так в париж.“43 Die Ergänzung lautet: „знать, на роду написано.“44 Letzteres ist verschieden übersetzt worden. Bei Luther heißt es: „[…] so steht es mir in den Sternen geschrieben.“45 Diese Rücksichtnahme auf das „Schreiben“ im wörtlichen „so steht es geschrieben“, das im Russischen mit dem Notieren und Niederschreiben vorhanden ist („написaть“), scheint an der Stelle nicht ganz unwichtig: Schließlich erzeugt die metaleptische Erzählkonstruktion den Eindruck, dass nur dasjenige, was von Aleksej geschrieben wurde, überhaupt Wissen in Igrok produziert und Gültigkeit beanspruchen darf. Zudem kann sein Schreiben auch intradiegetisch als Kompensationsakt der Hervorbringung, als Ankündigung dessen, was das Echte werden soll – nämlich die Ankündigungserfüllung – verstanden werden. Die Frage nach der Freiheit des Subjekts und der Freiheit ästhetischer Produktion und Rezeption ist mit der Notwendigkeit und dem Kalkül ihres Momentes als besonderes sprachliches Gebilde (von besonderer Urheberschaft) vereint. Die eigene Providenz birgt die Gefahr eines ästhetischen Seins, das nicht durch den Künstler, sondern durch eine andere providentielle Instanz gemacht ist. So drängt sich eine auktoriale, transzendentale oder „konstruktivistische“46 Autorschaft auf, die in ihrer literarischen Reinszenierung das Erzählte simpel hervorbringt. Dadurch, dass dieser Erzähler niemand anders als Aleksej selbst ist, also eine Synchronisierung auf hetero- und homodiegetischer Ebene vorliegt, wird ein solches Erzählverfahren in den Darstellungsprozess miteinbezogen. Aussagen, wie Aleksejs Selbstbestätigung seiner Reise nach Paris, schließen die Motivationslücke: Ein von höchster erzählerischer Instanz erlassener Ukas führt zur sofortigen Abreise der Figur an einen anderen Ort und wird in hervorstechender Selbstreflexion des kontingenten Erzählens im Text eingebunden. Es zeigt sich hier die Autorschaft der eigenen Bewegungen als gespenstische Instanz des Erzählens. Insofern ist es ganz konsequent, nach dieser Erfüllung im (Nieder-)Schreiben einer provokativ redundanten Zeile wie dieser („Wenn nach Paris, dann nach Paris“), mit dem Schreiben zu brechen, ihm seine Kraft abzutreten und nicht mehr in Ankündigungen zu sprechen, sondern nur noch gelegentlich in Zusammenfassungen zu schreiben. Dieser strukturelle und stilistische Paradigmenwechsel der Erzählung fällt dabei mit der Flucht aus dem poetischen Traumort Roulettenburg in die bürgerlichbalzacsche Scheinwelt in Paris zusammen. So wird nach dem ersten Zeitsprung im dreizehnten Kapitel auch der Gestus der Erwartung plötzlich vom Grade dessen ausgehend, was sich erfüllt hat, beäugt: „Die Katastrophe, deren Nahen ich damals ge-
43 Dostoevskij, Igrok, S. 302. 44 Ebd. 45 Dostojewskij, Der Spieler1, S. 134. 46 Michel, Ordnungen der Kontingenz, S. 62.
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ahnt hatte, war wirklich eingetreten, wenn auch hundertmal heftiger und unvorhersehbarer als gedacht.“47 In der Rückschau kann die vage Prophezeiung aufgrund der neuen Wissensdistribution, bei der der Erzähler nun endlich einen gewaltigen Vorsprung hat, tatsächlich zur Prolepse avancieren. So ist Aleksej auch von der Null („нуль“), die er Polina gegenüber war, ins Zéro verwandelt, der korrespondierenden Identität im Spiel: „Was bin ich jetzt? Zéro. Morgen kann ich von den Toten auferstehen und ein neues Leben beginnen!“48 Gerade der Besuch in Paris führt einen Akteur des Benjaminschen Heroismus der Moderne in deren Hauptstadt.49 Dieser Heroismus als implementierte Lebenshaltung in der Moderne des Baudelairschen 19. Jahrhundert ist ja in gewisser Weise genau derjenige Zéroismus, den Dostoevskij hier mit Aleksej als unverdrossen scheiterndes Amalgam aus Verfasser, Erzähler und Akteur anbietet. Benjamin beschreibt diesen Heros als eingängige Konzipierung des Scheiterns, bzw.: Der moderne Held ist gerade im Scheitern heroisch. An einer Stelle verbindet er seine Theorie mit dem Suizid: „Die Moderne muß im Zeichen des Selbstmords stehen, der das Siegel unter ein heroisches Wollen setzt, das der ihm feindseligen Gesinnung nichts zugesteht. Dieser Selbstmord ist nicht Verzicht sondern heroische Passion. Er ist die Eroberung der Moderne im Bereiche der Leidenschaften.“50 Für Aleksej tritt als autodestruktive Leidenschaft diejenige des Hasard in unendliche Aktualisierung und damit in unendlichen Aufschub des Auferstehens von den suizidalen Toten des Glücksspiels. Die runde Zéro, die runde Null, die er personifiziert, ist zugleich die kreisförmige, zirkuläre, durative Existenz, in deren Ökonomie er als Spieler inszenatorisch eingetreten ist.
47 Dostojewskij, Der Spieler², S. 148. 48 Ebd., S. 206. „Zéro“ ist auch im Original in lateinischem Alphabet gedruckt. Vgl. Dostoevskij, Igrok, S. 311. 49 Für eine Deutung Igroks unter dem Aspekt der soziohistorischen und epistemologischen Modernisierungsphänomene, der die Hasardbeschäftigung Walter Benjamins vorangestellt ist, vgl. Hofmann, Glanz und Elend des Hasardspiels. Hofmanns Text führt einige interessante Hinweise und Stichbohrungen an, arbeitet aber überraschenderweise nicht mit Benjamins Baudelairetexten. 50 Benjamin, Charles Baudelaire, S. 578.
9. Hasard-Zirkel
Z UVERLÄSSIGES E RZÄHLEN VOM S PIEL Joseph Frank diagnostiziert in seiner monumentalen Dostoevskij-Monografie – Kondensat eines in fünf Bänden erschienenen Epos –, bei Aleksej würde es sich um einen „unreliable narrator“ handeln.1 Die Beobachtung bezieht sich auf die Koketterie und Ironie in den Einschätzungen des Erzählers, die aufgrund seiner intellektuellen Spielchen, aber auch im Rahmen seiner Neigung zum Erlöserpathos, durch die Aufwertung von Schuld und Sühne bzw. Verbrechen und Strafe, stets verschoben sind. Tatsächlich führt diese Differenz zwischen Aleksejs Äußerungen und ihrer Belastbarkeit in einen theoretischen Zirkel, demzufolge die Bedeutungsmaschine, die er mit seinen Niederschriften aufbaut, auch immer etwas Anderes bedeuten kann. Dabei sind einige zwischenmenschliche Verhältnisse dahingehend gar nicht so schwierig aufzulösen, weil der Text in Gänze durchaus klare Angebote liefert, etwa was die Einschätzung des Generals oder des Grieux’ angeht. Auf der strukturellen Ebene gibt es hingegen einige erläuterungsbedürftige Hinweise, in denen sich jene Verschiebungen des Gesagten noch einmal offenbaren. Im fünften Kapitel führen Polina und Aleksej ein recht ausführliches Gespräch, wie üblich in dominant dialogischer Szenerie, die in zahlreichen Texten Dostojevskijs einen Hauptteil der Erzählleistung zu erbringen hat. Innerhalb seiner narrativen Konstruktionen verwundert die hohe Detailgenauigkeit und Ausführlichkeit dieser Konversationswiedergaben insbesondere dann, wenn diese in Aufzeichnungen homodiegetischer Autoren vorkommen. Für höchste Irritation hat dieses Verfahren etwa in Böse Geister / Bessy (1873) gesorgt, deren sinisterer Chronist zuweilen von Begebenheiten genaueste Auskunft zu geben weiß, denen er ganz offenbar gar nicht beiwohnte und über die auch sonst keine näheren Informationen zugänglich
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Frank, Dostoevskij, S. 522. Vgl. auch Hofmann, Glanz und Elend des Hasardspiels, S. 118.
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waren.2 Die Vermutung einer über die Angaben im Text hinausgehenden Involvierung drängt sich auf und verleiht diesem Erzähler dadurch unheimliche Züge, die aber auch bereits in weniger verwickelten Fällen zutage treten; denn entweder handelt es sich bei Dostoevskijs Skribenten um beinah magisch versierte Mnemotechniker, die jede Nuance eines Gesprächs präzise zu erinnern imstande sind; oder eine eigene Gestaltungs- und darin auch Manipulationswut kommt bereits in dieser strukturell implizierten Erzählsituation zum Ausdruck. Hinsichtlich Aleksejs ist in den ersten zwei Dritteln des Textes zwar die relative Nähe seines Schreibens zum Geschilderten zu berücksichtigen, die aber dennoch die Frage nach der Motivation seiner Ausführlichkeit nicht vollständig beantwortet. Nach besagtem Gespräch mit Polina versichert er uns jedenfalls: „Ich erinnere mich jetzt [теперь, S.T.] genau, daß unser Gespräch damals [тогда, S.T.] tatsächlich Wort für Wort so verlief, wie ich es hier niederschreibe.“3 Zunächst irritiert das zeitliche Verhältnis dieser Aussage. Im Roman fand das Gespräch am selben Tag der Niederschrift statt, es sind nur wenige Stunden vergangen. Dennoch wird mit dem Unterschied von „jetzt“ zu „damals“ insinuiert, dass inzwischen derartig Zeit vergangen sei, um einen im Temporaladverb zu markierenden Abstand zu rechtfertigen. Aleksejs Betonung kann so verstanden werden, dass die unterstrichene Wortgetreue normalerweise gerade nicht zu gewährleisten sei. In diesem einen Fall scheint es daher auffällig, dass sich Aleksej „Wort für Wort“ erinnert. An späterer Stelle, nach dem ersten Zeitsprung, wird diese Verlässlichkeit schließlich aufgebrochen. In einer Szene übergibt Polina einen Brief an Aleksej. Vor dessen Montage in den Text gibt er zu: „Den genauen Wortlaut des Briefes habe ich vergessen, aber hier ist er – wenn nicht wortwörtlich, so doch wenigstens dem Sinn nach genau.“4 In diesem Auszug wiederum wird ein Verdacht bestätigt, der auch bei den vorherigen Dialogwiedergaben präsent war, dass nämlich allenfalls ein Sinn – wenn überhaupt – in der Nachzeichnung wiedergegeben, und das heißt auch: aufgebaut wurde. Für einen plötzlichen Schwund der Gedächtnisleistung Aleksejs spricht hingegen, dass er zur Zeit der Aufzeichnung des Briefes bereits in Paris gewesen ist und seine Spielerkarriere im großen Stil begonnen hat. Die toxische Obsession mit dem Hasard hat in diesem Fall seine Investition in die Schilderungen eines früheren Lebens bereits verdrängt. 2 3
Vgl. dazu Gerigk, Dostoevskijs Entwicklung als Schriftsteller, S. 144. Dostojewskij, Der Spieler², S. 52. Dostoevskij, Igrok, S. 231. Im Original ist der Bestätigungspartikel „tatsächlich“ („действительно“) noch durch das relativierende „почти“ („fast“, „beinahe“) wieder aufgeweicht, das es weder in die Übersetzung von Swetlana Geier, noch diejenige von Arthur Luther geschafft hat, wodurch die logische Diskrepanz leider unter den Tisch fällt. Zu Luthers Variante, vgl. Dostojewskij, Der Spieler1, S. 37: „Ich erinnere mich jetzt, daß unser Gespräch tatsächlich Wort für Wort so geführt wurde, wie ich es hier niederschreibe.“
4
Dostojewskij, Der Spieler², S. 165.
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Die wahre Meisterleistung dramatisierter Erinnerung stellen derweil die Spielszenen selbst dar. War es vormals nicht allein der Sinn des Gesprochenen, der eine Wiedergabe möglich machte, sondern tatsächlich die Signifikanten, die Aleksej „Wort für Wort“ zu wiederholen vermochte, würde sich ebenfalls erklären, weshalb er es auch en detail schafft, jene sinnlosen, rein zufälligen Signifikanten des Glücksspiels genauestens, Wort für Wort, wiederzugeben. Diese werden bei Dostoevskij, ähnlich wie in Rastignacs Spielszene im Père Goriot, ebenfalls häufig über direkte Rede repräsentiert. Die nahe, szenische Darstellung des Glücksspiels, die den Spielsaal als Bühne des Hasard anfertigt, abstrahiert konsequent vom Innenleben der Figuren, deren Introspektionen durch den Zufall ersetzt wurden und so angesichts der puren Materialität der geworfenen Zufälle kapitulieren müssen. Michail Bachtin schreibt zur Dialogizität Dostoevskijs, dass die „Endlosigkeit des äußeren Dialogs [...] mit der gleichen mathematischen Klarheit hervor[tritt], wie die Endlosigkeit des inneren Dialogs“5. Das polyphone Wesen der diegetischen Konstruktion bei Dostoevskij entspricht den ewig innerlichen, widersprüchlichen Auseinandersetzungen der einzelnen Figuren. Im Glücksspiel ist diese Auseinandersetzung pausiert; die einfachen Äußerungen der Croupiers konfrontieren mit den banalen Signifikanten des Zufalls und geben der direkten Rede eine lineare Struktur. Entsprechend verlagert sich das Philosophem des Zufalls zu einer Somatik: Blieben Balzacs Raphaël wie auch das umfängliche Wissen seines auktorialen Erzählers in den Momenten des Spiels stumm, waren Lousteau und Lucien nur durch ihre körperlichen Reflexe noch anwesend, so beschreibt sich auch Aleksej nach seiner großen Spielszene als „beinahe empfindungslos; ich habe nur gewartet, irgendwie mechanisch gewartet, ohne zu denken“6. Die Automatisierung entfernt folglich auch weitere extraludische Involvierung und Passion: „Ich weiß nicht mehr, ob ich während dieser Zeit auch nur ein einziges Mal an Polina gedacht habe. Ich empfand damals eine unstillbare Lust beim Packen und Bündeln der Banknoten, die sich immer höher vor mir aufhäuften.“7 Es drängt sich dabei aber auf, dass in der jeweiligen Dramatik der Spielszene diesen einzelnen Signifikanten des Zufalls wieder Sinn zugesprochen wird, aus dem heraus sie als Geschichte erinnerbar werden. Hinzu kommt, dass aufgrund ihrer Zufälligkeit nicht die einzelnen Signifikanten – Rot oder Schwarz, Gerade oder Ungerade – bedeutend sind, sondern ihre jeweilige Abfolge in einer Geschichte. Sie sind austauschbar, solange die Geschichte, die sie erzählen, dieselbe bleibt. Insofern kann auch hier eine ungetreue Wiedergabe stattfinden, solange die mit den Spielen relevanten Konsequenzen nicht verändert werden.8 5
Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 286.
6
Dostojewskij, Der Spieler², S. 171.
7
Ebd., S. 173f.
8
Die arbiträre Codierung im Roulette hat Julian Connolly semiotisch herausgearbeitet. Vgl. Connolly, A World in Flux, S. 68f.
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Bei der Darstellung eines Spiels, das aus der erratischen Spielszene Aleksejs am Ende des Romans stammt, wird diese dialogische Wiedergabe des Spiels deutlich, die in einer Aussage des Setzens und in einer Antwort durch das Rouletterad besteht – über den Sprechautomaten des Croupiers vertont: „Ich zog meine zwanzig Friedrichsdor aus der Tasche und warf sie auf das vor mir stehende ‚Passe‘. ‚Vingt-deux!‘ rief der Croupier. Ich hatte gewonnen – und setzte wieder, alles: den früheren Einsatz und den Gewinn. ‚Trente et un!‘ rief der Croupier. Wieder gewonnen!“9
Im Original stechen die essentiellen Signifikanten dieses Gesprächs heraus und zwar aufgrund der Gepflogenheit, die Spielvokabeln im Französischen wiederzugeben: Zwischen die kyrillischen Lettern sind lateinische eingelassen („Passe“, „Vingt deux“, „Trente et un“)10, die sie als stigmatisierte Zeichen des Spiels schlagartig identifizierbar machen. Nun scheint ein möglicher Sinn dieser Passage darin zu bestehen, Aleksejs Gewinnstrecke anzuzeigen. Es ist unerheblich, ob er auf „Passe“ setzt und deswegen mit der 22 oder der 31 gewinnt, oder einen alternativen Spielzug vollführt, der nur aus anderen Setzungen und Zahlen bestehen würde, solange der Gewinn derselbe bleibt. Die Signifikanten erscheinen als kontingent, nicht aber der Sinn des Dialoges zwischen Aleksej und Rouletterad; und doch sind es die Signifikanten, denen Aleksej vorher – in der angeblich wortwörtlichen Erinnerung eines Dialogs mit Polina – den Vorzug vor diesem Sinn gegeben hatte. So mag die präzise Wiedergabe eines Spielablaufs unzuverlässig sein, während ihrem Ergebnis durchaus vertraut werden darf; oder, die Spielwiedergabe ist tatsächlich bis zum einzelnen Wort, zum einzelnen Signifikanten des Spiels präzise, was eine enorme Gedächtnisleistung angesichts ihrer jeweiligen Sinnlosigkeit ausweisen würde. In jedem Fall gibt es eine spezifische Fixierung auf die Rolle der einzelnen Spielsignifikanten, die eine Brücke zur Identität als Spieler baut. Die Rolle der Spielsignifikanten kristallisiert sich anhand eines privilegierten Zeichens, nämlich abermals des „Zéro“.11 Das Spiel der Babuschka wird zeigen, weshalb mit ihrer speziellen Spielstrategie eine besondere Geschichte dieses Feldes erzählt wird, die, wie jede Geschichte einzelner Glücksspiele, aus einem gewissermaßen falschen Sinn des Spiels resultiert. Dessen Theorie wurde von Dostoevskijs zuweilen in die Inszenierung des Spielers mitaufgenommen. Aleksej erkennt während seines ersten Besuchs der Roulettebänke bereits das zugehörige Konzept: 9
Dostojewskij, Der Spieler², S. 170.
10 Zur Veranschaulichung hier das komplette Zitat: „Я вытащил все мои двадцать фридрихсдоров и бросил на бывший предо мною ,passe‘. – Vingt deux! – закричал крупер. Я выиграл – и опять поставил всё: и прежнее, и выигрыш. – Trente et un, – прокричал крупер. Опять выигрыш!“ Dostoevskij, Igrok, S. 292. 11 Vgl. auch Love, Narrative Hesitation in The Gambler, S. 372f.
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„Tatsächlich herrscht im Verlauf der zufälligen Chancen etwas Gewisses, zwar kein System, aber immerhin eine Ordnung, ein Umstand, der natürlich höchst merkwürdig ist. Es können zum Beispiel nach zwölf mittleren Zahlen die zwölf letzten an die Reihe kommen; zweimal kann die Kugel über die zwölf letzten, dann auf die zwölf ersten rollen. [...] Das ist sehr komisch. An manchem Tag oder an manchem Vormittag wechseln, zum Beispiel, Rot und Schwarz ab, hin und her, fast völlig willkürlich, von Minute zu Minute, so daß nie mehr als zwei- oder dreimal hintereinander Rot oder Schwarz getroffen wird. Am nächsten Tag oder am nächsten Abend kann zum Beispiel hintereinander nur Rot gewinnen; es bleibt bei derselben Farbe bis zu zweiundzwanzig Malen hintereinander im Verlauf einer bestimmten Zeit, zum Beispiel einen ganzen Tag lang.“12
Das hier beschriebene Phänomen firmiert unter dem Trivialnamen der gambler’s fallacy. Sie bezeichnet den Irrglauben, dass sich die Ergebnisse des Hasard an vorherigen Ergebnissen orientieren, bzw., dass verschiedene Ergebnisse eine Zufallsspiels miteinander in Verbindung und Interaktion stehen und gemeinsam einen Sinn ergeben. Wenn etwa hundert Mal hintereinander Rot erschienen ist, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass es ein weiteres Mal erscheint, keinen Deut geringer, als wenn vorher hundert Mal Schwarz erschienen wäre. Das Konzept beschreibt also vor allem den Irrtum, Strategien dort aufzusuchen, wo nicht auf strategischem Wege vorgegangen werden kann, und wo eine dezidiert nicht strategisch hervorgebrachte Veränderung für ein Manöver aus Strategie gehalten wird. So suggeriert eine absurde Häufung bestimmter, vom Spieler erkennbarer Wiederholungen einen verborgenen, eben verfälschten Sinn des Spiels, der wiederum allein dafür Verantwortung trägt, dass es Geschichten produziert. Im Falle der Babuschka handelt es sich um eine Geschichte des gestaffelten, aber auch wieder getilgten Ruins, die mit einer einhergehenden Reflexion der gambler’s fallacy zugleich das Erzählen vom Spiel ironisch thematisiert.
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FALLACY
Edgar Allan Poe hat der gambler’s fallacy eine bestimmte literarische Signatur verliehen. Im Mystery of Marie Rogêt schließt er seine gewiss kriminalistisch unbefriedigende Erzählung mit einer Betrachtung des „Calculus of Probabilities“ ab, die noch einmal festigen soll, inwiefern der von ihm geschilderte Fall einer gewissen Marie Rogêt nicht bis zum Schluss mit demjenigen einer gewissen Mary Rogers identisch sein muss, so weit die Parallelen bis dahin auch gelaufen sein mögen. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung nämlich „forbids all idea of the extension of the parallel, – forbids it with a positiveness strong and decided just in proportion as this parallel has
12 Dostojewskij, Der Spieler², S. 36.
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already been long-drawn and exact“13. Diese falsche Antizipation sei gerade eine mathematische, die nämlich mit der Abweichung durch den Zufall rechnet: So gleichwahrscheinlich es auch anmuten mag, dass eine bis fast zum Ende gelaufene Parallele auch über das letzte Stück parallel bleibt, so wahrscheinlich ist es in Wahrheit, dass beide Linien nun doch noch abweichen. Überraschenderweise liefert der Erzähler eine Analogie, die diesen Fehler als falsch unterstellte gambler’s fallacy beschreibt und damit den Fehler der gambler’s fallacy narratologisch rehabilitiert: „Nothing, for example, is more difficult than to convince the merely general reader that the fact of sixes having been thrown twice in succession by a player at dice, is sufficient cause for betting the largest odds that sixes will not be thrown in the third attempt.“14 Die Analogie besteht darin, dass aufgrund der mit jedem Wurf erneuerten Gleichwahrscheinlichkeit auch die Möglichkeit des äußersten Zufalls wieder gegeben ist, man aber deswegen auf der anderen Seite nicht aus dem Auge verlieren solle, wie gering doch diese isolierte Wahrscheinlichkeit für sich noch ist. Nur weil Mary Rogers und Marie Rogêt in jeweils zwei Würfen ein kongruentes Ergebnis hervorbrachten, heißt das nicht, dass die Wahrscheinlichkeit, auch ein drittes Mal dasselbe Ergebnis hervorzubringen, genauso hoch ist wie die aller anderen möglichen Ergebnisse – im Gegenteil: Man kann die höchsten Wetten darauf abschließen, dass sich bei diesem dritten Wurf endlich eine Abweichung des einen Falls vom anderen ergeben dürfte. Diese metanarrative Erwägung trägt verschiedene Funktionen. Unter anderem könnte man dem Erzähler unterstellen, dass sein Versuch, den Fall der historischen Mary Rogers mit dem Dupin-Fall über Marie Rogêt bearbeiten zu wollen, im Laufe von dessen Ermittlungen nicht ganz funktioniert hat. Für diesen Moment soll jedoch festgehalten werden, dass eine wiederum falsche Schlussfolgerung aus dem Wissen von der gambler’s fallacy vor einem literarischen Hintergrund ausgeräumt wird. Auch mit der Erkenntnis der gambler’s fallacy kann ein weiterer Fehler entstehen, nämlich zu glauben, dass der dritte Wurf zweier Sechsen wahrscheinlicher würde, geradezu stattfinden müsste – gerade in der sprachlichen und narratologischen Ausnahmesituation des fiktionalen Erzählens. Damit wird allerdings weniger auf die Gegebenheiten des Glücksspiels hingewiesen, die eher eine Analogie bereitstellen, als auf diejenigen des Erzählens. Das Narrativ erhält hier ein Innovations- und Überraschungsgebot, das die Lektüreerfahrung des Publikums miteinberechnet, die mittlerweile bereits darin besteht, sowieso mit den Zufällen zu rechnen, anstatt sich auf die empirische vraisemblance zu beziehen, in der die Zufälle kommen und gehen, ohne eine bis zum Ende perfekte Geschichte des Zufalls erzählen zu müssen. Insofern findet eine Unterscheidung zwischen der spielerischen gambler’s fallacy und einem Fehler in der Erwartungshaltung einer narrativen Wahrscheinlichkeit gegenüber statt. Eine Geschichte, so die Konsequenz, muss nach einer unwahrscheinlichen Häufung 13 Poe, The Mystery of Marie Rogêt, S. 249f. 14 Ebd., S. 250.
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an Zufällen nicht unbedingt einen weiteren dieser Zufälle geschehen lassen; ihr steht es frei, eventuell in einer profanen Ungewissheit zu verbleiben, die auch Poe im Anschluss an diese Zeilen gelassen hat. Igrok zeigt nun, wie sich eine besondere Vermittlungssituation dann ergibt, wenn eine Geschichte vom Spiel erzählt wird, die zugleich Rücksicht auf die gambler’s fallacy (als Spiel) wie auch auf diese erodierte gambler’s fallacy (in der Erzählung) nimmt. Dass nämlich Würfel und Rouletteräder kein Gedächtnis haben, dafür aber der Spieler, der sie beobachtet, bildet die einschlägige Spannung, von der ausgehend den Zufällen im Spiel Sinn zugeordnet wird. Die „mystische und unbegreifliche Verbindung zwischen den einzelnen Würfen“15, die Georg Christoph Lichtenberg beobachtet hat, ist der Rohstoff für den Aberglauben des Spielers, befeuert von dem Drang zum zusammenhängenden Narrativ. Jetzt setzt dieses Phänomen auf Erwartung, weswegen mit Spielszenen auch häufig Spannung verbunden wird. Wenn Spannung als ein Begehren nach Wissen verstanden wird, ob und wie eine bestimmte Ankündigung sich erfüllt oder nicht, produziert das Glücksspiel einen formalisierten Fall von Spannungserzeugung: Der Hasard befiehlt simpel seinen Spannungsimperativ. Das Setzen artikuliert eine austauschbare Antizipation. Der Leerraum bis zur Einlösung oder Nicht-Einlösung dieser Antizipation wird mit dem Begehren nach Wissen und Erkenntnis über das Ergebnis gefüllt – eine Sachlage des Spiels, die es auch immer wieder mitinszeniert, gerade wenn eine dialogische Form wie die Dostoevskijs gewählt wird. Ian Hacking beschreibt zusätzlich einen verwandten, aber alternativen Fall der Sinnaufpfropfung, den er „inverse gambler’s fallacy“ nennt. Beruhte die gambler’s fallacy noch auf einer fehlgeleiteten Vorhersage („prediction“), so funktioniert ihre Inversion per illegitimer Erklärung („explanation“).16 Es wird ein als kurios oder divers empfundenes Ergebnis, etwa der Wurf zweier Sechsen, damit erklärt, dass möglicherweise bereits zuvor schon sehr häufig geworfen wurde, auch wenn die Anzahl vorheriger Würfe nichts mit einem solchen Ergebnis zu schaffen hat. Daraus ergeben sich auch Unterschiede in einer Narratologie des Spiels zwischen beiden Fehlannahmen: „Thus, a difference between the gambler’s fallacy and the inverse gambler’s fallacy is that all relevant prior probabilities are built into the story of the gambler’s fallacy. In the inverse fallacy, there is always room for subjective, personal, or rational prior probabilities. Then the point is that observing double six has no effect whatsoever on those priors. The inverse gambler’s
15 Lichtenberg, Betrachtungen über einige Methoden, eine gewisse Schwierigkeit in der Berechnung der Wahrscheinlichkeit beim Spiel zu heben (1770), S. 22. 16 Hacking, The Inverse Gambler’s Fallacy, S. 333f.
326 | ZIRKULÄRE Z UFALLGESCHICHTE fallacy is that of thinking that ‚double-six‘ is relevant information that should affect his priors.“17
Das Spiel provoziert auf diese Weise ohne jegliches Interesse eine magische Ordnung des kuriosen Narrativs, welches einmal eine vorausschickende (gambler’s fallacy) und einmal hinterher aufgezwungene Deutung (inverse gambler’s fallacy) darstellt. Zum Aberglauben des Spiels gehört nun beides, der Selbstbetrug angesichts eines noch nicht geworfenen Würfels, und die selbstbetrügende Reorganisation des gefallenen Würfels: „If you don’t like the hypothesis of divine design, then opt for pure inexplicable chance. To reason otherwise is to commit what I have named the ‚inverse gambler’s fallacy‘.“18 Gewissermaßen findet sich ein Äquivalent auch in den Charakterzügen des Spielers wieder, in seiner Hoffnung auf die Gunst der Wahrscheinlichkeit wie in seinen Flüchen auf das Ausbleiben dieser Gunst. Bei Aleksej besteht diese Hoffnung vielmehr jedoch in einer Erlösungserwartung an den Hasard als ganzes, weniger in den einzelnen Partien. Diese Hoffnung wird von der nachträglichen Bewertung als totes Gebiet ergänzt, als Zirkel, aus dem ein Ausbruch möglich sei. Für Babuschka ist es hingegen gerade ein Fall der poeschen Justierung der gambler’s fallacy, der ihren Sog ins Spiel ausmacht und darin „Zéro“ als privilegierten, nämlich nicht austauschbaren Signifikanten in der zéroistischen Erzählung Aleksejs ausweist. Der Erbtante werden die Regeln des Roulettes erklärt. Ihre besondere und ungeteilte Aufmerksamkeit erzielt der Ruf des Zéro. Als sie erfährt, dass man bei Gewinn auf Zéro gar das Fünfunddreißigfache ausgezahlt bekommt, ist ihre Aufregung kaum zu zügeln: „Wie! Das Fünfunddreißigfache! Und das kommt oft vor? Und warum setzen sie, diese Dummköpfe, nicht auf Zéro?“19 Aleksej erklärt ihr, wie unwahrscheinlich ein Sieg mit der Null sei, doch Babuschka lässt sich nicht beirren: „Sie zog aus der Rocktasche eine vollgestopfte Börse und entnahm ihr einen Friedrichsdor. ‚Hier, setz sofort auf Zéro‘.“20 Aleksej versucht sie vernünftigerweise mit dem unvernünftigen Argument – indem er eine gambler’s fallacy begeht – davon abzuhalten. Er agiert damit ganz nach Poes Geschmack, denn schließlich ist die Wahrscheinlichkeit des Zéro ähnlich gering wie der Wurf zweier Sechsen. Allein umsonst: „‚Babuschka, Zéro ist gerade erst gekommen‘, sagte ich, ‚also dauert es lange, bis es wieder kommt, Sie werden viel umsonst setzen; warten Sie wenigstens ein wenig‘. ‚Red nicht, setz!‘ ‚Wie Sie wünschen, aber es ist möglich, daß Zéro bis zum Abend nicht kommt, Sie werden gut 17 Ebd., S. 334. 18 Hacking, The Taming of Chance, S. 148. 19 Dostojewskij, Der Spieler², S. 113. 20 Ebd., S. 114.
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und gern einen Tausender verspielen, das ist schon vorgekommen‘. ‚Quatsch, alles Quatsch! Fürchtest du den Wolf – geh nicht in den Wald. Wie? Verloren? Noch mal setzen!‘“21
Anstatt auf Aleksejs Rufe zu hören, fällt Babuschka auf die magische Anziehung der Null und ihrer Entsorgung der Unwahrscheinlichkeit herein. Babuschka ignoriert Aleksejs Warnungen, was nicht unvernünftig ist, da Zéro genauso gut und wahrscheinlich ein weiteres Mal erscheinen kann, und doch auch nicht vernünftig, weil die Chancen so gering sind. Sie tut es aber nicht aus diesen Gründen der Raison, sondern weil sie an eine Geschichte des Zéro glaubt, die ihm eine nicht-mathematische, narrative Wahrscheinlichkeit zu spendieren scheint. Das herausragende Ereignis von Zéro, die aufmerksamkeitsreiche Geschichte, die es erzählt, nimmt sie zum Anlass, es für wahrscheinlich zu halten – und sitzt damit einer Lektüre auf, gegen die Poes Erzähler gestritten hat. Dieses Spiel mit den Wahrscheinlichkeiten von Zahlen und Geschichten wird noch um eine Schraube angezogen, als sich nämlich die Erwartung Babuschkas an den Sinn von Zéro plötzlich erfüllt, wobei aber verwischt wird, dass sich der Sinn selbst gar nicht erfüllen kann. Nachdem zunächst mehrere Male vergebens auf Zéro gesetzt wurde, ist die Fixierung auf die eine Möglichkeit bereits so weit ausgearbeitet, dass es eine eigene Bedeutung, ein eigenes Schicksal in den Coups der Erbtante aufgebaut hat. Höchste Zeit, dass es sich endlich blicken lässt: Zum vollsten Triumph der Babuschka gewinnt sie ihre Partie mit Zéro, und, als hätte sie eine eigene Leistung vollbracht, wird der erschienene Zufall mit dem Wert eines Argumentes Aleksej entgegengehalten. Angesichts dieses Erfolges muss nach einigem Hin und Her freilich abermals aufs selbe Feld gesetzt werden: „Überlegen Sie doch, Babuschka“, warnt Aleksej vergeblich, „Zéro kommt manchmal zweihundert Spiele hintereinander nicht!“22 Doch Babuschka ist nicht zu bremsen. Nun tritt es fatalerweise beim übernächsten Mal tatsächlich wieder auf und konsolidiert seine falsche Geschichte. Freude und Erstaunen sind groß, doch der gewaltige Gewinn, den sie mit ihrem Zéro an diesem Abend macht, besiegelt den Anfang vom Ende des entsprechenden Geschehens. Babuschkas implizite Erkenntnis der gambler’s fallacy verleiht der Null einen transzendenten Sinn, der sich in ein rächendes Schicksal verwandelt, das wiederum die modifizierte gambler’s fallacy von Poe bestätigt, aber nur, weil sich zuvor die gambler’s fallacy als Fehler bestätigt hat. Dostoevskij schöpft diese äußerst effizient etablierten Relationen zwischen Mathematik und Narration des Hasard in seiner Vielfältigkeit aus. Das Spiel geht nämlich noch weiter. Schon beim zweiten Besuch des Spielsaals, den Babuschka nach kurzer Ruhepause ein Kapitel später in Angriff nimmt, muss sie
21 Ebd. 22 Ebd., S. 115.
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schließlich in ihrer Ungeduld einsehen, dass auf ihr Lieblingsfeld nicht länger vertraut werden darf: „Aber beim fünften Mal wurde Babuschka nachdenklich. ‚Zum Teufel mit diesem elenden Zéro. Hier, setz alle viertausend auf Rot‘, kommandierte sie.“23 Es kommt, wie es zu kommen verspricht: „Das Rad drehte sich. Babuschka saß gelassen und stolz aufgerichtet da, ohne an ihrem Gewinn auch nur zu zweifeln. ‚Zéro‘, verkündete der Croupier.“24 Dass in dem Moment des Abwendens vom Zéro es plötzlich zu erscheinen sich erdreistet, ist von Seiten der Spiele freilich kontingent, für die Ironie der Inszenierung hingegen nichts weniger als notwendig. Noch einmal wird sich eine Ironie dieses Zéro wiederholen. Des Grieux, in heller Panik, dass das ganze schöne Geld der reichen Dame, die sich partout nicht vom Hasard mehr trennen lässt, am Tisch den Bach heruntergeht, stößt etwas später – die Karriere des Zéro scheint schon fast vergessen – zum Spiel hinzu, um wenigstens probabilistische Ordnung hineinzutragen: „Des Grieux versuchte sie lediglich von großen Einsätzen abzubringen; empfahl kleinere Einsätze, und zwar auf Zahlen, einzeln oder in bestimmten Kombinationen. Ich setzte, nach seiner Anweisung, je einen Friedrichsdor auf die Gruppe von zwölf bis achtzehn und von achtzehn bis vierundzwanzig: Insgesamt setzten wir sechzehn Friedrichsdor. Das Rad drehte sich. ‚Zéro‘, verkündete der Croupier. Wir hatten alles verloren.25
Die Komik dieses speziellen Zéro besteht in der Tilgung der extrem aufwendig geplanten und verteilten Spielzüge, die im zirkulären Wirbel des drehenden Rades verlorengehen.26 Der Witz äußert sich einerseits darin, dass diese Szene festigend klarstellt, inwiefern sich die Interesselosigkeit des Zufalls nicht betrügen lässt, und andererseits nur dadurch verstärkt in Szene treten kann, weil eben als rehabilitierte gambler’s fallacy vorher bereits dem Zéro überhaupt erst so großes Gewicht zugeschlagen wurde.27 Es ist die Narrativisierung durch Wiederholung des insignifikanten Zeichens 23 Ebd., S. 132. 24 Ebd., S. 133. 25 Ebd., S. 139. 26 Die Drehung des Rades wird auffälligerweise sehr häufig in den Spielszenen betont. Zur Funktion des Rouletterades hat Bettina L. Knapp eine kurze Deutung angeboten, die sich allerdings weniger auf dessen technische Funktion konzentriert als auf das „leitmotif“ des Rades in psychologischer Projektion. Vgl. Knapp, Gambling, Game and Psyche, S. 102. Zur Depersonalisierung durch das Roulette (im Unterschied zu den Karten u.a.), vgl. Helfant, The High Stakes of Identity, S. 122. 27 Die aus einer Diskrepanz von Aufwandsüberschuss und Ergebnis resultierende Komik dieser Szene ließe sich anhand von Sandra Fluhrers Überlegungen zur Komik minutiös beschreiben. Vgl. Fluhrer, Konstellationen des Komischen. Dafür, dass sie meine Aufmerksamkeit auf solche Verhältnisse erst gelenkt hat, sei ihr an dieser Stelle herzlich gedankt.
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„Zéro“, die eine sinnvolle Artikulation seiner Zufälligkeit hier erst ermöglicht. Solche sukzessiven, sich logisch widersprechenden Erzähleinheiten des Glücksspiels reformulieren die von Aleksej betonte Nicht-Darstellbarkeit, den reinen Demonstrationscharakter des Glücksspiels, deren literarische Relevanz ja überhaupt erst auf die Kontingenz des Erzählens verweist, und finden zugleich eine Möglichkeit, es dennoch abzubilden. Ein abschließendes Beispiel soll zeigen, wie dicht Igrok um die Problematik der gambler’s fallacy auch außerhalb der Figurendeutung und auf einer Rezeptionsebene von Aleksejs Manuskript verankert ist. Das allererste Spiel Aleksejs im zweiten Kapitel geht verloren. Er hatte auf Gerade gesetzt, das Rad dreht sich abermals, „und blieb auf der Dreizehn stehen – ich hatte verloren“28. Diese Dreizehn wird der Babuschka im Laufe ihrer Zéro-Leidenschaft wiederbegegnen: „‚Le jeu est fait!‘ rief der Croupier. Die Scheibe drehte sich, und es kam – Dreizehn. Verloren!“29 Dieses rencontre mit der Dreizehn macht in Äquivalenz zu Hoffmanns stets verlierender Dame ersichtlich, wie sich die fallacy auf die Lektüre des Textes überträgt. Das zweimalige Auftreten der Dreizehn als Verlustzahl ist rein mathematisch absolut unauffällig, da es sich um ein aus Gleichwahrscheinlichkeit resultierendes und darin insignifkantes Ergebnis handelt. Es fällt aber durch die Doppelung potentiell ins Gewicht, einerseits, weil es dadurch die Gelegenheit einer Interpretation und eines Signifikantwerdens aus Kontingenz bietet. Auf metaleptischer Ebene stellt die Wiederholung dieser Unglückszahl andererseits für die Textanalyse ein Angebot der Bedeutungsaufladung, das durch die literarische Rahmung eine becircende Absicht ausdrückt, die vom Schicksal der Dreizehn als pechbringender Einheit erzählt. Mit einem solchen Drehmoment des Rouletterades im erzählenden Text überträgt sich der Bedeutungszwang bzw. die Bedeutungsneurose von Leserinnen und Lesern auf die simple Angabe unbedeutender Zufallssignifikanten im Text; ein Mechanismus, den Dostoevskij in seinem Roman mit den vielen verschiedenen Spielszenen ausreizt. Die hierin angelegte Figur der Erstellung und Tilgung von Bedeutung betrifft letztlich auch Babuschka. Ähnlich wie Balzacs Raphaël, der spielt, um zu sterben, und schließlich (vorerst) doch nicht stirbt, widersprechen sich auch die Markierungen ihres Schicksals im Spiel. Mit dem Abstand des einen Monats Paris resümiert Aleksej zunächst: „Erstens gilt es, die Geschichte Babuschkas abzuschließen. Am nächsten Tag hatte sie endgültig alles verspielt.“30 Gerade dieses Ereignis führte ja dazu, dass sich des Grieux und Mademoiselle Blanche von der Familie des Generals abwandten. Dabei wäre doch immer noch etwas zu holen gewesen. Ein paar Seiten weiter gesteht Babuschka, dass alles nur halb so schlimm sei: „Ich bin, mein Guter, immer noch ziemlich wohlhabend, drei Güter und zwei Häuser sind mein. Und Geld wird sich 28 Dostojewskij, Der Spieler², S. 26. 29 Ebd., S. 116. 30 Ebd., S. 150.
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auch noch finden, ich habe nicht alles mitgebracht.“31 Diese charakteristische Auflösung des Spielerschicksals korrespondiert nicht allein der Dramaturgie des Spielens, sondern auch Dostoevskijs Erzählstil, der heterogenste Aussagen und Widerstreite zusammenbringt. Michail Bachtin hat dieser Eigenheit ein ganzes Buch gewidmet, das sie mit dem Begriff des „polyphonen Romans“32 klassifiziert. Bachtins Merkmal, nach dem nicht allein eine soziolektische Vielstimmigkeit entscheidend ist, sondern die Schaffung „freie[r] Menschen, fähig, sich ihrem Schöpfer zu vergleichen, ihm nicht beizupflichten und sogar sich gegen ihn zu empören“33, ist mit den Gepflogenheiten der unterschiedlichen Konflikte zwischen den Figuren, wie auch derjenigen, die Aleksej mit sich selbst auszufechten hat, in Igrok sichtbar. Insbesondere aber die Spiegelung der Leidensprüfung des Erzählers, die einer Artikulation seiner Wünsche widerspricht, fügt jenes polyphone Bild in der unkontrollierbaren Existenz des Spielers zusammen. Es findet seine Vollendung in der Darlegung von Aleksejs Manuskript als ewig fragmentarisch-impressionistischer Lebensstruktur des Spielers außerhalb seines bios.
S PIELERS S CHWUR : D AS S PIEL VON MORGEN Dostoevskijs Text endet im Spiel. In der Zeit, die seit Aleksejs Rückreise von Paris nach Deutschland vergangen ist, hat sich einiges ereignet: Mademoiselle Blanche hat doch noch den General geheiratet, ist derweil aber bereits wieder Witwe. Die Schickung Babuschkas konnte so nicht mehr eintreffen, auch wenn ihr Schicksal sie inzwischen ebenfalls erreicht hat – zur Trauer derjenigen Leserinnen und Leser, die dem Charme dieser erinnerungswürdigen Figur anheimgefallen sind. Verglichen mit 31 Ebd., S. 161f. 32 Vgl. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 7. Bachtin führt u.a. auch Balzac als Vorgänger dieser Polyphonie auf. Vgl. ebd., S. 40. Allerdings: „Man kann auch bei Balzac von Elementen der Polyphonie sprechen, aber nur von Elementen. Balzac steht in derselben Entwicklungslinie des europäischen Romans wie Dostoevskij und ist einer seiner direkten und unmittelbaren Vorgänger. [...] Aber Balzac überwindet den Objektcharakter seiner Helden und die monologische Abgeschlossenheit seiner Welt nicht.“ Ebd., S. 41. 33 Ebd., S. 10. Zum Paradigma, dass es sich bei Dostoevskij um einen Innovator der erzählenden Form handelt, vgl. auch Lukács, Theorie des Romans, S. 137f. Lukács schildert in seinem Ausgang aus der Theorie des Romans die geschichtsphilosophische Bedeutung Dostoevksijs als bereits postromantisch gesinntem Schriftsteller, der jene „Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit“, die als Formspender des Romans fungierte, hinter sich gelassen hätte – eine Theorie, die in Lukács’ leider Notiz gebliebenem Dostoevskij-Buch hätte ausgebaut werden können und sollen, auch weil die These auf diese Weise ohne nähere Beobachtungen auskommen muss.
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all den Prämissen aus der Zeit in Roulettenburg haben sich doch noch viele Erwartungen erfüllt, aber stets auf andere Art und Weise, als sie eingangs ausgemalt wurden. Am schwersten wiegt dabei das Verhältnis zu Polina. Stellte sich doch noch in Deutschland heraus, dass das Verhältnis zu Aleksej enger war, als gedacht, so erwies sich bereits dort, dass seine eigene, mächtig aufgebaute Zuneigung gar keine gewesen sein soll. Dass Aleksej mit Mademoiselle Blanche durchbrennt, materialisierte schon die unwahrscheinlichste aller Konstellationen, gemessen daran, dass beide Figuren so gut wie keine Beziehung und gemeinsamen Szenen im Vorhinein gehabt haben.34 Nach der kompromittierenden Nacht jedoch prophezeit Mr. Astley nicht nur die Abreise nach Paris, sondern durchschaut auch das schwankende Wesen des jungen Hauslehrers. Dieser versucht sich noch zu wehren: „‚Was soll ich jetzt, im Sommer, in Paris? Ich liebe sie [Polina, S.T.], Mr. Astley! Das wissen Sie doch.‘ ,Wirklich? Ich bin überzeugt, daß es nicht stimmt‘.“35 In der Tat war der eine verheißungsvolle Moment, in dem Polina und Aleksej hätten ihr Band romantischer Liebe miteinander knüpfen können, eine Farce. Gerade im Augenblick der Erkenntnis wendet sich Aleksej endgültig dem Spiel zu: „Sie, mutterseelenallein, ein junges Mädchen, kam auf mein Zimmer, in einem Hotel, kompromittiert vor aller Welt –“, notiert Aleksej, „und ich, ich stehe vor ihr und begreife immer noch nichts! Ein verrückter Gedanke fuhr mir durch den Kopf. ,Polina! Gib mir eine Stunde Zeit. Warte hier nur eine Stunde und ... ich bin gleich wieder da! Es ist ... es ist unumgänglich [необходимо, S.T.]! Du wirst schon sehen! [Увидишь, S.T.] Bleib hier, bleib hier!‘“36 Die lückenhafte Redeweise in Aposiopesen, der plötzliche Einfall, die Ankündigung, Polina würde schon sehen – all das erhält vor dem
34 Auf zeichentheoretischer Ebene ist es wiederum äußerst sinnvoll, dass Aleksej Mademoiselle Blanche folgt, wie Julian Connolly argumentiert. Aleksejs Faszination für das weiße Kügelchen im Roulette bindet ihn gewissermaßen an das weiße Fräulein Blanche: „Addicted to roulette, Aleksei is fated to follow the color white wherever it may lead.“ Connolly, A World in Flux, S. 72. Mademoiselle Blanches Name identifiziert sie zudem als unidentifizierbar. Ihre von Mr. Astley enthüllte regelmäßige Wiederkehr nach Roulettenburg unter anderem Namen und mit anderen Begleitern weisen ihr „Weiß-Sein“ als formatierbare Erkennung aus. Mademoiselle Blanche heißt nichts außer: Bitte Namen einfügen. Auch unter diesem Gesichtspunkt wird ein Substitutionsspiel der Identitäten vor dem Hintergrund des Hasard geführt. 35 Dostojewskij, Der Spieler², S. 185. 36 Ebd., S. 168. Dostoevskij, Igrok, S. 291. Luther übersetzt „необходимо“ mit „notwendig“: „Das ist... das ist durchaus notwendig!“ Die Bestätigung mit „durchaus“ irritiert hier allerdings. Eine Betonung jedoch der Notwendigkeit scheint geboten, um noch mal den Punkt hervorzuheben, dass Aleksejs Fatalismus nicht den Glauben an ein bestimmtes Schicksal manifestiert, sondern an die zufällige Erfüllung des Schicksalhaften, die ihm gleicherma-
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Hintergrund des Glücksspiels als Ausflucht vor der bürgerlichen Gemeinsamkeit mit der Generalstochter eine andere, zwielichtige Färbung, die von Empfindsamkeit und Innerlichkeit nicht mehr viel weiß. Die Aussage Lousteaus in den Illusions perdues, er wäre glücklich, wenn er nicht spielen würde, galt vielleicht noch auf einer Oberflächen- und Mitteilungsebene für die Spielkolportagen à la Iffland. Wer sich dort vom Spiel fernhält, für den wendet sich alles zum Guten. Diese Logik gilt nicht mehr bei Hoffmann, Balzac oder Dostoevskij, wo die Dichotomie zwischen Glück und Unglück, das vom Spielerglück gesteuert wird, bereits aufgehoben ist. In einer eindrucksvollen Szene illustriert Dostoevskij diesen veränderten Spielertypus. Nachdem Aleksej Polina in Richtung Spiel verlassen hat, und in einem rauschhaften Abenteuer hunderttausend Florin gewinnt, stellt sich die Frage, wie er das viele Papier und Metall nach Hause zu bringen gedenkt: „Ich raffte die Banknoten zusammen, zerknüllte sie, füllte damit, ohne zu zählen, die Taschen, schob mein ganzes Gold zusammen, sämtliche Rollen, verstaute es und rannte aus dem Casino. Man lachte, als ich durch die Säle ging, über meine abstehenden Taschen und meinen unter der Goldlast schwankenden Gang. Ich glaube, sie wog mehr als ein halbes Pud.“37 Auf dem Heimweg durch die Dunkelheit wächst die Angst vor Hinterhalt mit jedem Schritt, doch schließlich geht alles gut; nur Polinas Antlitz erscheint immer wieder als Fata Morgana vor dem Auge des mit Gold beladenen, maschinell beschwerten Packesels, der wie ein Betrunkener vom einen Bein auf das andere taumelt, um voranzukommen. Die Einstreuung Polinas lässt sie bereits zum Bild werden, das einer erstarrten Vergangenheit aufgehängt wurde, aber nichts mehr mit dem midasartigen Aleksej zu tun hat, unter dessen Hand nur noch Gold erscheint, aber auch nichts Anderes mehr, und der im Taumel seines Schrittes inzwischen bereits mehr mit der Roulettekugel gemeinsam hat, als mit den Menschen um sich herum. Mr. Astley wird es schließlich abermals sein, der fast zwei Jahre später im Auftrag Polinas Aleksej aufsucht, um ihm Auskunft über das Schicksal der Beteiligten zu erteilen. Er stellt damit gewissermaßen eine personifizierte Variation der von Hansen-Löve identifizierten, „im russischen Realismus so beliebte[n] Finalkonstruktion des Epilog“38 dar. Diese fungiert als „Extremfall einer apokalyptischen Konstruktion [...], genauer: [sie] realisiert das End- und Nachspiel des Romans in Gestalt einer mehr als künstlichen Schlußinszenierung: In Zeitraffertechnik wird gemeinhin das weitere Schicksal der Figuren bzw. die letzte Auflösung der Sujetknoten sowie die ßen als Ausflucht dient, um sich der wunscherfüllenden Verantwortung von Polinas Zuneigung zu entziehen. Geiers „Du wirst schon sehen“, steht im Russischen im sogenannten vollendeten Aspekt, der eine abgeschlossene Handlung ausdrückt. Die Äußerung wirkt nicht nur deplatziert – denn worum geht es Aleksej mit der Ankündigung? –, sondern klingt im Deutschen dazu wie eine Drohung. 37 Dostojewskij, Der Spieler², S. 175. 38 Hansen-Löve, Zum Diskurs des End- und Nullspiels bei Dostoevskij, S. 299.
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Moral der Geschichte nachgeliefert, wobei das Unorganische und Behelfsmäßige dieser Finalisierung allgemein bewußt bleibt und auch vielfach kritisiert wird.“39 General und Babuschka sind, wie gesagt, verstorben, des Grieux ist von der Bildfläche verschwunden. Die Kardinalfrage bleibt indes: Was wurde aus Polina?40 Der Engländer lässt sich widerwillig zur Auskunft überreden, sie würde in der Obhut der Familie seiner Schwester reisen. Er ergänzt: „Ja, Sie unglücklicher Mensch, sie liebte Sie, und das kann ich Ihnen sagen, weil Sie – ein verlorener Mensch sind! Nicht genug damit, sogar wenn ich Ihnen sagen würde, daß Sie immer noch von ihr geliebt werden, auch dann – auch dann werden Sie dessenungeachtet hierbleiben.“41 Als wäre Astley nicht nur ein guter Beobachter, sondern auch eine Art supradiegetische Instanz, behält er selbstverständlich Recht. Die Finalkonstruktion des Spielers ironisiert dieses Strukturelement gleichwohl wieder, indem es das Schicksal des Spielers als infinit ausweist: Es ist immer ein anderes. Gerigk erörtert Dostoevskij als inkonsequenten Konstrukteur einer Wirklichkeit auf Widerruf, die sich an einer unmöglichen Tilgung der „Daten“ des Erzählens versucht: Zum Ende würde bei Dostoevskij immer das Faktische dominieren.42 Ein treffliches Gegenbeispiel liefert der Spieler. Das Datum der erzählten Wirklichkeit kann kaum weniger festgelegt sein, als dasjenige am Ende dieses Romans, das sich seiner verworrenen Tatsächlichkeit bewusst ist. Aleksej kehrt an den Spieltisch zurück, spielt eine Runde, und verlässt „zwanzig Minuten später das Casino mit hundertsiebzig Gulden in der Tasche. Ein Faktum, wenn’s beliebt“43. Hier bekommen die Leserinnen und Leser ihre eifrig geforderte Tatsache in Form des wertlosen Geldbetrages genannt, zugleich distanziert sich Aleksej mit der unhöflichen Geste, mit der er uns diesen Satz hinwirft, von demselben. Ihm steht die ewige Ungewissheit gegenüber, die durch eine infinitesimale Prokrastination angedeutet wird. Der letzte Eintrag in Aleksejs Manuskript lautet: „Morgen, morgen wird alles ein Ende haben!“44 Die Aufzeichnungen brechen hier ab, aber 39 Ebd. 40 An dieser Stelle wird deutlich, wie berechtigt sich die Abschlussfrage im Epilog des Peau de chagrin hier variieren ließe: „Et que devint Pauline ?“ Balzac, La Peau de chagrin², S. 292. Die summarische Finalkonstruktion ist scheinbar nicht nur im russischen Realismus, sondern auch bei Balzac beliebt. Dort ist sie jedoch zentral mit der Neugierde der Leserinnen und Leser verbunden, die im Dialog mit dem Erzähler mitverhandelt wird. Diese Gesprächssituation ist hier verschoben, sie findet nämlich nicht mehr zwischen allwissendem Erzähler und Publikum statt, sondern zwischen auktorialem Zuckerfabrikanten (Astley) und einem nichtwissenden Autor (Aleksej). 41 Dostojewskij, Der Spieler², S. 216. 42 Vgl. Gerigk, Wirklichkeit auf Widerruf, S. 56ff. und S. 63. 43 Dostojewskij, Der Spieler², S. 219. Der letzte Satz enthält auch im Original die „Tatsache“ bzw. den „Fakt“: „Это факт-с.“ Dostoevskij, Igrok, S. 318. 44 Dostojewskij, Der Spieler², S. 219.
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nicht nur diejenigen des Romans, wie man vermuten könnte, sondern auch die diegetischen. Aleksej hat endgültig aufgehört zu schreiben. Gelegentlich wurde der fatalistische Unterton als eindeutiges Zeichen des Selbstmordes Aleksejs interpretiert.45 Doch das eigentliche Merkmal dieses Satzes scheint zu sein, dass er ein Nichtwissen vom Schicksal Aleksejs, einen nebulösen Aufschub dieses etwaigen Schicksals transportiert. Swetlana Geiers Übersetzung changiert zwischen Prognose, Vermutung und Ankündigung; der Satz situiert sich aber auch mit der Aussage, dass „alles“ ein Ende haben würde u.a. zwischen den Möglichkeiten, dass Leben, Spiel oder auch die Versuche, Leben und Spiel weiter voneinander getrennt zu halten, verabschiedet werden können. Im russischen Original korrespondiert diese Ambivalenz mit dem Tempus des vollendeten Aspekts: „Завтра, завтра всё кончится!“46 Im Gegensatz zum auf Prozess und Unabgeschlossenheit ausgerichteten unvollendeten Aspekt drückt diese Form allerdings die Blickrichtung auf ein Resultat aus. Dostoevskij kontrastiert dies mit der Doppelung der deiktischen Zeit („Morgen, morgen“ / „Завтра, завтра“) und bringt so das Moment der ständigen Wiederholung zurück auf das Tableau, ruiniert die Versicherung der vollendeten Form geradezu.47 Insofern steht einerseits ein Ende mit dem Abbruch des Textes schon heute da, wird aber in der Insistenz auf der temporalen Deixis immer wieder auf den neuen Tag verschoben. Das unendliche Spiel hat grammatisch und pragmatisch mit der infinitesimalen Zukunftskontingenz eingesetzt.48 Die Idee für diesen stereotypen Schwur des Hasardeurs kann man bereits bei Hoffmann nachlesen. Dort versichert der Chevalier Menars seiner angetrauten Angela – es ist das letzte Mal, dass er sie lebend sieht –, dass seine unglückselige Passion ein Ende haben würde, sofern es nicht heute sein muss. Er verwendet dafür eine ganz ähnliche Doppelung des Verschiebens auf einen anderen Tag: „Aber morgen – morgen ist all deine Sorge aus, denn bei dem ewigen Verhängnis, das über uns waltet, schwör’ ich’s, ich spiele heut zum letztenmal! – Sei ruhig, mein holdes Kind – schlafe – träume von glückseligen Tagen, von einem bessern Leben, dem du entgegen gehst, das wird mir Glück bringen!“49 Die Intensität dieser Sätze des Chevaliers ist hier noch durch den folgenden Tod Angelas fatalistisch überhöht.50 Doch es scheint sich seitdem ein Topos des nicht nur zwischen Spiel und bürgerlichem Leben gefangenen 45 Vgl. Helfant, The High Stakes of Identity, xviii. 46 Dostoevskij, Igrok, S. 318. 47 Für wertvolle Hinweise und Erläuterungen dieser grammatischen Form im Russischen sowie der Spielweise dieses letzten Satzes danke ich herzlich Prof. Dr. Raoul Eshelman. 48 Vgl. dazu auch Butor, „Le joueur“, S. 23: „Car il est impossible de douter que celui-ci ne se leurre en écrivant ces mots, on est certain qu’il est enchaîné et mystifié plus que jamais.“ 49 Hoffmann, Spieler-Glück, S. 884. 50 Lotman erzählt in seinem Buch zu Rußlands Adel die Geschichte eines russischen Fürsten, der tatsächlich seine Gattin an einen Grafen im Glücksspiel verlor. Die Anekdote leitet
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Hasardeurs etabliert zu haben, sondern des Schriftstellers, der in den Zufallswiederholungen des Hasard eine ästhetische Korrespondenz erblickt. Das Spiel beginnt auf das eigene Leben zuzugreifen, um parallel zum Tilgen des Erzählens schließlich in eine Tilgung des Schreibens umzuschlagen und in einem Zirkel des Spielens zu münden. Stärker noch als bei Hoffmanns poetischem Siegfried oder Balzacs geltungssüchtigen und moribunden Gestalten Lucien und Raphaël ist dieses Substitutionsverhältnis bei Aleksej aufgrund der homodiegetischen Erzähl- und Schreibsituation in den Text eingetragen. Auch aufgrund dieser poetisch konsequenten Nutznießung des Spielermotivs handelt es sich bei Dostoevskijs kurzem Roman um einen bündelnden Fall der erzählerischen Dimension vom Hasard. Im Zuge der Maßstabsveränderungen des Spielers stellt Igrok eine gehörige Zäsur dar. Recht gern wird hervorgehoben, dass Aleksejs Besonderheit in seiner Indifferenz gegenüber dem zugleich dominanten Gelddiskurs besteht, den seine Manuskripte enthalten.51 So wie Gewinn und Verlust keine Rolle spielen, ist auch die Spielerexistenz weder eine gute noch eine schlechte, allen Maßstäben eines Mr. Astley zum Trotz. Aus dessen epistemologischem Apparat sind für Aleksej nur noch die etwaigen Schickungen als Beschwörungen des Zufalls im Schicksal relevant. Die heroisch-zéroisch durative Spielerexistenz der runden Null differenziert dabei die Schicksalsergebenheit, wie sie bei Dostoevskij noch später mit der Schicksalsfügung Dmitrijs in den Brüdern Karamasov / Brat’ja Karamazovy (1881) zelebriert wird. Sie zeigt mit dem Lotman mit Hoffmanns Spieler-Glück ein, weist allerdings darauf hin, dass dieser wohl keine Kenntnis von ihr besaß. Gleichwohl liefert Lotman damit einen erschreckenden Beweis für die soziokulturelle Realität dieser unheimlichen Hasardfantasie. Vgl. Lotman, Rußlands Adel, S. 144f. 51 Vgl. Helfant, The High Stakes of Identity, S. 125, der in Dostoevskijs Bruch mit dem dandyesquen beau jouer einen Übergang zu einem neuen Spielermythos beobachtet. Vgl. auch Knapp, Gambling, Game and Psyche, S. 97. Knapp sieht im Unterschied zu Balzacs Spielern in Aleksej einen echten, am Leben interesselosen Hasardeur: „Unlike Raphael in Balzac’s Wild Ass’s Skin, he is not driven by dreams of fortune or visions of future orgies; he lives exclusively in the present, intoxicated by the thrill of the gambling experience per se.“ Dass beide Akteure im Moment des Spiels jedoch intraludisch ähnlich funktionieren, wurde hier zu zeigen versucht. Für einen weiteren Vergleich von Balzacs und Dostoevskijs Roman, vgl. Viennes, Le demon du hasard. Dieser Text legt allerdings die Protagonisten beider Texte allzu voreilig auf eine simplifizierende und teils auch sachlich inkorrekte Spielmotivation fest: „Encore la pratique de Raphaël de Valentin, dans La peau de chagrin, est-elle purement egoiste, alors qu’Alexis Ivanovitch, le protagoniste de Dostoïevski, joue pour des raisons partiellement altruistes—il veut venir en aide a une femme endette, dont il est amoureux.“ Ebd., S. 154. Der Text gewährt dennoch einen brauchbaren Überblick über die motivischen Dimensionen des Spiels, die sinnvollerweise noch mit einer Erzählung von Jorge Luis Borges in Zusammenhang gestellt werden.
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Text Aleksejs eine Konzeption an, die überhaupt versucht, ein drängendes Verhältnis zum durch Zufall gestörten Schicksalsbegriff zu kalibrieren. Darin siedelt abermals eine Faszination für die hierin angelegten Antinomien, die eine Notwendigkeit und ein impulsives Drängen zum Schicksal en miniature formulieren, gerade weil es als Zufall am Spieltisch in Form einer Notwendigkeit durch Kontingenz reizvoll wird. Die Konsequenzen für ein Erzählen in Kontingenz fasst Aleksej zu Beginn des abschließenden Kapitels noch einmal zusammen: „Wüßten sie [die selbstzufriedenen Menschen, S.T.], wie ich selbst hier das Widerwärtige meines jetzigen Zustandes erkenne, würde die Zunge ihnen den Dienst versagen, mich weiter zu belehren. Und was, was könnte sie mir Neues sagen, was ich nicht selber wüßte? Und geht es überhaupt darum? Eigentlich geht es darum, daß eine einzige Drehung des Rades alles verändern kann und daß dieselben Moralisten (dessen bin ich mir sicher) als erste mich mit freundschaftlichen Scherzen umringen und mir gratulieren werden, statt mir wie jetzt die kalte Schulter zu zeigen. Aber was gehen sie mich alle an!“52 [Hervorh. S.T.]
Die Abgrenzung zu den „selbstzufriedenen Menschen“ und „Moralisten“ trägt die hier zu Ende gedachte literaturhistorische Signatur vor, den Spieler von seiner moralischen Destination zu emanzipieren. Die in den Spielszenen wiederholt miteinbezogene „Drehung des Rades“ kehrt auf einer theoretischen Ebene noch einmal zurück. Es verschaltet die Bewertungsheterogenität des Lebens anderer Menschen, die nämlich auch perspektivischen Umschlägen unterlegen ist, mit seiner Bedeutung im erzählenden Text, dessen Ereignisse plötzlich vom automaton dieses Rades unterworfen werden. Und so ist die amoralische, moderne, zéroistische Existenz des Spielers parallel geführt zur Neubewertung kontingenter Erzählverfahren, die nämlich eine transzendentale Krise des Erzählens durch erhöhtes, in Darstellung gebrachtes Kontingenzbewusstsein per Hasard verhandelt und sich selbst neu und erlösend in Bewegung setzt. Der Spieler kann aus dieser Stoßrichtung heraus gar nicht verlieren. Aus Sicht seiner literarischen Weihe in Dostoevskijs Text erscheint er als poetisch kreditwürdig. Seine Geschichte ist zu erzählen notwendig geworden, was ihn als Außenseiter vor dem Bann der Ausgrenzung wiederum bewahrt. Ist Aleksejs Emphase des „Morgen, morgen“ vielmehr eine Bestätigung seines poetischen Vorhandenseins als seines Untergangs oder gar Selbstmordes, tritt der Spieler im Folgenden in einen neuen Tag, der ihn wiederum vom Höhepunkt des Künstlertums entthront, wenngleich seine narrative Kontingenz mittlerweile konsolidiert ist. Arthur Schnitzler wird abschließend zeigen, wie das „Morgen“ des poetischen, heldenhaften Spielers in den düsteren und grauenhaften Morgen: in das Spiel im Morgengrauen des hasardierenden, aber kunstlosen Militärs sich verwandelt. 52 Dostojewskij, Der Spieler², S. 205f.
Suizidäre Zufallgeschichte. Kontingenter Tod bei Arthur Schnitzler
10. Kontingenzbeginn
Z UFALLSWERK Hat Dostoevskij mittels des zufälligen Sinns der Zeichen dem Glücksspiel eine Bühne zu bieten, so beginnt Arthur Schnitzlers literarische Karriere ohne Verzögerung mit einer Verbindung aus ästhetischem Bedeuten-Können und zufälliger Bedeutung. In einer Erzählung des dreiundzwanzigjährigen Sekundararztes am Wiener Allgemeinen Krankenhaus ist der Zufall als ästhetischer Anlass in ein ironisches Programm gebettet. Die Melodie in Welch eine Melodie (1885) spielt als reines Zufallsprodukt auf: Ein Knabe nimmt Einträge auf einem Notenblatt vor; er spielt eher, als dass er schreibt oder komponiert: „Ganz mechanisch, während er an alles mögliche dachte, zeichnete er vielerlei Notenköpfe auf das Papier und versah sie in einer Art von kindischem Eifer mit Taktzeichen, Kreuzen, bis eine ganze Zeile ausgefüllt war, worauf er seine Spielerei mit befriedigtem Lächeln überblickte.“1 Das Mechanische und Automatische des Zufalls generiert „musikalische Zeichen“2 – es ist ein aleatorisches Spiel mit dem Korpus paradigmatischer Ornamente, zu keinem Zeitpunkt aber der Versuch ihrer syntagmatischen Kombination. Doch aus eben dieser Diskrepanz, den Komponisten lediglich zu mimen, ohne ästhetisch zu wirken, entsteht das Kunstwerk. Der Notenzettel flattert davon, „ohne Bedauern sah ihm der Knabe nach“; es findet ihn „ein junger Mensch, dessen Äußeres auch einem flüchtigen Beobachter den angehenden Künstler oder mindestens den Kunstenthusiasten zu erkennen gab“3. Dieser erfasst unverzüglich die Qualität der Melodie, spendiert ihr ein rahmendes Gerüst und schreitet zur Veröffentlichung. Das Kunststück ist vollbracht: „Es war ein unglaubliches Motiv darin, wie die Enthusiasten sagten. ‚Die Ausführung ist talentvoll, die Idee aber ist die eines Genies‘, sagte ein Kritiker.“4 Als Liebling der
1
Schnitzler, Welch eine Melodie, S. 7.
2
Ebd.
3
Ebd.
4
Ebd., S. 9.
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Rezensenten und der Frauen glänzt der junge Mann, wohingegen er als Künstler unpässlich bleibt. Der Bau der Erzählung dissoziiert die Notwendigkeit der genieästhetischen Kunstproduktion und -distribution: „Genial unbewußte Inspiration und technisches Können sind nämlich nicht länger in einem Subjekt vereinigt.“5 Doch nicht nur die Kunst ist von einer Epistemologie des Zufälligen betroffen, auch das Leben leidet unter dieser Konfrontation. Es stellt ja nicht ausschließlich das Notenblatt ein Dokument dar, das mit Zeichen des Zufalls versehen ist. Der Fund des Blattes ist ebenso der Augenblick einer Zufallsbegegnung. Dieses rencontre endet schließlich mit dem Tod des jungen Mannes: „Da, nach einem Jahre vielleicht, lief die Nachricht in der Stadt herum, der kürzlich erst so sehr Gefeierte habe sich eine Kugel ins Herz gejagt.“6 Der Selbstmord steht am Ende des unkünstlerischen Künstlerlebens, das mangels des Genies, welches der Zufall in einem Augenblick glücklich übernahm, kapituliert: „Wahrscheinlich ist nur, daß in einer dunklen Stunde das Bewußtsein in ihm erwacht war, er verdanke seine plötzliche Berühmtheit weniger seiner eigenen Kraft – als dem Wirken eines sonderbaren Zufalls, dem glücklichen Gedanken irgendeines Träumers, der jenes Notenblatt im Walde verlor [...].“7 Eine Pointe behält sich der Text noch vor: Jener Knabe, der der eigentliche Urheber der hübschen Weise gewesen ist, davon freilich nicht das Geringste weiß, müht sich in kommenden Klavierstunden vergeblich an eben demselben Stück, das er einst geschaffen hat. Schnitzlers Prosa setzt mit diesem Text nicht nur auf der Note der Kontingenz ein, er lokalisiert sie auch in einer idyllischen Kindheit, als ästhetisches Produkt des Kinderspiels. Der Kompositionshasard des Kindes ist als Versuch gekennzeichnet, als Nicht-so-Gemeintes und kurzes Ausprobieren, dessen Wesen sich in der lediglich zweieinhalb Seiten langen Kurzgeschichte Schnitzlers wiederfindet: Ohne Dialoge und ohne gedehnte Erzählzeiten, nur in berichtenden, impressionistischen Phasen mutet sie ihrerseits wie eine experimentelle Skizze für eine längere Arbeit an. Der flügge und melodische Klang der Erzählung erhält einen bitteren Beigeschmack dadurch, dass es sich bei der Zufallskomposition des Knaben nicht nur um einen Glückstreffer der Tonsetzerei handelt, sondern auch um einen Glückstreffer ins Leben des jungen Mannes. Die geniale Melodie wird gleichsam zum Todesmarsch des uninspirierten, aber ehrgeizigen Kunstenthusiasten. Mit der Musik erwählt Schnitzler den Bereich des semantisch exzentrischen Klangs für diese tödliche Begegnung mit dem Zufälligen. Dessen auf Achttonbasis beschworene, mathematisch zu überblickende Kombinationsmöglichkeiten verdichten einerseits das Zufallsprogramm, das sich andererseits in seiner nichtsprachlichen, gleichwohl poetischen, synästhetischen
5
Pontzen, Künstler ohne Werk, S. 305.
6
Schnitzler, Welch eine Melodie, S. 10.
7
Ebd.
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Verfasstheit einen imaginären Raum erobert, in dem die Zeichen zu einer den Leserinnen und Lesern entzogenen Bedeutung zusammentreten. Wir müssen dem Urteil der Kritiker in Schnitzlers Erzählung vertrauen, um den Gehalt des Stückes abschätzen zu können. Der Erzählung gelingt damit eine rasche Fixierung der Bedeutung des Zufalls im Erzählen: Wenn der Zufall auch nicht abbildbar ist, so kann das Gemeinte gleichwohl in der Dimension seiner Konsequenzen – sei es ein herausragendes Musikstück oder der Tod einer Figur – hervortreten. Dieser Winkel der Darstellung wiederholt das Spezifikum der Zeichen des Zufalls: Sind diese einerseits in ihrer Austauschbarkeit frivol, verfügt die durch sie im Zusammentreten und im Zugang zum Leben erstellbare Bedeutung plötzlich über höchste sinnhafte Kraft – auch weil sie stets eine gewisse Beliebigkeit mit sich führt. Schopenhauer hat in seiner Studie Über den Satz vom Grunde bereits in den Zeichen der Musik ein Beispiel für dieses Phänomen gefunden. Seine Unterscheidung von Sukzession und Zusammenhang mündet in der These, dass auch ersteres, die unabhängige Folge zweier Ereignisse, miteinander Bedeutung haben kann. Der Fall des Ziegelsteins und die Position des Getroffenen sind unabhängig, der resultierende Schaden aber basiert auf ihrem Nacheinander: „Ebenso ist die Sukzession der Töne einer Musik objektiv bestimmt und nicht subjektiv durch mich, den Zuhörer: aber wer wird sagen, daß die Töne der Musik nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung aufeinanderfolgen?“8 Gerade ihre Positionierung als a priori nicht notwendig, lässt es mitunter wie eine geniale Leistung erscheinen, wenn ihre Reihenfolge durch den Resonanzkörper des Instrumentes plötzlich unveränderbar und alternativlos schön ertönt. Bei Schnitzler wird die zufällige Sukzession in der Musik zum Fall des Ziegelsteins. Seine Bedeutung des Zufalls drängt einen bestimmten ästhetischen Gehalt in einen Bund mit dem Tod. Diese aleatorische Thanatologie findet bei Schnitzler des Öfteren im Glücksspiel den bevorzugten Bündnispartner, der die Zufallssukzession initiiert und bebildert und zugleich den Verlauf der eigenen Erzählung beeinflusst. Darin kommt der dem zufälligen Musiker vertraute Grundkonflikt zur Geltung: Die Erzählung wie das Leben ist durch den Zufall in einer ästhetischen, politischen und ökonomischen Umgebung gemacht, die zugleich den Macher entkräftet und durch eine Fingierung des Gemachten ersetzt; oder, wie Ernst Mach für seine Zeitgenossen programmatisch bemerkte: „Das Ding, der Körper, die Materie ist nichts außer dem Zusammenhang der Elemente, der Farben, Töne usw.“9 Die Dissoziation der Dinge und des Ichs steht der aktiven Gestaltung von Welt gegenüber. Das infantile Zeichenspiel in Welch eine Melodie setzt eine Kette von Begebenheiten in Bewegung, die auf einem Selbstmord endet. Dieser Selbstmord ist als resignierender Zusammenhang in einzelne, zufällige Einheiten aufgebrochen. Analog verwendet Schnitzler in weiteren Erzählungen das Moment des Hasard als Mechanismus, der erstens einen Zufall 8
Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, S. 110f.
9
Mach, Antimetaphysische Vorbemerkungen (1885), S. 139.
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in Bewegung setzt, um den kontingenten Anfang von Handlungen zu beschleunigen, und damit zweitens eine scheinbar notwendigste Reihe an Begebenheiten abzuspulen, die den Niedergang, wenn nicht den Suizid der Figuren als vollendeten Tod der Erzählung ausweisen. Diese Dominoreihe von Jugend und Anfang bis Alter und Ende greift dabei auf einen betagten, beinah schon verblichenen Topos des Hasard zurück: Den spielenden Leutnant.
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Unter den sogenannten Jungwienern ist Schnitzler neben Hofmannsthal bis heute womöglich der Bekannteste geblieben. Man kann ihn allerdings nur bedingt zu den Mitspielern von dessen (und Hermann Bahrs) Instruktionen und Eröffnungen österreichischer Dependancen der Dekadenz und des Ästhetizismus rechnen.10 Waren es für Hofmannsthals Inkognito als junger Loris noch „Adler, Lamm und Pfau“, an die der Erbe das „Salböl aus den Händen der toten alten Frau“ verschwenden soll,11 so kann Schnitzler eine Vorliebe für alltäglichere, lebensnahe, gar politische und moralische Themen attestiert werden. Ihm steht der Sinn weniger nach ornamentaler Zusammenstellung triftiger Insignien eines Verfalls von Jugend, Sprache und Künstlertum. Bei ihm sind es zwar auch die Künstler, die sterben, aber dies, weil die Frivolitäten leben, und zwar in einer Umwelt des desorientierten Umbruchs: An Bord eines fröhlich sinkenden Schiffes12 unter der Flagge Österreich/Ungarn und des 19. Jahrhunderts bietet ein zurückgezogener Dekor-Voyeurismus den moralischen Kontrast zur eigentlichen 10 Vgl. Le Rider, Arthur Schnitzler oder die Wiener Belle Époque, S. 13-19. 11 Hofmannsthal, Lebenslied, S. 28: „Den Erben laß verschwenden / An Adler, Lamm und Pfau / Das Salböl aus den Händen / Der toten alten Frau!“. 12 Die hier anklingende Rede von der Fröhlichen Apokalypse Wiens um 1880 geht zurück auf einen gleichnamigen Aufsatz Hermann Brochs aus seinem Hofmannsthal-Buch, das vornehmlich in den späten 1940er-Jahren entstand. Dort wird die Hauptstadt des Habsburger Reichs, im Vergleich zum Deutschland der Gründerzeit, als „Kunststadt par excellence“ angeführt, mit dem nicht ganz unwichtigen Zusatz: „Es war nämlich weit weniger eine Stadt der Kunst als der Dekoration par excellence.“ Broch, Die fröhliche Apokalypse Wiens um 1880, S. 88. Es leitet sich daraus eine Diagnose des „museal“ gewordenen Österreichs dieser Zeit her, mit der Konklusion, dass „dem Wienertum nach 1848“ das „politische[...] Wollen verlorengegangen sei“, was sich durch eine Kompensationsfunktion auch in der Kunst niederschlage: „[S]o wurde die von Strauß begründete Operettenform ein spezifisches Vakuum-Produkt: als Vakuum-Dekoration hat sie sich nur allzu haltbar erwiesen, und ihr späterer Welterfolg kann geradezu als ein Menetekel für das Versinken der Gesamtwelt in das unaufhaltsam weiterwachsende Wert-Vakuum genommen werden.“ Ebd., S. 95ff.
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Situation. Die Doppelmonarchie, die der junge Schnitzler kennenlernt, hat sich hinter den Mauern der prunkvollen Ringstraße verschanzt; ihre Streitkräfte verschwenden den Tag im Offizierscasino. Der emphatische Verfall bezieht sich aus einer absinkenden politischen Bedeutung. Auf die Niederlage gegen Preußen bei Königgrätz 1866 folgte 1873 jener Gründerkrach, der insbesondere die zweitrangig gewordene Großmacht traf. In seinen autobiografischen Schriften zur Jugend in Wien (19151920) verzeichnet der Arztsohn Schnitzler, inwiefern auch die medizinische Zunft „damals ökonomisch unter den Nachwirkungen der Börsenkatastrophe von 1873 zu leiden“ hatte.13 Der Regress im l’art pour l’art ist damit mehr als ein Generationenkonflikt, nämlich eine mit Verve inszenierte Krisenerfahrung, zu deren vulgären Realitäten auch das Glücksspiel gehört. Schnitzler berichtet ausgiebig von der „Leidenschaft des Spiels“14, die auf ruinöse und blamable Weise im Familienzweig mütterlicherseits grassierte. Zugleich wird die eigene jugendliche „Hazardfreudigkeit“15 deutlich. Die Spielbänke und Pferderennen gehören genauso zum Cachet des milchbärtigen Stutzers wie seine promiskuitive Überstilisierung.16 Der junge Schnitzler hat eben diese Topoi zunächst in einer neoromantischen Linie aufgehen lassen. In der Erzählung Reichtum (1891) entlehnt er das Motiv der Erbsünde bei dem von ihm verehrten Hoffmann.17 Bei Hoffmann sind die künstlerischen Taten, zu denen die Erbsünde beflügelt, mit dem tiefsten verbrecherischen Fall der Nachkommen beschwert. Beides setzt deren Geschichte wohlgleich erst in Gang. So weiß der Kapuzinerprior Leonard seinen Novizen Medardus in den Elixieren des Teufels (1815/1816) – gewissermaßen eine Programmschrift der generationenübergreifenden Schuld – angesichts von dessen Rednererfolg vor der Schattenseite der techne nur zu warnen: „Du trägst in diesem Augenblick die Schuld unseres sündigen Ursprungs, die jedem mächtigen Emporstreben unserer geistigen Kraft die Schranken des Verderbnisses öffnet, wohin wir uns in unbedachtem Fluge nur zu leicht verirren! – Der Beifall, ja die abgöttische Bewunderung, die dir die leichtsinnige, nach jeder Anreizung lüsterne Welt gezollt, hat dich geblendet, und du siehst dich selbst in einer Gestalt, die nicht dein eigen, sondern ein Trugbild ist, welches dich in den verderblichen Abgrund lockt.“18
13 Schnitzler, Jugend in Wien (1968), S. 195. 14 Ebd., S. 15 15 Ebd., S. 194. 16 Zu diesem „Playboyleben“, mit dem Schnitzler nicht wenig kokettiert, vgl. Rattner, Arthur Schnitzler oder Freuds „Doppelgänger“ in Wien, S. 74. 17 „Unter den Dichtern war E.T.A. Hoffmann uns am teuersten, nächst ihm Tieck und Immermann.“ Schnitzler, Jugend in Wien, S. 69. 18 Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 40.
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In Schnitzlers Reichtum besteht das vom Vater weitergegebene Merkmal ebenso in künstlerischem Ehrgeiz und Talent, die beide zugleich an eine Faszination für Wirtshäuser und Glücksspiele gekettet scheinen. Karl Weldein, ein „armer Anstreicher, der einmal Maler hatte werden sollen“19, erwacht nach einer durchspielten Nacht und entsinnt sich wohlgleich nur im Rausche an die vergangenen Begebenheiten. Eine Realitätsvergewisserung wird unerlässlich: „Daß es kein Traum gewesen ist, das stand nun fest, wie wäre er sonst in diesem Anzug ins Bett gekommen? Es war also Leben und Wahrheit.“20 Die Unterscheidung von Leben und Spiel wird im Folgenden genutzt, um einen bestimmten Konflikt zu erzeugen. Weldein erinnert sich, in der vergangenen Nacht zu immensem Reichtum am Spieltisch gelangt zu sein; Paranoia und Pläne ließen ihn seinen Topf voller Gold jedoch vergraben, anstatt ihn in die sichere Bank nach Hause zu überführen. Allein, es fehlt das entscheidende Stück im Gedächtnis, das angibt, wo genau der Schatz verscharrt wurde. Hier wird zunächst die liederliche Lebensweise des mittelosen Familienvaters in den Vordergrund gerückt: Zur ewigen Schuld des Spielers, ohne eigenes Verdienst zu gewinnen oder zu verlieren, gesellt sich der Doppelzustand des träumerischen Reichtums. Im Eigentum, aber nicht Besitz einer gehörigen Summe ist Weldein vermögend und bleibt dennoch arm. Hinzu kommt, dass die Lücken der vergangenen Nacht keine wirkliche Versicherung zulassen, ob sich das Erinnerte tatsächlich so zugetragen hätte. Der Reichtum jedenfalls bleibt unauffindbar und das Kunststück am Spieltisch lässt sich ebensowenig wiederholen; Weldein ist verdammt, bei Familie und Haushalt zu bleiben, versorgt nach dem Tod der Frau den Sohn Franz mit einem Mal als alleinerziehender Vater – und entsagt dem Spiel. Dem Knabenalter entwachsen tut es der Sohn dem Vater gleich und beschließt, sich als Maler zu versuchen. Eine Skizze, auf der „[e]in kleiner Wirtshaustisch, um ihn herum ein paar Spieler und Trinker“21 zu bestaunen sind, verschafft ihm Zugang zur Akademie. Die erfolgreiche Bewerbermappe, die gewissermaßen das ehemalige Erlebensumfeld des Vaters porträtiert, von dem der junge Franz allerdings nichts ahnt, gleicht in der Welt- und Zeitvergessenheit ihrer Entstehung eben der Beschäftigung, die es zeigt.22 Diese epigenetische Erinnerung wird zum Hauptmerkmal von Franzens Arbeit: „[E]s schien, als könnte er nur Spieler und Trinker malen. Es war wie ein Verhängnis.“23 Weldein selbst erkennt ein Wirken des Schicksals: „Daß du nur solche Dinge malen kannst, daran bin ich schuld. Mein ganzes Blut ist vergiftet,
19 Schnitzler, Reichtum, S. 48. 20 Ebd., S. 47. 21 Ebd., S. 61. 22 Vgl. ebd.: „Und immer weltvergessener arbeitete er fort, als wäre nichts um ihn, was ihn kümmern könnte.“ 23 Ebd., S. 61f.
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ja, vergiftet.“24 Höhepunkt dieser Ereigniskette stellt schließlich die verlebendigte Ikonografie des Spiels dar. Der mäzenatische Graf Spaun, selbst ein eifriger Klubgänger, verschafft dem jungen Talent Eintritt in die Kreise des Hasard, „um dort für mein neues großes Gemälde Beobachtungen sammeln zu können“25. Der Vater ahnt, welchen Effekt die Studie am lebendigen Objekt zeitigen würde. Vor Verzweiflung ereilt ihn, Hoffmanns Vertua gleich, ein Rückfall in Wein und Spiel, der ihn schließlich zugrunde richtet. Auf dem Sterbebett beichtet er Franz endlich von jener Nacht, an dem sein gewonnener Reichtum offenbar auf immer vergraben werden sollte. Die neue Praxis, Spielerportraits en scène anzufertigen, verheißt auch für Franz keinen guten Ausgang. Genügte das träumerische Glück des Vaters für einen imaginären Reichtum, so schlägt das reale Unglück Franzens in den Ruin um. In der Hoffnung auf Wiedergutmachung begibt sich dieser mit Graf Spaun an eine vom Vater verzeichnete Stelle, die den vergrabenen Schatz bedeuten könnte. An diesem Ort vollziehen sich zwei fantastische Umschläge: Zunächst bemächtigt sich eine wahnsinnige Idee des jungen Malers und Spielers, der nämlich anstatt von Goldstücken nur Sand und Kieselsteine zutage fördert, diese aber in seiner Tasche lagert, als wäre es bares Geld. Kaum zum Grafen zurückgekehrt, erkennt er diesen Irrtum. Die Fälschung ergreift mit diesem Schock nun aber auch die Gestalt des Jungen selbst. Franz beginnt zu fabulieren, als hätte er selbst einst das Geld vergraben, und schließlich, in aller Deutlichkeit, als wäre er niemand anderes als das Gespenst des Vaters: „,O nein, o nein, ich hab’ soviel; soviel gewonnen! Und hab’ es versteckt und weiß nicht wo. Oh, mein armes Weib! Mein Kind! Mein Franz!‘ Der Graf stand erschauernd da … Ihm war, als wenn sich mit einem Male die Züge des Malers seltsam veränderten, als wäre es wirklich der alte Weldein, der da mit trockenen Augen in die Luft starrte und leise wimmerte: ,Mein Sohn, mein armer Sohn!‘“26 Schnitzlers Erzählung arbeitet einzelne Aspekte des Spieler-Glücks in eine fantastische Struktur ein. Die Wiederholungspassion des Glücksspiels wird mit der Erbsünde in ein Relais gesteckt, wodurch eine psychologische Schauererzählung entsteht, die einmal mehr Künstlertum und Hasard gegeneinanderhält. Das eher epigonale Ineinandergreifen der einzelnen Momente des Glücksspiels verzichtet dabei auf die akute Einbindung des Zufalls. Dahingehend, dass das entscheidende Spiel des Vaters in den Traum verlegt scheint, dabei aber insbesondere angesichts der wunderlichen Wiederkehr des Vaters im Sohn am Schluss auch mit dessen ruinösem Spiel analogisiert wird, tritt der Status der Spielszene hier in den Hintergrund. Die Erzählung ist auf das Schicksal der paternalen Spaltung in den verantwortungslosen Spieler und versagenden Versorger hin konzipiert. Nach dem Kinderspiel in Welch eine Melodie arbeitet sich der Text in das Spiel der Jugend und der Elterngeneration vor. Die 24 Ebd., S. 62. 25 Ebd., S. 64. 26 Ebd., S. 79.
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unvermeidliche Konfrontation des jungen Künstlers mit der Kontingenz erfährt dabei eine nostalgisch-romantische Bearbeitung, die auf eine genauere Differenzierung von Schicksalsneurose und Zufall noch verzichtet. 1918 erscheint schließlich eine längere Novelle Schnitzlers, die sich des Themas noch einmal ausführlicher annimmt. Inzwischen ist der Leutnant Gustl seinerseits achtzehn Jahre alt und hat mit dem hasardierenden Militär eine Gestalt in Schnitzlers Aufmerksamkeit rücken lassen, der gleiche Anteile wie dem verfallenden Künstler zustehen. In Casanovas Heimfahrt wird eine Begegnung beider Seelen zunächst am Spieltisch, schließlich im Duell ausgefochten. Der auf dem Rückweg nach Venedig sich befindende, nunmehr zweiundfünfzigjährige Exilant Giacomo Casanova, „längst nicht mehr von den Abenteuern der Jugend, sondern von der Ruhelosigkeit nahenden Alters durch die Welt gejagt“27, macht in Mantua Halt, um auf frohe Botschaft seiner Begnadigung und damit die Möglichkeit zur Heimkehr zu warten. Dabei begegnet ihm nicht nur ein alter Weggefährte, sondern auch dessen junge Nichte Marcolina, auf die der Berufsverführer sogleich ein Auge wirft. Diese jedoch kann mit dem gewesenen Schönling nichts anfangen, zumal sie bereits einen Liebhaber besitzt, nämlich den jungen Offizier Lorenzi, der das Ebenbild Casanovas zu sein scheint: „Nur eine Sekunde lang überlegte Casanova, an wen ihn Lorenzi erinnerte. Dann wußte er, daß es sein eigenes Bild war, das ihm, um dreißig Jahre verjüngt, hier entgegentrat. Bin ich etwa in seiner Gestalt wiedergekehrt? fragte er sich. Da müßte ich doch vorher gestorben sein … Und es durchbebte ihn: Bin ich’s denn nicht seit lange? Was ist denn noch an mir von dem Casanova, der jung, schön und glücklich war?“28 Vergangene Schönheit und Jugend gehen mit der verlernten Fähigkeit des Verführers einher. Man merkt: Hier ist Schnitzler beim hasardierenden Greis angelangt. Während einer Partie Pharo wendet der irritierte und empörte Casanova zur Selbstvergewisserung den Trick des Spielers an: Er legt seine nur noch spärlich verfügbaren Dukaten in hohem Maße auf den Tisch, nicht aber in Hoffnung auf Gewinn. Stattdessen „wünschte [er], sie auf einen Satz zu verlieren: dies sollte dann ein Zeichen sein, ein glückverheißendes Zeichen – er wußte nicht recht wofür, ob für seine baldige Heimkehr nach Venedig oder den ihm bevorstehenden Anblick der entkleideten Marcolina […].“29 Casanova, der darauf setzt, zu verlieren, gewinnt dieses Spiel. Er erhält damit das teleologische Zeichen, dass ihm ein verheißendes Zeichen verweigert wird. Diese bereits etablierte Verknüpfung der Zeichen des Spiels mit den Zeichen des Schicksals verwandelt sich im Laufe der Partie jedoch auf der pragmatischen Ebene des Geldes, welches er einem unsympathischen Marchese aus der Tasche zieht: „Er [Casanova, S.T.] legte weiter die Karten auf und gewann, so daß der 27 Schnitzler, Casanovas Heimfahrt, S. 231. 28 Ebd., S. 259. Vgl. auch Le Rider, Arthur Schnitzler oder die Wiener Belle Époque, S. 128. 29 Schnitzler, Casanovas Heimfahrt, S. 265.
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Marchese bald mit ein paar hundert Dukaten in seiner Schuld stand. Wozu? fragte sich Casanova anfangs. Allmählich aber nahm ihn der Reiz des Spiels doch wieder gefangen. Es geht nicht übel, dachte er … Nun sind es bald tausend … es können auch zweitausend werden.“30 Das Explorative des Schicksals trägt sich hier mit einem Mal als Bereicherung ein. Letztlich kann das Vermögen nicht nur für einen angemessenen Wiedereinzug in die Heimatstadt Casanovas gut sein, sondern auch im Hinblick auf Marcolina. In einem folgenden Spiel verliert Lorenzi einen gehörigen Betrag an besagten Marchese. Casanova wittert seine Chance, den Leutnant in seine Gewalt zu bringen und ihm eine Liebesnacht mit Marcolina abzuluchsen: „Der Zufall des Spieles wollte, daß alles Bargeld zu Casanova hinüberfloß, und als eine Stunde vergangen war, hatte er zweitausend Dukaten zwar von Lorenzi gewonnen, aber sie kamen alle aus des Marchese Tasche, der nun ohne einen Soldo dasaß.“31 Hier tritt ein Spiel des Tauschens in Kraft. Lorenzi schuldet dem Marchese, der wiederum eine hohe Summe an Casanova verloren hat. Der gewonnene Betrag soll für eine weitere Substitution eingesetzt werden. Lorenzis Ehre als Offizier steht auf dem Spiel und er wird erpressbar. In diesem Sinne lässt er sich auf den Handel ein, Casanova in seiner Maskerade Marcolina zuzuführen. Diese Vergewaltigung findet unter der Ägide einer niedergegangenen Männlichkeit statt. Marcolina, als progressive Mathematikstudentin und Philosophin Casanova intellektuell nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen, wird von ihrem Liebhaber in eine Prostitutionsrolle gezwungen. Das Glücksspiel entwickelt eine bioökonomische Schleife, die schließlich in einem Duell zwischen Casanova und Lorenzi am Morgen nach der Tatnacht gipfelt. Lorenzi lauert dem aus dem Bett entwischenden Venezianer auf. Dieser wird – noch immer im Adamskostüm – vom Leutnant mit dem Degen gefordert. Um Gleichheit zwischen den Kontrahenten zu gewähren, entkleidet sich auch Lorenzi. So finden sich die Figuren in einer einzigartigen Duellszene wieder. Splitternackt fechtet Casanova gegen sein jüngeres Spiegelbild und zerstört es schließlich. Mit dem Ehrentod des Leutnants endet auch der Aufenthalt in Mantua. Die Duellszene fertigt ebenfalls einen Hasard an, indem sie zwei ebenbürtige Gegner an einem Alternativpunkt des Geschehens präsentiert.32 Zugleich lässt der historische Hintergrund Casanovas seinen Tod im Duell nicht zu, wie auch die hochsymbolische Anfertigung dieser Szene die Ereignishaftigkeit des Ganzen überdeckt. Schnitzler positioniert den 30 Ebd., S. 266. 31 Ebd., S. 292. 32 Balzac präsentiert im Peau de chagrin eine Analogie von Spiel- und Duellszene: „À un duel comme au jeu, les plus légers incidents influent sur l’imagination des acteurs fortement intéressés au succès d’un coup ; aussi le jeune homme attendit-il avec une sorte d’inquiétude l’arrivée de cette voiture qui resta sur la route.“ Balzac, La Peau de chagrin², S. 274. Jacques Le Rider fasst Schnitzlers sozialkritische Darstellung des Duells zusammen. Vgl. Le Rider, Arthur Schnitzler oder die Wiener Belle Époque, S. 97-100.
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phallischen Narzissmus Casanovas dabei insbesondere in der Beschreibung der Kampfbewegungen per erlebter Rede: „Eine Fabel ist Jugend und Alter, dachte er… Bin ich nicht ein Gott? Wir beide nicht Götter? Wer uns jetzt sähe! – Es gäbe Damen, die sich’s was kosten ließen. Die Schneiden bogen sich, die Spitzen flirrten; nach jeder Berührung der Klingen sang es leise in der Morgenluft nach.“33 Der Tod Lorenzis wird als Selbsttötung der vergangenen Jugend durch das alte Ego vollzogen. Um zu dieser sowohl für die Erzählung als auch für Casanovas selbstgenügsam präsentierten Tat zu schreiten, brauchte es den ökonomischen Zwang des Offiziers, der aus einer Reihe zufälliger Züge im Hasard entwickelt wurde. Die Interventionsmaschine, die Casanova dabei in Gang bringt, geriert sich allerdings besonders auffällig. Gerhard Neumann schreibt diesem Typus des „Hasardeurs“ und „Schicksalsspielers“, als der Casanova bei Schnitzler exemplarisch behandelt wird, zwei Funktionen zu: Er ist Manipulator der eigenen Geschichte, die innerhalb einer unentscheidbaren Krise zwischen kontingenter Welt und providentieller Hoffnung siedelt, und derjenigen Erzählung, die diese Geschichte wiederum zum Gegenstand hat und mit einem ganz ähnlichen Konflikt beschäftigt ist. Der Ausgleich der manipulativen Kräfte an einer kontingenten Welt schlägt sich somit in der Handlung der Figur wie der Handlung des Textes nieder: „Damit wird von Schnitzler eine vielschichtige, den Inszenierungsgestus selbst repräsentierende Figur vorgestellt, die Akteur, Schöpfer und Erfinder, Garant und Simulant, mit einem Wort: Improvisateur des eigenen Lebens ist; der Inszenator eines fingierten Schreibtheaters, das gleichzeitig als Legitimationsund Produktionsmuster des Lebensschicksals fungiert.“34 Dem uninspirierten Künstler bleibt nach einer Revitalisierung der Kräfte das tödliche Ende erspart, allerdings um den gern gezahlten Preis, ein anderes, früheres Ich willentlich zu zerstören. Es gelangt ein Verfahren des Hasard in den Text, das die narrative Bearbeitung auf der einen Seite verfeinert, indem die Abhängigkeit des Textes von der Struktur des Glücksspiels in die Figurenkonzeption eingebunden und von der Figur mitgelenkt wird; auf der anderen Seite handelt es sich mit Casanova nicht länger um einen passiven Charakter des emphatischen Geschehenlassens eines selbstgenügsamen Glücksspiels, sondern um einen Nutznießer aller möglichen Ergebnisse. Die Anheimgabe an das Schicksal, wie sie nicht nur Dostoevskij noch in Szene gesetzt hat, sondern auch vom jungen Schnitzler selbst in Reichtum zur Verzauberung des Ichs genutzt wurde, kommt auf den Basar, von wo aus die amoralische Gestalterfigur Casanova aus allem noch einen Nutzen, einen Restitutionsversuch des Egos herausquetscht. Die drei Erzählungen Welch eine Melodie, Reichtum und Casanovas Heimfahrt setzen den Zufall als bestimmenden Mechanismus ein, der in den Wahnsinn oder den Tod der Jugend führt. Die infantile oder adoleszente Konfrontation mit Kontingenz 33 Schnitzler, Casanovas Heimfahrt, S. 313. 34 Neumann, Statement zum Thema „Hasardeur“, „Schicksalsspieler“, S. 375.
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entwertet dabei stets das eigene Leben und Schaffen, wohingegen die spielerische Existenz als unmögliche, allerhöchstens träumerische ausgewiesen wird. Schnitzler übt sich damit insbesondere an einer romantischen Rekonstruktion des Zufalls, die ein bestimmtes Symbol der Wiederholung auffährt oder eben zerstört, wodurch Reflexionen auf eine männliche Krise während der Belle Époque und danach stattfinden.35 Die bestimmende Figur der KuK-Monarchie, in der sich diese Krise bündelt, bleibt schließlich der Leutnant. In der im Winter 1926/1927 erstmals erschienenen Erzählung Spiel im Morgengrauen wird dessen transzendentale Deterritorialisierung über die Versuchung des Glücksspiels abgeschlossen.
35 „Schnitzler stellt scheinbar moderne Männer dar, die mit der Zeit gehen, die mit ihrem guten Gewissen als kultivierte Menschen zustimmen, daß die Frau die gleichen Rechte wie der Mann und der Mann die gleichen Pflichten wie die Frau hat, die sich jedoch zur gleichen Zeit aufführen, als ob der Typus des männlichen Herrn und Gebieters der Frau noch zeitgemäß wäre.“ Le Rider, Arthur Schnitzler oder die Wiener Belle Époque, S. 108.
11. Offizierscasino
S PIEL BIS
ZUM
E RWACHEN 1
Arthur Schnitzlers Spiel im Morgengrauen erzählt ungefähr achtundvierzig Stunden aus dem Leben eines Leutnants. Anhand dieser zwei Tage lässt sich eine halbierende Aufteilung in einen Teil der Hasardpartien und einen folgenden Versuch der Tilgung ihrer Ergebnisse vornehmen. Seinem Erscheinungsdatum in den späten zwanziger Jahren zum Trotz scheinen Stil und Topik noch der Zeit des Jungen Wien verbunden. Die frivol getragene Verkettung unglücklicher Umstände erinnert nicht nur strukturell an den berühmten Leutnant Gustl.2 Hier ist es abermals ein unterer Militär, Wilhelm Kasda mit Namen, dessen Dasein einen ennui zwischen Kaserne und Kaffeehaus noch in bester KuK-Manier zelebriert. Zwischen lästigen Verpflichtungen, müßiggängerischen Sonntagen und habgierigen Liebeleien findet sich noch Platz für gelegentliche Hasardpartien auf dem Lande. Der heutige Sonntag wird für einen dieser Ausflüge in die Vorstadt Baden genutzt. Eigentliches Ziel sind die Tête-à-Têtes mit
1
Eine frühere, in Argumentation und Vorgang ähnliche Lektüre des Textes von Schnitzler habe ich als Aufsatz publiziert. Vgl. Thede, Psyche gegen Tyche.
2
Zum Status des Leutnants bei Schnitzler, vgl. Neymeyr, Aporien der Hasard-Leidenschaft im kulturanthropologischen Kontext, S. 158. Vgl. auch Knecht, Analyse der sozialen Realität in Schnitzlers Spiel im Morgengrauen, S. 184. Knechts strukturalistische Lektüre verbindet, wie auch andere Analysen, die Zeichenstruktur des Kartenspiels mit der sozialen Hierarchie der Erzählung und den Momenten des Liebesspiels, allerdings ohne die narratologische Ereigniskomponente des Spiels anhand der sprachlichen Spielinszenierung zu bewerten. So wird verlautbart: „Es dürfte klar sein, daß das den Inhalt und den Handlungsablauf der Erzählung weitgehend bestimmende Hasardspiel an sich uns hier nicht interessiert – unsere These, daß nämlich Schnitzler den sozialen Kontext nach der Modellstruktur eines Kartenspiels entfaltet, nimmt Bezug auf die Idee von der ästhetischen Modifizierung und Verwandlung außerästhetischer Phänomene und ist somit auf die ganze Geschichte gerichtet.“ Ebd., S. 186.
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den schönen Töchtern der Provinz, doch der unerwartete Besuch des unehrenhaft entlassenen ehemaligen Kameraden Bogner lenkt die Aufmerksamkeit auf Geschäftliches. Bogner benötigt dringend Geld; als Kassierer eines Büros für Elektroinstallationen hat er sich „etliche Male aus der Kasse was ausleihen müssen“3. Sollte er nicht rund tausend Gulden bis zum nächsten Tag auftreiben können, um das Loch zu stopfen, drohe ihm der Rauswurf. Sein erster Gedanke gilt Kasdas vermögendem Onkel, doch mit dem steht dieser längst nicht mehr auf gutem Fuße und kaum noch in Kontakt. Der Gegenvorschlag Kasdas sieht stattdessen vor, für Bogner im Badener Café Schopf das Glück im Spiel zu versuchen. Wir haben es hier weniger mit einer altruistischen Geste zu tun, als einer Ausrede an Bogners Adresse, die jedoch erst als Ausrede gegen sich selbst im Ziel eintrifft, endlich ein gewichtiges Spiel versuchen zu dürfen. Die Investigation des Leutnant-Ich wird so mit einer Rückkehr zum Hasardspiel kombiniert, um das impressionistische In-den-Tag-hinein-Leben sowie die kurzfristige Lüftung des Vorhanges von Kasdas bios durch die Erzählung in einem Knoten von Zufall und sozialer Kondition der Belle Époque zu schürzen.4 Diese Kondition wird auch im Café Schopf versammelt. Seine Gesellschaft formiert ein eigenes Personal: „Der Hauptmacher ist der Regimentsarzt Tugut, der übrigens eine Mordssau hat“, verrät Kasda, „der Oberleutnant Wimmer ist auch gewöhnlich dabei, dann der Greising, von den Siebenundsiebzigern ...“5 Bis hierin handelt es sich um ein echtes Offizierscasino; nachdem Hoffmann, Balzac und Dostoevskij den spielenden Bürgern und Künstlern den Vortritt ließen, ist schließlich wieder der militärische Spieler auf der Schwelle des Casinos erschienen. Zugleich wird hinter die Entwicklung zusätzlicher hasardierender Sozialcharaktere nicht zurückgetreten. Das Provinztheater entsendet seinen Sekretär und einen volksschauspielerhaften Beau ins Café, wodurch ein weiteres Mal der bigotte Künstler bei Schnitzler auftritt; zudem sitzt ein „älterer Herr, ein gewisser Konsul Schnabel“ zu Tisch, eine mysteriöse Gestalt mit geheimnisvollem Hintergrund. Der versunkene Ehrbegriff des Militärs trifft auf die ebenso heitere, aber triviale Zivilsphäre. An der Partie beteiligt sich Kasda normalerweise „höchst bescheiden [...] oder auch gar nicht. Drei- oder viermal habe ich mitgetan, aber mehr zum Spaß“6.
3 4
Schnitzler, Spiel im Morgengrauen, S. 508. In einem dichten Vergleich mit Stefan Zweigs Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau spricht Barbara Neymeyr von „psychologische[n] Versuchsanordnungen“, in denen das Experiment des Spiels als Befragung der inneren Konstitution bestimmter Figuren und Sozialcharaktere einerseits zum Tragen kommt, dabei aber andererseits auch einen Versuch der Applikation des erzählten Glücksspiels durchführt. Neymeyr, Aporien der Hasard-Leidenschaft im kulturanthropologischen Kontext, S. 146.
5
Schnitzler, Spiel im Morgengrauen, S. 511.
6
Ebd.
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Mit der Entschuldigung, für Bogner ein fremdes Spiel zu wagen, bietet sich nun aber die Gelegenheit, dem Hasard seine Banalität zu entziehen und ihm einen Zweck unterzuschieben. Rastignacs Spiel für Delphine wie auch Aleksejs Partie für Polina blockierten noch die eigene Involvierung über die Stellvertretung. Bei dem Leutnant Kasda handelt es sich aber dieses Mal um einen berufsmäßigen Stellvertreter („lieutenir“), zu dessen täglichem Geschäft es gehört, in Waffenrock den in sicherer Stube und Palast befindlichen Befehlskörper zu repräsentieren.7 Der im Frieden der Belle Époque gefangene Militär kann im Manöver lediglich per Übung einen Ernstfall erproben. Er rotiert in einer Simulationsschleife, in der die Stellvertretung zum Dauerzustand avanciert. Die Bitte Bogners bietet nun Gelegenheit, diesen Zirkel zu durchbrechen: Einerseits folgt Kasda der Raison seiner Stellvertretung für den früheren, übrigens durch das Spiel desavouierten Kameraden, und kann andererseits in dieser absichtlichen Verwechslung mit einem Anderen schließlich den Wert des jeu pour le jeu unterschmuggeln. Es ist dies ein gefährlicher Selbstbetrug, der darauf baut, im Falle eines ehrenhaften Spiels dessen jouissance in vollen Zügen zu genießen, im Falle eines unehrenhaften Spiels jedoch auf eine Tilgung zu hoffen, wie sie durch die permanente Erfahrung der Simulation zum Normalfall des Leutnants geworden ist. Der Erfolg ließe sich in allerlei Güter umrechnen: „[N]euer Waffenrock, neues Portepee, neue Wäsche, Lackschuhe, Zigaretten, Nachtmähler zu zweit, zu dritt, Fahrten in den Wienerwald, zwei Monate Urlaub mit Karenz der Gebühren.“8 Diese einzigartige Chance auf ein janusköpfiges Spiel manifestiert zugleich den Erzählanlass um Kasda. Es handelt sich dementsprechend auch um ein doppeltes Spiel, das die Erzählung selbst ankündigt, und bei dem die Konsequenz des Spiels sich als Motivation für irgendeine Konsequenz schließlich aufdrängt.9 Reflexartig scheint der Leutnant diese Gefahr noch zu ahnen. Bei Ankunft am Café Schopf wird eine Hoffnung auf Absage der nur an diesem Tag möglichen, zeitlich befristeten Spezialpartie für Bogner geäußert, der ja nur bis zur morgigen Inventur Zeit hat, den gehörigen Betrag zu ersetzen. Draußen warten lediglich der Kamerad Greising und der Theatersekretär; vielleicht ist der Rest ja nicht aufgetaucht, weswegen vertagt werden müsse: „Und es war ihm eine Erleichterung, zu denken, daß die Spielpartie vielleicht nicht zustandekommen würde.“10 In diesem Moment beginnt Kasda, Zeichen zu sehen und zu deuten. Der Verfolgungswahn des Hasardeurs durch
7
Für den Hinweis auf die Etymologie des Leutnants danke ich herzlich Prof. Dr. Avital Ronell. Vgl. auch Lorenz, Wiener Moderne, S. 145.
8 9
Schnitzler, Spiel im Morgengrauen, S. 527. Vgl. dazu Lorenz, Die Welt als Hasard und Vorstellung, S. 247: „Kasda ist zunächst, bis zu seinem Ruin, gleichsam psychologisch unbefleckt, er ist reiner Spieler, ein ausschließlich zu seinem vorbestimmten literarischen Schicksal erwachtes Opfer.“
10 Schnitzler, Spiel im Morgengrauen, S. 516.
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den Signifikanten des Zufalls hat bereits eingesetzt. In Wahrheit hat sich die Gesellschaft bereits im Inneren des Spielhauses versammelt, das zur abgeschnittenen Höhle wird, in der sich die Magie des Hasard abspielt. Auch in dieser Höhle bleibt Kasda dem Spiel zunächst noch fern, wird aber von einem Augenblick zum anderen automatisch in den Strudel hineingezogen. Dieser bestimmte und Kasda bestimmende Moment schiebt zur Markierung des Umschlages ein herausfallendes Zeichen in die Syntax: „Willi nahm keine Karte an; nur zum Spaß, auf Elriefs dringendes Zureden, ‚um ihm Glück zu bringen‘, setzte er auf dessen Blatt einen Gulden – und gewann.“11 Mit dem Semikolon und dem Geviertstrich entfesselt dieser Satz seine Dynamik des Hasard. Ersteres trennt zunächst die These des Nichtspiels von seiner plötzlichen Antithese, die durch nichts als durch eine in erlebter Rede vorgetragene Rechtfertigung des abermaligen trivialen Spaßes gesockelt wird. Das Spiel Kasdas kann so nur durch den Umschlag selbst, durch die Kapitulation vor dem freien Willen, begründet werden: So wird der freie Willi willentlich zum vom Spiel unterworfenen Akteur.12 Dass es gerade um diese Nicht-Begründung geht, ist durch das Semikolon substantialisiert, das einerseits den Rhythmus dieser Partie taktet und den plötzlichen Schlag des Gulden auf Elriefs Karte anzeigt. Andererseits steht es als Interpunktionssignifikant in seiner formalen und normativen Typografie wie ein Pausenzeichen der Musiknotation für eben diese Transgression der Nicht-Begründung ein, die im Folgenden mit den Zufällen des Spiels eisern wiederholt wird. Der Geviertstrich erwirkt eine weitere Pause, die vor dem nächsten Schritt dieses Spiels platziert ist. Er bestätigt das Geschehene mit dem Gewinn Kasdas und hilft zur Darstellung des indifferenten Ergebnisses eines Spiels, an das sich schließlich ein Rausch der Zeichen: der Gulden, der Uhrzeiten und der Partien anschließt: „Bei der nächsten Runde warf Doktor Flegmann auch ihm [Kasda, S.T.] eine Karte hin, die er nicht zurückwies. Er gewann wieder, verlor, gewann, rückte seinen Sessel nahe an den Tisch zwischen die andern, die ihm bereitwilligst Platz machten; und gewann – verlor – gewann – verlor, als könnte sich das Schicksal nicht recht entscheiden.“13
11 Ebd., S. 518. 12 Zu den Spielgestalten in Schitzlers Prosa als Auseinandersetzung mit der „dichotomy between free will and determinism“, vgl. Anderson, Shattered Illusions, S. 241. Anderson beschreibt dabei anhand einer Reihe von Schnitzlers Erzählungen den Spielzwang der Figuren als Negation ihrer Entscheidungsfreiheit. 13 Ebd.
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Bereits in Casanovas Heimfahrt gibt es eine solche Alternation der Fortuna im Spiel: „Um Casanova schien sich das Glück nicht zu kümmern; er gewann, verlor und gewann wieder in fast lächerlich regelmäßigem Wechsel.“14 Schnitzlers Erzähler entscheiden sich gegen eine detaillierte Darstellung des Spiels. Das absurde Hin und Her zwischen den Zeichen der jeweiligen Spiele weicht einer allgemeineren Feststellung dessen, dass sich diese Zeichen bereits in einen „Wechsel“ aus Gewinn und Verlust übersetzen lassen. Damit wird nebenher der zeitlichen Drängung des Spiels Rechnung getragen. In nur wenigen Sätzen vergehen auch die raschen Einsätze der Spiele, die im Falle von Kasda abermals durch die Eintragungen mehrerer Geviertstriche im Text voneinander getrennt sind. Gedanken und Stimme Kasdas sind in diesen Passagen unterbrochen. Zur Gänze kehren sie erst wieder mit seinem ersten Abschied von der Runde zurück. Außerhalb des Spielsaals staffelt sich die erlebte Rede Kasdas wie eh und je. Bei seiner Wiedereinkehr in das Café Schopf dominiert hingegen die Erzählung vom Spiel, die mit ihren Hasard-Figuren auf den abwesenden Helden gewartet zu haben scheint: „Die Spieler saßen da, als wäre seit Willis Fortgang keine Minute vergangen, in gleicher Weise gruppiert wie vorher.“15 Etwas später am Abend versucht Kasda schließlich den letzten Zug zurück nach Wien zu erwischen. Sein langes Ausharren im Café macht dieses Unterfangen denkbar knapp; auch wenn der Kutscher im Sauseschritt am Bahnhof eintrifft, so ist vom Zug nur noch der Rauch des Schornsteins zu bewundern: „Willi war aus dem Wagen gesprungen, blickte den erleuchteten Waggons nach, wie sie sich langsam und schwer über den Viadukt fortwälzten, hörte den Pfiff der Lokomotive in der Nachtluft verwehen, schüttelte den Kopf und wußte selbst nicht, ob er ärgerlich oder froh war.“16 Es ist in diesem Sinne unentscheidbar, ob es sich um ein unglückliches oder glückliches, ein willentliches oder ungewolltes, ein zufälliges oder absichtliches Verpassen handelt. Allein durch die Beinah-Konstruktion des verpassten Zuges schiebt sich ein weiteres Moment des Zufalls unter. Kasda hat mit seiner zögerlichen Abfahrt darum gespielt, ob er nach Wien oder ins Café Schopf gehört, ins Bett oder an den Spieltisch. Die Würfel sind gefallen und er kehrt in das nach wie vor unveränderte Etablissement zurück, um dort über den Fortgang
14 Schnitzler, Casanovas Heimfahrt, S. 291. Mit der Verbindung zu anderen Texten Schnitzlers hat sich Louis Gerrekens befasst. Er beobachtet insbesondere in dieser späteren Novelle Schnitzlers, wie „Neben-Peripetien aus früheren Texten in Spiel im Morgengrauen zum Kern“ der Erzählung werden, die „Gedanken zu Ende denkt, die er vorher nur am Rande behandelt hatte“. Im Zentrum steht dabei das Spielermotiv, das hier seine abschließend große Bühne im Werk des Österreichers erhält. Gerrekens, Intertextuelle Verweisstrukturen in Arthur Schnitzlers Spiel im Morgengrauen, S. 139. 15 Schnitzler, Spiel im Morgengrauen, S. 522. 16 Ebd., S. 524f.
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seines Abends und der Erzählung zu spielen. Auch dies gehört zur literarischen Einfädelung des Glücksspiels: Kasda möchte sehen, wie die Geschichte des Glücksspiels voranschreitet, um überhaupt eine Geschichte und ihre Funktionsweisen beschauen zu können. Vor Ort beginnt sich mit der voranschreitenden Nacht auch das Zeitempfinden zu nivellieren, wie überhaupt Willis Reaktionsapparat mehr und mehr dem automatisierten Zufall anheimfällt und schließlich nur noch ein Erkennen auf Distanz gewährt: „‚Hopp‘, sagte Willi plötzlich und erschrak vor seinem eigenen Wort, ja vor seiner Stimme. Bin ich verrückt geworden? dachte er. [...] War es vielleicht der Kognak, der ihm die Besinnung trübte? Offenbar. Er hatte sich natürlich geirrt, er hatte nicht im Traum daran gedacht, tausend oder zweitausend auf einmal zu setzen. [...] ‚Hopp ist hopp.‘ – War er das selbst, der sprach? Seine Worte? Seine Stimme?“17
Die finale Spielszene tritt an, um in dieser ersten Hälfte des Textes überhaupt Sinn und Zweck des zweiten Teils zu erstellen und zu bestimmen. Dementsprechend dramatisiert sich das Geschehen. Willi ist als Figur ausgeschaltet und muss dem Fortgang seines literarischen Schicksals fassungslos und ohne Interventionsmacht beiwohnen. Dieser agitatorischen Impotenz entspricht schließlich auch sein Rang. Als Leutnant sitzt er ohne Befehls- und Weisungsbefugnis dem politischen Konsul Schnabel gegenüber, der eine sonderbare Macht über Kasda auszuüben scheint. Bei seinem ersten Abschied von der Runde wird dieser Einfluss über den magnetisierenden Blick Schnabels impliziert: „Die andern waren gleich wieder in ihr Spiel vertieft; und als Willi an der Tür sich noch einmal umwandte, sah er, daß ihm nur das Auge des Konsuls mit einem kalten, raschen Aufschauen von den Karten gefolgt war.“18 Die finale Partie im Morgengrauen entwickelt sich schließlich zu einem Duell zwischen Kasda und diesem Konsul; ist der Schauspieler Elrief mangels Vermögen bereits ausgestiegen, so stürzt der Leutnant von einem fantastischen Gewinn hinab in exorbitante Schulden, nur weil Schnabel Kasdas Aussteigen auf der Höhe von dessen Pleite – dem intermittierenden Zéro – durch exklusive Kredite immer wieder verhindert: „‚Bitte sich zu bedienen‘, sagte er [Konsul Schnabel, S.T.]. [...] ‚Ich tät’ aufhören‘, mahnte der Oberleutnant Wimmer nochmals, und nun klang es fast wie ein Befehl. Und der Regimentsarzt fügte hinzu: ‚Jetzt, wo du so ziemlich auf gleich bist.‘ – Auf gleich! dachte Willi. Das nennt er: auf gleich. Vor einer Viertelstunde war man ein wohlhabender junger Mann; und jetzt ist man ein Habenichts, und das nennen sie ‚auf gleich‘! [...] Neue Karten lagen vor ihm. Sieben. Nein, er kaufte nichts. Aber der Konsul fragte nicht danach, er deckte einfach seinen Achter auf. 17 Ebd., S. 528f. 18 Ebd., S. 519.
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Tausend verloren, brummte es in Willis Hirn. Aber ich gewinn’ sie zurück. Und wenn nicht, ist es ja doch egal. Ich kann tausend grad so wenig zurückzahlen wie zweitausend. Jetzt ist schon alles eins. Zehn Minuten ist noch Zeit.“19
Die Spirale nimmt ihren Lauf in der äußersten Enge verwechselbarer Zahlen. Eben noch im Besitz von fünftausend Gulden, steht Kasda plötzlich mit tausend in des Konsuls Schuld. Die Partie hat ein striktes zeitliches Limit. Doch in diesem Rausch fahren die Nummern plötzlich fort, sich auf Veranlassung Schnabels zu multiplizieren: „Aber welchen Betrag sollte er setzen? – er hatte nur mehr ein paar hundert Gulden vor sich liegen. Plötzlich waren es mehr. Der Konsul hatte ihm zwei weitere Tausender hingeschoben. ‚Bedienen Sie sich, Herr Leutnant‘.“20 Die Gaben werden stets mit der süßlichen Höflichkeit des Diplomaten überbracht. Wie es sich gehört, entsprechen sie dem derridaschen Zirkel des Ökonomischen. Eine monströse Spiel- und Ehrenschuld des Offiziers ist das Ergebnis dieser durchspielten Nacht, die allein Anlass für eine Odyssee Kasdas am folgenden Tag durch Wien darstellt, um Möglichkeiten zur Tilgung der Schuld, zur Tilgung der vergifteten Gabe des Konsuls aufzutreiben, die im Spiel sogleich in dessen Tasche zurückwanderte und Zinsen auf dem Kerbholz des Leutnants hinterlässt. Sein devoter Marsch zum reichen Onkel und dessen gerissener Ehefrau – eine frühere Affäre Kasdas – ist als Besuch einer Vatergestalt zugleich der Versuch einer Heimkehr, die das soeben Geschehene ungeschehen machen soll. Die Inszenierung der Erzählung als Aufbau eines Zufälligen, das schließlich dadurch gültig wird, dass es wieder ungültig zu werden hat, trägt bereits eine Epiphanie Kasdas im Anschluss an seinen Ruin mit sich. Im blitzartigen Geschehen gingen irgendwann die Zahlen unter. Kasda hat sie schon längst verloren, verfügt über keine Kenntnis seiner Finanzen mehr. Mit Spannung wird nach der quantitativen Klimax der schluckaufartigen Hopps und Würfe das genaue Ergebnis der Partie um 2:30 Uhr am Morgen erwartet: „Und in diesem Augenblick war es ihm [Kasda, S.T.], als sei diese letzte Viertelstunde, ja die ganze Nacht mit allem, was darin geschehen war, ungültig geworden. So nahm es wohl auch der Konsul. Wie hätte er ihn sonst in seinen Wagen laden können. ‚Ihre Schuld, Herr Leutnant‘, fügte der Konsul freundlich hinzu, ‚beläuft sich auf elftausend Gulden netto‘.“21
Kasdas Erwachen entspricht einem Auftauchen aus der irrealen, träumerischen Sphäre dieser Nacht und dieses unbehaglichen Ortes, an dem sein Schicksal als
19 Ebd., S. 530. 20 Ebd., S. 531. 21 Ebd., S. 533.
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Schicksal des Zufalls aufgebaut wird. Es erklärt sich damit als Einblick in die Produktionswerkstatt einer Erzählung, der der gelangweilte Langweiler Kasda so nötig einmal beiwohnen wollte, nur um bei der anschließenden Erweckung sogleich mit ihrer spezifischen Konsequentialität konfrontiert zu werden. Es ist dies das zweite Erwachen der Erzählung, nach der gemächlichen Frühstücksprozedur des vorangegangenen Morgens, die auch den Text eröffnete. Auf diesen zweiten Morgen wird noch ein Dritter folgen, an dem der Leutnant seine Augen nicht mehr wird öffnen können. Die ökonomische Dimension des Platzhaltens wird nach der Begegnung mit dem Spiel als fremdem Spiel in Stellvertretung für einen alten Kameraden befeuert. Nach zwei Nächten erzählter Zeit endet dieser Versuch auf einem jeweils grauenvollen Morgen. Das Experimentelle und Laboriöse des Glücksspiels erhält mitsamt seiner epistemologischen Leere einen aleatorisch-narratologisch gemeinsamen Nenner. Kasdas Ursprung in der Erzählung am Sonntag markiert eine Geburtsszene der literarischen Figur; an diesem zweiten Morgen werden ihm mit der Schuld die Augen darüber geöffnet, was dieser Status bedeutet; den dritten Morgen erlebt er sodann nicht mehr, zugleich wird seine Erzählung geschlossen. Auch in diesem Sinne findet ein narratives Spiel im Morgengrauen statt. War Casanova noch die Figur, die mit dem Spiel ins eigene Fatum einzugreifen wusste, wird dem dekadenten Leutnant die Unmöglichkeit der Kontrolle eines Fatums, seine Automatisierung in der Erzählung, durch das Spiel des Zufalls bewusst. Neumann bemerkt dazu, dass „auf dem Spieltische inszeniert, simuliert und manipuliert wird“, was etwa die Konsequenz haben kann, dass die „Semantik der Karten, ihre Bedeutung stiftende Kraft“ zum Tragen kommt – „Bedeutungen, die, in deren Bildern und Motiven festgehalten, (künftige) Wirklichkeit determinieren“22. Diese Wirklichkeit ist eine des Zufalls zum Tode hin. Das Glücksspiel trägt die Funktion, als grundlose Ehrenschuld den Grund zum Selbstmord Kasdas zu inszenieren.
E XKURS : S CHULD
DER
S PIELRATTE
Bevor sich mit diesem Ende Kasdas auch dem Ende der vorliegenden Studie genähert wird, soll die Aufmerksamkeit auf einen anderen, unter mehreren Schichten mit dem Glücksspiel konfrontierten österreichischen Leutnant gerichtet werden. Es handelt sich dabei um einen Patienten Freuds, dessen Geschichte in Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (1909) erzählt wird.23 Die Zwangsneurose dieses Patienten
22 Neumann, Statement zum Thema „Hasardeur“, „Schicksalsspieler“, S. 379. 23 Dass es sich im Folgenden um einen Leutnant handelt, wird im Text nicht bestätigt. Der Rang des „Rattenmanns“ bleibt unklar, jedoch ist von seiner subalternen Rolle dem Hauptmann und Oberleutnant gegenüber davon auszugehen, dass er – sofern es sich nicht um
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äußert sich einerseits in Sorge und Angst um das Wohlbefinden nahestehender Menschen, aber auch über die eigene Schädlichkeit für diese, und resultiert zudem in einem Muster teils absurd wirkender Pläne und Tätigkeiten der Abbitte gegenüber diesen Fantasien und Zwängen. Eines der neurotischen Vorhaben findet während einer Waffenübung statt. Dem jungen Mann wird zunächst die Schauergeschichte einer orientalischen Folterpraxis zugetragen, die die rektale Einführung einer Ratte beinhaltet. Diese Geißelungserzählung setzt sich im Bestrafungsmuster des Mannes fest, bildet aber nicht den einzigen Anlass, der zur Zuschreibung als „Rattenmann“ geführt hat. Der Hauptmann, der die Geschichte von der Ratte erzählt, überbringt dem Leutnant kurze Zeit später eine mit der Post angelangte Bestellung, inklusive des Hinweises, dass ein Oberleutnant A. die Nachnahme übernommen hätte. Diese Information, derzufolge er das ausgelegte Geld zurückgeben müsse, verbindet der Leutnant mit einer drohenden Bestrafung und formuliert sie in folgenden „Eidschwur“ um: „Du mußt dem Oberleutnant A. die Kronen 3.80 zurückgeben.“24 Besonderes Gewicht erhält nun der exakte Wortlaut dieses stummen Befehls an sich selbst. Gerade im präzisen Instruktionsgehalt der Anweisung, nebst einer vermeintlichen Konditionierung im Militär, sich den gegebenen Befehlen zu beugen, verbirgt sich der Zwangsgedanke, den Formulierungen – den Signifikanten – Folge zu leisten, und nicht dem in der Oberfläche der Anweisung gegebenenfalls pragmatischen, in diesem Fall ökonomischen Sinn. Denn wäre es dieser, der die Angelegenheit aus der Welt schaffen würde, müsste lediglich die Schuld von 3,80 Kronen getilgt werden; da aber der initiale Befehl lautete, dem Oberleutnant A. dieses Geld zukommen zu lassen, weil ansonsten besagte Rattensanktion die geliebten Personen – eine verehrte Dame und den bereits verstorbenen Vater – ereilen könnte, müsse ein Weg gefunden werden, der nämlichen Person A. das Geld persönlich zu überreichen. Nachdem sich nun aber herausstellt, dass besagter Oberleutnant in Wahrheit die Nachnahme doch nicht übernommen hat, gestaltet sich die genaue Einhaltung der Befehlskette als überaus kompliziert. Die eigentliche Schuld kann nur im entfernten Postamt getilgt werden, doch aufgrund des Eides hat Oberleutnant A. das Geld in Empfang zu nehmen. Nun beginnen mehrere Kräfte zu wirken: Einerseits möchte der Leutnant aufgrund des Wissens von der Absurdität seines Zwanges wiederum zwanghaft vermeiden, A. mit seinem Plan zu belästigen, ihm Geld auszuhändigen, nur um den eigenen Vorstellungen zu entsprechen. Andererseits sieht er es als eine ebensolche Feigheit an, den Eid aus Vorbehalten A. gegenüber nicht einzuhalten.25 Die Unentschlossenheit führt zu Manövern zwischen den verschiedenen Orten der Waffenübung, des Aufenthalts von A. einen Ingenieur oder Mediziner handelt – die einfache Gefechtsklasse des Leutnants während einer Waffenübung bekleidet. 24 Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, S. 45. 25 Vgl. ebd., S. 47.
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und des Postamtes, die in einem beständig wechselnden Zeit- und Routenmanagement versuchen, sich alle Möglichkeiten stets offen zu halten. Die geschickte Tilgung der Schuld nistet sich traulich in ihrer Zick-Zack-Bewegung ein.26 An etwas späterer Stelle verbindet Freud diese Ökonomie der Ökonomien mit verschiedenen Geldangelegenheiten. Dazu gehören einerseits der bürgerliche Widerstreit zwischen Geld- und Liebesheirat, andererseits die „kleinen Verfehlungen und Mißgeschicke“27 aus dem Leben des Vaters, von denen der Leutnant aus erster Hand Mitteilung erhalten hat: „Nun gestattete der Zufall, der bei der Symptombildung mithelfen darf wie der Wortlaut beim Witz, daß eines der kleinen Abenteuer des Vaters ein wichtiges Element mit der Aufforderung des Hauptmannes [„Du mußt sie ihm zurückgeben“, S.T.] gemeinsam hatte. Der Vater hatte einmal eine kleine Summe Geldes, über die er als Unteroffizier verfügen sollte, im Kartenspiele verloren (Spielratte) und wäre in arge Bedrängnis gekommen, wenn ein Kamerad sie ihm nicht vorgestreckt hätte. Nachdem er das Militär verlassen und wohlhabend geworden war, suchte er den hilfreichen Kameraden auf, um ihm das Geld zurückzugeben, fand ihn aber nicht mehr. Unser Patient war nicht sicher, ob ihm die Rückerstattung überhaupt je gelang; die Erinnerung an diese Jugendsünde des Vaters war ihm peinlich, da doch sein Unbewußtes von feindseligen Ausstellungen am Charakter des Vaters erfüllt war. Die Worte des Hauptmannes: Du mußt dem Oberleutnant A. die Kronen 3.80 zurückgeben, klangen ihm wie eine Anspielung an jene uneingelöste Schuld des Vaters.“28
Neben der „Spielratte“ streut Freud noch weitere Assonanzvokabeln ein, die eine Verbindung zwischen Strafe (Ratte), Geld und Schuld herstellen, etwa die der „Rate“: „Die Ratten kamen so zur Bedeutung: Geld, welcher Zusammenhang sich durch den Einfall Raten zu Ratten anzeigte. Er [der Patient, S.T.] hatte sich in seinen Zwangsdelirien eine förmliche Rattenwährung eingesetzt; [...] Diese Geldbedeutung der Ratten stützte sich überdies auf die Mahnung des Hauptmannes, den Betrag der Nachnahme zurückzugeben, mit Hilfe der Wortbrücke Spielratte, von der aus der Zugang zur Spielverfehlung des Vaters aufzufinden war.“29 Die Initiation der Geschichte durch den Zufall des väterlichen Hasardeurs und die Unmöglichkeit der Schuldentilgung erinnert nicht nur an den verlorenen Schatz des Vaters in Schnitzlers Reichtum, sondern erzählt auch so eine Geschichte vom Beginn der Erzählung aus Zufall. Avital Ronell bemerkt dazu: „With a toss of the decisive dice, he [Freud, S.T.] starts the
26 Zur Verbindung von Derridas Carte postale und der Rotation des ‚Rattenmannes‘, vgl. Ronell, The Sujet Suppotaire, S. 117. 27 Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, S. 68. 28 Ebd., S. 75. 29 Ebd., S. 77f.
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Rat-series rolling with Spielratte, referring to Rat Man’s father, a chronic – one is tempted to say, chtonic – gambler.“30 Der hohe Kurs der Ratte verfolgt eine absurde Bewegung des Geldes, bei der offenbar der Betrag immer seine Destination erreicht, sei diese auf dem Postamt oder in den Taschen des Oberleutnants A. Beide Bedeutungsplätze sind Ausdruck der Unentscheidbarkeit in den Auseinandersetzungen der Neurose, die eine signifikante Erzählung in derjenigen des Vaters als Spielratte lokalisiert, wo der Betrag in der paternalistischen Hosentasche verblieben ist. Die Mechanik dieses Kräfteausgleichs liegt in der Last von sich widerstreitenden Gesetzen, bei denen nur die allgemeinste Form regiert, dass Befehlen im Wortlaut zu gehorchen sei. Auch Kasda befindet sich in einem solchen Konflikt der Befehle. Die Schuld seines Kameraden Bogner setzt er, wo genehm, als unvermeidbare Verantwortung, zu spielen, nur um sich in anderen, optimistischeren Phasen von einer Schuld gegen Bogner freizusprechen.31 Im Spiel gilt außerdem das ökonomische Gesetz der Gabe durch Konsul Schnabel. Dieses übertrifft beizeiten auch die Ermahnungen seiner Kameraden: „,Kasda‘, sagte der Oberleutnant Wimmer hinter ihm. ,Nicht weiter.‘ Es klang hart, streng beinahe. Ich bin ja nicht im Dienst, dachte Willi, kann außerdienstlich mit meinem Geld und meinem Leben anfangen, was ich will.“32 Der direkt vor Ort zur Disposition stehende Zwang zur Gehorsamkeit wird mit dem Zwang zum Spiel abgetauscht, wobei eine verhängnisvolle Verwechslung mit einem Zwang zur Souveränität und Freiheit stattfindet. In gewisser Weise zeugt Freuds Rattenmann mit diesem Zwang der Kettung an den eigenen Willen von diesem Problem: Freud redet in seinem theoretischen Teil von der „von ihm [dem Patienten, S.T.] behauptete[n] Allmacht seiner Gedanken und Gefühle, guten und bösen Wünsche“.33 Die Angst davor, dass sich der Wille, an den der Patient sich gebunden fühlt, tatsächlich materialisiert, erhält bei Schnitzler einen Ort in der literarischen Konstruktion.34 Kasdas verpasster Zug steht als Umsortierung dieser Angst ein: Er wünscht sich, das Ende der Geschichte vom Spiel zu erfahren,
30 Ronell, The Sujet Suppotaire, S. 124. In einer Seminardiskussion haben mir Avital Ronell und das Plenum im Wintersemester 2013 am Departement of German der New York University diesen Text Freuds als Spielertext nähergebracht. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. 31 Vgl. Schnitzler, Spiel im Morgengrauen, S. 515, u.a., wo sich Kasda von einer Partie mit den Töchtern der Provinz wieder zum Spiel verabschiedet, unter dem nur an sich gerichteten Vorwand, dass „die tausend Gulden für den verunglückten Kameraden [...] bis spätestens morgen früh beschafft sein“ mussten. 32 Schnitzler, Spiel im Morgengrauen, S. 531. 33 Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, S. 92. 34 Zur Verbindung von Freud und Schnitzler, vgl. Le Rider, Arthur Schnitzler oder die Wiener Belle Époque, S. 44-50.
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um überhaupt seiner Geschichte Erzählbares zuordnen zu können, überprüft aber diesen bösen Wunsch anhand des Abfahrtplans des letzten Zuges nach Wien, der ihn aus der Provinz der Schulden – seien es 3,80 Kronen oder elftausend Gulden – entfernen könnte.35 Die Schuld des Glücksspiels ist eine zufällige Schuld, die aber viel bedeuten kann, insbesondere in der Ehrenkultur des KuK-Militärs. Für Freuds Patienten ist es ein Segment der Neurose, die seine novellistische Erzählung motiviert, unter der er bis heute noch gelesen wird. Es bleibt dabei ein bitteres Zusammentreffen der Umstände, wenn Freud in einer Fußnote, die er 1923 am Ende des Textes ergänzte, vom Tode dieses Patienten „im großen Krieg“ berichtet.36 Der von der Spielratte kurierte Leutnant fiel auf Befehl, eingepfercht wie eine Ratte, in den Gräben des Weltkriegs.
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Kasdas Wünschen auf das Ende der Geschichte vom Spiel mündet in einer Geschichte seines Endes. Seine Bemühungen um Tilgung der Schuld, um ein Ungültigwerden des Spiels sind umsonst. Das Spiel erzeugt eine Konsequenz, mit der wiederum das Erzählte resultiert. Die zwei Hälften, in die sich Spiel im Morgengrauen einteilt, ergeben so eine Struktur, nach der über das Glücksspiel eine Behauptung aufgestellt wird, der mit dem folgenden Strang entsprochen wird. Diese Behauptung wird innerhalb eines Ehrendiskurses des Leutnants gültig – ein Thema, dessen sich Schnitzler bereits im Leutnant Gustl angenommen hatte.37 Dieser weist – jenseits seiner innovativen stilistischen Introspektion – einige Gemeinsamkeiten mit Kasda auf. Gustl ist noch vor der entscheidenden Begegnung mit dem Bäcker in Gedanken bei einer Spielschuld: „Ah, ich hab’ gar keine Lust, ins Kaffeehaus zu geh’n; hab’ mich gestern so gegiftet! Hundertsechzig Gulden auf einem Sitz verspielt – zu dumm!“38 Die Schuld ist lange nicht so hoch wie diejenige Kasdas, und im Zweifelsfall hilft ein Onkel schon aus: „Aber es ist ganz gut, daß ich mir selber das Ehrenwort gegeben hab’, einen Monat lang keine Karte anzurühren ... Die Mama wird wieder ein G’sicht machen, wenn sie meinen Brief bekommt! – Ah, sie soll zum Onkel geh’n, der hat 35 Zum Tausch der Ich-Souveränität mit dem konditionierten Befehl des zufälligen Schicksals, vgl. auch Neymeyr, Aporien der Hasard-Leidenschaft im kulturanthropologischen Kontext, S. 159: „Symptomatisch für den Verlust der Autonomie ist Kasdas gedankliche Fixierung auf das Schicksalsprinzip und die Abhängigkeit seiner Aktivitäten von bloßen Zufällen.“ 36 Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, S. 103, FN 1. 37 Zur Rechtssituation des spielenden KuK-Leutnants, vgl. Laermann, Spiel im Morgengrauen, S. 191ff. 38 Schnitzler, Leutnant Gustl, S. 339.
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Geld wie Mist; auf die paar hundert Gulden kommt’s ihm nicht an.“39 Kasda ist zwar Vollwaise, verfügt aber auch über einen solchen Onkel, dessen Vermögen nach dem Desaster in Baden die letzte Hoffnung ist. Dieser jedoch verweist ihn an seine ökonomisch versierte Ehefrau, die sich die Kontrolle über die Finanzen und Unternehmen unter den Nagel gerissen hat. Kasda erkennt sie als frühere Geliebte, die er mit der unaufgeforderten Bezahlung einer Liebesnacht zur Prostituierten gemacht hat. Nunmehr sitzt die ehemalige Blumenverkäuferin, vom süßen Mädel zur erfolgreichen Entrepreneurin emporgestiegen, am längeren Hebel. In einer Wiederholung des längst vergangenen Stelldicheins setzt der Leutnant seinem Onkel Hörner auf, prostituiert sich selbst, nur um am Dienstagmorgen einen Betrag von tausend Gulden überreicht zu bekommen: Zehntausend zu wenig, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, aber immerhin neunhundertneunzig mehr als die Gelder, mit denen er ehemals das Mädchen gedemütigt hatte. Unter dem Strich (auf dem sich Kasda nun unfreiwillig selbst wiederfindet) ist es genau der Betrag, um den Bogner eingangs gebeten hatte. So gelten auch in den letzten Stunden vor dem Freitod des Leutnants seine Gedanken dieser unheilvollen Begegnung knapp achtundvierzig Stunden zuvor: „Nun, immerhin, er, Willi, hatte das Seinige getan, und mehr als das. Und in diesem Augenblick war ihm wirklich, als hätte er sich nur um Bogners willen an den Spieltisch gesetzt, nur um Bogners willen so lange das Schicksal versucht, bis er selbst als Opfer gefallen war.“40 Die Selbsttäuschung dieses altruistischen Grundgedankens verleugnet die eigene Emphase für das literarische Schicksal, dem sich der nicht mehr ganz so jähzornige und vollmündige Kadett schließlich hingibt. Mit dem Suizid Kasdas endet dann auch eine parallele Linie zwischen ihm und Gustl. Dieser fantasiert zwar eine Nacht lang im Wiener Prater nach einer herabwürdigenden Szene mit einem Bäckermeister von seinem Freitod, wird ihn aber niemals ausführen. Einerseits ist nach der ersten Zufallsbegegnung mit dem Bäcker die zweite Zufallsbegegnung im Morgengrauen des folgenden Tages relevant, während derer Gustl von einem Kellner erfährt, dass jener über Nacht zufälligerweise einem Schlaganfall erlegen sei. Mit dem mitwissenden Konditor ist auch die Chance auf Blamage passé und der Leutnant darf sich den Suizid ersparen. Andererseits ist es höchst zweifelhaft, ob er ihn tatsächlich ausgeführt hätte: Seine Flanerie durch den Prater ist mitsamt des Gedankenschwalls und Abwägens eine ausgebreitete innere Verhandlung und Pseudopassion, die die Irrelevanz des Freitodes bereits erkennt. Gustl wird eher als Meister der Prokrastination inszeniert denn als tatsächlich durch den Suizid Gefährdeter. Er schwört sich selbst auf das Schicksal ein, doch nur die Irritation und unfreiwillige Ironie der Phrasen scheint
39 Ebd. 40 Schnitzler, Spiel im Morgengrauen, S. 575.
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dabei sicher: „Also, hast’s gehört, Gustl: – aus, aus, abgeschlossen mit Leben! Punktum Streusand drauf!“41 Für Kasda ist eine andere Pointe des Zufalls vorbehalten. Im letzten Kapitel versammeln sich einige Akteure szenisch in den Gemächern des toten Leutnants. Der Regimentsarzt Tugut, Ex-Kamerad Bogner und schließlich auch der Onkel treten neben dem Leichnam zusammen; Kasdas Onkel tatsächlich mit der nunmehr vollständigen Summe, die die untreue Ehefrau doch noch gewährt hat und um die der Hasardeur wenige Stunden vor dem Selbstmord noch vergeblich flehte. Die tilgende Einheit der Erzählung Kasdas trifft somit zynischerweise erst dann ein, als seine Erzählung beendet wurde und das Glücksspiel per Umrechnung in den Tod des Leutnants bereits untilgbar gültig geworden ist. Hier wird eine Inversion deutlich: Gustl konnte mit dem Tod spätestens dann abschließen, als er zufällig von der Tilgung seines Schicksals erfuhr; Kasda indes hatte bereits seinem Leben ein Ende gesetzt, als die Nachricht von einer solchen Tilgung zufällig um Momente zu spät bei ihm eintreffen sollte. Doch es erhält auch diese Wendung eine neue Pointe, bedenkt man, dass die Konsequenzen des Spiels sich bereits in den Erfahrungen Kasdas festgesetzt hatten: Die Erkenntnis der ewigen Stellvertretung und Abdrängung in einen Zwischenraum, wo der Mann zur Prostituierten wird, hat ein bestimmtes Bild vom souveränen Militär sowie des Patriarchen und Vaters, der in Gestalt des devoten Onkels auftritt, zersplittern lassen.42 Gustl kann dieses Bild vor sich selbst noch aufrechterhalten. Er fantasiert unablässig von den Schlagzeilen, die sich der Tragik vom „Selbstmord eines jungen Offiziers“ annehmen und ergibt sich dem Pathos, zu überlegen, „wer sich am meisten kränken möcht’“ angesichts seines Verlustes.43 Dass eine Diagnose der gesellschaftlichen Kondition der Belle Époque gerade über die stetige Verteidigung des porösen Ichs in Schnitzlers Erzählung erwirkt wird, erzählt sowohl von ihrer Erfolgsals auch Skandalgeschichte, und zieht zudem den suizidären Status Gustls in Mitleidenschaft.
41 Schnitzler, Leutnant Gustl, S. 339. Vgl. auch Freeman, Leutnant Gustl, S. 41: „But Gustl is full of contradictions, and though he fantasizes about suicide, it is doubtful whether he could go through with it. He constantly represses and forgets his resolve.“ Dass diese Ambivalenz des Schicksals auf rhetorischer Ebene der Texte Schnitzlers gern übersehen wird, hat auch Le Rider betreffs des Endes von Fräulein Else konstatiert: „Die Hypothese einer hysterischen Krise, die von einem eher theatralischen denn fatalen Selbstmordversuch gefolgt ist, läßt die Annahme zu, daß das Fräulein Else am Ende der Erzählung nicht stirbt, wie man gemeinhin angenommen hat.“ Le Rider, Arthur Schnitzler oder die Wiener Belle Époque, S. 75. 42 Vgl. dazu ebd., S. 103f. 43 Schnitzler, Leutnant Gustl, S. 347.
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Aus dieser Perspektive verwundert es, dass ausgerechnet Gustl das höchste Interesse Jean Amérys in seiner Anti-Suizidologie Hand an sich legen geweckt hat. Améry schreibt einen Traktat jenseits von Logik und positiver Wissenschaft. Er distanziert sich von soziologischen und psychologischen Erkenntnissen, sowie statistischen und demografischen Daten, innerhalb derer das Thema Selbstmord seit dem 19. Jahrhundert Karriere machte.44 Für Améry ist der Freitod gerade ein Rückzug aus dieser „Logik des Lebens“45, samt ihrer von Güterabwägung beherrschten Ökonomie. Sie kann zuallererst nur anzeigen, dass im Leben, wo der Genuss von Gütern überhaupt erst möglich ist, der Freitod niemals wird Sinn ergeben können. Der Text interessiert sich daher für eine Methodologie des Satzes: „‚Das Leben ist der Güter höchstes nicht.‘ Mit diesem Wort ist vernünftigerweise schlecht auskommen.“46 Offenbar betrifft dies auch Leutnant Gustl: „Des ‚Kaisers Rock‘, den Gustl trägt, ist demnach mehr wert als das Leben, [ist] widersprüchlich, denn nur den Lebendigen bedeckt dieses Kleidungsstück. [... E]s ist ein absurdes Verhalten, daß Leutnant Gustl die Nacht im Prater verbringt, wissend, er werde im Morgengrauen in seinem kahlen Zimmer in der Kaserne den Revolver ziehen und sich eine Kugel in die Schläfe schießen.“47 Doch Gustl dürfte eigentlich viel besser zu jenen Gestalten passen, die Améry später aus dem Diskurs des Freitodes mit ihrem beständigen Selbstbetrug ausschließt: „Voraussetzung seines [des Suizidärs, S.T.] Entschlusses als eines Aktes der Befreiung ist dennoch, daß es ihm ernst damit ist. Wenn alles schiefgeht, kann ich mich immer noch umbringen, reden viele so daher. Danach geht alles schief, und sie leben schief weiter, noch ein bißchen ärmer, trauriger, älter, kränker, einsamer, und die stolze Entschließung ist bald nur noch eine ferne Erinnerung, Landschaft, die man einmal visionär erblickte, deren sanfte Fluren man niemals betrat.“48 Gustl, Fräulein Else, aber auch Raphaël de Valentin oder Aleksej Ivanovič sind fadenscheinige Suizidäre. Die beiden letzteren haben im Spiel entweder einen (wenn im Falle Raphaëls auch tödlichen) Neuanfang im Leben gefunden bzw. eine Existenz im Spiel. Auch Lucien Chardons Entschluss, sich zu töten, führt nur in eine weitere Chance, nämlich in die Begegnung mit Vautrin. Kann Aleksejs Entscheidung für die
44 Vgl. Améry, Hand an sich legen, S. 9 u.a.: „Dieser Text ist jenseits von Psychologie und Soziologie situiert. Er beginnt dort, wo die wissenschaftliche Suizidologie endigt.“ Zur statistischen Validität des Suizids als devianter Ausfallgröße, die das Zufällige in geordneten Bahnen zugänglich macht, äußert sich Hacking in seinem achten Kapitel Suicide is a Kind of Madness in The Taming of Chance. Vgl. Hacking, The Taming of Chance, S. 6472. 45 Améry, Hand an sich legen, S. 16. 46 Ebd., S. 25. 47 Ebd., S. 25f. 48 Ebd., S. 136f.
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Kettung des Willens an das Spiel zumindest eine Umdeutung dieser Existenz im Hasard zementieren, so lässt sich Kasdas Freitod als letzter souveräner Akt einer entautonomisierten Persönlichkeit deuten. Amérys provokanter Text argumentiert gerade für die Freiheit im Freitod, für den Entzug der Logik des Lebens durch den Entzug des Lebens als Lösung der Kantischen Antinomie, um die ja auch immer im Zufall gewürfelt wird. „Freitod“ plant Améry bevorzugt seinen Gegenstand zu heißen, „wohl wissend, daß der Akt manchmal, häufig, durch den Zustand drangvollen Zwanges zustande kommt. Als Todesart aber ist der Freitod frei noch im Schraubstock der Zwänge; kein Karzinom frißt mich auf, kein Infarkt fällt mich, keine Urämiekrise benimmt mir den Atem. Ich bin es, der Hand an sich legt, der da stirbt, nach Einnahme der Barbiturate, ‚von der Hand in den Mund‘.“49 Dieses „Ich bin es“ wird im Freitod vom Leutnant noch einmal gelebt, nachdem ihm seine kurze Phase als Hasardeur die Lässlichkeit seines Lebens erstens in den sozialen Kodierungen vorgeführt hat, aber zweitens insbesondere die Lässlichkeit des erzählten Lebens im literarischen Text bemerkbar wurde, das seinen Sinn nur über die Kontingenzkonfrontation erhält, die ihn gleichsam zum Tode verurteilt. Schnitzlers Suizidgeschichte bildet als Repräsentantin der finiten Spielerexistenz ein Komplementär zu Dostoevskijs zirkulärer bzw. durativer Hasarddarstellung. Beide antworten jeweils der paradoxen Prüfungsfrage, wozu der Zufall bzw. der Hasard in der Moderne bestimmt ist, mit einer narrativen Funktionalisierung, die sich auf die Logik von Ereignisketten im erzählenden Text beziehen. Als Möglichkeiten wird mit Dostoevskij und Schnitzler einerseits die Bestimmung zum infiniten Prozess und andererseits diejenige zum abgeschnittenen, fragmentierenden Ereignis interpretiert. Bestanden die zirkulären Spielerzählungen Aleksejs und Raphaëls in einer Tilgungsbewegung, in einer Aussicht auf Entgeltung der Schuld, so ist Kasdas einzige Hoffnung auf diese charakteristische odysseische Struktur durch eine Absage wieder aus dem Erzählen des Glücksspiels herausgenommen. Es ist dabei an eine weitere Hand zu erinnern, die das eigene Leben berührt. Mrs C. hatte in Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau über die sich verratenen Hände des Hasardeurs theoretisiert. Ihr kurzes Abenteuer mit einem jungen polnischen Spieler in Monte Carlo beginnt folglich auch mit der ausführlichen Beschreibung seiner Hände: „Und da sah ich – wirklich, ich erschrak! – zwei Hände, wie ich sie noch nie gesehen, eine rechte und eine linke, die wie verbissene Tiere ineinandergekrampft waren und in so aufgebäumter Spannung sich ineinander und gegeneinander dehnten und krallten, daß die Fingergelenke krachten mit jenem trockenen Ton einer aufgeknackten Nuß. [...] Hier drängte ein ganzer übervoller Mensch, sofort wußte ichs, seine Leidenschaft in die Fingerspitzen zusammen, um nicht selbst von ihr auseinandergesprengt zu werden. Und jetzt... in der Sekunde, da die Kugel 49 Ebd., S. 13.
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mit trockenem dürrem Ton in die Schüssel fiel und der Croupier die Zahl ausrief... in dieser Sekunde fielen plötzlich die beiden Hände auseinander wie zwei Tiere, die eine einzige Kugel durchschossen. Sie fielen nieder, alle beide, wirklich tot und nicht nur erschöpft, sie fielen nieder mit einem so plastischen Ausdruck von Schlaffheit, von Enttäuschung, von Blitzgetroffenheit, von Zuendesein, wie ich ihn nicht mit Worten ausdrücken kann.“50
Der Spieler ist zu diesem Zeitpunkt bereits ein Todgeweihter. Der Versuch von Mrs. C., ihn vom Spiel zu entfernen, schlägt fehl. Jahre später muss sie hören, dass er sich ebenda, in Monte Carlo, erschossen hat. Die zufällige Kugel des Roulette, die solche Macht über die beiden Hände des Hasardeurs hatte, wie sie Mrs. C. zu beschreiben versuchte, ist mit der Schusswaffe nunmehr in die Hand des Hasardeurs gelegt. Dem zirkulären, emphatischen Hin und Her zwischen Rot und Schwarz, Pair und Impair, vor allem aber Zufall und Schicksal, freiem Willen und Determination, Destination und Adressierung, und schließlich Kontingenz und Providenz, ist diese letzte, eigentliche Handlung der Freiheit entgegengesetzt.
50 Zweig, Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau, S. 344f.
Viel geht noch. Von Wahrsage-Apparaten und Guckkästen
1925 erscheint in der Vossischen Zeitung ein Artikel von Walter Benjamin unter der Überschrift Die Waffen von morgen. Er führt im Untertitel eine Reihe von „zungenbrecherischen chemischen Vokabeln“ als Namen einer neuen Vernichtungsmystik und -alchemie auf, die zugleich den klinischen Zynismus artikulieren, unter dessen Ägide im vergangenen Krieg gekämpft wurde: Schlachten mit Chlorazetophenol, Diphenylaminchlorasin und Dichloräthylsulfid.1 War der Erste Weltkrieg von technologischer Akzeleration und seiner einhergehenden Praxis der Zerstörung gekennzeichnet, deren Strategie darin bestand, strategielose Massenprojektile im großen Stile einzusetzen, unkontrolliertes Giftgas und streuende Mündungen von „Tank“, „U-Boot“ oder auch Jagdflugzeugen zu dirigieren, so können nur noch weitere Iterationen dieser verhängnisvollen, exponentiellen Architektur eines maschinisierten Krieges gedacht werden: „Der kommende Krieg“, schreibt Benjamin, „wird eine geisterhafte Front haben. Eine Front, die gespenstisch bald über diese, bald über jene Metropole, in ihre Straßen und vor jede ihrer Haustüren vorgerückt wird. Dazu wird dieser Krieg, der Gaskrieg aus den Lüften, in nie gekanntem Sinne dieses Wortes, ein wahrhaft ‚atemraubender‘ Hasard sein“2.
1
Benjamin, Der kommende Krieg, S. 473.
2
Ebd. Auf die Verbindung von Hasard und Krieg wird Ernst Bloch zwölf Jahre nach Benjamin in seinem kurzen Aufsatz Vom Hasard zur Katastrophe zurückkommen. Dort geht es um die Entlarvung der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik als einzig auf den Fluchtpunkt des Krieges hinsteuernd: „Nur mit diesem wurde ernsthaft sozusagen ehrlich gerechnet von Anfang an. Hier rentieren sich die Kanonen, die deutsche Arbeit zahlt sich als Mord aus.“ Bloch, Vom Hasard zur Katastrophe (1937), S. 185. Im Folgenden demontiert Bloch die desaströse Verbindung von Rüstungs- und Wirtschaftspolitik des Regimes auf weitsichtige Art und Weise mit einer aus dem Bereich des Glücksspiels und des geschichtsvergessenen Risikos schöpfenden Metaphorik.
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Zweifellos: Wagnis, Gefahr und Risiko, mit ihnen aber auch der Zufall, erhalten nach den Erfahrungen zwischen 1914 und 1918 neue Konnotationen. Schnitzlers Bearbeitung eines Habsburger Leutnants im Jahre 1927 hinter dem Spieltisch wirkt geradezu anachronistisch, bedenkt man, wie dem Antlitz der militärischen Figur vor dem Hintergrund des Hasard in den Schützengräben eine neue Fratze aufgezwungen wurde. Zugleich ist Kasdas Hasardspiel, sein Bedürfnis nach dem Spiel, eine archäologische Grabung in einer Zeit, die noch gar nicht weit zurückliegt und schließlich diejenigen Spuren noch erkennen lässt, die von der Wandlung des gründerzeitlichen Hasard in denjenigen der Grabenlabyrinthe zeugen. Die „Welt vor dem großen Kriege“ wird in den Zwanzigerjahren sowohl als vorausfallender Schatten als auch als fundamentaler Kontrast sichtbar gemacht, vorweislich mit ihrem Anteil am „Beginn“ jenes Krieges, mit dem „so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat“, um ein berühmtes Wort Thomas Manns aus dem Vorsatz des Zauberbergs (1924) zu entlehnen.3 Manns durchkomponiertes Epos eines Aus-der-WeltSeins in der inzwischen weit entfernten Jahrhundertwende bringt ebenfalls noch einmal das Glücksspiel der transzendentalen Heimatlosigkeit zurück. Ein Abschnitt des siebten und letzten Kapitels trägt den Namen des Spiels Vingt et un. (Dass es im dritten Abschnitt steht und somit das Produkt aus Abschnitt und eben siebtem Kapitel benennt, darf vielleicht einmal als reiner Zufall gelten). Die Rekonvaleszenten verbringen in diesem Kapitel einen munter regsamen Abend miteinander. Man tischt Wein, Süßes und Obst auf und genießt schließlich eine Partie des titelgebenden Kartenspiels. Erster Halter der Bank ist der betriebsame Peeperkorn; „doch trat er sie bald an Herrn Albin ab, da, wenn man ihn recht verstand, das Amt ihn am freien Genusse der Umstände hinderte“4. Ein schöner Rausch des Zufälligen wird gegen die Belastung des supervisorischen Rechnens in Position gebracht: „Ersichtlich war das Hasard ihm Nebensache. Man spielte um nichts, seiner Meinung nach, hatte fünfzig Rappen als kleinsten Einsatz ausgerufen nach seinem Vorschlage, doch war das sehr viel für die Mehrzahl der Beteiligten; Staatsanwalt Paravant sowohl wie Frau Stöhr wurden abwechselnd rot und blaß, und namentlich diese wand sich in furchtbaren Kämpfen, wenn sie vor der Frage stand, ob sie bei achtzehn noch kaufen sollte. Sie kreischte laut, wenn Herr Albin ihr mit kalter Routine eine Karte zuwarf, deren Höhe ihr Wagnis über und über zuschanden machte, und Peeperkorn lachte herzlich darüber.“5
Wie Konsul Schnabel dem Leutnant Kasda sitzt der fidele Peeperkorn seinen Mitspielerinnen und Mitspielern gegenüber, deren lebhafte Reflexe einen musealen
3
Mann, Der Zauberberg, S. 9f.
4
Ebd., S. 848.
5
Ebd.
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Schauwert erhalten. Das vitalisierende Glücksspiel kann in dem klösterlichen Rückzugsraum für den munteren alten Mann kaum ökonomische Bedeutung entfalten, wohlgleich es für seine Mitspieler dahingehend durchaus keine Lappalie darstellt. Im Konservatorium einer ganzen Epoche und der Abdrücke ihrer Narration herrscht eine eigentümliche Hygiene fiktionaler Parameter, in denen das Ereignis des Hasard einen rudimentären Konflikt wiederholt: Zeit und Bedeutung des Erzählens sind aus den Fugen,6 das Geschehen ist mit einem angenehmen Schleier des Ablaufens versehen, für den die Züge des Vingt et un einen hinfälligen Maßstab liefern. Peeperkorn weiß dieses dekadente Voranschreiten auf Hypothek auszukosten, während die niedrigen Summen und darin bedeutungsschwachen Zufälle für Frau Stöhr eine ganz andere Geschichte erzählen, das Blut in Wallung bringen und sich in Symptome der Aufregung und Spannungsentladung übertragen. Mit dem Zufall wird abermals um die Bedeutung des Erzählens gespielt, in diesem Fall als Herausforderung dessen, dass auf dem Zauberberg eine grundsätzliche Störung der Kontinuitäten und Zusammenhänge vorliegt, die immer wieder in Differenz zur progressiven Welt am Fuße des Berges stehen: „Jubel und Verzweiflungsausbrüche, Entladungen der Wut und hysterische Lachanfälle, hervorgerufen durch den Reiz, den das bübische Glück auf die Nerven ausübte, ereigneten sich, und sie waren echt und ernst, – nicht anders hätten sie lauten können in den Wechselfällen des Lebens selbst.“7 Das Zufallsspiel zeugt von einer auf Rückruf gehaltenen Vorführung dieses „Lebens selbst“. Der Hasard kollidiert mit seiner Insignifikanz auf dem Höhenkamm des Spitals, wird aber gerade deswegen sinnhaft, weil es dort als Simulakrum von Bedeutung und Reflex fungieren kann. Der Authentizitätsgrad dieser Reaktionen findet sich als permanenter Widerstreit zwischen Echtem und Erzeugtem in der Praxis des Glücksspiels exemplarisch gespiegelt. So kann auch ein Spiel um kleine Beträge und überhaupt im anökonomischen Areal des Zauberbergs einen Sinn gewährleisten, eine Geschichte erzählen, gerade weil es eine Doppelung dieser wertfreien Situation manifestiert. Diesen Zug des Spielens mit dem Zufall literarisch zu beobachten, artikuliert diejenige Nuance des narrativen Hasard, die von einer Wiederholung der Kontingenz des Erzählens im Text via Wiederholung eigener, kontingenter Züge erzählt. Thomas Manns Nervenkunst des Glücks wie auch Kasdas neurotisches Spiel stehen im krassen Gegensatz zur Belegung des Hasard im echten Leben des entre deux guerres. Anhand eines Feuilletons von Siegfried Kracauer, das 1931 einen Überblick über Glück und Schicksal ankündigt, wird deutlich, wie das Bild des Spielers seit den
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In dem Abschnitt weist der Erzähler mehrere Male darauf hin, wie unzuverlässig das Zeitempfinden im Laufe der Geschehnisse auf dem Zauberberg geworden ist. So wird etwa das vergangene „Einst [...] vage; Erzähler, Held und Leser sind nicht mehr ganz im klaren über seinen Vergangenheitsgrad“. Ebd., S. 840f.
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Ebd., S. 849.
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roaring twenties eskalierte. Hasardeure fügen sich in die Vorstellung eines widerstandsfähigen Lebensstils inmitten der Krise, welcher in Folge der Erfahrungen von Modernisierung und Zivilisationsbruch einer normativen Gefolgschaft des Bürgers die Fantasie individueller Machbarkeit bei gleichzeitiger Verweigerung entgegenhält. Spieler finden sich als halbseidene „Glücksspekulanten“, als „Abgebaute“ und „Arbeitslose“ in ihren zwielichtigen Kaschemmen wieder: „Provisorisch stehen die Automaten herum, die seine Spender sind [des Glücks, S.T.], und der Marketender, der im Zug der Fortuna nicht fehlen darf, haust in einer dürftigen Ecke.“8 Das Glücksspiel ist einmal mehr zum Orientierungspunkt der Orientierungslosen, zum Instrument der Rückversicherung nach dem inflationsbedingten Verlust der Berechnung geworden. Ein geheimbundartiges, esoterisches Odeur trifft auf das halblegale Milieu einer energischen Boheme in Zeiten der Wirtschaftskrise, deren Ausmaße weniger Lebensflucht als Lebensmodus bedeutet. Der Mensch hinter dem Spieltisch verlangt nach wie vor „Auskunft über die geheimen Kräfte, die in ihm selber stecken und ihn am Ende doch emportragen werden“9. Nur geht es nicht länger um ein Verfahren theoretischer Restauration, sondern um die Momente der Bestätigung des Egos. Weniger der kurzfristige Gewinn, sondern die Nachstellung dessen, dass schnelle Veränderungen und plötzliche Umschläge das eigene Leben zu beschleunigen und zu verändern vermögen, werden probiert: „Jedenfalls gestehe ich bedenkenlos ein, daß mir die automatisch gegebene Zusicherung, ich werde in Bälde Nachricht von einer großen Erbschaft erhalten, schon eine kleine Erleichterung gebracht hat.“10 Die „Tische, auf denen lauter Kügelchen rollen“11 funktionieren zugleich als „WahrsageApparat“, passen aber auch gut zu jenem „Guckkasten“, der nebenan bereit steht, und in dem es Szenen zu beäugen gibt, „die ausschließlich für Herren reserviert sind“12. Die pornografische Lust des Schauens kombiniert sich im Glücksspiel mit der Aktualisierung des Zufalls als Garant für einen Schicksalsbegriff, der sich dadurch auszeichnet, jederzeit umschlagen zu können. Die doppelte Funktion des Glücksspiels als Ereignismaschine bzw. als Simulation von Ereignissen einerseits, sowie als Produzent von Szenen und Schaulust andererseits zieht frische, „quecksilbrige Protagonisten“13 an, die mit dem Reiz einer amoralischen und asozialen Lebenskultur auch in die literarischen Paläste eingelassen werden, um in ihnen Flüsterkneipen großen Stils zu eröffnen. Diese Literatur stellt zuweilen sogar eine Hauptquelle ihrer Begutachtung dar: Wo sonst kann man jener
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Kracauer, Glück und Schicksal, S. 380.
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Ebd., S. 381.
10 Ebd. 11 Ebd., S. 380. 12 Ebd., S. 381. 13 Brittnacher, Spieler, Schwindler und Hochstapler, S. 203.
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ephemeren und flüchtigen Akteure habhaft werden, die zwischen Boudoir, Polizeirevier und der Ecke einer Hotelsuite, Loch im Bauch inklusive, immer darauf bedacht sind, unter dem Radar staatlicher Beobachtung und ihres ebenso zwielichtigen Spitzelwesens zu fliegen?14 Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte erzählen davon, wie in der Weimarer Republik ein gespaltenes, neusachliches Individuum das Autoritätsvakuum des untergegangenen Kaiserreichs per paradoxer Affirmation einschlägiger Anweisungskataloge aus dem alternativen Reich devianter Opposition kompensierte: „Einerseits manifestiert sich in ihnen [den Verhaltenslehren, S.T.] das Einverständnis mit dem Objektstatus des Menschen, andererseits halten sie trotzig an der Machbarkeit des Schicksals fest.“15 Die Verschleierung des Gefühls und eine bis zur Ununterscheidbarkeit vollführte Maskerade spült den Typus der Einwilligung in ein konsolidiertes Schema aus Unverbindlichkeit empor: „Die Gestalt mit der einfachen Kontur ist zwar ‚unterkomplex‘, hat aber den Vorteil, entscheidungsfähig zu sein. Wozu sie sich entscheidet, bleibt erst einmal abstrakt; sie will mobil sein in einem Prozeß, in dem ihr Mobilität aufgezwungen ist.“16 Einer der Theoretiker dieser Inkarnation der kalten Persona ist Walter Serner, Überdadaist der Züricher Hochphase und anschließend Verfasser erotisch-kriminalistischer Kurzgeschichten aus dem Glücksritter- und Hochstaplerbiotop. Der Erzähler seines einzigen Romans Die Tigerin (1925) legt zu Beginn die Karten auf den Tisch. Eine offenkundig selbstverständliche Verbindung zwischen Demimonde und Hasard wird darin ex negativo als Klischee dieses Lebensstils entlarvt: „Kein Mensch wußte, wovon er eigentlich lebte. Das ist zwar in den maßgebenden Kreisen von Paris die Voraussetzung dafür, ernst genommen zu werden; der Umstand aber, daß man Fec weder spielen sah, noch je in deutlicher Gesellschaft eines weiblichen Wesens, kurz niemals in einer jener Situationen, welche immerhin gewisse Anhaltspunkte für etwaige Einkünfte bieten, hatte die im allgemeinen unvorteilhafte Folge, daß man ihn nicht ernst nahm.“17
14 Mit Verweis auf einen Artikel des Neuen Wiener Tagblattes von 1919 erläutert Manfred Zollinger die Schwierigkeiten des Historikers, sich einer klandestinen und ausweichenden Gestalt zu nähern, wie sie der Spieler insbesondere unter dem Deckel der Illegalität und ansonsten der moralischen Desintegration darstellt. Gemäß des Tagblattes ist die Flüsterkneipenwelt, in der sich der österreichische Glücksspieler bis tief in die 1930er-Jahre hinein verstecken musste, ein hinderlicher Schauplatz polizeilicher Beobachtung; die Begutachtung würde daher auch dem spurensuchenden Historiker nicht leicht gemacht. Vgl. Zollinger, Geschichte des Glücksspiels, S. 18f. 15 Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, S. 37. 16 Ebd., S. 53. 17 Serner, Die Tigerin, S. 5.
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In sernerscher Ironie wird ein Eindruck vom Hochstapler entworfen, der in der kriminellen Sphäre ganz natürlich mit dem Stereotyp des Hasardeurs assoziiert ist. Dieses Stereotyp zu unterlaufen, bedeutet zugleich, sich dem pauschalen Verdacht des maskierten Kollegiums auszusetzen. Darüber hinaus ist ein Bezug auf eben dieses neue Bild literarischer Verarbeitung des entsprechenden Milieus erkennbar: Wer sich in den dunklen Gassen der großen europäischen Städte tummelt, der spielt, betrügt und ist entweder Zuhälter oder Prostituierte. Mit der ökonomischen Inflation strömte Anfang der Zwanzigerjahre auch eine Flut derartiger Sozialcharaktere des Schattenreichs in der Spannungsliteratur auf den Markt. Viele dieser Texte, etwa Hugo Bettauers Hemmungslos (1920), sind heute nahezu wieder vergessen. Norbert Jacques’ Dr. Mabuse, der Spieler (1921) hat es hingegen aufgrund der einschlägigen Inszenierung Fritz Langs in zwei Spielfilmen, die im Frühjahr 1922 anliefen, zu nachhaltigem Ruhm gebracht und Bilder dieser Welt über Zelluloid in das kulturelle Gedächtnis gebrannt.18 Das Hasardthema knüpft in dieser Zeit auch aus dem filmischen Blickwinkel weniger ein Band zwischen Ereignis und Bedeutung des Zufalls, wie es bei den urbanen Parvenu-Vorbildern Lucien Chardon oder Rastignac noch der Fall gewesen ist, sondern gibt sich ganz der Augenweide einer Geheimgesellschaft jenseits alltäglicher Sichtbarkeit hin. Bereits als junger Mann, noch vor dem Krieg, hat Serner einen kleinen Text mit dem Titel Kino und Schaulust (1913) veröffentlicht, in dem die Relevanz dieser Vokabel – „Schaulust“ – betont wird. Sie soll eine dem Menschen eigene Faszination an der sinnlichen Teilhabe, am Sehen des Exzeptionellen besprechen: „Und schaut man dahin, von wo dem Kino der letzte Groschen zufliegt, in diese seltsam flackernden Augen, die weit in die Geschichte der Menschheit zurückweisen, so steht mit einem Mal riesengroß da: Schaulust.“19 Der Erfolg des Kinos erklärt sich über ein basales Begehren nach Anwesenheit in der Szene des Geschehens, das weit in Geschichte und Mythos zurückreichend sich beobachten lässt: „Jene Schaulust, die leuchtenden Auges vor dem flammenübergossenen Troja stand und in den wilden Prunkfesten der alten Welt, die beim Licht der lebenden Fanale Neros promenierte und dem brennenden Rom das rote Lied von Blut und Feuer sang; die Richtplatz und Scheiterhaufen des Mittelalters umjohlte und in stets neuer (und meist enttäuschter) Erwartung das Turnier betrat; die in einem Fenster auf der Place du Louis Quinze lag, Ströme Blutes aus enthaupteten Rümpfen brechen und hinter den gegenüberliegenden Fenstern die wüstesten Debauchen sah.“20
18 Zur Verbindung von Hasardeur und Hochstapler in den Zwanzigerjahren, vgl. Brittnacher, Spieler, Schwindler und Hochstapler. Vgl. auch Kucher, Deklassierte und Glücksritter. 19 Serner, Kino und Schaulust, S. 126. 20 Ebd.
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Damit sind Parallelen zwischen Kino und solchen historischen Momenten der Schaulust aufgerufen, die auch seinerzeit Balzac im Peau de chagrin anführte, um das Palais-Royal als Nachfolger von Gladiatoren- und Stierkämpfen bzw. öffentlichen Hinrichtungen zu kennzeichnen.21 Das Casino war auch immer eine Bühne, welche das Begehren des Publikums befeuerte, jenen konzeptionellen Widerstreit zwischen Zufall und Schicksal anhand exemplarischer Einzelereignisse zu beobachten. Dostoevskijs Babuschka fasziniert während ihrer Stippvisite des Spielsaals besonders „das Roulette und das rollende Kügelchen [...]. Schließlich wünschte sie, dieses Spiel aus der Nähe zu beobachten“22. Das Glücksspiel aus der Nähe zu sehen, es näher zu begutachten, resultiert aus seiner Vermengung der technischen Anziehung durch wundersame Maschinen und ihre „rollenden Kügelchen“, und den Geschichten, die sie im Augenblick der Würfelfälle erzählen. Nachdem das Kino diese Faszination übertrumpft hat, verändert sich der Gehalt jener Rouletteräder und Kartenblätter, die beispielhafte Narrative mit sich führen. Hochstapler, Verbrecher, überhaupt das Lumpenproletariat beginnen weniger um das eigene Schicksal zu spielen, als durch das Spiel davon zu erzählen, dass sie gültige Figuren sind. Neben der Prosa eines bis heute unterschätzten Autors wie Serner schlägt sich dies insbesondere in der amerikanischen Literatur der Zwischenkriegszeit nieder, die eine neue Inkarnation des devianten, baumstarken Mannes als Macher am Spieltisch produziert. Dashiell Hammett beginnt seine klassische Hard-boiledDetektivgeschichte The Glass Key (1930), bei der der Ermittler selbst aus den Reihen des organisierten Verbrechens stammt, mit einem bedeutungsschwangeren Schnitt auf die Begegnungen des Zufalls am Spieltisch: „Green dice rolled across the green table, struck the rim together, and bounced back. One stopped short holding six white spots in two equal rows uppermost. The other tumbled out to the center of the table and came to rest with a single spot on top.“23 Konnte eine solche rein physikalische Kette des Zufalls, bei der die grünen Würfel mit ihrem grünen Hintergrund verschmelzen und in einzelnen Bewegungen zwielichtige Aussagen nacheinander treffen – konnte eine solche Konfiguration einen Kasda noch in den Mahlstrom des Verderbens reißen, hat die kalte Persona nur noch ein desinteressiertes Onomatopoetikum übrig: „Ned Beaumont grunted softly – ‚Uhn!‘ – and the winners cleared the table of money.“24 In Wild-West-Manier wird eine Figur der Resistenz und damit auch Kontrolle über das Spiel etabliert, die eine wunscherfüllende Erhabenheit dem Schicksal gegenüber darstellt. Lotterer und Abenteurer finden sich wiedervereint,
21 Vgl. Balzac, La Peau de chagrin², S. 59. 22 Dostoewskij, Der Spieler2, S. 110. 23 Hammett, The Glass Key, S. 1. 24 Ebd.
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wodurch der Weg schließlich frei wird für weniger komplexe Figuren wie Ian Flemings James Bond, dessen Spieleinsätze unter der Aufsicht ihrer Majestät in Casino Royale (1953) vom jeu pour le jeu weiter entfernt nicht mehr sein könnten. Als belangvolle Figuren, die zwischen den beiden Kontinenten und darin auch zwischen der Immunität des Hochstaplers gegen das eigene Schicksal und der nervenzerreißenden Begierde des modernen Hasardeurs positioniert sind, können B. Travens spielende Proletarier gelten. Das Totenschiff (1926) übt sich etwa in einer einschlägigen Entmystifizierung des Abenteuer- und Seefahrerromans unter den Auspizien einer kapitalistischen, industriellen Moderne, die den Lohnarbeiter strukturell zum Verlierer stempelt und in eine Rolle individueller Resistenz drängt. Der Seemann Gerald Gales pendelt im Totenschiff als Spielball einer paradoxen Nachkriegsbürokratie von Station zu Station. Ein aktiver Eingriff in das eigene Schicksal wird dabei mit dem Genuss des punktuellen Reagierens auf die Repräsentanten von formellen und informellen Machtsystemen vertauscht. Die Parameter des bürgerlichen Lebens sind zugunsten einer willkürlichen Schicksalserfahrung preisgegeben, die mit der Stärke eines individualanarchischen Lebensbegriffs einhergeht: „Es ist doch nicht des Habens wegen, daß man lebt, sondern des Wünschens, des Wagens, des Spielens wegen, daß man lebt.“25 Gales’ Mentalität insistiert auf einer aktionsreichen Hingabe an Risiko und Zufall als essentiellen biografischen Koordinaten. Auch hier wird ersichtlich, inwiefern das Spiel in den metaphorischen Kanon einer bestimmten Existenzweise aufgenommen wird, die einen selbstbewussten Umgang mit dem Skandalösen des Zufalls zumindest vorgibt. Von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwartsliteratur gibt es schließlich wieder zahlreiche Texte, die noch von Kontinuitäten der Epistemologie und Narratologie des Hasard im 19. Jahrhundert zeugen, wobei etwa mit suggestiven Formeln des Verhältnisses von Leben und Entscheidungsüberfluss gespielt (z.B. Luke Rhineart: The Dice Man, 1971), oder gleich eine Ungewissheit in den Verhältnissen zwischen Ereignis und steuernden Instanzen verstetigt wird (z.B. Paul Auster: The Music of Chance, 1990). Parallel zu einem solchen Erzählen in Kontingenz sind Literaturtheorien aufgetreten, die vorzugsweise mit analytischem Ansatz in Anschluss an Leibniz’ Kompossibilitätsparadigma Fiktionsbegriffe möglicher Welten präsentieren. Diese Ansätze scheinen dabei auf entsprechende literarische Spiele mit dem Tatsächlichen des Erzählten zu reagieren, indem sie etwaige narrative Kontradiktionen, Paradoxien, Ambiguitäten und Tilgungen systematisch, geradezu formal-logisch zu handhaben versuchen.26 Die Orientierung etwa an Freges Wahrheitswerten oder Austins Sprechakttheorie wird allerdings in der Argumentation und den Lösungsansätzen auffällig, sobald bis zur Deckungsgleichheit exklusiv fiktionale Texte der Poiesis zuzuordnen seien. Tatsachen literarischer Texte sollen sich nun im Verhältnis zum Akt ihrer 25 Traven, Das Totenschiff, S. 109. 26 Vgl. dazu u.a. Ronen, Possible Worlds in Literary Theory.
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Hervorbringung verstehen lassen: „They are true or false in/of the fictional world that is available as evidence after it has been constructed by the author’s writing.“27 In diesem Denken einer möglichen Welt der Literatur, die einer notwendigen Welt der Geschichtsschreibung entgegengestellt ist, wird ein verbindliches Innen-Außen-Verhältnis von Literatur überstrapaziert. Literarische Texte werden in dem Maße zum kontingenten Raum per se, in dem sie gegen physikalische Gesetze oder historische Selbstverständlichkeiten zu verstoßen vermögen, nicht aber über eine generelle Eruierung ihres poetischen Zufälligkeitssinns, der auch ohne positivistische Kenntnisnahme außerliterarischer Komplementärtexte denkbar ist. Ein exemplarisches Moment finessenreicher literarischer Kontingenz, nebst ihrer Verbindung mit dem Hasard, das die Erzählstrategien der vergangenen fünfzig Jahre konturiert und zugleich eine zugehörige Theorie mitformuliert, bietet die kurze Erzählung Manuskriptfund in einer Jackentasche (Manuscrito hallado en un bolsillo, 1974) von Julio Cortázar.28 Der Text verbindet Spiel und Flanerie auf einem Feld infrastruktureller tyche, nämlich in den Schächten und Waggons der Pariser Métro. Die zufälligen Begegnungen der sich ihrerseits überkreuzenden U-Bahn-Linien verwandeln das gigantische Verkehrsmittel in ein intersubjektives Roulette, für das der Erzähler eine eigene ludische Bedienungsanleitung erdacht hat: „Meine Spielregel war wahnsinnig einfach, war schön, stupide und tyrannisch; wenn mir eine Frau gefiel, wenn mir eine Frau, die mir gegenübersaß, gefiel, wenn mir eine Frau, die mir gegenüber am Fester saß, gefiel, wenn der Blick ihres Spiegelbilds im Fenster dem Blick meines Spiegelbilds im Fenster begegnete, wenn mein Lächeln im Spiegelbild des Fensters das Spiegelbild der Frau im Fenster verwirrte oder ihm gefiel oder ihm mißfiel, wenn Margrit mich lächeln sah und Ana den Kopf senkte und eingehend den Verschluß ihrer roten Tasche untersuchte, dann lief das Spiel, ganz gleich, ob mein Lächeln beachtet, erwidert oder ignoriert wurde, [...].“29
Im Anschluss an diese initiale Begegnung der sich spiegelnden Blicke beginnt ein Verfolgungsschwank: Das Lächeln in der Fensterscheibe erwirkt „das Recht, einer Frau zu folgen und verzweifelt zu hoffen, daß sie in dieselbe Linie umsteigen werde, für die ich mich vor jeder Fahrt entschieden hatte [...].“30 Die Knotenpunkte der Stationen stellen auch die nunmehr dem automaton des Zufalls überlassene Verbindung von alea und eros her. Liebes- und Zufallsspiel treten in eine altbekannte Auseinandersetzung, bei der in dieser Erzählung erst ein Ausstieg aus U-Bahn, Unterwelt und 27 Doležel, Possible Worlds of Fiction and History, S. 42. 28 Ich danke herzlich Reinhard Babel, der mich auf diese Erzählung aufmerksam gemacht hat. 29 Cortázar, Manuskriptfund in einer Jackentasche, S. 43. 30 Ebd., S. 44.
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den Zufallsregeln des Hasard eine Begegnung ermöglicht. Nur mit dem Bruch der Regel des Zufalls, lässt sich endlich ein Ergebnis erzwingen. Da dies allerdings dadurch keine tyche mehr ist, sondern der Wille über den Hasard dominiert, wird die Partie ungültig. Der Falschspieler wird zum Spielverderber und so muss die Runde von vorn begonnen werden. Bereits eingangs hatte der Erzähler vermerkt, dass ihm „die schlimmsten Fehlschläge lieber waren als die stupiden Verkettungen alltäglicher Kausalität“31. Die Konnektivität der Métro stellt auf diese Weise eine Struktur des Erzählens bereit, anhand derer das Berichten einer rein zufälligen Abfolge von Ereignissen abgebildet werden kann. Der Betrug des Spiels, der Wahn, „dies eine Mal das Gesetz, den Code zu mißachten“32, bricht auch mit diesem poetischen Konzept. Das Ereignis muss folglich rückgängig gemacht und getilgt werden. Dass es sich dabei nicht nur um eine Theorie des Erzählens in Kontingenz handelt, sondern vielmehr eine des Hasard, wird gleich im ersten Satz eingestanden: „Nun ich das niederschreibe, muß ich denken, daß es für andere vielleicht das Roulett [sic!] oder der Turf gewesen wäre, doch nicht hinter Geld war ich her, irgendwann hatte ich das Gefühl, hatte ich beschlossen, daß eine Fensterscheibe in der Metro mir die Antwort geben, zu der glücklichen Begegnung führen konnte, gerade dort, wo alles unter dem Zeichen der unerbittlichsten Trennung geschieht, in einer Zeit unter der Erde, die von einer Strecke zwischen Stationen vorgezeichnet und begrenzt ist, ein für allemal unter der Erde.“33
Die Position „unter der Erde“, im fiktionalen Traumland der zufälligen U-Bahn, schafft eine Korrespondenz mit dem Spielsaal, wie er aus dem Palais-Royal oder den Häusern Roulettenburgs bekannt ist: Die entökonomisierte Gestalt des Spiels führt in der Erzählung zu einer Frage darüber, wie Ereignisreihen aneinandergeheftet werden können, indem diese Frage zugleich als Ereignis inszeniert wird. Der Erzähler begehrt neben dem Wissen von der Ankunft des eigenen Schicksals noch vielmehr eine permanente Beobachtung der Routen, die es im unterirdischen Räderwerk, im Verborgenen nimmt. Doch es sind gerade diese Routen, in denen das Schicksal stets ankommt, wenn es sich wieder in Bewegung setzt. Die Route der Schickung rotiert in unverzagten Manövern der Kontingenz. Der abrupte Abbruch friert es nur ein, ohne das tödliche Eingedenken zu erreichen. So muss auch die hiesige Schickung des Hasard enden, nur mit der Möglichkeit, ein eingefrorenes Standbild auf Abruf zu hinterlassen. ***
31 Ebd., S. 42. 32 Ebd., S. 47. 33 Ebd., S. 40.
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Der Guckkasten des Spiels stattet es als Szene mit eigenem Wert und eigener Spannung aus, die es aber nur aufgrund seiner unterstellten Funktion als Wahrsage-Automat erhält: Die Erwartung des nächsten Ereignisses ist immer auch die Erwartung, beobachten zu dürfen, wie ein Ereignis zustande kommt, welcher Regel es eventuell folgen mag, gegen welche es verstoßen muss, welche Form der Regellosigkeit in ihm sich materialisiert oder in welchem Glanz es in die Szene tritt. Die innere Auseinandersetzung zwischen Zufall und Schicksal ist eine philosophische, auch in der Literatur, wenn sie vor der Aufgabe steht, im Erzählen ihre Kontingenz mitzuerzählen und dafür das Verhältnis zu verlieren droht. Von Hoffmann bis Schnitzler scheint das literarische Glücksspiel zwei Spuren hinterlassen zu haben: Erstens als bestimmte Signatur der Selbstvergewisserung einer sich wandelnden und differenzierenden Prosatradition, die zwischen Sinnhaftigkeit und Zwecklosigkeit von Erzählen und Leben schwankt. Und zweitens in der Kennzeichnung einer außerliterarischen kulturellen Prozessualität, die Evolution und Abweichung von Gesetzmäßigkeiten, etwa der Ökonomie, aber auch der Ökonomie des Erzählens, kommentiert. Der Reiz des Casinos besteht darin, diese zwei Gegenstände zusammentreten zu lassen: Das modische, ästhetische, deviante Kolorit einer Szene außerhalb der Welt; und die begehrliche Angelegenheit permanenter Zufallsproduktion, die dem Menschen eine tödliche Vorstellung gestattet, einen Impuls, zu einer gewissen Gesetzlosigkeit zurückzukehren, die weder von Mode, von Kunst noch von Devianz etwas versteht.
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Lettre Hildegard Kernmayer, Simone Jung (Hg.) Feuilleton Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur Juli 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3722-9
Andrea Allerkamp, Matthias Preuss, Sebastian Schönbeck (Hg.) Unarten Kleist und das Gesetz der Gattung Juni 2017, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3500-3
Maria Kirchmair Postkoloniale Literatur in Italien Raum und Bewegung in Erzählungen des Widerständigen Juni 2017, ca. 248 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3773-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie April 2017, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.) Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt September 2016, 318 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3266-8
Stefan Hajduk Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit Juli 2016, 516 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3433-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2
Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016
November 2016, 160 S., kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3578-2 E-Book: 14,99 € Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften dient als kritisches Medium für Diskussionen über »Kultur«, die Kulturwissenschaften und deren methodische Verfahren. Ausgehend vom internationalen Stand der Forschung sollen kulturelle Phänomene gleichermaßen empirisch konzis wie theoretisch avanciert betrachtet werden. Auch jüngste Wechselwirkungen von Human- und Naturwissenschaften werden reflektiert. Diese Ausgabe untersucht das soziale Phänomen der Diskriminierung. Was bedeutet Diskriminierung? Worauf basiert sie? Wie werden diskriminierende Merkmale identifiziert? Die Untersuchungen verbinden verschiedene Perspektiven, solche aus der Literatur- und Kulturwissenschaft, der Psychologie, der Medizin und der Sportwissenschaft. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 20 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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