Hans Fallada: Autor und Werk im Literatursystem der Moderne 9783110227130, 9783110227123

This collective volume interprets the texts of Fallada as an expression of the “ideology of life” which was typical for

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German Pages 287 [288] Year 2011

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Table of contents :
Literarisierung von Literalität. Zur literalen Welt der zweiten Ordnung in ausgewählten Romanen Hans Falladas
Herrschaft und Dienerschaft. Aspekte sozialer Kontrolle und politischer Ordnung in Hans Falladas Roman Wolf unter Wölfen
»Lebenswirklichkeit« im »gespaltenen Bewußtsein«. Hans Falladas Wolf unter Wölfen und die Erzählliteratur der 30er Jahre
»Was ein junger Mann vor und von der Ehe wissen muß«. Zur frühmodernen Konzeption der Sexualpathologie in Hans Falladas Roman Wolf unter Wölfen (1937)
Anstand. Hans Falladas moralischer Imperativ
Jedermann ein Denunziant. Anmerkungen zur vergangenen und gegenwärtigen Aktualität von Jeder stirbt für sich allein
Das ›Gesicht‹ der Sucht. Ein Aspekt der literarischen Physiognomik Hans Falladas
»Unkontrollierbare Geschichten«, die Bedingungen ihrer Hervorbringung und ihr epochengeschichtlicher Ort. Hans Falladas Gefängnistext Im Blinzeln der Großen Katze
»Kein Mensch ist ganz schlecht, auch Sophie ist es nicht«. Aspekte eines abweichenden Lebenslaufs in Hans Falladas Wolf unter Wölfen
»Wird doch etwas Lebendiges geboren aus dieser fauligen Zeit?« Paarbildung und -bindung in Hans Falladas Wolf unter Wölfen
Gebanntes Schauen und protokolliertes Sehen. Kinokritik und Kinoprosa bei Hans Fallada
Krisen, Kriminalität und Katastrophen. Falladas Lebensläufe nach abfallender Linie
Selbstfindung und Selbstverlust. Aspekte der textinternen Anthropologie in Hans Falladas Wolf unter Wölfen (1937)
»Der Kleinbürger« in der erzählenden Literatur um 1930
Fallada’s Modernist Characters in his Berlin Novels Little Man, What Now?, Wolf Among Wolves and Every Man Dies Alone
ANHANG
»Sehr viel wahrer ist in Deutschland seither nicht geschrieben worden«. Forschungs- und Tagungsbericht
Hans Fallada. Auswahl-Bibliographie der Briefe und der Sekundärliteratur
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Hans Fallada: Autor und Werk im Literatursystem der Moderne
 9783110227130, 9783110227123

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Hans Fallada

Hans Fallada Autor und Werk im Literatursystem der Moderne Herausgegeben von

Patricia Fritsch-Lange und Lutz Hagestedt

De Gruyter

Für Martin Lindner Lektorat: Petra Porto und Stefan Tuczek

ISBN 978-3-11-022712-3 e-ISBN 978-3-11-022713-0 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Hans Fallada : Autor und Werk im Literatursystem der Moderne / edited by Patricia Fritsch-Lange, Lutz Hagestedt. p. cm. Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-022712-3 (alk. paper) 1. Fallada, Hans, 1893-1947 - Criticism and interpretation. I. Fritsch-Lange, Patricia, 1961- II. Hagestedt, Lutz, 1960PT2607.I6Z65 2011 8331.912-dc23 2011033247

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Einbandabbildung: Hans Fallada am Schreibtisch in Carwitz (Literaturzentrum Neubrandenburg e.V. / Hans-Fallada-Archiv) Satz: Ricardo Ulbricht Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

»Sehr viel wahrer ist in Deutschland seither nicht geschrieben worden.« (Jörg Fauser)

Vorwort der Herausgeber Mit der Konferenz »Hans Fallada und das Literatursystem der Moderne« wurde im Juli 2009 die erfolgreiche Reihe der »Internationalen Hans-Fallada-Konferenzen« im Hans-Fallada-Museum Carwitz fortgesetzt. Das mecklenburgische Dorf Carwitz war von 1933 bis 1944 der Lebensort Hans Falladas, einem der erfolgreichsten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Hier schuf er den größten Teil seines epischen Werkes. Heute ist sein Wohnhaus zu einem modernen Memorialmuseum umgestaltet, im Erdgeschoss des Nebengebäudes befindet sich ein moderner Veranstaltungssaal, darüber ist das Hans-Fallada-Archiv beheimatet. Hans Fallada ist dank der Bemühungen seiner Erbepfleger auch fast 65 Jahre nach seinem Tod präsent; und nicht nur das: er hat den Menschen auch unserer Zeit Wichtiges zu sagen. Wie anders ließe sich der überwältigende gegenwärtige Erfolg seines letzten Romans Jeder stirbt für sich allein erklären? Gründe genug also für renommierte Literaturwissenschaftler, sich an diesem literarischen Ort erneut mit dem Schaffen Hans Falladas als Vertreter der Literarischen Moderne auseinanderzusetzen. Beschäftigten sich die Internationalen Hans-Fallada-Konferenzen von 1993 und 1995 noch hauptsächlich mit der autobiographischen Dimension des Werkes, öffnete sich mit den Konferenzen 2002 und 2005 das Feld für poetologisch-erzähltechnische und gesellschaftspolitische Aspekte. Über diese Ansätze hinausgehend, sollte Falladas Werk 2009 noch intensiver als Ausdruck eines kollektiven Krisenbewusstseins angesichts massiver Umbrüche im gesellschaftlichen Wertesystem analysiert werden. Ein Anspruch, dem sich die Referenten aus unterschiedlichen Richtungen näherten, eine Herausforderung, die sie – im Vortrag wie in der Diskussion – mit spannenden Thesen in ausgefeilter Argumentation annahmen. Veranstaltet wurde das Symposium von der Hans-Fallada-Gesellschaft e. V. und der Universität Rostock. Gefördert wurde es durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes MecklenburgVorpommern, die Gemeinde Feldberger Seenlandschaft, die Hans-FalladaStiftung, die Verlage Rowohlt und Aufbau sowie die Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses

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Patricia Fritsch-Lange/Lutz Hagestedt

des Deutschen Bundestages. Ihnen allen wie auch den tatkräftigen Helfern vor Ort, die den reibungslosen organisatorischen Ablauf der Veranstaltung gewährleisteten, sagen die Veranstalter herzlichen Dank. Ebenso sei den Referentinnen und Referenten für ihre Teilnahme und ihr Engagement für den Forschungsgegenstand Fallada ausdrücklich gedankt. Der vorliegende Konferenzband dokumentiert – mit einer Ausnahme – die Referate des Symposiums. Angereichert wurde er mit zwei thematisch verwandten Aufsätzen von Heribert Hoven und Reinhard K. Zachau. So lassen sich Einblicke in den aktuellen Stand der Fallada-Forschung gewinnen. Im August 2011 Patricia Fritsch-Lange Hans-Fallada-Gesellschaft e. V. Vorsitzende

Prof. Dr. Lutz Hagestedt Universität Rostock

Inhalt Ralf Georg Bogner Literarisierung von Literalität. Zur literalen Welt der zweiten Ordnung in ausgewählten Romanen Hans Falladas ........................ 1 Torsten Ehlers Herrschaft und Dienerschaft. Aspekte sozialer Kontrolle und politischer Ordnung in Hans Falladas Roman Wolf unter Wölfen .......................................................................... 13 Gustav Frank/Stefan Scherer »Lebenswirklichkeit« im »gespaltenen Bewußtsein«. Hans Falladas Wolf unter Wölfen und die Erzählliteratur der 30er Jahre ............................................................................... 23 Lutz Hagestedt »Was ein junger Mann vor und von der Ehe wissen muß«. Zur frühmodernen Konzeption der Sexualpathologie in Hans Falladas Roman Wolf unter Wölfen (1937) ........................... 39 Bernhard Heinrich Anstand. Hans Falladas moralischer Imperativ ............................. 59 Heribert Hoven Jedermann ein Denunziant. Anmerkungen zur vergangenen und gegenwärtigen Aktualität von Hans Falladas Roman Jeder stirbt für sich allein ............................................................... 69 Stefan Knüppel Das ›Gesicht‹ der Sucht. Ein Aspekt der literarischen Physiognomik Hans Falladas ........................................................ 83

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Inhalt

Volker Mergenthaler »Unkontrollierbare Geschichten«, die Bedingungen ihrer Hervorbringung und ihr epochengeschichtlicher Ort. Hans Falladas Gefängnistext Im Blinzeln der Großen Katze ........... 97 Antje Pautzke »Kein Mensch ist ganz schlecht, auch Sophie ist es nicht«. Aspekte eines abweichenden Lebenslaufs in Hans Falladas Wolf unter Wölfen ....................................................................... 115 Petra Porto »Wird doch etwas Lebendiges geboren aus dieser fauligen Zeit?« Paarbildung und -bindung in Hans Falladas Wolf unter Wölfen ....................................................................... 123 Karl Prümm Gebanntes Schauen und protokolliertes Sehen. Kinokritik und Kinoprosa bei Hans Fallada ............................... 135 Jörg Schönert Krisen, Kriminalität und Katastrophen. Falladas Lebensläufe nach abfallender Linie ................................................................ 153 Michael Titzmann Selbstfindung und Selbstverlust. Aspekte der textinternen Anthropologie in Hans Falladas Wolf unter Wölfen (1937) .......... 169 Marianne Wünsch »Der Kleinbürger« in der erzählenden Literatur um 1930........... 189 Reinhard K. Zachau Fallada’s Modernist Characters in his Berlin Novels Little Man, What Now?, Wolf Among Wolves and Every Man Dies Alone ................................................................. 201

Inhalt

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Anhang ..................................................................................... 213 Lutz Hagestedt »Sehr viel wahrer ist in Deutschland seither nicht geschrieben worden«. Forschungs- und Tagungsbericht .............. 215 Lutz Hagestedt Hans Fallada. Auswahl-Bibliographie der Briefe und der Sekundärliteratur .................................................................. 233 Register ...................................................................................... 265 Zu den Autorinnen und Autoren ............................................... 271

Ralf Georg Bogner

Literarisierung von Literalität Zur literalen Welt der zweiten Ordnung in ausgewählten Romanen Hans Falladas

Zur Einführung: Die Zettel der Quangels Hans Falladas früher Nachkriegsroman Jeder stirbt für sich allein (1947) führt dem Leser eine außerordentlich bemerkenswerte mediengeschichtliche Konstellation vor Augen: Einem alten, einfachen Ehepaar, das kleine Zettel mit antifaschistischen Parolen in Treppenhäusern ablegt, stellt der Text die geballte mediale Macht des NS-Regimes gegenüber. Fallada inszeniert den immensen Kontrast zwischen den geringen Möglichkeiten der Quangels, mit ihren kleinen schriftlichen Mitteilungen Kritik zu üben, und der fast unbegrenzten Macht der Herrschenden über die Schrift als zentrales Medium der Kommunikation in der Moderne. Es ist geradezu unvermeidlich, dass die alten Leute schließlich in diesem ungleichen Kampf unterliegen und die Behörden des totalitären staatlichen Apparates zuletzt wieder die uneingeschränkte Herrschaft über den Austausch literaler Mitteilungen erlangen, indem sie den Quangels die Möglichkeiten zu kommunizieren radikal entziehen. Jeder stirbt für sich allein reflektiert somit die Schrift als erstrangiges Element der Modernisierung in einer für die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestimmenden politischen Konstellation. Literarische Texte der Moderne fiktionalisieren und diskutieren die Rolle von Literalität aber nicht nur in Hinsicht auf die ungleiche Verteilung der Herrschaftsmittel des Einzelnen hier und eines faschistischen Politapparates dort über die Schrift. Die unterschiedlichsten Aspekte der zunehmenden Literalisierung der Welt und ihrer Wahrnehmung durch den Menschen der Moderne werden auf vielfältige Weise durch literarische Reflexion begleitet und befragt. Gerade Falladas Romane sind besonders gut geeignet für eine exemplarische Fallstudie zu diesem Thema. Der Autor bewegt sich mit seinen Tex-

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ten ebenso im groß- und kleinstädtischen wie auch im ländlichen Raum, in welchen der Schrift eine jeweils stark divergierende Rolle zukommt. Ferner fokussiert er unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und auch Bildungsniveaus und damit differente Positionen von Menschen gegenüber den Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren literaler Kommunikation. Schließlich beschäftigt Fallada sich anhand typischer Einzelfälle intensiv mit der Stellung des Individuums innerhalb der Moderne und seiner Prägung durch die rezent dominanten gesellschaftlichen, ökonomischen, mentalen und kulturellen Prozesse und deshalb nicht zuletzt auch – wie gezeigt werden soll – mit den Manifestationen und Konsequenzen einer zunehmenden Verschriftlichung der Welt. Als Textgrundlage sollen sechs Romane aus den verschiedenen Schaffensphasen des Autors dienen: Der junge Goedeschal (JG, Erstausgabe 1920), Anton und Gerda (AuG, Erstausgabe 1923), Bauern, Bonzen und Bomben (BBB, Erstausgabe 1931), Kleiner Mann – was nun? (KM, Erstausgabe 1932), Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (WB, Erstausgabe 1934) und Der eiserne Gustav (EG, Erstausgabe 1938).

Das Buch steht nicht im Mittelpunkt Literaturwissenschaftliche Studien, welche die Literarisierung der Schrift untersuchen, beschäftigen sich in der Regel mit der Fiktionalisierung des Bücherlesens, genauer gesagt, des Lesens von schöner, also fiktionaler Literatur und demnach mit einem Aspekt literarischer Selbstreferentialität (vgl. z. B. Stocker 2007, Wuthenow 1980). Auch Fallada erzählt von der Buchlektüre. Goedeschal beispielsweise vertieft sich für die Schule in Homer, Sallust oder Horaz (vgl. JG: 22, 194 u. ö.), und unter seinen Freunden kursieren Bestseller der Zeit wie Georg Hermanns Jettchen Geberts Geschichte (vgl. JG: 29). Neben der Buchlektüre im Sinne des Lesens von Belletristik hat aber die Auseinandersetzung mit Gebrauchstexten in Buchform eine mindestens ebenso wichtige Bedeutung in Falladas Romanen. So diskutieren die Jugendlichen um Gustav Hackendahls schulpflichtigen Sohn über Bücher wie Wir jungen Männer. Das sexuelle Problem des gebildeten jungen Mannes vor der Ehe (vgl. EG: 259). Lämmchen Pinneberg in Kleiner Mann – was nun? orientiert sich während ihrer Schwangerschaft und bei ihrer Kindererziehung stark an dem Ratgeber Das heilige Wunder der Mutterschaft, und über ihren sonstigen Bücher-Lesestoff erfahren wir so gut wie nichts (vgl. KM: 72 u. ö.). Die alte Pastorswitwe wiederum, bei der Kufalt aus Wer einmal aus dem Blechnapf frißt in Hamburg zur Untermiete wohnt, versäumt es nie, ihren ›Tagesabschnitt‹ in der Bibel zu lesen (vgl. WB: 510). Gerade Falladas Roman eines Strafgefangenen zeigt noch an einer anderen Stelle außerordentlich deutlich, dass das ›klassische‹ Bücherlesen in

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den Romanwelten Falladas eine nur sehr geringe Rolle spielt. Kufalt selbst hat auf seiner Zelle Bibel und Gesangbuch, ohne sich jedoch je in sie zu vertiefen. Er liest stattdessen Romane oder Reisebeschreibungen, die ihm kontingentiert aus der Gefängnisbücherei zugewiesen werden (vgl. z. B. WB: 568). In der Zeit zwischen seinen Haftaufenthalten erlebt Kufalt sogar eine Phase von ›Lesewut‹: Kufalt entdeckte eine Leihbibliothek und las und trank die Nächte durch in seinem Bett und verschlief fast den ganzen Tag. Und stand erst gegen Abend kurz vor sieben auf, raste in die Bibliothek, um noch vor Ladenschluß seine zwei, drei neuen Bände zu bekommen. Aber dann entzündete sich sein Hirn nicht mehr an diesen Geschichten. (WB: 502)

Das Zitat kann prototypisch für die geringe Bedeutung des erzählten Bücherlesens bei Fallada stehen. In der Regel werden weder die Buchtitel genannt, noch die genauen Gattungen spezifiziert, noch erfährt der Leser Präzises über die Prozesse der Aufnahme und Verarbeitung der Texte durch den Rezipienten und die möglichen Konsequenzen des Gelesenen oder über die Körperhaltungen bei der Lektüre. Der Buchlektüre kommt demnach in Falladas Romanen lediglich eine geringe Bedeutung zu. In vielfältigen anderen Formen aber spielt Schrift, wie zu zeigen sein wird, in den Texten eine immense Rolle. Das literarische Buch freilich ist innerhalb der Erzählwelten Falladas nicht mehr als eine Nebensächlichkeit.

Überall ist Schrift In vielfältigen anderen Formen ist die Schrift in Falladas Romanen beinahe allgegenwärtig, insbesondere im öffentlichen Raum, in dem sich die Figuren bewegen und in dem sie ständig mit den verschiedensten Manifestationen von Literalität konfrontiert werden. Hierzu gehören Litfaßsäulen mit ihren Werbebotschaften (vgl. EG: 115), Schilder an Gasthäusern, Bars oder Firmen (vgl. z. B. EG: 404, 468, WB: 226), teils auch als Leuchtreklame (vgl. z. B. BBB: 99). Hotels und Pensionen preisen ihre Unterkünfte und deren niedrige Raten auf Schildern an den Hauswänden an (vgl. z. B. WB: 113, EG: 198). An den Türen in den Treppenhäusern geben Namensschilder Auskunft und Orientierung über die Bewohner (vgl. z. B. EG: 74 f., 159), und wenn die Schilder fehlen, beschwert sich der Postbote (vgl. KM: 106). In öffentlichen Gebäuden sind im Parterre Übersichten über Räume und Personen (vgl. EG: 322 f.), in den Diensträumen selbst dann Schilder mit Verhaltensanweisungen (vgl. EG: 638). Schriftliche Kommunikation ersetzt dabei häufig die mündliche,

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so etwa in der polizeilichen Anmeldeszene in Wer einmal aus dem Blechnapf frißt: »Erlauben Sie bloß, Herr Oberwachtmeister«, sagt Beerboom, »wir wollen uns ein bißchen anmelden.« »Sehen Sie da das Plakat nicht? Können Sie nicht lesen, daß Sie erst die Formulare ausfüllen müssen?« (WB: 137)

Auch im öffentlichen Verkehr wird nicht mehr nur mündlich oder gestisch kommuniziert. Auf der Pferdekutsche wird durch die Schilder ›Frei‹ oder ›Besetzt‹ angezeigt, ob das Gefährt zu mieten ist oder nicht (vgl. EG: 199). Auf Landstraßen zeigen Wegweiser die Richtungen zu diversen Zielorten an (vgl. EG: 736). Menschen tauschen Namen und Adressen durch Visitenkarten aus (vgl. AuG: 303). Überhaupt bringt die durch und durch von Schrift geprägte Welt sogar neue Berufe wie den Adressenschreiben oder die Stenotypistin hervor (vgl. z. B. WB: passim, EG: 606, BB: 50). Zum literal dominierten Alltag gehören des Weiteren die Packungen von gekauften Waren, die beschriftet sind (vgl. AuG: 350), Zugfahrkarten, auf denen Fahrstrecke, Preis und Kilometerzahl stehen (vgl. EG: 726), Billets für Theater und Kino (vgl. WB: 384 f.), Lebensmittelkarten im Krieg (vgl. EG: 174) oder Speisekarten in Restaurants, von denen vor der Bestellung des Essens gewählt wird (vgl. EG: 470). Ferner werden bei Demonstrationen Schilder mit Schriftparolen hochgehalten (vgl. EG: 291) und sind öffentlich Zeitungen mit den Neuigkeiten ausgehängt (vgl. EG: 661). Die Schrift erhält aber auch breiten Raum für die Kommunikation im privaten Raum. Vor allem der beschriebene Zettel besitzt eine wichtige Funktion für den Austausch von Mitteilungen, etwa von Eltern an ihren pubertierenden Sohn, wenn der mündliche Informationsaustausch extrem gestört ist (vgl. JG: 80) oder zwischen jugendlichen Liebenden, die sich auf diese Weise Botschaften zustecken (vgl. JG: 124). Selbst in einem öffentlichen Raum kann durch den Zettel eine Möglichkeit der nicht-publiken Kommunikation zwischen Einzelpersonen geschaffen werden, so zum Beispiel zur Verständigung zwischen verschiedenen Parteien untereinander in einem Gerichtsverfahren (vgl. BBB: 603).

Die Schrift als Verräterin Die Omnipräsenz der Schrift schlägt den Figuren in Falladas Romanen jedoch keineswegs nur zum Positiven aus. Die alles durchdringende Literalität eröffnet nicht bloß fast unbegrenzte Möglichkeiten der Mitteilung und des Austausches. Die Fiktion führt vielmehr vor, wie die Allgegenwärtigkeit der

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Schrift immer wieder auch die unfreiwillige Preisgabe von Informationen bedeutet, die das Individuum gerne verborgen halten würde. Eine prototypische Situation hierfür ist im Eisernen Gustav der Aufenthalt Erich Hackendahls und des Abgeordneten, seines Förderers, in einem unrechtmäßigerweise geöffneten Nachtlokal (vgl. EG: 487). Polizeibeamte stürmen das Lokal und nehmen anhand der Personalausweise der Gäste deren Identität auf. Die Informationen, die ein literales Dokument zu einem Menschen liefert, werden in einem Notizbuch schriftlich fixiert, um später gegen denselben und sein illegitimes Verhalten vorgehen zu können. Erich und sein prominenter Freund planen nun aus Angst vor der Beschädigung ihres Ansehens die Flucht. Aufgrund der räumlichen Gegebenheiten und der Aufstellung der Wachleute können sie nur unter Preisgabe ihrer Mäntel entkommen. Die entscheidende Frage ist, ob sie anhand dieser Bekleidungsstücke und ihres Inhalts identifizierbar sein könnten. Dafür kommen insbesondere schriftliche Mitteilungsträger in Frage. Die beiden stellen aber fest, dass höchstens die Schneidermarke sie verraten könnte, und dieser Gefahr wiederum kann begegnet werden, indem der Handwerker am nächsten Morgen entsprechend instruiert wird. Die Schrift als Verräterin von Informationen über eine Person, die diese lieber nicht preisgegeben sehen möchte, und somit die Kehrseite der fast unbegrenzten Möglichkeiten literaler Kommunikation in der Moderne, taucht in den verschiedensten Handlungskonstellationen von Falladas Romanen vielfach auf. So trägt die Wäsche Monogramme, aus denen sich der Besitzer erschließen lässt (vgl. WB: 415), die Eigentümer von Fahrzeugen sind durch Nummernschilder zu identifizieren (vgl. BBB: 134), eine Ladendiebin hat Angst, sich der Tragetasche zu entledigen, in der sie das Gestohlene aus dem Geschäft geschmuggelt hat, weil in das Futter ihr Familienname eingestickt ist (vgl. EG: 68 f.). Die Namen von ordentlich gemeldeten Personen und Firmen wiederum werden in die gedruckten Adressbücher eingetragen, und diese können sich durch diese Veröffentlichung durchaus auch unliebsamen Zugriffen von unerwünschter Seite ausgesetzt sehen (vgl. z. B. EG: 606, WB: 232).

Die Schrift als Lügnerin In der rundum mit Literalität durchwirkten Welt von Falladas Romanen bedroht die Schrift die einzelnen Figuren freilich nicht bloß durch Offenlegung ihrer Geheimnisse. Während der Mensch sich immer wieder durch die Schrift entlarvt und demaskiert sieht, kann er sich auf der anderen Seite nicht darauf verlassen, dass die Informationen, die er durch die Schrift über

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andere Menschen erhält, richtig sind. Vielmehr müssen die Personen immer wieder feststellen, dass sie durch literale Mitteilungen belogen werden. Falladas Romane führen sogar vor, wie sich bestimmte Menschen die grundsätzliche Korrumpierbarkeit der schriftlichen Kommunikation zum Schaden anderer (und zum eigenen Vorteil) zunutze machen. So erzählt beispielsweise Der eiserne Gustav von zahlreichen Bettlern auf den Berliner Straßen der Zwischenkriegszeit mit Schildern um den Hals, die deren Schicksale, etwa Kriegsversehrungen, mitteilen (vgl. EG: 441); am Exempel des Zuhälters von Hackendahls Tochter zeigt sich jedoch, dass diese Schilder auf die perfideste Weise Lügen verbreiten können (vgl. EG: 442). Die geradezu systematische Desinformation, die durch Schrift betrieben werden kann, zeigt sich an einem wichtigen Thema in etlichen Romanen Falladas – der Tagespresse –, das Bauern, Bonzen und Bomben inhaltlich sogar beinahe dominiert. Immer wieder wird die Zeitung als das unbestrittene Leitmedium in den Romanen vorgeführt, anhand dessen die Figuren sich über die aktuellen Ereignisse informieren. So sind öffentlich die neuesten Ausgaben von Zeitungen ausgehängt, deren Meldungen mit größtem Interesse gelesen werden (vgl. EG: 661), und sensationelle Neuigkeiten werden über Extrablätter unter das Publikum getragen, die reißenden Absatz finden (vgl. z. B. EG: 32, 54, 89, 129). Das große Leseinteresse oder gar die Ausgabe von Geld für die Neuigkeiten setzen voraus, dass die Menschen grundsätzlich daran glauben, dass die von den Zeitungen kolportierten Neuigkeiten korrekt und wahr sind. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass etwa kleine Ganoven davon träumen, dass sie irgendwann einmal einen ›richtig genialen Coup landen‹, der dann in allen Details in den Blättern berichtet wird (vgl. z. B. WB: 486). Menschen hingegen, die sich nicht durch regelmäßige Zeitungslektüre auf dem Laufenden halten, disqualifizieren sich intellektuell und moralisch sogar vor anderen, denen es als Selbstverständlichkeit erscheint, sich täglich mittels der Presse zu informieren (vgl. z. B. EG: 110). Diesen verbreiteten Glauben an die Bedeutung und an den Wahrheitsgehalt der durch Zeitungen vermittelten Informationen stellen die Texte Falladas auf verschiedenen Erzählebenen jedoch radikal in Frage. Insbesondere Bauern, Bonzen und Bomben führt in aller Ausführlichkeit und Detailliertheit vor, in welch hohem Maße die Presse ein durch und durch manipuliertes, korrumpiertes und kommerzialisiertes Mittel der Meinungslenkung und der materiellen Bereicherung darstellt. Das machen zuerst einmal vielerlei unterschiedliche Handlungselemente deutlich, seien es die Kämpfe um die Platzierung bestimmter Informationen in der Zeitung, die tendenziöse und parteiliche Berichterstattung oder schlichtweg groteske Einzelepisoden, die dem Leser drastisch vorführen, wie schlecht recherchiert viele Zeitungsmeldungen sind. Hierzu gehört beispielsweise die Unsitte, Film-

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Rezensionen auf der Grundlage von Werbebildern und -schildern im KinoSchaufenster zu verfassen, statt sich die Streifen selbst anzusehen (vgl. BBB: 150). Entlarvend für die Zeitung ist aber auch die Figurenrede einzelner Personen, wenn hier allgemeine Kommentare zu dem Medium geäußert werden, etwa in Gestalt der nüchternen Einschätzung Padbergs: Ich bin Zeitungsmensch. Zeitung ist Reklame, von der ersten bis zur letzten Zeile. Reklame für eine bestimmte Sorte Politik oder Waschseife. Aber immer Reklame. (BBB: 88)

Die Zeitung als der zentrale schriftliche Informationsträger der Zeit wird demnach literarisiert als letztlich nicht glaubwürdiges Medium, das zudem primär zur weiteren Bereicherung oder der Steigerung des öffentlichen Einflusses Einzelner dient. Neben der Zeitung erweisen sich weitere literale Medien in den Romanen Falladas für die Figuren wiederholt als unzuverlässig und unwahrhaftig, während sie gerade durch ihre Schriftform die Garantie einer korrekten Mitteilung von Informationen vorgaukeln. So haben die Jugendlichen in Der junge Goedeschal den Eindruck, dass das schriftlich tradierte Wissen, das zum Beispiel in der Schule gelehrt wird oder im Lexikon nachzuschlagen ist, wenig mit dem Leben zu tun habe: »Dunkel ahnte er,« heißt es vom Protagonisten, »daß alles anders war, wie er gelesen […]« (JG: 32). Das gilt natürlich insbesondere in Fragen von Gefühl und Sexualität (vgl. JG: 36). Auch in Anton und Gerda artikuliert die männliche Hauptfigur genau diese Befremdung gegenüber den Versprechungen von Literalität, die sich als leer erweisen: Es ist mir bestimmt versprochen, daß das Leben gut und schön, sei ich nur gut. Meine Eltern haben es mir versprochen, auch die Lehrer, in meinen Büchern stand es, der Pastor hat es mir gesagt. (AuG: 416)

So wie die Eltern und die anderen Instanzen einer bürgerlichen Erziehung dem Jugendlichen als Lügner erscheinen, sieht er die Schrift – und die Welt der Bücher als deren Repräsentantin – als deren Verbündete an, welche gemeinschaftlich an ihm einen unerhörten Betrug begehen.

Die Schrift als Herrschaftsinstrument Die Schrift in den Pubertätsromanen Falladas wie in Texten wie Bauern, Bonzen und Bomben präsentiert sich somit nicht bloß als Medium von Lüge und Schwindel, sondern erhält auch eine konstitutive Rolle innerhalb der Verteilung gesellschaftlicher Macht zugesprochen.

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Sie ist zuerst einmal ein Mittel sozialer Distinktion. Zwar kolportiert die Zeitung sowieso, wie sich zeigt, in großem Umfang Unwahrheiten. Dennoch ist die Zeitungslektüre Ausdruck eines bestimmten sozialen Status. Innerhalb der wirtschaftlichen Verhältnisse eines Haftentlassenen beispielsweise ist der einmalige Kauf einer Tageszeitung ein kostbarer, prestigeträchtiger und für das Wohlbefinden des in die Freiheit Entlassenen konstitutiver Luxus, und in bestimmten Vierteln einer Großstadt ist ein Abonnement finanziell für die meisten Menschen nicht erschwinglich (vgl. WB: 111, 283, 506, vgl. auch KM: 28, 335). Wer sich die Zeitung hält, möchte also jemand sein. Das erweist sich auch an einer bestimmten Pose, die gewisse Figuren in Falladas Romanen wiederholt einnehmen. Menschen, die sich anderen gegenüber in einer Machtposition befinden, repräsentieren diese durch die kühle Lektüre in einer Zeitung, während der kaum wahrgenommene, niedriger gestellte Andere darauf zu warten hat, einen Moment der Aufmerksamkeit zwischen zwei Pressemeldungen oder beim Umschlagen der Blätter zu erhaschen. Beispiele für diese ritualisierte presselesende Haltung des Menschen mit institutionalisierter oder sozialer Macht sind etwa ein Oberwachtmeister im Gefängnis in seinem Glaskasten (vgl. WB: 15), Goedeschals Vater, der Kai über die Zeitung hinweg streng über seine Verfehlungen befragt (vgl. JG: 70 f.), oder der militärische Vorgesetzte, der mit dem Blatt in der Hand einen Untergebenen empfängt oder sich barsch die Störung bei der Lektüre verbittet (vgl. EG: 159). Wer die Macht hat, schmückt sich mit einem Schriftprodukt als einem ihrer modernen Insignien. Das führen die Romane Falladas auch an einer anderen wichtigen Pose vor, die immer wieder ein wichtiges Handlungselement darstellt: an der Konfrontation eines Bittstellers oder sozial Unterprivilegierten mit einem ›Schreibtischtäter‹. So nehmen bei Fallada unter anderem Gefängnispastoren (vgl. WB: 81), Kriminalkommissare oder Behördenvertreter die Haltung des Mächtigen ein, der am Schreibtisch sitzt und in Papieren blättert oder liest, während ein Bittsteller geduldig vor ihm zu warten hat: Und nun saß der Rotgesichtige schon wieder, las in Akten und schien der Ansicht, sein angebellter Besucher sei längst gegangen. »Herr Kriminalrat!« sagte Heinz leise. Der blätterte und las und hörte nicht. (EG: 631)

Der Mächtige sitzt dabei nicht zufällig am Schreibtisch. Dieser ist der Ort der Errichtung und Verwaltung einer Welt zweiter Ordnung – nämlich der literalen Welt, durch die sich die Unterprivilegiertheit des Machtlosen potenziert:

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Der Mann da am Schreibtisch hat ihn [Kufalt] nicht eine Sekunde angesehen, er braucht den Mann Kufalt nicht anzusehen, er hat das Aktenstück Kufalt. (WB: 150)

Was in der symbolträchtigen Pose höchst augenfällig zum Ausdruck kommt, lässt sich auch in subtilerer Weise an vielerlei anderen Handlungselementen erkennen: Die Machtlosen und gesellschaftlich Ausgegrenzten in Falladas Romanen stehen einer Art von literalem Kartell von Staat, Institutionen, Reichtum und Ökonomie gegenüber, das sich der Schrift als Mittel bedient, um sie auszubeuten, zu erniedrigen oder weiter zu deklassieren – oder einfach nur als brave, angepasste, unscheinbare Bürger ruhigzustellen. So sind Heirat oder Meldung zum Krieg oder zur Arbeitslosigkeit ohne die erforderlichen Papiere nicht möglich (vgl. z. B. EG: 78, 92 f., 107, 623, KM: 18). Dabei haben Arbeitspapiere, die Lücken aufweisen, Chancenlosigkeit bei Bewerbungen auf dem Arbeitsmarkt zur Konsequenz (vgl. WB: 71). Selbst eine Prostituierte als prototypische gesellschaftliche Außenseiterin muss ihr ›Gewerbe‹ schriftlich beim Amt anmelden und erhält eine entsprechende Bescheinigung (vgl. EG: 311, sowie 388: »Richtig ’ne Nutte, mit allem, was dazu jehört, Schein und Lude«). Auch auf Reisen benötigt ein Mensch stets ordentliche Papiere, beispielsweise bei der Anmeldung im Hotel, widrigenfalls gerät er in Schwierigkeien (vgl. AuG: 466). Bestimmte öffentliche Gebäude dürfen nur mit Passierscheinen betreten werden (vgl. EG: 294 f.). Bei Ungehorsam von Untergebenen drohen schriftliche Vermerke in Dokumenten mit negativen Konsequenzen, etwa im Notizbuch eines Wachmanns (vgl. EG: 56), im Klassenbuch der Schule (vgl. JG: 57) oder im Entlassungsschein eines Häftlings: »Hab ich keine Post, Herr Hauptwachmeister?« fragt Kufalt. »Post, Post. Sie kriegen Ihre Post, wenn’s Zeit ist. Und überhaupt haben Sie nicht so frech zu sein. […] Ich schreib’s in Ihren Entlassungsschein, Kufalt, daß die Führung schlecht war. Dann kommen Sie bei keiner späteren Strafe auch nur in die zweite Stufe [von Vergünstigungen für gute Führung].« (WB: 52)

Der Staat erfasst im Gefängnis ferner alles Erdenkliche in Registern, etwa persönliche Gegenstände (vgl. WB: 86), und in Listen, zum Beispiel mögliche Verstecke in einer Zelle (vgl. WB: 24), und er sichert sich auf diese Weise den größtmöglichen Einfluss auf den Untergebenen. Freilich werden die Menschen nicht allein im Gefängnis, sondern auch auf Ämtern oder in Firmen mit diversen Einzelheiten in Akten, Listen und Registern erfasst (vgl. z. B. EG: 537, KM: 124 f.). Pinneberg und Lämmchen beispielsweise in Kleiner Mann – was nun? müssen schmerzlich bei ihren Bemühungen um Stillgelder erfahren, dass sie als einfache Kassenpatienten machtlos einer undurchsichtigen, feindlichen Welt der schriftlichen Kommunikation gegenüberstehen (vgl. KM: 249–257). Sinnfällig wird diese literale Welt

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zweiter Ordnung, die über die Menschen eine fatale Herrschaft entfaltet, dem Angestellten Pinneberg durch die riesige Sammlung von Personalakten vor Augen geführt, als er im Personalbüro des Bekleidungshauses auf ein Gespräch mit Lehmann wartet (vgl. KM: 125 f.). Die unselige Allianz von gesellschaftlicher Macht und Macht über den Menschen durch Schrift mutiert hierbei gelegentlich sogar zur empörenden Überwältigungsmaschinerie, die dem Subordinierten mit voller Wucht seine eigene Bedeutungslosigkeit vorführt. So werden etwa Bestimmungen der Strafvollzugsordnung seitens der Gefängnisverwaltung präzise angewandt, um sie gegen die Häftlinge zu wenden, aber nachlässig, wenn sie diesen nützen würden (vgl. WB: 32, 93). Genauso steht es um die Unterschrift als Mittel der Festlegung eines Menschen auf bestimmte Zusagen. Sie wird wiederholt von einem Untergebenen verlangt – flankiert von Drohungen und Zwangsmassnahmen –, ohne dass der zu dieser Bindung Aufgeforderte überhaupt lesen kann, wozu er sich verpflichtet (vgl. WB: 80). Nur sehr selten gelingt es einem der Unterprivilegierten, sich gegen die Zumutungen des Staatsapparates, welcher sich der Schrift als eines brutalen Herrschaftsinstruments bedient, zur Wehr zu setzen. Kufalt in Wer einmal aus dem Blechnapf frißt hat mit seinem Aufbegehren – zum Beispiel gegen das Unterzeichnen einer Hausordnung eines Haftentlassenenheims, die ihm gar nicht vorgelegt wird – nur punktuell und unter Inkaufnahme negativer Konsequenzen Erfolg (vgl. WB: 79 u. ö.). Mehr noch: Kufalt lehnt zwar eine vom Staat verlangte, unrechtmäßige Unterschriftsleistung ab; als er jedoch mit einigen anderen Haftentlassenen eine Firma gründet, versichern sie sich gegenseitig ihrer Loyalität durch eine Unterschrift (vgl. WB: 242 f.) – und durchschauen nicht, dass sie als Machtlose und Unterprivilegierte damit ein Unterdrückungsinstrument der Herrschenden in ihre eigenen Reihen importieren.

Die Verselbständigung der Schrift Hier wie an vielen anderen Stellen in Falladas Werk verselbständigt sich die Schrift gegenüber dem Menschen als ihrem Schöpfer, sie gerät außer Kontrolle. Die literale Welt zweiter Ordnung, welche die Herrschenden und Mächtigen aufgebaut haben, lässt sich nicht mehr bändigen. Den Schaden haben nicht nur die kleinen Gauner, die sich absurderweise mit dem Mittel der Unterschrift aneinander binden, mit dem sie doch so schlechte Erfahrungen gemacht haben. Vielmehr gibt es auch etliche Privilegierte und Reiche, denen die überwältigende Macht der Schrift zum Verhängnis wird. Das berühmteste Beispiel dafür ist gewiss in Kleiner Mann – was nun? der Personalchef Lehmann, der Pinneberg aufgrund irgendwelcher dubiosen

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Verpflichtungen gegenüber Jachmann im Bekleidungshaus anstellt und dies mit einer vorgetäuschten Versetzung aus Breslau in den Akten rechtfertigt – was ihm später zum Verhängnis wird (vgl. KM: 130, 340). Prototypisch ist aber auch das undurchschaubare Geschehen um den verschwundenen Geheimbefehl in Bauern, Bonzen und Bomben, das den Bürgermeister Gareis schließlich zu Fall bringt. Dieser ›Bonze‹, der gerade mit der Schrift als einem der zentralen Instrumente politischer Macht exzellent umzugehen weiß – beispielsweise durch seinen immensen Einfluss auf die Berichterstattung in den Zeitungen –, kann die Aktenmaschinerie seiner Behörde letztlich nicht unter Kontrolle halten. Hackendahls Sohn Erich wiederum baut – basierend auf telegraphischen und brieflichen Nachrichten und auf Börsenberichten in der Zeitung – aus dem Nichts ein riesiges Vermögen auf, das allerdings am Ende wieder völlig in sich zusammenbricht, weil es eigentlich stets nur auf dem Papier gestanden hat (vgl. EG: 583 u. ö.). Die literale Welt der zweiten Ordnung, das Herrschaftsinstrument der Mächtigen, Einflussreichen und Begüterten, wird hier für diese immer wieder unkontrollierbar und wendet sich gegen sie selbst. Aus dieser Perspektive enthält auch – um an den Anfang zurückzukehren – das Ende der Quangels in Jeder stirbt für sich allein eine gewisse versöhnliche Note: Als Nachkriegsleser weiß man, dass das NS-Regime mit seiner unvorstellbaren totalitaristischen Beherrschung der Medien und der Schriftkommunikation zwar die beiden Alten beseitigen konnte, letztlich aber doch gescheitert ist.

Literatur Fallada, Hans (1993a) [zit. als: AuG]: Anton und Gerda. Ein Roman. In ders.: Frühwerk in 2 Bden. Bd. 1: Die Romane. Berlin: Aufbau, 281–542. Fallada, Hans (2008a) [zit. als: BBB]: Bauern, Bonzen und Bomben. Roman. 2. Aufl. Berlin: Aufbau (Aufbau Taschenbuch 5332). Fallada, Hans (2008b) [zit. als: EG]: Der eiserne Gustav. Roman. 2. Aufl. Berlin: Aufbau (Aufbau Taschenbuch 5333). Fallada, Hans (1989): Jeder stirbt für sich allein. Roman. 175.–177. Tsd. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt (rororo 671). Fallada, Hans (1993b) [zit. als: JG]: Der junge Goedeschal. Ein Pubertätsroman. In ders.: Frühwerk in 2 Bden. Bd. 1: Die Romane. Berlin: Aufbau, 5–280. Fallada, Hans (1933) [zit. als: KM]: Kleiner Mann – was nun? Roman. 59.–70. Tsd. Berlin: Rowohlt. Fallada, Hans (2007) [zit. als: WB]: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Roman. 6. Aufl. Berlin: Aufbau (Aufbau Taschenbuch 5317). Stocker, Günther (2007): Vom Bücherlesen. Zur Darstellung des Lesens in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Heidelberg: Winter (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3, 249).

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Wuthenow, Ralph-Rainer (1980): Im Buch die Bücher oder der Held als Leser. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt.

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Herrschaft und Dienerschaft Aspekte sozialer Kontrolle und politischer Ordnung in Hans Falladas Roman Wolf unter Wölfen Falladas Roman Wolf unter Wölfen (1937) baut verschiedene Räume auf, mit neuen Strukturen, die entstehen, und alten, die sich überlebt haben, nicht mehr zeitgemäß sind. Letztere werden aufgebrochen und zerstört, gemäß Mephistos Diktum: »Denn alles, was entsteht, | Ist wert, daß es zugrunde geht.« (Goethe 1983: 104) Im Zentrum der dargestellten Welt des Romans steht die Gesellschaft im Inflationsjahr 1923. Hierarchische Ordnungen kippen, alte Autoritäten verlieren ihre Macht und müssen neuen Platz machen. Dabei deuten sich klare soziale Gefälle an, etwa in den Hierarchien des Militärs, die scheinbar umstandslos auf die zivile Welt übertragen wurden. Drei der Protagonisten, Rittmeister Joachim von Prackwitz, Oberleutnant a. D. Etzel von Studmann sowie Fahnenjunker a. D. Wolfgang Pagel, bilden eines dieser Hierarchiegefälle. Ein weiteres besteht beim Dienst- und Hauspersonal zwischen Butler Elias, angestellt bei Horst-Heinz von Teschow, dem Besitzer des Gutes Neulohe, und Diener Hubert Räder, einem Angestellten beim Rittmeister, dem Pächter des Gutes. Autoritäten manifestieren sich – insbesondere Förster Kniebusch macht dies deutlich – durch Uniformen, vor allem militärische. Eine Dienerlivree hingegen darf ihm nicht imponieren: Eine Uniform ist eine Uniform, belehrt ihn der Diener [Hubert Räder]. Meine Livree gilt natürlich nicht, und ihre grüne auch nicht, weil Sie bloß Privatförster sind. Wären Sie Staatsförster, wäre das auch wieder anders. […] Ein Zivilist soll sich nicht in die Uniform mischen, verkündet der Diener ernst. Er denkt lange nach, die Stirn in vielen Falten. (Fallada 2001: 195 f.)

Förster Kniebusch unterscheidet in seiner Obrigkeitshörigkeit nicht zwischen Uniformierten der illegalen Freikorps, die in seinem Wald Waffenlager anlegen, und regulären und ehemaligen Offizieren der Reichswehr. Kniebusch katzbuckelt vor Leutnant Fritz, dem Repräsentanten der »Schwar-

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zen Reichswehr« und künftigen Putschisten gegen die Berliner Regierung. Obwohl dessen Befehlsbefugnis nur für die paramilitärischen Verbände der Putschisten gilt, steht der Förster bei jedem seiner Ordres stramm und bringt es dazu noch fertig, ein »Zu Befehl, Herr Leutnant!« zu »stammeln« (ebd.: 47). Der alte Mann fährt »zusammen« und steht »wie vom Donner gerührt« (ebd.) da. Er macht diverse Botengänge für den Leutnant und lädt zu geheimen Treffen des Freikorps ein. Und der Leutnant nutzt und genießt die Angst des Försters: »Heute abend um zehn beim Schulzen Versammlung. Sie [Kniebusch] benachrichtigen die Leute. Den kleinen Kerl [Feldinspektor Meier] da kannst du mitbringen.« (ebd.) Derlei Hierarchien und Autoritäten finden sich auf allen Ebenen und in allen Milieus der dargestellten Welt, im Raum der Herrschaften, der Armee, der Dienerschaft und der Kirche. Mein Augenmerk wird diesen Strukturen gelten: Welche bleiben zunächst bestehen und welche heben sich auf welche Weise auf? Der Roman thematisiert den Wandel der Gesellschaft, also einer bestehenden Welt, die sich reformiert. Frei nach dem Zeitgenossen Hermann Hesse und seinem 1919 erschienenen Roman Demian: »Eine Welt muss zerstört werden damit eine neue entsteht.« (Vgl. Hesse 2006: 190)

Autoritäten im privaten Raum Als erstes untersuche ich vorgesetzte Autoritäten im privaten Raum. Der Berliner Kunsthändler verkörpert den modernen Kaufmann, der sein Unternehmen im Konsens mit seinen Angestellten führt. Das Gut Neulohe repräsentiert eine Herrschaft-Gesinde-Hierarchie des 19. Jahrhunderts, wo Junkertum und niederer Landadel über eine Vielzahl von Vögten, Bauern, Mägden, Haus- und Hofangestellten usw. gebieten. Letztere werden fast wie Leibeigene behandelt. Die Beschäftigungsverhältnisse beim – namenlosen – Berliner Kunsthändler entsprechen dem von Arbeitgeber und Angestellten; letztere stellen die ›neue Schicht‹ der Zwischenkriegszeit dar, die Arbeitnehmer mit dem weißen Kragen. Die neue, fast partnerschaftliche Betriebsführung kommt zum Ausdruck, als Wolfgang Pagel ein Bild seines Vaters veräußern möchte. Dabei beobachtet er »eine gute Verbundenheit zwischen Chef und Angestellten in diesem Hause« (Fallada 2001: 157). Denn jeder Angestellte trug »ohne ein Wort, mit einer Selbstverständlichkeit, die gut wirkte« (ebd.), bereitwillig sein Scherflein bei, nur um dem Chef den Ankauf des Gemäldes zu ermöglichen. Wolfgang Pagel zeigt sich beeindruckt:

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Sie verzichteten vielleicht auf etwas, was sie sich für diesen Abend vorgenommen, diese Stenotypistinnen, Buchhalter, Galeriediener. Manchmal fiel ein Blick von ihnen auf den Herrn im Sessel, der da Whiskysoda trank und rauchte; es war nicht etwa ein feindlicher, es war ein ganz fremder Blick. (Ebd.)

Traditionell hierarchisiert sind hingegen die Strukturen auf dem Land. Hier wird das Personal rüde zurechtgewiesen: Nun hören Sie aber endlich mit Ihrem schrecklichen Gedröhne auf, Hubert! sagt die gnädige Frau, merklich erleichtert. Sie sind ein gräßlicher Mensch. Tagelang wünscht man sich: wenn er doch endlich mal den Mund auftäte! Aber wenn Sie ihn dann aufmachen, hat man bloß den einen Wunsch, daß Sie ihn recht schnell wieder schließen. (199)

Zwar werden im Roman Herrschaft und Dienerschaft gleichermaßen als eigenständige Subjekte mit ihren Biografien und Idiosynkrasien, ihren Schrullen und Leidenschaften vorgestellt – ganz im Sinne eines modernen Sittengemäldes, doch bringen die Eigentümer und Pächter des Gutes für ihr Personal kaum Interesse auf, solange es ›funktioniert‹. Sie bedienen sich gegenüber ihrer Dienerschaft des Befehlstones. Beim Kunsthändler hingegen wird auf die Unterstützung der Angestellten gesetzt, ohne deren Mithilfe die notwendigen Geldmittel für den Ankauf des Bildes nicht aufgebracht werden könnten. Ein vergleichsweise komplexes Verhältnis, das sich der fortschrittlicheren Stadt und den gewandelten sozialen Verhältnissen der Zwischenkriegszeit angepasst hat, spiegelt sich in Mathilde Pagel und ihrer Hauswirtschafterin Minna wider. Die Rollen sind hier nur scheinbar klar verteilt, denn der Text macht unmissverständlich klar, dass die »beiden alten Frauen« (218) nicht einfach ein Arbeitgeber-Angestellten-Verhältnis leben, sondern eine Symbiose eingegangen sind, die »seit über zwanzig Jahren« (25) besteht und sich in diverse Aufgaben teilt. Dazu gehört(e) die Aufzucht und Erziehung Wolfgang Pagels, Halbwaise seit seiner Geburt: Frau Pagel schlägt ihr Ei an. Nun, er kann noch im Laufe des Tages kommen, Minna. Was haben wir heute zum Essen? Minna berichtet, und die gnädige Frau ist zufrieden: alles Dinge, die er mag. (25 f.)

Fast scheint es so, als habe Minna neben der Rolle der Köchin, des Hausmädchens und der Zugehfrau auch die Rolle des verstorbenen Ehemannes übernommen. Sie hängt mit derselben Liebe wie Mathilde Pagel an Wolfgang und kann »Frau Pagels Kummer« (76) nachvollziehen, als sie von dessen Heiratsplänen erfährt, in die weder sie noch Wolfgangs Mutter eingeweiht wurden.

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Minna und Mathilde sind über der Aufzucht Wolfgangs gemeinsam alt geworden – und bleiben zusammen, als dieser längst ausgezogen ist: »Wohin soll ein alter Mensch gehen? [...] Er ist doch auch wie mein Junge!« (26) Minna und Mathilde ergänzen sich in ihrer Beziehung zu Wolfgang: Wo sich die eine unnachgiebig zeigt, lässt die andere ihm Geld zukommen – und beide wissen sie dies voneinander und dulden es: »Übermorgen hat sie ihren freien Nachmittag, da kann sie machen, was sie will« (77), denkt Mathilde und nimmt damit billigend in Kauf, dass Minna ihr Kontaktverbot mit Wolfgang unterläuft und damit ihre eigene, ostentativ gezeigte Ablehnung der Lebens- und Liebesverhältnisse ihres Sohnes konterkariert. Im Verhältnis von Mutter und (künftiger) Schwiegertochter vermittelt Minna. Ebenso macht sie am Schluss des Romans klar, wie weit Mathilde gegenüber Petra gehen darf. Eine »Knallschote« (720), eine Ohrfeige also, ist da nicht zu dulden: »Ich würde mir das von ihr nicht bieten lassen! sagte das alte Mädchen Minna empört. Und ich bin doch nur das Hausmädchen, du aber die Schwiegertochter.« (721) Auch an anderer Stelle wird deutlich, dass Minna ein besonderes Verhältnis zu der alten Dame, ihrer Arbeitgeberin, hat: »Zwar fand sie in dieser Heirat gar nicht so viel Schlimmes, aber sie verstand doch Kränkung, Schmerz, Verlassenheit der Herrin.« (76) Obwohl sich Minna wiederholt als Hausmädchen bezeichnet und damit in der Dienerrolle sieht, hat sie doch Einfluss auf und Macht über Mathilde. Als eingespieltes Team scheinen beide annähernd gleichberechtigte Gesprächspartner zu sein, und so gleicht manch eine Aufforderung zu einer Tätigkeit durch die »gnädige Frau« (77) eher einer Bitte als einer klaren Anweisung. Die Herrschaften auf dem Lande sind dagegen den ›rauen Ton‹ im Umgang mit Untergebenen gewöhnt. Speziell der Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow »kräht« (208) wie ein Hahn und äußert sich »dröhnend« (416) und herablassend, wenn er mit Angestellten oder Gesinde spricht. Seine Enkelin, Violett von Prackwitz, hat diesen Gestus von ihm weitgehend übernommen – sie ist sich ihrer Stellung durchaus bewusst und kostet sie aus. Den Diener Hubert Räder behandelt sie wie ein »Stück Holz« (548) und vergleicht ihn mit einem Tier: »Gott, Hubert, wie ernst sie mal wieder aussehen! Wie ein Karpfen aus den Teichen. Trinken Sie eigentlich viel Essig?« (194) Diese Strukturen überraschen nicht – sie sind so oder ähnlich zu erwarten. Veränderung kommt durch die Inflationsgewinnler ins Gefüge. Im Inflationsjahr 1923 geraten vermehrt Subjekte in den Fokus und gelangen in Machtpositionen. Ein Beispiel wäre der Viehhändler Quarkus, »[e]in Mann Ende der Vierzig, untersetzt, mit krausem, dunklem und schon etwas dünn gewordenem Haar« (127). Ihn hat »die Inflation immer reicher«

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(127) gemacht, er ist durch Glück und Geschick binnen »wenige[r] Monate […] zu einem Großhändler« (127) geworden. Eine ehrliche Haut, die emporgestiegen ist und der etliche Kleinkriminelle gegenüberstehen, die auf der Gesellschaftsleiter aufsteigen, darunter Zecke. Zeckes Name ist Programm – er saugt andere aus. Er hat vor der Inflation mit »Salvarsan« (70) gedealt, einem Medikament für Syphilitiker. Jetzt kann er es sich leisten, im großen Stil Kunst zu sammeln, d. h. mehr zu horten – für die Zeit nach der Inflation. Er häuft Werte in Form von Büchern, Skulpturen und Bildern an, denn er hat kein Verständnis für die Künste, wohl aber versteht er etwas von Geld: Er lacht herzhaft. Ich und lesen –?! […] Das möchtest du wohl, daß ich ›Ja‹ sage, und du ödest mich dann an, was in dem Nietzsche da steht! […] Ich glaube, das ist ’ne ganz gute Kapitalsanlage. Volleder-Einband. Man muß ja sehen, daß man sein Geld irgendwie wertbeständig anlegt. Ich verstehe nichts von Büchern – Salvarsan ist einfacher. (70)

Ebenso reduziert er seine Skulpturen auf ihren Marktwert, während er für die kunsthistorische Genealogie weder Interesse noch Gespür entwickelt hat. Zecke kalkuliert mit Kurswerten und distanziert sich von ideellen Werten der Kunst. Er handelt nach der Formel: Ein Ledereinband erzielt mehr Geld als ein konventioneller. Dabei gesteht er seine Haltung offen ein und verbrämt sie nicht: Obwohl er beginnt, Gefallen an der Kunst zu finden, wird sie für ihn immer ein Handelsgut zur Gewinnmaximierung bleiben. Während Wolfgang Pagel sich noch nach seinen Sammlergewohnheiten erkundigt, macht Zecke sein Kunstverständnis unmissverständlich deutlich: Mittelalterliche Holzplastik sammelst du auch? Zecke macht ein kummervolles Gesicht. Nicht sammeln, nein. Geld anlegen. Aber ich weiß nicht, wie es kommt, es macht mir plötzlich auch Spaß. Guck mal hier, den Burschen hier mit dem Schlüssel, Petrus, richtig. Den hab ich aus Würzburg. Ich weiß nicht, ich verstehe nichts davon, es macht ja wirklich nicht viel her, gar nicht pompös und so – aber es gefällt mir. (70)

Sein Vermögen bedeutet ihm Machtzuwachs. Früher waren Zecke und Pagel Kameraden in der Reichswehr, jetzt ist Zecke ›mächtig‹ und Pagel ›ohnmächtig‹.

Religiöse Kontrolle im privaten Raum Die Kirche strukturiert sich ähnlich wie die Armee. Beide stiften künstlich Ordnungen, deren Ähnlichkeiten nach Freud darin zu sehen sind, dass ihre Repräsentanten libidinös aneinander gebunden sind (vgl. Freud 2005: 59).

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Vergleichbare Hierarchien werden ausgebildet, bloß berufen sich die geistlichen Führer auf einen unsichtbaren Gott. In Falladas Roman ist der Raum der Kirche und des Glaubens dezidiert negativ konnotiert. Im Inflationsjahr 1923 gerät die Religion ins Hintertreffen, kann den Menschen keine Antwort mehr auf ihre Fragen geben. Sie sehen sich auf sich selbst gestellt und finden in der Kirche keine spirituelle Unterstützung mehr. Sie konzentrieren sich aufs Überleben. Nur auf dem Lande und speziell auf dem Rittergut Neulohe versucht Belinde von Teschow, die bigotte Ehefrau des Gutsbesitzers, die Macht der Kirche für Kontroll- und Disziplinierungszwecke zu nutzen. Mittels religiöser Lebensregeln und Moralvorschriften soll gesellschaftliches Wohlverhalten und kirchliche Wertorientierung erzwungen werden. Dem moralischen Rigorismus der Herrin steht ein allgemeiner moralischer Verfall gegenüber, und Belinde von Teschow versucht, ihre Angestellten mittels täglicher Abendandachten zur Räson zu bringen. Erreichen wird sie damit nichts. Vielmehr untergräbt sie ihre eigene Autorität, denn ihr Personal sieht es als lästige Pflicht an, ihre Gottesdienste zu besuchen. Die Situation eskaliert, als Amanda Backs vorgeführt werden soll, sich aber provokant zu ihrem Lebenswandel bekennt: Sie kann dies tun, weil sie – als überaus geschickte Gänsemagd – keine Angst haben muss, ihre Arbeit auf Gut Neulohe zu verlieren. Überdies ist Belinde von Teschow keine Frau, die eine Andacht angemessen gestalten und ihren Glauben überzeugend vermitteln könnte. In Momenten der Aufregung und der Rührung fängt sie an zu hicksen. Auch gelten die Regeln der Kirche für sie nur insoweit, als sie Ordnung auf dem Hof erzwingen können. Aber weder ist sie mit den Riten der christlichen Kirche sonderlich vertraut, noch respektiert sie grundlegende Prinzipien wie das Beichtgeheimnis: Damit kniete die alte Frau von Teschow schnell hin, und schon bereitete sie sich mit stillem Beten auf ihr lautes Sündenbekenntnis vor. Durch ihre Schäflein aber ging eine kaum unterdrückte Bewegung, denn es war nicht eins darunter, das nicht wusste, Herr Pastor Lehnich und sogar der Herr Superintendent in Frankfurt hatten der gnädigen Frau das öffentliche Sündenbekennen streng untersagt. Denn es sei ganz wider Christi und Lutheri Geist und rieche nach Heilsarmee, Baptistentum und vor allem nach der verwerflichen Ohrenbeichte der katholischen Kirche! (Fallada 2001: 215)

Belinde von Teschow wird gegen Ende des Romans in die Fänge eines Sektierers geraten: Herrn Herzschlüssel hat Frau Belinde aus Dresden mitgebracht, er ist ein bärtiger Mann in schwarzem Rock, er ist der Leiter einer strengen Sekte, die schon hier auf Erden sich nur der Reue und Buße widmet, der Leiter und wahrscheinlich die ganze Sekte dazu. Herr Herzschlüssel hat Frau Belinde von der ›verkalkten‹ Kirche

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befreit, er hat bewiesen, daß er allein Jesu wahre Lehre verkörpert. Jetzt darf Frau Belinde so viel Betversammlungen abhalten, wie sie will, sie braucht vor keinem Pfarrer und Superintendenten mehr Angst zu haben. […] Wenn er Frau Belinde auf seinen starken Armen in den Liegestuhl trägt, dann ist Frau Belinde so glücklich, wie dies sündige Fleisch hier auf dieser Erde nur sein darf. (Ebd.: 729)

Wie wenig in dieser Zeit auf Kirche und Gott zu geben ist, macht Schulze Haase im Gespräch mit dem Leutnant deutlich – und legt sich die christliche Botschaft nach eigenem Ermessen aus: Es ist kein Betrug! rief der Schulze wieder hitzig. Jeder tut es. Und außerdem, Herr Leutnant, sagte er und feixte sachte mit den Fältchen um den Augen, wir sind doch alle Menschen und keine Engel. Der Vater hat auch mal ein Pferd als zugfest verkauft, was es nicht war. Wir werden betrogen, und wir betrügen auch mal – ich denke, daß Gott auch verzeihen kann, steht nicht nur auf dem Papier von der Bibel. (143)

Dieser Autoritätsverfall der Kirche als Institution passt zur Strömung der Neuen Sachlichkeit, die eine Vergeistigung und erst recht eine geistliche Mission von Kunst und Literatur ablehnt (vgl. Becker 2000: 97). Weltliche Themen sollen im Vordergrund stehen, denn »wir sind doch alle Menschen und keine Engel« (Fallada 2001: 143). Folgerichtig inszeniert Fallada alles Kirchliche als Relikt auf dem Lande, während in der Stadt keine ihrer Repräsentanten und Institutionen mehr sichtbar werden. Die Stadtbevölkerung kümmert sich nur noch um sich selbst, hat nur noch das nackte Überleben im Blick.

Relikte der Armee im bürgerlichen Leben Eine hierarchische Ordnung besteht zwischen Rittmeister Joachim von Prackwitz, Oberleutnant a. D. Etzel von Studmann und Fahnenjunker a. D. Wolfgang Pagel. Diese Rangordnung hat die Armeezeit überdauert und hat, wenngleich funktionslos geworden, in der zivilen Gesellschaft ihren Fortbestand. Keiner der drei Protagonisten ist in die Hunderttausendmann-Armee übernommen worden, alle fristen in zivilen Berufen bzw. in der Halbwelt der Großstadt ihr Dasein, als sie – durch Zufall – wieder zueinanderfinden. Joachim von Prackwitz, eigentlich nach Berlin gekommen, um Arbeitskräfte für die Sommerernte zu rekrutieren, sehnt sich nach mehr Ordnung in dieser chaotischen Welt. Gern denkt er an seine Zeit beim Militär zurück. Dort herrschte eine klare Rangfolge, aufgebaut auf einer funktionierenden und funktionalen Hierarchie. Dort war er eine Autorität.

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Als Pächter eines landwirtschaftlichen Gutes hat er diese Autorität eingebüßt – weder kann er sich bei seinem Schwiegervater durchsetzen, der ihn beim Abschluss des Pachtvertrages betrogen hat, noch entspricht seine Rolle als Ehemann und Vater seinem Bedürfnis, Autorität auszuspielen. Als Führungspersönlichkeit hat er verloren, auch seine Kameraden, die ihm einst hierarchisch unterlegen waren, haben kein Vertrauen in seine Kompetenzen. Wo die Gesellschaft zerfällt, sind auch die Militärs nicht in der Lage, feste Strukturen zu bilden und Ordnung durchzusetzen. Besonders plastisch zeigt dies das Beispiel Etzel Studmanns, der in einem Hotel »als Empfangschef« (52) arbeitet. Eine zufällige Begegnung mit Joachim von Prackwitz macht beiden die Unmöglichkeit dieser Stellung deutlich: Diese Tätigkeit ist einem ehemaligen »Regimentskamerad[en], Oberleutnant von Studmann« (51) nicht angemessen, so Prackwitz: Ihm stieg die »Scham« ins Gesicht »als habe er den Kameraden bei etwas Entwürdigendem Entehrendem beobachtet« (52). Ständig überkommt den Rittmeister das »Gefühl der Beschämung […], als tue Studmann etwas Verbotenes, ja Unanständiges« (53). Er bietet dem ehemaligen Kameraden eine Stellung als Feldinspektor auf seinem Hof an, obwohl auch die straffe Hotelorganisation an eine militärische Ordnung erinnert, zumindest partiell: Du hast viel zu tun? fragt Prackwitz, ein wenig verlegen. Gott, zu tun! Studmann lacht kurz. Wenn du die andern fragst, hier die Liftboys oder die Kellner oder Portiers, die werden dir erzählen, daß ich gar nichts zu tun habe, nur so rumstehe. Und doch bin ich abends so hundemüde wie nur damals, wenn wir Schwadronexerzieren hatten und der Alte schliff uns. So etwas wie einen Alten gibt es hier vermutlich auch? Einen –? Zehn, zwölf! Generaldirektor, drei Direktoren, vier Subdirektoren, drei Geschäftsführer, zwei Prokuristen – Bitte, höre auf! Aber am Ende ist es nicht so schlimm. Es hat viel Ähnlichkeit mit dem Militär. Befehlen, gehorchen – tadellose Organisation… Aber doch immerhin Zivilisten… meinte von Prackwitz bedenklich und dachte dabei an Neulohe, wo gehorchen lange nicht immer auf Befehlen folgte. Natürlich, bestätigte Studmann auch. Es ist etwas loser als damals, zwangloser. Darum schwieriger für den einzelnen, möchte ich sagen. Der ordnet etwas an, und du weißt nicht genau, ob er ein Recht hat es anzuordnen. Keine klar abgegrenzten Befugnisse, verstehst du? (54)

Für den ziellosen und haltlosen Spieler Wolfgang Pagel kommt die zufällige Begegnung mit Prackwitz und Studmann gerade recht. Er war wie sie beim Militär und hat sich dann treiben lassen. Das Glücksspiel zieht nicht nur ihn in seinen Bann. Beim Roulette vergisst sich auch Prackwitz und verspielt seinen Einsatz – all das Geld, das er für die Schnitter und Erntehelfer aufwenden wollte.

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Der Rückzug aus der rast- und ruhelosen Metropole Berlin auf das scheinbar ruhige und geregelte Land, wo das Leben in gewohnten Bahnen zu verlaufen scheint, ist für die drei ehemaligen Militärs die Ultima Ratio. In Neulohe geht es zunächst klar strukturiert, fast militärisch zu. Dem Rittmeister sind als Inspektoren Studmann und Pagel unterstellt, die sich die Aufgaben des entlassenen Feldinspektors Meier teilen. Danach kommen die Leutevögte und dann – weit abgeschlagen – die Feldarbeiter und übrigen Repräsentanten des Gesindes. Die gesamte Anlage des Hofes zeigt eine klare Struktur. Für die Untergebenen sind spezielle Gebäude oder Räume vorgesehen, neben dem Schloss des Eigentümers mit Freitreppe steht die »Villa« der Pächter, die abschätzig als »Bau aus der ersten Inflationszeit« (93) charakterisiert wird. Die klare Aufteilung der Gebäude, ihrer repräsentativen Räume, ihrer Kammern und Ställe suggeriert freilich Ordnungen, die immer wieder gestört und missachtet werden. Seit in Berlin die Demokratie herrscht, seit nach den Revolutionswirren die jetzige Regierung eine labile Ordnung verwaltet, seit eine Geldmaschine immer neue Scheine ausspuckt, verliert sich auch die ländliche Ordnung mehr und mehr. Rittmeister Prackwitz geht mit schlechtem Beispiel voran, seine Autorität verfällt zusehends, seine Frau sucht zu retten, was zu retten ist. Unterstützung findet sie in Wolfgang Pagel, der einzigen Figur der dargestellten Welt, die innerlich reift, an ihren Aufgaben wächst und zu sich selbst findet – erwachsen wird. Pagel nimmt sich der Probleme des Gutes an und versucht sie zu lösen – er übernimmt Verantwortung, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Ihm wird klar, dass er sein Berliner Spielerleben nicht fortsetzen kann, sondern dass er sich bestimmten Regeln unterwerfen muss. Einen besonderen Krieg gegen die Weimarer Demokratie führen die ehemaligen Militärs, die sich der Schwarzen Reichswehr angeschlossen haben und ihre umstürzlerischen Umtriebe mit dem Begriff der Ehre zu bemänteln suchen – selbst dann noch, als sie ihre Mission gescheitert sehen. Wie zum Beispiel Leutnant Fritz: Er weiß wohl, für viele ist er ein Mann zweifelhafter Ehre, und der Major braucht ihn nur, weil für gewisse Aufträge brauchbar ist. Aber er hat seine eigene Art von Ehre, und der beliebt es nicht, von dem Schweigen eines Fräulein von Prackwitz abhängig zu sein. (568)

Ein ehemaliger Offizier, der wie Leutnant Fritz niemals im Felde war und einem Freikorps angehört, ist in doppelter Hinsicht zweifelhaft: Sein illegales Waffenlager ist aufgeflogen, weil er sich mit einem jungen Mädchen eingelassen hat. Dennoch oder deshalb leistet er sich die typische Misogynie seines Standes. Als in jeder Hinsicht Gescheiterter entschließt er sich, sei-

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nem Leben ein Ende zu setzen, weil selbst seine zweifelhafte Ehre verloren ist: Ehre verloren, alles verloren, klang es in ihm. Jawohl, die Ehre, die ihm gemeinsam mit den andern Offizieren gehörte, die hatte er verloren. Er hatte wie ein Feigling gelogen, um sich dem Richterspruch der andern zu entziehen. Aber nicht, weil er den Tod fürchtete – den Tod hatte er sich schon zuerkannt, sondern weil er auf seine eigene Art sterben wollte – ihr zum Gedächtnis! (576)

Dem Offizier der Schwarzen Reichswehr sind die Kasernen der regulären Truppe verschlossen – und die Kameraden, mit denen er vor kurzem noch getrunken, geraucht und Karten gespielt hat, kennen ihn nicht mehr. Als Gleichgesinnte in der politischen Ablehnung des demokratischen Deutschland wissen sie sehr wohl um die Autorität, die ihnen die Republik noch zumisst. Sie werden sie zu nutzen wissen, sobald ihre Zeit gekommen ist – auch gegen die ungeliebte Ordnung.

Literatur Becker, Sabina (2000): Neue Sachlichkeit. Band 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920–1933). Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Fallada, Hans (2001): Wolf unter Wölfen. 23. Auflage. Hamburg: Rowohlt (rororo 11057). Freud, Sigmund (2005): Massenpsychologie und Ich-Analyse, Die Zukunft einer Illusion. Einleitung von Reimut Reiche. 7. Auflage. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Goethe, Johann Wolfgang (1983): Faust. Berlin, Weimar: Aufbau. Hesse, Hermann (2006): Demian. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Gustav Frank/Stefan Scherer

»Lebenswirklichkeit« im »gespaltenen Bewußtsein« Hans Falladas Wolf unter Wölfen und die Erzählliteratur der 30er Jahre Und es stimmte, ich war mir dessen immer bewußt gewesen: Ich hatte kein Recht zu existieren. Ich war zufällig erschienen, ich existierte wie ein Stein, eine Pflanze, eine Mikrobe. Mein Leben wuchs aufs Geratewohl und in alle Richtungen. Es gab mir manchmal unbestimmte Signale; dann wieder fühlte ich nichts als ein Summen ohne Bedeutung. Jean Paul Sartre: Der Ekel (La nausée, 1938)

Forcierte Prosa am Anfang, moderierte zum Schluss Im September 1937 bei Rowohlt erschienen, liegt Wolf unter Wölfen bereits im Dezember im 25. Tausend vor.1 Zwar wird er damit nicht mehr zum Bestseller wie noch Falladas Romane der frühen 30er Jahre.2 Der Roman umgeht aber die Zensur, ohne mit der völkisch-rassistischen NS-Ideologie, * 1 2

»Lebenswirklichkeit« im »gespaltenen Bewußtsein«: Titel in Anlehnung an Schäfer 1981. 1939: 26.–27. Tausend; 1940: 28.–29. Tausend; wir zitieren nach dem 19.–25. Tausend dieser zweibändigen Ausgabe mit dem Kürzel WuW und der Seitenzahl direkt im Text. 1932 wurde Kleiner Mann – was nun? mit einer Auflage von 48.000 im ersten Jahr zum nationalen und schnell auch zum internationalen Bestseller, dessen Rechte für Übersetzungen in elf Sprachen verkauft werden können. 1933 ins Englische übersetzt, wurde Little Man, What Now? in den USA 1934 zur Monatsempfehlung des 1926 gegründeten ersten Buchclubs Book of the Month Club (vgl. Radway 1997) und von Universal Pictures 1934 unter der Regie des zweimaligen Oscar-Gewinners Frank Borzage verfilmt. Schon im August 1933 wurde die deutsche Verfilmung mit der aus Mädchen in Uniform und Kuhle Wampe bekannten Hertha Thiele in der Rolle Lämmchens uraufgeführt. Mit diesem Erfolg rettete Fallada übrigens auch seinen in finanzielle Schieflage geratenen Verleger Ernst Rowohlt (siehe Fallada 2008: 63 ff.).

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die er mit der Figur des »Negermeier« wie mit den polnischen Arbeitsvermittlern und Erntearbeitern ins Spiel bringt, bruchlos vereinbar zu sein. Dies ist etwa in Poly Maria Höflers Weltkriegs- und Zeitroman André und Ursula ganz anders, von dem 1937 in zwölf Auflagen mehr als 400.000 Exemplare nicht zuletzt deshalb verkauft werden können, weil er die deutschfranzösische Erbfeindschaft erbgesundheitlich bekräftigt. Falladas Roman der Inflationszeit ist im Vergleich dazu hingegen doppelt lesbar: einerseits als Kritik am Berliner Asphalt und an den Schrecken der Weimarer ›Systemzeit‹, andererseits als Diagnose der seither offenbar unverändert akuten Problemlagen der ›Modern Times‹, die in Chaplins Film von 1936 anschaulich werden (vgl. Frank/Palfreyman/Scherer 2005). Mit seiner Darstellung alltäglicher Schwierigkeiten in diesen Lebensverhältnissen bedient Wolf unter Wölfen offenkundig das Leserinteresse im ›gespaltenen Bewusstsein‹ der späten dreißiger Jahre, ohne damit ideologisch eindeutig Partei ergreifen zu müssen. Die offiziöse Kritik des Romans beginnt mit der Zeitschrift Bücherkunde der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums (5 [1938]: 47–49) und fällt angesichts solcher Ambivalenzen unter dem Titel Die Rumpelkammer zwar vernichtend aus: Vom »Amt für Schrifttumspflege« wurde Hans Fallada 1938 als »eine typische Erscheinung der Zersetzung der vergangenen Jahre« eingestuft, dessen Gesamtschaffen die verheerende Wirkung der Bücher einzelner Emigranten sogar noch übertraf. (Barbian 1995: 392)

Doch profitiert Fallada vom NS-internen ›gespaltenen Bewusstsein‹ zwischen diesem der Rosenberg-Gruppe unterstehenden Amt und Goebbels, der ausweislich mehrerer Tagebucheinträge (14., 25., 31. 1. 1938, 7. 2. 1938) bestimmte, aus dem Kontext erhellende Qualitäten von Wolf unter Wölfen goutiert: »Nachmittags gelesen: Fallada ›Wolf unter Wölfen‹. Ein tolles Buch. Aber der Junge kann was. Den erregenden Boxkampf SchmelingFoord am Rundfunk gehört. Endet mit Punktsieg Schmelings. Man hatte mehr erwartet. Abends Fackelzug vor dem Führer an der Reichskanzlei.« (Goebbels 1999: 1192 [31. 1. 1938]) In kurzen Momentaufnahmen, in denen sich von Beginn an die multiperspektivische Simultaneität als Darstellungsprinzip ankündigt (vgl. auch später etwa WuW: 410/414), werden die Hauptfiguren als »Panoptikum« (ebd.: 97) exponiert, um gleichartige Erfahrungen unterschiedlicher Personen mit gleichen Problemlagen zu demonstrieren, ohne dass die orientierende Erzählerstimme schon allzu deutlich wird: Anonym bleibende »Leute« (12) verzehren ihr kümmerliches Frühstück, bedrückt von den Sorgen um den steigenden Dollarkurs der Inflationszeit, denn sie erlauben dem Leser den Blick über ihre Schultern in die Zeitungen vom 23. Juli 1923. Durch die Hetze dieser »Leute« wird er direkt mit dem Chaos der Inflation

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konfrontiert: »Nur schnell, lauf, rasch – !« (13) Keiner hat Zeit, denn sogleich ist der gültige Preis verfallen, so dass auch der Erzähler gehetzt von einer Momentaufnahme zur nächsten springen muss, will er das »Mosaik« der gewählten Perspektiven vervollständigen (Kracauer 1971/[1929]: 16). Noch unverbundene Figurengruppen verschiedener Schichten an verschiedenen Schauplätzen (in der Hauptstadt Berlin und in der Provinz) werden also zunächst in schnellem Wechsel so beiläufig wie unbestimmt (»ein Mädchen«, »ein Mann«) eingeführt. So reißt der Roman-Eingang Lebenslagen zwischen Zille-Hinterhof, selbstzitierendem Blechnapf-Zuchthaus und Rittergut an Figuren an, die dann im Fortgang mit demselben alternierenden Wechsel der Perspektiven profiliert werden. Bemerkenswert ist am Romaneingang von Wolf unter Wölfen allein, wie Fallada die Perspektive dieser »Leute« gleichsam als erlebte Rede der Bevölkerung erzählt, die mit der rasenden Geldentwertung zurecht kommen muss: »Werden wir uns zu Essen kaufen können? Für vierzehn Tage? Für zehn Tage? Für drei Tage?« (WuW: 13) Der Primat der Ökonomie, der sich im permanenten Denken ans Geld niederschlägt, genauer an »bedrucktes Papier« mit »immer mehr Nullen« (ebd.: 31), bestimmt von Beginn an das Leben aller Figuren jenseits von Klasse und Stand, Stadt und Land. Der Roman dokumentiert so die neuartige Abhängigkeit aller Werte vom höchst flüchtigen Tauschwert – und darin eine bislang unbekannte ›Vorläufigkeit‹ (11/12) bei ebenso neuartiger Zukunftsoffenheit. Repräsentativ für diese neue Kontingenzerfahrung sind in den 1930er Jahren offenbar jedoch nur Absteigergeschichten: aus dem alten Mittelstand von Bürgern, Amtsadel, Militärs in die subalterne und »zu ›proletaroiden‹ Existenzen herabgesunkene« neue Schicht der Angestellten (Kracauer 1977/[1931]: 68; vgl. genauer Frank 2002). Nur der Erzähler weiß bereits von Beginn an etwas mehr: Der alte Förster Kniebusch, so teilt er allerdings noch sehr unbestimmt mit, »wird nicht in seinem Bette sterben.« (WuW: 14). Zum Schluss hat sich diese Zurückhaltung geändert: Hetzte er eingangs noch von einer Momentaufnahme zur nächsten, will der Erzähler in der nunmehr erlangten ›Wir‹-›Gemeinschaft‹ mit dem Leser seinen Roman nur noch »eilig« zum Abschluss bringen (ebd.: 1144, 1152). Zwar evoziert er dabei rahmenbildend noch einmal Sprachformeln des Anfangs; diese erscheinen nun aber am Ende im neuen Licht der wieder gewonnenen Ruhe und Normalität durch das »Wunder der Rentenmark«: »Es ist alles ganz anders geworden. [...] Gute Nacht. Gute, gute Nacht!« (1156). Der beruhigende Schlafliedton ist das letzte Wort des Romans. Ein gutes Ende kennen Texte dieser Zeit nur selten: In Weisenborns Die Furie (1937), Remarques Drei Kameraden (1938), Grafs Der Abgrund (1936) oder Jüngers Auf den Marmorklippen (1939) bleibt es aus, in Vikki Baums Hotel Shanghai (1939) werden ausnahmslos alle Protagonisten der Parallelhandlungen von den Japanern im titelgebenden Hotel liqui-

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diert. Wenn es dagegen einmal vorkommt, dann ist das gute Ende immer Lohn für ertragenen Verlust: für resignative Selbstbeschränkung und für die Ausgrenzung einer Vielzahl parallel vorgeführter Lebensmöglichkeiten und Biografievarianten, im besten Fall zweite Wahl wie in Langes Roman Schwarze Weide (1937), Wiecherts Das einfache Leben (1939), Edschmids Der Liebesengel (1937), Feuchtwangers Exil (1940) oder Brochs Die Verzauberung (1935, Druck posthum 1967).

Spektrum der Anschlüsse: Darstellungstechniken und Großstruktur Mit Wolf unter Wölfen schließt Fallada auf dem Höhepunkt seines Könnens an eine ganze Reihe zeitgenössischer Textmodelle und Stile an. Genau das macht das Spezifische seines Verfahrens aus. Erstens reiht er sich mit dem zweibändigen Roman verfahrenstechnisch wie thematisch in die panoramatischen Totalitätsprojekte von Broch, Musil, Döblin, Kessel, Feuchtwanger und Canetti ein. Fallada unterstellt jedoch die Verfahrenspluralität dieser Großtexte, die noch einmal literarische Summen ihrer Zeit auf dem formgeschichtlichen Stand der Moderne liefern wollen, durchweg einer illusionistischen Darstellung zur Erfassung höchst widersprüchlicher gesellschaftlicher Lebenslagen. Trotz ihrer formalen Komplexität bleibt so seine Darstellung, ähnlich wie bereits seine Zeitromane Bauern, Bonzen und Bomben und Kleiner Mann – was nun?, für den ›normalen Leser‹ verständlich. Gemeint ist damit ein Leser, der nicht länger schichtspezifisch akademisch, sondern über alle Schichten hinweg auf dem qui vive der neuen Populär-Medien der 20er Jahre sozialisiert wurde. Einfachheit der Sätze, unmittelbare szenische Anschaulichkeit durch Präsens und Dialoge haben zuletzt auch die wissenschaftliche Rezeption dazu verleitet, das Raffinement dieser Darstellung, den intertextuellen Reichtum und nicht zuletzt ihre Interdiskursivität zu unterschätzen. Trotz unmittelbarer Eingängigkeit des Stils ist Fallada stets subtil in der Beschreibung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, wenn er höchst idiosynkratisch fehlende Solidaritäten, Machtgesten und niederträchtiges Verhalten in den Blick bekommt. Komplementär dazu funktioniert der ›Kinoblick‹ (Prümm 1995) als Ausgleich zwischen der Modernität Döblins und realistischen Erzählmodellen. Der kulinarisch konsumierbare Lapidarstil und der Reportagegestus dieses chronikartigen Schreibens kehrt die tatsächliche Artistik seiner Mikrodramatik der unscheinbaren Dinge im Alltag der ›Leute‹ allerdings nicht mehr hervor. Er garantiert aufgrund seiner anteilnehmenden Dokumentation dieses Alltags vielmehr eine derart breite Anschlussfähigkeit, dass letztlich auch

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die üblichen ideologischen Grenzziehungen überschritten werden. Fallada ist somit kein experimenteller Autor, wie souverän auch immer er über die formalen Errungenschaften der literarischen Moderne verfügt, weil er in erster Linie soziale Räume und deren Codierungen durch den alarmistisch taxierenden Blick der so unterschiedlich wie doch auch wiederum gleichartig von den Umständen Betroffenen erfassen will. Und dies geschieht bei ihm stets äußerst wahrnehmungsgenau. Die gern gebrauchte Formel vom ›volkstümlichen‹ Schriftsteller Fallada jedenfalls verstellt das Verständnis dieses Schreibens, das sich als hochgradig professionalisierte Tätigkeit seit den 1860er Jahren durchsetzt (Parr/Schönert 2008) und seither den erfolgsabhängigen Medienarbeiter im Literaturbetrieb kennzeichnet. Weil Wolf unter Wölfen seine Kombination von Darstellungstechniken auf die Tatsachenerschließung anwendet, funktioniert der Text zweitens als ›Neutralitätsformel‹. Darin besteht Lethen zufolge ein zentrales Kennzeichen der Neuen Sachlichkeit (Lethen 1995: 385). Auch Falladas Roman neutralisiert die seit dem 19. Jahrhundert etablierten Gegensätze zwischen Kunst und Realität, ästhetischer oder politischer Wirkung, rechter und linker Perspektive als »Ernüchterungsmodell« auf dem »Boden der Tatsachen« (ebd.: 391). Er synchronisiert also nicht nur die seit den Avantgarden verfügbar gewordenen literarischen Mittel, sondern eben auch die politischen und ideologischen Tendenzen Mitte der 1920er Jahre. So gewinnt Literatur formale Ordnungsprinzipien zurück, die der Tendenz der Zersplitterung von Kunst und Gesellschaft entgegenwirken, indem sie die prägenden Oppositionen im synchronen Nebeneinander, also durch die Gleichzeitigkeit höchst heterogener Befunde relativiert (389). Beim Medienarbeiter Fallada resultiert die tatsächliche Komplexität der Texturen eben gerade daraus, dass er alle Stile und literarischen Verfahrenstechniken zu beherrschen versucht, um damit seine Virtuosität bei gewahrter illusionistischer Eingängigkeit zu erweisen. In welcher Weise er über die literarischen Errungenschaften seit den 1920er Jahren, darüber hinaus über den individuellen sound etablierter und erfolgreicher Autoren vom Realismus über die Frühe Moderne bis hin zur Neuen Sachlichkeit und zum Magischen Realismus kombinatorisch verfügt, kann hier nur kursorisch benannt werden: Dazu gehören u. a. drittens das Einwandern der Statistik in die literarische Darstellung nach dem Vorbild von Döblins Berlin Alexanderplatz (1929), Brunngrabers Karl oder das 20. Jahrhundert (1930) oder Feuchtwangers Erfolg (1930), aber auch viertens die Übernahme von Stilelementen aus den Romanen Thomas Manns oder fünftens die Evokation des Geheimnisvollen und die getragene Atmosphäre des so Unbestimmten wie Bedeutsamen einer höheren Ordnung als Stilgesten des Magischen Realismus, der

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sich nach Ansätzen bei Wilhelm Lehmann und Oskar Loerke im Kreis um die Kolonne herausbildet.3 Als weiteres Indiz sei sechstens auf die vielfältigen Bezüge zur Literatur der Neuen Frau hingewiesen, die nicht zuletzt für eine populäre Kultur des bejahten Konsums in der späten Weimarer Republik steht (Frank 2009): Markennamen, Werbung, Schlagertexte, Frisuren, Mode, Körperkultur, Sport und Amerikanismus als Ensemble der neuen Aufmerksamkeit sowie die komplementären literarischen Techniken einer so schnoddrig distanzierten wie involvierten Faszination am ›Glanz‹ der urbanen Oberflächen und an der neuen Körperkultur der 1920er Jahre werden auch von Fallada eingespielt. Die Dichte seiner Anschluss-Technik lässt sich etwa dort bewundern, wo en passant mit Sophie Kowalewski die neue soziale Semantik und Pragmatik von Bademoden, Scham und Nacktheit der Stadt auf dem Land Einzug hält (WuW: 565–569), während sie im neuen Schwimmstil »Crawl« (ebd.: 575) unterrichtet wird wie die Protagonistin in Fleißers Roman Mehlreisende Frieda Geier. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen (1931).4 Petra Ledig schließlich – »kleine Verkäuferin, ein uneheliches Kind« (30) – wird in ihrem Verhältnis zum »gebildeten Menschen« (30) Pagel, dem Bibliotheks- und Museumsbesucher, ganz im Keun-Sound einer Gilgi (1931) dargestellt.5 Fallada hatte Keuns Roman in einer Sammelkritik für Die Literatur 6 besprochen. Zu erkennen ist an solchen Beispielen nun aber auch die historische Differenz in den 1930er Jahren. Gerade die doppelte Perspektive auf vergleichbare Verhältnisse in Stadt und Land organisiert ja die Großstruktur von Falladas Roman, so dass man wie auch bei anderen Romanen der 1930er Jahre von der Urbanisierung ländlicher Lebens-, Wirtschafts- und Sozialverhältnisse sprechen könnte: Auf dem Land, nun selbst geprägt von der Ingenieurtechnik und einer industrialisierten Landwirtschaft, herrschen ebenfalls Neid, Misstrauen, Hass, Egoismus und Gewalt, also all das, was noch 3 4

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Vgl. z. B. wiederholt aufgebrachte Wendungen wie »Es war etwas zu Geheimnisvolles« (WuW: 28) oder »erfüllt von dem Geschehenen« (ebd.: 29); zum Nachexpressionismus der 1930er Jahre vgl. Frank 2011 und Frank/Scherer 2012. »Unkundig des Schwimmens!« (WuW: 1155), lautet die finale Diagnose des Romans hinsichtlich der Mehrheit von Figuren, die zu entsagen haben, am Beispiel von Studmann; vgl. zu einer bestimmten Lebensuntüchtigkeit der Nicht-Schwimmer auch schon Erich Kästners Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931) und Hermann Hesses 1931 begonnenen Roman Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften (Zürich: Fretz & Wasmuth 1943). »So etwa: Wolf, wie wird eigentlich Käse gemacht? Oder: Wolf, ist es wirklich wahr, daß ein Mann im Monde wohnt?« (WuW: 29); vgl. zum ›Keun-Sound‹ Stockinger 2009: 6–8. Vg.: Fallada 1931/32: 249–250.

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bis in die 1920er Jahre hinein ausschließlich in den Metropolen verortet wurde. In Wiecherts Das einfache Leben (1939) sitzt sogar auf der einsamen Insel des zivilisationsflüchtigen Korvettenkapitäns von Orla in Ostpreußen ein Radiobastler, der für globalen Anschluss sorgt. Diese Verschiebung der Aufmerksamkeit prägt die Großstruktur von Wolf unter Wölfen: Der erste Teil spielt im Anschluss an Berlin-Darstellungen seit Gutzkows Die Ritter vom Geiste (1850/51), die mehrere, simultan geführte Handlungsstränge einander kreuzen lassen, sowohl in der Hauptstadt Berlin mit »ihre[n] Ruhelosen« als auch »anderswo« auf dem Land. Dargestellt wird hier genau ein Tag, präzise datierbar auf den 26. Juli 1923 (WuW: 198) von ›morgens bis mitternachts‹ (Georg Kaiser), genauer von »6 Uhr morgens« (ebd.: 11) bis »halb vier morgens« (473). Der zweite Romanteil handelt dann vom Sommer 1923 auf dem Land um das Rittergut Neulohe, bis »ein Jahr« später (1137) mit dem »Wunder der Rentenmark« der gespenstische Spuk des Inflationsjahres vorüber ist, als sei nichts gewesen. Zwar scheint die kurztaktige Stadtzeit, darstellungstechnisch beziehbar auf den Bloomsday von Joyce, im zweiten Teil von den jahreszeitlichen Rhythmen der Natur abgelöst zu werden, insofern diese nun auch mit Petra Ledigs Schwangerschaft das Leben in der Stadt dominiert. Aber auch auf dem Land begegnen den Städtern die bekannten Verhältnisse, u. a. natürlich Geldprobleme; und vor allem hier konzentrieren sich die Gefahren eines rechten Putschs der Schwarzen Reichswehr oder der maximalen psychischen Deformation in den Gestalten des Leutnants und des Dieners Räder.

Regeln der Synthetischen Moderne – ›komplexer‹ Realismus Erst mit dem »Wunder der Rentenmark« und im Schutz von Mutters Sachwerten keimt für Pagel die Hoffnung auf eine neue, altruistische Identität als Arzt in Berlin und damit auf ein gemeinsames Leben mit Petra auf. Allein die Ähnlichkeit ihres Namens mit »Petrus«, den er bereits früh als »Fels« (29) in der Brandung der Inflation erkennt, bürgt für den guten Ausgang. Bereits auf dem Land entwickelt sich Pagels Leben als einziger »Genesender« (651) gegenläufig zur Mehrheit der anderen Biografien: den scheiternden (Fam. Prackwitz, Lt. Fritz, Diener Räder) wie den resignativ entsagenden Lebensverläufen (von Studmann, Amanda Backs), denn »[e]ine geheimnisvolle Macht, die seine Gesundung wollte, leitete seine Taten, mehr noch seine Gedanken« (587). Am Schluss treten in dieser Veränderung auch die Lust am Detail und die auf narrative Spannung angelegte Verrätselung hinter dem Überblick über das Ganze zurück – nun deutlich vom Sinnpostulat getragen. Der »Fiebertraum« und »Dunst« des rasenden Geldes ist vorüber, denn es greift jetzt ein »Zauber« der niedrigen Zahlen:

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Und nun erwachten sie alle. [....] Das Geld lief ihnen nicht weg, die Zeit lief ihnen nicht weg, das Leben blieb bei ihnen. Erschrocken sahen sie einander in die vertrauten, ach so fremden Gesichter. Warst du das? fragten sie zögernd. War ich das? – Es war so nahe, und doch fing es schon an, ihnen zu zergehen wie ein Nebel, ein Fiebertraum, ein Dunst... Sie schüttelten es ab. Nein, das war ich nicht, sagten sie. Mit neuem Mut gingen sie an ihr Werk, es hatte wieder Sinn, zu arbeiten, zu leben. (1137 f.)

Diese Verschiebung von einem ›Desillusionsrealismus‹ zur finalen Zuversicht auf »Halt« und auf ein »Unzerstörbares«, auf ein »Glück«, das »von äußeren Dingen«, insbesondere vom Geld nicht »abhängig« sei (1156), reflektiert der Roman folglich auch in Veränderungen seines Erzählens. Herrscht eingangs mit der forcierten Prosa noch das verwirrende Chaos der Inflationszeit vor, in das der Leser unvermittelt und ohne Orientierung wie im naturalistischen Sekundenstil hineingestellt wird, tritt gegen Ende hin zunehmend die ordnende Erzählstimme hervor. Von einem Stilgestus, der an Thomas Manns »wir« am Ende des Zauberbergs (1924) erinnert, wird der Leser jetzt in sympathetischer Vertrautheit so an die Hand genommen, wie der Erzähler seine Figur Pagel über die Krisen der Inflationszeit hinwegrettet: »Wir haben einen weiten Weg gehabt«. Jetzt aber »ist alles ganz anders« (1137). So demonstriert der Roman die tröstende Funktion seiner Darstellung durch die ›Wirrnis‹ des Inflationschaos (»Stimmen schwirrten«, 88) hindurch in seiner Darstellungsweise selbst. Der Trost bekommt dadurch einen Unterton, der schon Falladas neusachliche Prosa in Kleiner Mann – was nun? trägt: Es ist der trotzige Gestus des kleinen Mannes, der sich nicht unterkriegen lassen will, weil er auf die metaphysische Kraft des vielbeschworenen ›Lebens‹ in sich baut, während sich Willi Kufalt in Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (1934) an diesem Leben noch durch Verzweiflung schuldig machte. Trotz dieser Zuversicht überwiegt auch in Wolf unter Wölfen das sozial, ökonomisch und psychisch Prekäre und Labile. Es äußert sich in der Erzählerstimme selbst, indem diese ihre kommentierenden Bemerkungen zur Lage ihrer Figur nicht selten buchstäblich einklammert (vgl. 17, 26, 31) – eine bemerkenswerte Rücknahme, die in Romanen der 1930er Jahre auch anderweitig zu beobachten ist, etwa in Elisabeth Langgässers Der Gang durch das Ried.7 Diese Relativierung eines Erzählers, der seine Kommentare einklammert, unterscheidet Falladas minutiöse Dokumentation eines an sich irrelevanten Stoffes vom Gestus derselben Wir-Erzähler-Stimme bei Thomas Mann. Deren Souveränität wird noch von einem Stoff getragen, dessen Bedeutung vorab kulturgeschichtlich verbürgt ist wie in Joseph und seine Brüder (1933, 1934, 1936, 1943) oder Lotte in Weimar (1939). 7

Leipzig: Jakob Hegner 1936; vgl. Langgässer 2002: 79, 82, 138 u. ö.; vgl. Frank/ Scherer 2012.

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Die Vielfalt der hier nur angedeuteten Anschlüsse und virtuos variierten Darstellungsformen dient bei Fallada nicht zuletzt dazu, den ›mittelständischen‹ Leser durch gezielte Informations- und Interessenslenkung zu binden, ihm vor allem aber durch Regelwissen zu einer zumindest ideologischen Beherrschung der Welt zu verhelfen. Die neusachlichen Dokumentar-, Sozial-Reportage- und Montage-Techniken werden hier nämlich selbst als Gegenstand einer anschaulich dargestellten Welt einverleibt, wie etwa eine Szene mit Reporter im Zuchthaus Meienburg (123 ff.) belegt. Wie schon in Bauern, Bonzen und Bomben dienen deshalb auch die literarischen Verfahren sowohl zur Beglaubigung des Tatsachen-Charakters im Chronik-Gestus als auch im Vorherrschen des Dialogischen zur Darstellung konkurrierender Partei-Interessen: Sie werden bei Fallada als interessegeleitet transparent und damit relativiert (vgl. 198–207). Wenn Fallada so vorführt, dass Verfahren stets nur bestimmte Funktionen übernehmen, dann können identifizierbare Stile nicht länger als gruppen- oder epochenkonstitutive Merkmale in Anspruch genommen werden. Vor diesem Hintergrund macht er deutlich, dass die möglichst authentische Wiedergabe der äußeren ›Tatsachenwirklichkeit‹ durch ein szenisches, direktes und schnelles Erzählen (28) und durch detailgenaues Beschreiben jederzeit mit den älteren Darstellungsmitteln seit der Jahrhundertwende verträglich ist – und nicht länger Indikator entweder von Modernität oder Rückständigkeit. Diese Darstellungsmittel erlauben etwa Innenperspektiven von Figuren in Stufen des personalen Erzählens wie der erlebten Rede etwa bei von Prackwitz (23 f.) oder innere Monologe, ja sogar den unmittelbaren Nachvollzug von Träumen. So kann der Selbstmord eines FreicorpsLeutnants als Pastiche auf Schnitzlers Leutnant Gustl (955 ff.) erzählt werden, was nun aber in den 1930er Jahren auf eine indirekte, weil stilistisch begründete psychologische Bewertung von Verbänden wie der Schwarzen Reichswehr hinausläuft. In der Regel überlagern sich sogar konkurrierende Innenperspektiven wie die Violets und desselben Freicorps-Leutnants im Zeichen einer Komplexitätssteigerung durch multiperspektivische Brechungen, die den Roman durchweg kennzeichnen. Jenseits der deutschen Middlebrow-Literatur als Referenzsystem (vgl. Rubin 1992) sind auch die zahlreichen Anschlüsse an die avancierte internationale Literatur kaum zu verkennen. Neben den bereits angedeuteten Bezügen auf den Bloomsday im Ulysses kann man vor allem die Verbindungen zur Literatur der Amerikaner nicht übersehen, die Fallada seit seiner Tätigkeit als Leiter der Rezensionsabteilung bei Rowohlt (Williams 2002: 133) genau kannte und die in Übersetzungen und in der Literaturkritik bis zum Ende der 1930er Jahre in Deutschland sehr wohl präsent

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bleibt.8 Der Multiperspektivismus und die Simultaneität von Momentaufnahmen, die durch short cuts verknüpft werden (vgl. WuW: 294, 337), gehen auf Dos Passos (Manhattan Transfer, 1925), die multiperspektivisch gesteigerten Stream of Conciousness-Techniken auf Faulkner (The Sound And The Fury, 1929; Light in August, 1932) zurück. Gerade Faulkners Romane als ›Chroniken‹ weisen durch ihre widersprüchlichen Erzähler ohnedies Verbindungen mit der spezifischen Mythisierung von Landschaft und Natur im Magischen Realismus auf, so dass dieser Autor auch in dieser Hinsicht für die Literatur seit 1930 attraktiv wird. Zwar bleibt bei Fallada die reportagehafte Nähe in der panoramatischen Darstellung einer verworrenen Welt der Inflationsmonate gewahrt, wenn diese den Leser direkt in ihre Turbulenzen hineinversetzt. Nicht mehr aber der einzelne Protagonist steht jetzt im Zentrum, sondern ein perspektivisch gebrochenes Ensemble von Figuren und Erzähltechniken in einem komplexen ›realistischen‹ Erzählen auf dem Entwicklungsstand der literarischen Moderne (Frank/Scherer 2006). Während sich diese Darstellung in den späten dreißiger Jahren also auf die nicht verbotenen Autoren der internationalen Moderne wie auf die ›Mittelstands‹- bzw. Arbeitslosen-Zeitromane um 1930 beziehen lässt (vgl. Scherer 2005), werden die primär experimentellen Verfahren der Avantgarde, die noch Döblins Berlin Alexanderplatz zwischen Dadaismus und Futurismus ausstellt und integriert, mehr oder weniger konsequent ausgeschlossen.

Literarhistorischer Ort: Texte um 1937/38 Falladas Schreiben fügt sich damit der Literatur der späten 1930er Jahre im Zeichen der von Schäfer so benannten ›Modernen Klassik‹ ein. Liegt der Akzent bei der ›Klassischen Moderne‹ noch auf Innovation und Überbietung, so akzentuiert Schäfers Formel den bewussten Anschluss an vormoderne Tendenzen und Schreibverfahren des 19. Jahrhunderts. Was Schäfer Moderne Klassik nennt (und fälschlich auf eine nicht-nationalsozialistische Literatur im Umfeld der Dresdner Literaturzeitschrift Kolonne begrenzt), ist deshalb eine spezifische Transformationsstufe der Moderne. Wir nennen diese Periode – sehr viel breiter gefasst – ›Synthetische Moderne‹, weil diese Phase von 1925 bis 1955 die literarische, mediale und protodiskursive Verhandlung einer fortgesetzten sozioökonomischen Modernisierung nun mit Intention auf die angedeutete Sinnstiftung betreibt: Sinn wird jetzt als Syn8

Nachweise bei Schäfer 1981: 14 ff. zu Faulkner, Thomas Wolfe, F. Scott Fitzgerald, Thornton Wilder, Hemingway u. a.; zur ›Sprache des Alltags‹ vgl. 15, zur Rezeption von Faulkners Metaphysik 16 f.

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these angestrebt (Frank/Palfreyman/Scherer 2005).9 In Abgrenzung zur Frühen bzw. emphatischen Moderne schlagen sich hier Tendenzen nieder, die zwar »die Ergebnisse der Kunstrevolution grundsätzlich bejahten«, aber nur, insofern sie sich dem Synthesebegehren unterordnen ließen. Denn in ihrem Bemühen, »der Wirklichkeit mythische oder biblische Parallelen als Ordnungsschemata zu unterlegen, konnte sich die junge Generation [...] auf Vorbilder wie Benn, Loerke, Lehmann, Kafka und die modernen Amerikaner beziehen«. Legt man die Neuansätze des Schreibens bei Walser und Enzensberger zugrunde (Scherer 1998, Scherer 2008), verlieren diese Vorbilder unseres Erachtens dann aber bereits Mitte der 1950er Jahre »ihre Leitfunktion« (Zitate Schäfer 1981: 59). Kraft seiner durch kulturgeschichtliche Referenzen geadelten Anthropologie des homo homini lupus reflektiert Wolf unter Wölfen, wie weit diese Suche nach Ordnungsmustern ausgreift. Die Selbstverpflichtung auf Werte und Moral vermittelt hier Trost auch in völlig desolater Lage: Ganz im Sinne von Freytags nachklingendem Eastern und Dauerseller Soll und Haben prämiert Fallada in erster Linie »Arbeit in der deutschen Weise« (Schönert 1988): auf dem Land und mit Herz und Hand um ihrer selbst, nicht um des Profites Willen. Ähnlich verhält es sich mit der Sexualmoral: Devianz und Pathologie sind zwar partiell jetzt darstellbar, insbesondere Prostitution, sowohl weibliche wie männliche. Sie bleiben aber negativ bewertet, während Ehe und Familienidylle im alten Mittelstand als kaum erreichbares, also utopisch gewordenes Ideal im Hintergrund immer wieder beschworen werden, wenn auch das tragische Scheitern überwiegt. Eine mythisierte, in Mutter-Frauen personifizierte Natur garantiert die Wertordnung ähnlich wie in Brochs Die Verzauberung (vgl. Frank/Scherer 2006) oder in Langes Roman Schwarze Weide, bei Wiechert oder in Jüngers Marmorklippen, wo die Schlangen der Rautenklause die Hunde des Oberförsters töten. Endgültig dann unter dem Eindruck des erneuten ›Zusammenbruchs‹ nach der Weltwirtschaftskrise »engte sich der experimentelle Spielraum abermals ein.« Der zutage tretende Zerfall der demokratischen Ordnung machte »die Angst vor dem Chaos zum neuen Lebensgefühl« und bewirkte »ein geändertes Verhältnis zur Form« (Schäfer 1981: 56). Dieser Formbezug erklärt die ›traditionalistischen‹ Darstellungstechniken. Die Ordnungssuche bedingt sowohl die Andacht zur Form in der Natur (so etwa bei Jünger Linnés klassifikatorischer Schematismus) als auch der eigenen Textur: »Form war angesichts des Chaos nicht zuletzt eine ethische Haltung« (ebd.: 60). Wie bedroht die Ordnungssetzungen der Zeit sind, spiegelt die An- und Überspannung bis hin zum Zerbrechen der sprachlichen Gestalt in Rudolf Borchardts einzigem Roman Vereinigung durch den Feind 9

Zur Dominanz dieses sinnstiftenden Traditionsverhaltens bis in die 1950er Jahre vgl. jetzt Irsigler 2009.

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hindurch, der ebenfalls 1937 erscheint (vgl. Frank 2002, Frank/Scherer 2006, Scherer 2007). Zusammenfassend kann man sagen, dass die Rückkehr zu metaphysischen Garantien der eigenen Wertvorstellungen, die Relativierung bzw. Neutralisierung von geistigen und künstlerischen Experimenten und damit die thematische und stilistische Rückwärtsgewandtheit, die sich bis Anfang der 1940er Jahre weiter verstärkt, nur eine Tendenz fortsetzt, die bereits mit dem Nach-Expressionismus (Roh 1925), also der Neuen Sachlichkeit und dem Magischen Realismus als Dämpfung, Moderation und Synthetisierung von Modernität angebahnt wird (vgl. Frank/Scherer 2012). Diese Tendenz zeigt sich auch im Lager der marxistischen Linken (vgl. Schäfer 1981: 57): bei Becher oder bei Georg Lukács, dessen Brecht-Kritik auf einen ›neuen Realismus‹ im kommunistischen Verständnis abzielt und nun mit dem Widerspiegelungspostulat als Norm die moderne Literatur attakkiert (obwohl Lukács ja einst als erster Theoretiker des modernen Romans auf den Plan trat). In Wolf unter Wölfen erkennt man diese Zusammenhänge an den Bezügen auf den Magischen Realismus der Autorengruppe um die Dresdner Literaturzeitschrift Kolonne, etwa in der betonten Naturhaftigkeit Räders oder Violets oder in der wiederkehrenden Rede von einer »geheimnisvollen Macht« (WuW: 587). Aber auch diese Anlehnungen in Ton und »Atmosphäre« (ebd.: 973, 975 f.) bleiben so partikular wie die oben skizzierten Anschlüsse. Sie tragen nicht den ganzen Text wie etwa in Langes Roman Schwarze Weide (1937), der von Schäfer doch um einiges zu hoch eingeschätzt wird, insofern hier der Ton und die bedrohliche Atmosphäre die Darstellung homogenisieren. Bei Fallada ist das anders: Trotz aller Anschlüsse an einen auffälligen literarischen sound der Zeit äußert sich in Wolf unter Wölfen eine eigensinnige Stimme, die vom vorherrschenden Stil-Gestus der späten 1930er Jahre deutlich genug abgehoben erscheint. Um solche Indifferenz bei erkennbarer Einschreibung in das Netz vielfältiger Anschlüsse auch an den literarhistorischen Ort um 1937/38 plausibel zu machen, sei abschließend vor allem noch auf die Relevanz des ›Realismus‹ hingewiesen. Dessen mimetischer Illusionismus bleibt auch in Falladas Roman dominant. Je mehr jedoch Fallada den seit Tiecks ›Dresdner Novellen‹ und Fontanes späten Romanen etablierten Techniken der szenischen Auflösung ins Dialogische, also dem Multiperspektivismus Raum gibt, desto mehr nimmt er Effekte der literarischen Moderne durch eine leserorientierende Erzählstimme dann auch wieder zurück, weil sie nun auch explizite Regeln zur moralischen Bewertung der dargestellten Welt aufstellt. Es zeigt sich damit im Verlauf des Romans, auf welche Weise erzähltechnische Errungenschaften der Moderne wie der Polyperspektivismus eines unterschiedlich fokalisierten Erzählens und das Nebeneinander der

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Erzählstränge (und damit größte Nähe zu den urbanen Oberflächenphänomenen) mit einer Moral der Sinn- und Ordnungsstiftung verträglich gemacht werden können, die auf das realistische Schreiben des 19. Jahrhunderts zurückgeht – jetzt allerdings begründet durch eine neue, moderne Metaphysik des ›Lebens‹. Falladas Roman demonstriert damit nicht zuletzt, wie der erreichte Stand narrativer Verfahren der Moderne so professionell wie selbstverständlich zu handhaben ist, ohne dass dies noch als besondere Errungenschaft ausgestellt werden muss, wie das noch in Döblins Berlin Alexanderplatz der Fall war. Damit wird aber – aller Wiederkehr ›traditionalistischer‹ Elemente in der Modernen Klassik zum Trotz – wiederum ganz bewusst auch die Differenz zum Poetischen Realismus markiert, auf den genauso bewusst wie Fallada eine Mehrzahl zeitgenössischer Texte wie Friedo Lampes Septembergewitter (auf Stifters Condor etc.), Wiecherts Das einfache Leben (auf Stifters Hochwald etc.) oder Langes Schwarze Weide (auf Raabes Die Innerste etc.) immer wieder anspielt. Anders als diese Beispiele zeigt Fallada jedoch sehr viel direkter seine Kritik der vom Realismus getragenen Werte und Normen, weil diese jetzt als Bigotterie, imperialistische Raffgier, Doppelmoral, als entweder zu enge (Inzest bei v. Teschow, Mutter Pagel) oder zu lockere Familienbindungen (Edwin Pagel, Petra Ledig als Waise) der Figuren im Wilhelminismus (Teschow *1853, Pagel *1855) bewertet werden. Kritisiert wird am Rittmeister Joachim von Prackwitz deshalb nicht nur die statische Anthropologie des Realismus ganz ähnlich wie in Brochs Die Schlafwandler an Joachim von Pasenow: Auch Prackwitz’ Psyche, eingepanzert in die militärische Ordnung von Befehl und Gehorsam, funktioniert wie sein Körper in der einzig Halt gebenden Uniform, so dass er der Unordnung des pluralen zivilen Lebens in der Weimarer Zeit psychisch nicht mehr standhält. Kritisiert wird vielmehr auch als Kehrseite dieser statischen Anthropologie des Realismus zugleich der bindungslose Hedonismus und zügellos Erotismus des ›Lebens‹ im Fin de siècle, dies vor allem an der dafür modellhaften Biografie Edwin Pagels, der nach langjähriger Lähmung ›wiedergeboren‹ wird. Fallada erzählt also insgesamt auch andere Geschichten als noch die Literatur um 1930 vor dem Hintergrund einer weitaus pessimistischeren Anthropologie und auf dem Kenntnisstand einer differenzierteren Soziologie als noch die Literatur um 1930. Auch das macht sein eigenständiges Profil im Nachexpressionismus seit 1925 aus, der in der deutschen Literatur bis in die 1950er Jahre hinein wirksam blieb (vgl. Frank/Scherer 2012).

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Gustav Frank/Stefan Scherer

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»Was ein junger Mann vor und von der Ehe wissen muß« Zur frühmodernen Konzeption der Sexualpathologie in Hans Falladas Roman Wolf unter Wölfen (1937) Meine Ausgangsthese knüpft an eine Geschlechtercharakteristik des Romans an und möchte sie anhand eines Beispieles der Frühen Moderne überprüfen. Sie lautet: Die Frau geht den kurzen, intuitiven Weg der Erkenntnis, der Mann den langen, rationalen des Wissens. Mein Beispieltext ist Falladas Roman Wolf unter Wölfen (von 1937), wobei ich mich im Wesentlichen auf zwei Figuren beziehen möchte: Auf Violet von Prackwitz, fünfzehn Jahre alt, Tochter des Gutspächters von Neulohe, und auf Hubert Räder, dreiundzwanzig Jahre alt, Diener im Hause Prackwitz. Räder erscheint als Repräsentant des Typus Mann, der weder emotional noch intuitiv agiert, sondern mit Kalkül und – scheinbar – ohne Gefühlsregungen. Erkenntnis gewinnt er weniger aus dem eigenen Leben als aus Büchern: Insofern erfüllt er nur begrenzt die kulturelle Männerrolle. Sein Bücherwissen allerdings scheint er optimal einzusetzen: effektiv, intensiv und – wie wir sehen werden – mit vernichtender Wirkung. Welche Bücher er liest, ob es für sie eine reale Entsprechung gegeben hat, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen – wir sind hier auf Vermutungen angewiesen. Soviel ist jedoch gewiss: Es könnte sie geben, denn sie operieren mit durchaus gängigen Titelformulierungen von Werken, deren Funktion es ist, wissenschaftliches Wissen an eine breitere Öffentlichkeit zu kommunizieren: Hubert Räder renommiert mit seinen Lektüren, weil sie in seinen Augen nicht nur ›Wissenschaft‹ repräsentieren, sondern auch eine Leseleistung darstellen – am meisten ist er wohl selbst von sich beeindruckt: Ich suche mich zu bilden […]. Ich lese Bücher; nein, keine Romane, wissenschaftliche Werke, oft mehrere hundert Seiten stark… (Fallada 2004: II: 439).1

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Im Folgenden nurmehr mit Seitenangabe im Text zitiert.

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Was weiß ein Diener, ein Autodidakt, von Wissenschaft? Wissenschaftliche Befunde bekommen durch solche Bücher eine Bildungsaufgabe und setzen voraus, dass der Raum der Intimität und Sexualität nicht bloß ›individuell‹ zu erschließen ist, sondern von der legitimierenden Kraft ›objektiver‹ Rede beglaubigt werden kann. Dabei sind die Sexualwissenschaften keineswegs unumstritten, weder im 19. noch im 20. Jahrhundert. Vorwürfe und Unterstellungen sind die ständigen Begleiter dieser Literatur, und oft kommen die Unkenrufe auch aus den eigenen Reihen. So verwahrt sich Karl Weisbrodt im Vorwort zur fünften Auflage seines »ärztlichen Führers« Die eheliche Pflicht gegen den, wie er sagt, »cynischen Indifferentismus […] sogenannter wissenschaftlicher Abhandlungen«, die wie er »über Wesen, Bestimmung und gegenseitiges Verhältnis der Geschlechter« informieren, ihre Mission aber auf die Vermittlung der »anatomischen, physiologischen und bioloischen Einzelheiten« beschränken (Weisbrodt 2005: 7, Vorwort). Weisbrodt wäre vermutlich entsetzt, wenn er sähe, auf welche Weise die von ihm postulierte »Heiligkeit des Ehebettes« in Neuausgaben seines Werkes illustriert wird.2 Fallada benötigt keine Illustrationen, um uns seine Welt plastisch vor Augen zu stellen. Seine Protagonstin Violet von Prackwitz ist eine Kindfrau von fünfzehn Jahren, üppig ausgestattet und ihrer Wirkung auf Männer bewusst. Sie ist von Leutnant Fritz sexuell »wach gemacht« (II: 234), für dunkle Machenschaften ausgenutzt und dann aufs Abstellgleis geschoben worden; seither sind ihre Tage leer: »Es steckt kein Leben in ihr…« (II: 236). Daraus erwächst für die junge, psychisch noch nicht gefestigte Frau eine Gefährdung. »Ein ziemlich kritisches Alter für junge Mädchen« (II: 236), heißt es lapidar, weil man es noch nicht gelernt hat, »sich zusammenzunehmen« oder »sich etwas zu versagen« (II: 234). Violet provoziert die Männerwelt mit ihrer aufreizenden Körperlichkeit: Sie räkelt sich »genußsüchtig« (I: 148) vor den Augen von »Feldinspektor« Meier (I: 128), genannt »Negermeier«, und sie zieht sich ungeniert vor dem jungen, 23-jährigen Wolfgang Pagel aus, wenn sie im Teich baden geht (II: 234). Ihre »hemmungslosen Bewegungen« (II: 344) führen ihr Verehrer zu, bringen sie aber auch in Gefahr, und diese Gefahr materialisiert sich in Gestalt des Dieners Hubert Räder. Hubert Räder ist seit langem Diener im Hause Prackwitz, der Eltern Violets. Dort führt er die Aufsicht über Köchin und Gesinde. Er ist bis zur Unsichtbarkeit diskret, aber was er beobachtet, legt er auf die Hohe Kante: Er hat »sich eine Beschäftigung daraus gemacht, alles zu erfahren, alles zu sehen, alles zu wissen« (I: 298). Er ist nicht sonderlich tüchtig, doch führt er mit kleinen Erpressungen sein Regiment. Violet sieht in ihm keinen rich2

Design und Neugestaltung verantworten Anja Kondritz und Dieter Hantke.

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tigen Mann – sondern ein wesen- und willenloses Geschöpf, mit dem sie spielen kann. Deshalb provoziert sie ihn, auch mittels ihrer körperlichen Reize, und das demütigt Räder: »Es ist«, so Räder, »weil das gnädige Fräulein mich nicht wie einen Menschen behandelt hat. Es hat sich ausgezogen und angezogen in meiner Gegenwart, als sei ich ein Stück Holz. Und wenn die Herrschaften auswärts waren, die Herren Eltern meine ich, dann hat das gnädige Fräulein mich immer in das Badezimmer befohlen, daß ich es abtrockne.« (II: 439)

Dieser »unjugendliche Hubert« (I: 384) ist, wie Pagel, ein »wenig über Zwanzig« (I: 297) und lebt »ganz für sich«; er wird von den Bediensteten, der Köchin Armgard und dem Mädchen Lotte, »für eine Macht gehalten« (I: 300), aber auch für einen »Unhold« (I: 305 f., I: 349). Seine Macht gründet sich auf diskretes Wissen, das er in Erfahrung gebracht und in sich angereichert hat: So weiß Hubert um die Liebe Violets zu Fritz, dem selbstherrlichen ›Leutnant‹ der illegalen »Schwarzen Reichswehr«, einem illegalen Freikorpsverband, der den Umsturz plant. Hubert Räder ist nicht nur lernbegierig und bildungsbeflissen, sondern auch ehrgeizig. Er hat »auf der Dienerschule […] das goldene Diplom« erworben und sammelt »Empfehlungen von hohen adligen Herrschaften« (II: 32 f.). Aus seinem Beruf macht er eine psychologische Wissenschaft: Zwar lauscht er nicht an Türen, dennoch weiß er stets mehr, als er eigentlich wissen dürfte, wenn es mit rechten Dingen zuginge. Deshalb wird er auch als »unerbittliche[r] Forscher« (I: 306) charakterisiert, der sogar zur Nötigung greift, wenn er etwas in Erfahrung bringen möchte – kurz, ein ruchloser Diener, der mit seiner »Herrschaft« quasi prosperieren und dereinst in das »Schloß« ziehen möchte, sobald es Geheimrat von Teschow geräumt hat, der dann auch nicht mehr als »Diener«, sondern als »Butler« bezeichnet werden will (I: 297). Seine Rechnung geht freilich nicht auf: Gegen Ende der Ereignisfolge ist er völlig desillusioniert – seine Herrschaft hat ihm gekündigt, und er hat vielfältige Demütigungen hinnehmen müssen, für die er sich bitter und auf perfide Weise rächt. Von Anfang an reagieren die Frauen mit Unbehagen, ja Aversion auf seine Person. Fallada wird nicht müde, Räder als eine Art »Karpfen« zu charakterisieren: Von kalter, glatter Gestalt, mit »fischigen Augen« (I: 305) und »grauen, faltigen Wangen« (I: 305), in die kaum jemals Farbe aufsteigt. Überdies geht Räder einer Tätigkeit nach, die als ›unmännlich‹ gilt, »denn im Grunde ist ein Mann, der Zimmer reinmacht, verächtlich« (I: 384). Im Unterschied zu den meisten anderen Männern seines Alters hatte Hubert bislang keinerlei Affären – von sexuellen Erfahrungen scheint er nur aus der Literatur und aus seinen Schnüffeleien zu wissen. Überdies ist er für die Frauen nicht attraktiv, im Gegenteil: sie fürchten sich vor ihm, zumal er

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latent misogyn ist: »Ein Mann quackelt nicht«, sagt er zu Förster Kniebusch, »vor allem nicht mit Weibern« (I: 303). Zugleich tut er »geheimnisvoll« (I: 306) und umgibt sich mit einer Aura der Unnahbarkeit. Recht charakteristisch ist der Eindruck, den Eva von Prackwitz, Violets Mutter und seine Arbeitgeberin, von ihm gewinnt: Frau Eva geht auf und ab, auf und ab. Es ist wieder das Gefühl aus der Nacht, daß alles zerfällt, sich auflöst, daß man machtlos danebensteht, aber nichts dagegen tun kann. Es ist wahrhaftig nicht dieser lächerliche Hubert! Sie war nie seine Freundin, sie hatte schon zehnmal Lust gehabt, diesen schrulligen Querkopf vor die Tür zu setzen! Außerdem hatte sie eine körperliche Abneigung gegen ihn; auch ohne das Geschwätz der Mädchen von einem »Unhold« hatte sie als gesunde Frau immer gespürt, daß dieser Bengel nicht sauber war. (II: 348 f.)

Der »gesunde[n] Frau« steht hier der Mann mit krankhaften Neigungen gegenüber. Die intuitiv gefühlte »körperliche Abneigung« bedarf der rationalen Ablehnung gar nicht erst; und selbst wenn Eva von Prackwitz intensiver über Hubert Räder nachgedacht hätte, so hätte sie, seine Gefährlichkeit ahnend, vermutlich doch nicht entschlossener gehandelt und ihn gar entlassen. Violet hingegen, der die Erfahrung der Mutter fehlt, erkennt die reale Gefahr nicht, die vom Diener ausgeht.

Räders Lektüren – Abstinenzerscheinungen, Antipathien und Idiosynkrasien Obwohl abstinent lebend, ist Räder an Sexualität interessiert, wie seine Bibliothek belegt, mittels derer er sich gute, wenngleich bloß ›theoretische‹ Kenntnisse über den Körper und dessen sexellen Bedürfnisse aneignet. Es ist nicht zweifelsfrei entscheidbar, welche wissenschaftlichen Werke, Eheberater und Aufklärungsbücher er konsultierte, doch die Haltung, die Hubert aus ihnen ableitet, helfen sie eingrenzen. Ein nahezu klassischer Ratgebertitel lautet Was ein junger Mann vor und von der Ehe wissen muß (II: 36) und dürfte entweder das vormoderne Sachbuch repräsentieren, das im Grunde genommen Volkswissen transportiert und ethisch-sittliche Erziehungsziele mit dem Primat der Fortpflanzung kommunizieren möchte, oder aber in den Bereich ›klinischer Sexualwissenschaft‹ gehören, die den Bereich emotionaler und geistiger Liebe eher ausklammert. Zu dieser Unterscheidung gleich etwas mehr. Hubert Räder jedenfalls besitzt, folgt man der noch minderjährigen Violet, »gemeine Bücher«, die »von der Ehe« handeln und »mit Bildern« (II: 108) ausgestattet sind. In der figürlichen Bedeutung bezeichnet das ›Gemeine‹ vor allem das Mittelmäßige und Schlechte (»Ein sehr gemeines Gesicht.

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Ein gemeiner Gedanke.«) oder auch das Gewöhnliche und Niedrige (»Das gemeine Volk, die gemeinen Leute, der gemeine Pöbel, der gemeine Mann, der gemeine Haufe, der zahlreichste und zugleich niedrigste Theil einer bürgerlichen Gesellschaft, der große Haufe.« [Adelung 2005: 547 f.]). Es ist daher verständlich, wenn Violet sich nicht mit jemandem ›gemein‹ machen will, der eine allzu große Vertrautheit mit diesen Büchern erkennen lässt. Eines von ihnen handelt von »Antipathien«, die »wissenschaftlich« als »Idiosyn-kra-si-en« bezeichnet werden (II: 436). Als eine solche Idiosynkrasie glaubt Hubert Räder die Abneigung Violets gegen sich fassen zu können: Ich habe dem gnädigen Fräulein von Anfang an nicht zugesagt. Es gibt eben solche Antipathien – ich habe es in einem Buche gelesen […]. (II: 436)

Dieses Bücherwissen relativiert Räders Zurückweisung durch Weio, da Räder sich nicht individuell betroffen sieht, sondern als Typus, als Adressat (und Opfer) einer bestimmten Erlebnis- bzw. Verhaltensreaktion. Er bezieht Weios Abneigung also nicht unbedingt auf sich persönlich, sondern auf sich »als einen Menschen« (II: 439). Der Terminus »Idiosynkrasie« ist bereits im 18. Jahrhundert aus dem Griechischen entlehnt worden und dürfte im 19. Jahrhundert in die Ratgeberliteratur und in die medizinische Fachliteratur eingewandert sein. Er ist entsprechend unspezifisch, bezeichnet in der psychologischen Literatur jedoch eine starke Abneigung und Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Personen. Bemerkenswert ist hier, daß Räder die Ursache für idiosynkratisches Verhalten nicht im eigenen Handeln vermutet, sondern im Empfinden Violets. Er projiziert damit die »Eigentümlichkeit« (so ließe sich »Idiosynkrasie« übersetzen) nach außen, indem er das abweichende Verhalten, das er selbst an den Tag legt, bei anderen diagnostiziert.3 Sein Ratgeber- und Lehrbuchwissen lässt ihn folglich im Stich, wenn es auf ›Realität‹ appliziert wird. Dennoch nützt es ihm, seine grausamen Vorhaben in die Tat umzusetzen: er fühlt sich durch das erworbene Wissen zu seinem Tun legitimiert. Ein anderer Terminus technicus, den Hubert Räder bei seinen Lektüren aufgeschnappt hat, lautet »Abstinenzerscheinungen« und wird von ihm auf die sexuelle Enthaltsamkeit bezogen (vgl. II: 35). Abstinenzprobleme, die sich aus Keuschheit ergeben, wie auch bestimmte Idiosynkrasien, thematisiert Magnus Hirschfeld in seiner 1920 erschienenen und berühmt gewordenen Sexualpathologie (vgl. Hirschfeld 1920). Im Unterschied zu 3

Idiosynkrasie wurde aus dem Griechischen entlehnt: ἰδιοσυνκρασία (idiosynkrāsía) aus dem Altgriechischen setzt sich aus »ἰδιο« (»eigen«), »συν« (»zusammen«) und »κράσις« (»Mischung«) zusammen und bezieht sich auf die Lehre der »Humores«, der »Körpersäfte«, die in »eigentümlicher Mischung« die »Beschaffenheit des Leibes« bestimmen und dadurch den Charakter prägen.

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früheren Lehrmeinungen wertet Hirschfeld die sexuelle Abstinenz nicht als Beitrag zur mentalen und körperlichen Gesundheit, sondern als mögliche Schädigung der Vitalfunktionen, und zwar dergestalt, dass dadurch »Abstinenzschäden« auftreten könnten (Hirschfeld 1920: 220 ff.).4 Ebenso könne es zu Zuständen »geschlechtlicher Übererregbarkeit und Überempfindlichkeit« kommen, die dann, im Vollzugsfall, einen »sexuellen Schwächezustand« im Sinne momentaner Impotenz nach sich ziehen (ebd.: 172).5 Die Lehrmeinungen gehen hier freilich auseinander: »Von einigen wird behauptet, daß Ausschweifungen, von anderen, daß Abstinenz zur Impotenz führen [sic].« (173)6 Fallada konkretisiert die Räder’schen Lektüren nicht, verrät uns nicht, welche Bücher welcher Autoren Hubert konsultiert. Der ungeheure, ungebremste Erfolg der Ratgeber- und der sexualkundlichen Fachliteratur im 19. und 20. Jahrhundert sollte es als ›normal‹ erscheinen lassen, dass sich auch der Laie mittels solchen Schrifttums informiert. Der Text nimmt es jedoch als Auffälligkeit (und nicht als Normalität), dass Hubert seine altklugen Bemerkungen nicht aus dem eigenen Erfahrungswissen schöpft, sondern aus Texten. Violet von Prackwitz empört sich nachgerade über die Art von Literaur, die Hubert ihr unter das Kopfkissen geschoben hat: sie sind nicht für ihre Augen gedacht, weil sie, wie bereits ausgeführt, »von der Ehe« handeln und »mit Bildern« (II: 108) ausgestattet sind. Noch eifriger freilich echauffiert sie sich darüber, dass ihre Sehnsucht nach ihrem Liebhaber von Räder physiologisch gedeutet und auf »das körperliche Verlangen« (II: 35) reduziert wird, auf Abstinenzerscheinungen also, die als Folge sexueller Entbehrung auftreten können: Das ist bloß der Körper – der Körper hat Hunger, gnädiges Fräulein! (II: 35)

Ob Räders abweichendes Verhalten ebenfalls darauf zurückzuführen ist, dass er mönchische Abstinenz in puncto Sexualität übt, wird nicht gesagt, steht aber zu vermuten, da die Pathogenese sexueller Funktionsstörungen (wie Hysterie, Satyriasis oder Nymphomanie) häufig mit mangelnder Triebabfuhr in Verbindung gebracht wird. Der Körper sucht, sexuell »hungrig geworden«, nach Befriedigung seiner Bedürfnisse (Engels). Räders Lektüren können sich theoretisch aus drei Quellen speisen: - Die Ratgeberliteratur möchte, ihrem Selbstverständnis nach, der Hygiene, der Fortpflanzung, der sittlichen Vervollkomnung, der ›Volksgesundheit‹ etcetera dienen. 4 5 6

Dritter Teil, viertes Kapitel: Sexualneurosen (Sexualverdrängung). Ebd., drittes Kapitel: Impotenz. Ebd.

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- Solche Literatur wird aber auch als Medium genutzt, um – beispielsweise im Gewande des Eheberaters – Pornographie zu verbreiten: Diese Lesart wird durch die »diskreten Heimlichkeiten« (II: 439) nahegelegt, zu denen sich Räder durch seine Bücher verleiten lässt: Als »diskrete Heimlichkeiten« können seine »Heimlichtuerei und Unwahrhaftigkeit« (II: 32), gewertet werden, der Terminus konnotiert aber auch die Indiskreten Kleinode eines Diderot (Diderot 1921) oder die »Heimlichkeiten« der »Frauenzimmer« und der »Mannspersonen«, die Wilhelm Tissot alias Friedrich Adolph Kritzinger im 18. Jahrhundert zur Sexualaufklärung herausgab (Tissot 1786–1792 sowie ders. 1794). - Drittens sind solche Werke in Betracht zu ziehen, die strikt lehrbuchhaft das jeweilige aktuelle Wissen der Sexualwissenschaften kommunizieren, ohne auf den Voyeur zu schielen. Räders Aussage, er lese »wissenschaftliche Werke, oft mehrere hundert Seiten stark«, um sich zu »bilden« (II: 439), deutet genau auf diese Literatur. Violet mag solche Bücher gleichwohl als gemein und primitiv empfinden, zumal sie von ihren Eltern nicht aufgeklärt wurde und auf Gut Neulohe moralische Norm und sexuelle Praxis ohnehin weit auseinanderklaffen: Promiskuität und sexuelle Nötigung im Verbund mit Bigotterie scheinen hier an der Tagesordnung zu sein. Die Gutsherrin etwa, Belinde von Teschow, präpariert eigens die Bibel, da sie verhindern möchte, dass ihr Gesinde in den abendlichen Andachten mit allzu freizügigen Darstellungen von Sexualität konfrontiert wird. Ein »schöner, dreißigbändiger, halblederner Goethe«, als Konfirmationsgeschenk für ihre Enkelin Violet gedacht, konnte bislang nicht überreicht werden, weil zuvor mit »Schere und Papier« und einem »Töpfchen mit Kleister« die anstößigen Stellen eliminiert werden müssen (I: 384). Zugleich praktiziert das Gesinde einen demgemäß unsittlichen, von großer sexueller Freizügigkeit geprägten Lebenswandel, und selbst Enkelin Violet ist, wie wir bereits wissen, nicht unerfahren in diesen Dingen. Wenn man eine moderne von einer vormodernen Sexualwissenschaft unterscheiden kann, wie beispielsweise Iwan Bloch es in seiner Monografie Das Sexualleben unserer Zeit (1907) tut, dann scheint zu gelten, dass das ältere, vormoderne Konzept »der menschlichen Liebe vorwiegend Gattungszwecke« zuwies, während die moderne Sexualwissenschaft die »ganz gewaltige individuelle Bedeutung der Liebe« für die Entwicklung eines »freien Menschentums« postuliert (Bloch 1907: 3). Zwischen beiden Haltungen, der vormodernen und der modernen, steht freilich noch eine dritte, die als »rein medizinische Auffassung des Geschlechtslebens« weder die Liebe zu Gattungs- und Fortpflanzungszwecken propagiert noch die Sexualität als Medium individueller und kultureller »Bereicherung und Veredlung« (ebd.: 4) feiern möchte. Sie bildet nach Bloch den eigentlichen »Kern der

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Sexualwissenschaft« und steht mit ihren neutralen Befunden ohne weitere Mission da. Wenn Hubert Räder aus den Lehrbüchern gelernt hat, dass sich Liebe eigentlich auf das »körperliche Verlangen« reduzieren lässt, dann liegt seinen Lektüren vermutlich kein Exemplum der modernen Psychologie zugrunde, die eine kulturelle »Evolution des Liebesgefühles« (6) propagiert. Zumindest scheint seine im »lehrhaften Ton« vorgebrachte Aussage, »der Körper hat Hunger« (II: 35), zu belegen, dass er Violets Liebe auf Körperliches reduziert, während sie sich in Sehnsucht nach ihrem Liebhaber, dem Leutnant Fritz, verzehrt (II: 34 f.). Räder argumentiert, als könne er den Standpunkt einer ›trockenen‹ wissenschaftlichen Standpunkt einnehmen, denn aus den Büchern meint er entnommen zu haben, dass körperliche Bedürfnisse nicht an eine individuelle Person geknüpft sind und folglich auch nicht individuell sein können, sondern allgemein gegeben sind: »Mir ist ganz anders«, bekennt ihm Weio, die ihren Liebhaber entbehrt, »ich habe keine Ruhe mehr… Und dann sehe ich seine Hände, Hubert, sie fassen so fest zu, und dann rieselt ein Schauer über einen… Ach, was ist bloß mit mir los – ?« (II: 35). Und Räder erwidert nüchtern: Dabei müssen Sie sich nichts denken […]. Das ist so! […] Das sind körperliche Vorgänge […], das ist das körperliche Verlangen. Ich kann Ihnen ein Buch darüber geben, es ist von einem Arzt verfaßt, einem Sanitätsrat. Darin ist alles genau beschrieben, wieso es kommt und wo es seinen Sitz hat und wie man es heilt. Es heißt Ausfallserscheinungen oder Abstinenzerscheinungen. (II: 35)

Von Räders Empfehlung erfahren wir, dass ein Sanitätsrat, ein Arzt also, sie verfasst hat. Ein Sanitätsrat gehört zu den öffentlich angestellten Ärzten – Wilhelm Fließ oder Magnus Hirschfeld waren Sanitätsräte –, und dieser Titel wird gern eingesetzt, um die Dignität von Publikationen zu erweisen: Sexual-Katastrophen. Bilder aus dem modernen Geschlechts- und Eheleben von Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld, Botschaftsarzt Dr. Leo Klauber, Kriminalkommissar Gotthold Lehnerdt, Facharzt Dr. Ludwig Levy-Lenz, Justizrat Dr. Johannes Werthauer. Unter Mitwirkung von Landgerichtsrat Dr. Otto Goldmann. Leipzig, U. H. Payne, 1926.

Violet interessiert sich für dieses Buch, lebhaft sogar, doch lehnt sie es ab, sich auf ihren Körper und dessen Bedürfnisse reduzieren zu lassen: »Über die Liebe hatte sie noch ihre Illusionen« (II: 35), heißt es, und insofern gehen ihr die lehrhaften, trockenen Enthüllungen des Dieners über das (bloß) »körperliche Verlangen« entschieden zu weit: »Sie sind ein Schwein, Räder«, wird sie heftig, »Sie beschmutzen alles« (II: 35 f.). Sexualität ohne Liebe ist für Violet Schmutz. Räders Position hingegen repräsentiert beinahe reinsten Schopenhauer, wo »alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch geberden mag, […] allein im Geschlechtstriebe« wurzelt (Schopenhauer 1976:

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681). Schopenhauers ›vormoderne‹ »Metaphysik der Geschlechtsliebe« wird im zweiten Band seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung (1844) entwickelt und reduziert den »Endzweck aller Liebeshändel« auf die »Zusammensetzung der nächsten Generation« (ebd.: 682). Hier geht es explizit nicht »um individuelles Wohl und Wehe, sondern um das Dasein und die spezielle Beschaffenheit des Menschengeschlechtes in künftigen Zeiten« (683).7 Sexualforscher wie Iwan Bloch hingegen propagieren das »Wesen der modernen Liebe« und verwahren sich gegen die »ältere Zeit« und ihre Tendenz, in Ehe und Partnerschaft »vorwiegend Gattungszwecke« geltend zu machen (Bloch 1907: 1, 4). Eine ähnliche Haltung scheint auch Franz Blei in seinem 1923 erschienenen Lehrbuch der Liebe einzunehmen, wenn er fürchtet, dass durch Heirat aus der Liebe eine »staatliche Funktion« abgeleitet werde, »welche eben ist, Gatte zu sein, seriöse Person, Hausherr, Vater von Kindern, Erwerber, Verdiener und wie sonst diese Koseworte der staatlichen Liebe in der Ehe heißen« (zit. nach Herz 1977: 96). Das Institut der Ehe führt, so implizit Blei, die Liebe als christliches Programm weiter und mündet in die schlichte Fortpflanzung, aus der »die Liebe aus Pflicht« resultiert und damit »etwas recht Langweilendes« (ebd.). Für die These, dass Hubert Räders Lektüren eher die Ergebnisse moderner Sexualwissenschaft repräsentieren, spricht der folgende Passus. Förster Kniebusch, ein Mann an der Pensionsgrenze, hat in Erfahrung gebracht, dass die 15-jährige Violet eine Affäre mit dem Leutnant Fritz hat und möchte »seine Wissenschaft« von dieser Sache ihrer Mutter hintertragen; Räder, der das zu verhindern trachtet, horcht ihn aus: Räder betrachtet den Verlegenen mit götzenhaftem Ernst. »Was ist denn noch nicht für junge Mädchen, Herr Kniebusch?« fragt er, aber ohne alle spürbare Neugier. Kniebusch wird rot vor lauter Anstrengung, eine Lüge zu erfinden. »Na ja, Herr Räder, Sie verstehen doch, wenn man so jung ist, und dann ist da die Brunft…« Räder weidet sich an seiner Verlegenheit. »Jetzt gibt es doch keine Brunft!« sagt er verächtlich. »Na, ich verstehe schon. Danke. Uniform – U-ni-form heißt die Parole!« (I: 300 f.)

Meine Lesart dieser Passage ist, dass Hubert Räder hier einen UniformFetischismus unterstellt, eine sexuelle Devianz also, die sich als erotische Präferenz von Uniformträgern manifestiert – und die übrigens, im hier konkreten Fall, für die Uniform des Dieners nicht zu gelten scheint. Der sexuelle Fetischismus wurde 1887 aus dem religiösen Fetischismus und dem 7

Auf Schopenhauer fußt noch Arnold Lindwurms Studie Ueber die Geschlechtsliebe in social-ethischer Beziehung. Ein Beitrag zur Bevölkerungslehre (1879), die die Ehe und Kinderzeugung zum Maßstab aller sozial-sittlichen Zielsetzung macht (vgl. Bloch 1907: 4).

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Schamanismus abgeleitet und von Alfred Binet auf das Sexualleben übertragen (vgl. Binet 1887: 252–274). 1912, in der erweiterten Neuausgabe von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis, kann dann bereits in den Sexualwissenschaften von einem »Kleidungsfetischismus« gesprochen werden, und durch Magnus Hirschfeld (1920) und Sigmund Freud (1927) wird dieser in den zwanziger Jahren populär.8 Der Terminus »Brunft« hingegen zielt auf den Förster und Jäger Kniebusch; er entrückt das sexuelle Begehren in den Raum des Tierhaften und damit in die Auffassung des Geschlechtstriebes als »Verlangen nach Begattung«, das periodisch auftritt und nach Art der Tiere Befriedigung verlangt: »Denn wilder Thiere Zunft Hegt nur zu mancher Zeit der süßen Liebe Brunft« (Logau) (Adelung 2005: 219 f.). Diese Vorstellung entspricht noch tiefstem 19. Jahrhundert und ist nicht vergleichbar mit der »perennierenden Natur« der menschlichen Liebe, die sich – folgt man Immanuel Kant – vor allem der »Einbildungskraft« verdankt, die den Menschen befähigt, den sonst nur periodisch auftretenden, vorübergehenden »Geschlechtsantrieb« quasi auf Dauer zu stellen und »gleichförmiger« zu betreiben, und zwar je besser, »je mehr der Gegenstand den Sinnen entzogen« und »dadurch der Ueberdruß verhütet« wird, »den die Sättigung einer bloß tierischen Begierde mit sich führt.« (Bloch 1907: 31) Hubert Räders Lektüren repräsentieren einen »Objektivismus«, der den Autodidakten Räder von der Wahrheit des Gelesenen überzeugt und ihn zugleich »von aller Psychologie« und damit »von allem Menschlichen« entfernt (Bloch 1992: 235).9 Derlei Publikationen werden von heutigen Antiquaren in der Rubrik Sitten- oder Kulturgeschichte geführt, aber auch unter Erotika oder Galanterie. Sie erfüllen mehrere Funktionen zugleich: Sie informieren über Tabuthemen, und sie sind Stimulanzien, die der wissenschaftlichen Erörterung von Sexualität Einblick in durchaus ungewöhnliche Aspekte und Praktiken verdanken – die nicht für Jedermann bestimmt sind und doch auf breites Interesse stoßen. Sie sind nicht selten »mit Bildern« (II: 108) versehen und sprechen die Sinne an. Sie sind attraktiv und »gemein«, also »gewöhnlich« und abscheulich zugleich. Die oftmals großzügig ausgestatteten, gern in Jugendstil-Einbänden und mit schöner Typografie gestalteten Bücher erlebten nicht selten hohe Auflagen und durften, da augenscheinlich von wissenschaftlichen Autoritäten verfasst, auch in bürgerlichen Privatbibliotheken stehen. Das Merkmal der Autorität ist es auch, das Räder diesen Büchern zumisst. Die ›natürliche‹ Kompetenz des Mannes, seine Rollen auszufüllen und seine Sexualität auszuüben, bedarf in seinem konkreten Fall offenbar der ›wissenschaftlichen‹ Begleitung und kann mit Hilfe des Mediums Buch 8 9

Freud 1927; Hirschfeld 1920a. Bloch formuliert hier Beobachtungen zum »Zeitecho Stravinskij«.

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erlernt werden. Dieser wissenschaftlichen Begleitung bedürfen aber alle anderen Personen, die Sexualität in der Praxis gelernt haben, nicht: Folglich wird sie als Abweichung registriert und rückt den Diener in den Bereich des Pathologischen. Hier tut sich das Spannungsfeld ›theoretisches Wissen versus praktisches Handeln‹ auf, denn alle anderen Figuren erwerben sich ihre Kompetenz auf ›natürliche‹, pragmatische Art und Weise, Frauen ebenso wie Männer. Die Frauen ohnehin: Die Vorstellung etwa, die Kutschersfrau Hartig, die Kinder von mehreren Männern hat, könne wissenschaftliche Literatur konsultiert haben, bevor sie ihre sexuelle Neugierde (vgl. I: 369) zu stillen wusste, mutet einigermaßen absurd an. Auch der kleine, hässliche Negermeier lässt seiner Triebhaftigkeit freien Lauf, ohne auf Bücherwissen zu vertrauen, und Leutnant Fritz, ein »Don Juan der Dörfer« (II: 383), hat ohnehin etliche Affären mit jungen Mädchen, um sie sich gefügig und dienstbar zu machen. Räder hingegen ist unerfahren, unattraktiv und leblos. Kalt und fischig, wie er auf Frauen wirkt, bekommt er auch keine Gelegenheit eingeräumt, in praxi und im täglichen Leben in Erfahrung zu bringen, wie der Mann als Mann funktioniert. Dieses Defizit wird von jedermann bemerkt und untergräbt seine Autorität: In dieser Welt gilt nichts, wer nicht ›Geschichten‹ laufen hat oder wenigstens verheiratet ist. Die Dimensionen des sozialen Lebens sind ihm bis auf wenige verschlossen, wie er überhaupt privat und beruflich geschnitten wird: Seine Mitarbeiter und Untergebenen, das gesamte Dienstpersonal wie auch Teile seiner Herrschaft, fürchten ihn, und er ist Gegenstand eines misstrauischen Rumors – man unterstellt ihm allerhand Böses, und die Erzählerrede wird nicht müde, ihn als gefühllosen und innerlich toten Mann zu charakterisieren, als ein Stück Holz ohne menschlichen Regungen. Räder kompensiert seine soziale Außenseiterstellung: einmal durch Bücher, zum anderen durch genaues Studium der Aktivitäten der anderen. Er wird dadurch ein meisterlicher Kenner der menschlichen Psyche und versteht es geschickt, andere für sich zu instrumentalisieren. Ebenso, wie er exakte Voraussagen über die Bedürfnisse und Verhaltensweisen des Körpers zu machen versteht, vermag er es, auch die menschliche Psyche in ihrer Funktionsweise zu bestimmen. So benutzt er Leutnant Fritz, um Violet zu zerstören. Das Wissen, das er über sie gesammelt und zunächst gespeichert hat, um es später einzusetzen, ruft er erst ab, als er sich selbst als Mensch verachtet und vernichtet glaubt. Jetzt erst holt er zum zerstörerischen Gegenschlag aus: Er weiß um die Hassgefühle, die Leutnant Fritz mittlerweile gegen Violet entwickelt hat, weil er sie für das Scheitern seiner geheimen militärischen Mission verantwortlich macht und sich auch selbst gescheitert sieht. Dieser Hass auf Violet mündet in einen Selbsthass, der in Zerstörung und Selbstzerstörung münden wird. Räder, der diese Entwicklung kommen

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sah, versieht den Leutnant mit einem Revolver, und der Leutnant begreift, wie sich seine »geheimsten Gedanken« (II: 437) mit Räders ebenfalls rachsüchtigen Plänen auf das Perfideste treffen. Am Ende wird Räder Violet von zu Hause entführen, sie zu der Leiche des Selbstmörders Fritz bringen und sie zwingen, sich den zerschossenen Schädel ihres einstigen Liebhabers anzuschauen. Er zerrüttet damit ihr Leben, denn der Leutnant hatte ihr gedroht: Alles hast du mir kaputt gemacht mit deiner verfluchten schmierigen Liebe! […] deine Lebtage sollst du an mich denken, wie ich daliege – mit zerschossenem Kopf! (II: 382)

Der Tod als »Zerstörung des Leibes durch einen Gedanken« (II: 398) – das ist es, was dem Leutnant vorschwebt und wobei der Diener ihm zuhilfe kommt. Der Gedanke wird ausgesprochen: Ich werde mich umbringen, du, Violet, wirst daran schuld sein; Weio soll das »Bild« seines Todes »ihr ganzes Leben mit sich tragen« (II: 390). Schon die Ankündigung dieses Selbstmordes löst bei Violet einen »schwere[n] Nervenschock« (II: 415 f.) aus. Der behandelnde Arzt, der ihr eine Beruhigungsspritze gibt und feststellt, dass sie eine Bewusstlosigkeit simuliert, ahnt etwas Richtiges: Sie hat irgendetwas Schreckliches erlebt, aber sie hat noch mehr Angst vor etwas Schrecklichem, das sie erleben soll. (II: 420)

Hubert Räder wird dieses Erlebnis »auf die Minute berechnet« (II: 486) planen und herbeiführen. Anschließend macht er Violet von sich »abhängig« (II: 487), sie ist ihm »hörig« (ebd.). Er wird »das Schlimmste tun, was er tun kann: Er wird sie immer beinah ermorden, und dann wird er sie wieder ein bißchen leben lassen. Was er so Leben nennt, grade noch, daß der Lebensfunke Todesangst empfinden kann…« (ebd.). Fallada setzt auf diese Begrifflichkeit einer neuen Psychologie, und er verteilt sein Wissen auf mehrere Figuren, die sich darin auskennen und sich der Termini bedienen, darunter der »Dicke«, ein namenloser Kriminalist (II: 485), der daran glaubt, dass das vermehrte Auftreten von Psychopathen mit der »kranken, verfaulten Zeit« (II: 487) der Inflationsjahre zu erklären sei. Brisant ist hier, dass die psychologische Literatur, die sich als Aufklärungsliteratur versteht und der praktischen Lebenshilfe dienen möchte, auch für finstere Pläne nutzbar ist: Sie ist Räders Schlüssel zum Verbrechen (vgl. dazu Titzmann 2011). Es gibt hier keine Utopie positiven Wissens mehr – und unter Falladas Zeitgenossen waren nicht wenige bereit, ihr Wissen zu zynischen Zwecken einzusetzen. Heydrichs Grundsatz lautete: »Wenn man’s weiß, ist es gut. Nur wissen muß man’s.«10 10 Zitiert nach Kogon (o. J. [1948/49]): 23.

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Was ein junger Mann vor und von der Ehe wissen muß Den institutionellen Rahmen der Ehe werden Hubert Räder und Violet von Prackwitz nie betreten, zumal es beiden auch gar nicht um die Institution geht: Weio liebt ihren Leutnant vorbehaltlos – wie ein junger Backfisch. Sie will nichts anderes, als von ihm wiedergeliebt zu werden: sie hat ihr Herz an ihn verloren. Ein Trauschein ist da nicht vonnöten. Und Hubert schwebt ein libertärer Umgang mit Sexualität vor, bei dem es nicht um einen hohen Wert wie Liebe gehen muss: »Das Schämen hat keinen Zweck, gnädiges Fräulein«, sagte Hubert streng. »Entweder leben Sie, wie die alten Herrschaften es wollen, dann brauchen Sie sich nicht zu schämen. Oder Sie leben, wie wir Jungen es für richtig halten, und dann haben Sie es erst recht nicht nötig.« Weio sah ihn prüfend an. »Manchmal denke ich doch, Sie sind ein sehr schlechter Mensch, Hubert, und Sie haben ganz schlechte Pläne«, sagte sie, aber ziemlich vorsichtig, fast ängstlich. »Was ich bin, das muß Sie nichts angehen, gnädiges Fräulein«, sagte er so rasch, als hätte er das alles längst überlegt. »Und meine Pläne sind eben meine Pläne. Was Sie wollen, darauf muß es Ihnen ankommen!« (II: 34)

Subtil ist dabei die Art und Weise, in der Räder sich Weio unterwirft. Seine Lektüren von und sein Interesse an psychologischer wissenschaftlicher Literatur zeitigen ganz konkrete Auswirkungen: Mit diesem Wissen in Psychologie, das er auch an Weio kommuniziert – und zwar in Gestalt des Buches Was ein junger Mann vor und von der Ehe wissen muß (II: 36) –, kann er auf Zwangsmaßnahmen verzichten. Hubert macht sich die pragmatische Argumentation der zeitgenössischen Ratgeber-Literatur zu eigen. In Ehefragen versucht diese, das Wissen über die menschliche Sexualität zu kommunizieren, ohne die Kirche zu verprellen. Die »alten Herrschaften«, wie Räder sagt, leben nach alter Sitte im heiligen Stand der Ehe. Sie müssen sich deshalb auch für nichts schämen – das liegt ganz auf der Linie eines Dr. Karl Weisbrodt, der 1879 einen »ärztlichen Führer« unter dem Titel Die eheliche Pflicht veröffentlicht hat – ein Buch, das mehrere Auflagen erlebt und sich an »junge Leute von anständiger Denkweise« richtet, »denen die Geheimnisse des Geschlechtslebens nichts Unbekanntes mehr sind« und die gleichwohl noch »ihre Eltern mit unveränderter kindlicher Ehrfurcht betrachten« können (Weisbrodt 1894: 8, Vorwort). Eben weil diese einander versprochen sind und in einer »christlichen Ehe« (ebd.: 7) leben, für deren »hohe sittliche Weihe« (ebd.) noch 1894, in der fünften Auflage, Gott und die Kirche bemüht werden. Solche Abhandlungen, deren Sexualaufklärung nicht auf einer christlichen Wertevermittlung basiert, sondern sich pragmatisch der hygienischen und medizinischen Vorsorge verschreibt, ohne deren moralischen Folgen zu

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diskutieren, haben in der Frühen Moderne Hochkonjunktur und können mit der Unterstützung jener rechnen, die den Menschen legitimiert sehen, der Befriedigung seiner Bedürfnisse nachzugehen, ohne dass er darin von »widernatürlichen moralischen Postulaten«11 der Kirche beeinträchtigt werden dürfe. Wenn der Mensch eine Maschine ist, dann lässt sich mittels Bedienungsanleitung lernen, ihn bzw. sie (bzw. sich) besser zu beherrschen, und zwar einfach dadurch, dass man Ratgeber studiert. Dieser »mechanische Materialismus« (Bloch 1992: 293) freilich, der der Neuen Sachlichkeit frommt, aber jede Gefühlsregung durch »Nüchternheit« erledigt, führt zu »Desillusionsromanen« (Bloch 1985: 125), wie Ernst Bloch für das ausgehende 19. Jahrhundert konstatiert. Diese Werke werden nun Gegenstand der Kommunikation von Hubert und Violet, und später auch Gegenstand des Gesprächs von Violet mit Pagel, dem sie davon erzählt. Die Bücher tragen dazu bei, dass Violet ihre sexuellen Erfahrungen, ihre Praxis, mittels Theorie vertieft – Hubert erhofft sich davon Verständnis für seine Wünsche. Den »junge[n] Leute[n] von anständiger Denkweise« (Weisbrodt) kann er nicht zugerechnet werden, er gilt im Gegenteil bei den Frauen als »Unhold«, und er weiß, dass sie eine »körperliche Abneigung gegen ihn verspüren« (II: 349). Gleichwohl sucht er seine Erfahrungen zu machen. Er versieht Weio, von deren sexuellen Eskapaden mit dem Leutnant Fritz er Kenntnis hat, mit Wissen, um sie darauf vorzubereiten. Dann sagt er dunkel: »Da das gnädige Fräulein unterrichtet sind […], darf ich sagen, daß ich nichts Unkeusches im Sinn habe. Es kommt mir nicht auf die Berührung der Brust an…« Er löscht das Licht und nähert sich ihr: »Und nun führt sie seine Hand auf ihrer Brust. Leiser kann sich kein Schmetterling auf der Blüte niederlassen, doch mit einem Schauder, der ihren ganzen Leib schüttelt, weicht sie zurück… Die Hand folgt dem ausweichenden Leib, sie legt sich kühl über die Brust… Sie kann nicht mehr zurückweichen, auch der Schauder vergeht… Kühl dringt es durch den leichten Stoff des Sommerkleides, Kühle dringt durch die Haut, dringt bis zum Herzen vor… Die Angst ist vorbei, sie fühlt die Hand nicht mehr, nur eine immer tiefer eindringende Kühle… Und die Kühle ist Ruhe… Sie hört keinen Laut, sie möchte etwas denken, sie möchte sich sagen: Es ist ja nur der Hubert, ein ekliger, lächerlicher Kerl… Aber es wird nichts daraus. Es fliegt fort, wie in Fetzen die Bilder aus dem Ehebuch durch ihren Kopf wehen, einen Augenblick sieht sie die Seiten, wie in hellem Lampenlicht, die eckige Form der Buchstaben – und vorbei… […] Ihre Sinne werden stumpf für die Außenwelt, sie spürt nur noch die Hand… Und jetzt spürt sie die andere Hand… Die Finger berühren leise tastend ihren Nacken, sie schieben die Haare zurück… Nun gleitet die Hand ganz um ihren Hals, mit einem leichten Druck liegt der Dau11 So etwa in der spät einsetzenden deutschen La Metrie-Rezeption. Vgl. Fr.[ost] 1990: 974.

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men auf dem Kehlkopf, dabei verstärkt sich der Druck auf ihrem Herzen. […] Er hat sie nur ganz sachte angefaßt, wenn er sie überhaupt angefaßt hat […] Plötzlich, sie hat sich schon das Gesicht gewaschen, überkommt sie ein Gefühl grenzenloser Verzweiflung, als sei alles verloren, als habe sie um ihr Leben gespielt und habe es verloren… Mit einer fast gleichgültigen Neugierde betrachtet sich Violet im Spiegel […] Das Fleisch müsste fleckig und verdorben aussehen, so beschmutzt kommt sie sich vor.« (II: 196–199)

Violet von Prackwitz ist Räders Opfer geworden, weil sie den Diener mit ihren jugendlichen körperlichen Reizen erst angestachelt und dann wie eine leblose Puppe behandelt hat. Und Huberts Vorstellungen von Sexualität sind durch das geprägt worden, was er in sich angereichert hat: Das Wissen über die (promiskuitive) Lebensweise der »Jungen«, und das Wissen seiner Lehrwerke, die solche Promiskuität als Körperhunger beschreiben. Die Ehe erscheint dabei in der dargestellten Welt als Lebensform, die nur selten funktioniert. Das funktionierende Modell repräsentieren im Text die Eheleute Gubalke, die sich mit zwei kleinen Mädchen eine bescheidene Zwei-Zimmer-Wohnung und einen Schrebergarten teilen. Beide sind Ordnungspedanten, die in Beruf und Freizeit ein geregeltes Leben führen: Frau Gubalke ist eine fabelhaft ordentliche Frau, die Küche blitzt nur so, und Gubalke weiß, daß in jeder sorgfältig zugeschobenen Lade, hinter jeder zuverlässig abgeschlossenen Schranktür jedes Stück in Ordnung liegt [...]. (I: 174)

Ihr Garten, der alle Freizeit absorbiert, scheint dabei weniger ein Refugium der Entspannung als vielmehr die Basis elementarer Selbstversorgung zu sein (vgl. I: 173). Ein Dissens besteht hinsichtlich der Auffassung, »wie man sich am besten ganz wäscht« (ebd.). Sich »gründlich zu waschen« und »wirklich ordentlich und sauber« zu werden, geht, Leo Gubalke zufolge, nur mit System. Folglich muss der Leib »von oben her: Kopf, Hals, Schultern, Brust und so weiter, bis er unten bei den Füßen ist« (ebd.) gereinigt werden: Das ist wirklich ordentlich und sauber, denn nichts bereits Gesäubertes wird durch das Waschen des nächsten Körperteils wieder berührt. Außerdem ist es sparsam, denn das reichlich von oben rinnende, mit Seife versetzte Wasser weicht die später zu reinigenden Körperteile schon ein. (Ebd.)

Diese überaus rationale Vorgehensweise ist Schutzmann Leo zur Manie geworden, und es ist ihm als Vater gelungen, die Ratio seiner Körperpflege seinen beiden Töchtern zu vermitteln, die »sich nach seiner Methode wuschen« (I: 174). Umso schmerzlicher vermisst er sie bei den Waschgewohnheiten seiner fabelhaften Ehefrau, denn »Frau Gubalke will das nicht einsehen«, und »System in ihre Körperpflege ist nicht zu bekommen«:

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Sie wäscht sich ganz systemlos, jetzt den Rücken, dann die Füße, jetzt die Brust, nun die Schenkel. (Ebd.)

Der Verstand des Mannes und der Frau unterscheiden sich offenbar grundlegend: Oberwachtmeister Leo Gubalke, der dienstlich fast alle Tage mit aufgeregten Frauen zu tun hat, ist fest davon überzeugt, daß auch Frauen Verstand haben können. Aber jedenfalls eine ganz andere Art Verstand als die Männer, und es ist völlig unnütz, sie von etwas überzeugen zu wollen, von dem sie nicht überzeugt sein mögen. (I: 174)

Eine extrem spannende und auch desillusionierende Ehegeschichte erleben Edmund und Mathilde Pagel: »Vor fünfundvierzig Jahren sahen sie sich zum erstenmal, liebten sich, heirateten sich später.« (I: 35) Dann, ein halbes Jahr später, kann der Gesandtschaftsattaché plötzlich nicht mehr laufen: »Ja, da saß er nun und malte. Er saß in seinem Rollstuhl und lächelte und pfiff und malte. Eine zornige Ungeduld erfüllte sie.« (I: 38) Ein »halbes Leben« verrinnt, sie steht »Anfang der Vierzig«, der »bessere Lebensteil« ist »verronnen, verwelkt, vorbei«, da steht er plötzlich wieder auf und geht (I: 40). Draußen vergnügt er sich »mit jungen Mädchen, die so betörend jung waren, daß es einem über den Rücken rieselte, sah man sie nur an...« (Ebd.) Drinnen wartet sie, lässt ihn gehen, wird von ihm schwanger, gebiert sein Kind als Witwe: Sie bedachte den Weg, den sie gegangen war unter diesem Namen; den stürmenden, eiligen Blütenzweig zuerst. Dann die langen, die endlos langen Jahre an der Seite des gelähmten Mannes, der, immer fremder werdend, ruhig und freundlich Bilderchen pinselte, indes sie für ihn nach einer Gesundheit jagte, nach der er doch nichts [sic] mehr zu fragen schien. Schließlich erinnerte sie sich an das Erwachen, an den wieder Auferstandenen mit den weißen Schläfen, der, in die albernsten Geckereien vestrickt, ihr schändlich gestorben ins Haus getragen wurde... (I: 115)

Die »Ehe und Einsamkeit der Frau Pagel« (I: 1) erzählt davon, wie Eheleute sich verpassen, obwohl sie mehr als zwanzig Jahre in einer Hausgemeinschaft zuammenleben: »Widerspiel, Widerpart, Unsinn der Zeit, Widersinn« (I: 42). Die Pensionswirtin Auguste Thumann beherbergt überwiegend finanziell schlecht gestellte Gäste. Sie ist mit dem Maurer Wilhelm, genannt »Willem« verheiratet (I: 44), und ihre Moralvorstellungen sind pragmatisch orientiert – ihr Handeln und ihre Überzeugungen gehen verschiedene Wege: Zwar lehnt sie die wilde Ehe ab, doch duldet sie eheähnliche Beziehungen unter ihrem Dach. In einem ihrer Zimmer wird Petra Ledig unverheiratet schwanger. Aber getreu der Devise: Was der Mann braucht, »is een festet

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Kommando« (I: 27), hat sie ihren Willem fest im Griff und verdeutlicht damit, worauf es in der Ehe ankommt: auf den dominierenden Part der Frau. Amanda Backs ist ein uneheliches Kind aus ärmlichen Verhältnissen. Das bedeutet, noch zu jener Zeit, einen sozialen Nachteil, Herabsetzung und Schande: Schande, ein »Bastard« zu sein. Auch die Schwarze Minna hat schon mehrfach »Sündenfrüchte« unter ihrem Herzen getragen: Wenn aber der Fall weder einmal ganz schlimm lag, und Frau von Teschow wußte es vom Schulzen Haase über ihren Mann, daß dieses Mal bestimmt drei Männer in Frage kamen, und vielleicht waren es sogar fünf, nicht zu reden von denen, die die schwarze Minna aus »Sympathie« verheimlichte (denn die schwarze Minna unterschied bei ihrem Umgang genau zwischen »sympathischen« Männern und belanglosen Mitläufern) – dann verhärtete die Gnädige ihr weiches, weltunerfahrenes Herz und bedachte all dies Sodom und Gomorrha und erinnerte sich, wie oft die schwarze Minna ihr schon Besserung gelobt hatte. (I: 336)

Die gnädige Frau ist nicht nur bigott, sondern auch weltunerfahren, sonst würde sie nicht die Augen davor verschließen, dass mit dem Zerfall der politischen Ordnung infolge des Ersten Weltkrieges und schließlich der Weltwirtschaftskrise von 1923 auch die Sozialordnung und die Moralvorstellungen zur Disposition stehen. Deutlich wird dies an der Kutschersfrau Hartig, deren sexuelle Promiskuität sich am bunten Erscheinungsbild ihrer Kinder ablesen lässt. Die Hartig und Gesandtschaftsattaché Pagel sind, ebenso wie Minna und Amanda, Beispiele dafür, dass Verstöße gegen sexuelle Normen durchaus nichts Ungewöhnliches sind, sondern fast die Regel darstellen. Geforderte Moral und gelebte Praxis driften also auseinander. Noch ein heutiger Reprint von Dr. Karl Weisbrodts »Ausführungen zum richtigen Verhalten im Ehebett« und »zur Ausübung des Zeugungsaktes« wird mit den Worten angepriesen, das Erscheinen der Ehelichen Pflicht sei 1879 bei Presse wie Geistlichkeit »gleichermaßen begeistert« gefeiert worden: »Ein Büchlein, das in sehr dezenter Weise und in durchaus christlichem Sinne von Dingen redet, die sonst für fast unnahbar gelten und in der Tat auch sehr behutsam behandelt sein wollen.« (Weisbrodt 1894, Produktbeschreibung) Die zeitgenössischen Ratgeber hätten damals ausgedient, würden sie sich ausschließlich am gesellschaftlich gewollten und nicht auch am tatsächlich praktizierten Lebenswandel orientiert haben. Die »Hochflut von Schriften« (Weisbrodt) bediente jedoch einen Markt, der sich echte Lebenshilfe von ihnen erwartete: Nicht nur Wolf unter Wölfen, auch andere Romane Falladas erzählen davon.12 Entsprechend trachteten ihre Verfasser, den – bereits 12 In Falladas Roman Der Eiserne Gustav (1939) legt Gustav Hackendahl seinem schulpflichtigen Sohn das Buch Wir jungen Männer. Das sexuelle Problem des gebildeten jungen Mannes vor der Ehe zur Lektüre hin. Vgl. Fallada 2008: 259.

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vollzogenen – moralischen Umbruch abzumildern und aufzufangen – und empfahlen Vorsorgemaßnahmen, um die sozialen und medizinischen Folgen des modernen Lebens als beherrschbar erscheinen zu lassen. Für einen Hubert Räder, dieses emotionslose Räderwerk auf Gummisohlen, sind sie gleichwohl die falsche Lektüre. Aber auch Lesen und Leben driften auseinander: Die meisten Figuren bedürfen der Lektüre nicht, sie sind, wie Violet von Prackwitz, oft schon ›vor ihrer Zeit‹ sexuell aktiv; die bigotte gnädige Frau von Teschow hingegen und der ›unnahbare‹ Außenseiter Räder scheinen sich mittels Literatur gegen das Leben zu immunisieren. Sie werden entweder nur »warm« von den »Sünden der andern« (I: 340), oder sie bleiben, »ganz leblos« wie »ein Stück Holz« (II: 439), von Emotionen, Liebe und Sexualität überhaupt ganz ausgeschlossen.

Literatur Adelung, Johann Christoph (2005): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Bd. 2: F–L. [Elektronische Ressource]. Frankfurt/M: Zweitausendeins (Digitale Bibliothek 40). Binet, Alfred (1887): Le Fétichisme dans l’amour. In: Revue Philosophique 24, 252– 274. Bloch, Ernst (1992): Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt/M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 553). Bloch, Ernst (1985): Literarische Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 558). Bloch, Iwan (1907): Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur. 2. und 3., vielfach verb. und verm. Aufl. Berlin: Marcus. Diderot, Denis (1921): Die geschwätzigen Kleinode oder die Verräter. München: Georg Müller (Die Bücher der Abtei Thelem 28). Engels, Franz (o. J.): Zur Geschichte der Hysterie und der Entstehung der Psychoanalyse. http://www.psychiatriegespraech.de/texte/hysterie.php. Fallada, Hans (2004): Wolf unter Wölfen. 2 Bände. 2. Aufl. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag (Aufbau Taschenbuch 5303/1–2). Fallada, Hans (2008): Der eiserne Gustav. Roman. 2. Auflage. Berlin: Aufbau (Aufbau Taschenbuch 5333) Fr.[ost], E.[berhard] (1990): L’homme plus que machine. In: Kindlers Neues Literaturlexikon. Bd. 9 Hg. von Walter Jens. München: Kindler, 974. Freud, Sigmund (1927): Fetischismus. Erstveröffentlichung in: Almanach der Psychoanalyse 1928 (1927) S. 17–24. Auch in ders.: Gesammelte Werke. Bd. 14: Band 14, Werke aus den Jahren 1925–1931. Hg. von Anna Freud. Frankfurt/M.: S. Fischer 1999, 311–317.] Herz, Rochus (1977) (Hg.): Heimlichkeiten der Männer. Ans Licht gebracht von Rochus Herz. München: Matthes und Seitz (Kultur-Kuriosa 6).

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Bernhard Heinrich

Anstand Hans Falladas moralischer Imperativ Die Begriffe Anstand und Anständigkeit erinnern wohl zunächst eher an feuilletonistische Plaudereien als an wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Das nimmt auch nicht wunder, denn viel zu vage sind die Begriffsinhalte, viel zu sehr verhindern subjektive und zeitgebundene Ausdeutungen eine ernsthafte Debatte.

Problematische Anstandsbegriffe Dessen ungeachtet beginnen auch wir hier mit einer ›Plauderei‹, denn die folgende Begebenheit illustriert, wie problematisch das Verständnis des Anständigen sein kann: Im Freistaat Thüringen gibt es das Eichsfeld, die Heimat des ehemaligen Ministerpräsidenten Althaus, eine Region, die für ihren tief verwurzelten Katholizismus bekannt ist. Es begab sich nun, dass ein gepflegter älterer Herr, der das siebzigste Lebensjahr schon lange überschritten zu haben schien, in einer Erfurter Bäkkerei zu erkennen gab, dass er aus dem Eichsfeld stamme. Auf die Nachfrage des Verkäufers, ob er denn dann wohl auch gut katholisch sei, antwortete der Senior lakonisch: »Nein, ich bin ein anständiger Deutscher.« Offenbar betrachtete dieser Herr das Katholische und das Anständige als Gegensätze, eine Wahrnehmung, die ihm im Eichsfeld wohl wenig Freunde bescheren würde. Was auch immer die Motive für diese Auffassung gewesen sein mögen, seine Haltung führt uns zu der Frage, was denn eigentlich unter Anstand zu verstehen sei. Im Allgemeinen bezeichnet Anstand zunächst nichts weiter als die Fähigkeit, sich in einer gesellschaftlichen Situation angemessen zu verhalten, Anstand, diese Einheit aus »Moral und Manieren« (Schönfeldt 2009: 71), bedeutet hier die Zügelung des Animalischen, den Verzicht auf Selbstüberhebung und Hochmut, auf Egozentrismus und Maßlosigkeit. Dieses Ver-

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halten, dem Raum der Natur angemessen, zielt auf ein sittliches Ideal, das sowohl historisch als auch sozial gebunden und damit variabel ist. Anstand kann demnach nicht als eine »universalierbare Sittlichkeit« (Göttert 2009: 11) verstanden werden, sondern immer nur als ein Ausdruck sich ändernder Sitten, Umgangsformen und Gebräuche. Hierbei gehen wir von der Grundannahme aus, dass Anstand einen originär bürgerlichen Terminus verkörpert, denn der anständige Mensch konnte erst im Zuge der Aufklärung zum Idealtypus der Bürgerlichkeit erhoben werden. Die Einhaltung sittlicher Normen setzt nämlich voraus, dass dem Subjekt Willensfreiheit zukommt. Wo diese Freiheit nicht zugestanden wird, wo jegliche Moral oktroyiert ist, tendiert jeder Anstandsbegriff zur Farce. Als Heinrich Himmler sich im Oktober 1943 in seiner berüchtigten Rede vor hohen Führern der SS des Anstandsbegriffs bediente, rekurrierte er ironischerweise auf bürgerliche Werte, um das inhumane Töten von Juden moralisch zu rechtfertigen. Himmlers Wertvorstellungen umfassen dabei ein diffuses Konglomerat aus Ehre, Treue, Gehorsam, Pflichtbewusstsein, Ehrlichkeit, Tapferkeit und »Anständigkeit«. Doch all diesen Werten fehlte eine Verwurzelung in echten sittlichen Kategorien, so dass im Ergebnis der widersprüchlichen Rede Himmlers die Verstümmelung und Aushöhlung des Anstandsbegriffs stand: »Das jüdische Volk wird ausgerottet«, sagt ein jeder Parteigenosse, »ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.« Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. (Zit. nach Göttert 2009: 255)

Wenig später präzisierte Himmler: Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. Wir haben aber nicht das Recht, uns auch nur mit einem Pelz, mit einer Uhr, mit einer Mark oder mit einer Zigarette oder mit sonst etwas zu bereichern. (Zit. nach Göttert 2009: 255)

An Zynismus ist diese Rede kaum zu überbieten, denn nach Auffassung Himmlers war es anständig, war es »Recht und Pflicht«, den Juden das Leben zu nehmen, aber das Konfiszieren einer einzigen Zigarette zum eigenen Nutzen galt als ein unanständiges und todeswürdiges Vergehen. Himmlers Motive, fasslich und begreiflich allenfalls aus damaliger Sicht heraus, hatten

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die Funktion, den Tötenden das Gewissen zu erleichtern: Ihnen sollte eine Willensfreiheit vorgegaukelt werden, und die Worthülse »Anstand« sollte einen Einklang mit bürgerlichen Werten vorspiegeln, Werten, die in der Erziehung vieler SS-Männer, wie auch bei Himmler selbst, eine Rolle gespielt hatten.

Anständigkeit als moralischer Imperativ Doch dort, wo die menschliche Dimension aus dem Anstandsbegriff herausgelöst oder mit einem ›falschen‹ Begriff von Anständigkeit korreliert wird, hat er seine Berechtigung verloren, denn das »Menschenrecht«, wie Thomas Mann es in seinem 1931 erschienen Aufsatz Die Wiedergeburt der Anständigkeit formulierte, hängt mit den sogenannten ›bürgerlichen Ideen‹, mit der Idee selbst, mit dem, was der unterscheidende Mensch das Gute nennt, mit den sittlichen Forderungen der Freiheit, der Wahrheit, der Gerechtigkeit untrennbar zusammen, und kein anti-intellektualistischer Rückschlag, keine Anthropologie des ›Unbewußten‹, keine ›konservative Revolution‹ kann ihm – im Geiste – je den leisesten Abbruch tun, gesetzt auch, daß sie sich als ›national‹ empföhle. (Mann 1984: 342)

Im Geiste der Freiheit und Humanität bewegte sich auch Hans Fallada, wenn er der Anständigkeit das Wort redete und mehr noch »Anständigkeit« zum moralischen Imperativ erhob, zur Richtschnur menschlichen Zusammenlebens, so dass alle anderen sittlichen Begriffe dahinter zu verblassen scheinen. Als Ausgangspunkt der weiteren Ausführungen soll daher anhand der Romane Kleiner Mann – was nun? (1932) und Jeder stirbt für sich allein (1947) eine konzise Analyse des Fallada’schen Verständnisses von Anstand unternommen werden, und zudem soll kurz angedeutet werden, weshalb Fallada moralische Fragen mit dem Hinweis auf Anstand und Anständigkeit zu beantworten suchte. Kleiner Mann – was nun? erzählt, wie Fallada in einem Brief an seinen Freund Kagelmacher im Juli 1931 ausführt, »ein Tausendschicksal, eine Schicksal unter Millionen«.1 Es ist das Schicksal des angestellten Verkäufers Johannes Pinneberg, der sich gemeinsam mit seiner Frau Emma, dem »Lämmchen«, durch die Wirren der Zeit schlagen muss, die von politischem Radikalismus, Arbeitslosigkeit und Not geprägt sind. Pinneberg, der »kleine Mann« steht den Zeitläufen anscheinend ohnmächtig gegenüber, allein sei1

Das handschriftlich vermerkte Datum ist nicht genau zu entziffern, es könnte sich um den 23., den 25. oder den 26. Juli handeln. Falladas Briefwechsel wird im Hans-Fallada-Archiv in Carwitz verwahrt.

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ne Ehe mit Lämmchen verspricht zunächst bürgerlichen Halt, denn sie hilft ihm über die immer evidenter werdenden ökonomischen Schwierigkeiten hinweg. Als Pinneberg von der Firma Kleinholz in Ducherow entlassen wird, lobt er das private Glück: Es ist herrlich, wenn man jemand hat, für den man arbeiten und sorgen kann, nun ja, meinethalben auch sorgen und arbeitslos sein. (104)

Und auch zum Schluss des Romans schimmert für Falladas unheldischen Helden ein privater Hoffnungsschimmer am Horizont. Pinneberg, von Armut und Langzeitsarbeitslosigkeit gezeichnet, von einem Schupo aus der bürgerlichen Welt vertrieben, eine »ungefährliche, ausgehungerte, hoffnungslos gemachte Bestie des Proletariats« (138), die sich davor fürchtet, anderen in die Augen zu schauen, wird von Lämmchen aufgefangen: »Aber du kannst mich doch ansehen! Immer und immer! Du bist doch bei mir, wir sind doch beisammen…« Die Woge steigt und steigt. Es ist der nächtliche Strand zwischen Lehnsan und Wieck, schon einmal waren die Sterne so nah. Es ist das alte Glück, es ist die alte Liebe. (364)

Johannes und Emma Pinneberg halten den Glauben an eine glückhafte Beziehung aufrecht, es ist die einzige Sicherheit ihres verunsicherten Lebens, das in ihnen ein tiefes Misstrauen gegenüber öffentlichen Institutionen erzeugt. Der Gewerkschaftsfunktionär beispielsweise möchte Johannes nicht wirklich helfen, die Krankenkasse zögert die Zahlung von Geldern hinaus, das Arbeitsamt verweigert ihnen den offiziellen Umzug in die viel günstigere Laube. Weder Johannes noch Lämmchen verschwenden einen Gedanken an eine außerweltliche Autorität, ihre Erlebnis- und Gefühlswelt ist unmittelbar, nur hin und wieder von Erinnerungen oder Wünschen überlagert. Ihre moralischen Wertvorstellungen erwachsen daher auch nicht aus einem Bezug zu einer transzendenten Größe, sondern wurzeln in der Erziehung und sind nach und nach verinnerlicht worden. Lämmchen hat so ein paar einfache Begriffe, daß die meisten Menschen nur schlecht sind, weil sie schlecht gemacht werden, daß man niemanden verurteilen soll, weil man nicht weiß, was man selber täte, daß die Großen immer denken, die Kleinen fühlten es nicht so – solche Sachen hat sie in sich, nicht ausgedacht, die sind in ihr. (138 f.)

Emma, geborene Mörschel, die in einem proletarischen Milieu sozialisiert wurde, leitet aus ihren moralischen Grundüberzeugungen die Pflicht politischen Handelns ab. Sie plädiert dafür, die Kommunisten zu wählen, wofür Pinneberg jedoch keine Notwendigkeit sieht, solange er noch in Stellung ist. Pinneberg denkt nicht politisch, er ist ein von den Verhältnissen getriebener Charakter.

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Der »kleine Mann« muss sich fügen, aber bei allem Unbill gesteht Fallada ihm immer auch Wahlfreiheit zu, wie der leichtsinnige Kauf einer Frisierkommode demonstriert. Pinneberg, der hier als Käufer auftritt, hätte dem Verkäufer gegenüber auch »anständig« handeln können, doch lässt er sich in seiner Unsicherheit auf ein Machtspiel ein, das er aus eigener Erfahrung nur zu gut kennt und das bei ihm einen schalen Nachgeschmack hinterlässt. Er insistiert darauf, eine Frisiertoilette zu erwerben, obwohl sie gar nicht als Einzelstück verkauft werden soll: »Ich will die Toilette haben, verstehen Sie. Also machen Sie sie nach. Oder verkaufen Sie sie eben nicht, mir ist das egal. Es gibt ja so viele Geschäfte, wo man anständig bedient wird…« Und während Pinneberg all dies sagt und immer aufgeregter wird, fühlt er innen, daß er ein Schwein ist, daß er sich genauso mies benimmt wie seine miesesten Kunden. (155)

Derartige Momente der Selbstreflexion lassen erkennen, dass Johannes von Fallada als wertkonservativer Charakter angelegt ist, der sich nur schwer von kleinbürgerlichen Sittlichkeitsvorstellungen zu lösen vermag. So kann er weder akzeptieren, dass seine Mutter als Bardame tätig ist, noch kann er den Verkauf von Aktfotos mit seinen sittlichen Grundüberzeugungen vereinbaren. Dies könnte die Vermutung nahelegen, dass Fallada seinen Anstandsbegriff ebenfalls wertkonservativ verstanden wissen möchte – doch die differenzierte Betrachtung offenbart, dass Fallada seine Auffassung von Anstand hier nicht an formalen Konventionen, sondern in nuce am Ideal der menschlichen Würde ausrichtet. Wenn man seine Würde nicht preisgibt, dann kann man, wie Fräulein Klara Heinze es in Bauern, Bonzen und Bomben so treffend formuliert, »eine Masse dreckiger Sachen tun und doch ein anständiger Mensch sein.« (258) Frau Heintze, die sich prostituieren muss, bewahrt sich trotz allem ihre Würde, denn es ist die nackte Not, die sie dazu zwingt, sich »nach dem Zwanzigsten ein paar Herren zu suchen.« (258) Lämmchen hingegen repräsentiert einen moralischen Rigorismus. Obgleich sie die Gesetze, die jemanden »wegen drei Mark Holz ins Kittchen« befördern können, für lächerlich hält, insistiert sie dennoch darauf, dass ihr »Junge«, ihr Johannes, »sauber bleibt« und sich nicht an den Holzdiebstählen anderer beteiligt: »Aber der Junge kann’s nicht«, sagt Lämmchen eifrig. »Der ist wie sein Vater, der hat nichts von seiner Mutter. Mama hat es mir ja zehnmal erzählt, was für ein Püttjerhannes sein Vater gewesen ist, erst mit seiner Arbeit als Bürovorsteher beim Rechtsanwalt, alles hat genau sein müssen bis auf ’s [sic] Tittelchen. Und dann mit seinem ganzen Privatleben. Wie er losgelaufen ist am Abend, wenn am Morgen eine Rechnung gekommen war und hat sie sofort bezahlt. ›Wenn ich sterbe‹, hat er

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gesagt, ›und die Rechnung kommt weg, kann einer sagen, ich bin ein unehrlicher Mann gewesen. Und darum ist es kein Luxus, Jachmann, das muß er behalten, und wenn er jetzt manchmal denkt, er kann sein wie die andern: er kann nicht. Er muß sauber bleiben. (359 f.)

Lämmchen glaubt, dass eine derartige Unbescholtenheit als einzige garantieren kann, dass Pinneberg seine Würde nicht vollends verliert. Denn Würde ist etwas, das man ihm nicht nehmen kann, wenn er sich »anständig« verhält. In aller Vorsichtigkeit hat Fallada auch selbst diesen Glauben für sich in Anspruch genommen: …also, glaube ich ein bißchen daran, daß es hilft, ein ganz klein wenig hilft, wenn man den Menschen sagt: seid anständig zu einander. Schweres wird nicht leicht dadurch, dass man nett zueinander ist, aber manches Schwere wird leichter. Ich denke so, der Mann hinter meinem Krankenkassenschalter, der meinen Pinneberg abfertigt und hat gerade das Buch gelesen, er ist vielleicht ein ganz klein bißchen netter. […] Es ist wenig, ich gebe es Ihnen zu, es ist herzlich wenig, aber mein Buch ist – nach Bauern, Bonzen und Bomben und vor einem sehr schweren, trostlosen andern – der Glaube an die Anständigkeit des Menschen und der Appell an diese Anständigkeit. (Zit. nach Müller-Waldeck 1997: 114)

Anstand und menschliche Würde Diesen Appell an die Anständigkeit prononcierte Fallada insbesondere in seinem Nachkriegsroman Jeder stirbt für sich allein, eine literarische Auseinandersetzung mit einem System, das »jedes Gefühl für Anstand und Menschlichkeit« (Fallada 2009: 54) zerstörte, wie es Fallada 1944 in seinem Gefängnistagebuch vermerkte. In diesem Roman schildert Fallada den mutigen, aber nahezu wirkungslosen Widerstand des Berliner Arbeiterehepaares Quangel gegen das Hitlerregime. Nachdem ihr Sohn Otto an der Front gefallen ist, entschließen sie sich, Postkarten antinationalsozialistischen Inhalts in Hausfluren abzulegen, um die Menschen aufzurütteln. Der Akt des Widerstands ist ihnen wichtiger als das messbare Ergebnis: »Jeder nach seinen Kräften und Anlagen – die Hauptsache man widerstand.« (105) Der Widerstand ist aber kein Wert an sich, sondern es geht hierbei wiederum um menschliche Würde. Die Quangels wollen nicht länger als Unterstützer eines Systems gelten, das ihnen den Sohn gemordet hat – das verleiht ihnen eine moralische Überlegenheit, die sie die größten Qualen aushalten lässt. Als die Gestapo Quangel zu demütigen sucht, indem sie Schnapsgläser auf seinem Kopf zertrümmert, bezwingt er seinen so scheinbar mächtigeren Gegner Escherisch.

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…und dann also hatte Escherich sein Glas auf Quangels Kopf zerschlagen. Viermal hatte er mit seiner zitternden Hand zuschlagen müssen, ehe das Glas zerbrach, und die ganze Zeit über hatte er den scharfen, höhnischen Blick auf sich gefühlt, der schweigend seine Entwürdigung miterlebte. Diese lächerliche Figur im zu kurzen Hemd, sie war stärker, würdevoller gewesen als all seine Quäler. (301)

Und so beschwört Otto Quangel seine Frau auch vor der eventuell anstehenden Enthauptung: Aber es ist vielleicht gut, Anna, schon im ruhigen Leben an ein schweres Sterben zu denken, sich darauf vorzubereiten. Daß man weiß, man wird anständig sterben können, ohne Gewimmer und Gejammer. (316 f.)

Aber auch andere Figuren verkörpern die als Idealbild entworfene Konzeption der Anständigkeit: Der Musiker Reichhardt bestärkt Otto Quangel in seiner Auffassung, dass der Widerstand gegen das Naziregime sich gelohnt hat, »weil wir uns bis zum Tode als anständige Menschen fühlen können.« (458) So, wie die Quangels und Dr. Reichhardt gerät auch Eva Kluge in das Spannungsfeld zwischen einem inhumanen System und ihren humanen Grundüberzeugungen, die Fallada wiederum unter dem Begriff der »Anständigkeit« subsumiert. Als die beamtete und zur Systemtreue verpflichtete Briefträgerin Eva Kluge von den Greueltaten ihres Sohnes erfährt, entschließt sie sich zum Parteiaustritt und zur Kündigung; so wahrt sie ihre Würde und ihre moralische Integrität: »Dann hat sie eben das im Leben erreicht, daß sie anständig geblieben ist.« (35) Fallada beschwört hier wiederum eine moralische Kategorie, die sich unabhängig von einer transzendenten oder außerweltlichen Macht entfalten kann. Obzwar in der Figurensprache des Romans Jeder stirbt für sich allein die humane Idee, die sich mit dem Christentum verbindet, durchaus anerkannt wird, wird die Möglichkeit der Lösung politischer oder gesellschaftlicher Probleme auf der religiösen Ebene dezidiert verworfen. Der Schwager Otto Quangels, Ulrich Heffke, der als tiefreligiöser Mensch charakterisiert wird, kann trotz seines Glaubens keine innere Kraft gewinnen und wird erbarmungslos von der Vernichtungsmaschinerie der Nazis zermalmt. Der Nachfolger des »guten Pastors Lorenz« lebt seine Religion ohne jede menschliche Anteilnahme. Das christliche Gebot »Du sollst nicht falsch Zeugnis geben wider deinen Nächsten« wird missbraucht, um Anna Quangel die letzte Hoffnung zu nehmen. Fallada, der kein religiöser Autor war, führt in einem inneren Monolog Otto Quangels einen Gedanken an, der charakteristisch für das vom Krieg zerrüttete Deutschland geworden war; Religionsskepsis war eine Folge der grausamen Verhältnisse:

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An Gott konnte niemand mehr glauben; es war unmöglich, daß ein gütiger Gott solche Schande, wie sie heute auf der Welt war, zuließ, und was die Menschen anging, diese Schweine… (331)

Fallada führt das humane Handeln seiner Figuren nicht auf einen Gottesglauben zurück, sondern auf individuelle Wertmaßstäbe, die durch ihre Herauslösung aus dem religiösen Kontext den Anspruch allgemeiner Gültigkeit erheben können. »Was wir brauchen und wozu wir kommen werden, das ist – über alle Parteien und Ideen hinweg – eine Front der ›Anständigen‹ im Lande, eine Front der Menschen, die menschlich denken.«, schrieb Fallada an Dr. Zellner am 27. 11. 1932. Damit griff Fallada einen Gedanken des Schiller-Urenkels Alexander Gleichen-Rußwurm auf, der in einem Essay über Art und Unart einen Verhaltenskodex für den bürgerlichen Humanisten aufstellte. Gleichen-Rußwurm postuliert in diesem Aufsatz, dass die »Partei der Anständigen« über allen thront, weil die Anständigen »Welt haben« und das »Gemeine« (Gleichen-Russwurm 1927: 144) abstreifen konnten. Es erscheint unausweichlich, dass diese »Partei der Anständigen« in einem unanständigen und schweinischen System in Konflikt mit den Mächtigen geraten muss, aber auch als notwendig. 1932 gab Fallada Auskunft über seinen Schriftstellerkollegen Erich Kästner, und er entwarf darin ein moralisches Manifest, das er in Jeder stirbt für sich allein literarische Wirklichkeit werden ließ: Hab nur Sorgen, leide Enttäuschungen, mach dir Schmerzen – so ist die Welt. Aber so soll sie nicht sein. Tut, was ihr wollt, sagt Fabian Kästner, wir nicht auf die Anständigkeit verzichten. Tut was ihr könnt, wir werden darum schwarz schwarz und einen Millionär einen Schurken nennen. Jagt, habt Erfolg – wir werden das nur Betrieb und Mißerfolg nennen. Zieht uns hinein in eure Schweinereien – das könnt ihr, aber sterben tun wir doch allein, ganz allein, ohne euch, beispielsweise bei der Rettung eines Kindes; wir Fabian Kästners protestieren, heute, morgen, immer! Es ist die alte Melodie, im Anfang, am Ende, wie in der Mitte. Sie ist der Grundakkord des Menschen Kästner: seid anständig. Laßt euch nicht verführen. Bleibt anständig. (Fallada 1932a: 371)

Beiden, Fallada wie Kästner, war vermutlich klar, dass Anstand nur bedingt tauglich ist, die Welt zu bessern. Aber »Anstand« ist immer ein Schritt in eine Richtung, in der der Mitmensch seiner Würde nicht beraubt wird. Damit ist viel, aber nicht alles getan. Und dass Fallada in diesem Sinne gewirkt hat, macht ihn zu dem humanen Autor, der heute noch geschätzt und gelesen wird.

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Literatur Fallada, Hans (1931): Bauern, Bonzen und Bomben. Roman. Berlin: Rowohlt. Fallada, Hans (1932a): »Auskunft über den Mann Kästner«. In: Die Literatur 43, H. 7, 367–371. Fallada, Hans (1932b): Kleiner Mann – was nun? Roman. Berlin: Rowohlt. Fallada, Hans (1947): Jeder stirbt für sich allein. Berlin: Aufbau. Fallada, Hans (2009): In meinem fremden Land. Gefängnistagebuch 1944. Hg. von Jenny Williams und Sabine Lange. Berlin: Aufbau. Gleichen-Russwurm, Alexander (1927): Über Art und Unart. Leipzig: Merseburger. Göttert, Karl-Heinz (2009): Zeiten und Sitten. Eine Geschichte des Anstands. Stuttgart: Reclam. Mann, Thomas (1984): Die Wiedergeburt der Anständigkeit. Erstmals in: Der Staat seid Ihr. Zeitschrift für deutsche Politik 1 (1931) H. 1–4 vom 9., 16. u. 23. 3. 1931, 2–23. Auch in ders.: Reden und Aufsätze 4. Frankfurt/M.: S. Fischer 1965 (Geammelte Werke in dreizehn Bänden, 12), 649–677. Zitiert nach Thomas Mann: Von Deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland. Nachwort von Hanno Helbling. Frankfurt/M.: S. Fischer 1984 (Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe), 314–343. Müller-Waldeck, Gunnar/Ulrich, Roland (1997) (Hgg.): Hans Fallada. Sein Leben in Bildern und Briefen. Berlin: Aufbau. Schönfeldt, Sybil von (2009): Anstand. Warum wir Takt und gutes Benehmen brauchen. München, Zürich: Piper (Serie Piper 5491).

Heribert Hoven

Jedermann ein Denunziant Anmerkungen zur vergangenen und gegenwärtigen Aktualität von Hans Falladas Roman Jeder stirbt für sich allein Obgleich es einen völligen Neuanfang nach 1945 im Sinne eines Schlussstrichs unter das ›Dritte Reich‹ nicht gegeben hat, hält sich die Mär von der ›Stunde Null‹. Bereits kurz nachdem die Wehrmacht am 8. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst bedingungslos kapituliert hatte, kamen der Wunsch und der Wille auf, mit der Vergangenheit abzurechnen. Es gab den Anstoß dazu naturgemäß bei den Besatzungsmächten, die jetzt für Deutschland die Verantwortung trugen.1 So folgten relativ rasch nach Kriegsende erste Gerichtsverfahren gegen die Wachmannschaften der Konzentrationslager Bergen-Belsen und Dachau und etwas später gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg.2 Gegen andere Repräsentanten und Anhänger des NS-Regimes wurde in Spruchkammerverfahren ermittelt (vgl. Vollnhals 1991). Über all dies berichteten die deutschen und internationalen Medien (vgl. zuletzt Winkler 2011). Aber auch bei den deutschen Schriftstellern gab es, entgegen der These von der allgemeinen Verdrängung, den Wunsch, das Geschehene künstlerisch zu verarbeiten, und dies lange vor der sogenannten Trümmerliteratur, die von der Gruppe 47 ausging und nicht wenig zum Selbstmitleid der späteren Wirtschaftswunderkinder beitrug (vgl. Wehdeking 1990). 1946 erschienen Elisabeth Langgässers Das unauslöschliche Siegel und Ernst Wiecherts Der Totenwald, Werke, die das Erlebte ins Metaphysische zu transzendieren suchten.3 In der SBZ wurden 1946 Anna Seghers Das siebte Kreuz und Günter Weisenborns Memorial veröffentlicht, 1947 Harald Hausers Widerstandsroman Wo Deutschland lag… Im selben Jahr kamen die Erzählungen von Wolfgang Borchert und sein Heimkehrerdrama Draußen vor der Tür heraus. Einige dieser Werke sind, wie auch Thomas Manns 1947 erschienener Roman Doktor Faustus, im Exil und also 1 2 3

Vgl. dazu die umsichtig argumentierende Darstellung von Gerhardt 2005. Zuletzt dargestellt in Cramer 2011 sowie Weinke 2006. Ernst Wiecherts »Bericht aus dem KZ-Lager Buchenwald«, Der Totenwald, wurde 1939 geschrieben und 1946 veröffentlicht.

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ohne direkte Anschauung der Kriegs- und Zwischenkriegszeit in Deutschland entstanden oder spielen in einem von den Nazis besetzten Land.

»Heute kämpft jeder für sich allein – und gegen alle« Soziogramm eines Terrorstaates Aus all diesen frühen Auseinandersetzungen mit der Nazidiktatur jedoch ragt Falladas letztes Buch Jeder stirbt für sich allein (1947) heraus, und dies gleich in mehrfacher Hinsicht, was wiederum auch den späten und inzwischen weltweiten Erfolg erklären könnte.4 Die Originalfassung des 700-Seiten-Romans, den Fallada seit dem Herbst 1946 innerhalb von vier Wochen und in einem wahren Schaffensrausch niederschrieb, besticht durch ihre Direktheit: Der Text zielt auf »Authentizitätssuggestion«, sein Wortschatz auf Bildlichkeit, Einfachheit, Lesbarkeit, so dass hier – anders als beim neusachlichen Stil der Spätphase der Weimarer Republik – konventionellere Muster greifen.5 Die »Synthetische Moderne«6 camoufliert die Brüche der Avantgarde, normalisiert ihre Errungenschaften und erschließt sie für ein breites Lesepublikum: Und wieder liegt sie, die Decke anstarrend, auf dem Rücken, die ewig gleiche Mühle dreht die ewig gleichen Qualgedanken und Angstbilder in ihr. Dann – allmählich – wird das schwächer, die Augen schließen sich, der Schlaf ist nahe. Und wieder auf seiner Schwelle der Stoß, der Ruck, der Krampf, der ihren ganzen Körper zusammenzieht. Wieder ist sie vertrieben aus der Ruhe, dem Frieden, dem Vergessen. (Fallada 2011: 144)

Die Angst ist ein konstitutives Merkmal dieses Romanwerkes – nahezu alle Figuren bei Fallada scheinen ihr unterworfen und ausgeliefert zu sein: Ein veritables »Geschlecht voller Angst« bevölkert die dargestellte Welt und treibt sich in den »permanenten Existenzkampf« aller gegen alle (vgl. Ächtler 2010: 134 f.). Die kleinen und großen Dramen der Berliner Lebenswelt bestechen gleichermaßen durch ihre Schlichtheit und Grausamkeit; sie künden von der Erosion der sozialen Verhältnisse im totalitären System und von der »kollektiven moralischen Degeneration des Volkes« (vgl. ebd.: 141 u. 145). Nominalhäufungen herrschen vor, der Spannungsbogen wird nach dem Prinzip der Zeitromane Bauern, Bonzen und Bomben 4 5 6

Über den späten internationalen Erfolg des Romans vgl. das aufschlussreiche Nachwort von Almut Giesecke in Fallada 2011. Ferner Diez 2011: 145. – Das Zitat »Heute kämpft jeder für sich allein – und gegen alle« aus Fallada 2001: 231. Den Begriff der »Authentizitätssuggestion« entlehne ich bei Ächtler 2010: 132. Zum Konzept der »Synthetischen Moderne« vgl. Frank/Palfreyman/Scherer 2005.

Zur Aktualität von Jeder stirbt für sich allein

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(1931) oder Wolf unter Wölfen (1937) in jeweils übernächsten oder späteren Kapiteln fortgesetzt: So kamen Quangels wieder auf freien Fuß, sehr zu ihrer eigenen Überraschung, denn mit ein paar gründlichen Verhören und einer Haussuchung hatten sie doch gerechnet. (Fallada 2011: 422)

Entsprechend endet das 39. Kapitel (»Die dritte Warnung«), während das 41. (»Otto Quangel wird unsicher«) wie folgt beginnt: Die beiden Quangels sind an diesem Sonntagabend ohne ein Wort nach Haus gefahren, ohne ein Wort haben sie zu Abend gegessen. Frau Anna, die, als es darauf ankam, so mutig und entschlossen gewesen war, hatte in der Küche rasch einige heimliche Tränen geweint, von denen Otto nichts wissen durfte. Jetzt, hinterher, da alles ausgestanden war, haben Schrecken und Angst sie erfasst. (Ebd.: 429)

Damit die Spannung nicht nachlässt, verkünden die Kapitelüberschriften mitunter überdeutlich: »Die erste Warnung« (388), »Die zweite Warnung« (408), »Die dritte Warnung« (413), um dann, siebzig Seiten später, »Die Verhaftung Anna Quangels« (484) zu vermelden. Der auktoriale Erzähler hat selbstredend Einblick in jede der Personen, die mehr ›Typen‹ als Charaktere vertreten. Hart am Klischee verkommen die Bösen, während die wenigen Guten in jeder Hinsicht »sauber« sind (667). Von Trudel, einer der wenigen jugendlichen Heldinnen, heißt es: »Die Trudel ist goldecht« (120), sie ist ein »Prachtmädel« (35) oder wahlweise »ein bildhübsches Mädel« (37), mit »lachenden Augen und der hohen Brust.« (35) Die Dialoge wirken mitunter hölzern (»O nein, Otto. Tu das nicht!« [Vgl. 415]), als führe der Zufall heftig Regie, und am Ende der bedrückenden Ereignisse liegt der märchenhafte Hoffnungsschimmer einer besseren Zukunft über der dargestellten Welt: Kuno Kienschäper stand noch so lange auf der Straße, bis die verschlissene Gestalt zwischen den Kornfeldern verschwunden war. […] In den nächsten Tagen wunderte sich Mutter Kienschäper manches Mal, dass der Junge so gar nicht vom Hofe zu kriegen war. Sonst war er immer der Erste bei der Feldarbeit gewesen, und jetzt wollte er nicht mal die Kuh auf der Weide tüdern. Aber sie sagte nichts, und der Junge sagte nichts, und als die Tage gingen in den reifen Sommer hinein und die Roggenernte anfing, da ging der Junge mit seiner Sense doch hinaus … Denn was man gesät hat, soll man auch ernten, und der Junge hatte gutes Korn gesät. (667 f.)

Die Unmittelbarkeit des Erzählten wird dadurch unterstrichen, dass sich von den sprachlichen Mitteln neben dem Leittempus Präteritum das Präsens als Erzähltempus prominent behaupten kann. Das folgende Beispiel veranschaulicht die stilistische Dynamik, die daraus resultiert:

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Und sie ist auch geduldig geworden. Sie fängt an, sich dareinzudenken, dass dies ein langer Krieg wird. Es ist jetzt Ruhe in ihr, Otto hat alles bedacht, auf Otto ist Verlass, immer und immer. Wie er alles überlegt hat! Die erste Karte in diesem Kriege, sie hat im gefallenen Sohne ihren Ursprung, sie spricht von ihm. Einmal hatten sie einen Sohn, der Führer hat ihn ermordet, jetzt schreiben sie Karten. Ein neuer Lebensabschnitt. Äußerlich hat sich nichts geändert. Innerlich ist alles ganz anders geworden, da ist Krieg … (184)

Häufig steht der Tempusübergang (vom Perfekt oder Präteritum zum Präsens, vom Tempus der besprochenen zu den Tempora der erzählten Welt), wenn, wie hier, eine Fokalisierung erfolgt und Falladas Erzählinstanz – meisterlich – der subjektiv gefärbten Figurenperspektive folgt.7 Dann wieder wird, vergleichsweise nüchtern, die »ordnende Hand« des Erzählers erfahrbar: Unterdes war Quangel in das Bürohaus eingetreten. Er hatte sich nur darum so rasch dazu entschlossen, weil die Frau an seiner Seite war. Sie machte ihn unruhig, jeden Augenblick konnte sie wieder »davon« zu reden anfangen. In ihrer Gegenwart mochte er nicht lange suchen. Sie würde sicher wieder davon zu reden anfangen, dieses Haus vorschlagen, jenes ablehnen. Nein, nichts mehr davon! Da ging er lieber in das erste Beste hinein, wenn es auch das erste Schlechteste war. (Fallada 2011: 192)

Dieser Erzähler konstruiert die Realität sachlich und differenziert, und er besticht durch die Einsichten, die er vermittelt, sind sie doch keineswegs banal. Vielmehr entfaltet Falladas textinterner Repräsentant das Soziogramm eines Terrorstaates, das so einleuchtend und schlagend ist, dass plausibel wird, weshalb in der Nachkriegsgesellschaft keinerlei nostalgisches Gefühl und gar ein »Weiter so« aufkommen durften.8 Bereits im ersten Satz seines kurzen Vorwortes, das der Autor auf den »26. Oktober 1946« datiert, erwähnt Fallada die authentischen »Geschehnisse«, die seinem Roman das Sujet lieferten, und umschreibt sie kursorisch als »die illegale Tätigkeit eines Berliner Arbeiter-Ehepaares während der Jahre 1940 bis 1942.« (Fallada 2011: 5) Doch Vorsicht – bei aller Direktheit in puncto Sujet und Sprache darf doch das Moment der Konstruktion nicht übersehen werden! Fallada selbst weist uns darauf hin, wenn er seine einleitenden Worte zur Aktenlage sofort wieder relativiert, indem er bekennt, dass er es bewusst vermieden 7

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Für Georg Diez lebt der Roman geradezu »von der Authentizitätsverzückung, vom Ja-so-war-es.« Vgl. Diez 2011: 145. – Über die Funktion der Tempora für die Erzählsituation vgl. Weinrich 2001. Die wichtigsten Thesen dieser Studie aus dem Jahre 1964 resümiert Hagestedt 2001. – Der Terminus der »Fokalisierung« nach Genette 1994. Literaturkritiker Denis Scheck urteilte am 29. 4. 2011 im DeutschlandRadio Kultur: »ein grandioses, düsteres Sittengemälde aus der Nazizeit« (Sendung »Büchermarkt«).

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habe, »Authentisches« (ebd.: 5) zu erzählen – dann nämlich hätte er die Darstellung der Gestapo umsetzen müssen. Ein Roman aber hat eigene Gesetze und kann nicht in allem der Wirklichkeit folgen. [...] Der Verfasser gestattet sich, darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Buch fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. [...] Es hat dem Verfasser auch oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet. (5)

Tatsächlich beginnt die Ereignisfolge, die Fallada aus den Akten rekonstruieren konnte, erst mit der Verhaftung des Ehepaars Anna und Otto Quangel, den beiden Protagonisten. Und sie endet damit, dass beide an sich wachsen und sich ›überwinden‹: »Furchtlos und frei« gehen sie in den Tod (662). Die ›wahren Quangels‹ jedoch, die in der Wirklichkeit »Hampel« hießen, waren, im Unterschied zu Falladas Darstellung, keineswegs versöhnt und sich einig, sondern bezichtigten sich vor Gericht gegenseitig, um so der Hinrichtung zu entgehen.9 Es ist also keineswegs das fiktionale Konstrukt, welches an die Wirklichkeit heranreicht, es sind vielmehr die Einzelheiten, die der gelernte Journalist Fallada seiner Umgebung abgeschaut hat und die oft erst in jüngster Zeit in unser Bewusstsein gelangt sind. So etwa spricht Fallada bereits 1946 die Erkenntnis aus, dass der NSStaat nur durch »Zwangsarbeiter-Import« und »Sklavengeschäfte« (Fallada 2011: 165) so lange habe bestehen können, und dass so mancher SS-Mann »Judenmädchen erst schändete und dann gleich hinterher erschoss.« (ebd.: 47) Was erst Jonathan Littell 2006 in seinem Roman Die Wohlgesinnten in aller Deutlichkeit und zum Entsetzen mancher Zeitgenossen schilderte, ist der lebensklugen Briefträgerin Eva Kluge, nomen est omen, 1940 bereits bekannt, wenn sie auf ein Bild, das ihren Sohn zeigt, »wie er so’n Judenkind von vielleicht drei Jahren beim Bein hält, und mit dem Kopf haut er’s gegen die Stoßstange vom Auto« (53), mit Abscheu sowie damit reagiert, dass sie sich von ihm lossagt. Fallada erkannte also hellsichtig, dass der NS-Staat ein gigantischer Raubzug gegen fremde Völker (»Wir schreiben 1940, die Ausplünderung der überfallenen Völker hat begonnen« [133]10), aber auch gegen Teile der eigenen Bevölkerung war. Das Haus in der Berliner Jablonskistraße 55, in dem alle Handlungsfäden zusammenlaufen, ist geradezu die Miniaturausgabe des ›Dritten Reiches‹ und das Gegenteil einer Hausge9

Eine Analyse der Aktenlage unternimmt Kuhnke 2011 in seiner verdienstvollen Untersuchung. Den »furchtbaren Tatbestand des moralischen Zusammenbruchs« des Ehepaares referiert Kuhnke auf den Seiten 33 ff. 10 Erst 2005 beschreibt Götz Aly in seinem Buch: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus das ›Dritte Reich‹ als gigantischen Raubzug, wovon allerdings auch schon Heinrich Böll in seinen Kriegsbriefen berichtet, ohne dies als unmoralisch zu empfinden; vgl. dazu: Böll 2001.

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meinschaft – es ist vielmehr eine Gesellschaft von Denunzianten oder gar von Bestien, ein Haus, in dem das Verhängnis beheimatet ist: Hier wohnt das Ehepaar Quangel neben dem versoffenen Parteibonzen Persicke und seinem ruchlosen Sohn, dem HJ-Führer, unter einem Dach mit der alten Jüdin Rosenthal und dem gewissenlos-gierigen Werkmeister Barkhausen.11 Und letztlich führt die Tatsache, dass ausgerechnet im Haus Jablonskistraße 55 keine Karte abgelegt worden ist, bis auf die eigentlich vergessene, welche dann in Quangels Wohnung gefunden wird, zur Festnahme der Quangels. In diesem Haus und seinem Hinterhaus bereichern sich Partei- und andere Genossen hemmungslos, bestehlen ihre jüdischen Mitbewohner und treiben sie in den Tod oder ins Exil: Wir wollen alle ein bisschen mehr werden als Vater, und wodurch können wir es zu was bringen? Doch nur durch die Partei! Und darum müssen wir’s so machen wie der Führer: den Leuten Sand in die Augen streuen, so tun, als wären wir freundlich, und dann hintenrum, wenn keiner was ahnt: erledigt und weg. (Fallada 2011: 20)

Fallada durchschaut die Lüge von der faschistischen Volksgemeinschaft. Das verordnete Gemeinschaftspathos, jedes Gemeinschaftsgefühl ist in seinen Augen hohl. Selbst vom Ehepaar Quangel, »an die dreißig Jahre miteinander« verheiratet, heißt es: »Aber so sehr sie sich jetzt auch anschauten, sie hatten einander kein Wort zu sagen.« (ebd.: 16) Erst während ihrer gemeinsamen, gefahrvollen Widerstandsaktion wird die ursprüngliche Zärtlichkeit kurz angedeutet, die während ihrer langen Ehejahre nahezu verschüttet lag: Sie gehen. Aber beide werfen im Gehen noch einen Blick auf dieses Bürohaus zurück, in dem nun die erste Karte Quangels ihren Weg in die Welt antritt. Sie nicken dem Haus gewissermaßen Abschied nehmend zu. Es ist ein gutes Haus, und so viele Häuser sie auch in den letzten Monaten und Jahren in der gleichen Absicht aufsuchen werden – dieses Haus wird von ihnen nicht vergessen werden. Anna Quangel möchte gerne einmal rasch die Hand des Mannes streicheln, aber sie wagt es nicht. So streift sie nur wie zufällig dagegen und sagt erschrocken: »Verzeihung, Otto!« Er sieht sie verwundert von der Seite an, aber er schweigt. Sie gehen weiter. (195)

Das lange Schweigen ihrer Ehe wird anlässlich des letzten Zusammentreffens der beiden vor Gericht für wenige Augenblicke durchbrochen: Nicht nur im Sterben, auch im Alltag der Diktatur ist jeder Mensch allein. 11 Die historischen Hampels wohnten nicht am Prenzlauer Berg, sondern im Wedding, Amsterdamerstr. 10, wo heute eine Gedekenktafel an sie erinnert; vgl. dazu: Kuhnke 2011: 9 ff.

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»Unter dem Gesetz des Stoffes« Vom Gewissen als letzter Instanz Falladas Thema ist das Verhältnis von Macht und Moral in der Diktatur, die immer ein Ausnahme-Staat ist, wo das Recht durch die Maßnahme verdrängt wird.12 Wenn das Recht fehlt, ist das Misstrauen allgegenwärtig. An die Stelle der bürgerlichen Ordnung tritt die revolutionäre Willkür. Der Roman zeigt, was es heißt, wenn der Vorrang des Politischen, der auch in der späteren DDR galt, wie noch zu sehen sein wird, auf den Bodensatz der Gesellschaft durchschlägt. Dann gibt es nicht den Sieg einer stärkeren Gruppe, sondern den Kampf aller gegen alle, in dem allein der jeweils Stärkere siegt. Deshalb gibt es in der dargestellten Welt keine Sachhierarchie. Der Mann schlägt die Ehefrau und umgekehrt, der Sohn verachtet den Vater, die Mutter den Sohn, der unterste SS-Scherge quält, wenn Bedarf besteht, den ehemaligen Vorgesetzten usw. In diesem Krieg liegen am Ende nicht nur Häuser und Straßen in Trümmern, zerstört und besiegt ist vor allem die Moral. Dann sind alle menschlichen Bindungen in die Brüche gegangen, es triumphiert der pure Nihilismus. Weil das Recht »im Namen des Volkes« zum Unrecht geworden ist, dürsten die Opfer nach Gerechtigkeit. In einer Schlüsselszene,13 die ganz am Anfang steht, zieht Otto Quangel daraus die Motivation für sein späteres Widerstandshandeln: Wenn nur ein einziger Mensch ungerecht leidet, und ich kann es ändern, und ich tue es nicht, bloß weil ich feige bin und meine Ruhe zu sehr liebe, dann … (Fallada 2011: 38)

Die Auslassungspunkte geben diese moralische Frage an den Leser weiter. Weil Quangel sie für sich in seinen Taten beantwortet, triumphiert er am Ende über seine Peiniger: Das Gewissen lässt sich nicht betrügen. Die Wirkungslosigkeit des Widerstandes beweist geradezu die Sinnhaftigkeit des Gewissens als letzter Instanz. Fallada selbst war kein genuines Opfer der Diktatur und daher auch keiner ihrer aktiven Kritiker. Die Machtergreifung hatte ihn nicht abgeschnitten von seinem Lebensnerv.14 Seine Unterhaltungsromane waren im ›Dritten Reich‹ durchaus erfolgreich. Gleichwohl beurteilte er sein Verhalten mit einer erstaunlichen Klarheit, die nur wenigen gegeben war. Als Becher ihn beauftragte, einen Roman über den Widerstand zu schreiben, lehnte er zunächst ab, weil es ihm nicht zukomme.15 Er wollte nicht besser 12 Zu dieser Terminologie der »Scheinlegalität« vgl. Ernst Fraenkels berühmtes Werk Der Doppelstaat (1974). 13 So Reinhard Zachau in seinem Beitrag für diesen Band. 14 Über Falladas finanzielle Situation im ›Dritten Reich‹ siehe Adam 2010: 185 ff. 15 Vgl. die Darstellung bei Kuhnke 2011: 16.

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erscheinen, als er es (gewesen) war. Die Aufrichtigkeit vor sich selbst war keine gesellschaftliche Tugend – und auch bei Suchtkranken, wie Fallada einer war, wohl eher die Ausnahme. Falladas Pragmatik machte auch vor ihm selbst nicht halt. Deshalb ist der Roman einerseits das Sittenbild des feigen Mitläufer- und Denunziantentums, mit dem das Räderwerk jeder Diktatur geschmiert wird: Natürlich kann man sie der Polizei übergeben und alles ableugnen, was der Barkhausen etwa über Anstiftung erzählt. Dem werden sie bestimmt keinen Glauben schenken, wenn er gegen Angehörige der Partei, der SS und der HJ aussagt. Und dann den ganzen Fall der Gestapo melden. Da bekommt man vielleicht ganz legal einen Teil dieser Sachen, die man sonst nur illegal und unter Gefahr an sich bringen könnte. Und hätte außerdem Anerkennung dazu. (Fallada 2011: 83)

Andererseits sind die Klagen über die moralische Haltlosigkeit unüberhörbar, die immer wieder die Flucht in die Droge sucht und findet. Das geht quer durch alle Schichten der Gesellschaft. Da ist die nüchterne Darstellung des Arztes, der zum Morphium »häufiger und häufiger seine Zuflucht nimmt«, weil er anders die Schwierigkeiten seines Lebens nicht mehr meistern zu können glaubt: »Das allein hilft ihm noch, ohne diese künstliche Hilfe verliert er seine Nerven.« (ebd.: 238) Es sind die kleinen und großen Nöte, Schwächen und Ängste, die in die Sucht treiben, und so auch den Autor: Die Ursachen für Falladas Suchtverhalten mögen in seiner zutiefst irritierten Existenz zu suchen sein, aber verstärkt wurden sie vom Ersten Weltkrieg und seinen Folgen, die zur Auflösung der bürgerliche Ordnung führten und die Jahrzehnte der Bürgerkriege einleiteten. In Falladas letztem Roman sind die Auswirkungen zu besichtigen. Trinker sind die Mordgesellen des Regimes in der berüchtigten Prinz-Albrecht-Straße, »wild vom Alkohol« (531) und »alle so richtig fett angesoffen« (502), ebenso »der alte Parteigenosse Persicke« (im 42. Kapitel), dem Fallada ein »blödes, von Alkoholdünsten umnebeltes Hirn« (434)16 konzediert und dessen Sohn Baldur feststellt: »Mein Vater ist nicht heilbar! ... Mein Vater hat getrunken, seit ich denken kann.« (550) Selbst Falladas Arbeitsweise gleicht einem Rausch: Hat er sich zu einem Buch entschlossen, so steht er »von Stund an unter dem Gesetz des Stoffes, unter höherem Befehl«.17 Eine andere Form von Realität findet sich auch – und zwar ganz wie nebenbei in der Figurenrede. Wer heute wissen möchte, wie man im Berliner Unterschichtenmilieu der dreißiger und vierziger Jahre gesprochen hat, kann entweder Carl Zuckmayer oder eben Fallada lesen. »Das mach dir 16 In zeitlicher Nähe zum Roman arbeitete Fallada an dem Bekenntnisbuch Der Trinker, das allerdings erst postum 1950 veröffentlicht wurde. 17 Hans Fallada: Heute bei uns zu Haus. Erfahrenes und Erfundenes. Stuttgart [u. a.]: Rowohlt 1943. Zitiert nach Kuhnke 2011: 22.

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man ab« (Fallada 2011: 545), rufen sie hier, wenn sie jemanden auffordern, etwas aufzugeben. Rübe oder »Deetz« (ebd.: 213) mögen für Kopf heute noch gebräuchlich sein. Die Sprache der Diktatur, die Victor Klemperer bekanntermaßen als LTI (lingua tertii imperii) demaskierte, ist zu vernehmen, wenn es von dem Schauspieler Max Harteisen heißt, er habe »aus vornazistischen Zeiten noch reichlich viel Butter auf dem Kopf«, ein Bild, das unter anderem so gedeutet wird, dass er »in jüdischen Filmen mitgespielt« habe (199). Die Sprache der Macht ist heute weitgehend verklungen, hier aber noch original zu hören, etwa in der Rede des ordensgeschmückten Parteigenossen vor den Arbeitern der Möbelfabrik, die Quangel zu einer ersten Widerstandshandlung reizt, oder in den Verhandlungen vor dem Volksgerichtshof. Dessen Präsident hört hier auf den sprechenden Namen »Feisler« (sic!), was einer Kastration seines übel beleumundeten historischen Vorbildes gleichkommt: Sind Sie auch so gemein wie Ihr Mann? Sind Sie auch eine schuftige Volksverräterin? Schänden Sie auch das Ansehen Ihres auf dem Felde der Ehre gefallenen Sohnes? (593)

Bellend und demütigend ertönt die Sprache der Gewalt, etwa in dem Gebrüll, das ein Posten vor der Gestapozentrale einem soeben Freigelassenen hinterherschickt: »Wenn du Schwein in drei Minuten noch unsere Fassade schändest, dann mache ich dir Beine, und das nicht zu knapp.« (310)18 Den Gerichtsakten und Vernehmungsprotokollen angenähert sind sicher die Haftgespräche und eventuell auch die Dialoge vor dem Volksgerichtshof.

»Gutes Korn gesät« Vom Sujet eines missglückten Systemwandels Mit seiner bemerkenswerten Innenansicht der ›Dritten Reiches‹ steht der Roman zugleich an einer historischen Schwelle, an der sich eine neue Diktatur ankündigt. Denn obwohl Fallada am Ende mit dem Bild des Jungen, der »gutes Korn gesät« (Fallada 2011: 668) hat, einen positiven, womöglich naiven, jedenfalls geschönten Ausblick wagt, entpuppt sich der Roman eben nicht nur als eindrucksvolle Abrechnung mit der NS-Vergangenheit, sondern zugleich auch als Menetekel. Falladas Widerstandsgeschichte aus dem Alltag des totalen Staat war den zukünftigen Herren daher nicht geheuer. Sie ließen Falladas Text, wohl ohne Wissen und Zustimmung des Autors, an entscheidenden Stellen ändern (vgl. dazu: Giesecke 2011 [das Nachwort zur Neuausgabe] und Kuhnke 2011). Dass es eine kommunistische Wider18 Zu Roland Freisler, dem Präsident des Volksgerichtshofes, vgl. Ortner 1995.

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standszelle ist, die gnadenlos eines ihrer Mitglieder opfern will, wurde ebenso gestrichen wie der Umstand, dass der Arbeiter Quangel und vor allem dessen Frau selbst einmal Hitler-Anhänger waren.19 Dabei hatte Johannes R. Becher, der den Roman initiierte, im Moskauer Exil, aus dem er gerade erst zurückgekehrt war, Denunziantentum, Misstrauen, staatliche Willkür und Verfolgung am eigenen Leib erfahren können, was seinem Genossen Herbert Wehner letztlich die Augen öffnete, so dass dieser mit dem Stalinismus brach (vgl. Müller 2004). Jetzt allerdings, im Oktober 1945, versuchte Becher einige Autoren, die sich im ›Dritten Reich‹ kompromittiert hatten und nun scharf auf Rehabilitierung waren, für die neue Diktatur des Proletariats zu instrumentalisieren. Zugleich ließ er im Sommer 1946 Gerhart Hauptmann, der sich von den Nazis hatte feiern lassen, in allen Ehren auf Hiddensee bestatten, gemäß Anweisung von Wilhelm Pieck, »damit die ›Anderen‹ ihn nicht für sich ausnützen« (vgl. Kuhnke 2011: 50). Heute wissen wir, dass eine Diktatur kaum jemanden unbeschadet lässt. Weil Fallada genau dies beschreibt, eignete sich sein Manuskript nicht als antifaschistisches Lehrstück – seine Figuren sind gebrochen und durchaus zwiespältig. Der Systemwandel jedoch, der in der SBZ als revolutionäre Umwälzung verkauft wurde, musste, so glaubte man, wieder eine deutliche Trennung zwischen Gut und Böse herbeiführen. Weil man Differenzierungen nicht zulassen wollte, lebte man in vielerlei Lüge fort. Kuhnke bezweifelt generell, »ob unter DDR-Bedingungen eine umfassende, historisch gerechte Aufarbeitung jener Vorgänge möglich gewesen ist.« (ebd.: 14) Die demokratische Erneuerung fand nicht statt, nicht in der SBZ bzw. der DDR, die sich plakativ demokratisch nannte, und eher zögerlich in der Bonner Republik. Die Empathie, die Fallada zu retten glaubt, hatte im Nachkriegsdeutschland keine Heimat. Das menschliche Mitgefühl wurde ebenso wie die historische Wahrheit den parteipolitischen Gegebenheiten angepasst; so etwa in Bruno Apitz’ Roman Nackt unter Wölfen (1958), der bereits im Titel deutliche Anklänge an Falladas Wolf unter Wölfen verrät. Die Kunst war, ebenso wie Recht und Gerechtigkeit, kein Wert an sich, sondern stand im Dienste des Klassenkampfes und des beginnenden Kalten Krieges. Dass am Ende der junge, gewandelte Kuno seinen Stolz dadurch gewinnt, dass ihm eigenes Land zugeteilt wird, entsprach zunächst der Bodenpolitik der Sowjets, die nach dem Motto »Junkerland in Bauernhand« die Bevölkerung ihrer Zone für sich zu gewinnen suchten (vgl. Modrow/ Watzek 2005). Die bald einsetzende Zwangskollektivierung machte all dies wieder zunichte. Über die Prozesse vor dem Volksgerichtshof weiß Fallada 19 Die historische Elise Hampel schreibt gar in ihrem letzten Brief an die Eltern: »ich glaube, so fest ich an Gott glaube und an Euch meine herzensguten Eltern so glaube ich auch an den Führer…« Zitiert nach Kuhnke 2011: 72. Allerdings vermutet Kuhnke, dass Fallada diesen Brief nicht gekannt hat.

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zu berichten: »(E)he der Angeklagte noch den Verhandlungsraum betreten hatte, war er praktisch schon verurteilt.« (Fallada 2011: 585) Dass eine solche Verfahrensweise auch gängige Praxis vor den Staatsgerichtshöfen der DDR werden sollte, konnte er allerdings noch nicht wissen.20 Als prophetisch im Hinblick auf die Arbeit der späteren Staatssicherheit erweist sich Fallada, wenn er die Tätigkeit der Geheimpolizei beschreibt. Der Vergleich der Verfolgungspraxis von Hitlers Geheimer Staatspolizei (Gestapo) und Stasi drängt sich auf. Beide erstrebten Geständnisse, auch zum Preis von Erpressung und Folter, nur, um den Schein des Rechts zu wahren. Trotzdem fühlte sich wohl keiner der Verantwortlichen in der DDR daran erinnert, als sie um 1950 den Aufbau des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) betrieben. Weitere Parallelen erstaunen kaum. Im Nürnberger Prozess nennt Göring die Gestapo ein »Instrument der Staatssicherheit« (zitiert nach Schmitz-Berning 2000: 258). Jens Gieseke errechnet für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR 91 015 Hauptamtliche und 175 000 Informelle Mitarbeiter (in Gieseke 2000: 7 f.), während Elisabeth Kohlhaas die Zahl der Gestapo-Angehörigen mit rund 35 000 angibt (vgl. Kohlhaas 1995: 221 ff.). Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass die DDR noch stärker von Spitzeln und Denunzianten durchsetzt gewesen sei als das ›Dritte Reich‹. Fallada zeigt jedoch in seinem Roman, dass die Gestapo keine größere Zahl von Mitarbeitern benötigte, einfach, weil praktisch das ganze Volk aus Zuträgern bestand.21 Dass fast alle Karten, die das Ehepaar Quangel schrieb, umgehend bei der Gestapo landeten, macht gerade die Tragik des Unternehmens aus. Ich könnte mir vorstellen, dass die List, die Anna Quangel anwendet, um aus der NS-Frauenschaft entlassen zu werden, manchen auch an DDR-Beispiele erinnert, mit denen man sich dem Druck des Staates entzogen hat.22 Selbst die lautliche Ähnlichkeit, die den Gesetzes-Paragraphen zugrunde liegt, nach denen man in beiden Diktaturen Unliebsame verfolgte, störte (um eine weitere und letzte von zahlreichen Parallelen zu bemühen) die Machthaber in der DDR keineswegs: So ahndete man hier die angebliche »staatsfeindliche Hetze« (§ 106 StGB), während man im ›Dritten Reich‹ seit 1934 den »Heimtücke«-Paragraphen kannte (vgl. Dörner 1998). Auch den Hampels warf die Gestapo »Hetze« vor;23 verurteilt wurden sie indes 20 Vgl. dazu Schroeder 1998. Hierin besonders: Die Justiz als Instrument der SED, 107 ff. Möglicherweise kannte Fallada aber die Moskauer Schauprozesse und zog daraus seine Schlüsse. 21 In Paul/Mallmann 1995 wird sogar der Fall geschildert, dem zufolge die Gestapo Denunziationen zurückweisen musste, weil sie durch die große Zahl von Anzeigen überfordert war. So Dörner 1998: 333. 22 Auf satirische Weise wird die Überlistung der DDR-Staatsmacht in Thomas Brussigs Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) behandelt. 23 Vgl. dazu die faksimilierten Vernehmungsprotokolle in Kuhnke 2011: 26 u. 88.

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wegen »Hochverrats«, was in beiden Diktaturen mit dem Tode bestraft wurde: »Eine Hälfte des Volkes sperrt die andere ein, das kann nicht mehr lange dauern«, heißt es bei Fallada (2011: 493).24 Unter der SED-Diktatur hat dies immerhin 40 Jahre gedauert. Es ist vielleicht gerade die Erfahrung von zwei deutschen Diktaturen, die den heutigen Erfolg des Romans ausmacht. Auch die liberale Demokratie ist nicht frei von Anfechtungen, und der Zwang zu Anpassung und Unterordnung ist in der Gegenwartsgesellschaft nicht unbekannt; die Demokratie jedoch lebt von Diskussion und also von Widerspruch: Obwohl sie nur Macht auf Zeit verleiht, muss sie sich immer wieder neu legitimieren, sonst wird sie als willkürlich oder gar als gewaltsam empfunden. Politisches Handeln ist im Rechtsstaat niemals Selbstzweck, sondern an moralische Werte und Menschenrechte gebunden. Wohin die Umkehrung führen kann, das zeigt Falladas letzter Roman.

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Stefan Knüppel

Das ›Gesicht‹ der Sucht Ein Aspekt der literarischen Physiognomik Hans Falladas Dieser Beitrag zu den literarischen Suchtphysiognomien im Romanwerk Hans Falladas ist sich des Umstandes bewusst, dass sich eine Untersuchung zur Physiognomik im 21. Jahrhundert der Kritik aussetzt: Denn physiognomisches Wissen gehört zwar zum kulturellen Wissen, gilt aber nicht – und zwar zurecht nicht – als gesichert, da es nicht auf intersubjektiv nachvollziehbare, jederzeit exakt nachprüfbare Datenbestände zurückgreifen kann. Gleichwohl demonstriert die – offenbar unabschließbare – Geschichte des Irrationalismus, dass auch in der Moderne immer wieder Versuche unternommen wurden, die auf Johann Caspar Lavater (1741–1801) zurückgehende Physiognomik zu untermauern. Die Entzifferung physiognomischer Zeichen gehört zur Ökonomie unserer Kommunikation und kann als ein Akt der Abkürzung im Prozess der Wahrnehmung begriffen werden. Es ist evident, dass ein Text eine Gestalt mit Merkmalen ausstattet, die der Leser entziffern und deuten soll, denn im Unterschied zu Gott würfelt der Autor nicht.

Kultur- und Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts Auch der Literaturwissenschaftler hat sich den Prämissen seiner Disziplin zu stellen – begegnet er den (scheinbar) unergründlichen Merkmalen einer Gestalt, muss er sie zu deuten suchen, freilich nicht spekulativ, sondern auf der Basis von Textdaten. Physiognomisches Wissen über die je literarhistorisch relevante Konzeptualisierung von ›Personen‹ bzw. ›Figuren‹ und deren Äußeres erleichtert, verkürzt und beschleunigt dabei die Orientierung. Die physiognomischen Schlussfolgerungen verstehen sich dabei als Ergebnis eines Diskurses im Sinne Jörg Schönerts: Sie stellen den Versuch eines aus Texten rekonstruierten, historisch variablen Ordnungszusammenhangs dar, anhand dessen sich demonstrieren lässt, wie Denk- und Litera-

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tursystem sich zueinander verhalten, wie die Wissenschaften, die Bereiche gesellschaftlicher Praxis und die Künste zusammenwirken. Die Geschichte der Physiognomik wird in der Regel im Medium ihrer grafischen, literarischen, zeichnerischen, fotografischen und filmischen Repräsentationen entwickelt. Prominente und den derzeitigen Kenntnisstand dokumentierende und formulierende Arbeiten werden durch Forscherpersönlichkeiten wie Peter von Matt, Claudia Schmölders und Sander L. Gilman geliefert. Deren Arbeiten belegen die Dignität des Forschungsgegenstandes und sind frei von Mystifikationen Lavater’scher Provenienz. Es stellt sich die Frage, ob sich ein selbstdenkender Autor wie Hans Fallada von zeittypischen Klischees oder pseudowissenschaftlichen Behauptungen in seinem Vorhaben irritieren oder beeinträchtigen lässt, seine Figuren – auch mittels der ihnen zugeschriebenen Physiognomien – in erster Linie als Individuen zu zeigen. Zwar setzte Fallada auf den hohen kommunikativen Wert physiognomischer Beschreibungskunst und griff bei der Porträtierung auch auf gesicherte wissenschaftliche Fakten – etwa aus der Medizin oder Psychologie – zurück, hütete sich aber davor, in einen Automatismus von Merkmalsausstattung seiner Figuren und damit korrelierter Charakter- oder gar Schuldzuweisung zu verfallen. Darüber hinaus ist – mit Blick auf das Thema dieses Bandes – die Frage relevant, ob sich Falladas Texte auch mittels der in ihnen entworfenen Physiognomien als Belege ›modernen‹ Schreibens identifizieren lassen. Voranstellen möchte ich meinen Überlegungen zu den Physiognomien in Falladas Texten jedoch einige Ausführungen zur fatalen Geschichte der Physiognomik, die zeigen sollen, von welchem Textmilieu des populären physiognomischen Wissens der soziale Raum erfüllt ist, in den Falladas Schreiben interveniert. Ich stehe dabei vor der Schwierigkeit, dass es keine ausgefaltete Theorie zur literarischen Physiognomik gibt, abgesehen von Peter von Matts Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts unter dem Titel ... fertig ist das Angesicht mit dem aufschlussreichen Kapitel Das Gesicht im Erzähltext. Eine der Hauptthesen von Matts besagt, dass es der Gesichtsbeschreibung im Erzähltext gar nicht bedürfe. Ihr eigentlicher Zweck, den Lesern zu zeigen, »wie der Held und seine Freunde und seine Widersacher aussehen«, sei »ohne alle epischen Umstände mit zwei, drei Allerweltswörtern zu erreichen« (von Matt 2000: 223). Die Bewegung einer Figur im Handlungsraum nämlich suggeriert oft schon deren physiognomische Konturen. Umgekehrt können Figurenporträts, die sich im physiognomischen Detail ergehen, den Handlungsfortgang suspendieren und – in fast schon paradoxer Weise – zur weitgehenden Unanschaulichkeit des Akteurs führen. Eine Kurz- oder Kürzestform solcher Details genügt, um ein Bild des Handelnden zu erschaffen. Darin kommt die Ökonomie ebenso wie die Funk-

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tion der Physiognomik in fiktionalen und pragmatischen Texten unserer Wissenskultur zum Ausdruck. Sie ist ein Passepartout im literarischen Alltagsgeschäft ebenso wie in pragmatischen Funktionszusammenhängen der ›Realität‹. Die zentralen Aufgaben des erzählten Gesichts bestehen nach von Matt in der Vorausdeutung und der Sympathieführung. Es dient somit der Dynamik des Textes: es schürt Handlungserwartungen, stellt Weichen oder verrätselt. Das meistverbreitete physiognomische Medium, die Fotografie, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gegenstand wissenschaftlicher, speziell soziologischer Erörterungen. Markante Beispiele dafür sind die breit rezipierten Fotobände Antlitz der Zeit von August Sander (1929) oder das Album Das deutsche Volksgesicht von Erna Lendvai-Dircksen (1932). Besondere Relevanz besitzt die Physiognomik auch für die zeitgenössische Kriminalistik. Spätestens seit Cesare Lombroso (1835–1909) seine Thesen zu den Ursachen kriminellen Handelns 1876 in seinem Werk L’Uomo Delinquente veröffentlichte, lieferte die Fotografie der Kriminalistik ihr Bildmaterial (vgl. Becker 1996: 163–186). Lombroso vertrat die These vom Atavismus, der zufolge Kriminelle als Repräsentanten einer früheren Phase der Menschheitsentwicklung gelten, was sich sowohl in moralischen Verhaltensweisen als auch in körperlichen Eigenschaften zeige. Kurzum: Lombroso verfolgte das sozialdarwinistische Ziel einer Entzifferung des Bösen aufgrund einer Analyse der Körpersemiotik, um »Kriminelle« identifizieren und unschädlich machen zu können (Regener 1999: 176). Lombrosos Thesen beeinflussten nicht nur die deutsche Kriminologie, sondern gehörten bald zum Wissen der Massenmedien und vieler Behörden. Sie wären allerdings nicht wirksam gewesen, wenn sie sich nicht auf mentale Dispositionen in der Bevölkerung hätten stützen können. Auch in der Medizin und der Psychologie dieser Jahrzehnte spielte die Physiognomik eine bedeutende Rolle. Der Psychiater Ernst Kretschmer (1888–1964) gilt als Begründer der Lehre von den Körperbautypen des Menschen. In seinem erstmals 1924 erschienenen Hauptwerk Körperbau und Charakter schrieb er verschiedenen Konstitutionstypen eine Affinität zu bestimmten psychischen Krankheitsbildern zu, was ihn zu einem Physiognomen in der Nachfolge Lavaters macht. Solche zielorientierten medizinischen Körperschauen bergen selbstverständlich die Gefahr rassenideologischen Missbrauchs. So gilt bereits Lavater als Wegbereiter der Kraniometrie, also der ›Lehre von der Schädelvermessung‹, die im Ausgang des 19. Jahrhunderts im Bereich der Eugenik forciert betrieben und im 20. Jahrhundert durch Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) und Hans Friedrich Karl Günther (1891–1968) – dem »Rassepapst« der Nationalsozialisten – popularisiert wurde.

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Physiognomien als Spiegelbilder – Gesichter in Texten Falladas Betrachtet man nun die Physiognomien in der Literatur, so müssen solch fatale Aspekte der zeitgenössischen Diskurse Berücksichtigung finden oder wenigstens im Hintergrund präsent bleiben. Im Œuvre Falladas werden die körperlichen Folgen verschiedener Süchte drastisch anschaulich und lassen sich als frühmoderne, oft individuelle Krisenberichte lesen. Daher werde ich im Folgenden auf das Krisenmodell aus Martin Lindners Untersuchung zur Lebensideologie der Moderne unter dem Titel Leben in der Krise zurückgreifen, in dem der Begriff der Krise das zentrale Kennwort darstellt und als »Resultat eines Bruches zwischen kultureller Lebensform und Lebensinhalt« zu verstehen ist (Lindner 1994: 9). Falladas Sachlicher Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein (1925/1930) vermittelt einen Eindruck von den körperlichen Beschwerden des Ich-Erzählers Hans, die nicht durch den Konsum der Droge, sondern durch unfreiwillige Abstinenz hervorgerufen werden: Aber als ich an jenem Morgen erwachte, da ich dem Nichts gegenüberstand, wußte ich, ich mußte Morphium bekommen, um jeden Preis. Mein ganzer Körper war von einer peinigenden Unruhe erfüllt, meine Hände zitterten, ein toller Durst quälte mich, ein Durst, der nicht nur in der Mundhöhle, sondern in jeder einzelnen Zelle meines Körpers lokalisiert schien. (Fallada 2005: 5)

Keine Frage: Der intradiegetisch-autodiegetische Erzähler hat schwere Entzugserscheinungen. Ein Blick in das Lehrbuch der Pharmakologie aus dem Jahre 1930 belegt, dass die dargestellten Symptome bereits zur Entstehungszeit der Erzählung beschrieben wurden und somit als wissenschaftlich gesicherte Fakten bezeichnet werden können, deren vorauszusetzende Bekanntheit in neusachlicher Manier eine Orientierung literarischer Texte an der empirischen Wirklichkeit ermöglicht (vgl. Poulsson 1930: 76–90). Darüber hinaus wird deutlich, dass sich hier ein Individuum in einer krisenhaften Situation befindet, die mit der Lebensideologie (Lindner) der Moderne als »kathartische[r] Höhepunkt eines Prozesses« bezeichnet werden kann, »in dem sich der Organismus (das Leben) gegen eine Erkrankung zur Wehr« setze, die gleichbedeutend sei »mit einem Moment der Entscheidung zwischen den äußersten denkbaren Extremen« Leben und Tod (Lindner 1994: 11). Ohne sein Suchtmittel bereiten dem Morphiumkranken auch vermeintlich einfache Handgriffe Schwierigkeiten. So wird ihm, als er langsam aufgestanden ist, das Anziehen schwer, »seine Glieder sind schwach und zittern ständig« (Fallada 2005: 6). Sein ganzer Körper ist »mit kaltem Schweiß bedeckt«, er wird »wie von Krämpfen geschüttelt, und dann kommt stoßweise die Galle« (ebd.: 7). Diese Symptome sind für den Ich-Erzähler derartig

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niederschmetternd, dass er glaubt, sterben zu müssen und in Erwartung des Todes nur dumpf vor sich hin starrt (vgl. ebd.). In dieser Phase erreicht er ein Krisenstadium, das als »emphatischer Tod« bezeichnet werden kann. Dieses Stadium zeichnet sich dadurch aus, dass »die lebenshemmenden Faktoren« – hier die Morphiumsucht – »ein kritisches Niveau überschritten haben«, was entweder den biologischen Tod oder eine emphatische »Wiedergeburt« zur Folge hat (Lindner 1994: 33). Die zwingend vorhandene Latenzphase als Vorstufe der eigentlichen Krise wird in Falladas Sachlichem Bericht freilich nicht zum Gegenstand der Betrachtung. Die tiefe individuelle Krise des Protagonisten impliziert jedoch eine solche Latenzphase, in der die Figur schon vor dem Ausbruch der Krise in einen Gegensatz zwischen sich und ihrer sozialen Rolle bzw. den erreichten Lebenszielen und dem unbewussten Potenzial geraten sein muss (Lindner 1994: 32). Alles in allem vermitteln die vom Text gelieferten Porträts den Eindruck, dass es sich beim Protagonisten um ein seelisches und körperliches Wrack – um ein Individuum in einer tiefen psychischen und körperlichen Depression – handelt. Dabei werden immer wieder solche physiognomischen Merkmale ins Gedächtnis gebracht, die einerseits als wissenschaftlich belegt gelten können und deren Zusammenhang mit der Sucht andererseits zum kulturellem Wissen gehört: stark erweiterte Pupillen, eingefallene Backen, eine spitz hervorstehende Nase, ständiges Schwitzen, ununterbrochenes Gähnen und Koordinationsprobleme. Somit wird nicht nur der dokumentarische Charakter der Erzählung unterstrichen, sondern auch die Intensität der Sucht-Krise verdeutlicht (vgl. Fallada 2005: 7). In ihrer Grundstruktur ist die Erzählung charakterisiert durch einen ständigen Wechsel zwischen der Darstellung der körperlichen Hinfälligkeit und der idyllischen Traumwelten, in die sich der Morphinist euphorisch flüchtet. Dabei gilt gerade die Euphorie als ein »außergewöhnlicher Zustand gesteigerten Lebens«, die zugleich den »realen oder nur metaphorischen Tod« anzudeuten scheint (Lindner 1994: 11). Der Grad der Morphiumabhängigkeit des Ich-Erzählers wird zudem durch die Opposition in der Darstellung der körperlichen und seelischen Befindlichkeiten des ›hungernden‹ und ›satten‹ Süchtigen verdeutlicht. Mit einer kleinen Dosis der Droge im Leib wird der Protagonist sicher und sein »Körper ist jung und geschickt« (Fallada 2005: 18 f.). Das Morphium ermöglicht erst das normale Funktionieren des Körpers. Der Konsum beschert dem Morphiumkranken nur noch kurze Rauscherlebnisse, dafür jedoch die Freiheit von Schmerz und Entzugserscheinungen. Allein diese Freiheit vermittelt dem Süchtigen das Gefühl von Jugend und Geschicklichkeit und gibt ihm die Kontrolle über seinen durch die Abstinenz unkontrollierbar gewordenen Körper zurück.

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Betrachtet man den Sachlichen Bericht als Dokument einer individuellen Krise, so muss festgestellt werden, dass aus dem Text nicht zu ermitteln ist, ob diese Notlage dauerhaft überwunden wird oder nicht. Allerdings erweckt die Reflexion der Situation durch den Protagonisten den Eindruck einer »Wiedergeburt«, in der das Subjekt nach dem Sammeln von identitätsstiftenden Erfahrungen einen Zustand der Ausgeglichenheit erreicht. Die »Denkfigur der kathartischen Reduktion« liefert dabei den Hinweis, dass nach neusachlicher Lebensideologie jede individuelle Überwindung einer Krise so lange den provisorischen Charakter eines bloßen Überlebens hat, wie die gesamtgesellschaftliche Krise andauert (vgl. Lindner 1994: 163). Auch in Falladas Roman Der Trinker erreicht der Protagonist, Erwin Sommer, einen extremen Grad körperlicher Abhängigkeit von seinem Suchtmittel Alkohol. Und ebenso wie beim Morphinisten des Sachlichen Berichts schreibt der Text dem Ich-Erzähler eine Suchtphysiognomie zu: Sah ich mich jetzt gelegentlich im Spiegel an, so betrachtete ich mit grausamer Wollust mein Gesicht, das, von alten Bartstoppeln bedeckt, gedunsen und doch abgezehrt, ja wie ausgebrannt aussah. (Fallada 1988: 78)

Ein Abgleich der dargestellten Symptome mit jenen, die sich im Lehrbuch der Pharmakologie des Jahres 1930 finden lassen, zeigt nicht nur auf, dass diese zur Entstehungszeit des Fallada-Œuvres bekannt und medizinisch belegt sind, sondern auch, dass die Kenntnisse um die körperlichen Folgen des Alkoholkonsums als kulturelles Wissen zu bezeichnen sind. Selbst für dieses als Standardwerk geltende medizinische Lehrbuch ist das »gewöhnliche Bild der Alkoholvergiftung so wohlbekannt«, dass es lediglich »seine Hauptzüge« andeutet (Poulsson 1930: 45). Dieses verbreitete Wissen um die körperlichen Folgen des Suchtmittelkonsums setzen Falladas Texte bei den Rezipienten voraus, da in ihnen mitunter (zunächst) nicht dezidiert ausgesprochen wird, dass eine Figur ein Suchtproblem hat, sondern lediglich ›verräterische‹ physiognomische Details geliefert werden. Beim Trinker Erwin Sommer jedoch bedarf es keiner solchen Andeutungen. Zu dezidiert wird der Verfall des ehemaligen Bürgers im Romanverlauf dargestellt. Dennoch zeigt die Physiognomie des Alkoholkranken typische Symptome seines Leidens: [...] und nun schleiche ich mich zum Spiegel, zu dem großen, langen Spiegel, in dem man sich von oben bis unten sehen kann, und ich betrachte mich von oben bis unten. Und ein fürchterlicher Schrecken packt mich, wie ich mich da stehen sehe in meinen ausgebeutelten, beschmutzten Kleidern, mit dem grauschwarzen Halskragen, dem stoppligen fahlen Gesicht, den rotgeränderten Augen. Das ist aus mir geworden! schreit es in mir, und mein erster Impuls ist es, hinüberzustürzen zu

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Magda, vor ihr auf die Knie zu fallen und sie anzuflehen: Rette mich! Rette mich vor mir selbst! (Fallada 1988: 81 f.)

Wenn Sommer sich beim Blick auf sein Spiegelbild fragt, was aus ihm geworden ist, so fragt er sich, was der Alkohol aus ihm gemacht hat. Zugleich sorgt die Beschreibung einiger weniger physiognomischer Details dafür, dass die Figur plastisch wird. Denn obwohl der Text – wie jedes literarische Porträt – Nullpositionen in der Darstellung aufweist, ermöglicht er eine individuelle Bildhaftwerdung bei den verschiedenen Rezipienten. Nullpositionen nämlich spiegeln die Potenz literarischer Texte wider, Bedeutung auch durch Verschweigen zu generieren. Dies offenbart sich nach Peter von Matt vor allem auch in der literarischen Porträtierung, da eine zu detaillierte Physiognomie die Möglichkeit der individuellen Ausfüllung von Leerstellen durch gespeicherte Prototypen suspendiert. Als Sommer sich jedoch entschließt, zur Beschaffung von Alkohol vom Kontokorrent-Guthaben seiner Firma Geld abzuheben, zeigt sich, dass einige der äußerlichen Auswirkungen der Alkoholsucht oberflächlich auch kurzfristig zu beheben sind: Ich wusch mich dann von Kopf bis zu Füßen, zog mich halb an und rasierte mich mit größter Sorgfalt. Alles ging unendlich langsam. Das Zittern meiner Hände war so stark, daß ich ein paarmal daran verzweifelte, mich rasieren zu können, aber schließlich gelang es doch. [...] Als ich schließlich völlig frisch angezogen und gewaschen mich im Spiegel musterte, war ich selbst erstaunt, wie gut ich noch aussah. Gewiß, meine Augen waren gerötet, mit stecknadelkleinen Pupillen, und die Backen hingen etwas, aber niemand konnte mir einen Trinker ansehen. Ich konnte es morgen früh wagen und ich würde es wagen. (Ebd.: 90)

Der Verdacht, der dargestellte Eindruck sei ein subjektiver des Ich-Erzählers, wird durch die (freilich ebenfalls subjektiv wahrgenommene) Reaktion des Vermieters Polakowski entkräftet. Als Polakowski dem von ihm schamlos ausgenutzten Sommer das Frühstück bringt, bemerkt der Süchtige, dass die »zage, sonst fast schafsmäßig sanfte Miene« seines Vermieters »ein Gefühl lebhafter Beunruhigung« über dessen völliges »Verändertsein nicht verbergen« könne (91). Denn dieser Sommer sieht nach Aufbruch aus. Vielleicht sogar nach einem Entschluss, dem Alkohol zu entsagen; einem Entschluss also, der Polakowski um eine recht sichere Einnahmequelle gebracht hätte. Eines wird an den Porträts des Trinkers Sommer deutlich: Alkohol zerstört den Menschen körperlich. Er lässt ihn krank werden, zeichnet ihn und sorgt dafür, dass er sich, auch das Äußerliche betreffend, gehen lässt und somit als Alkoholiker zu identifizieren ist. So ist auch Der Trinker und mit ihm die literarische Porträtierung als ein beinahe mustergültiger Krisenbericht der literarischen Moderne zu lesen, der, anders etwa als der Morphinisten-

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Bericht, den unausweichlichen biologischen Tod des Protagonisten als Ende der Krise andeutet.1 In einem anderen Text, seinem 1937 erschienen Roman Wolf unter Wölfen, skizziert Fallada die Figur der Hühnerweihe und kommt somit, 14 Jahre nach dem Erscheinen des expressionistischen Romans Anton und Gerda, wieder »auf die Gestaltung der Rauschwirkungen von Kokain zurück« (Jürss 1985: 160). Im sechsten Kapitel sitzt die weibliche Hauptfigur, Petra Ledig, in der völlig überfüllten Frauenzelle eines Polizeigefängnisses ein. Eine ihrer Mitinsassinnen ist die Hühnerweihe, eine Prostituierte, die augenblicklich unter schweren Entzugserscheinungen leidet. Vom physiognomischen Standpunkt aus ist die Hühnerweihe vor allem interessant, weil man an ihr, der schwer Süchtigen, die äußerlich wahrnehmbaren Folgen eines zwangsweisen Verzichts auf das Suchtmittel beobachten kann. Körperlich schwach, wohl durch die Sucht und den Zwangsverzicht in der Gefängniszelle, gebärdet sie sich wie »ein Tier« und hat nur einen einzigen Wunsch: »Sie sprang auf. ›Gebt mir Koks!‹ schrie sie. ›Du sollst mir Koks geben, hörst du! Du hast Koks!‹« (Fallada 1985: 320) Die wegen des Tumults hinzueilenden Wärter, die die Hühnerweihe durch einen Trick – die Verabreichung von Salz anstelle echten Kokains – zu täuschen und auch zu beruhigen suchen, haben Erfolg. Die Aussicht auf die Droge macht die Tobende sofort gefügig. Auch ihr Aussehen verändert sich augenblicklich: Ihr scharfes, zerrissenes Gesicht glättete sich, die Lider sanken in der Entspannung fast ganz über die Augen. Wo unter den Wangenknochen nur schwarze Höhlungen gewesen waren, wölbte sich wieder sanftes Fleisch. Die scharfen Falten um den Mund verschwanden, die rissigen, spröden Lippen wölbten sich, sachte ging der Atem ... (Ebd.: 324)

Diese positive Veränderung wird jedoch augenblicklich hinfällig, als die Getäuschte den Betrug bemerkt. Ihr Gesicht wandelt sich sofort »erschreckend«, indem der Mund »eine schwarze, tiefe Höhle« wird und die Augen, »in Schreck, in Zorn«, weit aufgerissen sind (ebd.). So mobilisiert die körperlich Geschwächte ihre letzten Kräfte. Um sich aus der Umklammerung zu lösen, bäumt sich ihr ganzer Körper auf und ihr Gesicht verfärbt sich »dunkelrot« und »blaurot« (ebd.). Bei der Darstellung der Sucht- bzw. Entzugsauswirkungen wird der Hühnerweihe hinsichtlich ihres Äußeren das Menschliche, hinsichtlich ihres Verhaltens das Erwachsene und somit wohl die Vernunft abgesprochen: So sieht sie in ihrer Verzweiflung wegen des erzwungenen Entzugs »wirklich 1

Als Referenzwert für diese Behauptung dient wiederum Martin Lindners Krisenmodell der Lebensideologie der Moderne.

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kaum noch menschlich aus, ein zitternder, rasender Kopf, jetzt voller Wut und Haß, nun weinend, schon verzweifelt, nun bittend, wie ein Kind bittet« (325). Der Text zeigt die Süchtige an einem Extrempunkt ihrer individuellen Krise; hier in Gestalt eines sicher nicht erstmaligen hochrangigen Normverstoßes, der nach lebensideologischer Vorstellung häufig einhergeht mit der Überwindung der Krise. Da das Schicksal der Figur im Handlungsverlauf nicht weiter verfolgt wird, kann jedoch nicht festgestellt werden, ob die Krise mit einer emphatischen Wiedergeburt oder etwa dem biologischen Tod der Hühnerweihe endet. Jedenfalls wird sie, wie alle Suchtkranken, in einer extremen – kathartischen – Krisensituation gezeigt und, wie alle Süchtigen in Falladas Œuvre, durch den Rauschmittelkonsum stigmatisiert. Dies ist freilich nicht dem Umstand geschuldet, dass Fallada seine süchtigen literarischen Gestalten vorführt, sondern eher der neusachlichen Attitüde, kulturelles Wissen und auch spezielle – so etwa medizinische – Wissensbestände für die Literatur zu rekrutieren. Falladas neusachlicher Versuch, den Ruf der empirischen Wissenschaften – Garanten der Objektivität zu sein – zu nutzen und seine süchtigen Figuren aus der neutralen Position des objektiven Kameraauges zu betrachten und Wertungen seinen Lesern zu überlassen – ist doppelt abgesichert, da sich die medizinischen Befunde mit dem einschlägigen Laienwissen decken. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Falladas Individuen durch das Schicksal daran gehindert werden, ihr Leben zu leben.2 Gleichzeitig erscheint es als eine Konstante in Falladas Texten, dass die Figuren (bis zu einem gewissen Grad) immer wieder versuchen, sich von der Krise und dem aus ihr erwachsen(d)en Chaos, das sie nicht als »eine organische Stufe des Lebens«, sondern gleichsam als dessen »Entartung« empfinden, zu emanzipieren (Lindner 1994: 270). Es liegt daher der Schluss nahe, Hans Fallada – sowohl in seiner expressionistischen als auch in seiner neusachlichen Phase – als einen typischen Vertreter der Moderne und präziser als einen gemäßigten Lebensideologen der Moderne zu verorten.

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Diese Feststellung trifft nicht nur auf die hier gezeigten Gestalten zu, sondern auch auf eine ganze Reihe anderer in Falladas Texten, so etwa auf das Ehepaar Doll und den Farken-Willem aus dem Roman Der Alpdruck, Peter Siebenhaar aus Der ungeliebte Mann, Rittmeister von Prackwitz aus Wolf unter Wölfen, Pips aus Die Stunde eh’ du schlafen gehst oder Eva Hackendahl aus Der eiserne Gustav.

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Die Physiognomie der Droge – Das Glück, Morphinist zu sein Morphium ist wie der kommende Gott oder die sehnlichst erwartete Geliebte, es bedeutet »feierliche Erlösung, Vorgefühl des kommenden Genusses« (Fallada 2005: 5) und macht »das ganze Leben schön« (ebd.). Das Opiat wird als »Benzin« (8) metaphorisiert, und als Folge der Einspritzung soll »eine feierliche Ruhe« in die »Glieder strömen«: Denn jeden Wunsch erfüllt mir Morphium, ich brauche nur die Augen zu schließen, und die ganze Welt gehört mir. (Ebd.)

Die äußerlich unscheinbare, in vielfältigen Darreichungsformen verfügbare Substanz liegt in »Hunderten von Apotheken« (10) und Arztpraxen reichlich da und kann in unterschiedlichen Mengen und Lösungen verabreicht werden: Kann ich sie gleich haben, jetzt sofort? Aber dreiprozentig, Herr Sanitätsrat, und fünf Kubikzentimeter, sonst schlägt es nicht an bei mir. (14)

Gleichwohl aber sind die »Ampullen« mit den verheißungsvollen »Etiketten« schwer zu bekommen (15). Falladas Ich-Erzähler namens Hans muss »Rezeptformulare« (11) stehlen und Rezepte fälschen oder sich beim Arzt Rezepte erbetteln. Der Praxis-Test misslingt jedoch: Als er sich beim Arzt als »ruhiger Weltmann« vorzustellen und einen »vorzüglichen Eindruck« zu machen sucht, wird er sofort durchschaut – die ärztliche Diagnostik ist auf Simulationen vorbereitet: Der Arzt sitzt mir gegenüber und läßt mich nicht aus dem Auge. [...] Er fragt mich: »Sie sind Morphinist?« (13)

Zur Ausbildung eines Arztes gehört es immer auch, gesichtsdiagnostische Fertigkeiten zu erwerben und psychische und körperliche Zustände aus der Gesamterscheinung des Patienten zu ermitteln. So schließt er von auffälligen Kontraktionen einzelner Gesichtsmuskeln auf das jeweilige Nervenkostüm, und so zählt der Blick ins Auge zu den Standards auch des Allgemeinarztes, da beim Auge die Blutgefäße äußerlich sichtbar sind und Veränderungen an ihnen sich frühzeitig erkennen lassen. Netzhautblutungen und Verengungen oder Verschlüsse der feinen Kapillargefäße der Netzhaut usw. erlauben zuverlässige Aussagen über bestimmte Krankheitsbilder wie Bluthochdruck, Diabetes und Infarktrisiken (vgl. Krampik 2000). Und auch den Drogenkonsumenten erkennt er am äußeren Erscheinungsbild, etwa an einer Pupillenerweiterung (Mydriasis) oder an einer Rötung der Bindehäute, die bei chronischem Konsum zu einer Bindehautentzündung (Konjunktivitis) führen kann (vgl. Mayer u. a. 2002).

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Ebenso erkennt der Allgemeinarzt den Drogenkonsumenten schon am äußeren Gesamtbild. Überdies zerstören die ständigen Injektionen – bei einer »Tagesdosis von achtzig Spritzen« (Fallada 2005: 9) – das Gewebe: Der Arzt bittet mich, den Arm frei zu machen. Ich zeige ihm die geschwollene blaurote Stelle des Unterarms, unter deren Haut Eiter siedet, sie ist dicht umgeben von den Dutzenden frisch-roter oder abheilender brauner Einstichstellen. (Ebd.: 13)

Der »Stoff« (10) ist eine janusköpfige »Frau« – die giftige Substanz »lächelt« (17) und ist bald die »einzige Geliebte« (16): Sie ist böse, sie quält mich unermeßlich, aber sie belohnt mich auch über jedes Begreifen hinaus. [...] Diese Geliebte ist wahrhaft in mir. Sie füllt mein Hirn mit einem hellen, klaren Lichte, in seinem Schein erkenne ich, daß alles eitel ist und daß ich nur lebe, diese Verzückung zu genießen. (Ebd.)

Sie ist besitzergreifend und tückisch, und als »Betäubungsmittel« (10) tötet sie auch den Geschlechtstrieb – mit dem Risiko der Impotenz: Sie wohnt in meinem Körper, und kein klägliches Geschlechtstier mehr bin ich, das sich noch in der Ermattung unbefriedigt und wild nach dem andern sehnt, nun bin ich Mann und Frau zugleich, die mystische Hochzeit wird gefeiert mit dem Einstich der Nadel, die fehlerlose Geliebte, der untadelhafte Liebende, sie feiern ihre Feste unter der Laube meiner Haare. (16 f.)

Mit dem »Aufströmen des Giftes« (17) im Leibe fühlt sich der Erzähler »stark und zu allem entschlossen« (18). Der »Einfluss des Morphiums« (19) macht seine Bewegungen wieder sicher und behende. War er eben noch ein Häufchen Elend mit »ersterbender Stimme« und ganz »von Sorge um den Stoff« (5) erfüllt, steht nun die »kostbare Stöpselflasche« (21) bereit, aus der sich die »Fünfkubikzentimeterspritze ganz« aufziehen lässt: Ich ziehe sie ein in meine Spritze, ich versetze mir auch noch diese Portion, und mein Blut wallt singend auf, in meinem Gehirn blüht Blitz auf Blitz auf, der Rhythmus von Herz und Atem tanzt. (Ebd.)

Der Drogenrausch, der auf den Morphiumgenuss folgt, erzählt sanft von den Schönheiten der Welt, von »kleinen Nerven zart und sacht wie Wasserpflanzen in einem klaren See« (16), von Rosenblättern, einem Baum in einem Hinterhof, von Kirchenglocken. Nachgerade aggressiv wirkt dagegen jener Rausch, den Kokain verursacht: Aber Kokain ist ein rotes, reißendes Tier, es quält den Körper, alle Welt wird wild, verzerrt und hassenswert, Messer blinken gaukelnd durch seine Räusche und viel Blut strömt, und für all das schenkt es nur wenige Minuten höchster Klarheit des Hirns, ein Verknüpfen entlegenster Gedanken, eine blendende Luzidität, die schmerzt. (22 f.)

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Die eine Droge macht den Süchtigen folgsam »wie ein Lamm« (18), die andere führt zu Kontrollverlust und Gewalttätigkeit: »eine wilde Wut kocht in mir, und nun springe ich auf die Wirtin zu und halte sie an der Kehle.« (23) Nackter »Wahninn« treibt den Ich-Erzähler dazu, sich immer neue Spritzen zu setzen, bis sein Gesicht einen »Muskeltanz« (24) aufführt und der Kellner die Flucht ergreift. Am Ende der Erzählung wartet »die lange Qual der Entwöhnung« (25), gefolgt vermutlich von neuen Exzessen der Haltlosigkeit: Denn es ist diese euphorisierende Wirkung des Morphins, die zur Entwicklung einer Opiatabhängigkeit führt, während Kokain das Suchtgedächtnis aktiviert und damit für die Rückfallneigung von abstinenten Abhängigen verantwortlich zeichnet (vgl. Mayer u. a. 2000). Monika Hernik konstatiert in ihrer Interpretation der Erzählung, sie sei der Versuch, eine »sachliche Berichterstattung« und »nüchterne Beschreibung« zu liefern (Hernik 2009: 52). Ihre These freilich, der Text ähnele »vielmehr einem Krankheitsbericht oder einer Zeitungsreportage [...] als einem literarischen Text«, scheint mir abwegig zu sein. Wer mit medizinischen Befundberichten und Gutachten, OP-Protokollen und Patientengeschichten auch nur einigermaßen vertraut ist, wird zugeben müssen, dass diese eine völlig andere Anmutung haben: dort trifft man keine erzählte Sachlichkeit im Sinne Herniks an, sondern allenfalls Reduktionsstufen des Erzählens, gepaart mit fachsprachlicher Ätiologie und entsprechender Argumentation, wozu zwingend auch therapeutische Ausführungen gehören. Und selbst als Zeitungsreportage würde dieser Text nur bedingt taugen, da in die Textsorte der Reportage deutlich mehr Faktizität einzubringen ist: der journalistische Auftrag hat andere Erfordernisse, als diese Erzählung zu leisten vermag. Die Art und Weise, in der Fallada die Droge inszeniert, lässt im Gegenteil einen Aufwand an rhetorischen und stilistischen Mitteln erkennen, der zum einen von der hohen Könnerschaft des Schriftstellers Fallada kündet, und zum anderen von seiner Absicht, hier eine Erzählung und nicht einen Erfahrungsbericht zu liefern. Überdies ist unklar, woher der Leser auf »Dokumentarmaterial« schließen soll, das der Autor später »literarisch bearbeitet« haben könnte (ebd.: 53). In die richtige Richtung hingegen deutet Herniks Befund, dem zufolge »der Protagonist im Morphiumrausch einen Mord an seiner Vermieterin begangen« habe (52), wenngleich in diesem speziellen Fall kein Staatsanwalt auf Mord plädieren würde, da die Tötung nicht mit Vorsatz erfolgte. Wie wir aus Falladas Vita wissen, war auch die damalige Justiz der Weimarer Republik und des ›Dritten Reiches‹ in der Lage, Tötungsdelikte infolge von Wahnvorstellungen anders zu bewerten als Mord.3 3

Vgl. die Paragraphen 211 und 212 des Deutschen Reichsstrafgesetzbuches (RStGB). Dort heißt es in der bis zum 4. 9. 1941 gültigen Fassung des § 211: Nur wer »vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung

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Die Physiognomie des Opfers ist wiederum bemerkenswert: Im Erzähleingang, unter den Bedingungen der Entzugserscheinungen, bleibt sie völlig gestaltlos (vgl. Fallada 2005: 6 f.); jetzt, unter dem Einfluss des aggressiven Kokains, erscheint sie als »starke, blonde Frau« mit plumpen Bewegungen, die allein schon durch ihre »dumm« hervortretenden »wasserblauen Augen« die Affekttat des Erzählers zu provozieren scheint (ebd.: 23). Irreführend wiederum sind Herniks Ausführungen, denen zufolge der Erzähler eine »nüchterne Alltagssprache« spreche und auf »Kommentare, Wertsetzung oder Urteile« verzichte: der Text ist im Gegenteil reich an extremen Urteilen in einem großen Spannungsbogen. Abschließend noch einige Gedanken zu den Gefahren der Auseinandersetzung mit literarischer und nichtliterarischer Physiognomik. Die nichtliterarische Physiognomik – sowohl die von Laien praktizierte als auch die im ›wissenschaftlichen‹ Gewand auftretende – fußt häufig auf ungesicherten Datenbeständen. Dies wirkt sich vor allem dann fatal auf die Ergebnisse aus, wenn die Versuche der Verwissenschaftlichung und die (oft pseudowissenschaftlichen) Behauptungen der jeweiligen Physiognomen mangelhaft oder gar unreflektiert als wissenschaftliche Tatsachen betrachtet werden. Die literarische Physiognomik hingegen birgt die Gefahr, dass man durch eine Fokussierung auf deren Datenbestände andere relevante Textdaten vernachlässigt. Eine Textanalyse, die sich ausschließlich physiognomischer Kriterien bedient, diese isoliert und die Struktur des Gesamttextes vernachlässigt, muss – allein durch die dann fehlende Kontextualisierung der Befunde – fehlgehen. Die Untersuchungen der Portraits erschließen aber immerhin Aspekte, die auch Erklärungsgründe für die Massenrezeption der Fallada-Romane liefern könnten.

ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.« (Mörder ist demnach, wer »aus Mordlust« oder »zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdekken, einen Menschen tötet.«) Und unter § 212 in der bis zum 4. 9. 1941 gültigen Fassung des § 212 RStGB steht zu lesen: »Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung nicht mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Totschlages mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft.« Der Protagonst ist also auch nach damaligen Kriterien Totschläger, »ohne Mörder zu sein«. Vgl. http://www.nachkriegsjustiz.at/service/gesetze/gs_rstgb_211_212.php.

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Literatur Becker, Peter (1996): Physiognomie des Bösen. Cesare Lombrosos Bemühungen um eine präventive Entzifferung des Kriminellen. In: Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin: Akademie Verlag, 163–186. Fallada, Hans (1988): Der Trinker/Der Alpdruck. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Band VII. Hg. von Günter Caspar. Berlin, Weimar: Aufbau. Fallada, Hans (2005): Sachlicher Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein (Geschichten). Hg. von Günter Caspar. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag (AufbauTaschenbuch 5327). Fallada, Hans (1985): Wolf unter Wölfen, Erster Teil. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Band IV. Hg. von Günter Caspar. Berlin, Weimar: Aufbau. Hernik, Monika (2009): »Nüchterne Sachlichkeit« als Prinzip. Zu ausgewählten Nachlasstexten von Hans Fallada. In: Hans Fallada und die literische Moderne. Hg. von Carsten Gansel und Werner Liersch. Göttingen: V&R unipress (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 6), 51–66. Jürss, Detlev (1985): Rausch und Realitätsflucht. Eine Untersuchung zur Suchtthematik im Romanwerk Hans Falladas. Dissertationsschrift an der Universität Zürich. Konstanz: Buchdruckerei Maus. Kampik, Anselm/Grehn, Franz (2005) (Hgg.): Augenärztliche Diagnostik. Augenärztliche Therapie. 2 Bde. Stuttgart u. a.: Thieme. Lindner, Martin (1994): Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart, Weimar: Metzler. Matt, Peter von (2000): ... fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv 30769). Mayer, Peter, Erdtmann-Vourliotis, Martina, Höllt, Volker (2002): Molekulare Grundlagen der Opiatabhängigkeit. In: Sucht 48, H. 1, 17–28 Poulsson, E. (1930): Lehrbuch der Pharmakologie. Für Ärzte und Studierende. Deutsche Original-Ausgabe übersetzt von Dr. med. Friedrich Leskien. Leipzig. Mit einer Einführung von Walther Straub. Neunte Auflage. Leipzig: S. Hirzel. Regener, Susanne (1999): Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen. München: Fink.

Volker Mergenthaler

»Unkontrollierbare Geschichten«, die Bedingungen ihrer Hervorbringung und ihr epochengeschichtlicher Ort Hans Falladas Gefängnistext Im Blinzeln der Großen Katze Oh what a tangled web we weave When first we practice to deceive! (Scott 1810: 343)

1993, fast sieben Jahrzehnte nach ihrer Entstehung erst, ist Falladas Erzählung Im Blinzeln der Großen Katze (1924) veröffentlicht worden. In ihrem Zentrum steht Friedrich Lütt, ein Bankbeamter, der seit mindestens einem halben Jahr1 in Untersuchungshaft sitzt. Ihm wird vorgeworfen, eine Prostituierte, Erna Habermann, und kurz darauf die »Braut [s]eines Bruders« (Fallada 1993: 2, 343), Pübe, ermordet zu haben. Man hat ihm »Feder und Papier gegeben« (ebd.: 285), er »darf schreiben« (286) und nutzt das Privileg für Aufzeichnungen über seinen Fall. Zum Vorschein kommt, wie er sich, von Zwängen und Phantasien, vor allem aber von der als femme fatale ausgestellten Pübe2 angetrieben, in den Verdacht bringt, Erna und wenig später dann Pübe ermordet zu haben. »Eine unbedeutende Schauergeschichte« (Crepon 1983: 28)3 hat man die Erzählung genannt, »alles in allem [...] ohne großen literarischen Wert«

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Diese Zeitspanne ergibt sich aus zwei Aufzeichnungen Lütts: »Wie lange sitze ich schon hier? Durch das gerippte weißliche Glas meines Fensters ist helleres, fast strahlendes Licht gefallen, das war der hohe Sommer« (Fallada 1993: 2, 356 f.) und: »Heute, da ich dies niederschreibe, an einem trüben Winterabend« (ebd.: 385). Charakteristika dieses Typus erarbeitet Hilmes 1990, insbesondere 223–248. Vgl. auch Crepon 1981, wo von einer »schauerlich-sentimentale[n] Geschichte« (122) die Rede ist.

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(Williams 2002: 102),4 und sie den »Misserfolge[n] ihres Autors«5 zugeschlagen – eine Fingerübung Falladas, der den Mangel offenbar selbst verspürt und das Manuskript verschämt »in die unterste Schublade« gelegt habe. »Vermutlich ist ihm dabei klarer geworden, welchen eigenen inneren Gesetzen das Schreiben zu folgen und auf welche Weise der Schriftsteller all das, was er erlebt, erfährt und erfindet, zu verketten hat« (Caspar 1993: 2, 531).6

Selbtreferentialität im vermeintlich »reflexionsfeindlichen Klima« des Textes Gescheitert ist er, zumindest in den Augen des Herausgebers Günter Caspar, am Versuch, »die psychischen Impulse und Motive der Gestalten zu erkunden«, dem »eigentliche[n] Anliegen« der Erzählung. Und diesem werde er »schwerlich gerecht«, weil er die »Triebe und Antriebe« seiner Figuren nicht eindeutig und einleuchtend bloßlegen [kann], weil er von blanken Fiktionen ausgeht und die Figuren in der Retorte verfertigt. Lütts »böser Trieb« beschränkt sich, so scheint es, nicht auf die Besuche der Huren. Zu Pübe sagt er: »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, dann war er geschehen.« Wenn er sich vor Etz zu der Bluttat bekennt, fügt er hinzu, er sei danach »sehr glücklich« gewesen, und in ihm ist eine Freude, so lügen zu können: »Ich leugnete die ganze Welt, ich schuf eine andere, und ich zwang sie, wahr zu sein.« Später meditiert er: »Vielleicht schwärte es an diesem Morgen in meinem Hirn, meine Arbeit langweilte mich, meine Lieben langweilten mich, ich las ein Plakat: spielen wir doch den Mörder.« Dann wieder kokettiert er mit dem Gedanken, daß es besser sei, »wegen eines großen Verbrechens angeklagt zu sein als um einer kleinen Dieberei willen« (ebd.: 528).

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Williams begründet das Urteil mit der angeblichen Willkür der Titelwahl, mit der nicht ausreichend konsequenten Durchführung des zu Beginn eingeführten Gartenmotivs, mit der »banal[en]«, den Topos von »Mutterfigur und Hure« aufrufenden »Gegenüberstellung der sado-masochistischen Pübe, die an Lütts ›niedere Instinkte‹ appelliert, und der ›reinen‹ Ria, Lütts schwangerer Frau« und der mangelhaften psychologischen Motivation der Ermordung Pübes. Diese Zuordnung nimmt vor: Dietz 2007: 18. Daß Im Blinzeln der Großen Katze nach seiner Fertigstellung nicht publiziert worden ist, spricht nicht notwendig gegen die literarische Qualität. Williams 2002: 101; 107–108, zufolge sind dafür eher Verstimmungen zwischen Fallada und Rowohlt als Erklärung verantwortlich zu machen. Für eine intensive Auseinandersetzung mit Falladas frühen Texten, insbesondere mit Blick auf die Textverfahren, und für eine Würdigung Falladas als »moderner Autor« tritt ein: Gansel 2008, hier 110–111.

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Der kritischen Einschätzung Caspars gegenüber ist allerdings, wie ich meine, Vorsicht geboten, und zwar schon deshalb, weil die vermeintlich inkompatiblen Aussagen unterschiedlichen Personen gegenüber, zu unterschiedlichen Zeitpunkten und von unterschiedlichen Standorten der Reflexion aus abgegeben werden und die Forderung nach Kompatibilität offenbar auf der – unsicheren – Prämisse aufruht, eine literarische Figur müsse nach Maßgabe der Realität profiliert und im Denken, Fühlen und Handeln widerspruchsfrei angelegt werden, um psychologisch glaubwürdig zu erscheinen. Zu denken geben sollte zudem, daß kritische Einwände dieses Schlages der Erzählung nicht fremd sind, sondern – im Gegenteil – sogar von deren Personal vorgetragen werden, Falladas Text somit seine vermeintlichen Mängel selbst reflektiert. Zwei Interimsleser kommen zu Wort, denen jeweils so viel von Lütts »Geschreibsel« (Fallada 1993: 2, 286) vorgelegen hat, wie dem Leser bei erstmaliger Lektüre zu diesem Zeitpunkt auch: ein »Geheimrat« (ebd.: 390) der Medizin und, noch vor ihm, ein »Oberinspektor« (354) der Haftanstalt. »Ganz sinnlos«, »verstiegenes Zeug« nennt dieser die Aufzeichnungen Lütts. Er habe »neulich hinein« gesehen und vermute nun, Lütt wolle, was dieser entschieden von sich weist, »den Geisteskranken markieren«, um sich vor seiner drohenden Hinrichtung wegen zweifachen Lustmordes zu »retten« (354 f.). Ob es tatsächlich diesem ersten, eher behäbig gezeichneten Leser zuzuschreiben ist oder einem anderen Umstand, daß der Geheimrat sich wenig später ebenfalls mit den Papieren befaßt,7 bleibt, da der Rezipient konsequent an den Wissenshorizont und die Perspektive Lütts gebunden ist, bis zuletzt unklar. Der Geheimrat ist gemessen am »Strafanstaltsoberinspektor« (357) als subtiler Leser gezeichnet und legt eine Einschätzung an den Tag, die den kritischen Einlassungen Caspars bemerkenswert nahe kommt: »Übrigens widersprechen Sie sich ständig«, hält er Lütt vor. »Ständig. Mal behaupten Sie, am Tattage namenlos glücklich gewesen zu sein, aber man merkt recht wenig von Ihrem Glück. Sie wollen für Ihren unglücklichen Bruder schreiben und haben ihn auf der nächsten Seite schon vergessen, denken gar nicht mehr an ihn. Sie erzählen ganz unkontrollierbare Geschichten von seiner Braut – [...] Wie haben Sie sich das gedacht? Was haben Sie dabei empfunden? Welche Gründe hatten Sie zu diesem Vorgehen?« (391)

Die Neugier des Geheimrats richtet sich, als habe sie den Überlegungen Caspars Pate gestanden, auf die »psychischen Impulse und Motive« Lütts, auf seine »Triebe und Antriebe« (Caspar 1993: 2, 528). Seiner Aufmerksamkeit entgeht, daß von Beginn an ein metasprachlicher Reflexionshorizont eingezogen ist, von Beginn an stehen nicht oder bei weitem nicht allein 7

»Besser«, so schließt der Oberinspektor im Gespräch mit Lütt über dessen Aufzeichnungen, »ich schicke Ihnen einmal den Arzt« (Fallada: 1993, 2, 355).

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»die psychischen Impulse und Motive der Gestalten« im analytischen Zentrum des Textes, sondern (mit dem so folgenschweren wie unzutreffenden Diktum vom Autor, der »keine Ästhetik gestiftet« habe und dessen Romane sich durch ein »reflexionsfeindliches Klima« auszeichneten,8 allem Anschein nach nicht vereinbar) die Bedingungen, der Prozeß und die Effekte des Schreibens.9 Bereits im zweiten von sechsunddreißig Abschnitten wird die Schreibsituation thematisiert, die Erzählung gleichsam einer Textsorte zugeordnet und die Optik des Lesers eingestellt: Als ich hier eintrat, war das Leben aus. Ist dies noch Leben? Ich esse und gehe, ich bette auf und bette ab, ich wische den Boden, wenn die Wanzen mich beißen, töte ich sie, nun flüstert mein Nachbar endlos durch die Tür: »Du, zweiunddreißig!« [...]. Das ist alles. Nun ist es still. Es wird Abend. Man hat mir Feder und Papier gegeben, man ist nicht schlecht zu mir, ich darf schreiben. Freilich weiß ich nicht, ob der Untersuchungsrichter mein Geschreibsel revidiert oder nicht; ich werde jedenfalls vorsichtig sein. Nein, ich werde nicht vorsichtig sein. Nun schreibe ich dir, mein Bruder Etz, dem ich so Übles tat, die Beichte meines Herzens. Du hast alles durch mich verloren: Stellung und Geliebte, Freiheit und den Bruder, Leid tragen mußt du für mich; soll ich dir nicht sagen dürfen, wie alles geschah? (Fallada 1993: 2, 285 f.)

Für den Mediziner steht – anders als im Falle vorrangig literarisch interessierter Leser – freilich nicht die Selbstreferentialität oder die Faktur des von Lütt verfaßten Textes im Vordergrund. Er hat die psychologische Konsistenz des Verfassers zu prüfen und darüber zu entscheiden, ob Lütt im Sinne des »Paragraph[en] einundfünfzig« (ebd.: 401) zur Tatzeit schuldfähig war. 8

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Diese Einschätzung hat Genazino 1977: III, verbreitet: »Dieser Autor hat keine Ästhetik gestiftet, er hat keine weltanschaulichen Varianten begründet; es gibt nicht einen Aufsatz von ihm, über den heute noch nachzudenken wäre. Der essayistische Aspekt fehlt in seinem Werk überhaupt fast ganz. Noch nicht einmal über den Einfluß von Autoren, die ihm Vorbilder waren, gibt es Auskünfte oder gar theoretische Erörterungen. Womit sich Hans Fallada einzig in unserer Zeit bemerkbar macht, ist die allerdings erhebliche Tatsache, daß er bis auf den heutigen Tag ein Autor für breiteste Leserschichten geblieben ist. [...] Im reflexionsfeindlichen Klima seiner Romane gilt Innenwelt nicht nur als unbekanntes, sondern mehr noch als unzulängliches, im Zweifelsfalle verbotenes Terrain«. In Ansätzen entwickelt solche Überlegungen bereits Ulrich 1995. Ulrich zufolge zeugt das Ensemble aus dem Gefängnistagebuch von 1924 (ein Großteil davon liegt mittlerweile veröffentlicht vor: Fallada 1998) und dem im Rahmen dieser Aufzeichnungen begonnen Roman Im Blinzeln der Großen Katze von Falladas Bemühungen um ein »Schreibkonzept«. Als Falladas bevorzugtes Medium »ästhetischer Selbstfindung« (Ulrich 1995: 131) bestimmt er allerdings nicht den Roman, sondern das Tagebuch. Es sei als »Versuch« zu lesen, im literarischen Schreiben »vorgefertigte Konstrukltionen [sic!] hinter sich zu lassen. Dies freilich gelingt ihm in seinem Frühwerk nicht« (ebd.:139).

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Seine Lektüre ist vollständig pragmatisch10 und nicht ästhetisch motiviert. In dieser offenbar auch vom Herausgeber der frühen Prosa eingenommenen Perspektive sind die Aufzeichnungen Lütts freilich unzureichend, als mißlungenes Rechtfertigungsnarrativ zu bestimmen. Diese – Literatur auf Homogenität und psychologische Konsistenz verpflichtende Sichtweise – wird später erneut aufgegriffen und ideologiekritisch durchleuchtet, und zwar von Lütt selbst, der in der Wohnung Pübes »an den Bücherschrank« tritt, Bücher herausnimmt, darin zu lesen und über das Verhältnis von Lebensund diegetischer Welt zu räsonieren beginnt: »Alles war erlogen, kein Wort wahr. Was bedeuten diese Geschehnisse alle, die dort aufgezeichnet waren? Sie hatten«, so wie die ersten Leser der Aufzeichnungen es verlangen, »einen Zusammenhang, sie ließen sich verfolgen, da war eine Logik, alles ging zu nach den Spielregeln. Das Leben aber sprang. Es war dreißig Jahre logisch, und dann machte es einen Satz, es warf die Taten gegeneinander« (Fallada 1993: 414). Was Lütt noch vor seiner Festnahme reflektiert und während der Haft dann in seine Aufzeichnungen aufnimmt, greift Argumente auf, die zu Beginn der 1920er Jahre auf dem Feld der Romanpoetik entwickelt wurden und eine ungemein virulente Debatte über die »Krise des Romans« begründet haben. In deren Mittelpunkt stand die Frage, welcher Stellenwert dem Erzählen zukommen kann, das sich einer in ihrer Dynamik und Heterogenität durch das seinerseits brüchig gewordene Individuum nicht mehr zu bewältigenden Moderne zu stellen sucht.11 Falladas Roman richtet die Aufmerksamkeit daher nicht nur auf den Schreibprozeß und seine Bedingungen, sondern zudem auf den epochengeschichtlichen Ort dieses Problemkomplexes; er wird lesbar als subtiler poetologischer Beitrag zur Diskussion über den Roman und – weiter gefaßt – die Literatur der Moderne. Dem »Strafanstaltsoberinspektor« und dem »Geheimrat« der Medizin muß dies allerdings aus beruflichen (beide lesen pragmatisch) wie aus systemischen Gründen (beide kennen nur einen Bruchteil des Textes) verborgen bleiben. Zur Freilegung des poetologischen Gehalts bedarf es freilich eines literaturwissenschaftlichen Blickes, der die Bau- und Funktionsweise der »unkontrollierbare[n] Geschichten« Lütts analytisch zu durchdringen, das komplizierte Zeitregime des Erzählens, die Adressatenwechsel, die ontologischen Differenzen zwischen Berichten, Träumen, Erinnerungen, Angst10 Vgl. hierzu Weigel 1982: besonders 68–70. Die »Texte erhalten« in einer solchen Perspektive »den Status von psychologischem Untersuchungsmaterial, die Autoren den von Untersuchungsobjekten [...].« Bei Medizinern und Kriminalpsychologen »steht nicht der Gefangene/Autor als Schreibsubjekt und Objekt der Institution im Mittelpunkt, und es geht ihnen nicht um die Ermittlung von produktiven Bearbeitungsstrategien der Internierung im Medium der Literatur« (ebd.: 69). 11 Vgl. hierzu Kiesel 2004: 315–320. Zum Stellenwert der in den 1920er Jahren angestellten Überlegungen innerhalb der Romanpoetik der Moderne vgl. Scheunemann 1978, besonders 102–164.

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und Wunschvorstellungen, Halluzinationen, Phantasien und Reflexionen und schließlich die selbstreferentiellen Einschübe zu erfassen und zueinander in Beziehung zu setzen vermag.

Zur Architektur der Aufzeichnungen Den archimedischen Punkt der Erzählung bildet die Schreibsituation: die Untersuchungshaft des Mordverdächtigen Friedrich Lütt, der die Erlaubnis erhält, in seiner Zelle Aufzeichnungen anzufertigen. Von diesem Sachverhalt her sind die einzelnen Komponenten der Erzählung und ihr funktionales Zusammenwirken zu bestimmen. Mehrfach rückt diese Schreibsituation selbst, und zwar ostentativ, in den erzählerischen Fokus. Ein erstes Mal geschieht dies im zweiten Abschnitt, worin zunächst von der Schreiberlaubnis die Rede ist, Lütt sodann seinen Bruder Erich, genannt Etz, als Adressaten seines »Geschreibsel[s]« benennt und es als »Beichte [s]eines Herzens« (Fallada 1993: 2, 286) bezeichnet. Der 21. Abschnitt ist dem Gespräch mit dem Oberinspektor gewidmet und der dadurch ausgelösten Reflexion über das eigene Schreiben, das Produkt und sein Wirkungspotential. Daran knüpft nach einer weiteren, allerdings nur floskelhaften Erwähnung des Schreibprozesses im 27. Abschnitt – »Heute, da ich dies niederschreibe« (ebd.: 385) – der 28. an, worin eine fünftägige Unterbrechung des Schreibens und die Befragung durch die Mitglieder der medizinischen Untersuchungskommission zur Sprache kommen. Ein letztes Mal wird die Schreibsituation am Ende der Erzählung verhandelt, wenn Lütt in einer Rückschau nicht auf die »vierundzwanzig Stunden« (285) zwischen dem Mord an Erna und dem Tod Pübes, sondern im Hinblick auf seine »Beichte« Stellenwert und Potential seiner Aufzeichnungen neu taxiert. Nicht für seinen Bruder Etz, auch nicht für Pübe habe er geschrieben, sondern für sich selbst, »für [s]eine Freiheit, für [s]ein Leben« (419). Mit dieser poetologisch aussagekräftigen Rede über das eigene Schreiben verknüpft sind diejenigen Überlegungen Lütts, die klar im Hier und Jetzt der Untersuchungshaft zustande kommen und angesiedelt sind, das Schreiben selbst aber nicht bewußt zum Thema machen, sondern bestenfalls und ohne daß dies reflektiert würde, seine Rahmenbedingungen konturieren. Zur Debatte steht in diesem Fall der Gefängnisalltag, die Besonderheit des Eingeschlossen-Seins. Lütt reflektiert über den ihm zugewiesenen Lebensraum, über die »Definitionsweisen des Raumes, seiner materiellen und sozialen Architektur«.12 Er widmet sich »diesem seltsam hallenden, tönenden 12 Eine Systematik der unter den Bedingungen des Eingeschlossen-Seins virulenten Themenkomplexe entwickelt Karpenstein-Essbach 1985: 22–26. Zitat: 22.

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Haus« (Fallada 1993: 2, 356), der Beschaffenheit seiner Zelle, den wenigen Reizen, die von außen zu ihm dringen, und anderen Insassen, insbesondere den unbeholfenen Kommunikationsversuchen seines Zellennachbarn (ebd.: 285/357). Von diesem Ort der Reflexion und des Schreibens aus wird im Modus der Erinnerung der im Zentrum stehende narrative Komplex präsentiert: das rund »vierundzwanzig Stunden« (285) umspannende Geschehen zwischen der Ermordung Ernas und dem Tod Pübes. Seine Entfaltung wird mehrfach verankert im Hier und Jetzt der Schreibsituation, indem Lütt eine Brücke schlägt vom erinnerten Geschehen zum Akt des Erinnerns, zum Wissen heute, zum immer wieder aufscheinenden adressierten »Du«: »Ich weiß, in meinen Augen muß ein trüber, schuldbewußter Ausdruck gelegen haben« (330), »Ich weiß noch, was wir sprachen, Etz, Wort für Wort« (333). Das »in der Einsamkeit der Zelle rückblickend« (301) entrollte Geschehen zwischen dem Mord an Erna und dem Tod Pübes wird zwar weitgehend chronologisch, doch (und hieran entzündet sich offenbar die Kritik der fiktionsimmanenten wie -externen Leser) weder klar strukturiert noch von einem souveränen Standort der Betrachtung aus entrollt. Einmal wird der Bruder Etz angesprochen (333), ein anderes Mal wird in der dritten Person über ihn verhandelt (332), mal wird im Präteritum erzählt, mal im Präsens, mal mit klarer Distanz, mal anverwandelnd, mal bleibt kein Raum für Zweifel an der Realität des Geschilderten, dann wieder ist völlig unklar, womit man es zu tun hat: mit ›wirklichen‹ oder poetisch inszenierten Erinnerungen, Angst- oder Wunschvorstellungen, Abschweifungen oder Halluzinationen. Eingelassen in dieses komplexe Ensemble aus auf das Hier und Jetzt des Aufzeichnens bezogenen Situationsbeschreibungen, im Hier und Jetzt des Aufzeichnens verankerten Erinnerungen, aus wieder aktualisierten Träumen, Halluzinationen, Wunsch- und Angstvorstellungen sind schließlich noch Reflexionen, die nicht klar einem Standpunkt der Hervorbringung zuzuordnen sind; allen voran diejenige über die beiden Gärten und den darin unternommenen Schritt vom Wege, die mehrfach wieder aufgegriffen und auf diese Weise zum Leitmotiv promoviert wird.

»Ein Schritt vom Wege« Allem Anschein nach hat man es mit einer topologischen Chiffre zu tun, die die Übertretung Lütts wenn nicht begrifflich, so doch symbolisch ›fassen‹ soll:

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An die Schmalseite des Hauses stößt der Garten. Zwischen zwei Weidenbäumen ist die Lattentür; durch sie trete ich, und nun bin ich im Garten, einem bäuerlichen Garten, in dessen buchsgesäumten Beeten allerlei Gemüse wächst: Spinat, Kohlrabi, Erbsen, Bohnen, und da und dort ist der Salat schon geschossen. Haselsträucher, das Summen eines Bienenstandes. Der Weg wird enger zwischen Flieder, Jasmin, Jelängerjelieber; hier sind Blumenbeete gewesen, aber die Rosen sind erfroren, und Tulpen wie Vergißmeinnicht sind von Majoran und Dill verdrängt. Kein aufregender Garten, nichts Liebliches, nein, ein Nutzgarten, in dem der Bauer abends noch eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen sitzt. Ich sitze dort nicht: es ist nur ein Schritt, ein Schritt vom Wege durch die Büsche hindurch –. Und ich bin auf einer Parkwiese, auf der verwunschenen Wiese eines verzauberten Parks. Der unbeschnittene Weißdorn wuchert wild in den Himmel hinein, die Bäume sind mit dem Gebüsch ein wenig zurückgetreten, um dem Gras Platz zu machen, in dem Tausendschönchen und Tulpen und Rittersporn und die blaue Iris wurzeln. Hier – ruhest du – singt die Sonne, die Bienen summen viel lauter, und die durchs Geäst schlüpfenden Vögel sehen dich mit ihren Augen blank an und frei. Dies ist der andere Garten, der Blühegarten, der Duftgarten mit Zauberei, einen Schritt vom Wege ab. In dem Bauerngarten habe ich lange gelebt, ewige Jahre, im Garten des Rauschs einen Tag. Gut, dort habe ich geschlafen und geträumt, einen Tag. Bereuen? Und wenn ich es mit dem Tode bezahlen muß, wie sie sagen, bereuen –? [...] Einen Tag, vierundzwanzig Stunden, bin ich in dem andern Garten gewesen ... und von Reue reden nur die, die ihn nie betraten. (283–285)

Der »Schritt vom Wege« hat Lütt aus einem »Nutzgarten« in einen »Garten des Rauschs« geführt, aus einer durch »buchsgesäumte Beete« angezeigten Ordnung in eine »wild« »wucher[nde]« Sphäre, aus der bürgerlichen Welt, wie sie Lütt, dem »nicht erfolglose[n] Beamte[n] einer Bank« (292), vertraut geworden ist, in die abgründige der Lust und Kriminalität. Zugleich hat der »Schritt vom Wege« ihn aber auch auf einer zweiten, unter der reichen Vegetation der Gartenbeschreibung gleichsam zum Verschwinden gebrachten ästhetischen Matrix in eine grundlegend andere Sphäre überführt, in den »Blühegarten« des Literarischen nämlich, genauer noch: in ein 1873 veröffentlichtes Lustspiel von Ernst Wichert, Ein Schritt vom Wege, und in seine prominente Aneignung durch Theodor Fontanes Effi Briest.13 Wicherts Stück, ein »Lustspiel in vier Aufzügen«, ist um eine spielerische Grenzüberschreitung zentriert: Arthur von Schmettwitz und seine junge Gattin Ella machen am Ende ihrer Hochzeitsreise Halt in einem Kurort im Gebirge. Ella fürchtet den Ennui:

13 Ernst Wicherts Stück ist erstmals 1873 veröffentlicht worden, Fontanes Roman in Fortsetzungen in der Deutschen Rundschau 1894 und 1895.

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Ella. [...] Und immer so spießbürgerlich fort auf der großen langweiligen Heerstraße aller Reisenden mit dem Bädeker in der Hand, [...] und rechts und links ist’s so schön [...] Arthur. Ein Schritt vom Wege, und wir sind in der allerromantischsten Romantik mitten darin. Ella. Ein Schritt vom Wege? Wer so leichtgläubig wäre. Arthur. Wir werfen zum Beispiel von uns, was uns als Herr und Frau von Schmettwitz legitimirt – diese Brieftasche mit meiner Paß- und Visitenkarte. [...] Und dann – wie lustige Studenten ohne Gepäck und Baarschaft – dort in den blauen Wald hinein! Willst Du? (Wichert o.J.: 10–11)

Ella will. Weil die beiden freilich auch als »Vagabunden« (ebd.: 11) auf Zeit für Kost und Logis aufkommen müssen, nehmen sie zur Beschaffung der erforderlichen Mittel und unter Wahrung des Inkognito andere Identitäten an. In der Folge kommt es »in ergötzlicher Weise [zu] Verwicklungen« (Salomon 1887: 622), die sich am Ende gattungsobservant wieder in Wohlgefallen auflösen, indem die Ordnung restituiert wird. Das Stück hat im ausgehenden 19. Jahrhundert einigen Zuspruch erfahren und stand »längere Zeit auf dem Spielplan« (von Leixner 1897: 991) – einmal auch im fiktionalisierten Kessin von Fontanes Roman: »Nach einem Crampas’schen Plane nämlich sollte noch vor Weihnachten ›Ein Schritt vom Wege‹ aufgeführt werden, [...] mit Effi, die die Rolle der Ella spielen sollte [...]. Effi war wie elektrisiert [...]; Frisches war es, wonach sie sich sehnte, Wechsel der Dinge« (Fontane 1998: 168). Bekanntlich kommt es termingerecht zur Aufführung und wenig später schon, nun aber nicht auf der Kessiner Bühne, sondern in der sozialen Ordnung der Handelnden, zum folgenschweren ›Schritt vom Wege‹, als Crampas mit Effi im Schlitten fahrend »ihre Hand« nimmt und sie »mit heißen Küssen« überdeckt. »Es war ihr, als wandle sie ein Ohnmacht an« (ebd.: 190). Was danach geschieht, überläßt der Erzähler dem Vorstellungsvermögen des Lesers, der die Bildsprache schon bei dieser Gelegenheit, spätestens aber, wenn ihm zusammen mit Instetten Einblick in die Korrespondenz zwischen Crampas und Effi gewährt wird (vgl. ebd.: 273–275), zu dechiffrieren ermutigt wird:14 »Als sie die Augen wieder öffnete, war man aus dem Walde heraus« (190). Dem Leser bleibt es auch überlassen, die in Falladas Roman mit dem »Schritt vom Wege« ausgelegte Spur aufzunehmen und ihr in die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu folgen: in Fontanes Effi Briest, in Wicherts Ein Schritt vom Wege oder in beide Texte. Gleich welchen Weg man auch einschlägt – das im Leserhorizont intertextuell15 aktualisierte 14 Die Funktionsweise dieser Struktur unter den Bedingungen einer stark normenorientierten Gesellschaft habe ich an anderer Stelle dargelegt: Mergenthaler 2005: 54–84. 15 Daß in Falladas Texten aus den 1920er Jahren »die Literatur mit ihrem schier unerschöpflichen Vorrat nach[hallt]«, namentlich die Werke Zolas, Balzacs, Tolstois,

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Übertretungsmodell, die folgenschwere sexuelle Eskapade Effis, die spielerisch-romantisierende derer von Schmettwitz oder die Gemengelage aus beiden, tritt in ein Kommentarverhältnis zu dem, was Lütt widerfahren ist und was er in seinen Aufzeichnungen mit der Rede von den beiden Gärten, vom »Nutzgarten« und dem »Garten des Rauschs« metaphorisch – einer begrifflichen Bestimmung entzieht es sich offenbar – zu fassen sucht: den Übergang in eine radikal andere, lustvoll-kriminelle Ordnung. Der entscheidende Effekt dieser Anspielung besteht allerdings darin, daß Lütt, was dem »Strafanstaltsoberinspektor« wie dem »Geheimrat« gleichermaßen entgeht, die »Beichte« seiner Übertretung, den Versuch, den Übergang sprachlich zu fassen und zu kommunizieren, nicht auf dem Feld des juridischen oder medizinischen Diskurses ansiedelt, sondern auf demjenigen der Literatur.16 Zur Debatte steht somit das Zusammenspiel von Schreiben und Übertretung, wie der »Schritt vom Wege« sprachlich zu fassen ist.

Von der kurzlebigen Freiheit, »so lügen, so ein anderer sein« zu können Lütt führt ein Doppelleben. Im »Nutzgarten« des Bankbeamten gedeiht eine berufliche Karriere bürgerlichen Zuschnitts, blüht eine junge Ehe, die erste Früchte zu tragen verspricht. Zugleich sucht er, heimlich und vom »böse[n] Trieb« (Fallada 1993: 2, 333) sexuellen Verlangens befeuert, regelmäßig Prostutierte auf. Mit »kleinen Lügen« (ebd.: 305) versteht er es, seine Ehefrau Ria zu täuschen. Diesen ihm mit der Zeit »schwer geworden[en]« (ebd.) Lügen ist es allerdings nicht unmittelbar zuzuschreiben, daß er sich in den Verdacht bringt, einen Mord begangen zu haben, sondern dem RegewerDostojewskis, aber auch Nietzsches, Hugo von Hofmannsthals und Oscar Wildes, hat bereits Crepon 1983: 20, registriert. Denselben Befund, daß Falladas »Schreiben« sich in den frühen 1920er Jahren »ganz aus dem Literarischen speist«, erhebt Ulrich 1995: 139. Als Beleg wird allerdings nur angeführt, worauf Caspar 1993: 2, 529, hingewiesen hat – daß Fallada, während er 1924 im Gefängnis saß und Im Blinzeln der Großen Katze zu schreiben anfing, »Rilkes schöne[s] Gedicht ›Der Gefangene‹« (Fallada 1998: 46) und Oscar Wildes Ballad of Reading Goal auswendig gelernt und während der Haft viel gelesen hatte, vorzugsweise Prosa des 19. Jahrhunderts (vgl. Fallada 1998: 26, 64, 80, 92, 95, 101, 115, 131, 134, 142, 151, 153, 157, 160), und daß Im Blinzeln der Großen Katze Motivkreise aus Sigmund Freuds erstmals 1918 publizierter Abhandlung Aus der Geschichte einer infantilen Neurose übernimmt. 16 Es greift daher auch zu kurz, Im Blinzeln der Großen Katze wie Lange 1993: 103, als »Analyse eines Teilaspektes gesellschaftlicher Realität«, namentlich der »Haftund Heilanstalten« zu bestimmen und diese Leistung als »Gesellschafts- und Zeitkritik« zu verbuchen.

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den seiner poetischen Vorstellungskraft. In Berlin werden nämlich schon kurz nach der Ermordung der Prostituierten Fahndungsplakate veröffentlicht, die nicht den gesuchten, offenbar aber noch unbekannten Täter zeigen, sondern das Opfer, mit dem zusammen Lütt in der Tatnacht gesehen worden ist. Er ist sich sofort sicher, daß er verdächtigt, vernommen werden und dabei in die Verlegenheit geraten wird, sein Treffen mit Erna und anderen Prostituierten zur Sprache bringen zu müssen; mit entsprechenden Auswirkungen auf sein bisheriges Leben: »Und sie werden zu Ria kommen, meiner schönen, meiner stillen Frau, sie werden der Ahnungslosen Fragen stellen, die in ihr Gesicht Schamröte treiben, sie wird das Geheimnis von meiner Geschlechtsnot hören, sie, die Reinheit selbst, der ich all dies verbarg, mühsamst« (291). Nicht das überdurchschnittlich lange Studium des Fahndungsplakats,17 sondern der etwas später unternommene Versuch, ein Exemplar davon »unbeschädigt von seiner Unterlage loszumachen« (293), erregt die Aufmerksamkeit eines Polizisten, der Lütt zur Rede stellt und ihn zu einer ersten, den Mord betreffenden kommunikativen Interaktion mit seiner Umwelt veranlaßt, und zwar zu einer Lüge – er »sammele Mordplakate« (294) –, die anders als die »kleinen Lügen« (305) gegenüber Ria nicht eine bestehende Welt stützen, sondern die lustvoll erlebte Hervorbringung einer radikal anderen, neuen begründen. Mit dieser Lüge gelingt es Lütt, den Polizisten zu täuschen. Diese Stunde ist die Trennung von meinem früheren Leben. Es ist, als sei in ihr aller anerzogener, erworbener Respekt vor Obrigkeit, Gericht, Strafe, Polizei zusammengebrochen. [...] Man konnte sie überlisten. Und es machte eine tiefe Freude, es war eine höchste Lust, sie zu überlisten. [...] Hier bin ich nach den Begriffen von Moral und Bürgertum schlecht geworden. Ich hatte den einen Schritt vom Wege noch nicht getan, aber durch die dichten Zweige des Buschwerks sah ich den Glanz des anderen Gartens, ich roch seinen Duft. (295)

Realiter siedelt er diesen Garten im Ausland an, unter »Palmen« (306), wohin er fliehen möchte. Mehrfach tritt er, um den Plan in die Tat umsetzen zu können, mit anderen in Kontakt und zeigt das Plakat vor, bringt sich neuerdings, nun aber nicht mehr nur in Gedanken, sondern im Austausch mit seiner Lebenswelt mit der ermordeten Prostituierten in Verbindung. »Schon las« Anders, der als Kellner arbeitende Zuhälter Ernas, das ihm dargebotene »Plakat, erinnerte sich meiner, und«, so notiert Lütt mit großer Hellsicht für die mutmaßliche Auswirkung dieser Lektüre, »seine Phantasie schuf neu die Tat vergangener Nacht, beugte mich übers Bett« Ernas, »drückte das Messer in meine Hand« (296). Einem ähnlichen Mechanismus 17 »Habe ich etwa zu lange vor dem Plakat gestanden? Man liest solche Plakate nicht in der Großstadt, man überfliegt sie. Man zuckt die Achsel: so ist das Leben. Man geht weiter« (Fallada 1993: 2, 287).

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folgt die Begegnung mit dem Bruder, den Lütt dazu bewegen möchte, Geld für die Flucht zu besorgen. Als die Begründungsversuche ins Leere laufen, faßt er den Entschluß, »ohne Schonung [zu] lügen oder gar – wer weiß! – die Wahrheit [zu] sagen« (329). Er reicht dem Bruder das Plakat mit den Worten »Du willst die Wahrheit, Etz. Dies ist sie« (330) und suggeriert auf diese Weise, daß er selbst der gesuchte Täter sei: »er meint, gegen mich nach diesem Plakat zu greifen, und weiß nicht, daß er, da er’s tut, meine Welt bestätigt« (330). Auch hier zeigen die in der Rückschau vorgenommenen Aufzeichnungen Lütts ein feines Gespür für die Wirkung seiner Rede und seiner Handlungsweise. »Ich leugnete die ganze Welt, ich schuf eine andere, und ich zwang sie, wahr zu sein« (330). Was er Anders nur unterstellt, daß dieser ihn nämlich für den Täter hält, Etz gegenüber bereits gezielt suggeriert, die andere Welt gleichsam erzwingt, und im Gespräch mit Pübe nur halbherzig zurückweist (338–343), spricht er wenig später selber, seiner Ehefrau Ria gegenüber, aus. »Ich bin ein Mörder, hörst du! [...] Ich habe einen Lustmord begangen« (352). Die zu Beginn mit »höchste[r] Lust« (295) und »wahnwitzige[r] Freude« begrüßte Freiheit, »daß man so lügen, so ein anderer sein konnte« (330), schlägt allerdings bald schon um in die Erfahrung der Determination, in die Erfahrung, diese andere Welt fortwährend stützen zu müssen. Weitgehend unbeschränkt ist er einzig in der Setzung der ersten Lüge, die zweite bereits muß auf die erste abgestimmt sein, die dritte auf die beiden vorigen und so fort. Lütt mußte daher, wie er in »in der Einsamkeit der Zelle rückblickend« (301) in seinen Aufzeichnungen mit analytischer Schärfe erfaßt, »lügen und betrügen«, fortwährend »[s]eine Spannkraft, [s]eine Unternehmungslust, [s]eine Kombinationsfähigkeit« (305) einsetzen, um seine »andere Welt«, sein Phantasma vom Lustmord so »wahr« machen zu können, daß es durch die Umwelt selbst, durch die Welt der anderen,18 bestätigt wird. Noch am selben Tag erscheint eine zweite Veröffentlichung, die neben dem Opfer nun auch den Tatverdächtigen zeigt: »Dort waren sie beide: der Mörder und die Ermordete. In dem schlechten Druck einer Abendzeitung waren sie noch einmal verkoppelt, sie, deren Leiche fern unter den Messern der Gerichtsärzte zerfallen war, und er ... Nein, ich; nein, nicht ich ...« (360). Lütt fügt sich der von ihm selbst begründeten, seiner Kontrolle aber mehr und mehr entgleitenden ›Realität‹ bis fast zur letzten Konsequenz: Im Anfang meiner Haft, als ich noch ganz unter dem Drucke des Geschehenen stand, habe ich nicht nur zugegeben, Pübe, nein, auch die Erna ermordet zu ha18 Daß am Ende Pübe den Mord an Erna gesteht, bleibt auf diese Struktur ohne Auswirkungen: Der Zeuge dieses Geständnisses, der Kriminelle Anders, hat kein Interesse an einer Entlastung Lütts – im Gegenteil –, und Pübe selbst kommt wenig später zu Tode. In der Realität kommt daher nur die von Lütt lancierte, mit den Tatsachen nicht übereinstimmende Version an.

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ben. Ich habe die Querfragen des Untersuchungsrichters zu parieren gewußt, es ist Anklage gegen mich erhoben wegen doppelten Lustmordes. Ich habe dies getan aus einem falschen, verlogenen Märtyrergefühl heraus. (419 f.)

Einschluß oder der Abgang als Zitat: Leben nach Maßgabe der Literatur Das zu Beginn mit »höchste[r] Lust« (295) und »wahnwitzige[r] Freude« (330) aufgenommene Spiel Lütts mit seiner poetischen Vorstellungskraft schlägt binnen »vierundzwanzig Stunden« (285) um in die Erfahrung, von der selbst entworfenen Fiktion determiniert und statt befreit, immer enger eingeschnürt zu werden. Das vorläufige Ende Lütts, seine Aufnahme in die Untersuchungshaft, ist daher nicht nur in lebensweltlicher Hinsicht konsequent zu nennen, sondern auch in poetologischer. Daß der »Schritt vom Wege« bis zuletzt sowohl juridisch-psychologisch wie auch literarisch zu begreifen ist, verdeutlicht der letzte Baustein, den Lütt in das von ihm initiierte Narrativ einfügt, einfügen muß: Ich entschloß mich ganz plötzlich, mich zu stellen. Ich bummelte gerade durch Steglitz, als mir diese Idee kam. Sofort hielt ich einen Arbeiter an, sagte ihm, wer ich sei, und bat ihn, mich zur Wache zu führen. Erst hielt er mich für betrunken, dann meinte er, ich solle nur allein gehen. Ich machte ihn auf die kürzlich von neuem erhöhte Belohnung aufmerksam. Ich denke nicht ungern an diesen schlichten Mann zurück. Er sprach wenig, aber er scheute sich nicht, im Gehen meinen Ärmel zu berühren. Als ich auf der Polizeiwache abgeführt wurde, gab er mir die Hand. (419)

Diese »Idee«, die Selbstauslieferung des steckbrieflich Gesuchten, von der ein anderer profitieren soll, kommt ihm allerdings nicht von ungefähr, sondern stammt wie der »Schritt vom Wege« selbst aus dem »Garten« der Literatur. Auf den Plan gerufen ist nämlich die berühmte Geste der Selbstaufopferung, mit der Karl Moor am Ende von Schillers »Schauspiel« Die Räuber die aus den Fugen geratene Ordnung wiederherstellen zu können glaubt. Aber noch blieb mir etwas übrig, womit ich die beleidigte Gesetze versöhnen, und die mißhandelte Ordnung wiederum heilen kann. Sie bedarf eines Opfers – Eines Opfers, das ihre unverletzbare Majestät vor der ganzen Menschheit entfaltet – dieses Opfer bin ich selbst. Ich selbst muß für sie des Todes sterben. [...] Ich geh, mich selbst in die Hände der Justiz zu überliefern. [...] Ich erinnere mich einen armen Schelm gesprochen zu haben als ich herüberkam, der im Taglohn arbeitet und eilf lebendige Kinder hat – Man hat tausend Louisdore geboten, wer den großen Räuber lebendig liefert – dem Mann kann geholfen werden. (Schiller 1988: 160)

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Lütt rückt sich damit in die von Humanität zeugende Position des Schillerschen Räubers, zugleich aber auch in diejenige einer literarischen Figur ein.

Ausbruch oder die Begründung von Autorschaft: schreiben um zu leben In seiner Lebenswelt hat das Spiel mit der »Lüge«, hat die von Lütt lancierte und in ihren Grundstrukturen aus dem literarischen Diskurs sich speisende Fiktion von einer lustvoll erfahrenen Freiheit des Fabulierens sich ins Gegenteil verkehrt. Zu Beginn entwirft er »eine andere [Welt]« (Fallada: 2, 330), die den »Begriffen von Moral und Bürgertum« (ebd.: 295) diametral entgegengesetzt ist, und zwingt sie, »wahr zu sein« (330), am Ende, als seine Fiktion in der Lebenswelt angekommen und installiert ist, werden sein Handeln, sein Kommunizieren und sein Weg von den Forderungen der eigenen Fiktion und von den Gesetzmäßigkeiten der bürgerlichen Welt reguliert. Poetologisch läßt sich die Selbstauslieferung am Ende als Reminiszenz auf Schillers Räuber noch als konsequente Fortführung seiner Fiktion und damit als autonomer poietischer Akt bewerten, lebensweltlich ist seine Selbstauslieferung zwar ebenfalls als auf Autonomie beharrende Handlung lesbar, doch hat man es nicht mehr mit einer Fiktion zu tun, sondern mit einem Faktum, das nicht nach Maßgabe der anderen Welt, sondern nach den »Begriffen von Moral und Bürgertum« bewertet wird. Lütt wird »abgeführt« und in die »Haft« überstellt (419). Genau diese Erfahrung nun führt der discours des Textes vor als Ermöglichungsbedingung nicht des Fabulierens in der Lebenswelt, nicht der poietischen Hervorbringung einer radikal anderen Ordnung, sondern als Ermöglichungsbedingung des Schreibens. Der im »Nutzgarten« reüssierende »Beamte einer Bank« wird unter den Bedingungen des Einschlusses zum Autor, sein »Geschreibsel« lesbar als Beitrag zur zeitgenössischen Romanpoetik. Im Unterschied zu den Büchern, die er Pübes Bücherschrank entnommen und durchblättert hat, die »einen Zusammenhang« haben und »eine Logik« (414), präsentiert, was er während der Haft »auf diesen Blättern niedergeschrieben« hat, »die reine Wahrheit« (420): daß »das Leben« nicht »Spielregeln« (414) folgt, sondern springt.19 Voraussetzung dieses analytischen Blicks ist offenbar die »Einsamkeit der Zelle« (301) – eine exzent19 »Man zeige mir Widersprüche, ich werde sie aufhellen« (Fallada 1993, 2, 420), zielt auf »Wahrheit« nicht im Sinne psychologischer Konsistenz, wie der Inspektor und der Geheimrat sie fordern, sondern auf »Wahrheit« im Sinne lebensweltlicher Komplexität.

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rische Position diesseits und jenseits der »Begriffe von Moral und Bürgertum« (295). Jenseits, weil er von der bürgerlichen Ordnung als das sie destabilisierende, vermeintlich kriminelle Subjekt ausgeschlossen ist. Diesseits, weil die bürgerliche Ordnung ihre Begründung und Aufrechterhaltung erst solchen Ausschließungsprozessen verdankt. Für Fallada, der 1911 wegen Suizidgefahr im Sanatorium, die Jahre 1912 und 1913 wegen eines Tötungsdelikts in einer geschlossenen Heilanstalt zugebracht hat, 1917, 1919 und neuerlich 1920 in einer Heilstätte für Suchtgefährdete war und im Sommer 1924 wegen Unterschlagung im Greifswalder Gefängnis saß,20 hat die Reflexion über das Zusammenspiel von bürgerlicher Ordnung, Inhaftierung und Schreiben eine entschieden existenzielle Note. Sie lotet das Schreiben, den Lebensentwurf als Schriftsteller aus. Wie Lütt erhält Rudolf Ditzen alias Hans Fallada die Erlaubnis zu schreiben (vgl. Fallada 1998: 26 f. ) und entschließt sich, ein »Tagebuch« zu führen, »in dem ich«, so steht darin nachzulesen, »so wahrheitsgetreu, wie ich eben sein kann, das einschreiben werde, was ich erlebe« (ebd.: 30). Mitte Juli fällt der Entschluß, die Alltagserfahrungen literarisch zu verwerten, »irgendein Opus zu beginnen, das man veröffentlichen kann« (130). Es wird der »Roman« (134), den er nach der Haft vollendet und wenig später, bekanntlich erfolglos, unter dem Titel Im Blinzeln der Großen Katze zu publizieren sucht. »Insgesamt«, so hat Crepon nachgerechnet, hat Rudolf Ditzen [...] ca. siebeneinhalb Jahre seines knapp 54 Jahre währenden Lebens hinter Gefängnismauern, Anstaltstoren oder in medizinischen Heilanstalten verbracht. Das ist eine erschreckende Bilanz, wenn man berücksichtigt, daß gerade für einen Schriftsteller – wie für den Künstler überhaupt – die Erlebnisgrundlage eine entscheidende Quelle für kreatives Wirken bildet. (Crepon 1983: 19)

Im Blinzeln der Großen Katze macht deutlich, wie es gelingt, diese Erfahrung als Chance zur Begründung von zeitgemäßer Autorschaft und nicht als Defizit zu bestimmen.

Literatur Caspar, Günter (1993): Zu Falladas Frühwerk. In: Falladas Frühwerk in zwei Bänden. Hg. v. Günter Caspar. Bd. 2. Berlin, Weimar: Aufbau, 423–536. Crepon, Tom (1981): Leben und Tode des Hans Fallada. Hamburg: Hoffmann & Campe. Crepon, Tom (1983): Literarisches Schaffen in äußerer Isolation. In: Hans Fallada. Werk und Wirkung. Hg. von Rudolf Wolff. Bonn: Bouvier, 18–41.

20 Vgl. hierzu Manthey 1963: passim; gebündelt auf der Zeittafel: 179.

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Dietz, Antje (2007): Historische, biografische und soziologische Voraussetzungen zum Verständnis von Hans Falladas Roman Bauern, Bonzen und Bomben. Magisterarbeit, Frankfurt/M. 2005. München: GRIN. Fallada, Hans (1993): Im Blinzeln der Großen Katze. In: Falladas Frühwerk in zwei Bänden. Hg. von Günter Caspar. Bd. 2. Berlin, Weimar: Aufbau, 281–420. Fallada, Hans (1998): Strafgefangener, Zelle 32. Tagebuch. 22. Juni – 2. September 1924. Hg. von Günter Caspar. Berlin: Aufbau. Fontane, Theodor (1998): Effi Briest. Roman. In: Theodor Fontane. Große Brandenburger Ausgabe. Bd. 15. Hg. von Christian Hehle. Berlin: Aufbau. Freud, Sigmund (1918): Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. In ders.: Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. 4. Folge. Leipzig, Wien: Heller, 578– 717. Gansel, Carsten (2008): »Es war eine verdammte Zeit« – Moderne Adoleszenzkrisen als traumatische Erinnerung. Neue Überlegungen zu Hans Falladas Frühwerk Der arme Goedeschal. In: Zeit vergessen, Zeit erinnern. Hans Fallada und das kulturelle Gedächtnis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Formen der Erinnerung 32), 95–111. Genazino, Wilhelm (1977): Der Alltag denkt nicht. Bemerkungen über den heimlichen Bestsellerautor Fallada. In: Zeit und Bild. Frankfurter Rundschau am Wochenende, Nr. 18, 7. 5. 1977, III. Hilmes, Carola (1990): Die femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart: Metzler. Karpenstein-Essbach, Christa (1985): Einschluß und Imagination. Über den literarischen Umgang mit Gefangenen. Tübingen: Edition Diskord. Kiesel, Helmuth (2004): Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im 20. Jahrhundert. München: Beck. Lange, Ulrich (1993): Robinson im Gefängnis. Zur Phänomenologie totaler Institutionen in den Romanen Hans Falladas. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 43, H. 2, 95–103. Auch in: Hans Fallada Jahrbuch 1 (1995), 10–30. Leixner, Otto von (1897): Geschichte der deutschen Litteratur. 4. Aufl. Leipzig: Spamer. Manthey, Jürgen (1963): Hans Fallada mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (Rowohlts Monographien 78). Mergenthaler, Volker (2005): Völkerschauen – Kannibalismus – Fremdenlegion. Zur Ästhetik der Transgression (1897–1936). Tübingen: Niemeyer. Salomon, Ludwig (1887): Geschichte der deutschen Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts. 2. Auflage. Stuttgart: Levy & Müller. Scheunemann, Dietrich (1978): Romankrise. Die Entstehungsgeschichte der modernen Romanpoetik in Deutschland. Heidelberg: Quelle und Meyer (Medium Literatur 2). Schiller, Friedrich (1988): Die Räuber. Ein Schauspiel. In ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 2: Dramen I. Hg. von Gerhard Kluge. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag (Bibliothek deutscher Klassiker 29), 11–160. Scott, Walter (1810): Marmion. A Tale of Flodden Field. 5. Auflage. London: McCreery. Ulrich, Roland (1995): Gefängnis als ästheticher [sic!] Erfahrungsraum bei Fallada. In: Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk. Materialien der 1. Internationalen Hans-Fallada-Konferenz in Greifswald vom 10. 6. bis 13. 6. 1993. Hg. von Gunnar Müller-Waldeck u. Roland Ulrich. Rostock: Hinstorff, 130–140

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Weigel, Sigrid (1982): »Und selbst im Kerker frei...!« Schreiben im Gefängnis. Zur Theorie und Gattungsgeschichte der Gefängnisliteratur (1750–1933). Marburg: Guttandin und Hoppe. Wichert, Ernst [o.J]: Ein Schritt vom Wege. Lustspiel in vier Aufzügen. Leipzig: Reclam. Williams, Jenny (2002): Mehr Leben als eins. Hans Fallada. Biographie. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Berlin: Aufbau.

Antje Pautzke

»Kein Mensch ist ganz schlecht, auch Sophie ist es nicht« Aspekte eines abweichenden Lebenslaufs in Hans Falladas Wolf unter Wölfen Hans Falladas Œuvre ist von für den Autor typischen, sozialhistorischen Ereignissen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft geprägt und weist zudem eine enorme Vielfalt an fiktiven Biographien auf. Ohne dieses Charakteristikum des Werks noch einmal besonders hervorzuheben, soll hier der Frage nachgegangen werden, welche methodischen Möglichkeiten sich aus eben diesen Merkmalen der Fallada’schen Texte ergeben. Die im Folgenden vorgestellten Überlegungen stützen sich auf Untersuchungen zu abweichenden Lebensläufen fiktiver Charaktere und werden durch die Einbeziehung der soziologischen Themenfelder soziale Normen und soziale Rollen erweitert. Exemplarisch betrachtet wird die Figur Sophie Kowalewski aus Hans Falladas Wolf unter Wölfen. Bei der Adaption soziologischer Modelle auf literarische Texte ist aus Gründen der methodischen Aufrichtigkeit zu unterscheiden zwischen einerseits den sozialen Normen und Rollen, die im Text dargestellt und aufgerufen werden, und andererseits der Art und Weise, wie sie im Text bewertet werden. Die nachfolgenden Überlegungen sind in zwei Abschnitte untergliedert und werden mit der Betrachtung normativen sowie devianten Verhaltens der Figur Sophie Kowalewski eingeleitet. Im zweiten Teil wird die Erläuterung sozialer Normen in Wolf unter Wölfen durch die kritische Darstellung der Vielfalt an sozialen Rollen dieser Frauenfigur sowie ihren Abweichungen als Schwerpunkt der Ausführungen abgelöst. Generell bildet das Alltagswissen einer Gesellschaft für deren Mitglieder die Grundlage, um soziale Normen und Rollen zu perzipieren und als Wissensbestand zu speichern. Diese aus dem Alltag resultierenden Erfahrungswerte sind intersubjektiv gültig und werden mittels Sozialisation auch an nachfolgende Generationen weitergegeben. Das Kontingent an Wissen

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wird fortwährend durch neue Erfahrungen erweitert und bildet die Basis für die routinierte Bewältigung von repetitiven Alltagssituationen. Dieser unbewusst stattfindende Prozess ermöglicht dem Individuum, problemlos mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft in Kontakt zu treten und das vorhandene Wissen über die jeweilige soziale Norm aus dem Gedächtnis abzurufen. Um nachvollziehen zu können, was in einer Gesellschaft als soziale Norm zu verstehen ist, muss deren Alltagswissen bewusst reflektiert und verbalisiert werden. In ihrer Monographie Soziale Normen und Rollen im Roman versteht Annelie Hegenbarth-Rösgen ›Norm‹ als Verhaltensforderung und versucht mittels dieser Herangehensweise, den soziologischen Normbegriff für die Analyse literarischer Texte zu präzisieren. Die Basis ihrer Untersuchung bildet das auf das menschliche Wesen zurückführbare Bedürfnis nach beständigen Verhaltenserwartungen für das individuelle Handeln in einer sozialen Gemeinschaft. Dabei geht sie sowohl auf die Verhaltensforderungen zwischen Individuen als auch auf die Möglichkeit der Abweichung von dieser Forderung ein und definiert den Terminus Norm wie folgt: Eine soziale Norm liegt dann vor, wenn in einer bestimmten Situation der Normabsender vom Normadressaten regelmäßig ein bestimmtes Verhalten fordert und ein von dieser Forderung abweichendes Verhalten eine Sanktion gegenüber dem Normbrecher auslöst. Eine Sanktion ist dann gegeben, wenn ein Sanktionsabsender auf das abweichende Verhalten des Normbrechers direkt erkennbar reagiert, mit der Intention, diesem wegen seines Vergehens einen Schaden zuzufügen. (Hegenbarth-Rösgen 1982: 31)

Sanktionen stellen also einen äußerst wichtigen Indikator für nicht verbalisierte Verhaltensnormen innerhalb einer sozialen Gruppe bzw. einer Gesellschaft dar. Sie sind ein offensichtlicher Anhaltspunkt für das Abweichen von einer gedanklich verankerten Verhaltensforderung und bieten dadurch die Möglichkeit, Rückschlüsse über die zugrunde liegende soziale Norm zu ziehen bzw. diese zu erfassen. Diesem Prinzip folgend werden Normen in Hans Falladas Wolf unter Wölfen erst bei deviantem Verhalten aufgezeigt. Konkret versucht Sophie Kowalewski, die Tochter des Leutevogts auf dem Gut Neulohe, sich vor der physisch sehr anstrengenden Arbeit des landwirtschaftlichen Betriebes zu drücken. Sie bringt dabei mehrere Gründe vor, warum diese Tätigkeit für sie nicht infrage kommt. Ihr direkter Vorgesetzter, Gutsinspektor Pagel, lässt sich davon jedoch nicht überzeugen und macht der jungen Frau unmissverständlich klar, welche sozialen Normen sie zu erfüllen hat. Ach, Sophie, warum wollen Sie mich denn anschwindeln? Erst sagen Sie, Sie können wegen der Hände nicht arbeiten, und dann ist es wegen ihrer kranken Mutter, und neulich auf dem Feld hat mir Ihr Vater gesagt, Sie wollten wieder in Stellung.

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Das ist doch alles nicht wahr! Ich will gar nicht vom Kontrakt reden, nach dem ledige, erwachsene Kinder mitarbeiten müssen, aber ist es denn anständig, daß Sie faul herumlaufen, wenn alle schuften? Ist es anständig, daß ein junges, kräftiges Mädchen ihrem alten verbrauchten Vater noch auf der Tasche liegt –? (Fallada 2001: 649)

Die in diesem Textbeispiel relevante Norm wird erst verbalisiert, als sie bereits verletzt worden ist. Alle auf dem Gut agierenden Figuren haben die an sie gerichteten Verhaltensforderungen verinnerlicht. Sophie hingegen missachtet die zwangsläufig auch ihr bekannten sowie ebenso für sie gültigen Forderungen, die ihr in der Folge explizit vergegenwärtigt werden. Dennoch weigert sie sich, den Ausgang der Diskussion zu akzeptieren, was die Devianz ganz offen legt und einen neuen Normverstoß ankündigt. Gegenüber der Gutspächterin Frau von Prackwitz stellt sie ihre Auseinandersetzung mit Herrn Pagel als sexuelle Belästigung dar, ist abschließend aber nicht in der Lage, ihre infame Beschuldigung in der Gegenwart des Betroffenen zu wiederholen. Ihr Zögern wird wie folgt beschrieben: Hier erweist sich, daß Sophie Kowalewski nichts Ganzes ist, nicht im Guten und nicht im Bösen. Sie ist ausgerutscht, sie ist unter die Räder gekommen – schön, schlimm, aber sie ist nicht einmal richtig schlecht geworden. Sie hat nicht einmal den Mut zu ihren Bosheiten, sie ist feige... (Ebd.: 683)

Die narrative Instanz befürwortet die letztliche Scheu vor der Verleumdung des Gutsinspektors nicht. Obwohl Sophie vor diesem Normverstoß kriminellen Ausmaßes, für den sie zur Verantwortung gezogen werden könnte, zurückschreckt und sich damit auf die Verhaltensforderungen besinnt, bewertet der Erzähler ihr Handeln als mutlos und feige, da sie boshaftes Verhalten nicht vollständig umsetzen kann. Dieser Kommentar des Erzählers ist kein Indiz für Normen in der fiktiven Welt und verdeutlicht in erster Linie, dass Sophie ihre geplante Tat nicht durchführt. Ob befürchtete Sanktionen oder Gewissensbisse der Auslöser dafür sind, geht nicht eindeutig aus dem Text hervor. Keine zwingenden Indizien für abweichendes Verhalten sind mittelbare und unterschwellige Sanktionen oder an Dritte gerichtete Negativäußerungen. Ferner befinden sich soziale Normen in einem ständigen Prozess von Wechsel und Erneuerung, so dass beispielsweise bereits zwischen den einzelnen Generationen einer Gesellschaft bestimmte Normen erweitert werden oder aber keinen aktuellen Bestand mehr haben – eine Entwicklung, die auch die institutionelle Ordnung nicht aufzuhalten vermag. Derartige dynamische Entwicklungsprozesse von sozialen Normen werden in Verbindung mit indirekten Negativäußerungen, die auf keine Normabweichung schließen lassen, an einem Gespräch zwischen der bigotten Frau von Teschow und ihrer Freundin Jutta Kuckhoff deutlich. Den

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Impuls für dieses Zwiegespräch gibt der Kleidungsstil Sophie Kowalewskis, der nur von den sich auf die Mode ihrer eigenen Jugendzeit berufenden, wesentlich älteren Damen stark kritisiert wird. Sie soll ja angezogen sein wie eine Kokotte! Büstenhalter aus lauter Spitze... Büstenhalter...! Sage nur dies unanständige Wort nicht Jutta! Als ich jung war, trugen solche Mädchen Korsetts aus Drillich, abwechselnd eine Stange aus Fischbein und eine Stange aus Stahl – das war wie ein Panzer, Jutta. Panzer, das ist sittlich – aber Spitzen, das ist unsittlich... (342)

Die Ansichten und Auffassungen von Mode sowie gesellschaftsfähiger Unterwäsche dieser mutmaßlich 50 Jahre älteren Frauen sind überholt, weshalb eine Devianz Sophies aufgrund des Kleidungsstils als nicht evident erscheint. Diese vermeintliche Normabweichung zeugt nicht nur vom permanenten Wandel der Verhaltensforderungen, sondern kann auch durch die Abwesenheit eines Sanktionsabsenders, der dem Normbrecher sein deviantes Handeln direkt vor Augen führen müsste, nicht als Normverletzung bewertet werden. Ähnlich verhält es sich auch mit nur in den Gedanken präsenten Verletzungen der Norm. Ein Vorgang, der Sophies Neuinterpretation des biblischen Sündenfalls kennzeichnet. Aber Sophie war keineswegs mit der Darstellung in der Bibel einverstanden. Wer richtig las, was da geschrieben stand, konnte sofort feststellen, daß Gott dem Weibe nie verboten hatte, von dem Baume der Erkenntnis zu essen. Jawohl, dem Manne hatte er’s verboten, aber ehe noch das Weibe erschaffen war. Das war eine feine Sache, die Frau für etwas zu bestrafen, das man ihr gar nicht verboten hatte! (221−222)

Die Kowalewski bezweifelt die Allgemeingültigkeit der paradiesischen Grundregeln und meint, sich damit einen legitimierten Freiraum für moralisch sowie gesetzlich verwerfliche Handlungen zu schaffen. Die Figur setzt sich wie kein anderer Charakter in Wolf unter Wölfen über christliche Wertvorstellungen hinweg. Trotzdem handelt es sich bei dem beschriebenen Gedankengang nicht um eine Abweichung von der sozialen Norm. In der zitierten Passage wird Sophie alleine mit ihren Gedanken dargestellt. Auch wenn die blasphemische Sichtweise der jungen Frau kontrovers ist, darf das aus soziologischer Sicht nicht als Abweichung deklariert werden, denn Sophies Feststellung wird nicht direkt durch einen Normabsender sanktioniert. Beschrieben werden Gedanken und nicht die Transformation dieser in Taten. Eine Abweichung im soziologischen Sinne tritt erst dann auf, wenn diese Kognition deviantes Verhalten zur Folge hat. Gerade die Unterscheidung zwischen der kognitiven Devianz und der im Verhalten realisierten ermöglicht es, zusammenfassend festzustellen, dass

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die literarische Figur soziale Normen gedanklich reflektiert und sich ergo bewusst darüber hinwegsetzt. Anhand der soziologischen Normdefinition wird deutlich, dass Sophie Kowalewski zwar viele Normen der fiktiven Welt verletzt, die Verhaltensanforderungen ihrer Umwelt aber nicht vollständig negiert. Ihre Normverstöße können nicht aufgrund der indirekten Negativäußerungen als Devianz deklariert werden und müssen unter Berücksichtung der dynamischen Entwicklungsprozesse, denen Normen und Werte unterliegen, betrachtet werden. Ihre nur gedachten Normverletzungen sind keine Devianz, können aber zu dann bewusstem devianten Verhalten führen. Soziale Rollen sind »relativ konsistente, mitunter interpretationsbedürftige Bündel von Erwartungen, die an eine soziale Position gerichtet sind und als zusammengehörig perzipiert werden«. (Wiswede 1977: 18) Durch sie ist festgelegt, wie sich Personen in bestimmten sozialen Positionen zu verhalten haben. Die soziale Position der Tochter des Leutevogts ist an die immanente Erwartungshaltung gebunden, im Haushalt des Gutsherrn zu arbeiten oder als vorbildliches Beispiel in der Erntezeit auf den Feldern zu helfen. Wie bereits bei der Betrachtung der sozialen Normen deutlich geworden, versucht Sophie, körperlich anstrengende Tätigkeiten, die dazu noch dem äußeren Erscheinungsbild schaden, zu vermeiden und ihre rollenimmanenten Verpflichtungen zu umgehen. Eine Verletzung der Rollenerwartung, die Wolfgang Pagel gegenüber ihrem Vater reflektiert: »Wenn sie hier in unserer Werkwohnung wohnt, so muß sie auch arbeiten.« (Fallada 2001: 634) und »Sie wissen doch selbst, wie nötig wir jede Hand brauchen, und Sie wissen auch, wenn die Tochter vom Leutevogt faul ist, wollen’s die Töchter von den Arbeitern erst recht sein.« (Ebd.: 634) Diese Erwartungshaltung wird von nur einer Person abgesendet, repräsentiert also nicht die soziale Rollenauffassung einer ganzen Gesellschaft, sondern spiegelt die Verhaltensforderung der im Umfeld agierenden Bezugspersonen bzw. -gruppen wider. Ähnlich strapaziöse Arbeiten muss die junge Frau in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld, wie beispielsweise der Großstadt, nicht ableisten, obwohl sie auch in dieser Umgebung die Rolle der Leutevogtstochter nicht ablegen kann. Es herrscht also kein allgemeingültiger Konsens über die mit sozialen Rollen einhergehenden Aufgaben und Pflichten. Trotzdem widerspricht die auffällig ablehnende Haltung Sophies einer relevanten Rollenerwartung. Sie weicht nicht nur von den Verpflichtungen, die sich aus ihrem sozialen Status ergeben, ab, sondern negiert diesen auch gleichzeitig. Ein weiterer Aspekt dieses soziologischen Forschungsfelds sind Rollenattribute. Sie beinhalten die »tatsächlichen, vermuteten oder erwarteten Eigenschaften einer Person hinsichtlich einer bestimmten Rolle«.

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(Wiswede 1977: 41) Rollenattribute meint sowohl physische Kriterien wie Erscheinungsbild, Gewicht, Größe, Alter oder Hautfarbe als auch Umgangsformen und Habitus. Zusätzlich können sie durch rollenrelevante Qualifikationen erweitert werden. Partiell sind diese Attribute aufgrund der körperlichen Voraussetzungen und des Intellekts jedoch invariant. Erlerntes, wie beispielsweise Umgangsformen und Manieren, kann hingegen bis zu einem gewissen Grad verändert bzw. optimiert werden. Mithilfe der Rollenattribute können Individuen hinsichtlich ihrer sozialen Position bestimmte Charakteristika zugeschrieben bzw. mit Stereotypen gleichgesetzt werden, ohne deren komplexe Individualität darüber hinaus zu berücksichtigen. In Folge dessen kann es zu voreiligen Eigenschaftszuweisungen kommen, bei denen unreflektiert bleibt, dass die soziale Rolle immer die Gesamtheit mehrerer Rollen repräsentiert und unter Einbeziehung unterschiedlicher Komponenten realisiert wird. So ist Sophie Kowalewski beispielsweise in erster Linie eine ledige Frau, die in der Mitte der 1920er Jahre lebt. Zusätzlich ist sie aber auch die Tochter des Leutevogts von Neulohe, Dienstmädchen bei der Gräfin Mutzbauer in Berlin und Geliebte des Zuchthäuslers Hans Liebschner, um nur die wichtigsten unterschiedlichen Rollen vorzustellen. Sie entspricht jedoch nach Auffassung der Mutzbauerischen Köchin Mathilde sowie Herrn Pagel und Herrn von Studmann nicht dem Stereotyp einer jungen, unverheirateten Frau ihrer Zeit. Sophie stürzt sich jeden Abend in das Berliner Nachtleben, lässt sich von sogenannten Kavalieren einladen und kehrt oft erst im Morgengrauen in die Villa zurück. Von ihrer Kollegin Mathilde als Prostituierte beschimpft, »die für drei Schnäpse mit jedem Tangokavalier mitgeht« (Fallada 2001: 130), nimmt sie sich selbst jedoch nicht als Hure wahr. Sie ist nicht als Prostituierte unterwegs und nimmt demnach auch kein Geld für Liebesdienste. Der Terminus ist eine Übertreibung, der den abweichenden Lebensstil von Sophie drastisch hervorheben soll. Das Selbstbild der jungen Frau ist besonders durch Aspekte wie ihre Jugend und Attraktivität geprägt, wodurch die von der Köchin gesendeten Sanktionen als Neid und nicht als Hinweis auf deviantes Verhalten wahrgenommen werden. Außerdem schätzt Sophie ihren sozialen Status innerhalb des Hauses der Gräfin Mutzbauer höher als den der Köchin ein, was sie scheinbar legitimiert, sich über die geltende Rollenerwartung hinweg zu setzen. Ein Verhalten, das von einer größeren Bezugsgruppe sicherlich nicht geduldet werden würde. Allerdings steht die Figur hier nur einer Bezugsperson gegenüber, der sie sich auch noch überlegen fühlt und die sie nicht als moralische Autorität anerkennt. Sophie verweigert den kommunikativen Austausch mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft bezüglich ihrer Rolle, sonst wäre sie in der Lage, ihren realen, sozialen Status zu erkennen und

Aspekte eines abweichenden Lebenslaufs in Wolf unter Wölfen

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wäre damit konfrontiert, dass dieser nicht mit ihren eigenen Vorstellungen übereinstimmt. Sie kann oder will nicht realisieren, dass ihre soziale Position nur bis zu einem bestimmten Grad von ihr selbst gewählt bzw. beeinflusst werden kann und in einem ständigen Wechsel mit den dazugehörigen Rollenerwartungen steht. Die äquivalenten Eindrücke, die Wolfgang Pagel und Herr von Studmann von Sophie gewinnen, weichen von den Rollenattributen eines Mädchens ab, das ein solides und normorientiertes Leben führt, und unterstreichen den Fakt, dass Sophies abweichendes Potential eine Perfektion dieser Rolle unmöglich macht. Pagel wie Studmann kannten bis zum Überdruß diese gezierte Sprechweise der kleineren Lebemädchen, die die große Dame spielen wollen. Sie ekelten sich vor dieser zugleich eingetrockneten und aufgedunsenen Gesichtshaut, die immer nach Puder roch [...]. Sie hatten nichts gegen das Mädchen, aber sie hatten sehr viel gegen einen nach Neulohe verpflanzten Berliner Nuttenbetrieb! (Ebd.: 360)

Da die beiden Beobachter zu diesem Zeitpunkt der Handlung noch nicht zu der Bezugsgruppe von Fräulein Kowalewski zählen und diese Erkenntnisse nicht verbal äußern, kann Sophie erneut nicht die Möglichkeit nutzen, ihr Selbstbild zu reflektieren. Die nächtlichen Ausflüge sowie das adäquate Erscheinungsbild werden von ihr selbst mit der schnellen Vergänglichkeit ihrer kostbaren Jugend und Schönheit zu entschuldigen versucht, was durch eine allgemeingültige Aussage des Textes zusätzlich gerechtfertigt wird. Es war nicht der Durst nach Alkohol, nicht das Verlangen nach Umarmungen, was sie [die Menschen] wachhielt, schließlich wieder hochtrieb. Sie konnten weder allein sein, noch konnten sie ruhen. Die Schwärze ihres Zimmers gemahnte sie an den Tod. Sie hatten genug vom Tod gehört und gesehen, vier Jahre war draußen und drinnen immer nur gestorben worden. Sie starben noch früh genug – viel zu früh starben sie. Aber jetzt lebten sie noch, und so wollten sie denn auch leben! (222)

Der abweichende Lebenswandel ist also ein Phänomen der 1920er Jahre und der »implizite[n] Sexualmoral des Textes« (vgl. dazu Titzmann 2011). Daher erfüllt Sophie zwar in den Augen ihrer Kollegin nicht die an eine ledige Frau adressierten Erwartungen und entspricht nach Pagel und von Studmann auch nicht deren Rollenattributen, zählt nach Angabe des Textes allerdings zu einer von vielen, nicht auf bestimmte Altersgruppen zu beschränkenden Figuren, die einen derartigen Lebensstil praktizieren. Da Rollenerwartungen und -attribute jedoch nicht von der Gesellschaft, sondern von Bezugsgruppen und -personen festgelegt werden, weicht Sophie von den für eine unverheiratete Frau geltenden Verhaltensforderungen ab. Zudem spricht die allgemeine Rechtfertigung der narrativen Instanz vielmehr

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für einen Wandel der sozialen Normen und dem Drang danach, das Leben in allen seinen Facetten zu genießen sowie Stillstand zu vermeiden. Zusammenfassend zeigt sich, dass die junge Frau von den an sie gerichteten Rollenerwartungen abweicht und dementsprechend ihren eigenen sozialen Status nicht akzeptiert. Da ihr Selbstbild sich stark von ihren sozialen Rollen unterscheidet, realisiert die Figur nicht, dass soziale Positionen nur bedingt wählbar sind und stets in engem Zusammenhang mit Rollenerwartungen stehen.

Literatur Fallada, Hans (2001): Wolf unter Wölfen. 23. Auflage. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag (rororo 11057). Cohen, Albert K. (1970): Abweichung und Kontrolle. 2. Auflage. München: Juventa (Grundfragen der Soziologie 7). Geiger, Theodor (1964): Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts. Neuwied [u. a.]: Luchterhand (Soziologische Texte 20). Gerhardt, Uta (1971): Rollenanalyse als kritische Soziologie. Neuwied [u. a.]: Luchterhand (Soziologische Texte 72). Hegenbarth-Rösgen, Annelie (1982): Soziale Normen und Rollen im Roman. dargestellt am Beispiel der »éducation des filles« bei Zola, den Brüdern Goncourt, Daudet, Huysmans und Prévost. München: Fink (Münchener romanistische Arbeiten 52). Titzmann, Michael (2011): Selbstfindung und Selbstverlust. Aspekte der textinternen Anthropologie in Hans Falladas Wolf unter Wölfen (1937). In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne. Hg. von Patricia Fritsch-Lange und Lutz Hagestedt. Berlin, New York: de Gruyter, 169–188. Wiswede, Günter (1977): Rollentheorie. Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer (Urban-Taschenbücher 259).

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»Wird doch etwas Lebendiges geboren aus dieser fauligen Zeit?« Paarbildung und -bindung in Hans Falladas Wolf unter Wölfen Falladas 1937 erschienener Roman Wolf unter Wölfen thematisiert unter anderem die Bedingungen, unter denen eine ›Lebenskraft‹ sich auch in einer »kranken, verfaulten Zeit« (Fallada 2008: 632) behaupten, gar vitales Neues hervorbringen kann. Diese »›hinter‹ allem Geschehen« (Lindner 1994: 9) wirkende Gewalt äußert sich dabei auf vielfältige Weise, am greifbarsten aber vielleicht noch in zwischenmenschlichen Beziehungen. Immer wieder finden im Roman Menschen zu Paaren oder Gruppen zusammen, die durch eine Idee, ein gemeinsames Ziel, den Wunsch nach Nähe und Verlässlichkeit oder durch erotisches Verlangen verbunden werden. In den meisten Fällen sind diese Koalitionen jedoch nur von kurzer Dauer und zeitigen auch keine vom Text uneingeschränkt positiv gewerteten Ergebnisse (vgl. den Putschversuch der »schwarzen Reichswehr« oder die sich anbahnende Beziehung zwischen von Studmann und Eva von Prackwitz), selten entstehen daraus (wenigstens temporär) stabile Verbindungen, kaum eine Partnerschaft ist beständig. Die wenigsten der vom Roman in den Blick genommenen Paarbeziehungen sind erfüllt, zeugen von – im emphatischen Sinne – dynamischem Austausch. So verlaufen im Fall der Eltern Pagels, der verkürzt aus der Perspektive der Mutter erzählt wird, die Biographien der Figuren konträr zueinander: Der Gesandtschaftsattaché, den Mathilde Pagel als junges Mädchen heiratet, den sie als »tätigen Mann« (Fallada 2008: 29) mit Karriereaussichten wahrnimmt, wacht eines Morgens ohne Gefühl in den Beinen auf. Er beginnt ein Leben als Maler, wird in ihren Augen zum müßigen, weil lediglich schöpferisch wirkenden Gelähmten. »Das Leben, das so flammend begonnen, das hurtige, rasche, leuchtende Leben«, scheint vorbei – Mathildes Herz wird kalt, ein »Eispanzer« (ebd.: 28) legt sich darum. Steht sie vor den Werken ihres Mannes, fühlt sie zuweilen noch, dass die mangelnde Beweglichkeit des Mannes in diesen Bildern aufgehoben ist, dass sie ihn dort »unvergänglicher, strahlender, rascher als je zuvor« (30) fassen könnte, doch

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sie schüttelt diese Erkenntnis und damit die Möglichkeit, »aus dem sehr engen Gefängnis ihres eigenen Ich« (29) auszubrechen, ab. Sie verschwendet weiterhin ihre vitale Kraft, um ihren pflegebedürftigen Ehemann zu versorgen, während dieser, plötzlich gesundet, seine Jugend verspätet auskostet, als sie schließlich gealtert und nicht mehr in der Lage oder willens ist, seinen Lebenswandel zu unterstützen oder gar zu teilen. Achim und Eva von Prackwitz dagegen leben nebeneinander her, bei ihnen ist jede Leidenschaft füreinander gestorben. Zeigt sich seine Lebenskraft zuweilen noch in sinn- und folgenlos bleibenden cholerischen Ausbrüchen, die ihre im Flirt und im vom Rittmeister als »früher ganz unschicklich« eingestuftem Tanz (63), so verharren beide doch letztlich in einer abwartenden Passivität. Dem Rittmeister gelingt es nicht, die von der »verfluchten Zeit« (344) vor allem von männlichen Partner geforderten raschen und sicheren Entscheidungen zu treffen – gewöhnt an die Ordnung und die leitende Befehlskette der Armee, marschiert er noch immer gedanklich auf einen imaginären Punkt zu, ohne nach links und rechts zu schauen (vgl. 15), erweist sich also als unflexibel und starr. Frau von Prackwitz hat zwar »all den sinnlichen Reiz einer Frau, die [...] das Landleben liebt, und der das Land diese Liebe mit unerschöpflicher Frische zu danken scheint« (192), ist also der vom Roman durchweg positiv bewerteten, weil lebensnahen Erdscholle fester verbunden, doch in den Zeiten der Krise schließt das Ehepaar die Türen gegeneinander ab, verhilft die Gewöhnung nicht mehr über den füreinander empfundenen Ekel hinweg (542). Es fehlt also in den meisten Fällen an Zuneigung, Kameradschaft, Liebe füreinander, oder es fehlt das körperliche Begehren – und oft ist weder das eine noch das andere vorhanden. Es wären weitere Beispiele für misslungene Verbindungen aufzuzählen, die gegensätzlichsten Paare sind jedoch Wolfgang Pagel und Petra Ledig sowie Violet von Prackwitz und Hubert Räder. Zu fragen ist, aus welchen Gründen die erste dieser Beziehungen offenbar Stabilität und Dauer verspricht und von der Erzählinstanz als beispielhaft herausgestellt wird, während die zweite in den Teilen, in denen sie sich überhaupt als beschreibbar und darstellungswürdig erweist, schon zum Scheitern verurteilt erscheint und furchtbare Folgen zeitigt. Dabei scheinen vor allem die unterschiedliche Lebenssituation der Partner, die ungleiche Metaphorisierung der Äußerungen ihrer Emotionen füreinander sowie die Konsequenzen ihres Zusammenseins von Bedeutung zu sein. Sowohl Wolfgang Pagel als auch Petra Ledig befinden sich in einem Lebensabschnitt, in dem eine Liebesbeziehung sowohl gesetzlich als auch gesellschaftlich erlaubt erscheint, darüber hinaus liegen sie im Alter nicht weit auseinander – Wolf ist 23, Petra 22. Dennoch sind ihre Lebensumstände zunächst vollkommen unterschiedlich – wächst Wolfgang als behütetes und verzärteltes Kind eines ehemaligen Gesandtschaftsattachés und

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Kunstmalers und einer überfürsorglichen Mutter ohne materielle Nöte auf, ist Petras Status als uneheliche Tochter prekär. In jungen Jahren wird sie aus dem Haus geworfen, so dass sie selbst für ihr Auskommen sorgen und selbstständig werden muss. Wehrt sich Wolfgang gegen die Bevormundung Mathilde Pagels, die sich vom Leben zurückgesetzt fühlt und zu versuchen scheint, ihr verschenktes Leben durch ihren Sohn zu leben, hat Petra keinen Familienanschluss mehr und steht allein: »Ihre Reife war in keine geruhsame Zeit gefallen« (17), kommentiert der Erzähler. Hier wie auch im weiteren Textverlauf wird ›Reife‹ als Kulminationspunkt einer Wachstumsund Entwicklungsphase ebenso positiv konnotiert wie die lebenssprühende ›Jugend‹. Petra selbst jedoch empfindet sich dagegen als alt, älter in jedem Fall als ihr Lebenspartner Wolfgang Pagel, beinahe »verbraucht« (ebd.). Die Figur glaubt sich offenbar in einer Krisensituation, die vom Erzähler nicht wahrgenommen wird: Wo Pagel sich treiben lässt und den Rausch sucht, wo er, ebenso wie seine Mutter, von der er sich allerdings abgewendet hat. noch an Nebensächlichkeiten hängt, so weiß Petra bereits, dass es nicht auf äußere Umstände ankommt, sondern auf den Kern der Dinge: »Ein Kleid macht doch nicht anständig, kein Kleid nicht unanständig« (13), hält sie ihm vor, wenn er darauf besteht, dass sie sich morgens zur rechten Zeit anzieht, um sich vor der Vermieterin nicht nackt zu zeigen. Erst später wird auch Wolfgang feststellen: »Unordnung wird nicht zur Ordnung, wenn man eine Decke darüber legt. Im Gegenteil: sie wird zur Unordnung, die man nicht mehr zu vertreten wagt. Zu einer verlogenen, feigen Unordnung.« (158) Hat Petra etwas davon verstanden, fragt er sich – und missversteht die Verlobte dabei. Während er sich darum bemüht, die Welt rational zu begreifen und glaubt, dass ihre dauernden Fragen an ihn einen Hunger nach Bildung signalisieren, geht es ihr darum, dass er sie ernst genug nimmt, um mit ihr zu sprechen, ist ihr Wissen ein intuitives. Wo er argumentiert, vertraut sie, wo er riskiert, sehnt sie sich nach Sicherheit und Bindung. Allerdings will sie die Ehe nicht aus den Gründen, die er ihr unterstellt – es geht ihr nicht um gesellschaftliche Konventionen, kaum um finanzielle Sicherheit, sondern darum, dass Wolfgang – ebenso wie sie – fühlen soll: »Wenn wir zusammengehören, ist alles richtig, und gehören wir nicht zusammen, ist doch alles falsch – mit und ohne Geld, mit und ohne Trauung.« (40 f.) Er soll in ihr nicht nur den »Leib, den er gern mochte und der ihm guttat« (20) sehen, er soll mit ihr in Gemeinschaft leben – die staatliche Legitimierung ihrer emotionalen Einheit ist lediglich ein Zeichen nach außen. Instinktiv weiß Petra also um richtig und falsch – ebenso instinktiv hat sie sich einst auf Wolfgang eingelassen, mit ihrer Frage, ob sie ihn nach Hause begleiten dürfe. Dabei fühlt sie sich von einer höheren Macht geleitet: »Es war etwas zu Geheimnisvolles, daß sie ihn hatte fragen müssen.«

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(18) Diese geheimnisvolle Macht – an anderer Stelle mehrfach einfach als »das Leben« bezeichnet, führt Petra, da sie sich ihr ausliefert, ihr – wie auch Wolfgang – grenzenlos vertraut: Sie schließt die Augen, ein fast schmerzender Glücksschauer überrieselt sie. Sie fühlt, wie Wärme ihr in die Wangen steigt, sie wird heiß. Eine gute Wärme, eine schöne Hitze! Oh Leben, Lust zu leben! Es hat mich geführt, von da über dort hierher. [...] Hier stehe ich – süßes, süßes Leben! (60)

Petra Ledig besitzt folglich von Beginn des Romans ab ein Bewusstsein ihrer selbst – »Auch er wird eines Tages begreifen, daß sie ›Ich‹ ist, wie sie es begriff. Sie begriff es, seit sie nicht mehr ›Ich‹, sondern ›Wir‹ ist.« (61) Diese Gewissheit verhilft ihr auch zu einem Bewusstsein für den Lebensstrom, der sie durch die Straßen Berlins treibt – und ein Bewusstsein für ihren Liebhaber: Er kann nie wieder von mir gehen. Ich habe ihn in mir. [...] Er kann nicht wieder von mir gehen. Ich habe ihn in mir. Nie gedacht, nie gehofft, nie gewünscht. Ich habe ihn in mir. [...] Aber es blieb etwas. Nicht über alle Fußstapfen wächst Gras, nicht jeder Seufzer verweht. Ich bleibe. Und er bleibt. Wir. (60)

Dabei ist dieses Wissen um das – letztlich unvergängliche, weil sich verändernde – Leben und ihre Umwelt ein Wissen, das sie durch ihre Körpersensationen erlangt1 – und durch ihre Schwangerschaft. Es scheint so, als habe Petra – als Frau? als bereits Gereifte? als angehende Mutter? – einen unwillkürlichen Zugang zur geheimnisvollen Kraft des Lebens2, während Wolfgang Pagel diesen erst mühsam erwerben muss. Ist sie bereits ganz Frau und besitzt als solche eine Psyche, »in der sich Trieb-Sexualität, Seele und Verstand in prästabilisierter Harmonie befinden« (Lindner 1994: 84), muss er sich erst »bewähren« (Fallada 2008: 286), eben reifen.

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Interessanterweise bleibt für Petra ihr eigener Körper »fehlerlos«, auch in der zersetzenden Luft der Mietskaserne, in verfaulten Zeiten (Fallada 2008: 13). Vgl. Lindner 1994: 85: Für die Frühe Moderne, nach deren Systemregeln Wolf und Wölfen zu weiten Teilen ausgerichtet ist, galt die Mutterschaft als Äquivalent zum männlichen Werk. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Petras Reaktion auf das Kinderweinen, das zu Beginn des Romans durch den Hinterhof des Mietshauses schallt: »Die Lider des schlafenden Mädchens zuckten. Der Kopf hob sich ein wenig. Die Glieder spannten sich.« (Fallada 2008: 9) Erst als das Kind leiser schreit, entspannt sie sich wieder und schläft weiter. Der werdenden Mutter wird also von Beginn des Romans an ein instinktives Gefühl für Pflegebedürftige zugeschrieben – ebenso wie um das fremde Kind kümmert sie sich später zum Beispiel auch um die Hühnerweihe.

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Beide – Petra und Wolf – sind allerdings in der Lage, während des Koitus zu einer Einheit zu werden, im Feuer der Lust miteinander zu verschmelzen: Und die Flamme stieg und stieg, lautlos. Ihre reine, weißbläuliche Hitze brannte die verbrauchte Luft des Zimmers rein. Immer noch hoben barmherzige Arme die Liebenden von jedem Liebeslager aus Dunst und Unruhe, aus Kampf, Hunger und Verzweiflung, aus Sünde und Schamlosigkeit hoch in den reinen, klaren Himmel der Erfüllung. (Ebd.: 14)

Bedenkt man die Nähe dieser Formulierungen zu jenen, die Wolf selbst benutzt, um seinen Rausch während des Spiels zu beschreiben, erscheint es nicht verwunderlich, dass Petra Wolfs nächtliche Ausflüge in private Spielcasinos nicht gutheißen kann, da sie dann fühlt: »er war weg von ihr« (13): »Es war wie eine plötzliche Helle vor mir [Wolfgang Pagel], nein, eine strahlende Helle in mir, das Leben war so weit und klar, wie der Himmel, wenn die Sonne aufgeht, es war alles rein ...« (14) Petra weiß, dass Wolf dort sein »Leben« sinnlos verströmt (21) und sie ahnt, dass dieser Zustand ein kranker, unnatürlicher ist, da er den Blick des Geliebten »flackernd« statt klar und ruhig erscheinen, ihn fiebern lässt (21 und 38). Gesund sind dagegen die Auswirkungen ihrer Liebesnächte: Die Flamme steigt empor und sinkt, das Feuer, das eben noch brannte, ist erloschen – glücklich der Herd, der die Glut lange bewahrt. Funken laufen über die Asche, die Flamme sank zusammen, die Glut verglomm, aber noch ist Wärme da. (16)

Das Liebespaar wird mit einem Herd verglichen, der gemeinhin mit Häuslichkeit, Heimeligkeit, Ruhe verbunden wird – schon zu Beginn des Romans wird dem Leser also suggeriert, dass die Beziehung zwischen Petra und Wolfgang eine bleibende, solide sein kann. Wolfgang Pagel muss dafür jedoch – im Gegensatz zu Petra – einen Prozess durchlaufen, der ihn, wie es am Ende des Romans heißt, »der Liebe würdig« (731) macht. Pagel wird im Gegensatz zur ›reifen‹ Petra als »unjung« bezeichnet: »Er ist nicht offen, er ist nicht gerade« (119). Er weicht Entscheidungen und Auseinandersetzungen mit der Mutter aus, erweist sich als schwach (vgl. 120 und 125). »Das ist doch kein Mann, das soll vielleicht mal einer werden!« (285), bemerkt Frau Krupaß.3 Und auch von 3

Frau Krupaß bewertet an dieser Stelle Petra gegenüber Möglichkeiten der Paarbeziehung zueinander: »Is denn det Ehe, frage ick dir, ist det denn Kameradschaft? Is det ooch nur Freundschaft?! Bloße Bettlägerigkeit is det, sage ich dir!« (Fallada 2008: 285) Auch im Text funktioniert offenbar diese Abstufung: Die reine Sexualbeziehung wird nicht als solche negativ bewertet, ist aber nur von kurzer Dauer (Leutnant Fritz und Violet, Amanda Backs und Meier) und birgt keine Verpflichtungen zueinander. Freundschaft wird höher bewertet, am höchsten jedoch Kameradschaft, offenbar auch Fundament der Ehe. Von Studmann lernt, den Freund (!)

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Studmann, der zwar selbst als eher lebensfern dargestellt wird4, Pagel jedoch anfangs als Stütze und Führer dient, rät Wolfgang, es als »Landwirt« zu versuchen, sich auf Neulohe einzuleben und dort die Beständigkeit seiner Liebe zu Petra, die von Studmann zunächst als »faule[n], gefühlsduselige[n] Zauber!« (347) einstuft, zu überprüfen. Auch Pagel selbst empfindet die Inkongruenz von seiner »Lebensform« und seinem »Lebensinhalt« (Lindner 1994: 9), er spürt in sich eine Leere und das Gefühl, »endlich was Richtiges anfangen« (Fallada 2008: 311) zu müssen. Dass er in eine existenzielle »Krise«5 geraten ist, ist Wolfgang also wohlbewusst. Die Abreise aufs lebensnahe Land geht einher mit einem Bruch mit den Eltern – nicht nur mit der Mutter, sondern auch mit dem unbekannten Vater, dessen Gemälde der damals noch jungen Mutter Wolfgang verkauft, nur um den Erlös dann doch im Spiel und durch Beschlagnahmung zu verlieren. Ererbtes und somit nicht selbst Erworbenes kann offenbar nicht zur Existenzgründung beitragen. Durch seine Entwicklung, eine Art zweite Adoleszenzphase (vgl. Lindner 1994: 32), leitet den jungen Pagel allerdings vor allem jene »geheimnisvolle Macht, die seine Gesundung« will (Fallada 2008: 373). Sie ist es wohl auch, die ihn der Gefahr, die von Violet von Prackwitz ausgeht, entkommen lässt. Zwar singt sein Blut auch, wenn er mit ihr zusammen ist, zwar steigt zunächst die Flamme in seinem Inneren (vgl. ebd.: 465), doch in dem Moment, in dem er die Fünfzehnjährige küsst, erkennt er, dass Gemeinschaft eben nicht nur körperliche Vereinigung bedeutet, sondern dass es um mehr geht als nur um den Leib: »Wenn es nur der Körper wäre, dann wäre ja jeder für jede richtig, und da brauchte man sich ja nur die andern anzusehen, um zu wissen, daß das nicht stimmen kann.« (468) Das ist die Erkenntnis, die Pagel schließlich einsehen lässt, dass es für jeden die passende Gefährtin gibt. Die Wahl des Lebenspartners ist nicht zufällig, es gibt nur die eine: »Glücklich kann nur dieselbe machen.« (467) Ab diesem Moment können Violets Annäherungsversuche Pagel nichts mehr anhaben, sein Blut bleibt kalt, die Flamme der Lust für sie ist erloschen (vgl. 469). ›Liebe‹ wird vom Text offenbar hoch bewertet und mit bloßer Lust kontrastiert (vgl. 398, 465) – werden rein sexuelle Beziehungen auch nicht verurteilt, so bedarf es offenbar der Liebe, um eine Verbindung beständig zu

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Achim zu verachten, weil dieser nur noch an sich denkt, während Eva von Prackwitz dem Ehemann »Kamerad« bleibt (435). Nicht umsonst geht Herr von Studmann zum Ende des Buches hin auf dem »Friedhof eines Nachbardorfes« spazieren – ihm fehlt, so die Selbsterkenntnis, die Fähigkeit, »sich dem Leben [...] an[zu]passen«, er beharrte auf seinen starren Maßstäben. »Des Schwimmens unkundig«, ist es ihm unmöglich, sich auf und mit dem Lebensstrom treiben zu lassen (Fallada 2008: 738). Das Kennwort der in der Frühen Moderne und darüber hinaus wirksamen Lebensideologie, so Lindner 1994: 9, ist »Krise«.

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machen.6 Stabilität und Beharrlichkeit, die jedoch nicht – wie bei den von Prackwitz’ – in Inflexibilität und Starrheit übergehen dürfen, gelten ebenfalls als hohes Gut. Es gelingt Wolfgang mit diesem Wissen um die Eine und mit seinem Ziel vor Augen, die schweren Monate auf Neulohe durchzustehen und zum Mann zu reifen7, ohne dadurch vom Leben abgeschnitten zu werden. Wolfgang wird sich selbst bewusst und dadurch auch selbstbewusst, er weicht schwierigen Situationen nicht mehr aus – »so weich ist der junge Pagel nicht mehr, daß er sich scheut, einem andern etwas zu sagen« (634). Am Ende des Romans wird er mit positiv gewerteten Attributen ausgestattet: sein Gesicht ist »freundlich[ ]«, er »geht gerade und ruhig«, die Augen sind hell, »sie sind noch ganz jung« (719). Gereift, ohne sich verbraucht zu haben, kann Pagel nun selbst zum Helfer werden und Medizin studieren. Es gab eine Zeit, da war ihm viel aufgeladen, aber er hat durchgehalten. Er hielt nur durch? Nein, es machte ihn stark, er entdeckte etwas in sich, das ihm Halt gab, etwas Unzerstörbares, einen Willen. [...] Die junge Frau lächelt – sie lächelt dem Leben zu, dem Mann, dem Glück. Es ist kein Glück, das von äußeren Dingen abhängig ist, es ruht in ihr, wie der Kern in der Nuß. Eine Frau, die liebt und sich geliebt weiß, kennt das Glück, das immer bei ihr ist, wie ein seliges Geflüster im Ohr – den Lärm des Tages übertönend. Eine liebende Geliebte ist das ruhige Glück, dem nichts mehr zu wünschen bleibt. (731)

Beide haben also offenbar einen Persönlichkeitskern entwickelt, der dauerhaft erscheint, von außen nicht mehr beeinflussbar ist und Ruhe und Glück verheißt.8 Ganz im Gegensatz zu der erfüllten Beziehung zwischen Petra Ledig und Wolfgang Pagel, die in der Gründung einer Familie, der Geburt eines gesunden Sohnes endet, steht die Beziehung zwischen Violet von Prackwitz und Hubert Räder. Die fünfzehnjährige Violet, körperlich frühreif9 – so spricht Feldinspektor Meier von ihrer »junge[n], eifrig markierte[n] Brust« (Fallada 2008: 93) –, wird von ihren Eltern zunächst eifersüchtig von jedweder Art von 6 7 8 9

So heißt es auch von der »gute[n], fruchtbare[n] Mutter Erde«, dass sie »die Liebenden liebt...« (Fallada 2008: 465). »Er muß erst einmal ein Mann werden, ehe er Vater sein kann. Jetzt ist er doch bloß unser aller verzogenes Kind ...« (Fallada 2008: 482), meint Petra. Lindner 1994 spricht in diesem Zusammenhang von der »Erfahrung des Zurückgeworfenseins auf den ›Kern‹ bzw. die ›Wurzeln der individuellen Existenz‹« als eine der vier Möglichkeiten der Erfahrung des »überindividuellen Lebens« (33). Möglicherweise ist es die zu frühe Reife, die ebenso wie die verspätete unnatürlich wirkt, die Weio ›verderben‹ lässt – Eva von Prackwitz jedoch macht die »verfluchte[ ] Zeit« (Fallada 2008: 344) dafür verantwortlich.

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Erfahrung ferngehalten. Doch auch in ihr scheint sich das Lebensprinzip auszudrücken, wenn auch auf andere Weise als in Petra Ledig: Ihr »Blut«, ererbt von der Mutter, die gerüchteweise ebenfalls in jungen Jahren einen Liebhaber – einen Bauernjungen (vgl. ebd.: 193) – gehabt haben soll, treibt sie zunächst in die Arme von Leutnant Fritz, dann in die Hände von Hubert Räder: »Wenn das Blut zu fein wird«, erklärt ›der Dicke‹ am Ende des Romans, »dann verliert es an Kraft. Es will wieder hinunter.« (628) Der Text lässt – nicht nur durch die Aussage des als Autorität einzustufenden Beamten – zumindest durchscheinen, dass Violets Familie als dekadent, wenn nicht sogar degeneriert gilt. Dies zeigt sich bereits in der Beschreibung der Gärten der von Teschows und derer von Prackwitz: »Dort ererbtes Wachstum, aus der Zeit kommend für die Zeit; hier etwas kaum Geborenes, schon wieder Absterbendes« (95), aber auch in der Darstellung Weios selbst: »Sie hatte das weiche Fleisch, die zu weiße Haut des lymphatischen Mädchens« (96). Lymphatische Menschen gelten als wenig widerstandsfähig – dementsprechend zeigt sich Violet auch empfänglich für Einflüsterungen von außen und sexuelle Reize: So ist es dem Leutnant, in den Violet sich verliebt wähnt, ein Leichtes, ihr »instinktives Wehren« vor dem ersten Verkehr zu überkommen, in dem er sie schilt, sie werde ihm »widerlich«, wenn sie sich ihm verweigere (249). Beides, sowohl das eigene Begehren als auch die noch ungenügenden Hemmungen Weios, führen dazu, dass sie sich beinahe widerstandslos verführen lässt. Die Begegnung mit dem Leutnant erweckt Violets Lebenshunger: »Oh, wie verblasen, wie verlogen, wie flach kommt ihr die Welt zu Hause vor! Hier sitzt sie in dem stinkenden Inspektorenzimmer, das Leben schmeckt nach Blut und Brot und Dreck.« (250) Hier die Teilnahmslosigkeit und Gefühllosigkeit der Eltern, die höchstens durch gelegentliche Rasereien des Vaters durchbrochen wird, dort – das Leben. Ein Leben, das zuweilen zwar schmutzig und widerlich erscheint, allerdings zumindest emotional bewegend ist. Diese Gefühlsdichte bricht über sie herein wie ein Feuer, das offenbar weder wärmt noch mit Heim und Helligkeit in Verbindung gebracht wird, sondern die vormals still stehende, »geordnete Welt« zerstört, nur noch eine »Ruine« und ein Dunkel, ein für Violet »herrliches«, weil sie von allen Ordnungen und Konventionen befreiendes »Dunkel« (251), zurücklässt. Liebe und Sexualität wird folgerichtig von dem jungen Mädchen mit Tierhaftigkeit und Jagd in Verbindung gebracht: »Aus dem Dunkel kommt ein Mund mit schimmernd weißen Zähnen, die Eckzähne sind spitz; die Lippen sind schmal, trocken, so frech – o Mund, Männermund zum Küssen, Raubtierzähne zum Beißen!« (251) Es ist bemerkenswert, dass Violet ihre neu entdeckte Sexualität mit einem Bild verknüpft, das auf Gewalt und Verletzung hindeutet – hinter

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dem Genuss des Küssens verbirgt sich der – teilweise positiv konnotierte – Schmerz des Gebissen-, des Aufgezehrt-Werdens. Daneben ruft der Ausdruck natürlich auch den Titel des Romans und somit auch die Idee auf, dass sich jeder am Ende selbst der Nächste ist, also gerade das Gegenteil der Gemeinschaft, die Petra Ledig und Wolfgang Pagel anstreben. Die Tatsache, dass Violet ganz unbefangen Schmerz mit Lust verknüpft, macht sie empfänglich für die Verführungskünste Hubert Räders, von dem es am Ende des Romans heißt: Meistens, in gesunden Zeiten, lassen die andern sie nicht hoch kommen, aber in einer kranken, verfaulten Zeit, da wird es geil, solch Gewächs ... Glauben Sie doch nicht, Pagel, daß das ein Mensch ist, daß der fühlt und denkt wie ein Mensch. – Das ist ein Scheusal, ein Wolf, der mordet, nicht um zu fressen, sondern um zu morden. (632)

Hubert Räder zeigt sich – im Gegensatz zu Violet – nicht als zu früh gereift, sondern als bereits vorzeitig gealtert. Immer wieder wird betont, er habe – obgleich erst zwanzig Jahre alt – ein »etwas faltige[s] Gesicht[ ]« (192 sowie 193, 195), er sei »unjung« (194). Es ist nichts Natürliches an Räder, er ist unheimlich, ein »Unhold« (197). Sein Zimmer ist nicht das eines Menschen (vgl. 195), er zeigt sich leidenschafts- und »leblos wie ein Stück Holz« (557), unbewegt (vgl. 199): »Der ist überhaupt – anders. Der hat mit Frauen überhaupt nichts im Sinn« (194), befindet die Köchin Armgard, für die er außerhalb jeglicher Normerwartung steht. Sein Wissen – ein theoretisch erworbenes, nicht jedoch empirisch erprobtes Bücherwissen – gibt Hubert ohne Umschweife an Violet weiter, die zwar zunächst ablehnend reagiert und sich ihre »Illusionen« (354) über die Liebe bewahren will, sich dann jedoch – da durch ihre Erfahrungen mit dem Leutnant die Stichhaltigkeit der (pseudo-)wissenschaftlichen Literatur, die Hubert ihr unters Kopfkissen legt, bewiesen scheint – von Huberts Ideen zur Sexualität überzeugen lässt: »Das ist bloß der Körper – der Körper hat Hunger« (353), sagt Räder, sagen seine wissenschaftlichen Werke, sagt schließlich auch Violet (468). Denn ist es tatsächlich so, dass Räders These stimmt, dann hat sie sich nichts vorzuwerfen, dann kann sie Räders Rat folgen: »Entweder leben sie, wie die alten Herrschaften es wollen, dann brauchen Sie sich nicht zu schämen. Oder sie leben, wie wir Jungen es für richtig halten, und dann haben Sie es erst recht nicht nötig.« (353) Bemerkenswert ist dabei, dass Räder sich zu den »Jungen« zählt und sich – trotz seiner Ankündigung, sich »mit Frauenzimmern überhaupt nicht gemein« (197) machen zu wollen – in eine Beziehung zu Violet setzt, die noch als minderjährig gilt und auch durch ihre gesellschaftliche Stellung und die Konvention für ihn unantastbar sein sollte, wie er selbst zugibt:

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»Einmal sind sie eine Dame, und dann sind Sie meine Herrschaft, so kommt Gemeinmachen mit Ihnen gar nicht in Frage, gnädiges Fräulein.« (197) Das, was die wissenschaftliche Literatur der Zeit wohl als gesunde und natürliche Äußerung des Körpers verstanden hätte – nämlich ein heterosexueller geschlechtlicher Verkehr – findet zwischen Räder und Violet nicht statt, zumindest wird er nicht dargestellt. Dennoch gelingt es dem Diener, seine Herrschaft zu sich hinabzuziehen, wie der Dicke es andeutet – er ›bezaubert‹ sie (453), wie es euphemistisch heißt, macht sie hörig. Zum einen, in dem er ihr Vertrauen missbraucht und sie traumatisiert, zum anderen aber auch durch eine einzelne Berührung seiner Hand, die durch die verwendete Metaphorik als gänzlicher Gegensatz zu dem wirkt, das Petra und Wolfgang miteinander teilen: Und nun fühlt sie seine Hand auf ihrer Brust. Leiser kann sich kein Schmetterling auf der Blüte niederlassen, doch mit einem Schauder, der ihren ganzen Leib schüttelt, weicht sie zurück ... Die Hand folgt dem ausweichenden Leib, sie legt sich kühl über die Brust. Sie kann nicht mehr zurückweichen, auch der Schauer vergeht ... Kühl dringt es durch den leichten Stoff des Sommerkleides, Kühle dringt durch die Haut, dringt bis zum Herzen vor ... (453)

Nach dieser Begegnung sucht Violet nicht mehr Feuer, nicht Flamme, nicht Hitze, nicht Bewegung im Akt, sondern Ruhe und Stillstand ihres sie treibenden Blutes – es sei ihr gewesen, »als könne jeder [ihr] Ruhe geben...« (468), vertraut sie Pagel an, der ihr seine Wärme versagt hat. Räder ist während der eben geschilderten Szene allerdings noch weiter gegangen, hat Violet, während eine Hand auf ihrem Herzen lag, mit der anderen Hand beinahe erstickt, also erneut eine halbwegs sexuelle Handlung – Weio selbst erinnert sich während der Szene an »die Bilder aus dem Ehebuch« (453) – mit Schmerz und (Todes-)Gefahr in Verbindung gebracht, somit sowohl Violets Befürchtungen über das Wesen der Sexualität als auch ihre stillen Hoffnungen bestätigt. Räder selbst behauptet gegenüber Leutnant Fritz, in Violet verliebt gewesen, ja noch immer verliebt in sie zu sein und sich durch ihre abweisende Haltung, dadurch, dass sie ihn offenbar nicht als Mann betrachtete, gekränkt und in seiner Ehre verletzt zu fühlen: Und sie waren natürlich verliebt in die Violet? Jawohl, Herr Leutnant. Ich bin noch in das gnädige Fräulein verliebt. Und sie hat das gewußt, hat Sie bloß quälen wollen? Jawohl, Herr Leutnant. Das war die Absicht dabei. (603)

Er macht sich mit dem Offizier gemein, indem er diesem vorspielt, sich in der gleichen Situation zu befinden: Auch Leutnant Fritz fühlt sich von Violet betrogen, auch er hat seine Ehre verloren, auch er will sich rächen.

Paarbildung und -bindung in Falladas Wolf unter Wölfen

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Gleichzeitig nutzt Räder allerdings den jungen Mann als Instrument, um seinen eigenen gekränkten Stolz wiederherzustellen. Inwieweit Räder tatsächlich an Violet als Frau interessiert ist, kann durch den Text nicht zweifelsfrei belegt werden – immerhin nutzt er eine sich ihm anbietende Gelegenheit nicht zum Kuss, sondern zu seinem Erstickungsversuch. Möglicherweise ist sie also nur Teil eines Experiments, in dem er die Gültigkeit der ihm durch seine Ehebücher vertrauten Theoreme testen will. Zum Ende des Romans hin hat er das junge Mädchen in jedem Fall vollständig zerstört und zu einer Marionette gemacht, vor sich hin vegetierend, atmend, aber vom Lebensstrom abgerissen. Zuweilen weint Violet, dann bedarf es der »mütterlichen Wärme« (724) Eva von Prackwitz, die all ihre »Weichheit« für die Tochter aufspart (725), um das Mädchen zu beruhigen, während für ihren Mann »die Eiszeit eingebrochen« ist (724). »Wird doch etwas Lebendiges geboren aus dieser fauligen Zeit« (154), abgesehen von der Kunst, auf die sich das Zitat bezieht? Der Roman gibt darauf keine klare Antwort: Stehen auf der einen Seite eine Reihe von Menschen, die sich den Aufgaben, die ihnen das Schicksal stellt, weder würdig noch gerecht erweisen, die scheitern, furchtbar scheitern, die als lebendige Tote zurückbleiben, steht auf der anderen Seite zumindest eine Gemeinschaft, die erst durch die an sie gestellten Anforderungen gewachsen ist und ein Kind, ein Glück, das das von Pagel irgendwann herbeigesehnte Zusammenfallen von Erleben und Dasein hervorgebracht hat (vgl. 533).

Literatur Fallada, Hans (2008): Wolf unter Wölfen. Roman. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag (rororo 11057). Lindner, Martin (1994): Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart, Weimar: Metzler.

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Gebanntes Schauen und protokolliertes Sehen Kinokritik und Kinoprosa bei Hans Fallada Rezeption und Deutung des umfangreichen Erzählwerks von Hans Fallada sind bis heute überlagert durch die dramatische Biographie seines Autors. Ganz ähnlich wie bei Franz Kafka bestimmt die Suggestion, die von der Existenz, von den Spannungen, Konflikten und Leidenserfahrungen des Schreibenden ausgeht, immer noch den Zugang zu den Texten. Die bisherige Fallada-Forschung nahm diese Perspektive, die sich ja auch zwingend anbot und durchaus logisch erscheint, nur allzu gerne auf. Sie unterstellte die Romane und Erzählungen des manisch-produktiven Hans Fallada nahezu vollständig dem »Lebensroman« von Rudolf Ditzen, entzifferte das Werk einseitig als Erfahrungsprosa, suchte nach Verarbeitungen, Spiegelungen und Verschlüsselungen einer zerrissenen Biographie, war darauf aus, die zahllosen Brüche, Abstürze und Katastrophen in den Texten zu identifizieren. Paradigmatisch für diese Ausrichtung ist die Biographie von Jürgen Manthey, die in der Reihe »rowohlts monographien« erschienen ist und selber im Laufe der Jahre zu einem Bestseller geworden ist. (Manthey 1963) Als reich bebilderte Lebenschronik begleitete dieser im Januar 1963 zum ersten Mal erschienene Band die höchst erfolgreichen Neuauflagen der Romane Falladas im neuen Medium »Taschenbuch« in den 1950er und 1960er Jahren, stimulierte zugleich diesen überragenden Erfolg. Im Anhang der Erstausgabe schaltete der Rowohlt Taschenbuch Verlag eine Anzeige, mit der er Hans Fallada als einen seiner wichtigsten Autoren kenntlich machte. Kleiner Mann – was nun?, mit dem die Reihe »rororo Taschenbuch« im Mai 1950 gestartet wurde, wurde mit einer Auflage von 335 000 angegeben, Wer einmal aus dem Blechnapf frißt mit 220 000 und Damals bei uns daheim mit 280 000. Nur Der Trinker hinkte mit 83 000 den Longsellern ein wenig hinterher. Aber schon im Mai 1964 gab es eine Neuauflage mit 11 000 Exemplaren, zahlreiche weitere folgten. Jürgen Manthey geht einerseits diagnostisch-analytisch vor, bedient sich des psychoanalytischen Vokabulars, um schon in den frühesten Dokumenten und Erinnerungen aus der Kindheit Falladas eine »Spaltung

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des Bewußtseins als die Folge eines mißglückten Affektausgleichs« (ebd.: 33) zu konstatieren. Das eruptiv-verzweifelte Schreiben, das Fallada seit seiner Pubertät lebenslang praktizierte, deutet Manthey als ein Gemisch von Selbstauslöschung, Überwindung der Ich-Spaltung und rauschhafter Selbsterfahrung einer neuen Kreativität. Die Kommentare zu den versammelten Dokumenten und Fotografien gehen aber nicht nur analytisch vor, sie konstruieren gleichzeitig in fast schon literarischer Manier eine Figur Hans Fallada, die durch die Lebenschronik geführt wird. Werner Liersch geht in seinem 1981 erschienenen und 1993 in einer erweiterten Fassung wiederaufgelegten Buch Hans Fallada. Sein großes kleines Leben (Liersch 1993) noch einen Schritt weiter. Die Annäherung an den Autor ist nun vollends zu einer biographie romancée geworden. Liersch löst das überlieferte Material in Situationen und Dialoge auf, verfügt wie ein fiktionalisierender Erzähler über ein ausgestaltetes Innenleben aller Akteure, der Haupt- und der Nebenfiguren, und bemüht sich sogar um einen eigenen ›falladesken‹ Erzählton, als wolle er mit seinem »Helden« konkurrieren. Dies ist sicher ein Extrempunkt der Fallada-Sekundärliteratur: Biographie und Werk des Autors werden in eins gesetzt, jede Distanz ist aufgehoben, Empathie mit dem vom Leben geschundenen Autor, mit dem ›armen Kerl‹ wird bis zur identifikatorischen Aneignung übersteigert. Doch auch die Fallada-Forschung in ihrer Gesamtheit lässt immer wieder die Neigung erkennen, die biographischen Zugänge und Erklärungsmuster zu verabsolutieren. Nimmt man jedoch, abgelöst von den biographischen Kontexten, das Erzählverfahren Falladas genauer in den Blick, dann wird sichtbar, wie konsequent dieses Schreiben auf die literarische Moderne Bezug nimmt und welche Ansprüche hier erhoben werden. Dann erscheint Fallada nicht mehr als der Getriebene seiner Ängste und Süchte, sondern als ein formbewußter, hochbelesener, glänzend informierter, selbstreflexiver Autor, der von dem Bewusstsein getragen wird, mit seinen erfolgsträchtigen Romanen neue Erzählwelten mit neuartigen Darstellungstechniken zu erschließen. Das Experimentelle und Avantgardistische seines Schreibens wird dann unabweisbar.1 Dass Fallada sich ebenso intensiv mit dem technisch avanciertesten und wirkungsmächtigsten Medium der Realitätsreproduktion, mit Film und Kino auseinandersetzt, gehört entscheidend mit zum Profil dieses neuen Schreibverfahrens, das strukturelle Prägnanz mit emotionaler Berührung verbindet. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass vor allem die großen semidokumentarischen, durch die Neue Sachlichkeit stark geprägten Romane – von Bauern, Bonzen und Bomben (1931) bis zu Wolf unter Wölfen (1937) – das Medium der Literatur transzendieren und auf den Film ausgreifen, 1

Einen ersten und wichtigen Schritt in diese Richtung vollzieht der Sammelband Hans Fallada und die literarische Moderne. (Gansel/Liersch 2009)

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dass sie intermedial operieren, Kinoeffekte in die Romanprosa übertragen, dass sie also einen Medientranfer vollziehen, der den Texten eine ganz eigene Färbung, eine spezifische Kontur und damit eine besondere Wirksamkeit verleiht. Es ist ganz erstaunlich, dass die expliziten Zeitromane sich sehr viel stärker als filmische Adaptionen, als »Kinostücke« zu erkennen geben als die zahlreichen kinematographischen Funktionstexte Falladas, die eigentlich in einen filmischen Produktionsprozess eingebunden und auf das filmische Endprodukt ausgerichtet sind. In den 1930er Jahren war Fallada fast ohne sein Zutun zu einem erfolgreichen Filmautor aufgestiegen. Er wurde in dieser Zeit mit einem Kooperationsbegehren der Filmindustrie konfrontiert, wie es heftiger nicht sein konnte. Bis in die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs hinein versuchte die Elite des NS-Kinos immer wieder, Fallada für Filmprojekte zu gewinnen. Regisseure wie Carl Froelich und Wolfgang Liebeneiner warben um ihn, Stars wie Emil Jannings, Zarah Leander und Matthias Wiemann wollten unbedingt mit ihm zusammenarbeiten. Sein Verleger Ernst Rowohlt vermeldete Wohlwollen und Förderung gar von allerhöchster Ebene. Filmminister Goebbels, so schrieb er 1938 in einem Brief an Hans Fallada, kenne dessen Bücher genau und sei »absolut positiv« gegenüber dessen Werk eingestellt.2 Fallada akzeptierte vor allem aus finanziellen Gründen alle Angebote, erfüllte die Verträge, lieferte die gewünschten Texte und wich doch den Anforderungen des Mediums und den Erwartungen der Auftraggeber aus. Es hat den Anschein, als wolle er den Eindruck vermeiden, er sei ein professionalisierter und routinierter Drehbuchautor, der das Medium umstandslos bedient und mit dem das Medium jederzeit kalkulieren kann. Viele seiner Entwürfe, Treatments, Geschichten und Romane, die ihr Entstehen nur dem Kino verdanken und die in Kinofilme einmünden sollten, stattet er dann doch mit einer merkwürdigen Unschärfe der Mehrfachverwertung aus, als wolle er eine direkte Umsetzung verhindern. Sehr viel unmittelbarer und unverstellter ließ sich Fallada im Medium des Romans auf den Film ein. Die Prinzipien des Filmischen, die hier Verwendung finden, entfalten sich dabei in zwei Dimensionen, in zwei Richtungen. Zum einen ergibt sich für Fallada die Möglichkeit, retrospektiv auf Kinoerfahrungen, Kinobilder und Kinokonzepte, auf die eigene Kinoerinnerung zurückzugreifen. Und zum zweiten bereitet er so, bewusst oder unbewusst, prospektiv filmische Adaptionen, filmische Rückübersetzungen seiner Erzählprosa vor. Das mag ein Grund dafür sein, dass jenes Begehren, Fallada ins audiovisuelle Medium zu übertragen, nach 1945 ungebrochen weiter geht und in den oft mehrteiligen Fernsehverfilmungen der 1960er bis 1980er Jahre sowohl in der Bundesrepublik wie auch in der DDR noch 2

So Rowohlt in einem Brief aus dem Jahre 1938 an Hans Fallada. (Zit. nach: Müller-Waldeck/Ulrich 1997: 164)

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einmal eine Intensivierung erfährt. Hans Fallada ist ohne Zweifel der am konsequentesten filmisierte Autor der deutschen Literaturgeschichte, nahezu das Gesamtwerk liegt auch in filmischen, oft mehrteiligen Versionen vor. Fallada-Adaptionen sind bis heute aktuell geblieben – verwiesen sei nur auf die Verfilmung von Der Trinker aus dem Jahre 1995, zu der Ulrich Plenzdorf das Drehbuch geschrieben und in der Harald Juhnke die Hauptrolle gespielt hat. Die filmischen Elemente in den Texten Hans Falladas, die von zahllosen Bearbeitern genutzten Adaptionspotentiale belegen noch einmal schlagend, in welch hohem Maße der Autor bei der Konzeptionalisierung und bei der Niederschrift seiner Romane Filmerfahrungen und Filmdenken aktualisiert hat. Von der traditionellen Fallada-Forschung wird der Einfluss des Kinos eher als gering veranschlagt. Günter Caspar schreibt in seinen Fallada-Studien zu Beginn eines Kapitels »Fallada und der Film«: »Ein eifriger Kinogänger ist Hans Fallada nicht«. (Caspar 1988: 284)3 Damit hat er sicher grundsätzlich recht. Bis zum Ende der 1920er Jahre lebte Fallada überwiegend an kinolosen Orten. Als Eleve und als Angestellter von entlegenen Gütern in der pommerschen und sächsischen Provinz hatte er wohl kaum Gelegenheit, regelmäßig ein Kinotheater zu besuchen. Dies gilt erst recht für die Monate und Jahre, die er in Sanatorien, geschlossenen psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen verbringen musste.4 Man kann davon ausgehen, dass Fallada in seiner Berliner Zeit zwischen 1916 und 1918, als er sich, endlich befreit von Erziehung und Bevormundung, intensiv dem Nachtund Vergnügungsleben hingab und gleichzeitig an seinem ersten, geradezu psychedelischen Roman Der junge Goedeschal arbeitete, dass er in dieser Phase der Anspannung und Erregung auch mit einem anderen Rauschmittel, mit dem Kino in Berührung kam. 1928 wird er in Neumünster aus der Strafanstalt entlassen. Er schafft den Sprung in die Großstadt Hamburg nicht und bleibt in der holsteinischen Kleinstadt hängen. Aber ausgerechnet hier ergibt sich für ihn unverhofft die Chance, das Kino neu zu entdecken. 1929, in einem entscheidenden Jahr, an einem Bruchpunkt der Kinogeschichte, als sich der endgültige Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm abzeichnete, verdichten sich die Kinoerfahrungen Falladas. Im Auftrag des Generalanzeigers für Neumünster schreibt er Filmkritiken und kommt an Freikarten für weitere Kinobesuche heran. 3 4

Tenor und Tendenz dieses Textes kommen schon dadurch zum Ausdruck, dass Caspar sein Kapitel »Fallada und der Film« nach dem Schema einer fünfaktigen Tragödie untergliedert. Anmerkung: Tom Crepon hat die Zeiten, die Fallada im Laufe seines Lebens in Gefängnissen und geschlossenen Anstalten verbracht hat, tabellarisch zusammengefasst und kommt auf die erschreckende Summe von siebeneinhalb Jahren. (Crepon 1983: 18 f.)

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Im eingeschränkten Rahmen einer winzigen Provinzzeitung nimmt Fallada jedoch eine Fülle von Aufgaben gleichzeitig wahr. Er ist Annoncenwerber und Lokalredakteur, er agiert nicht nur als Filmkritiker, sondern übernimmt auch noch die Rolle eines Kulturkorrespondenten, schreibt über Vorträge und Konzerte und er steigt schließlich zum Gerichtsreporter auf, der den im Oktober 1929 eröffneten Prozess gegen die Landvolkbewegung verfolgt und mit seinen Berichten nicht unerheblich beeinflusst. All diese Teilelemente eines multiplen Schreibens verweisen bereits auf den großen Roman Bauern, Bonzen und Bomben, der 1931 erscheinen wird. Die prekären, ja würdelosen Arbeitsbedingungen, denen sich Fallada beim Generalanzeiger für Neumünster unterwerfen musste, sind hinlänglich bekannt und in der Sekundärliteratur ausgiebig dargestellt worden. (Vgl.: Manthey 1963: 71; Liersch 1993: 165 ff.; Crepon 1981: 131) Das nationalkonservative und antisemitische Blatt mit einer geschummelten Auflage von 4000 Exemplaren widerspricht eigentlich diametral der politischen Grundhaltung Falladas, der 1928 in die SPD eingetreten war. Die eigenen kulturellen Interessen lassen sich nur schwerlich in Einklang bringen mit dem »Kulturleben« der kleinen Stadt, das ganz von Vereinen und Verbänden geprägt ist. Die Zumutungen und Einschränkungen verschärfen sich noch einmal in der Sparte »Filmkritik«, die in der Hierarchie des Feuilletons ganz unten rangiert. Auftraggeber und Leser haben offenbar keinen Sinn für eine fundierte Filmkritik. Fallada konnte jeweils nur über wenige Zeilen verfügen und durfte seine Texte nicht einmal namentlich zeichnen. Außerdem wurde er angehalten, in seinen Bewertungen Rücksicht auf die Kinobetreiber zu nehmen, da sie als wichtige Inserenten bei der Stange gehalten werden mussten. Also war Fallada zur Selbstzensur gezwungen, es gab Reduktionen und Unannehmlichkeiten zuhauf. Da kann man Falladas Verzweiflung, die er in einem Brief an seine Frau »Suse« vom 20. März 1929 äußert und die oft zitiert wird, nur allzu gut verstehen: »Im Kino war es schrecklich, denke Dir, die Qual dauerte von 8 bis ½ 12, ich war erledigt, als ich nach Hause kam, vor allem deswegen erledigt, weil man nicht einmal seine Wut über diesen Mist auslassen darf, sondern zu schreiben hat, wie es die Interessen des Inseratenkontos gebieten.« (Müller-Waldeck/Ulrich 1997: 83) Es finden sich aber auch andere Briefäußerungen, in denen erkennbar wird, dass seine Filmkritiken nicht nur eine Quälerei bedeuteten, sondern dass er das Schreiben durchaus lustvoll betrieb und seine Texte mit Stolz vorzeigte – zumindest die wirklichen und nicht die aus den Fingern gesaugten »Kritiken«, die den Schreibumständen geschuldet sind. Am 17. Juli 1929 berichtet Fallada an seine Schwester Elisabeth Ditzen von seiner Zwangssituation, an einem einzigen Abend drei Kinos ›bedienen‹, drei Filme rezensieren zu müssen: »Zwei konnte ich nach den Anzeigen verarzten, jeden

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mit mit 23 Druckzeilen, im dritten, wo ich nichts erraten konnte (und was mich ehrlich gestanden, am meisten lockte,) bin ich dann auch gewesen. Spaßeshalber lege ich Dir mal die Kritiken von zwei Kinos bei, ich brauche Dir nicht zu erzählen, in welchem Kino ich war und in welchem nicht.«5 Günter Caspar geht jedoch von einer grundsätzlichen Kinoskepsis aus, die Fallada bestimmt habe. Die »Kinoberichte«für den Generalanzeiger hätten ihm »nicht viel Spaß« gemacht. (Caspar 1988: 284) Caspar verweist zur Stützung seiner These auf die satirische Überzeichnung in Bauern, Bonzen und Bomben, wo die blinden und getürkten, zusammenphantasierten Filmkritiken das Elend des Provinzjournalismus auf die Spitze treiben. Er nimmt die Distanz der 1930er Jahre noch mit hinzu, als Fallada selbst die Verfilmungen seiner eigenen Bücher ignorierte, um eine generelle Ablehnung, ja ein Verabscheuen des Mediums zu belegen. Ganz anders klingt jedoch ein Brief, den Hans Fallada 1943 an Emil Jannings schreibt und den Caspar unkommentiert zitiert: »Sie sehen, ich habe immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben, einmal für meine große, unglückliche Liebe, den Film, etwas bedeuten zu können, vielleicht erhört er eines Tages doch mein Werben.«6 Dass der Film für Fallada eine Verlockung und eine »große Liebe« bedeutete, die es zu erobern galt, kommt selbst noch aus den entfremdeten, anonym gebliebenen, unter miserablen Bedingungen entstandenen Filmkritiken des Generalanzeigers heraus.7 Sie legen Zeugnis davon ab, über welch virtuose Anpassungsfähigkeit Fallada verfügte, um aber gerade dadurch etwas Authentisches, Produktives für sich zu gewinnen. Seine »Filmkritiken« lassen sich als Rollenprosa lesen. Fallada mimt den beflissenen Lokalreporter, der Auftraggeber und Annoncenkunden zufrieden stellt und alle Einschränkungen klaglos akzeptiert. Die Negativität kehrt er jedoch für sich um, nutzt die Chance des öffentlichen und kontinuierlichen Schreibens, eröffnet einen Diskurs über das Medium Film und bestätigt sich selbst in einem Moment des Neuanfangs nach der Entlassung aus dem Gefängnis als hochbegabter, ambitionierter Autor. Fallada eignet sich die Schreibsituation vollkommen an. Den Zwang zum verdichteten, komprimierten Schreiben in wenigen Zeilen verwandelt er in die Herausforderung der Abbreviatur, in die Notwendigkeit zur exakten, treffenden und schlagenden Formulierung. Die Filmkritikerin Frieda Grafe hat in der Süddeutschen Zeitung über viele Jahre mit ihren »Filmtips« 5 6 7

Hans Fallada/Rudolf Ditzen: Briefe aus der Neumünsteraner Zeit. (Wolff 1983: 78). Brief vom 19. 11. 1943 an Emil Jannings. (Zit. nach: Caspar 1988: 330). Mir liegen sieben im Generalanzeiger für Neumünster erschienene Kurzkritiken aus dem Jahre 1929 vor, die aus dem Nachlass von Hans Fallada stammen, der alle seine Arbeiten penibel gesammelt hat. Ich danke der Archivarin des Fallada-Archivs, Frau Erika Becker, sehr herzlich für ihre großzügige Hilfe.

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eine ähnliche Herausforderung gesucht und damit eine legendäre Wirkung erzielt. (Vgl.: Grafe 2007) Mit wenigen Strichen und prägnanten, oft poetischen Umschreibungen wird der Versuch gemacht, Thematik, Genre, Atmosphäre und Wirkung eines Films zu erfassen. Etwas Vergleichbares leistet Fallada am Ende der 1920er Jahre im Kontext jener unscheinbaren, winzigen Provinzzeitung. Eine anspruchsvolle Kurzkritik setzt ein selbstreflexives und selbstkontrolliertes Schreiben voraus. Ausgerechnet jener Kinoabend, über den sich Fallada gegenüber seiner Frau so bitter beschwerte, bringt einen perfekt durchgearbeiteten Text hervor, der konsequent durchgestaltet und bei dem jedes Wort mit Bedacht gewählt ist – ein Meisterstück der Kurzkritik in gerade einmal zehn Zeilen: Französische Kolonie in Nordfrankreich,8 Sahara, Palmen, Kamele, Oasen und Sand. Zuaven, Fremdenlegion, Wüstenscheichs – ein junger Offizier, der die Frauen zu sehr liebt und in die Wüste geschickt wird, einen Scheich zum Bündnis zu gewinnen. Er verliert darüber beinahe die Geliebte an den Harem dieses El Hamel – nur beinahe: sie schießt zu gut. Zerschießt den Knoten. Wundervolle Bilder, köstliche Spieler in den Chargen, eine Männerwelt, in der alles auf den Muskel gestellt ist: Kämpfen, Reiten, Schießen. (Fallada 1929a)

In verdichteter Form führt die Kurzkritik alle Grundelemente des kritisierten Objekts auf und macht so gleichzeitig die Struktur, den Bauplan und die Verfahrensweise des Films transparent. Sie benennt zunächst den Schauplatz »Nordafrika«, erweitert ihn dann zu einer umfassenden Vorstellung des Raumes, indem beim Leser eine ganze Kette von Bildern (»Sahara, Palmen, Kamele, Oasen«) evoziert wird. Die Registratur des Sichtbaren enthält aber zugleich eine analytische Dimension, denn Fallada zeigt, dass dieser Film das fixe Bildrepertoire des Exotismus, die populären Muster von Wüste und Abenteuer abruft. Geschickt abgesetzt von der Bildreihe wird das alles durchdringende, alles überdeckende Grundelement der Sahara: der Sand. Allein schon dieser nur als virtuos zu bezeichnende Einstieg, in dem die Sinnlichkeit des Films beschworen, für den Leser nachvollziehbar gemacht wird, widerspricht dem in Bauern, Bonzen und Bomben zugespitzten Selbstbild eines gepeinigten und gelangweilten Kritikers, der sich mühsam ein paar Zeilen abringen muss. Die konsequente Erschließung des Films setzt sich unmittelbar fort. Nach Schauplatz und Raum werden die Personen des Kinodramas in Au8

Schon in der ersten Zeile der Kritik wird die ganze Misere des Provinzjournalismus sichtbar. Den offenkundigen Fehler – »Nordfrankreich« statt »Nordafrika« – hat wohl ein übermüdeter Setzer verursacht. Eine Schlusskorrektur hat bei dem Blatt offenbar nicht stattgefunden. Dieser typische ›Angleichungsfehler‹ entstellt völlig den Text und zerstört den Exotismus-Effekt, auf den es Fallada entscheidend ankam.

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genschein genommen. Fallada geht in seiner stenogrammartigen Kritik so systematisch vor wie ein Drehbuchautor, der den Raum, die Figuren und ihre Geschichte en détail entfaltet. Er baut sogar retardierende Momente und Steigerungen ein. Zunächst umreißt er die Staffage, die Figuren, die den Bühnenhintergrund ausfüllen (»Zuaven, Fremdenlegion, Wüstenscheichs«), um erst dann die Hauptakteure und ihre Dreiecksgeschichte wirkungsvoll zu platzieren. Der Plot des Films wird aber nicht, wie in der Durchschnittskritik üblich, in dürren Worten zusammengefasst. Fallada verwandelt vielmehr die Filmhandlung in ein Sprachspiel, operiert mit Doppeldeutigkeiten: Der männliche Held wird »in die Wüste geschickt«, von der Geliebten, die den »Knoten« zerschießt, aus der Gefangenschaft des Scheichs befreit. Die aufs Äußerste verknappte Nacherzählung, die einen eigenen Ton findet, kann auf diese Weise die dramaturgische Konstruktion offen legen und ihre kolportagehafte Übertreibung karikieren. Die phantastischen Überzeichnungen des Männlichen wie auch des Weiblichen werden pointiert herausgearbeitet. Augenzwinkernd ironisiert der Text diese genau austarierte Balance der Geschlechter, die es nur in der Welt des Abenteuers gibt. Überhaupt nutzt Fallada die Effekte eines indirekten und ironischen Sprechens weidlich aus. Die Begeisterung über das »köstliche« Spiel der Chargen verweist unausgesprochen darauf, dass die Hauptdarsteller wohl nicht so mitreißend waren. Im Schlusssatz wird dann vollends deutlich, wie geschickt Fallada die eigentlich niederschmetternden Bedingungen der provinziellen Filmkritik für das eigene Schreiben ummünzt, wie er aus der extremen Restriktion noch Funken schlägt. Er hatte wohl instinktiv erkannt, dass der unausweichliche Minimalismus der Kurzbesprechung nicht notwendigerweise Schematismus und Formelhaftigkeit erzeugen muss, sondern dass sich hier auch die Chance zu einer literarisierten, ja poetisierten Filmkritik eröffnet. Die Formulierung, in dem Film Der weiße Harem werde eine »Männerwelt« gezeigt, »in der alles auf den Muskel gestellt ist«, erscheint als so eigenwillig und ungewöhnlich, dass sie aus dem Rahmen eines Provinzblatts zwar herausfällt, aber dem eigenen Gestus des konsequent inszenierten Textes durchaus entspricht. Die 10-Zeilen-Kritik verblüfft durch ihre Komplexität und durch die Verdichtung der Aspekte. Sie umreißt den Schauplatz und die filmischen Räume, sie skizziert die Handlung und die Figuren des Dramas. Sie bewertet das Spiel der Akteure und nimmt Genrebezüge auf – und sie lässt sich vor allem intensiv auf die Bilderwelten ein. Bei einer so kompletten, sprachlich virtuosen und souverän wertenden Kritik lassen sich dann auch jene Passagen verschmerzen, in denen Fallada unverblümt dem Inserenten schmeichelt und die seine Empörung und seinen Selbsthass provoziert hatten. An dieser Stelle, bei der Beurteilung des Rahmenprogramms, flüchtet sich Fallada in die Formelhaftigkeit, was aber den besonderen Rang der eigentlichen Filmkritik fast schon dramatisch hervortreten lässt: »Ein

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voll gewichtiges Programm, aber man muß es Herrn Lau lassen, daß er immer noch ein Uebriges bietet, und diemal hat er einen ganz großen Treffer mit Daisy Lee’s Ballet gemacht. [...] Die schillernde Pracht der Kostüme nicht mehr zu überbieten, die Technik einwandfrei – ein ganz großer Erfolg!« (Ebd.) Nicht alle Filmkritiken Falladas für den Generalanzeiger zeigen dieses außerordentliche Niveau, nicht alle sind so konsequent geplant und so pointiert durchgeführt. Aber auch in den schwächeren Texten, denen man die Hast des Entstehens ansieht, blitzt immer wieder die Begeisterung über das Kino auf, eine Lust am Sehen und Benennen, fast schon eine Cinephilie. Der Erzähler Fallada kapriziert sich keineswegs, wie man erwarten könnte, auf die Narration, auf die Handlungsverläufe oder auf die Figuren, vielmehr bestimmen das Visuelle und das Bildhafte ganz eindeutig alle Kritiken.9 Die »Photographie« bewertet er stets gesondert, am formgebenden Prinzip der Kamera sieht er nicht vorbei und studiert die Effekte dieses Instruments. In den Filmkritiken tritt verstärkt hervor, wie sehr der Vorgang des Sehens einen Autor wie Fallada fesselt. Seine Kurzkritiken sind in einem erstaunlichen Ausmaß Protokolle des Sehens, Auflistungen des Sichtbaren. Bevorzugt nimmt der Kritiker die Position des Kinobesuchers ein, der gebannt dem Strom der Bilder folgt und der seine Faszination bekundet. Mehrfach beschwört er die Lebendigkeit des Kinomoments herauf, wenn er beispielsweise den neugierigen, kommentierenden Zwischenruf eines Kindes in seine Bilderreihen »einmontiert«, mit denen er der Filmprojektion möglichst nahe kommen möchte. Ein Reisefilm der Hapag, der einen »Ausflug nach Amerika« dokumentiert, fordert das genau protokollierende Schreiben in besonderer Weise heraus: Man sah das Leben an Bord, die gigantische Vision jener brausenden Stadt am Meere, Autos, Eisenbahnen, Wolkenkratzer, Erzgruben, Maisfelder, sehr viel Autos, Monumente, Häfen, Wasserfälle, Geisire, Filmateliers, noch mehr Autos, Felsen, Badeorte, Baumwollplantagen – ein Kind fragte: ist das Blumenkohl –, Schönheitskonkurrenzen, Fabriken –: kurz, alle jene Bilder, die man bald hier bald dort schon gesehen und die doch ihren alten Zauber immer wieder ausüben. (Fallada 1929b)

Wieder wird genau unterschieden zwischen dem bekannten, vertrauten, bereits abgenutzten Bildrepertoire und den neuartigen, den Horizont erweiternden Ansichten, denen sich Fallada mit seiner ganzen Benennungs- und Beschreibungsenergie zuwendet. Dann ist der Ehrgeiz des ambitionierten 9

Falladas ausgeprägte Affinität zum Visuellen kommt auch in seiner Fotopraxis der 1930er Jahre zum Vorschein, wie Gunnar Müller-Waldeck und Roland Ulrich im Nachwort zu ihrer Dokumentation betonen: »Er [Fallada] versuchte Fototableaus und Bildserien, deren Einzelstücke gemeinsam ein ›bewegtes Bild‹ ergeben sollten.« (Müller-Waldeck/Ulrich 1997: 267)

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Autors geweckt und das Elend der schlechtbezahlten Zeilenschinderei vergessen. Vorzügliches dazwischen: etwa vier ungeheure Schnellzuglokomotiven nebeneinander, Dampf ablassend, Renner vor dem Start. Oder die seltsamen Erntemaschinen auf den Maisfeldern, die mit ihren langen Hälsen und kleinen Köpfen an gigantische Fabeltiere, an Ichneumone, an Urweltgeschöpfe gemahnen. Oder die ungeheuren Erzverladungsanlagen, gespenstisch beweglich, aus dem Märchen entsprungen... (Ebd.)

Fallada nimmt also die Profession des Filmkritikers ernst, er wird dem Medium gerecht, er ist ein Kritiker der Bilder und des Bildhaften. Er würdigt aber auch wiederholt die emotionalen Potenzen des Kinos, die Fähigkeit des Films, unvergessliche Augenblicke zu schaffen, den Zuschauer tief und nachhaltig zu berühren. Altheidelberg, den Ernst Lubitsch 1927 in den USA gedreht hat und den sich Fallada im März 1929 im Holsten-Palast anschaut, wird eine solche Wirkungsmächtigkeit zugesprochen. Den weltberühmten Regisseur erwähnt Fallada allerdings mit keiner Silbe und weicht auch in diesem Fall nicht von seinem Grundprinzip ab. Nur die Schauspieler werden jeweils namentlich genannt, keiner seiner filmkritischen Texte führt den Regisseur auf. Es hat den Anschein, als hätte diese Auslassung etwas Programmatisches. In der Besprechung des Hapag-Reisefilms findet sich zum Ende hin der Satz: »Das Werk triumphiert über den Schöpfer.« (Ebd.) Entsprechend dieser Devise handeln die Filmkritiken. Eine auf den Autor, auf den Regisseur oder auf das Drehbuch zentrierte Perspektive spielt keine Rolle, dafür schenkt Fallada keine Zeile her. Ihm geht es ausschließlich um die Objektivation des »Werks«, um die Bilderwelten des Kinos, um die Materialität des Sichtbaren. Gleichzeitig ist Fallada überzeugt von den neuen Möglichkeiten des Tonfilms, er gehört nicht zu den Kritikern, die der Kunstfertigkeit und der Pansymbolik des Stummfilms nachtrauern. »Der Tonfilm entzückt immer wieder von neuem«, heißt es in einer Kritik. (Fallada 1929c) Diese Begeisterung über das neue Medium des Sprechfilms, bei dem, wie der Kinorezensent ausdrücklich vermerkt, der Zuschauer zum »Hörer« wird, (Fallada 1929d) verwundert nicht bei einem Virtuosen des Dialogs wie Fallada, der ein besonderes Sensorium für die Nuancierungen der Rede besaß, für individuelle Färbungen des Sprechens, für soziale und lokale Besonderheiten, für Rhythmus und Melodie. An Lubitschs Film Alt-Heidelberg, der aus der »Neuen Welt« auf die eigentlich versunkenen Zeiten der Aristokratie, der Burschenschaften und der Studentenromantik zurückblendet, beeindruckt Fallada die ungebrochene Wirksamkeit der einfachen, der naiven Gefühlsgeschichten, die von den Protagonisten der avancierten Literatur als nicht mehr erzählbar, als hoffungslos überholt erklärt werden.

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Und wieder einmal wandert über die weiße Leinwand die alte, ewig junge Geschichte von zwei Liebenden, die das höchste Glück und das tiefste Leid erleben. So oft gesehen, so oft gehört – und der alte Zauber ist noch immer wach. (Fallada 1929e)

Diese alte, immerneue Geschichte geht Fallada so nah, dass er sich ein solches, ganz auf Verzauberung ausgerichtetes Erzählen zu eigen macht, dass er aus dem Kinoerlebnis ein Romanprojekt ableitet. Die Umschreibung von Alt-Heidelberg nimmt sich aus wie Vorgriff auf den »Welterfolg« Kleiner Mann – was nun?. Die Kurzkritik könnte auch als erste Arbeitsnotiz zu dieser Liebes- und Alltagsgeschichte firmieren, als programmatische Absichtserklärung oder als werbende Erläuterung seines Vorhabens gegenüber dem Verleger Ernst Rowohlt. Und auch an anderer Stelle der Kritik scheint Fallada bereits, über das allerdings sehr platte nationale Stereotyp hinaus, die melodramatischen Schlüsselmomente seines Romans vorweg zu nehmen. Norma Shearer als Wirtstöchterlein spielte nicht nur ein deutsches Mädel, sie war’s. Wie sie ihrem Karl=Heinz in die Arme flog, wie sie im höchsten Glück stiller ward, als wäre sie schon überschauert von dem Nahen kommenden Leids, wie sie dann dies Leid trug – unvergeßbar! (Ebd.)

Das Kino wird in zweifacher Weise zum Vorbild für Falladas Erzählen. Zum einen gewinnt die Welt der konkreten Erscheinungen auf der Leinwand eine unmittelbare Materialität. Die Objekte sind scharf umrisssen, erhalten eine mitreißende und überwältigende Präsenz, wie der Filmkritiker vielfach bezeugt. Der Dingwelt und den Oberflächen will Fallada in seinen Romanen nach 1930 eine ähnliche Wirksamkeit verleihen. Zum zweiten ist der Film für Fallada das Medium der großen Gefühle, der entscheidenden, der existentiellen Momente, und dieses Wirkungsmodell adaptiert er für das eigene Schreiben. Eine so tiefe Berührung, ein so elementares Betroffensein erstrebt er auch für seine Romane –. und besonders radikal wird dieses Konzept in Kleiner Mann – was nun? realisiert. Hier sollen die Leser sich wiederfinden, den Protagonisten distanzlos nahe sein, sich faltenlos mit ihnen identifizieren. Beide Grundelemente, die für Falladas Schreiben über das Kino entscheidend sind, bedeuten in der Geschichte der Filmkritik einen Paradigmenwechsel. Der Kunstanspruch des Films, der in der frühen Filmkritik noch ganz im Zentrum steht, die Diskurse dominiert, ist für Fallada nicht mehr von Belang. Die Filmkritiken Hans Falladas aus dem Jahr 1929, verfasst für eine winzige Provinzzeitung, kläglich honoriert und vom zeitgenössischen Leser sicher verkannt, hat man in der Forschung bisher nicht berücksichtigt und nicht ernst genommen. So blieb unerkannt, dass diese Kritik-Miniaturen eine beachtliche Qualität aufweisen, einen eigenen, originellen Zugang zum Medium Film offenbaren und damit eine wichtige Vorstufe zu den filmisch

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inspirierten Romanen der 1930er Jahre darstellen. Sie sind lebendige Dokumente der Filmerfahrung Falladas. Sie bieten dem Autor Gelegenheit, sich das filmische Medium anzueignen. So entlegen und reduziert diese Texte auch sind, so eröffnen sie doch ein Feld der Reflexion. Fallada macht sich einen Begriff vom Kino, er schärft seinen ohnehin ausgeprägten Sinn für das Visuelle, schult seinen Blick und trainiert seine Beschreibungs- und Benennungslust. Er entwickelt außerdem eine implizite Theorie des Kinematographischen, entziffert das Kino als berauschende Erscheinung der materiellen Welt und als Ort der unverbrüchlichen, der großen Gefühle. Seine Auseinandersetzungen mit dem Kino, die hier stattfinden, sind Vorstudien zu den großen Romanen, Vorübungen des dort praktizierten kinematographischen Schreibens. Bauern, Bonzen und Bomben erschien 1931 in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den im Roman dargestellten Ereignissen. Die Realitätsreferenz lag auf der Hand, die Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein hatte mit den spektakulären Attentaten auf öffentliche Gebäude überregionales Aufsehen erregt, der Prozess in Neumünster und weitere Folgeprozesse wurden im ganzen Deutschen Reich verfolgt. Der Autor selbst hatte Spuren gelegt, um die wirklichen Ereignisse zu entschlüsseln, auf die sich das nun nach Pommern in eine fiktive Stadt Altholm verlagerte romanhafte Geschehen bezog. Im Dezember 1929 war ein Artikel von Hans Fallada unter dem Titel »Landvolkprozeß« in der Weltbühne erschienen, der intime Kenntnis der wichtigsten Akteure und Einblicke in die Hintergründe zu erkennen gab. Seine dokumentarische Dimension verhüllt der Roman dann auch kaum, er schöpft das Pathos der Augenzeugenschaft und des Miterlebens aus. So ist es nur konsequent, dass Fallada in einer Vorrede zum Roman die avanciertesten Formen dokumentarischer Praxis, die fotografischen Medien, ins Spiel bringt. »Die Gestalten des Romans sind keine Fotografien, sie sind Versuche, Menschengesichter unter Verzicht auf billige Ähnlichkeit sichtbar zu machen.«10 Fallada wehrt ein eingeschränktes Verständnis des Fotografischen ab, das nur auf das Duplikat von Wirklichkeit und auf den bloßen Akt der Aufzeichnung abzielt. Mit Begriffen wie »Menschengesichter« und »sichtbar machen« beansprucht er aber für seinen Roman Dimensionen und Deutungen der fotografischen Abbildung, wie sie in zeitgenössischen Foto- und Filmtheorien weit verbreitet sind. Die Schlüsselbegriffe von Béla Balázs’ viel diskutiertem Buch Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924) ruft Fallada in seinem Romanprolog in Erinnerung. Balázs hatte in seiner 1924 erschienenen und 1930 auf die neuen Bedingungen des Tonfilms um10 Die Vorrede trägt den Titel »Dieses Buch«. (Fallada 1964: 5)

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geschriebenen Filmtheorie (Balázs 1930) die Physiognomik des 18. Jahrhunderts aktualisiert, um das Revolutionäre des neuen Mediums kenntlich zu machen. Der Großaufnahme des menschlichen Gesichts, die er als »Lupe des Kinematographs« und als »scharfe Beobachtung der Einzelheiten« bezeichnete, sprach er die Fähigkeit zu, in der exakten Reproduktion des Äußeren ein Inneres und Eigentliches zur Erscheinung zu bringen und damit dem Zuschauer die »einzelnen Zellen des Lebensgewebes« und die »Substanz des konkreten Lebens« erfahrbar zu machen. (Balázs 1924: 73) »Der Mensch wird wieder sichtbar«, resümiert Balázs bereits in der Vorrede seines Buches, der Kinematograph, ausgerechnet eine Maschine, korrigiere die Abstraktionen der traditionellen Buchkultur und die Verdinglichung und Entfremdung der Moderne, in der alles zur Ware werde. An eine solche Emphase der Sichtbarkeit und des Sichtbarmachens schließt Fallada mit seinem Roman an. Der Anfang, mit »Vorspiel« überschrieben, gleicht einem Filmintro, der Erzähler macht seine Orientierung an filmischen Techniken sofort kenntlich: Ein junger Mann stürmt den Burstah entlang. Während des Laufens schießt er wütende, schiefe Blicke nach den Schaufenstern der Läden, die in dieser Hauptstraße von Altholm dicht an dicht liegen. Der junge Mann, um die 25, verheiratet und nicht häßlich, trägt einen alten schwarzen Rockpaletot, blankgescheuert, einen breitkrempigen schwarzen Filz und schwarz umränderte Brille. Sein Gesicht dazu – und er scheint ein Leichenbitter, würdig jeder ›Pietät‹ und ›Ruhe sanft‹. Wenn schon der Burstah der Broadway von Altholm ist, lang ist er nicht. Nach drei Minuten ist der junge Mann am letzten Haus, direkt am Bahnhofsplatz. Er spuckt kräftig aus und verschwindet nach dieser neuen Äußerung seiner Stinkwut im Hause der Pommerschen Chronik für Altholm und Umgebung, Heimatblatt für alle Stände. (Fallada 1964: 7)

Das filmische Bewegungsbild erscheint durch den Ablauf in der Zeit immer als ein präsentisches Bild. An diesem Effekt von Gegenwärtigkeit und Lebendigkeit ist Fallada interessiert, er erzählt daher im Präsens und verzichtet auf das epische Präteritum. Noch wirkungsvoller gleicht die unscheinbare Zeitangabe im dritten Abschnitt (»nach drei Minuten«) den Einstieg in den Roman einem filmischen Verfahren an. Mit einem Schlag wird aus dem Romananfang eine Sequenz, eine genau ausgestaltete zeitliche Folge aneinander montierter Einzelmomente, deren Fügung durch eine ausgeklügelte Bewegungschoreographie noch einmal betont wird. Nach allen Regeln filmischer Kunst wird der Erzählbeginn in Szene gesetzt. Mühelos lassen sich die drei ersten Abschnitte in eine Abfolge von drei Kameraeinstellungen auflösen, so genau sind die Blicke des Erzählers organisiert, so präzise sind Figur und Raum in eine Relation gebracht Ohne Umschweife, direkt und unmittelbar ist der Erzähler in einer Halbnaheinstellung bei

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seinem Protagonisten, folgt seiner hastigen Bewegung. Wiederum im Stil einer Kinoszene werden Blicke etabliert, Blicke mit Bedeutung aufgeladen, Blickachsen gezeichnet, die Figur und Raum in eine Verbindung bringen. In einer Naheinstellung wird der dahinstürmende junge Mann näher in Augenschein genommen, Kleidung und Aussehen werden quasi abgetastet, erste Hypothesen und Zuordnungen vorgenommen. Schließlich endet die Sequenz mit einer Entfernung von der Figur und einer Öffnung hin zur Halbtotale. Der erzählerische Blick konzentriert sich nun auf Raum und Umgebung. Der auktoriale Erzähler macht sich fast unsichtbar. Lediglich an zwei Stellen ergänzt er das Sichtbare, Konkrete und Gegenständliche. Der Hinweis, dass die bildbeherrschende Figur, der junge Mann, der zum wichtigsten Protagonisten des Romans werden soll, verheiratet ist und der ironische Vergleich Altholms mit der Weltstadt New York sind Zugaben des Erzählers, die das Sichtbare überschreiten. Ansonsten beschränkt sich das Erzählen strikt auf das Außen, auf die Oberfläche, auf die Bewegung der Figur, auf ihre äußere Erscheinung, die zeichenhaft gelesen und in einer ironischen Wendung fehlgedeutet wird. Die drastische Geste des Ausspuckens stellt der Erzähler ans Ende seiner Sequenz, bis in die Mikrodramatik hinein reicht die wirkungssichere Gestaltung, die den Leser beeindrucken, in den Bann ziehen soll. Wie im Film liegt alles an der Oberfläche. Psychologisierung und Innenschau erübrigen sich. Der Roman Kleiner Mann – was nun? wählt eine andere Variante des filmaffinen Erzählens. Hier sind nicht der Blick von außen und auch nicht das protokollierende Sehen konstitutiv für das Erzählverfahren. Hier schaut Fallada von den ersten Zeilen des Romans an bis zum Ende zusammen mit seinen Protagonisten auf die Welt, erschließt das Sichtbare und Konkrete mit ihren Augen. Es gibt eine Identifikation der Blicke, eine unverbrüchliche Einheit von auktorialem und personalem Erzählen. Innere Rede und Dialog sind in gleicher Weise untrennbar miteinander verbunden.11 Wolf unter Wölfen (1937) offenbart vielleicht am deutlichsten die maßgebende Orientierung des Autors an filmischen Darstellungsverfahren. Die Grundprinzipien sind dem Film abgeschaut. Eine schier unübersehbare Fülle von Figuren wird nebeneinander geführt, wobei sich Fallada der Parallelmontage bedient, die ihre spezifische Wirkung eigentlich nur im filmischen Medium entfalten kann. Nur in den Zeitkünsten, nur im szenischen Ablauf ist es möglich, dem Zuschauer eine paradoxes Ineinander von Gleichzeitigkeit und Abfolge zu suggerieren. Mit den Mitteln der Montage wird, beispielsweise bei einer Verfolgungsjagd, das faktische Nacheinander von szenischen und bildhaften Fragmenten zu einer simultanen Gegenwärtigkeit. Diesen Kinoeffekt transponiert Fallada in seinen panoramatischen 11 Wie stark dieser Roman durch einen »Kinoblick« geprägt ist, habe ich in einem Aufsatz gezeigt. (Prümm 1995: 255–272)

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Roman, der einen genau umrissenen Zeitraum thematisiert, die Inflation des Jahres 1923 und der mit Zeit auf vielfältige Weise experimentiert, der das Geschehen rafft und dann aber auch wieder zeitlupenhaft dehnt. Der Wechsel zwischen den Figuren und Schauplätzen wird mit harten Schnitten vollzogen, eine Kollision der Bilder und der Erzählstränge erzeugt. Der Romananfang ist eine klassische Eingangssequenz des Erzählkinos: Ausgehend von einem bildfüllenden Detail, öffnet sich der Bildkader immer mehr. Ein schweifender Blick etabliert die Figuren, ein schlafendes junges Paar, und die Dinge im Raum und in der Zeit, streift panoramatisch die wichtigsten Handlungsorte und Akteure und kehrt am Ende der Sequenz wieder zum Ausgangspunkt, zum nun erwachenden Paar zurück. Sukzessive wird der Kosmos der Erzählung, die Welt der Diegese, sichtbar gemacht. Mit einem Satz, der auch einem Drehbuch entstammen könnte, setzt der Roman ein, beginnt wie ein Funktionstext, der nüchterne, minimalisierte narrative Informationen enthält, Anweisungen für den Prozess der filmischen Inszenierung. Die dann folgende Textpassage erinnert an die Paraphrase einer filmischen Einstellung, die ihre Dynamik durch eine virtuelle, durch eine bewegliche Kamera erhält, die zwischen Nähe und Distanz changiert, die Gesichter und Körper zunächst isoliert, dann zusammenführt in einem Raum; eine Kamera, die durch ihre Flexibilität einen schnittlosen Fluß der Bilder hervorbringt. Der Kopf des Mädchens lag in der Ellbogenbeuge des rechten Arms; der Mund, sachte atmend, war halb geöffnet; das Gesicht trug einen schmollenden und besorgten Ausdruck – wie von einem Kind, das nicht ausmachen kann, was ihm das Herz bedrückt. Das Mädchen lag abgekehrt vom Mann, der auf dem Rücken schlief, mit schlaffen Armen, in einem Zustand äußerster Erschöpfung. Auf der Stirn, bis in das krause, blonde Kopfhaar hinein, standen kleine Schweißtropfen. Das schöne und trotzige Gesicht sah ein wenig leer aus. Es war – trotz des geöffneten Fensters – sehr heiß in dem Zimmer. Ohne Decke und Nachtkleid schliefen die beiden. Es ist Berlin, Georgenkirchstraße, dritter Hinterhof, vier Treppen, Juli 1923, der Dollar steht jetzt – um 6 Uhr morgens – vorläufig noch auf 414 Tausend Mark. (Fallada 1991: 9)

Es ist ein offenes Erzählen, das Fallada hier initiiert. Es beginnt an einem Nullpunkt, mit der Bewegungslosigkeit des Schlafs, mit der elementaren Nacktheit der Körper, mit einem »leeren«, unbestimmten Ausdruck der Gesichter. Aber schon markiert der noch zurückhaltende auktoriale Erzähler erste bedeutungsvolle Zeichen, die auf die kommenden Konflikte verweisen: Sorge, Angst, Bedrückung, Erschöpfung, Trotz werden dem Sichtbaren, den reinen Körperbildern zugewiesen. Von einem Stylo-Kamera, in

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Umkehrung von Alexandre Astrucs Caméra-stylo,12 könnte man sprechen. Eine virtuelle, eine gedachte Kamera führt den Blick, zeichnet die erzählerische Linie von der Großaufnahme des Mädchenkopfs, dem noch einmal eingeschränkten Blick auf den Mund über eine zwischenzeitliche Distanz, die nun beide Körper erfasst, die zum Detailblick auf die schweißnasse Stirn des Mannes zurückkehrt und schließlich in der Totale des Raumes endet. In der Folge erweitert der Erzähler den Horizont, auch unter Zuhilfenahme der auditiven Schicht, der Geräusche und der Stimmen, verlässt den engen Raum, erfasst in immer größeren konzentrischen Kreisen den Hinterhof, den Wohnblock, die Straße, die Stadt, um am Ende in einer Kreisbewegung zu dem jungen Paar zurückzukehren. Sowohl das Erste Kapitel als auch den gesamten Roman rahmt Fallada mit einer solchen filmischen Einstellung, denn am Ende nimmt er in einem Schlußtableau den Anfang wieder auf: das Bild des schlafenden, besorgten und verängstigten Paares, jedoch mit einer geringfügigen, aber entscheidenden Verschiebung, mit einer leichten Retusche hin zum glücklichen Ausgang einer selbstgewissen, sorglosen Liebe. Von einem Schlüsselbild Falladas könnte gesprochen werden, auf das er in seinen Romanen, Erzählungen und Erinnerungsbüchern immer wieder zurückkommt: Das junge, sich liebende Paar, das ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist, sich aneinander klammert, das sein Glück und seine Integrität gegen ein Außen, gegen eine feindliche Welt behaupten will, aber von der Ahnung beschlichen wird, dass die Geschichte nicht gut ausgehen wird. Dass Hans Fallada diesem Schlüsselbild in einem seiner wichtigsten Romane eine filmische Form verleiht, zeigt eindrücklich, wie sehr ihm dieses Medium am Herzen lag.

Literatur Astruc, Alexandre (1948): Naissance d’une nouvelle avant-garde: La Caméra-Stylo. In: L’Ecran Français. Nr. 144. 30. 3. 1948. Deutsche Übersetzung in: Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente. Band 2: 1945 bis heute. Hg. von Theodor Kotulla. München: Piper 1964, 111–115. Balázs, Béla (1924): Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films. Wien, Leipzig: Deutsch-Österreichischer Verlag. Balázs, Béla (1930): Der Geist des Films. Halle: Knapp. Caspar, Günter (1988): Fallada-Studien. Berlin, Weimar: Aufbau. 12 Von einer »Caméra-Stylo« hatte Alexandre Astruc in einem berühmten Manifest aus dem Jahre 1948 als einer Errungenschaft der Moderne gesprochen, von einer Kamera, die beweglich sei wie ein »Federhalter« (»Stylo«) und die das Filmen zu einer »Schrift« werden lasse. (Astruc 1964: 111–115)

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Crepon, Tom (1983): Literarisches Schaffen in äußerer Isolation. Übersicht über Auslandsaufenthalte und Gefängnisstrafen. In: Hans Fallada. Werk und Wirkung. Hg. von Rudolf Wolff. Bonn: Bouvier (Sammlung Profile 3), 18–41. Crepon, Tom (1981): Leben und Tode des Hans Fallada. Hamburg: Hoffmann und Campe. Fallada, Hans (1929a): Neue Filme. Der weiße Harem – Ballet. Holsten=Palast. In: Generalanzeiger für Neumünster vom 20. 3. 1929. Fallada, Hans (1929b): Ausflug nach Amerika mit der Hapag. In: Generalanzeiger für Neumünster vom 16. 3. 1929. Fallada, Hans (1929c): Die Nacht ohne Hoffnung. Hansa-Theater. In: Generalanzeiger für Neumünster vom 20. 3. 1929. Fallada, Hans (1929d): Die Mitternachtstaxe. Hansa=Theater. In: Generalanzeiger für Neumünster vom 20. 4. 1929. Fallada, Hans (1929e): Alt=Heidelberg. Holsten Palast. In: Generalanzeiger für Neumünster vom 6. 3. 1929. Fallada, Hans (1964): Bauern, Bonzen und Bomben. Roman. Reinbek: Rowohlt (rororo Taschenbuch Nr. 651/52). Fallada, Hans (1991): Wolf unter Wölfen. Roman. Hamburg: Rowohlt (rororo Taschenbuch 1480). Gansel, Carsten/Liersch, Werner (2009) (Hgg.): Hans Fallada und die literarische Moderne. Göttingen: V&R Unipress (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 6). Grafe, Frieda (2007): Ins Kino! Münchner Filmtips 1970–1986. Berlin: Brinkmann & Bose (Ausgewählte Schriften in Einzelbänden 11). Liersch, Werner (1993): Hans Fallada. Sein großes kleines Leben. Erweiterte Neuauflage. Hildesheim: Claassen (Claassen-Lebensläufe). Manthey, Jürgen: (1963): Hans Fallada in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (rowohlts monographien, hg. von Kurt Kusenberg, 78). Müller-Waldeck, Gunnar/Ulrich, Roland (1997) (Hgg.): Hans Fallada. Sein Leben in Bildern und Briefen. Unter Mitarbeit von Uli Ditzen. Berlin: Aufbau. Prümm, Karl (1995): Exzessive Nähe und Kinoblick. Alltagswahrnehmung in Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? In: Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Hg. von Sabina Becker u. Christoph Weiß. Stuttgart, Weimar: Metzler. Wolff, Rudolf (1983) (Hg.): Hans Fallada. Werk und Wirkung. Bonn: Bouvier (Sammlung Profile 3).

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Krisen, Kriminalität und Katastrophen Falladas Lebensläufe nach abfallender Linie ›Krisen‹ und ›Katastrophen‹ sind Schlüsselbegriffe im Konstrukt der Lebensideologie, das Martin Lindner in seiner wichtigen Studie Leben in der Krise (1994) zu Zeitromanen der ›Neuen Sachlichkeit‹ entwickelte; ich habe mich darauf zunächst als heuristische Vorgabe in meiner Lektüre zu Lebens- bzw. Lebensabschnittsgeschichten von Straffälligen im Prosawerk von Hans Fallada bezogen. Dabei ergab sich, dass sich die hier zu erörternden Erzählungen nicht problemlos nach diesem Schema mit seinen unterschiedlichen Varianten erfassen lassen. Dennoch habe ich in der Titelei zu meinem Beitrag die Aspekte von ›Krise‹ und ›Katastrophe‹ im Sinne von allgemeinen Kategorien zu Lebenserfahrungen und existenziellen Konstellationen beibehalten.1 Der falladeske (alliterationenreiche) Titel enthält zudem eine Anspielung auf Theodor v. Hippels komisch-satirischen Roman Lebensläufe nach aufsteigender Linie, der 1778 erschien und im Zusammenhang des (im späten 18. Jahrhundert verdichteten) Interesses an repräsentativen authentischen und fiktiven Lebensgeschichten steht. Ich beziehe mich in den folgenden Erörterungen im Wesentlichen auf drei Texte von Hans Fallada, die mit den Untertiteln ›Tagebuch‹ und ›Roman‹ versehen wurden. Allerdings verlieren diese Zuweisungen faktualer 1

Verzichtet habe ich auf ›Malheurs‹, die ich zunächst im Loriot’schen Sinne von ›kleinen Katastrophen (mit Wucherungsmöglichkeiten)‹ in mein Untersuchungskonzept einbezogen hatte – mit dem Seitenblick auf Marion Heisters Studie »Winzige Katastrophen«. Eine Untersuchung zur Schreibweise von Angestelltenromanen (Frankfurt/M. 1989); sie bezieht sich auf (klein-)kriminelle Störungen und Brechungen von Lebensläufen, die sich jedoch (›schicksalhaft‹) zu einem Umbruch im Lebenslauf ausweiten. Fallada hat ›Malheur‹ vermutlich weitreichender verstanden als – neudeutsch formuliert – ›nachhaltiges Unglück‹. Davon zeugt eine Sammlung von Kurzgeschichten, die Anfang der 1930er Jahre publiziert wurde – also im zeitlichen Zusammenhang mit der Ausarbeitung meines Bezugstextes Wer einmal aus dem Blechnapf frißt; die Sammlung firmiert als Der Pleitekomplex. Sieben Malheurgeschichten (Berlin 1991); u. a. wird das ›Malheur‹ der Arbeitslosigkeit thematisiert – vgl. dazu Peter 1995.

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und fiktionaler Genres bei möglichen Bezugnahmen auf Rudolf Ditzens Lebensgeschichte an Eindeutigkeit. Obwohl es sich bei den herangezogenen Texten um autobiographisch gesättigte Ausarbeitungen von Ditzens Erfahrungen aus Gefängnishaft und Verwahrung in Heil- und Pflegeanstalten handelt, soll dieser Referenz nicht nachgegangen werden; Günter Caspars Fallada-Studien (1988) geben dazu hinreichend Auskunft.2 Wichtiger erscheint mir die Frage nach der zeittypischen Repräsentativität der Figurenkonzeption für die Protagonisten in Falladas Erzählprosa. Zu meinen Bezugstexten zählt zunächst – in autodiegetischer Narration – Strafgefangener, Zelle 32 mit der Tagebuch-Fiktion für den Aufzeichnungszeitraum 22. Juni bis 2. September 1924.3 Der Text wurde posthum 1998 veröffentlicht, er gehört in die Frühphase von Falladas schriftstellerischem Schaffen. Einem heterodiegetischen, in Ansätzen figurierten, aber ›wissensmächtigen‹ und seinen Figuren moralisch überlegenen Erzähler ist der Roman Wer einmal aus dem Blechnapf zugeordnet; er wurde im März 1934 publiziert,4 also ein Jahrzehnt nach dem Berichtsjahr für das Gefängnis-Diarium. In der Entstehungszeit der frühen 1930er Jahre lautete der Arbeitstitel mit Bezug auf den Ganoven-Jargon »Kippe oder Lampen« (also: Anteil oder Anzeige).5 Weitere zehn Jahre später wurde im Herbst 1944 das als Roman ausgewiesene autodiegetische Diarium Der Trinker geschrieben; veröffentlicht wurde der vom Autor nicht weiter bearbeitete Text posthum 1950 bei Rowohlt und 1953 im Ostberliner Aufbau-Verlag; in der Literaturkritik und in der Forschungsdiskussion wird auf das mögliche Vorbild von Dostojewskis Der Spieler verwiesen.6 Nicht mehr berücksichtigt habe ich das 2009 erschienene Gefängnistagebuch In meinem fremden Lande (vgl. dazu Caspar 1988: 212–218); es wurde im Herbst 1944 nach Abschluss der Trinker-Erzählung in der Strelitzer Heil- und Pflegeanstalt begonnen und ist nicht auf die Anstalts- und Verwahrungssituation sowie auf Lebensläufe des ›abweichenden Verhaltens‹ bezogen, sondern eher der Memoiren-Lite2 3 4 5

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Vgl. Caspar 1988: 66–119, 183–212; dann grundlegend Williams 2002. Ditzens Gefängnishaft in Greifswald dauerte vom 20. 6. bis zum 3. 11. 1924. Vgl. dazu Williams 2002: 203; Ditzen hatte sein Typoskript am 13. 11. 1933 abgeschlossen. Erste Aufzeichnungen entstehen bereits 1925; vgl. zu den autobiographischen Aspekten Williams 2002: 200 f. und Caspar 1988: 85 ff.; 1926 wurde Ditzen wegen Unterschlagung zu zweieinhalb Jahren Gefängnis in Neumünster verurteilt, sechs Monate Untersuchungshaft in Berlin-Moabit und Kiel wurden angerechnet, Anfang Januar 1928 endete die Haftzeit. An der Haftanstalt Neumünster orientiert sich in Wer einmal aus dem Blechnapf frißt die Darstellung des Gefängnisses, in dem Willi Kufalt seine erste Haftstrafe verbüßt. Vgl. insbesondere den Beitrag von Jürss 1995; bereits Anfang der 1920er Jahre ist Falladas Text Der tödliche Rausch. Sachlicher Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein entstanden – vgl. in diesem Band den Beitrag von Knüppel.

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ratur zuzurechnen.7 Den Zugang zu den genannten drei Texten will ich auf simple Weise suchen: mit Hinweisen zur Konzeption der jeweiligen Protagonisten unter dem Aspekt von ›literarischer Anthropologie‹8 und zu den Konstruktionsweisen der erzählten Geschichten, wobei für beide Aspekte die spezifischen narrativen Vermittlungen, die Perspektivierungen des Erzählens zu beachten sind.

Figurenkonzeption Das erzählende und erlebende Ich in Strafgefangener, Zelle 32 bleibt in der Buchausgabe von 1998 ohne Namen; wo ein Name stehen könnte, wurden die Buchstaben aus »persönlichkeitsrechtlichen Gründen« überklebt.9 Doch ist dieses ›Ich‹ Schriftsteller und referiert auf Publikationen, die unter Falladas Namen erschienen sind. Die Protagonisten der beiden anderen Bezugstexte heißen Willi Kufalt und Erwin Sommer. Die drei Handlungsträger mit dem für Fallada vielstrapazierten Kleinbürger-Rubrum einzuordnen,10 wäre in soziologischer Hinsicht unzulässig – angesichts der spärlichen Status-Informationen in den beiden ersten Texten sowie von Erwin Sommers Status als Unternehmer- und Villenbesitzer. Ich ziehe es stattdessen vor, die Kennzeichnung ›ein Nebbich‹ einzusetzen. Carl Sternheim hat den Begriff aus dem Westjiddischen in den 1920er Jahren mit der Titelei seines 1922 veröffentlichten Lustspiels Der Nebbich literaturfähig gemacht. In einer Rezension zur Darmstädter Uraufführung im selben Jahr heißt es, der Nebbich sei das »Uneigene, Unpersönliche in Person« (Sternheim 1964: 509 [Anmerkungen]); in der aktuellen Ausgabe des Duden wird ›Nebbich‹ als umgangssprachlicher Terminus erklärt mit »unbedeutender Mensch, Nichtsnutz«; im Wiktionary sind als Parallelbegriffe »Lusche, Nichts, Niemand, Niete, Null, Paria, Underdog«11 eingesetzt, und in Pinnebergs ›er7

Die tagebuchartigen Aufzeichnungen gelten vor allem Ditzens Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit Denunzianten- und Duckmäusertum. 8 Vgl. dazu für einen größeren literaturgeschichtlichen Zusammenhang Betz/Mayer 2005. Im Vorwort (Bd. 1, XI–XV, hier XII) wird »Abweichung« bestimmt im Hinblick auf anthropologische Normsetzungen und Normerwartungen von Kulturen. 9 Als Figurenbezeichnung bleibt »Km.« erhalten; das Kürzel lässt sich auf Ditzens Gudderitzer Freund Johannes Kagelmacher beziehen. 10 Auch Johannes Pinneberg in Kleiner Mann – was nun? (1932) wird eher mit moralischen als mit soziologischen Kriterien als »kleiner Mann« charakterisiert. – In der Forschungsliteratur zu Fallada wird vielfach eine ›Brüder‹-Gruppe mit Tedrup, Pinneberg und Kufalt gebildet – vgl. u. a. Caspar 1988: 118 f.; Zachau 1990: 107–127. 11 .

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lebter Rede‹ in Kleiner Mann – was nun? heißt es: »Er war ein Garnichts.« (Fallada 1964: 147)12 Ich meine, dass damit der Grundtypus, den Fallada zur Gestaltung seiner kriminellen Protagonisten nutzt, in erhellender Weise beschrieben werden kann und dass so – über den Status des Kriminellen, des Strafgefangenen und Suchtabhängigen hinaus – Falladas »kleiner Mann« in seiner mollusken Qualität zu charakterisieren wäre. In diesem Sinne kommentiert der auktoriale Erzähler zur sozialen Existenz von Johannes Pinneberg: »Pinneberg ist nicht hart, Pinneberg ist weich, wenn sie auf ihn drücken, verliert er die Form, er geht auseinander, er ist nichts, Brei.« (Fallada 1964: 181, vgl. dazu Springer 2008: 373) Solchem Druck sehen sich die Protagonisten meiner Bezugstexte insbesondere in der Situation als Strafgefangener oder Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt ausgesetzt. Da in Falladas Erzählprosa die Machtstrukturen der Gefängnis- und Anstaltswelt im Wesentlichen die Konstellationen der Gesamtgesellschaft abbilden,13 verändern sich die Einstellungen und Aktionen dieser Figuren auch in der sog. Freiheit nur unwesentlich. In der Fallada-Forschung sind für den hier zu beschreibenden (›Nebbich‹-)Typus das Verlangen nach Autorität, Unterwerfungsbereitschaft und Duckmäusertum als zeittypische Verhaltensweisen um 1930 herausgestellt worden. Im Diarium Strafgefangener, Zelle 32 wird in den dort zitierten literarischen Ausarbeitungen von Situationen der Gefangenschaft durch Oscar Wilde (»Reading-Ballade«) oder Rilke (»Der Gefangene I und II« in Neue Gedichte) noch ein konkurrierendes Existenz-Modell aufgerufen: die pathetische Stilisierung des Straffälligen in der Opferrolle14 oder als – in seiner Andersartigkeit – provozierender ›Außenseiter der Gesellschaft‹. Den Pathos-Figuren von Wahnsinnigen und Verbrechern in Texten des Expressionismus hatte Ludwig Rubiner 1912 in Die Aktion die Schriftsteller als Sympathisanten und Chronisten des Außenseitertums zugeordnet: Wer sind die Kameraden? Prostituierte, Zuhälter, Sammler von verlorenen Gegenständen, Gelegenheitsdiebe, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Vielfraße, Pennbrüder, Einbre12 Im Kontext: »Ja, er war klein und elend; er schrie und krakehlte und brauchte seine Ellbogen, um seinen Platz zu halten im Leben, aber verdiente er einen Platz? Er war ein Garnichts.« – Kennzeichnend für die Konzeption der Protagonist/innen seiner Erzähltexte ist, dass Fallada sie (ungeachtet vieler individualisierender Kennzeichnungen) so anlegt, dass sie sich einer homogenisierbaren Gruppe (einer ›kollektiven Identität‹) zuordnen lassen. 13 Vgl. u. a. Caspar 1988: 108; Zachau 1990, Kap. 4: »Das Gefängnis als Allegorie für die Weimarer Republik«, insbes. 119; Ulrich 1995: 130–140: »Gefängnis als ästhetischer Erfahrungsraum bei Fallada«, insbes. 133 f. 14 Vgl. dazu auch die Figurenkonzeption von Franz Biberkopf in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929).

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cher, Erpresser, Kritiker, Schlafsüchtige, Gesindel. Und für Momente alle Frauen der Welt. Wir sind Auswurf, der Abhub, die Verachtung. Wir sind die Arbeitslosen, die Arbeitsunfähigen, die Arbeitsunwilligen.15

Solche emphatisch stilisierenden Darstellungsweisen gelten auch für den frühen Fallada-Text: »Eiszeit. Steinzeit« (7)16 wird der Haft assoziiert; in den Wandkritzeleien der Zelle spiegele sich »zusammengekrampftes Leben« (28) (vgl. auch Ulrich 1995). Dieser pathetischen Stillage ist auch der zunächst gewählte Titel des Romans zuzuordnen, mit dessen Ausarbeitung der Ich-Erzähler während der Haft beginnt (135): »Mörder, Liebe und die Einsamkeit« (vgl. dazu Williams 2002: 100).17 Gegenläufig-nüchtern gehalten sind die gleichsam ethnographischen Beschreibungen des Milieus der Haftanstalt18 und eine vielfach selbstkritische Kennzeichnung des erlebenden Ichs durch den Erzähler.19 Mit dem Eintritt in die Strafanstalt wird für den Erzähler des Gefängnistagebuchs das bis dahin geführte (vermeintlich selbstbestimmte) Leben in Folge der erfahrenen Ordnungs- und Unterwerfungsrituale zu einem fremdbestimmten: »Plötzlich ist das eigene Leben zu Ende, nun muß man das Leben irgendeines andern führen, ein fremdes, befohlenes Leben« (7 f.); offen bleibt die Frage, ob sich nach der Entlassung – nach dem verordneten Vegetieren in der Monotonie des Gefängnislebens – das ›alte Leben‹ zurückgewinnen lässt. Doch fortschreitend versickert in den Aufzeichnungen die Klage über den Entzug von Lebensmöglichkeiten – obwohl das erzählende Ich weiß, dass sein Leben nun nach einer abfallenden Linie verläuft, dass er nach »ganz unten« gefallen ist (99).20 Die Gleichförmigkeit des Gefängnislebens (97) wird als Entlastung von Orientierungen und Entscheidun15 Rubiners Artikel erschien in: Die Aktion 2 (1912), Sp. 645–652 u. 709–715. 16 Im fortlaufenden Text zitiert wird Strafgefangener, Zelle 32 nach der im Literaturverzeichnis aufgeführten Ausgabe mit den Seitenzahlen in Klammern. 17 Nachdem Ditzen am 3. 11. 1924 aus dem Gerichtsgefängnis Greifswald entlassen wurde, schloss er im Dezember 1924 die Ausarbeitung des Romans ab; als Titel galt nun: »Im Blinzeln der Großen Katze« (Williams 2002: 101); der Protagonist Friedrich Lütt (der Nachname verweist bereits auf Falladas Protagonistengruppe der ›kleinen Leute‹) ist ein Vorläufer von Willi Kufalt und Erwin Sommer (ebd.: 102). 18 Vgl. Ulrich 1995: 135; Zachau 1990: 102. – Die Vorgehensweisen eines quasi-ethnologischen Erkundens werden sowohl von vom Typus des selbstkritischen autodiegetischen Erzählers als auch vom heterodiegetischen Erzähler in Wer einmal aus dem Blechnapf frißt in der Haltung eines ›teilnehmenden Beobachters‹ umgesetzt. 19 Vgl. Ulrich 1995: 132: In den Texten des sog. Frühwerks erprobe Fallada unterschiedliche Schreib- und Darstellungsstile – auch innerhalb eines Textes. 20 Vgl. Fallada 1964: 143: Lämmchen nimmt sich mit Entschiedenheit vor: Pinneberg »soll nicht runter«.

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gen erlebt; regelmäßige Gefängnisarbeit wie das Holzsägen ist nach einer Einarbeitungszeit (und mit gutem Werkzeug) »wirklich eine reine Freude« (161); der Strafgefangene geht völlig in dem mit Fremderwartungen besetzten Rollenverständnis auf (139 u. 146); in seinen Aufzeichnungen wird allerdings die bereits vollzogene Veränderung in Einstellung und Verhaltensweise selbstkritisch als Unterwürfigkeit reflektiert. Was in Strafgefangener, Zelle 32 nicht mehr dargestellt wird – die Entlassung aus dem Strafvollzug – ist unter Einschluss der letzten zweieinhalb Hafttage in Wer einmal aus dem Blechnapf frißt der Ausgangspunkt zur Erzählung über den vergeblichen Versuch von Kufalt, im ›Leben draußen‹ Fuß zu fassen.21 Ähnlich wie im Diarium werden Ursachen und Ablauf der Straftat des Protagonisten nur beiläufig vermittelt: Der 23jährige Angestellte Willi Kufalt wurde wegen Urkundenfälschung und Unterschlagung zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt.22 Die Strafvollzugsordnung formuliert als Bildungsvorgabe für einen humanen Strafvollzug, dass die »geistige und sittliche Hebung« des Straffälligen anzustreben sei; »auf Erziehung zu einem geordneten, gesetzmäßigen Leben nach der Entlassung ist besonders hinzuwirken. Das Ehrgefühl ist zu schonen und zu stärken« (72). Die Realität des Gefängnisalltags hat Kufalt dagegen völlig anders erfahren: Einstellungen und Aktionen des Gefängnispersonals und der Mithäftlinge führen nur dazu, ein Selbstverständnis als Strafgefangener zu entwickeln, sich dem Druck der Anderen nicht zu widersetzen und ein ›Mustergefangener‹ zu werden. Obwohl Kufalt sich bei der Entlassung aus Selbstachtung dem Fortgang der institutionellen Unterwerfungen widersetzen will (53), kriecht er auch in dieser Konstellation wieder zu Kreuze (67) (vgl. auch Kreutzahler 1987: 290–303, hier 296). Er hat sich während seiner Haft eingerichtet im ›Abgerichtetwerden‹; der fortschreitende Abbau des Persönlichkeitsgefühls (vgl. Zachau 1990: 112) führt ihn und andere Mitgefangene zu der resignativen Bilanz, dass einmal Strafgefangener gewesen zu sein, in der Selbst- und Fremdwahrnehmung heißt, immer Strafgefangener zu sein: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst … (37 u. 72). Trotz mehrfacher Versuche gelingt es Kufalt nach seiner Entlassung – ähnlich wie Franz Biberkopf – nicht, ein ›geordnetes Leben‹ herzustellen (321 f.), selbst die Versuche zur sog. ehrlichen Arbeit sind mit den Verhaltensweisen, die Kufalt im Strafvollzug auch gelernt hat, versetzt: mit Berechnung und Unaufrichtigkeit, Austricksen und kleinen Betrügereien. 21 Die beiden ersten Kapitel stehen stellvertretend für die fünfjährige Haftzeit. Eine mögliche kalendarische Fixierung der Handlung wird nur angedeutet – vgl. Caspar 1988: 118: Verurteilung von Kufalt im Jahr 1924, Entlassung im Mai 1929, erneute Haft im Frühjahr 1930. 22 Die Gefängnis-Szenerie folgt dem Muster von Neumünster, wo Ditzen von 1926 bis 1928 einsaß.

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Kurzzeitig erfolgreich ist Kufalt nur als Ganove: »Von Natur aus war er kein Verbrecher, er war es nur geworden, er hatte Verbrechen gelernt« (323) – er ist kein zielorientierter Krimineller (wie der Gewohnheitsverbrecher Batzke): »seine Feigheit, seine Unentschlossenheit waren ihm auch da hinderlich« (323) (vgl. auch Kreutzahler 1987: 299); er reagiert auf den Druck der Verhältnisse und derjenigen, die sie gestalten, und auch als Krimineller bleibt er ein ›autoritärer Charakter‹, sehnt sich nach ›dem starken Mann‹ (als dieser erscheint ihm Batzke).23 In diesem Sinne sah auch der Autor in dem Protagonisten seines Romans einen Willensschwachen, der hineinschliddert in die Kriminalität.24 Den Lesern wird Kufalt als Person bzw. Unperson vermittelt, die ein Produkt der Gefängniszeit und ihrer Nachfolgen (wie etwa dem Vorurteil gegen Vorbestrafte) ist. Die Vorgeschichte des Verbrechens, das ihn ins Gefängnis brachte, wird nicht thematisiert; die erzählte Figur Willi Kufalt erfährt ihre Sozialisation im Gefängnisleben (vgl. Kreutzahler 1987: 298). Merkwürdig nimmt sich allerdings ein kurzer Rückblick in die Zeit der Pubertät des Gymnasiasten Willi Kufalt aus, der eingeschoben wird (371– 379), ehe Kufalt zum zweiten Mal zu einer Haftstrafe verurteilt wird. Um lange Schulwege zum Gymnasium einer ›kleinen Stadt‹ zu ersparen, war der Sohn eines Rittergutsinspektors im Haushalt des Stadtpfarrers untergebracht worden. Der Pastor nahm Anstoß an der unerlaubten Kontaktaufnahme des 15jährigen Gymnasiasten mit einer etwa gleichaltrigen Schülerin und kündigte dem Vater das Unterbringungs- und Betreuungsverhältnis. Der Vater, der den Annäherungsversuch seines Sohnes nicht als ›Vergehen‹, sondern als Dummheit kennzeichnete, sah darin dennoch den Anlass, aus finanziellen Erwägungen den Abbruch der Gymnasialausbildung zu vollziehen. Die ›Lehre‹, die er seinem Sohn für das Leben mitgeben wollte, lautete: Auch Dummheiten haben wie Schlechtigkeiten ihre Folgen (378); solchen Folgen müsse man selbstkritisch und aktiv begegnen. Der Sohn Willi bringt dazu in diesem Kasus wie auch in späteren Fällen von Malheurs und Katastrophen keine Entschlusskraft ein, sondern erschöpft sich im Selbstmitleid: 23 Vgl. Kreutzahler 1987: 295 f.: Batzke hat für Kufalt dieselbe Bedeutung wie Heilbutt für Pinneberg. 24 So Caspar 1988: 99. – Die Figuren-Konzeption von Kufalt ist am ehesten unter Typ 3.2 einzuordnen in die Verbrecher-Typologie, die Birgit Kreutzzahler 1987 (IV f.) zu den Romanen der Weimarer Republik entwirft: 1. der Verbrecher als Außenseiter – 1.1 als Symbol für die fundamental verdorbene Republik oder (generell) für die moderne Zivilisation, 1.2 als positive Gegenfigur zur modernen Zivilisation; 2. der Verbrecher als ambivalente Figur – 2.1 als Träger einer Ideologie, 2.2 als Gewalttäter und Machtmensch, 2.3 als Rebell und Bürger, 2.4 als unschuldiger Triebtäter; 3. der Verbrecher als Jedermann – 3.1 als Gentleman-Verbrecher, 3.2 als der kleine Mann, 3.3 in psychologischer Sicht, 3.4 als Opfer, 3.5 zwischen Unschuld und Verantwortung, 3.6 in justizkritischer Sicht, 3.7 als Bürger.

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Die Lebenslehre seines Vaters habe als Versuch zur Persönlichkeitsbildung nichts gefruchtet. Nach diesem Rückblick wird die Erzählung fortgesetzt mit der Einlieferung Kufalts zur erneuten Gefängnishaft (381 ff.). Mit bissiger Ironie berichtet der Erzähler, wie sich Kufalt, der orientierungslose Nebbich, im fremdbestimmten Gefängnisleben wie zuhause fühlt und zitiert seine Gedankenrede: »Hier braucht man nichts zu beschließen. […] ›Schön, so’ne Ordnung‹ [...]« (388). Über weite Strecken des Romans wird das Geschehen aus der Perspektive Kufalts, in Mitsicht mit dem Protagonisten vermittelt – vielfach in direkter Rede (in Dialogen und Polylogen) oder in Gedankenrede ohne einleitende (inquit-)Formel, zudem in Erlebter Rede und im Übergang der transponierten Gedankenrede zum Inneren Monolog.25 Der Nebbich wird gleichsam vorgeführt zur kritischen Wahrnehmung durch die Leser, die dabei auch durch Kommentare des souverän schaltenden und waltenden Erzählers veranlasst und gelenkt werden. Das von Kufalt oft praktizierte Selbstmitleid soll nicht in Mitleid der Leser umgesetzt werden.26 Ebenso vorgeführt wie die Perspektivfigur Willi Kufalt wird der autodiegetische Erzähler Erwin Sommer in Der Trinker,27 der offenkundig ein unzuverlässiger Erzähler ist,28 was allerdings (angesichts der ausgebliebenen Schlussredaktion des Textes) vom Autor unbeabsichtigt sein könnte. Ähnlich wie in beiden bislang besprochenen Erzählwerken wird keine Entstehungs- und Begründungsgeschichte für das abweichende Verhalten des Protagonisten vermittelt. Dargestellt wird der Vorgang, in dem eine Person sozusagen widerstandslos ›entkernt‹ wird, um dann völlig dem Druck der äußeren Verhältnisse ausgesetzt zu sein. Zu Beginn der Erzählung erfährt man,29 dass der begüterte Geschäftsmann Erwin Sommer kürzlich 41 Jahre alt geworden ist, dass nach 14 Jahren des Zusammenlebens mit der auch beruflich tüchtigen, kinderlosen Ehefrau das Klima zwischen den Ehepartnern nicht mehr das beste ist, dass sich Sommer antriebslos, ja geradezu erschlafft fühlt (21). Ein geschäftlicher Misserfolg wird zum Auslöser der Trunksucht, 25 Vgl. die detaillierten Beispiele aus Kleiner Mann – was nun? bei Springer 2008: 372–374. 26 Vgl. zum Selbstmitleid Kufalts u. a. Kreutzahler 1987: 297; zur Lenkung der Leser-Sympathie u. a. Caspar 1988: 109; Zachau 1990: 114 f. 27 Vgl. zu den autobiographischen Bezügen Caspar 1988: 184: Ditzen wurde im Herbst 1944 in die Strelitzer Landesheilanstalt zur Beobachtung eingewiesen (und im Dezember 1944 entlassen), weil er Ende August 1944 auf seine Ehefrau geschossen hatte; im September und Oktober 1944 wird Der Trinker geschrieben. 28 Vgl. Williams 2002: 314: Die Deutung des Geschehens durch den Leser ist nicht an die Selbstdeutungen der autodiegetischen Erzählinstanz (Erwin Sommer) gebunden; zudem Caspar 1988: 204–212. 29 Im fortlaufenden Text zitiert wird Der Trinker nach der im Literaturverzeichnis aufgeführten Ausgabe mit den Seitenzahlen in Klammern.

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in deren Folge – so das Erzähler-Ich – »sich alle Gewohnheiten meines Lebens [änderten], geheimnisvollen Einflüssen war ich ausgeliefert« (15); er findet keine Kraft, sich dagegen zu wehren. Diese moralisch unzuverlässig zu nennende Selbstdeutung beschreibt die aus den beiden anderen Bezugstexten bekannte Konstellation einer Substanzlosigkeit der Person. Und wiederum beginnt – wie in Strafgefangener, Zelle 32 – ein Lebenslauf nach abfallender Linie: »Recht so! Immer tiefer hinab. Immer schneller hinein. Nun gibt es doch kein Halten mehr!« (20) Dazu tragen weitere geschäftliche Fehlschläge, erste Erfahrungen mit den Auswirkungen der Trunksucht und Schuldgefühle gegenüber der Ehefrau bei: »Ich hatte, endgültig, meine Stellung und meinen Sinn im Leben verloren, und ich fühlte nicht die Kraft in mir, eine neue zu suchen oder gar um die verlorene zu kämpfen« (21). Die neue Lebensrolle des Suchtkranken füllt Sommer bedingungslos aus; er gewöhnt sich an »dieses Leben zwischen Trunkenheit und Übelkeit« (61) – so wie Kufalt an die Sträflingsrolle von Unterwerfung und Selbstverlust. Daran ändert sich auch nichts, als Sommer mit seiner Trunksucht von dem – wie es heißt – proletarischen Zimmervermieter Lobedanz ausgenommen und schließlich auch bestohlen wird (73 ff.). Nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau und einer Morddrohung (64 f.) wird Erwin Sommer festgenommen (85 ff.), wegen Mordversuchs beschuldigt (92 u. 108 f.) und in Untersuchungshaft eingeliefert. Ein Gespräch mit dem für den Gefangenen verantwortlichen Wachtmeister Schulze nutzt Sommer zu einer Art Beichte (96 f.); ähnlich wie bei Willi Kufalt verhindert sein ausuferndes Selbstmitleid eine Veränderung des ›status quo‹; dem Wachtmeister ist gegenüber den Lesern die Rolle des kritischen Kommentators übertragen, die im Kufalt-Roman der heterodiegetische Erzähler wahrnimmt. Unter den Haftbedingungen wird Sommer – gleichsam problemlos – vom Alkohol entwöhnt; er ersetzt die molluske Existenz des Trinkers durch die des Häftlings; so meldet sich Sommer beispielsweise freiwillig zur Gefängnisarbeit des Holzsägens, um seinem Mitgefangenen auf Zeit entfliehen zu können (103). Im Alltag von Gefängnisarbeit und den anderen Gefängnisroutinen gleitet »das Leben [...] dahin, ich lebte in einem – täuschenden – Gefühl von Sicherheit und Regelmäßigkeit. Die Zeiten der Unordnung und Gefahren schienen vorbei, und es kam mir so leicht vor, dieses Leben auch draußen fortzusetzen, ein stilles, friedliches Leben, fast ohne Zukunft« (106). Wie in diesem Zitat mit der Wendung vom »täuschenden Gefühl« signalisiert, kann der trocken gelegte Alkoholiker seine Situation durchaus kritisch bedenken und ergeht sich in Selbstvorwürfen, doch zeigt er weder Antrieb noch Kraft, um aus der (in Folge von ›Unrechtlichkeit‹) fremdbestimmten Lebenssituation wieder in das sog. bürgerliche Leben zurückkehren zu wollen; er ist als Unterworfener einer gesellschaftlichen In-

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stitution im apathischen Dasein stillgestellt (vergleichbar der Existenzform, in die sich Kufalt am Ende seiner berichteten Lebensgeschichte einfindet) (vgl. Williams 2002: 314 f.). An dieser Einstellung ändert sich auch dann nichts Wesentliches, als Sommer zur Beobachtung (und zum Aufrechterhalten des Alkoholentzugs) in eine Heil- und Pflegeanstalt verlegt wird. In der Heilanstalt soll geklärt werden, ob auf ihn für seinen Anschlag auf die Ehefrau § 51 anzuwenden wäre; offen ist, ob er wieder entlassen werden kann oder ›weggesperrt‹ werden soll: Er lebt in Ungewissheit und Angst (124); die Anstalt erscheint ihm als »Hölle« (131), Ort des Ekels (166) und »Totenhaus« (191); der Wechsel zwischen Selbstkritik und Selbstmitleid prägt sein Erzählen (165 ff.) Obwohl er weiß, wie absurd es ist, »wenn man mit einundvierzig Jahren bei lebendigem Leibe schon tot und gestorben sein soll« (124), kann er dieses Wissen nicht in Entscheidungen und Aktionen umsetzen: Ich bin »nur ein schwacher Mensch« (153). Innerhalb kurzer Zeit ist Sommer auch in der Heil- und Pflegeanstalt für die Insassenrolle zugerichtet: »Ich war eingereiht« (184). Als wegen erneutem Alkoholmissbrauchs seine ständige Unterbringung verfügt wird, gewöhnt er sich widerspruchslos an die veränderte Situation, sieht sich voller Selbstmitleid als »großer Dulder« und redet sich ein: »Ich habe eine behagliche Stellung« (210). Zur eklatanten Aktion der Selbsttötung mit einem Messer fehlt ihm der Mut, doch bleibt schließlich der Todeswunsch erhalten: Mit dem Sputum von Tuberkulosekranken will sich Sommer für das Dahinsiechen infizieren; er träumt davon, auf dem Totenbett mit Alkohol sich in den Rausch des Vergessens zu begeben, um sich theatralisch mit seinem Leiden zu versöhnen (211). In der Textfolge vom Strafgefangenen, Zelle 32 bis zum Trinker wird der Personentypus einer ›kernlosen‹, dem Selbstverschulden (in Folge von Ungeschicklichkeiten, Unaufrichtigkeiten, verlorener Selbstbeherrschung usf.) ebenso wie äußeren Einwirkungen voll ausgesetzten und ›in Brei‹ aufzulösenden Existenz verdeutlicht. In der noch zu leistenden Beschreibung zu Falladas Gestaltung von Geschehen in ›stories‹ wird zu klären sein, ob dabei Malheurs,30 Krisenerfahrungen und Katastrophen eine strukturierende und sinnsetzende Funktion erhalten. Im Blick auf literaturgeschichtliche Entwicklungen und die Fragen nach der Rubrizierbarkeit von Falladas Erzählprosa unter das Ordnungsschema der literarisch differenzierten Konstellationen von ›Lebensideologie‹ bleibt zunächst festzuhalten, dass ›Krisen‹ in den Lebensläufen der Protagonisten wenig emphatisch oder gar heroisch vermittelt werden; angesichts der vorherrschenden Einstellungen von Passivität und Selbstmitleid wird die mögliche Emphase auf der Erzählinstanz 30 Aus Malheurs erwachsen in Falladas Erzähltexten vielfach Krisen, die zu Katastrophen führen können.

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ironisch, melancholisch oder sentimental gebrochen und reduziert, so dass aus den Krisen im schlimmen Fall Katastrophen, jedoch keine Prozesse der pathetischen Akzeptanz oder der spektakulären Umkehr erwachsen. Falladas Figurenkonzept für ›abweichendes Verhalten‹ schließt die Wirkung eines überindividuell zu erfassenden ›Lebensstroms‹, eines dynamischen Lebensgefühls nicht ein. Die erzählten Figuren sind in ihrer Passivität und Kernlosigkeit eher durch einen von ihnen sentimental erfahrenen Mangel in der Partizipation an einem solchen Lebensstrom gekennzeichnet. Eine vergleichende Untersuchung zu Willi Kufalt und Franz Biberkopf wäre hierzu aufschlussreich.31

Story Die autobiographische Lesart der Fallada-Texte ist in der jüngeren Forschungsdiskussion mit Recht durch das Interesse an den Erkundungen des Autors zugunsten von bestimmten Lebenshaltungen und Lebenssituationen ersetzt worden. Dabei ist zu fragen, welches Spektrum Fallada dazu berücksichtigt, wie es zu umreißen wäre und ob sich ›Lebensideologie‹-Konstellationen einbeziehen lassen, d. h. ob sich beispielsweise bei Fallada aus Krisensituationen »Wiedergeburten« – im Sinne von Marianne Wünsch (vgl. Wünsch 1983) – entwickeln können. Auf den ersten Blick ist dies für das sog. abweichende Verhalten von Kriminellen und Suchtkranken in der Erzählprosa Falladas nicht möglich. Anstelle von Variabilität und Kontingenz von Lebenskonzepten gelten Zwangsläufigkeiten wie »Wer einmal aus dem Blechnapf frisst ...«. Zudem beanspruchen die Protagonisten von Falladas Außenseiter-Erzählungen zur Selbstrechtfertigung eine schematische Erklärung für ihre Lebensläufe nach abfallender Linie wie etwa im Falle des Trinkers Erwin Sommer: »Ach, wir Armen alle! Bei uns allen fing es mit etwas Kleinem an [...]. Es fängt immer mit etwas Kleinem an, und dann verstrickt es uns, es wächst riesengroß auf über uns« (164).32 Mit dieser Vorgabe sollen meine Bezugstexte darauf geprüft werden, ob sich markante (und ggf. krisenhafte) Ereignisse ausfindig machen lassen, die daran sich anschließende Phasen und Prozesse des Absteigens und Ausgegrenztwerdens bedingen oder ob dieses Erklärungsmuster nur zur Selbstrechtfertigung der Figuren in ihrer Passivität dient. 31 Falladas Figurenkonzeption zu den ›kleinen Leuten‹ der 1920er/1930er Jahre legt auch einen Vergleich mit Heinrich Bölls Darstellungen zu den 1950er/1960er Jahren nahe. 32 Vgl. zu Kleiner Mann – was nun? u. a. Springer 2008: 371: Dargestellt werde die »allmähliche Verelendung der Angestellten« – kriminelle Aktionen Pinnebergs werden allerdings insbesondere durch Lämmchen verhindert.

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Im Falle von Strafgefangener, Zelle 32 haben wir es mit einer eher ereignisund entwicklungsarmen ›story‹ zu tun. Eine wachsende Kumulation von Ereignissen, die zur Ausgrenzung des Protagonisten führen, ist nicht zu erkennen. Im Gegenteil: der Strafgefangene erwirbt sich im Zuge seiner Unterwerfungen durch die Ernennung zum Ersten Kalfaktor (157) persönliche Vorteile im Gefängnisalltag, wobei allerdings einschränkend in Rechnung gestellt werden könnte, dass der aus der neuen zeitlichen Beanspruchung resultierende Verzicht auf die Arbeit an dem geplanten Roman (163 ff.) und schließlich der Verzicht auf die Aufzeichnungen zum Diarium auch als Verlust-Erfahrungen zu verstehen sind. Entschieden andere Konstellationen ergeben sich für Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Die Abhängigkeit der ›story‹ von dem Ausgangsereignis – der verfügten Haftstrafe für Willi Kufalt – wird bereits durch die Titelei markiert. Im Rekurs auf das Erzählmuster des Bildungsromans kann die Kufalt-Erzählung durchaus als moderner (Anti-)Bildungsroman oder als ›Missbildungsroman‹ verstanden werden,33 in dem die Tauglichkeit des klassischen Bildungsromanschemas für die ›Moderne um 1930‹ überprüft wird (vgl. auch die Lebensgeschichte von Franz Biberkopf ). Dabei ist die Sozialisationsphase für den Protagonisten in den Gefängnisaufenthalt des Mittzwanzigers verschoben. Die Überschrift des 1. Kapitels »Reif zur Entlassung« markiert – mit Ironie getränkt – den entscheidenden Schritt ins Leben. Zunächst will sich Kufalt den aus der Haftzeit vertrauten Demütigungen widersetzen (102); die Strafentlassenen-Fürsorge, in die er sich im Hamburger »Friedensheim« begibt, erweist sich jedoch mit ihren Machtstrukturen als Fortsetzung der Haft-Erfahrungen. Zudem scheitert der Versuch einer Gruppe von Entlassenen, der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft in der Schreibstube der Fürsorge durch ein Konkurrenzunternehmen (Cito-Presto) in Eigenregie zu begegnen.34 Im Fortgang der Erzählung nimmt Kufalts Lebenslauf nach abfallender Linie immer deutlichere Konturen eines »verfehlten Lebens« (223) an: Ein Strafgefangener bleibt ein Strafgefangener. »Nichts blöder als das Geschwätz von dem neuen Leben, das einer anfangen könnte, in uns sitzt es. In uns bleibt es« (223). Die Unternehmungen, die Kufalt mit seinem ehemaligen Mitgefangen Bruhns plant, stehen im vornherein im Zeichen des Misslingens und der Resignation: »Mit uns wird es sowieso nichts mehr« (259). Auch die Rückkehr in den Heimatbezirk und die Werbetätigkeit für das 33 Vgl. zum Bildungsroman-Modell Zachau 1990: 111 sowie 115: Im Sinne eines »Antibildungsroman« lerne Kufalt im Gefängnis Unterwürfigkeit und berechnendes Verhalten gegenüber Autoritätsträgern sowie Egoismus, Konkurrenzdenken und Durchsetzungsvermögen gegenüber Mitgefangenen. 34 Zu beachten ist dabei der Erzähler-Kommentar zum kriminellen Vorgehen bei der Firmengründung durch Kufalt und seine Kumpel (168 f.).

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Lokalblatt »Bote« bringt nur eine vorübergehende Stabilisation im Sinne des ›geordneten Lebens‹, aus dem Kufalts Straffälligkeit getilgt ist. Dazu soll insbesondere die Verbindung mit der Handwerkerstochter Hilde Harder und die Übernahme von Verantwortung für ihr uneheliches Kind (mit dem Namen Willi) führen.35 Da Kufalt die Aufklärung über seine Vergangenheit als Strafgefangener immer wieder hinausschiebt, stolpert er schließlich in eine absehbare Katastrophe; auf den schlimmen Beginn des Neuen Jahres folgt (so die Überschrift zum 7. Kapitel) »der Zusammenbruch« (280 ff.). Obwohl zu Unrecht eines Diebstahls verdächtigt (293), wird Kufalts Status als Vorbestrafter publik; nach der Entlassung aus der kurzen Untersuchungshaft flüchtet er in die Anonymität der Großstadt Hamburg; sein Wunsch nach ›Wiedergeburt‹ im bürgerlichen Leben ist gescheitert. Die erneute Lebenskrise treibt Kufalt in (von ihm fatalistisch interpretierte) Kleinkriminalität (341). Er überfällt Passantinnen und raubt ihnen die Handtasche; mit dem Haftkumpel Batzke plant er den großen Coup eines Juwelendiebstahls, er wird jedoch von Batzke ausgetrickst und scheitert kläglich in seinem Versuch, sich durch den Hinweis auf Batzke bei der Polizei die ausgesetzte Belohnung zu sichern. Er wird wegen Beihilfe zum Juwelenraub in Gewahrsam genommen, angeklagt (auch wegen der Handtaschendiebstähle) und zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt; sein Weg in ein »sauberes, ordentliches Leben« (333) endet mit der ›Wiedergeburt‹ als Strafgefangener. Will man in Falladas Roman Konstruktionsmuster für die ›story‹ nach dem Muster der ›Lebensideologie‹ erkennen, so ist dies nur in der Negation der diesbezüglichen Grundelemente möglich. Gleiches gilt – radikal verschärft – für Falladas späten Roman Der Trinker, in dem sich nicht einmal Möglichkeiten für eine ›Wiedergeburt‹ zum bürgerlichen Leben abzeichnen. Körperlich entstellt und in der Folgezeit behindert wird Sommer durch eine Attacke seines ehemaligen Vermieters Lobedanz, den er mit seiner Anzeige wegen Diebstahls ins Gefängnis gebracht hat und der dann mit ihm in derselben Haftanstalt einsitzt: Lobetanz hat ihm die halbe Nase abgebissen (121 f.). Dem körperlichen Makel folgt die tiefgehende psychische Beschädigung des Selbstbewusstseins. Der Besuch der Ehefrau Magda in der Haftanstalt endet mit einem Eklat: Sie hat einen neuen Lebens- und Geschäftspartner; die Scheidung ist eingeleitet (205). Erwin Sommer verliert die Selbstkontrolle, spuckt Magda ins Gesicht und beschimpft sie als »Ehebrecherin« (207). Aus einem ihm zufällig zugänglichen Medikamentenschrank entwendet er eine Flasche mit 95-prozentigem Alkohol, trinkt daraus und kollabiert. Diese Katastrophe 35 Vgl. Jürss 1995: 147 f. : Im Gegensatz zu Emma Mörschel, die Pinnebergs mögliches Abgleiten in die Kleinkriminalität verhindert, kann Hilde Harder für Kufalt keine Überwachungs- und Schutzfunktion übernehmen.

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verhindert die Entlassung Sommers aus der Untersuchungshaft und bringt ihn in das »Totenhaus« (191) der Heil- und Pflegeanstalt. Die fast kontinuierlich abfallende Linie des Lebenslaufes seit Beginn der Trunksucht hat ihren Endpunkt erreicht. Da im Trinker Sommers Leben vor seiner Trunksucht nicht dargestellt wird, handelt es sich letztlich um die Erzählung einer durchgängigen Krise, die weder die Möglichkeit einer mit Pathos gesuchten Neuordnung des Lebens noch die Inszenierung einer spektakulären Zerstörung der Existenz einschließt.36 Krisen werden in Falladas Lebensläufen nicht emphatisch angenommen (vgl. Lindner 1994: 146), sondern eher fatalistisch-duckmäuserisch hingenommen – »das Pathos von Krise, Kritik und Katharsis« (vgl. ebd.: 155) ist seinen Protagonisten fremd.

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36 Vgl. zu diesem Zusammenhang von Krise und Katastrophe Lindner 1994: 10 sowie 11 zur Typologie möglicher Äußerungsformen und Konsequenzen von Krisen.

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Peter, Thomas (1995): Fallada im Spannungsfeld zwischen Unterhaltungsliteratur und Belletristik. Betrachtungen anhand seiner sieben Malheurgeschichten. In: Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von Gunnar Müller-Waldeck u. Roland Ulrich. Rostock: Hinstorff, 227–248. Springer, Mirjam (2008): Wirklichkeit mit goldenem Firnis. Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? (1932). In: Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne. Hg. von Matthias Luserke-Jaqui. Berlin, New York: de Gruyter, 368–390. Sternheim, Carl (1964): Gesamtwerk. Hg. von Wilhelm Emrich. Bd. 3. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Ulrich, Roland (1995): Gefängnis als ästhetischer Erfahrungsraum bei Fallada. In: Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von Gunnar Müller-Waldeck u. Roland Ulrich. Rostock: Hinstorff, 130–140. Williams, Jenny (2002): Mehr Leben als eins. Hans Fallada Biographie. [Übers. d. engl. Originalausg. 1998]. Berlin: Aufbau. Wünsch, Marianne (1983): Das Modell der »Wiedergeburt« zu »neuem Leben« in erzählender Literatur 1890–1930. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Hg. von Karl Richter u. Jörg Schönert. Stuttgart: Metzler, 379–408. Zachau, Reinhard K. (1990): Hans Fallada als politischer Schriftsteller. Frankfurt/M. [u. a.]: Lang.

Michael Titzmann

Selbstfindung und Selbstverlust Aspekte der textinternen Anthropologie in Hans Falladas Wolf unter Wölfen (1937) Falladas Wolf unter Wölfen (im folgenden WuW), wenn auch in der NaziZeit erschienen, funktioniert noch weitgehend nach den Regularitäten des Literatursystems »Frühe Moderne«;1 insbesondere verbinden ihn nicht wenige Gemeinsamkeiten mit dem Subsystem »Neue Sachlichkeit«, das sich in den 20er Jahren, in der Zeit der »Weimarer Republik« herausgebildet hatte (vgl. dazu Lindner 1994). Schon in den Oberflächenstrukturen weist WuW eine Reihe gemeinsamer Merkmale mit sehr unterschiedlichen Texten der Spätphase der Weimarer Republik auf; einige seien beispielshalber genannt. 1932 erscheint Hermann Brochs Huguenau oder die Sachlichkeit, der dritte Teil seiner Trilogie Die Schlafwandler: neben Musils Mann ohne Eigenschaften, 1930 ff., einer der beiden großen »Metaromane«, die die Strukturen und Transformationen der eigenen Epoche, der Frühen Moderne also, reflektieren. Jene Krise des Wertsystems, die die Frühe Moderne begleitet, in den 20er Jahren zu einem dominanten Thema wird und die auch für Falladas WuW, ebenso wie für sein Bauern, Bonzen und Bomben (im folgenden BBB), 1931, charakteristisch ist, wird in Huguenau nicht nur anhand des Verhaltens der Figuren und ihrer ideologischen Desorientiertheit dargestellt, sondern auch in den eingebetteten Diskursen theoretisch erörtert. Diese Krise führt die Figuren zu einer grundsätzlichen Neuorientierung an und einer Präferenz für egobezogene(n) materielle(n) Werte(n), wie sie auch Texte, die das Ende des Expressionismus thematisierten, so z. B. Brechts Trommeln in der Nacht, 1923, oder Tollers Hoppla, wir leben, 1927, vorgeführt hatten,2 während die Dramen des Expressionismus noch dominant überindividuell-immaterielle 1 2

Die – leider noch unveröffentlichte – Habilitationsschrift Martin Lindners hat gezeigt, daß nicht wenige Denkkategorien der Frühen Moderne sich in der NaziPhase und bis in der frühe Nachkriegszeit Ende der 50er Jahre erhalten haben. Vgl. auch die Dramen von Georg Kaiser und Ödön von Horváth in den 20er Jahren.

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Werte postulierten. Doch Falladas WuW, ebenso wie BBB, verbindet noch anderes mit Brochs Huguenau, aber auch mit Lion Feuchtwangers Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz, 1930. Feuchtwangers Erfolg und Falladas BBB weisen im übrigen auffällige Gemeinsamkeiten in ihren Vorworten auf (Feuchtwanger 1996: 807; BBB 7): Beide thematisieren ihr Verhältnis zu der historischen Realität, auf die sie jeweils referieren, als eines, das keine »photographische« Abbildung gebe, sondern das quasi Epochentypische herausarbeite. Diese Texte Brochs und Feuchtwangers sind wie Falladas BBB und WuW (dieser freilich nur im ersten Teil systematisch) dadurch charakterisiert, daß 1) es nicht nur einen Protagonisten gibt, auf dem der Fokus der Erzählinstanz liegt und dem diese in seinen räumlichen Bewegungen folgt, sondern eine umfängliche Menge von Figuren, aus unterschiedlichen sozialen Gruppen und mit unterschiedlicher Relevanz für die erzählte Geschichte, und der Fokus mal auf der einen, mal auf der anderen Figur liegen kann; 2) es folglich eine Reihe unterschiedlicher sozialer Milieus und verschiedener Handlungsstränge gibt, die sich mehr oder weniger häufig kreuzen können, aber nicht müssen. Es ist im Grunde jenes Romanmodell, daß im 19. Jh. Karl Gutzkow als »Roman des Nebeneinander« entworfen hatte (und in den Rittern vom Geiste, 1850/51, und dem Zauberer von Rom, 1858–1861, zu realisieren suchte):3 ein Modell, das freilich zunächst in der Literatur des »Realismus« keine bedeutende Nachfolge fand, jetzt aber in der Erfahrung sozialer und ideologischer Ausdifferenzierung in der Krise der Werte und Normen sich Autoren wie Broch, Feuchtwanger, Fallada als adäquate Abbildung dieser Erfahrung geradezu anbieten mußte. Während aber in Huguenau, Erfolg, BBB dieses Erzählmodell weitestgehend durchgehalten wird, wird es in WuW konsequent nur im ersten Teil praktiziert, während im zweiten eine allmähliche Einschränkung auf eine immer kleiner werdende Figurengruppe stattfindet, indem sukzessiv Handlungsstränge beendet und Figuren aus der dargestellten Welt getilgt werden; zunehmend wird folglich der junge Wolfgang Pagel zur zentralen Figur – eine der sehr wenigen, die gegen Textende noch eine Zukunftsperspektive haben und nicht nur einen erstarrten, trostlosen Dauerzustand repräsentieren. Wo nun Broch einen Systemzustand gegen Ende des ersten Weltkriegs darstellt, teilen Feuchtwanger und Fallada in WuW den Zeitraum, in dem die dargestellte Welt situiert ist: die politisch-sozial-ökonomische Katastrophenzeit der Inflation, wobei Feucht3

Zu diesem Erzählmodell vgl. Frank 1998.

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wangers Welt in München bis zur Zeit des Scheiterns des Hitler-Putsches, die Falladas in Berlin und dem ostdeutschen Land bis zur Zeit des Scheiterns des Putschversuchs der »schwarzen Reichswehr« in Küstrin situiert ist; diese »schwarze Reichswehr«, als illegale paramilitärische Gruppe, und ihr Putschversuch gegen die Republik war ja in ganz anderer ideologischer Perspektive auch Thema von Horváths Drama Sladek oder die schwarze Armee (Bühnenmanuskript 1928; Aufführung 1929 in Berlin). Jener Major Ernst Buchrucker, der am Putschversuch der illegalen Truppe beteiligt war und eine eigene Darstellung der Ereignisse hinterlassen hat (Im Schatten Seeckt’s. Die Geschichte der Schwarzen Reichwehr, 19294), scheint im übrigen in WuW, transformiert zur Figur eines Majors Rückert, angespielt zu sein. Diese Truppe rekrutierte sich nicht zuletzt aus den Überbleibseln jener sog. »Freikorps«, die nach Kriegsende noch im Baltikum bzw. in Oberschlesien kämpften: eine Personengruppe, aus der viele wesentliche Mitglieder der vielen republik-feindlichen Verschwörergruppen in der Weimarer Republik5 und etliche Attentäter hervorgingen, literarisch am prominentesten dabei zweifellos Ernst von Salomon, der 1931 in Die Geächteten – im Stile der »Neuen Sachlichkeit« – seine Freikorps-Karriere, seine Beteiligung als Terrorist am Rathenau-Mord und seine Haft beschrieben hat. In BBB gibt es schon Figuren, die aus dem Freikorps-Milieu stammen (vgl. BBB 400 zur Figur Henning); in WuW häufen sie sich, darunter zentrale Figuren wie der Rittmeister von Prackwitz, der Oberleutnant von Studmann, der »Fahnenjunker« Wolfgang Pagel, der Leutnant Fritz, um nur die wichtigsten zu nennen. Die Kämpfer dieser Freikorps gelten laut Text der Weimarer Republik als »Vaterlandsverräter« (WuW 404). Auch BBB benutzt im übrigen eine historisch-politische Situation aus der Realität der Weimarer Republik: die sog. »Landvolk-Bewegung« in Schleswig-Holstein, ausgelöst durch eine Agrarkrise seit 1927, partiell durchaus auch terroristisch, unter Beteiligung eines Bruders von Ernst von Salomon, die Fallada als Journalist mit erlebt hat und ebenfalls in eine ostdeutsche Kleinstadt transferiert. Doch Falladas BBB und WuW haben noch weitere literarische Beziehungen zu Texten der Spätzeit der Weimarer Republik; wenigstens einige seien hier noch angedeutet. Sowohl die positive Figur der Petra Ledig in WuW hat sich vor ihrer Zeit als Partnerin Pagels aus ökonomischen Gründen des Überlebens in der Inflation gelegentlich quasi prostituiert, wie dies auch die eher negative Figur der Sophie Kowalewski noch während ihrer Beziehung zum Häftling Liebscher tut; sie bestiehlt dabei auch gegebenen4 5

Text in Horváth 1980: 101–126. Zu diesen unangenehmen Horden rechtsradikaler, potentieller oder faktischer Putschisten, Terroristen, Attentäter gehören ja z. B. die »Brigade Ehrhardt«, die »Organisation Consul«, die »Organisation Escherich« [»Orgesch«] usw.

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falls die Partner der ›One-night-stands‹. Auch in BBB wird anhand einer Nebenfigur solche Quasi-Prostitution aus ökonomischer Not thematisiert (z. B. BBB 285): eine Möglichkeit, die Fallada in Kleiner Mann – was nun? (1932) zwar nennt, aber der Protagonistin erspart. Auch hier gäbe es eine Vielzahl von Texten, in denen dergleichen ökonomisch bedingte Verhaltensweisen dargestellt werden: so z. B. Vicki Baums Menschen im Hotel, 1929, Erich Kästners Fabian. Geschichte eines Moralisten, 1931, Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen, 1932. Baums Menschen im Hotel – ein Ort, der geradezu ideal für die neuen Varianten des Romans des Nebeneinanders ist – ist vielleicht auch einer der intertextuellen Bezugspunkte von WuW: Sicher nicht zufällig ist Studmann, der entlassene Militär, in der Ausgangssituation im Hotelmanagement beschäftigt. Werfen wir wenigstens einen flüchtigen Blick auf die politische Position unseres Textes: Da er im Nazi-Reich erschienen ist, also ideologischen Zwängen von außen unterlag, so daß die im Text vertretenen Positionen nicht notwendig solche sind, die Fallada freiwillig bezogen hätte, ist hier der Vergleich mit BBB, noch in der Republik erschienen, wohl signifikant. Als erstes wird man festhalten können, daß in BBB und WuW zwar durchaus politische Sachverhalte thematisch werden, aber die eigentlichen Repräsentanten der relevanten politischen Positionen absent sind; in beiden Texten treten nur untergeordnete Funktionsträger auf – in Opposition etwa zu Feuchtwangers Erfolg, wo die zentralen Ideologen und Entscheidungsträger als Figuren im Text präsent sind;6 Fallada erspart es sich somit, zu diesen Personen, etwa Kanzlern, Ministern, ideologischen (An-, Ver-)Führern, etwa Hitler, Stellung zu nehmen, wie dies Feuchtwanger eindeutig tut. Im Vergleich mit Feuchtwangers Roman wird auch eine zweite Besonderheit von Falladas BBB und WuW sichtbar, die man wohl als ideologische Ambivalenz Falladas benennen kann. In der syntagmatischen Sukzession von BBB zeichnen sich zunehmend der – dezidiert konservative, antisozialdemokratische – Journalist Stuff und der sozialdemokratische Bürgermeister Gareis als Hauptfiguren und als – leidlich glaubwürdige – Ideologierepräsentanten ab; beide teilen auch, daß sie sich wechselseitig achten und ihre Umwelten (im übrigen zurecht) verachten; bei allen Schwächen, die der Text den beiden – wie allen anderen Figuren – zuschreibt, sind sie dennoch am ehesten halbwegs als moralisch glaubwürdig und akzeptabel gekennzeichnet. Gareis hat laut Text im Interesse des »Gemeinwohls« nicht wenige sozial verdienstliche Institutionen in seiner Kleinstadt geschaffen und wird gleichwohl aus Parteiinteressen am Textende von der eigenen Partei, der SPD, zur Abdankung gezwungen. Sein ideologischer Kontrahent Stuff, mit dem er durchaus Gemeinsamkeiten hat, läßt ihn wissen: 6

So treten bei Feuchtwanger – transformiert und unter anderem Namen – z. B. Ludendorff, Hitler, von Kahr, Heym, Roth auf.

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Sie sind mir zuwider als ein Vertreter jener Schicht, die ich für den Verderb Deutschlands halte. […]. Ihre Pläne, ihre ehrlichsten Absichten werden stets von der Partei mitbestimmt und verfälscht, von einer Partei, die den Kampf gegen alle anderen Schichten auf ihr Panier geschrieben hat. […]. Ihre Partei hat Deutschland kleingemacht. Sie haben die Leute in den Schützengräben aufgeputscht. (BBB 433 f.)

Damit wird der SPD zumindest eine Mitschuld am verlorenen Krieg zugeschrieben; ihre Mitglieder bzw. deren staatliche Repräsentanten, Gareis ausgenommen, erscheinen im wesentlichen als Opportunisten; Kommunisten treten am Rande auf, fast gar nicht die Nazis – erstere erscheinen nicht eben als schätzenswert, wenngleich ihnen nicht unwitzige Szenen zugestanden werden; letzteren gegenüber bleibt der Text doch weitgehend neutral – sie erscheinen nur einmal als Opfer eines kommunistischen Überfalls auf eine ihrer Veranstaltungen. Soweit also überhaupt aus diesem Text eine politische Position erschlossen werden kann, ist sie den »Roten« – und wohl auch der Weimarer Republik – nicht eben wohlgesonnen, allerdings auch nicht den Bürgerlich-Konservativen. Die politische Position des Textes tendiert also weitgehend dazu, Nullposition zu sein, freilich mit einer deutlich anti»linken« Komponente. Generell erscheint »Politik« in BBB im Regelfalle als Produkt egoistischer Intriganten, denen das Gemeinwohl weitgehend gleichgültig ist. Nicht wesentlich anders verhält es sich nun in WuW; es scheint, Fallada habe hier keine ideologischen Verrenkungen machen müssen, um sich anzupassen; freilich gibt es – zu seiner Ehre sei es gesagt – auch keine direkt »nationalsozialistischen« Stellungnahmen. Solche ideologische Unbestimmtheit der Texte Falladas, also ihre Akzeptabilität für ideologisch sehr verschiedene Gruppen, mag zum Erfolg Falladas beigetragen und es ermöglicht haben, daß WuW offenbar problemlos in der Nazi-Zeit erscheinen kann. Auch hier bleiben die eigentlichen ideologischen Repräsentanten und politischen Machthaber Nullposition: Mitglieder der Regierung, der Administration, der oberen militärischen Ränge, der Parteien treten nicht auf; die Figuren der dargestellten Welt erscheinen – ausgenommen vielleicht, zumindest zeitweilig bis zu ihrem Scheitern, die Putschisten – weitgehend als solche (zumindest, was die Unterschichten anlangt), die an einer ökonomischen Situation leiden, auf die sie keinen Einfluß haben. Dezidiert apolitisch sind in WuW alle Frauen, aber auch die meisten Männer, so etwa der Protagonist Pagel und sein Mentor Studmann, auch wenn beide das gegebene politische System offenbar nicht schätzen; Prackwitz läßt sich aus Unbedarftheit mit den Putschisten ein; sein listiger Schwiegervater, der ihn ausbeutet und nur egoistische Werte kennt, informiert sich zuerst bei den Machthabern, ob der Putsch-Plan eine Erfolgschance hat und beteiligt sich deshalb nicht; der Leutnant Fritz ist eine außermoralische Söldner-Gestalt: ein Abenteurer, der das Kriegspiel gegen seine innere Leere benötigt und dem auch seine Auf-

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traggeber mißtrauen – er ist eine Variation jenes »Landsknecht«-Typs, den Ernst Jünger so besungen hat. Aus dem Lager der Putschisten ist freilich »der Dicke«, ein wegen »nationaler Gesinnung« entlassener, anonym bleibender Polizeikommissar, zu nennen, der den Verrat des geheimen Waffenlagers und die Entführung der 15jährigen Violet von Prackwitz aufklärt. Ihm wird physische wie intellektuelle Überlegenheit zugeschrieben, und obwohl er selbst eher zur Gruppe der unheimlichen Figuren in diesem Text gehört und moralisch einigermaßen ambivalent scheint, wird ihm schließlich von Pagel nachgesagt, er hasse das Böse. Auch die Bewertung des Putsch-Versuchs bleibt merkwürdig unentschieden-ambivalent: … eine Unternehmung, der viele tüchtige und auch abenteuerliche Männer monatelang all ihre Kraft, ihr Denken, ihren Mut, ihre Opferwilligkeit geliehen hatten. Aber es war ein Zeichen dieser Zeit: in dieser Zeit schien alles sich aufzulösen, schon im Werden zu zerfallen, der beste Wille blieb machtlos. Opfermut schien etwas Lachhaftes – jeder für sich, aber alle gegen einen! (WuW 651)

Dieser tendenziell positiven Bewertung steht freilich eine andere entgegen, die ebenfalls von der Erzählinstanz stammt: Aber auf den Gedanken kommen weder der Leutnant noch sein Vorgesetzter, der nun auch von Verrat spricht, daß eine Sache faul sein muß, die das Gerede eines fünfzehnjährigen Mädels umwerfen kann. Da eine solche Sache bloß ein Abenteuer ist, ohne den Leben spendenden Funken einer Idee! Daß sie selber alle eingefangen sind von dem schillernden Sumpfzauber dieser schlimmen Zeit […]. (WuW 571)

Da die systematischen Ursachen der behaupteten Negativität des politischen, ökonomischen, moralischen Zustands der dargestellten Welt ausgespart werden, bleiben dem Text nur zwei Möglichkeiten, die Vielzahl der individuellen und überindividuellen Katastrophen zu »erklären«: moralisches Fehlverhalten Einzelner wird für die individuellen Katastrophen und die zum Handlungsträger mythisierte und personifizierte »Zeit« für den Systemzustand verantwortlich gemacht. Sie wird pathologisiert: »etwas« sei »faul«, es handle sich um eine »verfaulte Zeit«, und mit einer insbesondere in den 20er Jahren beliebten Metaphorik wird sie für »krank« erklärt (so z. B. WuW 625, 632, 495, 543). Nicht zufällig treten denn auch psychopathische Phänomene an mehreren Figuren auf: der verrückte Baron von Bergen, später Prackwitz, der zum »Psychopathen« (WuW 506) erklärt wird, schließlich Violets definitiver Zustand radikaler Verstörung. Und ebenfalls nicht zufällig will Pagel, als er seinen positiven Endzustand erreicht, Arzt, genauer: »Psychiater« (WuW 720) werden; ihm, als dem positiven Vertreter der jungen Generation, wird also die Absicht zugeschrieben, solche »Krankheit« der Zeit zu »heilen«. Von dieser »Krankheit« ist auch einer der zentralen Werte in der Literatur der Frühen Moderne betroffen: der von ihren

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Figuren immer wieder angestrebte Wert eines »Lebens« im emphatischen Sinne (vgl. dazu Wünsch 1983, Lindner 1994), das als Sinn und Legitimation der eigenen Existenz erscheint: Es ist vielleicht nicht mehr das Leben in seiner alten Gewalt und Frische, zuviel wurde in den vergangenen Jahren zerstört, das Leben selbst wurde krank – es ist vielleicht manches nur Gewohnheit von früher her in dem, was nun geschieht. (WuW 495)

»Gesund« im Sinne des Textes ist am ehesten noch die »Jugend«. In einer Auseinandersetzung zwischen Pagel und Meier heißt es: Aber dann bricht doch Wolfgangs Jugend bei ihm durch, der Abscheu der Jugend vor Kranken, vor Laster und Verbrechen. Er sagt verächtlich: Ein schönes Stückchen Scheiße sind Sie! (WuW 538)

Ein »emphatisches Leben« gelingt den Figuren also nicht mehr, allenfalls ein »Überleben«, im günstigsten Falle noch ein »reduziertes Leben«; und wer mehr will, wird untergehen. Schon ums bloße Überleben muß aber gekämpft werden: Der Titel des Romans – in unverkennbarer Anspielung auf Hobbes’ »homo homini lupus« – gibt schon vor, daß hier zunächst jeder egoistischer Einzelkämpfer ist. Das Titelstichwort wird denn auch etliche Male im Text aufgegriffen (so z. B. WuW 608, 613, 632). So heißt Pagel nicht zufällig mit Vornamen Wolfgang, etwa von seiner Geliebten auch Wolf genannt; und von dem unheimlichen Diener Räder sagt »der Dicke«: Das ist ein Scheusal, ein Wolf, der mordet, nicht um zu fressen, sondern um zu morden. (WuW 632)

Der Text baut eine wichtige Äquivalenz zwischen der historischen Situation der Weimarer Republik nach dem verlorenen Kriege und der sozioökonomischen Situation von Prackwitz, der das Landgut seines Schwiegervaters Teschow gepachtet hat, auf. Studmann, zusammen mit Pagel ein Helfer des Prackwitz, muß nach der Lektüre des Vertrags, den Teschow mit Prackwitz geschlossen und den dieser dank seiner Inkompetenz akzeptiert hat, feststellen, das sei ein »Schandvertrag« (WuW 404 f.), der Prackwitz juristisch knebele und ihm ökonomisch Unmögliches abverlange. »Schandvertrag« ist nun aber das Lexem, mittels dessen (nicht nur) die (konservativen) Zeitgenossen den Friedensvertrag von Versailles bewerteten, und Studmann kommentiert denn auch gegenüber Pagel: »Das grenzt an den Schandvertrag von Versailles! Auf Leben und Sterben ausgeliefert!« (WuW 339). In der Logik des Textes gilt somit: Teschow verhält sich zu Prackwitz wie die Kriegsgegner, insbesondere Frankreich, zum Deutschen Reich. Dann aber repräsentiert der unfähige Prackwitz gegenüber seinem gnadenlosen Aus-

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beuter gewissermaßen die Weimarer Republik, und jenen wie diese können auch brauchbare Helfer wie Studmann und Pagel nicht retten. Ein reichlich problematisches Datum muß freilich im Kontext der politischen Positionen des Textes erwähnt werden. In BBB tritt die Figur des Kauffmanns Manzow auf: Manzow hatte in Altholm zwei Spitznamen: »der weiße Neger« und »der Kinderfreund«. Weißer Neger wegen seines Gesichtes, das mit den aufgeworfenen Lippen, der fliehenden Stirn, dem krausen schwarzen Haar viel Negerhaftes hat, Kinderfreund darum, weil… (BBB 262)

Und in WuW haben wir die Figur des »Feldinspektor Meier, genannt Negermeier« (WuW 43): Hinter den runden, großen, gewölbten Brillengläsern sitzen runde, große, gelbliche Eulenaugen, er hat eine eingedrückte Nase und Wulstlippen, eine Stirn, kaum zwei Finger hoch, die Ohren stehen ihm ab… (WuW 44)

»Negerhaftigkeit« erscheint als eindeutig negatives Merkmal, zudem eines, das rassistische Propaganda in der Frühen Moderne gern dem Stereotyp des »Juden«7 zuschreibt: eine Lesart dieser Textstellen, die Fallada zumindest in Kauf genommen hat; die solchermaßen Charakterisierten erscheinen außerdem als moralisch verwerflich: die »Negerhaftigkeit« ist im Falle Manzow kombiniert mit Pädophilie, im Falle Meiers mit Lüsternheit, Feigheit, Verrat usw., also mit Verhaltensweisen, die die Texte extrem negativ bewerten (und die wiederum durchaus zu den antijüdischen Stereotypen gehören). Zwischen Meier und dem Leutnant Fritz, der seinen Nachnamen verschweigt und sich, als eine Namensnennung unvermeidlich ist, Meier nennt – »Meier ist ein sehr angenehmer, ein sehr brauchbarer Name, nicht wahr?« (WuW 564) – wird dadurch eine Gemeinsamkeit hergestellt; sie 7

Z. B. in dem eklig-idiotischen Machwerk eines gewissen Arthur Dinter, Die Sünde wider das Blut, 1918, ist dieses antijüdische Stereotyp gut belegt. Zweimal schickt der blond-blauäugige Protagonist sich an, mit blond-blauäugigen Frauen kleine Germanen zu zeugen. Die erste Frau ist, was er selbstverständlich nicht weiß, Halbjüdin, deren Vater eine »unschöne, träg gebogene Nase« und einen »wulstigen Mund, dessen dicke Unterlippe herabhing« (55), aufweist; das gemeinsame Sexualprodukt mißfällt dem Protagonisten: »Ein dunkelhäutiges, mit pechschwarzem, krausem Kopfhaar bedecktes, menschenunähnliches Etwas schrie ihm entgegen. […]. Eine plattgedrückte Nase gab dem Kopfe etwas Affenähnliches.« (238) Die Erzählinstanz belehrt uns: »Nach neuesten Forschungen kommt Ostafrika als Urheimat der Juden in Frage. Der negerähnliche Typus mancher Juden ist unverkennbar.« (242) Den zweiten Versuch unternimmt er zwar mit einer »reinrassigen Germanin«, doch hat diese vor Jahren sich von einem Juden verführen lassen und sei damit für immer versaut: »… sie gebar ein Kind mit schwarzem Kraushaar, dunkler Haut und dunklen Augen, ein echtes Judenkind.« (348) Vergessen Sie nicht, sich nach der Lektüre dieses Opus die Hände zu waschen.

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erscheinen als zwei Varianten desselben Paradigmas. Beide kennzeichnet negatives Sexualverhalten, beide Rücksichtslosigkeit bei der Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der sozialen Umwelt, inklusive der eigenen Sexualpartner; sie unterscheiden sich dadurch, daß der arrogant-dominante Leutnant für den Putsch arbeitet, den der als »feige« klassifizierte, unmilitärische, scheinbar unterwürfige Meier verrät. Der Leutnant wird sich selbst erschießen müssen, nachdem das ihm anvertraute geheime Waffenlager der Putschisten durch Meier verraten worden ist; Meier wird erschlagen werden, nachdem er sich als »Separatist« mit den französischen Besatzern im Ruhrgebiet eingelassen hat. Primär erzählt nun unser Text die Geschichte der »Mannwerdung« des jungen Wolfgang Pagel, der sich, nachdem er anfänglich in den Tag hinein lebt und als eher moralisch haltlos, als Glücksspieler, und noch unfähig, »Verantwortung« zu übernehmen, erscheint, sich »bewähren« muß. Bereitschaft zur »Verantwortung« – für eine Sache, für Personen – ist offenkundig einer der zentralen Werte des Textes: Und die meisten Figuren versagen in dieser Hinsicht. Denn entweder sind sie radikale Egoisten wie Teschow, sein Sohn, Meier und viele andere, oder wie Prackwitz gänzlich unfähig, den Anforderungen der Realität gerecht zu werden. Die Bereitschaft zu »Verantwortlichkeit« garantiert aber allein weder moralische Positivität noch ein befriedigendes Leben im emphatischen Sinne. Denn Frau von Prackwitz übernimmt zwar, nachdem ihr Ehemann psychisch geschädigt und ihre Tochter Violet in einen lebensunfähigen, quasi katatonischen Zustand gefallen ist, die Verantwortung für die ökonomische Zukunft dieser beiden, indem sie ein Geschäft in Berlin gründet, aber sie tut das in radikaler Ausbeutung ihres Personals und in einem Zustand persönlicher Vergrämtheit und Verbitterung; ihre Existenz erscheint nicht mehr als wünschens- und lebenswert. Und der an sich moralisch positive Studmann ist zwar zum Helfer geschaffen, versäumt dabei aber das eigene Leben. Generell gilt in diesem Text, daß die Repräsentanten des Adels (die Familien von Teschow und von Prackwitz) am Textende als reichlich unerfreuliche oder gescheiterte Figuren erscheinen, mit der einzigen Ausnahme Studmanns. Am ehesten mit Sympathie bedacht werden, neben Pagel, vor allem Figuren aus der städtischen (Mutter Krupaß) und der ländlichen Unterschicht (Amanda Backs): und generell eher Frauen als Männer. So erscheint z. B. auch Frau von Prackwitz sowohl verantwortungsbewußter als auch sympathischer als ihr Ehemann. Zwar gibt es auch ausgesprochen unsympathische Frauengestalten, so die widerwärtig-frömmelnde Frau von Teschow oder auch die großbürgerliche Mutter Pagels, die aber – in einem etwas peinlich-kitschigen und gewaltsamen Finale am Textende – zur Erträglichkeit konvertiert wird. Statistisch sind zudem in der dargestellten Welt nicht nur die Frauen tendenziell den Männern, sondern auch die Jungen den Alten überlegen. Alte können im

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Ausnahmefalle wie Frau Pagel bekehrt werden oder sich wie der bis dahin etwas jämmerliche und angsterfüllte Förster Kniebusch, der sein Leben dann doch in einem heroischen Akt beschließt, selbst bekehren. Die Tendenz zur moralischen Überlegenheit der Frauen zeigt sich nicht zuletzt an Petra Ledig, mit der Pagel eingangs ein Verhältnis eingegangen ist, wobei beide durch unglückliche Folgen ihrer armseligen ökonomischen Situation getrennt werden, und sich trotz Petras Schwangerschaft und der Geburt des Kindes erst am Textende, nach Pagels Bewährung auf den Gut der Prackwitz, wieder vereinigen und dann eine Familie bilden. In diesem Text gilt, daß positive Frauen ihren männlichen Partnern zumindest zunächst eindeutig überlegen sind: so Petra gegenüber Pagel, Amanda Backs gegenüber Meier, Frau von Prackwitz gegenüber ihrem Mann. Die Männer haben erst in einem positiven und emphatischen Sinne »Mann« zu werden und scheitern außer Pagel daran; sie bedürfen also eines Entwicklungsprozesses, während sich die Frauen schon in einem potentiell definitiven Zustand befinden und daher gegenüber den noch »unfertigen« Männern in eine quasi-mütterliche Rolle geraten;8 »Mütterlichkeit« ist folglich ein Merkmal positiv bewerteter Frauen. Eine befriedigende erotische Beziehung zwischen Mann und Frau kann es denn im Text erst dann geben, wenn der Mann »erwachsen« geworden – und das heißt auch: zur Übernahme von Verantwortung bereit und fähig – ist. Alle anderen Beziehungen scheitern folglich (so die der beiden Prackwitz, so die Amandas und Meiers, so die des Leutnant Fritz mit Violet). Vom Manne wird in einer Beziehung eine gewisse Dominanz und Aktivität erwartet; Dominanz ohne Rücksichtnahme auf die Frau (exemplarisch Teschow gegenüber seiner Frau, Fritz oder Räder gegenüber Violet) erscheint als negativ, Nicht-Dominanz, zumal wenn sie mit Nicht-Verantwortlichkeit kombiniert ist, als Versagen des Mannes. So muß denn Eva von Prackwitz sich zunehmend eingestehen, daß ihre Ehe enttäuschend und gescheitert ist, woraus sich eine erotische Faszination zwischen Studmann und ihr ergibt und sie mit dem Gedanken spielt, sich zugunsten Studmanns von Prackwitz zu trennen, woran der Text sie in der Folge hindert, indem er ihr die Katastrophe der psychischen Verstörung ihres Mannes und der psychischen Zerstörung ihrer Tochter beschert. Und während es zur Zeit ihrer Versuchung von ihr heißt: Ja, sie war noch jung, sie blühte, das Land wollte ihr wohl, sie war reif wie goldfarbener Weizen, ein Reiz lag über ihr – sie war reif! (WuW 435),

wird sie in der Folge, nach Eintritt der familiären Katastrophen, wobei es zugleich Winter geworden ist, verfallen. Eine gescheiterte Beziehung auf8

Das gilt im übrigen auch für das Protagonistenpaar in Falladas Kleiner Mann – was nun? von 1932.

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zugeben und sie durch eine neue zu ersetzen, wäre nun freilich in der Literatur der Frühen Moderne durchaus potentiell legitim; unausgesprochen verhält sich unser Text aber so, als würde in ihm gelten, daß Beziehungen, die zu Familiengründung geführt haben, nicht aufgegeben werden dürfen. So werden denn auch Pagel und Petra wieder nach der Geburt ihres Kindes vereinigt. Figuren, die, während sie mit einer anderen eine Beziehung unterhalten, zugleich andere Beziehungen eingehen, erscheinen generell als negativ: Das gilt sowohl für Meier, der trotz seiner Beziehung mit Amanda auch mit einer anderen schläft, als auch für den Leutnant, der neben seiner Beziehung zu Violet auch eine Dienstbotin in der Stadt beehrt, die er freilich nur ausnutzt, um sie über ihren Dienstherren, einen Oberst der Reichswehr, im Putschisteninteresse auszuhorchen. Die implizite Sexualmoral des Textes verdient einige Aufmerksamkeit. Nicht-eheliche Sexualität Erwachsener scheint – auch das typisch für die Frühe Moderne – grundsätzlich kein Problem zu sein; so leben Pagel und Petra zunächst nicht verheiratet zusammen; so ist die Beziehung zwischen Meier und Amanda nicht deshalb negativ, weil sie nicht-ehelich ist. Nicht generell in der Frühen Moderne, wohl aber häufiger in Texten der späten 20er Jahre gilt, daß wie in WuW Sexualität in beiderseitigem Konsens zu ihrer Legitimation nicht schon »Liebe« voraussetzt: So beginnen etwa Pagel und Petra ihre Beziehung mit einem Sexualakt, der nicht zu einer Beziehung führen müßte, wenn nicht Petra am Morgen danach Pagel bitten würde, sie mitzunehmen und dieser es täte – ohne daß damit schon »Liebe« verbunden wäre, die sich erst in der Folge entwickeln wird. Ebenfalls erst in den späten 20er Jahren scheint aufzutreten, was unser Text praktiziert und was wesentlich erstaunlicher ist: die Legitimation von gelegentlicher Prostitution aus ökonomischer Not, wie sie Petra Ledig vor ihrer Beziehung mit Pagel betrieb und womit auch ihre Beziehung zu Pagel beginnt. Petra erscheint im Text dennoch als eine praktisch uneingeschränkt positive Figur. Dabei werden zwei deutliche Grenzen gezogen: Prostitution als Gewerbe erscheint durchaus als negativ, aber auch die nur gelegentliche, wenn sie nicht aus Not stattfindet, was anhand von Sophie Kowalewski illustriert wird, hier noch kombiniert mit Untreue gegenüber ihrem Geliebten, dem Zuchthäusler Liebscher; im Auftrag Liebschers versucht sie auch, ihre sexuellen Reize bei Pagel einzusetzen, was die negative Bewertung beider Figuren verstärkt; Pagel widersteht selbstverständlich der Versuchung. Die gelegentliche Prostitution um des Überlebens willen wird hier auf die Rechnung der negativen »Zeit« gesetzt und die Figur, also Petra, die sie praktiziert, damit moralisch entlastet. Die impliziten Sexualnormen des Textes lassen sich gut an der Beziehung zwischen Violet von Prackwitz und dem Leutnant Fritz illustrieren. Zum einen gilt, was Pagel gegenüber Violet ausführen darf, daß das Ver-

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halten des Leutnants ihr gegenüber unmoralisch sei, weil sie erst 15 Jahre alt ist: Mädchen dieses Alters gesteht der Text also noch keine sexuellen Beziehungen zu. Hinzu kommt die Asymmetrie der Beziehung: Während Violet Fritz in jugendlicher Schwärmerei für den scheinbaren »Helden« heftig emotional besetzt hat, ist sie für ihn nur ein gleichgültiges, austauschbares Sexualobjekt; seine alters-, geschlechts-, rollenbedingte Dominanz ihr gegenüber hat er ausgenutzt, ihr klarzumachen, daß sich zu sträuben albern sei. Infolge der Verführung durch den praktischen »Verderber« Fritz und verstärkt durch den theoretischen »Verderber«, den Diener Räder, der sie mit Lektüre zum Thema der menschlichen Sexualität versorgt (vgl. dazu Hagestedt 2011), entwickelt sie ein sexuelles Bedürfnis, das sie – nachdem Fritz sich lange nicht hat sehen lassen – mit Pagel zu realisieren versucht; sie schickt sich an, ihn zu »verführen«. Doch bevor wir uns dieser Szene widmen können, muß noch eine der erstaunlichsten und unheimlichsten Figuren diese Textes näher eingeführt werden: der Diener Hubert Räder, der für die Familie Prackwitz arbeitet. Räder wirkt auf seine Umwelt scheinbar gänzlich farblos und unscheinbar, scheinbar gänzlich unkommunikativ, scheinbar gänzlich gefühllos, scheinbar vollkommen unterwürfig; nur seine Mitbedienstete Armgard hat ihn als »Unhold« (WuW 454) klassifiziert und damit erkannt. Obwohl er, sein »fischiges« Wesen, für Violet »ekelhaft« ist (WuW 454), macht sie ihn zum Vertrauten: Er soll einen Brief an Fritz befördern, womit sie sich der Diskretion Räders gegenüber ihren Eltern ausliefert. Räder erklärt sich dazu unter einer Bedingung bereit; er will seine Hand auf Violets Brust legen dürfen. In der Dunkelheit ihres Zimmers wird die Operation vollzogen: Stumm, stumm, kein Laut kein Atemzug – »Wenn ich schreien könnte, aber ich kann ja nicht einmal atmen!« Und nun fühlt sie seine Hand auf ihrer Brust. Leiser kann sich kein Schmetterling auf der Blüte niederlassen, doch mit einem Schauder, der ihren ganzen Leib schüttelt, weicht sie zurück… Die Hand folgt dem ausweichenden Leib, sie legt sich kühl über die Brust… Sie kann nicht mehr zurückweichen, auch der Schauder vergeht… Kühl dringt es durch den leichten Stoff des Sommerkleides, Kühle dringt durch die Haut, dringt bis zum Herzen vor… […]. Ihre Sinne werden stumpf für die Außenwelt, sie spürt nur noch die Hand… Und spürt jetzt die andere Hand…Die Finger berühren leise tastend ihren Nacken, sie schieben die Haare zurück… Nun gleitet die Hand ganz um ihren Hals, mit einem leichten Druck liegt der Daumen auf dem Kehlkopf, dabei verstärkt sich der Druck auf ihrem Herzen… Sie macht eine rasche Bewegung mit ihrem Kopf, um ihren Hals von der Hand zu befreien – umsonst, fester liegt der Daumen auf… »Aber es ist doch bloß der Diener Hubert – er kann mich doch nicht ersticken wollen…« (WuW 453 f.)

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Die Szene grenzt natürlich an Vergewaltigung und an – in der Literatur der Frühen Moderne auffällig häufigen – Lustmord (vgl. dazu Lindner 1999; Wünsch 2002; Titzmann 2002), was der Text auch bestätigt: es sei etwas gewesen, »das man vielleicht die Probe auf einen Mord nennen kann« (WuW 461): Er ist nicht immer ein Mörder, meistens ist er nur ein kleiner ganz gewöhnlicher Bürger, das macht ihn so gefährlich! (WuW 461)

Was Violet geschieht, wird als »Bezauberung« (WuW 543), als »düstere Verführung« (WuW 461) benannt: Es wirkt wie eine zeichenhafte Markierung des späteren Opfers, wie eine erste Besitzergreifung. Wenig später bietet sich Violet praktisch Pagel an; sie tritt des Nachts an sein offenes Fenster; auf ihren Wunsch wird sie geküßt: Ach, es ist nicht nur Verderbtheit, die sie die Lust in des andern Umarmung suchen läßt – es ist auch die Angst vor dem, der unaufhaltsam in ihr vordringt! Er [= Räder] hatte die Hand auf ihr Herz gelegt, von ihr Besitz ergriffen… […]. Auf seiner Hand [= Pagel], die sich auf das Fensterbrett stützte, lag ihre Brust, er fühlte durch den seidigen Stoff ihre Schwere und Reife, schöner als jede Frucht… […]. Dann spürt er, daß sie unruhig wird, Sie möchte etwas sagen. Er will diese Lippen nicht loslassen, den Zauber nicht unterbrechen… Mit einer gelenkigen Bewegung schlüpft ihre linke Schulter aus dem Kleid. Während ihre linke Hand weiter auf seiner Schulter liegt, befreit die rechte die Brust… Da! Sagt sie klagend. Leg deine Hand darauf – es ist so kalt… Und ehe er noch seinen Willen befragen kann, hat sich seine Hand schon um ihre Brust geschlossen. Oh! seufzt sie und drängt ihre Lippen fester gegen die seinen. (WuW 463)

In dieser Szene, zweifellos der einzigen erotischen in dem umfänglichen Roman, widersteht Pagel schließlich der »Verführung des Fleisches« (WuW 463), indem er sich Petras entsinnt: Der Text baut hier die Opposition zwischen dem Mädchen Violet, die »verdorben«, aber nicht »wissend« sei, eine »Schlafwandlerin« (WuW 463 – vgl. dazu auch Broch 1932!), und der Frau Petra, die »wissend«, aber »unschuldig« sei. Nun hat Petra vor Pagel mit anderen Männern – wie er mit anderen Frauen – geschlafen und sich sogar gelegentlich prostituiert. Für diese überraschende Opposition Violet vs. Petra gibt es, scheint mir, nur eine mögliche Erklärung mit drei Komponenten: zum einen setzt der Text, Violet sei zu jung für Sexualität, zum zweiten sexuelles Begehren ohne emotionale Besetzung sei negativ, weshalb denn Pagel das Angebot unter Verweis auf seine affektive Bindung an Petra ablehnt, zum dritten sei auch Violet einem anderen, nämlich Fritz, verbunden. Im Entwicklungsprozeß lernt also Pagel erst, daß Erotik für ihn nur mit »Liebe« befriedigend ist; und auch die Unterschichtfrau Amanda, der sich gegen Textende als Ersatz für den früheren amoralischen Partner Meier ein Chauffeur und mit ihm eine solide bürgerliche Existenz, inklusi-

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ve ökonomischer Versorgung, anbietet, lehnt trotzdem mit dem Argument fehlender »Liebe« ab. Solche emotionale Bindung an den Sexualpartner als Voraussetzung für Sexualakte ist also Produkt eines Lernprozesses und Teil der vom Text geforderten und von den Figuren zu übernehmenden Verantwortung. Petra, die für Pagel zum »Maßstab« (WuW 346) geworden ist, an dem er, obwohl von ihr getrennt, andere Frauen mißt, wird im übrigen von ihm »Peter« genannt, was denn doch zu denken gibt. Im Gegensatz zu Violet, aber auch Eva von Prackwitz, denen im traditionellen Sinne sehr »weibliche« Körperformen zugeschrieben werden, scheint Petra denn auch eher dem androgynen Frauenbild zu entsprechen, das in den 20er Jahren von der Mode propagiert wird. Als »Peter« wird sie in eine männliche – latent homoerotische? – Gemeinschaft eingegliedert. Neben dem System der Sexualnormen ist das System der Eigentumsnormen in WuW von besonderer Relevanz. Die Inflation erscheint als eine Art unverschuldeter Enteignung, die Figuren ihres legitimen Besitzes beraubt, während amoralische Gestalten, Ausbeuter wie Teschow, der Viehhändler Quarkus,9 und diverse Schwarzhändler sich bereichern. Bei denen, die Hungersnot leiden, löst die Situation dann auch kriminelle Impulse aus; so stehlen notleidende Unterschichtler auf dem Gute der Prackwitz. Für solchen Bedarfsdiebstahl zeigt die Erzählinstanz Verständnis: Solche Normverletzungsneigungen führt sie ebenfalls auf die »Zeit« zurück: Viele Männer waren im Felde gewesen; dort hatte es nicht für eine Schande gegolten, sich zu ‚besorgen‘, was man brauchte. Allmählich hatte sich die Moral gelockert, es war keine Schmach mehr, Gesetze zu übertreten. Es war nur eine Schmach, sich dabei erwischen zu lassen. Laß dich bloß nicht erwischen! – diese immer volkstümlicher werdende Redensart kennzeichnete den Verfall aller Sitten. Alles war verwirrt. Keiner fand sich mehr zurecht. Es war immer noch Krieg. Trotz Friedensschluß war der Franzose immer noch Feind. Jetzt war er an der Ruhr eingerückt, es sollten dort schreckliche Dinge geschehen. Wie konnten die Leute anders denken, als sie dachten – anders handeln, als sie handelten? Wenn sie an der Villa vorbeigingen und hörten die Teller klappern, so sagten sie: Ja, der hungert nicht! Warum sollen wir hungern und er nicht? (WuW 385)

Wieder aber zieht der Text eine implizite Grenze zwischen solchem Diebstahl aus Not auf den Feldern und anderen Formen der Normverletzung, die als echte Kriminalität behandelt werden. Zu diesem Zwecke führt er die Gruppe der verurteilten Zuchthäusler ein, die zeitweilig als Landarbeiter auf das Gut von Prackwitz abgeordnet werden, angefordert, um rechtzeitig die Ernte einbringen zu können. Unter diesen befindet sich unter anderen Sophie Kowalewskis Geliebter Liebscher, der, unterstützt von Sophie, 9

Möglicherweise auch ein antijüdisches Stereotyp?

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zusammen mit einigen anderen die Gelegenheit des Arbeitseinsatzes zur erfolgreichen Planung der Flucht nutzt. Den Sträflingen wird eine merkwürdige Anziehungskraft auf die ländlichen Unterschichtfrauen zugeschrieben: Vier der Entflohenen quartieren sich im Herrenhause Teschows ein und führen in dessen Abwesenheit mit seinen Mägden ein kulinarisch wie erotisch vergnügliches Leben, ohne sich weiteren kriminellen Aktivitäten hinzugeben. Als sie wieder eingefangen werden, bedauern sie diese Episode keineswegs. Anders steht es mit Liebscher: Nicht nur, daß er zusammen mit einem weiteren Kriminellen den Totschlag am Förster Kniebusch begeht; er quartiert sich gegen den Willen von Sophies Vater bei diesem ein, der zu schwach ist, sich gegen Frau und Tochter durchzusetzen (also die vom Text erwartete Männerrolle nicht erfüllt): und er begeht Diebstähle, die über den als verständlich klassifizierten Mundraub hinausgehen und die Grenze des Akzeptablen überschreiten – daß er auch zum Mörder wird, markiert deutlich die Grenze zwischen verzeihbarer und nicht verzeihbarer Normverletzung, die WuW zieht. Die ja durchaus positiv bewertete Amanda Backs weiß nun sowohl vom Aufenthalt der vier vergleichsweise harmlosen Sträflinge im Herrenhause Teschows wie von dem des gar nicht harmlosen Liebscher in der Wohnung Kowalewskis und zeigt in beiden Fällen weder der Polizei noch Pagel, mit dem sie sonst vertrauensvoll zusammenarbeitet, die Anwesenheit der Zuchthäusler an. Pagel gegenüber legitimiert sie beides, indem sie »Verrat« empört ablehnt, auch wenn es sich um Verbrecher handelt und auch wenn sie selbst unter ihrem Schweigen leidet: Schließlich habe ich gedacht: halt das Maul, er [= Pagel] ist der einzige Mensch, der zu dir anständig ist, und er denkt auch: Verrat ist Verrat, und auch einen Zuchthäusler darf man nicht verraten! Ich habe nicht mehr aus noch ein gewußt. (WuW 698)

Als ihr Ex-Geliebter Meier das Waffenversteck der Putschisten der »Entente-Kommission«, d. h. einer Kommission der Siegermächte, anzeigt, die die Friedensvertragsbestimmungen überwacht, ohrfeigt sie ihn öffentlich wegen seines »Verrates«. »Verrat« ist denn in WuW auch ein stark rekurrentes Lexem.10 Auch daß Studmann sich allmählich zunehmend von Eva von Prackwitz angezogen fühlt und damit mit deren Mann, seinem Freund heimlich rivalisiert, wird – in diesem Falle von der Erzählinstanz selbst – unter »Verrat« subsumiert: »Von der Verurteilung des Freundes bis zu seinem Verrat war nur ein Schritt« (WuW 435). Nachdem ihr Waffenlager entdeckt worden ist, suchen die Anführer der Putschisten und insbesondere »der Dicke«, der anonym bleibende Ex-Kommissar, nach der Quelle des »Verrats«. »Verrat« deckt im Text also durchaus heterogene Verhaltensweisen ab: so den 10 Z. B. WuW 252, 269, 273, 366, 435, 446, 592, 594, 627, 657, 698.

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»Verrat« an den nationalistischen Putschisten, den »Verrat« an den entflohenen Kriminellen, den »Verrat« eines Freundes durch Begehren gegenüber seiner Frau. Daß das Verhalten der Putschisten selbst »Verrat« ist, nämlich Verrat an der offiziellen Politik der Regierung, juristisch »Hochverrat«, wird signifikanterweise nicht thematisiert (und damit aus negativer Bewertung ausgenommen). Wieder gibt es ein Problem der Grenzziehung: Welche der unterschiedlichen als »Verrat« klasssifizierten Verhaltensweisen ist im Sinne des Textes nun tatsächlich »Verrat«, also moralisch verwerfliches Verhalten? Wo sich der Text bezüglich von Studmanns Begehren der Frau des Freundes explizit festlegt, tut er es nicht, wo es um die Sträflinge geht. Zwar sorgt im Falle beider Zuchthäuslergruppen Pagel für ihre Festnahme, sobald ihm ihr Aufenthalt bekannt wird; aber Amandas Entscheidung, weder die einen noch die anderen zu »verraten«, wird nicht sanktioniert, obwohl sie frei herumlaufen zu lassen eindeutig das Wohl der Gesellschaft gefährdet. Amandas seltsame Solidarität selbst mit Kriminellen wird in WuW toleriert, und ihre Züchtigung des »Verräters« Meier erscheint als durchaus positiv. Werten wir einige der gesammelten Daten aus. Die dargestellte Welt befindet sich in einer massiven und manifesten Krise der Werte und Normen, die sowohl die Sexualnormen als auch die moralischen Normen im Umgang mit den Mitmenschen als auch die juristischen Normen als auch die politischen Normen betrifft, und diese Krise wird auf »die Zeit«, den verlorenen Krieg und seine Folgen, zurückgeführt. Diese Krise ihrerseits führt dazu, daß früher klare Grenzziehungen, die zwischen »moralisch« vs. »unmoralisch«, »wünschenswert« vs. »nicht-wünschenswert«, »(noch) akzeptabel« vs. »nicht (mehr) akzeptabel« unterschieden, zusammengebrochen sind. Solche narrativen Prozesse, in denen frühere Grenzziehungen infrage gestellt oder verschoben oder getilgt werden, sind nun freilich generell für die Literatur der Frühen Moderne charakteristisch (siehe dazu Titzmann 2002): Aber die Grenzverschiebungen bzw. Grenztilgungen werden im Verlaufe der 20er Jahre, und zumal gegen deren Ende konsequenter und radikaler: und das gilt auch für WuW. Der Roman ist auch darin typisch, daß er – implizit und tastend – neue Grenzen zu ziehen versucht, die freilich nicht mehr mit denen des alten Wert- und Normensystems identisch sind, so daß er Verhaltensweisen legitimiert, die früher als Normverletzung gegolten hätten und von den literarischen Texten »bestraft« worden wären. Typisch für die Frühe Moderne ist er auch darin, daß er dazu tendiert, »Normativität«, d. h. Grenzziehungen durch explizite Normen, durch »Normalität«, d. h. durch Grenzziehungen auf der Basis faktisch mehrheitlicher und ideologisch mehrheitsfähiger sozialer Praxis zu substituieren (vgl. Titzmann 2002). Dieser Übergang impliziert auch, daß eine qualitative Weltordnung, die durch disjunkte, klar abgegrenzte Klassen charakterisiert ist, durch eine Weltordnung ersetzt wird, in der es keine klaren Grenzen, sondern nur

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quantitativ verschiedene Grade gibt: So stehen sich denn in WuW auch nicht »Gute« vs. »Böse« gegenüber, sondern die Figuren lassen sich auf einer Skala eines Mehr oder Weniger an »(A-)Moralität« ordnen. Die in WuW schon eingangs gegebene Krisensituation eskaliert im Verlaufe der erzählten Geschichte immer mehr: bis zu den unwiderruflichen Katastrophen gegen Textende, denen nur Pagel und Petra in für sie befriedigender Form entkommen; alle anderen sind schließlich mehr (Violet, Prackwitz, Eva von Prackwitz) oder weniger (Studmann, Amanda) beschädigt, sofern sie nicht durch Tod getilgt werden wie Meier, der Leutnant Fritz, schließlich auch Räder; von dem der Text uns nahelegt, dieser sei durch »den Dicken« getötet worden, was ein Akt illegaler Selbstjustiz wäre – beiläufig wird einmal auch das Modell des Feme-Mords bei »Verrat« an den Putschisten thematisiert; freilich operiert »der Dicke« ohnedies außerhalb der Legalität, was im Text als Akt der Selbsthilfe angesichts eines behaupteten Versagens der staatlichen Organe erscheint und implizit gebilligt wird – ein fast schon mythisierter »Rächer«, dem durchaus auch eine unheimliche Komponente zugeschrieben wird. Die finsterste und unheimlichste Gestalt ist aber eindeutig Räder, auf den hier noch eingegangen werden muß. Der Leutnant Fritz glaubt, das von ihm betreute Waffenlager sei dank einer Unvorsichtigkeit Violets verraten worden; er nimmt an ihr öffentlich, in Gegenwart ihres Vaters, Rache, indem er ihr erklärt, daß er sie nie geliebt habe und verabscheue und daß es ihn vor ihr ekle. Violet bricht zusammen und rettet sich in eine Ohnmacht, Prackwitz, einmal mehr handlungsunfähig und der Situation nicht gewachsen, besäuft sich und verliert den Verstand (was bei ihm freilich nicht viel besagen will). Der Leutnant, der bei aller zweifelhaften Moralität doch ein ebenfalls fragwürdiges Konzept »militärischer Ehre« besitzt, sieht sich aufgrund des Verrats des Waffenlagers gezwungen, Suizid zu begehen, und rächt sich grausam an Violet, indem er ihr in Aussicht stellt, sie werde ihn noch heute mit zerschossenem Schädel finden. Aufgrund weiterer Geschehnisse kann er freilich selbst diese Absicht nur mit Hilfe Räders, der sich ihm aufdrängt, verwirklichen. Räder seinerseits verfolgt offenbar den Plan, sich sowohl an Fritz zu rächen als auch an Violet, von der er sich verachtet fühlt und die seine Entlassung bei ihrem Vater, Prackwitz, bewirkt hat. Nach dem einsamen Tod des Leutnants entführt Räder des Nachts die tatsächlich oder scheinbar bewußtlose Violet aus ihrem Elternhaus: Der Verlust wird entdeckt, Polizeibeamte, Pagel, »der Dicke«, der zuerst erkennt, wer der Täter sein muß, verfolgen die Spuren im Wald. Räder hat Violet offenbar zuerst zur Leiche des Leutnants gebracht und sie damit gequält, dann in einem Auto an einen unbekannten Ort gebracht. Viele Wochen später bringt »der Dicke« Violet, die er aufgespürt hat, zurück: Sie hat einen radikalen Selbstverlust erlitten, sie hat »keine Spur von eigenem Willen mehr« (WuW 713), sie handelt nicht mehr, sie spricht

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nicht mehr, sie hat kein Verhältnis zur Umwelt mehr, sie scheint kein Bewußtsein mehr zu haben. »Der Dicke« hatte schon früher erkannt, was Räder mit Violet vorhatte, und Pagel informiert: Es gibt solche, sagte der Dicke. Meistens, in gesunden Zeiten, lassen die andern sie nicht hoch kommen, aber in einer kranken, verfaulten Zeit, da wird es geil, solch Gewächs… Glauben Sie doch nicht, Pagel, daß das ein Mensch ist, daß der denkt und fühlt wie ein Mensch. – Das ist ein Scheusal, ein Wolf, der mordet, nicht um zu fressen, sondern um zu morden! Aber Sie sagen doch, er wird es nicht tun? Wissen Sie, was das ist: hörig – ? Können Sie sich das überhaupt vorstellen: hörig? Von dem Atemzug, dem Blick eines solchen Scheusals abhängig zu sein, nichts tun zu können ohne seinen Wunsch und Willen? […]. Und da er nun fort ist, wird er das Schlimmste tun, was er tun kann: er wird sie immer beinah ermorden und dann wird er sie wieder ein bißchen leben lassen. Was er so leben nennt, gerade noch, daß der Lebensfunke Todesangst empfinden kann… (WuW 632)

Später erfährt Pagel vom »Dicken«: »Er [= Räder] hat sie immer bloß Hure angeredet« (WuW 713). Das Konzept der »Hörigkeit« – übrigens auch eine Erfindung der Frühen Moderne11 – bedeutet, daß eine Person sich emotional (und im Regelfalle sexuell) von einer anderen abhängig machen läßt und sich ihrem Willen ohne Einschränkung unterwirft, hier bis zur extremsten Form des Selbstverlustes gesteigert. Nun geht der gewaltsam erzwungenen Hörigkeit Violets aber schon die symbolische Besitzergreifung durch Räder voraus, der sie sich – warum? – nicht zu entziehen vermochte. Eine mögliche Erklärung wird angedeutet: Wenn das Blut zu fein wird, erklärte der Dicke rätselhaft, dann verliert es an Kraft. Es will wieder hinunter. (WuW 628)

»Blut« ist nun bekanntlich eine der zentralen Metaphern der Frühen Moderne für alles Vitale: Es repräsentiert Abstammung, Lebenskraft, Sexualität. Was hier – nur scheinbar »rätselhaft« – behauptet wird, ist also, daß es in der Familiengeschichte zu einer »Dekadenz« (auch das als quasi-medizinischer Terminus eine Erfindung der Frühen Moderne) kommt: Der soziale Aufstieg führt zu einer »Überfeinerung«, die einer Schwächung der vitalen Antriebe äquivalent ist, was den Niedergang vorbereitet, der dann gewissermaßen unbewußt sogar angestrebt wird. Solche »Dekadenz« hat in der Frühphase der Frühen Moderne ja Thomas Mann in den Buddenbrooks 1901 thematisiert. Der Weg nach »unten« wird in WuW jedenfalls durch das Verfallen Violets an den außermoralischen und außersozialen semantischen Raum des Dieners repräsentiert. Wenn dem aber so ist, wie »der 11 »Hörigkeit« als psychophysischer Sachverhalt wurde in einer der vielen späteren Auflagen seines in der Frühen Moderne berühmten Buches Psychopathia sexualis (ursprünglich 1886) von Richard von Krafft-Ebing erfunden.

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Dicke« behauptet, dann wäre der Niedergang des Adels quasi biologisch vorprogrammiert; signifikanterweise gelingt auch dem positiven Studmann im Texte keine erotische Beziehung und folglich keine Vermehrung; am Textende hat er nur die Aussicht, für das Kind Pagels und Petras Onkel spielen zu dürfen; was an Adel noch einigermaßen unbeschädigt überlebt, behält als mögliche existentielle Sinngebung nur die Chance, der einzigen überlebensfähigen Gruppe, dem jungen Bürgerpaar, zu dienen. Räder markiert einen Extrempunkt in der dargestellten Welt, der für die »Normalen« wie Pagel nicht mehr vorstellbar, nicht mehr verstehbar ist, während negative Gestalten wie Teschow, wie Meier oder der Leutnant, sogar auch ein Liebscher zwar abweichend sind, aber ihr Verhalten noch nachvollziehbar, noch verstehbar scheint. Denn sie verletzen zwar mehr oder minder radikal in der Textwelt geltende Normen, aber sie tun das im Interesse von egozentrischen Werten; der Unterschied zur als legitim anerkannten Interessenvertretung besteht nur darin, daß sie dabei rücksichtslos die Interessen und Bedürfnisse anderer mißachten, die sie gegebenenfalls zu ruinieren oder im Extremfalls gar zu töten bereit sind: »Wölfe«, die im Gegensatz zu Räder die Schädigung anderer nur anstreben, wenn für sie daraus ein rationaler Gewinn, Lust oder Besitz, resultiert. Radikaler noch als der Leutnant vergreift sich Räder am – aufgrund von Geschlecht und Alter (und dem Grad der »Dekadenz«) – schwächsten Glied der dargestellten Welt. Daß der Extrempunkt der Abweichung vom Text durch die – auch sexuelle – Unterwerfung in »Hörigkeit« besetzt wird, hat sicherlich einen Grund darin, daß Selbstverlust in der Anthropologie der Frühen Moderne die gefährlichste Bedrohung der menschlichen Psyche ist: Am anderen Ende der Skala durchläuft umgekehrt Pagel einen Prozeß der Selbstfindung. In der Literatur der Frühen Moderne geht es in den Beziehungen der Personen untereinander immer wieder um Dominanz über oder Submission unter den oder die Andere(n); auch in erotischen Beziehungen, aber nicht nur dort, geht es gern um Macht (vgl. z. B. Titzmann 2002a). Noch radikaler aber als Räder über Violet, die dabei psychisch völlig zerstört wird, kann Macht über andere nicht ausgeübt werden.

Literatur Dinter, Arthur (1918): Die Sünden der Zeit. Romantrilogie. Teil 1: Die Sünde wider das Blut. Ein Zeitroman. 4. und 5. Auflage. Leipzig [u. a.]: Matthes & Thost. Broch, Hermann (1932): Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. 1.: 1888. Pasenow oder die Romantik. 2.: 1903. Esch oder die Anarchie. 3. 1918. Huguenau oder die Sachlichkeit. Zürich: Rhein. Fallada, Hans (1999): Bauern, Bonzen und Bomben. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag (AtV 5318).

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Fallada, Hans (2001): Wolf unter Wölfen. 23. Auflage. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag (rororo 11057). Feuchtwanger, Lion (1996): Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. 3. Auflage. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag (AtV 5007). Frank, Gustav (1998): Krise und Experiment. Komplexe Erzähltexte im literarischen Umbruch des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden: DUV. Hagestedt, Lutz (2011): »Was ein junger Mann vor und von der Ehe wissen muss«. Zur frühmodernen Konzeption der Sexualpathologie in Hans Falladas Roman Wolf unter Wölfen (1937). In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, 39–57. Horváth, Ödön von (1980): Sladek oder Die schwarze Armee. Hg. mit Dokumenten und Nachwort von Dieter Hildebrandt. Frankfurt/M.: Suhrkamp (st 163). Lindner, Martin (1994): Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart, Weimar: Metzler. Lindner, Martin (1999): Der Mythos »Lustmord«. Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932. In: Verbrechen – Justiz – Medien. Hg. von Joachim Linder u. Claus-Michael Ort. Tübingen: Niemeyer (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 70). Salomon, Ernst von (1930): Die Geächteten. Gütersloh: Bertelsmann. Titzmann, Michael (2002): »Grenzziehung« vs. »Grenztilgung«. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme »Realismus« und »Frühe Moderne«. In: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Hg. von Hans Krah u. Claus-Michael Ort. Kiel: Ludwig, 181–210. [Jetzt auch in ders.: Realismus und frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche. Hg. von Lutz Hagestedt. München: Belleville 2009 (Reihe Theorie und Praxis der Interpretation 7), 275–307]. Titzmann, Michael (2002a): Das »Unsichtbare« und die Phantasie der »Macht«. In: Sciences, sciences occultes et littérature (1890–1935). Hg. von Christine Maillard. Strasbourg (Sonderheft der Recherches germaniques 1), 173–202. [Jetzt auch in ders.: Realismus und Frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche. Hg. von Lutz Hagestedt. München: Belleville 2009 (Reihe Theorie und Praxis der Interpretation 7), 540–574]. Wünsch, Marianne (1983): Das Modell der »Wiedergeburt« zu »neuem Leben« in erzählender Literatur 1890–1930. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Hg. von Karl Richter u. Jörg Schönert. Stuttgart: Metzler, 379–408. Wünsch, Marianne (2002): Sexuelle Abweichung im theoretischen Diskurs und in der Literatur der Frühen Moderne. In: Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Hg. von Christine Maillard u. Michael Titzmann. Stuttgart [u. a.]: Metzler (M-&P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung), 349–368.

Marianne Wünsch

»Der Kleinbürger« in der erzählenden Literatur um 1930 Falladas Kleiner Mann – was nun? von 1932 gehört einer Gruppe von Texten um 1930 an, die Gemeinsamkeiten aufweisen, was das dargestellte soziale Milieu anlangt. Zu dieser Textgruppe gehören u. a. Werfels Der Tod des Kleinbürgers von 1927, Kästners Fabian von 1931, Horváths Der ewige Spießer von 1930, Keuns Das kunstseidene Mädchen von 1932, Kessels Herrn Brechers Fiasko, ebenfalls 1932 und Grafs Anton Sittinger, 1934/35 entstanden und 1937 publiziert. Als Gemeinsamkeit der Texte sei vorerst benannt, dass sie gänzlich oder teilweise in einer Großstadt spielen: Wien bei Werfel, München bei Graf und Horváth, Berlin bei Fallada, Kästner, Kessel, Keun – Orte, die im selben Zeitraum auch in anderen Texten zentral sind, so Berlin in Döblins Berlin Alexanderplatz von 1929, so München in Feuchtwangers Erfolg von 1930. Als zweite Gemeinsamkeit kann festgehalten werden, dass es bei dieser Textgruppe – nicht aber bei Döblin und Feuchtwanger – anhand der Protagonisten um eine soziale Gruppe geht, die als »Kleinbürger« benannt werden kann. Figuren aus dieser sozialen Gruppe konnten natürlich schon in der Literatur des 19. Jahrhunderts auftreten: Hier aber, um 1930, geht es in den Erzähltexten um sie nicht als Individuen, sondern als soziale Schicht in Relation zu anderen sozialen Schichten.1 Werfels Erzählung erhebt schon einen quasi programmatischen und generalisierenden Anspruch im Titel: nicht der Tod eines, sondern des Kleinbürgers ist das Thema. Der Protagonist im vorrevolutionären Kaiserreich, Portier in einer Behörde, in der nachrevolutionären Zeit Angestellter in einer Firma, ist todkrank, aber weigert sich gewissermaßen zu sterben, bevor nicht das Datum erreicht ist, an dem jene Lebensversicherung fällig wird, die seiner Witwe das ökonomische Überleben garantiert. Ideologisch erscheint er als ein Repräsentant des untergegangenen Kaiserreichs und dessen militärischhierarchischer Ordnung, mit der er sich identifiziert und der er sich bedingungslos unterwirft. So interpretiert denn der Sterbende seinen Widerstand

1

Vgl. dazu auch Lethen 1970, Krohn 1975 sowie Zachau 1984 und Zachau 1990, deren Erkenntnisse und Befunde zu diesem Problem ich dankbar aufgreife.

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Marianne Wünsch

gegen den Tod, der medizinisch längst eingetreten sein sollte, als Pflichterfüllung und Befehlsausführung in seiner ehemaligen Portiersrolle: Hier hat er auszuharren. Wer den Befehl gegeben, weiß er nicht mehr. Aber Befehl ist Befehl. Und was nicht vollendet ist, hat zu erfolgen. Es ist herrlich, unter Befehl zu stehn. (Werfel 1959: 55)

Und wenn er dann endlich sterben darf, interpretiert er seinen eigenen Tod noch einmal als Befehlsausführung bei einem Einzug des Kaisers: »Jetzt heißt es, sich zusammenreißen, im richtigen Augenblick vortreten und dem erstbesten Vorgesetzten entgegenschreien: ›Melde gehorsamst. Ableben erfolgt!‹« (Ebd.: 61) Sein Sterben wird denn auch im Gespräch zweier Humanmediziner interpretiert: »Schau einmal echten Proletariern beim Sterben zu. Das ist einfach erhebend. Sie haben keine Angst und keine Forderungen. Die Sache ist abgeschlossen. Sie sind ergeben, zufrieden, ruhig. Alle Proletarier sterben einander gleich. Nur die Spießer sterben differenziert. Die kleinsten selbst. Jeder Spießer hat seine eigene Art, nicht sterben zu wollen. Das kommt daher, weil er noch etwas anderes zu verlieren fürchtet mit dem Leben. Ein Bankkonto, ein schmieriges Sparkassenbuch, einen angesehenen Namen oder ein wackliges Sofa! Überhaupt: Bürger ist, wer ein Geheimnis besitzt…« (50)

Hier wird eine Opposition »Proletarier« vs. »Kleinbürger« aufgebaut, letzterer hier, wie bei Horváth im Titel als »Spießer« benannt. Diese Opposition wird in allen Erzählungen, die vom Kleinbürgertum handeln, konstitutiv sein. Immer geht es auch explizit oder implizit um die Grenzziehung zwischen beiden Gruppen aus der Perspektive des Kleinbürgers – einer der vielen Fälle in der Frühen Moderne, wo eine frühere semantisch-ideologische Grenze von Auflösung bzw. Tilgung bedroht ist.2 In Werfels Text besteht der Unterschied des Proletariers und des Kleinbürgers darin, dass ersterer nichts als sein Leben zu verlieren hat, letzterer hingegen meint, noch einen weiteren Wert verteidigen zu müssen, der signifikanterweise ein materieller Wert ist – ein Wert, der seinen Anspruch auf den sozialen Status als Bürger in Opposition zum Proletariat repräsentiert. Im Gegensatz zu Werfels Erzählung sind die anderen Romane eindeutig in der Gegenwart des Publikationszeitraumes situiert, wobei freilich Grafs Anton Sittinger schon 1917 einsetzt und bis zur Machtergreifung der Nazis erzählt. In diesen Texten sind die Protagonisten und Repräsentanten des Kleinbürgertums nicht zufällig Angestellte oder, wie bei Graf, kleine Beamte, wobei, wie Kracauer 1930 in Die Angestellten schon thematisiert hat, der Unterschied zwischen kleinen Angestellten und kleinen Beamten im Verschwinden begriffen ist, wenngleich letztere noch von dem Privileg pro2

Vgl. zu diesem zentralen Problem auch Titzmann 2002 bzw. Titzmann 2009.

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fitieren, auch in der Wirtschaftskrise der späten 20er Jahre nicht arbeitslos zu werden. Der Angestellte hingegen ist von Arbeitslosigkeit bedroht und sie ereilt ihn denn auch bei Horváth, Kästner, Kessel, Keun und Fallada. Diese Gefahr bedroht ihn nun zwar genauso wie den Arbeiter, aber gleichwohl besteht der Kleinbürger auf der sozialen Differenz und Abgrenzung zum Proletariat. Anhand der Angestellten hat Kracauer thematisiert, dass ihr realer sozialer Zustand sich dem des Proletariats angenähert hat: Über das Quantum der Sklaverei hier und dort lässt sich streiten, aber die Proletarisierung der Angestellten ist nicht zu bezweifeln. Jedenfalls gelten für breite, im Angestelltenverhältnis befindliche Schichten ähnliche soziale Bedingungen wie für das eigentliche Proletariat. (Kracauer 1971: 13)

Aber dieses Kleinbürgertum verleugne ihm zufolge diese Grenztilgung: Auf das Monatsgehalt, die so genannte Kopfarbeit und einige andere belanglose Merkmale gründen in der Tat gegenwärtig große Teile der Bevölkerung ihre bürgerliche Existenz, die gar nicht mehr bürgerlich ist […]. Die Stellung dieser Schichten im Wirtschaftsprozess hat sich gewandelt, ihre mittelständische Lebensauffassung ist geblieben. Sie nähren ein falsches Bewusstsein. Sie möchten Unterschiede bewahren, deren Anerkennung ihre Situation verdunkelt, sie fröhnen einem Individualismus, der dann allein sanktioniert wäre, wenn sie ihr Geschick noch als einzelne gestalten könnten. Auch dort, wo sie in und mit den Organisationen als Arbeitnehmer um bessere Daseinsbedingungen kämpfen, ist häufig ihr wirkliches Dasein durch das bessere bedingt, das sie einst hatten. Eine verschollene Bürgerlichkeit spukt in ihnen nach. [---] Alle diese Gegensätze schrumpfen im Vergleich mit dem zwischen Arbeitern und Angestellten zu Nuancen zusammen. Er wird als Klassengegensatz empfunden, obwohl er es im entscheidenden Punkt und auf lange Strecken hin nicht mehr ist. Nicht nur die Angestellten, die es besser wissen müssten, halten an ihm fest, sondern erst recht die Arbeiter, denen sein Schwinden offenbar entgangen ist. (Ebd.: 81 f. und 84)

Wie Kracauer es mit dem marxistischen Begriff des »falschen Bewusstseins« thematisiert: Die kleinbürgerliche Schicht konstruiert sich ein fiktives, soziales System ohne Realität, in dem eine klare Abgrenzung zum Arbeiter bestünde: Der Durchschnittsarbeiter, auf den so mancher kleine Angestellte gern herabsieht, ist diesem oft nicht nur materiell, sondern auch existentiell überlegen. Sein Leben als klassenbewusster Proletarier wird in vulgärmarxistischen Begriffen überdacht, die ihm immerhin sagen, was mit ihm gemeint ist. Das Dach ist allerdings heute reichlich durchlöchert. Die Masse der Angestellten unterscheidet sich vom Arbeiter-Proletariat darin, dass sie geistig obdachlos ist. Zu den Genossen kann sie vorläufig nicht hinfinden, und das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt, weil ihm durch die wirtschaftliche Entwicklung die Fundamente entzogen worden sind. Sie lebt gegenwärtig ohne eine Lehre, zu

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der sie aufblicken, ohne ein Ziel, das sie erfragen könnte. […] Nichts kennzeichnet so sehr dieses Leben, das nur in eingeschränktem Sinne Leben heißen darf, als die Art und Weise, in der ihm das Höhere erscheint. Es ist ihm nicht Gehalt, sondern Glanz. (91)

Das Proletariat hätte demnach eine – vulgärmarxistische – Ideologie, mittels derer es seinen Platz in der Gesamtgesellschaft wenigstens näherungsweise bestimmen kann: Der Kleinbürger hingegen hätte keinen auch nur einigermaßen funktionsfähigen ideologischen Überbau, mit Hilfe dessen er seinen eigenen sozialen Status leidlich zutreffend beschreiben könnte. »Geistig obdachlos« wäre er in der Tat in dem Sinne, dass er seine tatsächliche soziale Situation – seine Abstiegsbedrohtheit und latente Proletarisierung – verleugnet und an Ideologemen, Werten, Einstellungen festhält, die einem ökonomisch gesicherten Bürgertum angemessen waren. Zwei Punkte aus dem Zitat seien noch hervorgehoben: Der Kleinbürger würde demnach jenen in der Frühen Moderne so zentralen Wert des emphatischen Lebens nicht erreichen und das, was ihm anstrebenswert erscheint, wäre nicht mehr »Gehalt«, sondern »Glanz«. »Glanz« – offenkundig eine Eindeutschung des amerikanischen »glamour« – ist denn auch der, wenn auch unerreichbare Wert der Protagonistin in Keuns Roman, die »ein Glanz werden will«. »Glanz« bedeutet in diesem Sprachgebrauch offenbar die Verfügung über materielle Zeichen bürgerlichen oder großbürgerlichen Wohlstands und die Anerkennung dieses beanspruchten Sozialstatus durch die Umwelt, unabhängig davon, ob dem eine sozio-ökonomische Realität entspricht – nicht zufällig spielt in diesem Zeitraum denn auch die Figur des Hochstaplers, der solche rein materiellen Werte vorzutäuschen versteht, eine nicht unerhebliche Rolle in der Literatur, wie etwa Th. Manns Felix Krull oder Vicki Baums Menschen im Hotel belegen können. Die soziologischen Analysen des Kleinbürgertums, wie sie Kracauer am Beispiel der Angestellten betreibt, sind natürlich nicht zuletzt ein Folgeprodukt jener – von Marx inspirierten – Wissenssoziologie, wie sie sich seit Mitte der 20er Jahre, nicht zuletzt dank Karl Mannheim, herausgebildet hat. Dieses »falsche Bewusstsein« des Kleinbürgertums – also eine ideologische Einstellung, die mit seinem tatsächlichen sozialen Status inkompatibel ist, würde den Kleinbürger denn auch ideologisch kontaminieren. Sozialdemokratische oder kommunistische Positionen wären für ihn mit dem Proletariat verbunden und folglich, da er sich von diesem abgrenzen muss, inakzeptabel; das aber wiederum würde ihn, wie schon Reich 1933 in Die Massenpsychologie des Faschismus thematisiert hat, für den Nationalsozialismus anfällig machen: »Links« darf er um der Abgrenzung zum Proletariat willen nicht sein, seine traditionell »bürgerliche« Einstellung entspricht nicht seiner sozialen Realität, gegen die er sich gleichwohl auflehnt:

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Die faschistische Mentalität ist die Mentalität des kleinen, unterjochten, autoritätssüchtigen und gleichzeitig rebellischen »kleinen Mannes«. (Reich 1971: 15)

Wie Reich auch mit demographischen Daten zu belegen sucht, würde gelten: Vom Standpunkt seiner sozialen Basis gesehen, war der Nationalsozialismus ursprünglich eine kleinbürgerliche Bewegung […]. (Ebd.: 57)

Als links orientierter Psychoanalytiker verbindet Reich diese soziale Situierung der potentiellen Faschisten natürlich auch mit der These, dass ihre soziale Frustration nicht zuletzt auf der Selbstversagung befriedigender Sexualität beruhe; Theweleits Analysen faschistoider Erzähltexte der Weimarer Republik über den soldatischen Mann würden diese Vermutung stützen (vgl. Theweleit 1977). Eine solche Anfälligkeit des Kleinbürgertums für nationalsozialistische Ideologeme wird anhand der von mir zugrunde gelegten Texte mit kleinbürgerlichen Protagonisten nicht sichtbar, da diese Figuren eher durch ideologische Leere bzw. durch Unentschiedenheit der alternativen ideologischen Angebote des Zeitraums charakterisiert sind; hingegen hat Feuchtwanger in Erfolg, in dem der Hitlerputsch in München und seine Vorgeschichte in den Jahren 1921–1924 dargestellt werden, diese Anfälligkeit des Kleinbürgertums an Nebenfiguren vorgeführt und explizit von einem Großindustriellen thematisieren lassen: Im Grunde habe sich der Kleinbürger immer nach einer Autorität gesehnt, nach jemandem, dem er andächtig gehorchen dürfe. Im Herzen sei er niemals Demokrat gewesen. Jetzt gehe mit dem Wert seines Geldes seine demokratische Tünche vollends dahin. In der steigenden Not repräsentiere der Kutzer [Hitler] den letzten Fels und Hort, des Kleinbürgers Idol: den Helden, den strahlenden Führer, dem man aufs großartige Wort wollüstig gehorcht. (Feuchtwanger 2008: 433)

Die fiktive Grenzziehung zwischen Proletariat und Kleinbürgertum wird in den Texten immer wieder thematisiert. So kommt Kästners Fabian hinzu, als sich in einer der zeittypischen gewalttätigen Auseinandersetzungen ein Nazi und ein Arbeiter wechselseitig verletzt haben: »Ihre Partei«, er [Fabian] meinte den Faschisten, »weiß nur wogegen sie kämpft und auch das weiß sie nicht genau. »Und ihre Partei«, er wandte sich an den Arbeiter, »Ihre Partei…« »Wir kämpfen gegen die Ausbeuter des Proletariats«, erklärte dieser, »und Sie sind ein Bourgeois.« »Freilich« antwortete Fabian, »ich bin ein Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort.« (Kästner 1989: 66)

Kästners Protagonist, der vergleichsweise intellektuell ist, schließt sich zwar keiner der beiden Parteien an, aber sympathisiert zumindest eindeutig mit dem Proletariat:

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»Daß Ihr Euer Recht wollt, ist eure Pflicht. Und ich bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil ich die Gerechtigkeit liebe.« (Ebd.)

Fabian wird denn auch selbst Opfer des ökonomischen Systems und also arbeitslos, freilich ohne dass das bei ihm zu irgendeinem politischen Engagement führen würde. Von einer sozial abgestiegenen bürgerlichen Witwe heißt es bei Horváth: Und je ärmer sie wurde, umso stärker betonte sie ihre gesellschaftliche Herkunft, mit anderen Worten: Je härter sie ihre materielle Niederlage empfand, umso bewusster wurde sie ihrer ideellen Überlegenheit. Diese ideelle Überlegenheit bestand vor allem aus Unwissenheit und aus der natürlichen Beschränktheit des mittleren Bürgertuns. Wie alle ihresgleichen haßte sie nicht die uniformierten und zivilen Verbrecher, die sie durch Krieg, Inflation, Deflation und Stabilisierung begaunert hatten, sondern ausschließlich das Proletariat, weil sie ahnte, ohne sich darüber klar werden zu wollen, dass dieser Klasse die Zukunft gehört (Horváth 1987: 139)

Generalisierend wird hier die latente Neigung eines abstiegsbedrohten Bürgertums zu rechtsradikalen Gruppierungen thematisiert. Auch ein ebenfalls abstiegsbedrohter Protagonist des Romans, der typischerweise keine erkennbaren festen Wertvorstellungen hat, erweist sich als anfällig für rechtsradikale Positionen: In München ging es damals (1922) drunter und drüber, und Kobler bot sich die Gelegenheit, die politische Konjunktur auszunutzen. Er hatte ja nichts zu beißen, und als Mittelstandssprössling stand er bereits und überzeugt politisch rechts und wusste nicht, was die Linke wollte – aber so sehr rechts stand er innerlich doch nie wie seine neuen Bekannten, denn er besaß doch immerhin ein Gefühl für das Mögliche. »Es ist eigentlich alles möglich«, sagte er sich. Einer seiner neuen Bekannten gehörte sogar einem politischen Geheimbund an, mit dem seinerzeit die politische Polizei sehr sympathisierte, weil dieser Geheimbund noch rechtsradikaler war als sie selbst. Er hieß Wolfgang und verliebte sich in Kobler, aber dieser ließ ihn nicht ran. (Horváth 1995: 187)

Der abgestiegene Kleinbürger ist zwar politisch uninformiert, aber quasi instinktiv zur Rechten tendierend. Ähnlich wie Feuchtwanger thematisiert auch Horváth hier, dass die Institutionen der Weimarer Republik mit den Feinden eben dieses Staates sympathisieren; eine hübsche kleine Bosheit ist es, dass der rechtsradikale Freund des Protagonisten homosexuell ist. Der politische Opportunismus des kleinbürgerlichen Protagonisten zeigt sich massiv, als er im Zug eine Industriellentochter kennen lernt, durch die er in die Firma ihres Vaters einzuheiraten hofft. Hatte er sich vorher von einem Reisebekannten scheinbar für die utopische Idee eines vereinigten »Paneuropa« begeistern lassen, hat er kein Problem, den politisch unbedarften Einstellungen der potentiellen Erbin zuzustimmen:

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»Ja, die Juden machen die Arbeiter ganz gehässig«, ließ sich der weibliche Zellenstaat wieder vernehmen. »Nein, ich kann die Juden nicht leiden, sie sind mir zu widerlich sinnlich, überhaupt stecken die Juden überall drinnen. Ja, es ist sehr schad, dass wir kein Militär mehr haben, besonders für diese halbwüchsigen Arbeiter und das Pack! Nein, also diese Linksparteien verwerf ich radikal, weil sie immer wieder das Vaterland verraten. Ja, ich war noch ein Kind, als sie den Erzberger erschossen haben! Nein, und das hat mich schon damals sehr gefreut!« (Ebd.: 212 f.)

Schon in einer kurzen Vorrede zum Roman hatte Horváth sich generalisierend zur Figur des Kleinbürgers, bei ihm »Spießer«, geäußert: Der Spießer ist bekanntlich ein hypochondrischer Egoist, und so trachtet er danach, sich überall feige anzupassen und jede neue Formulierung der Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet [...]. Der neue Typ des Spießers ist erst im Werden, er hat sich noch nicht herauskristallisiert. (129)

Als Merkmal wird dem »neuen Spießer«, dem seinerzeit also aktuellen Kleinbürger, Egoismus zugeschrieben, Orientierung an ausschließlich materiellen Werten und ideologischer Opportunismus. Diese Generalisierung wird anhand des Protagonisten bestätigt: Sobald dieser erkennen muss, dass er die potentielle Erbin nicht erhalten wird, weil diese, ebenso wie er, nur am Wert »Geld« interessiert, einen reichen Amerikaner vorzieht, kehrt er scheinbar zur Idee von »Paneuropa« zurück, weil er nun »am eigenen Leibe« Amerikas brutale Vorherrschaft, »diese unheilvolle Hegemonie« erfahren habe; der Kleinbürger charakterisiert sich also nicht zuletzt dadurch, dass er eine punktuelle biographische Erfahrung zur Weltanschauung generalisiert. In Kessels Roman erkennt der eher intelligente Protagonist: daß er als Angestellter noch immer empfindlich von der Masse getrennt blieb, zu schweigen von den anderen Kollegen, die ein Standesbewusstsein pflegten, das einer Kopie höherer Welten entsprach und völlig aus zweiter Hand lebte. (Kessel 2001: 394)

Vom Protagonisten in Grafs Roman heißt es: Menschen wie Sittinger gibt es in allen Ländern Abertausende. Ihre Zahl ist Legion. Alle Gescheitheit und List, aller Unglaube und alle Erbärmlichkeit einer untergehenden Schicht ist in ihnen vereinigt. [---] Sie erscheinen harmlos, und ihr giftiger Egoismus gibt sich stets bieder. Sie sind die plumpsten und verheerendsten Nihilisten unter der Sonne. Man hat politisch mit ihnen zu rechnen, wenn man die Welt verändern will […] Sie sind nicht einmal gärende Gegenwart, nur Vergangenheit und darum die unangreifbarsten Totengräber jeder gerechten Gesellschaftsordnung, instinktiv hassen sie den sozial benachteiligten, den Arbeiter und Armen, und ihr tückischer Haß wird sofort zur unversöhnlichsten Feindschaft, sobald sie merken, daß sie bei einer sozialen Umwälzung etwas einzubüßen hätten. Deswegen ist ihnen die wirkliche Demokratie ein Greuel. Darum sind sie so schrullig

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konservativ, so stockreaktionär und meist monarchistisch. Sie leisten der Diktatur nur Gefolgschaft, wenn sie meinen, daß ihre Gewohnheiten und ihr Besitz dabei unangetastet bleiben. (Graf 1998:192)

Einige Gemeinsamkeiten seien festgehalten. Der Kleinbürger dieser Texte sieht sich vom sozialen Abstieg bedroht und verteidigt seine – wenn auch illusionäre – Abgrenzung als Beamter oder Angestellter vom Arbeiter. Wo ihr ökonomischer Status längst der des Proletariers ist, beanspruchen sie den sozialen Status des Bürgers. Ihr ideologisches Selbstverständnis steht also im Widerspruch zu ihrer tatsächlichen sozialen Situation. Weil sie keine Arbeiter sein wollen, müssen sie sich von den Parteien abgrenzen, die die Interessen der Arbeiter zu verteidigen behaupten, also von SPD und KPD. Wenn und insoweit sie ihre eigene durchaus als misslich empfundene Situation auf überindividuelle Systemfaktoren zurückführen, müssen sie, falls sie konsequent sind, dann den aktuellen Staat der Weimarer Republik ablehnen, was sie anfällig für Rechtsradikalismus macht. Ideologisch desorientiert, wie sie sind, bedürfen sie irgendwelcher Autoritäten, denen man sich, zumindest zeitweilig, unterwerfen kann; diese können wechseln. Das ideologische System des Kleinbürgers, seine Werte und Normen, erscheinen als inauthentisch, insofern sie die eines Bürgertums sind, aus dem sie schon herausgefallen sind. In ihrer gelegentlich auch eingestandenen Desorientiertheit neigen sie zum ideologischen Opportunismus: zur Präferenz für die Einstellungen, die dem Individuum größten ökonomischen Nutzen versprechen. Da sie im Gegensatz zum Proletariat kein »Klassenbewusstsein« haben können, da ein solches ja eine zumindest tendenziell zutreffende Analyse des eigenen Status voraussetzen würde, kennen sie auch keine Gruppensolidarität, sondern nur egozentrische Interessen. Ihre prekäre soziale und ihre katastrophale ökonomische Situation hat immer auch zerstörerische Folgen für ihr eheliches oder nicht-eheliches Privatleben, die sozioökonomische Situation wirkt auch in ihr Privatleben hinein. Ausgenommen von diesen Tendenzen der Einstellungen und der Verhaltensweisen sind in den einschlägigen Erzähltexten nur jene Kleinbürger, denen eine gewisse Intellektualität und Reflexionsfähigkeit zugeschrieben wird, wie es das bei Kästner und Kessel gibt. In diesem Grenzfall konstruiert sich der exzeptionelle Kleinbürger gewissermaßen als »frei schwebende Intelligenz« im Sinne Mannheims: als jemand also, der im Gegensatz zum wissenssoziologischen Normalfall imstande wäre, sich in seinem Denken von der eigenen sozialen Bedingtheit zu lösen. Ausgenommen von diesen Tendenzen ist aber gewissermaßen auch Falladas Protagonist, der freilich alles andere als ein Intellektueller ist. Auch in Falladas Roman wird die Opposition von Proletariat und Kleinbürger aufgebaut. Der Angestellte Pinneberg heiratet die Arbeitertochter Emma, aus welchem Anlass deren Herkunftsfamilie besucht wird. Es sind hier die – gewissermaßen »klassenbewussten« – Proletarier, die die

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Opposition betonen: Nachdem Emmas Mutter erfragt hat, dass Pinneberg Angestellter sei, konstatiert sie: »Arbeiter« wäre mir lieber.« (Fallada 1950: 21). Emmas Vater hält Pinneberg vor: »Ihr denkt, ihr seid was Besseres als wir Arbeiter« (ebd.: 25): Weil Sie unbezahlte Überstunden machen, weil Sie sich unter Tarif bezahlen lassen, weil Sie nie ’nen Streik machen, weil Sie immer die Streikbrecher sind. (Ebd.)

Gesetzt wird also, dass die Angestellten sich nicht nur besser ausbeuten lassen als die Arbeiter, sondern zudem auch bei Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern sich – gegen ihre eigenen Interessen – nicht mit den Arbeitern solidarisieren. Pinneberg seinerseits teilt das ideologische Selbstverständnis der Kleinbürger: »Wir denken doch auch anders als die meisten Arbeiter, wir haben doch andere Bedürfnisse…« (Ebd.)

Auffällig ist auch, dass diese Begegnung mit Emmas Eltern zugleich die erste und letzte ist; man pflegt keinen Kontakt mit den proletarischen Verwandten. Der Text führt freilich vor, dass auch der kleine Angestellte sich permanent im Überlebenskampf befindet und folglich auch in seiner Existenz die ökonomischen Probleme dominieren. Auffällig ist nun freilich an unserem Text, dass es auch innerhalb dieser Gruppe keine Solidarität untereinander gibt: Wenn Pinneberg in Notsituationen überhaupt Unterstützung erhält, dann von Figuren, die sich selbst eher am Rande der Gesellschaft befinden, wie sein früherer Kollege, der inzwischen Aktfotos verkauft, oder wie der Liebhaber seiner Mutter, der ein vorbestrafter Kleinkrimineller ist. Signifikant ist auch, dass der Text keinerlei ökonomische oder soziologische oder politische Erklärungsangebote für die zunehmend missliche finanzielle Situation des Protagonisten macht: Er verliert dreimal eine Anstellung und ist am Textende arbeitslos, aber diese biographischen Katastrophen werden immer privatistisch motiviert; sie erscheinen als Folge unmoralischen Fehlverhaltens von Kollegen oder Arbeitgebern, nicht aber als Folge eines negativen überindividuellen Systems, wie dies etwa bei Horváth, Graf, Kästner, Kessel der Fall ist. Auch führen die biographischen Katastrophen nicht etwa zu einer Politisierung des Protagonisten; wo in anderen Texten der Negativzustand des gegebenen Systems von den Figuren zumindest – zutreffend oder nicht – diskutiert wird, gelangt Pinneberg nicht über unspezifische Klagen über seine individuelle Situation hinaus. Dieses Kleinbürgertum ist außerstande, seine eigene Situation als Folge eines bestimmten sozioökonomischen Systems zu analysieren, und es zieht auch keinerlei politische Konsequenzen:

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»Natürlich werden sie was erleben«, sagt Pinneberg. »Die meisten bei uns sind ja auch schon Nazis.« »Danke!« sagt Lämmchen. »Ich weiß, was wir wählen.« »Natürlich.« »Das wollen wir uns noch mal überlegen«, sagt Pinneberg. »Ich möchte ja auch immer, aber dann bringe ich es doch nicht fertig. Vorläufig haben wir ja noch eine Stellung, da ist es ja noch nicht nötig.« (228)

Eine politische Wahlentscheidung trifft dieser Kleinbürger sozusagen nur opportunistisch in Abhängigkeit vom eigenen Befinden – nicht aber, weil er selbst eigene Überzeugungen hätte. Aufgrund ihrer sozialen Herkunft aus dem Proletariat unterscheidet sich Emma signifikant von Pinneberg: Wenn sie auch sanft ist, sie ist viel zäher als er, sie würde hier nicht stehen, sie ist in der S.P.D. und im Afa-Bund gewesen, aber nur, weil der Vater da war, sie gehört eigentlich in die K.P.D. Sie hat so ein paar einfache Begriffe, daß die meisten Menschen nur schlecht sind, weil sie schlecht gemacht werden, daß man niemanden verurteilen soll, weil man nicht weiß, was man selber täte, daß die Großen immer denken, die Kleinen fühlen es nicht so – solche Sachen hat sie in sich, nicht ausgedacht, die sind in ihr. Sie hat Sympathien für die Kommunisten. (159 f.)

Ein Handwerksmeister, bei dem die Pinnebergs zeitweilig Unterkunft gefunden haben, hält ihm denn auch vor: »Sind sie kein Kommunist?« »Ich? Nein.« »Komisch. Wenn ich Sie wäre, ich wäre Kommunist.« »Sind Sie Kommunist, Meister?« »Ich? Keine Bohne. Ich bin doch Handwerker, wie kann ich da Kommunist sein?« (401)

Die Stelle verdeutlicht, dass im Sinne der Wissenssoziologie der Epoche, die ideologische Einstellung das Produkt des eigenen sozialen und ökonomischen Status wäre, was in unserem Text sowohl auf die Proletarier als auch für die besitzenden Handwerkermeister zutrifft, aber eben nicht auf den Angestellten Pinneberg, der, marxistisch gesprochen, ein »falsches Bewusstsein« hätte. Pinneberg reagiert denn auch auf die Katastrophen ohne jede Rebellion, wäre sie auch nur verbal, und tendiert zum resignativen Akzeptieren seines Zustandes. Das Paar konstruiert sich den Raum des privaten familiären Lebens als ungefährdete Insel, die letztlich weder durch Sorgen oder Armut tangiert wird; diese Pseudo-Idylle wird niemals durch die Unzufriedenheit mit der eigenen ökonomischen Situation gestört. Auch bleibt Pinneberg in allen Katastrophen seinem bürgerlichen Wertsystem verhaftet und begeht nicht einmal kleine Normverletzungen, die, wie etwa Holzdiebstahl, anderen selbstverständlich als Abhilfe dienen. Der Text thematisiert beiläufig, was etwa auch in Kästners Roman, aber auch in anderen Texten

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Falladas selbst, vorkommt: dass unverheiratete oder auch verheiratete Frauen sich aus ökonomischen Gründen prostituieren, auch das ist in der mentalen Welt der Pinnebergs gänzlich undenkbar. Stärker noch als seine Arbeitslosigkeit trifft es unseren Protagonisten, als ihn ein Polizist vom Schaufenster eines Delikatessengeschäfts unter Gewaltandrohung wegtreibt: Und plötzlich begreift Pinneberg alles, angesichts dieses Schupo, dieser ordentlichen Leute, dieser blanken Scheiben begreift er, dass er draußen ist, dass er hier nicht mehr hergehört, dass man ihn zu Recht wegjagt: ausgerutscht, versunken, erledigt. Ordnung und Sauberkeit: Es war einmal. Arbeit und sicheres Brot: Es war einmal. Vorwärtskommen und Hoffen: Es war einmal. Armut ist nicht nur Elend, Armut ist auch strafwürdig. Armut ist Makel, Armut heißt Verdacht. (412)

Es ist also nicht die ökonomische Not, die den Protagonisten besonders trifft, es ist der soziale Abstieg ins Proletariat und dessen zeichenhafte Inszenierung. Was ihn trifft, ist also nicht die tatsächliche Realität seiner Situation; was ihn trifft, ist sozusagen der Imageverlust. »O Lämmchen, was haben sie mit mir gemacht …Die Polizei…heruntergestoßen haben sie mich vom Bürgersteig…weggejagt haben sie mich…wie kann ich noch einen Menschen ansehen…?« (425)

Der Kleinbürger konstruiert also seine Identität als Funktion des von ihm beanspruchten Sozialstatus, selbst wenn er selbst schon längst ökonomisch proletarisiert ist und zudem schon seit 14 Monaten arbeitslos ist, will er dennoch als bürgerlich anerkannt werden, auch wenn diesem Anspruch keine Realität mehr entspricht. Es geht ihm nicht darum, was er ist, es geht ihm darum, für was er gehalten wird. Was seine Mentalität anlangt, ist der Kleinbürger nicht grundsätzlich von der für die Literatur der Weimarer Republik signifikanten Figur des Hochstaplers unterschieden, nur dass er nicht, wie dieser, daraus normverletzende Konsequenzen zieht. Aber auch diese – Pinnebergs massivste – narzistische Kränkung kann dann, behauptet der Text, durch die Idylle des ehelichen Familienlebens kompensiert werden: »es ist das alte Glück, es ist die alte Liebe«. (225) Ein befriedigendes Privatleben immunisiert hier also gegen die größten ökonomischen und sozialen Katastrophen. Die dezidierte Entpolitisierung des absteigenden Kleinbürgertums, die Harmonisierung und Idyllisierung der Familie als Raum des Rückzugs und der totalen Geborgenheit, die Aufrechterhaltung eines – sozial gesehen – bürgerlichen Wert- und Normensystems, die »Anständigkeit« um jeden Preis, die in diesem Roman abgefeiert werden und ihn nicht nur von den anderen zeitgenössischen Darstellungen kleinbürgerlicher Existenz, sondern auch von anderen, sehr viel »politischeren« und »realistischeren« Romanen Falladas selbst unterscheidet: Das mögen die Ursachen dafür sein, dass dieser Roman ein Bestseller und auch schon früh verfilmt wurde.

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Literatur Fallada, Hans (1950): Kleiner Mann – was nun? Hamburg: Rowohlt (Rowohlt Taschenbuch 1490). Feuchtwanger, Lion (2008): Erfolg. Roman. 6. Auflage. Berlin: Aufbau. Graf, Oskar Maria (1998): Anton Sittinger. Ein satirischer Roman. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv 12453). Horváth, Ödön von (1995): Der ewige Spießer. Frankfurt/M.: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch 2373). Kästner, Erich (1989): Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv 11006). Kessel, Martin (2001): Herrn Brechers Fiasko. Roman. Frankfurt/M., Wien, Zürich: Büchergilde Gutenberg. Kracauer, Siegfried (1971): Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt/M.: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch 13). Krohn, Klaus-Dieter (1975): Hans Fallada und die Weimarer Republik. Zur Disposition kleinbürgerlicher Mentalitäten vor 1933. In: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich. Hg. von Helmut Arntzen, Bernd Balzer, Karl Pestalozzi und Rainer Wagner. Berlin, New York: de Gruyter, 507–522. Lethen, Helmut (1970): Falladas Kleiner Mann – was nun? und die bürgerlichen Mittelstandstheorien. In ders.: Neue Sachlichkeit 1924–1932. Studien zur Literatur des »Weißen Sozialismus«. Stuttgart: Metzler, 156–167. Reich, Wilhelm (1971): Die Massenpsychologie des Faschismus. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Theweleit, Klaus (1977): Männerphantasien. 2 Bde. Frankfurt/M.: Roter Stern. Titzmann, Michael (2002): »Grenzziehung vs. Grenztilgung«. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme »Realismus« und »Frühe Moderne«. In: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Hg. von Hans Krah u. Claus-Michael Ort. Kiel: Verlag Ludwig, 181–209. Auch in ders.: Realismus und Frühe Moderne. Beispielinterpretationen und Systematisierungsversuche. Hg. von Lutz Hagestedt. München: Belleville 2009 (Reihe Theorie und Praxis der Interpretation 7), 275–307. Werfel, Franz (1959): Der Tod des Kleinbürgers. Erzählung. Stuttgart: Reclam (RUB 8268). Zachau, Reinhard K. (1984): Ein kleinbürgerlicher Glückspilz. In: New German Studies 12 (1984) N°1, S. 21–35. Auch in ders.: Hans Fallada als politischer Schriftsteller. Bern [u. a.]: Lang 1990 (American University Studies. Series I: Germanic Languages and Literature 83). 173–181. Zachau, Reinhard K. (1990): Der Kleinbürger als Hoffnungsträger: Kleiner Mann – was nun? In ders.: Hans Fallada als politischer Schriftsteller. Bern [u. a.]: Lang (American University Studies. Series I: Germanic Languages and Literature 83), 79–105.

Reinhard K. Zachau

Fallada’s Modernist Characters in his Berlin Novels Little Man, What Now?, Wolf Among Wolves and Every Man Dies Alone Most of Hans Fallada’s novels, whether written during or after the Weimar period, reflect the tension between tradition and modernity that would eventually destroy Weimar society. Fallada had encountered this dichotomy as a journalist for the Neumünster General-Anzeiger covering the Landvolkprozess of 1929 in which the Prussian state was determined to punish the most radical farmers for their violent revolt against state institutions (cf. Crepon 1993). Fallada was familiar with the destructive effects of overtaxing farms from an earlier job at an estate in Pomerania. The contrast between the city where political decisions were made and North Germany’s often still pastoral country life became the topic of his most successful novels. As these novels would show again and again, this stark contrast between the decadent city and traditional provincial life which Ernst Bloch called Germany’s asynchronic perspective or »Ungleichzeitigkeit« represents the fatal flaw in Weimar’s political fabric (Bloch 1962: 113). In this paper I focus on Fallada’s evolving narrative technique from his first great Weimar novel, Little Man, What Now?, conceived and written in the midst of Germany’s Great Depression in 1932, to Wolf unter Wölfen, his second Weimar novel about the inflation of 1923 written during the Nazi period in 1937. In their attempt to alleviate the underlying social tensions by offering solutions based on the characters, Fallada’s novels transcend Neue Sachlichkeit with its claim to be objective and neutral.1 The reader, Fallada proclaimed in his introduction to his first successful novel Bauern, Bonzen und Bomben (1931), should form his own opinion, as he himself had needed time to sort things out. Fallada’s mission then, became the creation of a literary style that lets readers choose their side in the difficult issues at stake. In both novels, Fallada uses the contrast between city and country to refine his skills of creating opposite character types. In establishing scenic 1

Despite its intended claim of neutrality the Neue Sachlichkeit has been labeled (by Karl Prümm) a counter-expressionist writing strategy that was primarily used by leftist authors.

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Reinhard K. Zachau

contexts with fictional characters Fallada’s texts resemble film scripts where the tension between the environment and the character creates a subtext, which offers each character an individual way to resolve his conflict. The term »Neue Sachlichkeit« originates in art history where it was used to liberate the »objectified« world from its traditional idealist meaning. Walter Benjamin had described modern art as »objectified and free of any notion of an aura« (his term for a religious dimension), and thereby as liberating it from the weight of history (cf. Benjamin 1972). By focusing on the object and its connection to its surroundings, the viewer discovers new relationships and contexts. Thus, Neue Sachlichkeit constitutes a synchronic way of seeing, while the traditional way could be called diachronic in its attempt to understand objects in their historical context. Little Man, What Now? shows everyday life as interaction with objects of daily use, which gives the novel its surface structure. Since Fallada resisted John Dos Passos’ and Alfred Döblin’s radical avant-garde techniques, where people are presented in their existential loneliness and an ice-cold atmosphere (cf. Ulrich 1995), his novels offers a mix of modern and conventional narratives that seem to hide their modernism within a traditional narrative. Fallada’s precise surface descriptions of narrative scenes are never self-supporting, but are always an expression of the interior state of the characters. Tucholsky wrote that Fallada has the proper distance to his characters, close, but never too close; – evidence of his precise training as a journalist where the author disappears behind his story (cf. Tucholsky 1931). Fallada’s dependency on his model Hemingway is evident in his masterful use of mirrors that reflect the psyche of the characters (cf. Zachau 2003). The novel Little Man, What Now? contains several examples of objectifying the experience of the protagonists. How much these interior rooms determined the characters’ lifestyles becomes obvious in looking at a few examples. The gradual decline of Pinneberg and his wife in their rapid descent into poverty is reflected in rooms that are barely habitable. As in Hemingway’s novels, the living quarters in Little Man, What Now? externalize the biographies of the acting novel figures in their belongings and surroundings. Another example is the Pinneberg’s encounter with their first landlady, Frau Scharrenhöfer. Bunny (Lämmchen) Pinneberg, who wants to raise their baby in the room, recognizes the unpractical nature of the old pre-Weimar apartment, where the only mechanical piece is a clock which tells the wrong time. Another example of objectification is the bedroom the elder Mrs Pinneberg wants to rent to the younger Pinnebergs, which contains a huge Rococo style bed whose presence reveals the older Mrs Pinneberg’s yearning for an aristocratic lifestyle. The much-needed clock is missing here, as well as a mirror, to maintain a false sense of security and to show a disdain for history. Another example is the dresser that Pinneberg buys for his wife.

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Critics generally described it as a celebratory purchase and an expression of his petit bourgeois mentality (cf. Gessler 1976). Pinneberg’s second rental apartment above a movie theater in Berlin is likewise a reminder of the family’s financial situation. The apartment’s proximity to the movie theater opens their private quarters to the public. Pinneberg’s attempt to take back their private sphere by using the ladder instead of the normal staircase echoes the Romantic withdrawal in Ludwig Tieck’s Des Lebens Überfluss (1838) where the stairs are removed to isolate the loving couple from society. The Pinneberg’s apartment next to a movie theater that broadcasts narratives about the lives of little men serves as an amplification of their inability to withdraw from society. The Pinnebergs themselves watched such a movie and, after later meeting the actor who played the little man, Pinneberg realizes the significant difference between life and reality. The actor shows no sympathy towards his plight and is responsible for Pinneberg’s dismissal from his job. The final scene showing Pinneberg reflected in a shopping window in the famous Friedrichstraße reveals his situation: There was a big delicatessen, brilliantly illuminated. Pinneberg pressed his nose flat against the window, perhaps there was someone still there whose attention he could attract by knocking. He had to get his butter and bananas! A voice beside him said, in a low tone: »Move along there!« … [R]eflected in the window as another figure: a pale outline without a collar, in a shabby coat, with trouser besmirched with tar. And suddenly Pinneberg understood everything. Faced with this policeman, these respectable people, the bright shop window he understood that he was on the outside now, that he didn’t belong here any more, and that it was perfectly correct to chase him away. Down the slippery slope, sunk without trace, utterly destroyed. (Little Man, What Now, 314)2

Pinneberg, who can no longer afford proper business attire, sees himself in front of several well-dressed evening strollers in Berlin’s luxury shopping district for what he really is: A run-down unemployed bum, useless to society, pushed around by the police as an undesirable element. The contrast in appearance in the shopping window is so great that he immediately ac-

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»Da ist eine große Delikatessenhandlung, strahlend erleuchtet. Pinneberg drückt sich die Nase platt an der Scheibe, vielleicht ist hinten jemand im Verkaufsraum, dem er klopfen könnte. [...] Eine Stimme sagt halblaut neben ihm: ›Gehen Sie weiter.‹ [...] [I]n der spiegelnden Scheibe des Fensters steht noch einer, ein blasser Schemen, ohne Kragen, mit schäbigem Ulster, mit teerbeschmierter Hose. Und plötzlich begreift Pinneberg alles, angesichts dieses Schupo, dieser ordentlichen Leute, dieser blanken Scheibe begreift er, dass er draußen ist, dass er hier nicht mehr hergehört, dass man ihn zu Recht wegjagt: ausgerutscht, versunken, erledigt.« (Fallada 1950: 301)

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cepts the policeman’s authority and disappears to run back to his suburban squatter’s shack. In his inflation novel Wolf Among Wolves Fallada replicates this scene of a person in front of a delicatessen with the cavalry captain von Prackwitz parading down Friedrichstraße. However, with the introduction of the estate owner von Prackwitz as protagonist, the scene loses the transformative centrality it had in Little Man, What Now? When the Rittmeister visited Berlin one of his chief amusements was to stroll along Friedrichstrasse and a stretch of the Leipziger, and look at the shops. Not that he made large purchases, or intended to – no, the show windows amused him. […] [O]r he entered a delicatessen shop. However worthless money might have become, here all the showcases were bursting: green asparagus from Italy, artichokes from France […]. Life went on in Friedrichstrasse rather as one imagined it must in an Oriental bazaar. […] A policeman came in sight, looking peevish beneath his lacquered military shako. […] But the girls were the worst. […] The Rittmeister felt as if he heard them all running and shouting: »Nothing has any value but money.« (Wolf Among Wolves, 63–65)3

In a previous scene the novel had portrayed Berlin as a place of broken windows mirroring its desolate economic condition after the Versailles treaty, where dreams are no longer possible. Like Pinneberg, von Prackwitz recognizes the allure of the delicatessen store behind the window reflection. But now the black market and the prostitutes are a stronger reality than in Little Man, What Now? since economic conditions have been far worse. The run-down appearance of the hagglers and the worn-out women where even the policeman so powerful in Little Man, What Now? had to step aside contribute to the portrait of an exhausted city. Street haggling has replaced the opulence behind the shopping windows. The scene ends with the existential bleakness of a Hemingway scenario, »Seize the day, we may be dead tomorrow!«. This scene is important in building up the protagonist von Prackwitz, a Prussian estate owner, who is disillusioned by the city and the economic 3

»Sooft der Rittmeister von Prackwitz auch nach Berlin kam, zu seinen Hauptvergnügungen gehörte es, einmal die Friedrichstraße und ein Stück Leipziger entlangzuschlendern und in die Läden zu schauen. Nicht etwa, daß er große Einkäufe machte oder auch nur beabsichtigte, nein, die Schaufenster freuten ihn. [...] [D]er Rittmeister ging in ein Delikatessengeschäft – und das Geld mochte noch so wertlos geworden sein, hier standen alle Fächer brechend voll: grüner Spargel aus Italien, Artischocken aus Frankreich [...]. [E]s ging auf der Friedrichstraße zu, wie man sich etwa einen morgenländischen Basar vorstellte. [...] Ein Schupo kam in Sicht, verdrossen ausschauend unter seinem lackierten Landwehrtschako. [...] Aber am schlimmsten waren die Mädchen. Überall strichen sie herum, riefen, flüsterten, hängten sich bei jedem ein, liefen mit, lachten. [...] Dem Rittmeister war es, als höre er sie alle rufen, schreien, jagen: nichts gilt außer Geld! Geld!!« (Fallada 1952: I, 62 f.)

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collapse he blames on Germany’s incompetent government. For the country nobleman Friedrichstraße becomes the space where the disaster manifests itself which he vows to fight to the bitter end. The jobless urban middle class citizen Pinneberg has no energy for resistance and immediately gives in to social rules. As von Prackwitz is not directly affected by the Friedrichstraße shopping experience, but rather observes with flaneur-like interest, he can begin a strategy throughout the novel that eventually results in his participation in counter-revolutionary activities. The changed narrative strategy is also apparent in Fallada’s introduction of the novel characters in each novel. While Little Man, What Now? introduces a deceptively simple story along the lines of Hollywood movies with Bunny finding out at the doctor’s office she is pregnant while Pinneberg tries to persuade the doctor to do an abortion, Wolf Among Wolves starts with a desolate scene that seems directly modeled after Hemingway’s novels: A man and a woman sleep in a miserable backyard apartment in one of Berlin’s tenements buildings near Alexanderplatz.4 The precise and unemotional description of a man and woman from an outsider perspective shows the two bodies as objects placed in their historical context: »This is Berlin, Georgenkirchstrasse, third courtyard, fourth floor. July 1923, at six o’clock in the morning. The dollar stands for the moment at 414,000 marks.« (Wolf Among Wolves, 3–4)5 By including the space around the two sleepers the text gives an impression of Germany’s misery: Out of the dark well of the courtyard the smells from a hundred lodgings drifted into their sleep. […] In spite of the early hours and the clear sky, a dull vapor hung over the city. […] In the neglected parks the trees let fall faded leaves. | An early main-line train from the east approached Schlesischer Bahnhof – the wreck of a train, with rattling windows broken panes and torn cushions. (Wolf Among Wolves, 3 f.)6

Like Döblin, Fallada combines random collage elements to give a quick preview, similar to film with wide-angle, medium and close-up shots focusing 4 5 6

This is at almost the same location as Franz Biberkopf ’s living quarters in Alfred Döblin‘s Berlin Alexanderplatz. »Es ist Berlin, Georgenkirchstraße, dritter Hinterhof, vier Treppen, Juli 1923, der Dollar steht jetzt – um 6 Uhr morgens – vorläufig noch auf 141 Tausend Mark.« (Fallada 1952: 9) »In den Schlaf der beiden sandte der dunkle Schacht des Hinterhofs die flauen Gerüche aus hundert Wohnungen. [...] Über der Stadt lag – trotz früher Stunde und klaren Himmels – ein trüber Dunst. [...] Die Bäume in den verwahrlosten Anlagen ließen fahl die Blätter hängen. | Dem Schlesischen Bahnhof näherte sich, aus dem Osten des Reiches kommend, ein früher Fernzug, mit klappernden Fenstern, zerbrochenen Scheiben, zerschnittenen Polstern – die Ruine eines Zuges.« (Fallada 1952: 9)

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on different layers of reality. With its quickly changing perspectives, Wolf Among Wolves presents an aesthetic progression from Little Man’s mostly close-up perspectives of the Pinneberg’s struggles with Weimar’s unemployment during the Great Depression. In this second Weimar novel, Fallada gradually abandoned his original journalistic »close-up« perspective and employed a more balanced multifaceted approach to include larger parts of German society. By limiting the first part of Wolf Among Wolves to one day and one night Fallada can show the hectic atmosphere of the time exacerbated by the continuously rising dollar exchange rate and the frantic search for money. In a scene that shows Fallada’s intention of building up his female protagonist Petra Ledig, the shabbiness of the tenement building is contrasted with her attempt to escape the environment. Although Petra had worked as a prostitute, she realizes that the time has come to establish her independence. In confronting her landlady and coworker she insists on acting sophisticated and not as downtrodden and cheap as was expected. Although both coworkers challenge her attitude as arrogant and ridicule her belief that she can free herself from her current situation she rejects her status as a prostitute and begins the first step towards her independence. Eventually, she manages a life as a reputable middle-class citizen, although her story would not be completed until the end of the novel. As a climactic scene Petra’s beginning to take control of her life in this key scene reverses Pinneberg’s anticlimactic realization in Little Man of having dropped out of his class. Andrea Rudolph considers this change in the development of Fallada’s novel characters a decisive moment in his writing. Labeling Fallada’s later Weimar characters »habitus«-oriented with a preconditioned personality structure that cannot be altered by social conditions they are able to transcend class borders (cf. Rudolph 2003: 114 f.), which Rudolph considers the major reason for their lasting popularity. Fallada’s characters are, Rudolph writes, predetermined by their biographies, but are able to step out of their predetermined biography. With his shift from socially dependent characters in Little Man, What Now? to independently acting individuals in Wolf Among Wolves Fallada created a world similar to the one French social novels of the nineteenth century presented with their focus on the powers of the individual (cf. Rudolph 2006: 52). R. L. Tinsley had maintained a similar idea when he asserted that Fallada’s writing focused on autonomous individuals under difficult conditions who maintained their individuality against the hostile environment (cf. Tinsley 1965). Hermann Broch described these characters as developed »aus dem Eigen-Sein« (from the individual’s properties), but also criticized Fallada’s novels for their individual solutions (Müller-Waldeck 1995). To Broch individual solutions during the times of Nazi oppression seemed an

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escape. But as Broch also attests, Fallada had found his own writing style in his later novels where characters are still described in the matter-of-fact way of Neue Sachlichkeit, but are increasingly able to overcome the limitations of their bleak surroundings. Thus Fallada offers his readers a two-step approach by presenting characters whose inner powers he gradually develops in increasingly difficult situations. The change from Hans Pinneberg to Petra Ledig represents a concept that he completed in his last work, the influential anti-war novel Jeder stirbt für sich allein, published in 1947 (Fallada 2009). After returning from Moscow in 1945 the expressionist poet and eventual cultural secretary of the GDR, Johannes R. Becher, persuaded Fallada, who he considered one of the greatest realists to write about recent German history (cf. Becher 1947). As a member of the provisional Soviet government in Germany Becher had access to the Gestapo files. Among them he found the case of Elise and Otto Hampel, who had been executed for distributing anti-Nazi material.7 Fallada changed their names to Anna and Otto Quangel and changed the death of Anna’s brother who had been killed in the French campaign in 1940 to the death of their son Otto Jr., or Ottochen. Based on the Hampel file Fallada’s assignment was to submit an antiwar novel by the end of 1946 from which the DEFA would produce a movie. The assignment challenged Fallada’s creativity to expand his previous experience with film scripts.8 The resulting novel Jeder stirbt für sich allein is arguably Fallada’s most film-oriented text in which he was able to expand his concept of showing fictional characters in spaces that provoke action. For the novel Fallada invented realistic characters that give an insider perspective of war-time-Berlin, according to James Buchan »a staff of vivid low-life characters, stoolies, thieves and whores, Nazi veterans in a haze of drink, as well as ordinary working-people trying to put food on the table. Here is the resistance of the small man, perilous, disorganized, irresponsible, perverse, brave and almost wholly futile.« (Buchan 2009) How does Fallada achieve this powerful degree of realism in his last novel? In one of his few self-reflective analyses of his writing he described his approach. Because he had been afraid the gloomy subject would upset readers, he needed to counter-balance the eventual execution of the poor 7

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Manfred Kuhnke maintains that Becher deliberately withheld the fourth volume of the Gestapo files from Fallada because they show how Elise Hampel betrayed her husband under pressure from the Gestapo. According to Kuhnke, by hiding the fourth volume Becher wanted to influence Fallada’s portrayal of the Hampels/ Quangels to a more heroic resistance fight. Cf. Kuhnke 1991 and Kuhnke 2011, 25–47. Like Jeder stirbt für sich allein, the 1938 novel Der eiserne Gustav had also been commissioned for a movie.

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Quangels with »some color« only a detective story could provide. The first chapter, according to Fallada, should set the tone for the story as the entry door does for a house.9 In Jeder stirbt für sich allein the author leads us into his novel with the mail-carrier Eva Kluge delivering the mail door to door in the tenement building, first to the stanch Nazi family Persicke, who used to own a Berlin pub, but have risen to prominence in the Nazi hierarchy. Kluge, who has kind words for all her letter recipients, then rings the Quangels’ door, aware of the fateful content of her letter, their son’s official death notice. Otto Quangel, who had been a middle-class craftsman, was now working for a company manufacturing mortar shell boxes and coffins. Other tenants are introduced, among them the retired state prosecutor Fromm and the Jewish widow Rosenthal. Along with the main characters in this apartment building we encounter Eva Kluge’s husband Enno, an occasional petty criminal who is connected to wartime Berlin’s underworld. The critic Adam Soboczynski sees this social mixture of the tenement building setup as the main reason for the novel’s attraction since it allows the reader a glimpse into the secretive goings-on in the closed-off world of a country at war. Soboczynski describes the overarching atmosphere during Berlin’s wartime shortages as one of corruption and greed (cf. Soboczynski 2011).10 Fallada’s kaleidoscopic narrative with its focus on petty fortune seekers underscores Otto Quangel’s noble character, gradually developed throughout the story. Obviously, the Soviet financed DEFA was not interested in a blatant anti-fascist propaganda story, but wanted to appeal to the »average« German who had become increasingly disenchanted with the Nazi government and needed to be won over by the Russian authorities. Otto Quangel sees the basic principle of fairness and justice (Gerechtigkeit) violated by the Nazis. Quangel’s character undergoes a major change in a key scene, Quangel and his son’s girlfriend Trudel Baumann meeting in Quangel’s workplace in front of a Gestapo poster that displays resistance fighters who had been executed: And a vision appears before him of how one day a poster with his own name and Anna’s and Trudel’s might be put up on the wall … He shakes his head unhappily. He is a simple worker, he just wants peace and quiet, nothing to do with politics, and Anna just attends to the household and a lovely girl like Trudel will surely have found herself a new boyfriend before long … But the vision won’t go away. Our names on the walls, he thinks, completely confused now. And why not? Hanging on the gallows is no worse than being ripped apart by a shell, or dying from a bullet in the guts. All that doesn’t matter. The only 9

Angelika Kieser-Reinke’s study documents Fallada’s narrative strategy in greater detail (Kieser-Reinke 1979). 10 Soboczynski considers Fallada’s book as confirming Götz Aly’s theory that the Nazi government survived by exploitation of the weak (cf. Aly 2005).

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thing that matters is this: I must find out what it is with Hitler. Suddenly all I see is oppression and hate and suffering, so much suffering … »Papa,« she says, »I will never forget that when I stood crying over Otto, it was in front of a poster like this. Perhaps – I don’t want it to be – but perhaps it’ll be my name on a poster like that one day.« (Fallada 2009: 32)11

The gruesome posters in the background represents the brutal Nazi reality Quangel had blocked out so long, but which he is now forced to confront. It is these posters that have a profound effect on him as he is looking at the wall and talking to Trudel. As Quangel quickly finds out, the girl has already gone much further in her resistance to the Nazis and had joined an underground group. In this single scene Fallada shows how Quangel’s simple character is changed into a political being and into an eventual resistance fighter. An encounter with Mrs Rosenthal who his wife has been hiding in their apartment further hardens his resolve to act against the Nazis, but to act alone: »I don’t want to be dragged into other people’s funny business. If it is to be my head on the block, I want to know what it’s doing there, and not that it’s some stupid things that other people have done.« (Ibid.: 69) He is a loner, who wants to take on the Nazis »Alone in Berlin«, as the title of the new British translation suggests (32). Even the apolitical Fallada would have recognized this approach as utterly un-Marxist with its rejection of any solidarity and party affiliation, which fit his own cautious agenda during the Nazi time. »Going it alone« follows Fallada’s aesthetic principle with the environment triggering a reaction in his character through which it will eventually be transformed. The contact with the environment awakens their unconscious thoughts and feelings that will help them become autonomous human beings. As Otto Quangel came to be at ease with himself in Jeder stirbt für sich allein because he did the right thing, so did Petra Ledig who found her 11 »Und wie eine Vision steigt es vor ihm auf, dass eines Tages solch ein Plakat mit den Namen von ihm und Anna und Trudel an den Wänden kleben könnte. Er schüttelt unmutig den Kopf. Er ist ein einfacher Handarbeiter, der nur seine Ruhe haben und nichts von Politik wissen will, Anna kümmert sich nur um ihren Haushalt, und solch ein bildhübsches Mädel wie die Trudel dort wird bald einen neuen Freund gefunden haben … | Aber die Vision ist hartnäckig, sie bleibt. Unsere Namen an der Wand, denkt er, nun völlig verwirrt. Und warum eigentlich nicht? Am Galgen hängen ist auch nicht schlimmer, als von einer Granate zerrissen zu werden oder am Bauchschuss krepieren! Das alles ist nicht wichtig. Was allein wichtig ist, das ist: Ich muss rauskriegen, was das mit dem Hitler ist. Erst schien doch alles gut zu sein, und nun plötzlich ist alles schlimm. Plötzlich sehe ich nur Unterdrückung und Hass und Zwang und Leid, so viel Leid […]. | ›Ich werd nie vergessen, Vater‹, sagt sie, ›dass ich grade vor so einem Plakat wegen Otto geheult habe. Vielleicht – ich möcht’s nicht –, aber vielleicht wird auch mal mein Name auf so einem Wisch stehen.‹« (Fallada 2011: 37 f.)

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dignity in all her despondency in Weimar Germany, as did Hans Pinneberg who came to live in peace with the idea of unemployment. Fallada’s protagonists began their journey on their own, after their despair and loneliness have been revealed in a confrontational scene with the authorities.

Literatur Aly, Götz (2005): Hitler’s Beneficiaries: Plunder, Racial War, and the Nazi Welfare State. New York: Henry Holt. Becher, Johannes R. (1947): Was nun? Zu Hans Falladas Tod. In: Aufbau 2, H. 3, 97–101. Benjamin, Walter (1972): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Deutsche Fassung 1939. In ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, 471–508. Bloch, Ernst (1962): Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Buchan, James (2009): The path of least resistance. In: The Guardian vom 7. 3. 2009. Crepon, Tom (1993): An der Schwale liegt (k)ein Märchen: Hans Fallada in Neumünster. Neumünster: Wachholtz. Fallada, Hans (1950): Kleiner Mann – was nun? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (rororo 1). Fallada, Hans (1952): Wolf unter Wölfen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (rororo 67, 68). Fallada, Hans (2009): Alone in Berlin. London: Penguin. Fallada, Hans (2011): Jeder stirbt für sich allein. Roman. Ungekürzte Neuausgabe. Hg. und mit einem Nachwort von Almut Giesecke. Mit 12 Abbildungen. Berlin: Aufbau. Gessler, Alfred (1976): Hans Fallada. Leben und Werk. Berlin/DDR: Volk u. Wissen. Kieser-Reinke, Angelika (1979): Techniken der Leserlenkung bei Hans Fallada. Ein Beitrag zur Rezeptionsforschung mit einer empirischen Untersuchung des Romans Jeder stirbt für sich allein. Bern u. a.: Lang (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 318). Kuhnke, Manfred (1991): Dass ihr Tod nicht umsonst war! Authentisches und Erfundenes in Hans Falladas letztem Roman. Neubrandenburg: Federlese. Kuhnke, Manfred (2011): Falladas letzter Roman. Die wahre Geschichte. Berlin: Steffen, 25–47. Müller-Waldeck, Gunnar (1995): Hermann Broch und Hans Fallada. In: Hans Fallada Jahrbuch 1, 31–42. Rudolph, Andrea (2003): Das Bild als Strukturgröße in Hans Falladas Roman Wolf unter Wölfen (1937). In: Hans Fallada Jahrbuch 4, 107–124. Rudolph, Andrea (2006): Weltanschaungsalternativen in der Weimarer Zeit. Zum Habitus konservativer Figuren im Erzählwerk Hans Falladas. In: Hans Fallada Jahrbuch 5, 32–56. Soboczynski, Adam (2011): Fallada im Volksstaat. In: Die Zeit vom 28. 4. 2011. Tinsley, R. W. (1965): Hans Fallada’s Concept of the Nature of the Little Man, the Focal Point of his Narrative. Dissertation. Baton Rouge: Louisiana State University.

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Tucholsky, Kurt (pseud. Ignaz Wrobel) (1931): Bauern, Bonzen und Bomben. In: Die Weltbühne 27, 14. Ulrich, Roland (1995): Gefängnis als ästhetischer Erfahrungsraum bei Fallada. In: Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk. Materialien der 1. Internationalen Hans-Fallada-Konferenz in Greifswald vom 10. 6. bis 13. 6. 1993. Hg. von Gunnar Müller-Waldeck, Roland Ulrich, Patricia Fritsch. Rostock: Hinstorff, 130–140. Zachau, Reinhard (2003): Wohnräume in [Ernest Hemingways] Farewell to Arms und [Hans Falladas] Kleiner Mann – was nun? In: Hans Fallada Jahrbuch 4, 57–66.

Anhang

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»Sehr viel wahrer ist in Deutschland seither nicht geschrieben worden« Forschungs- und Tagungsbericht »Dieser Autor hat keine Ästhetik gestiftet, er hat keine weltanschaulichen Varianten begründet; es gibt nicht einen Aufsatz von ihm, über den heute noch nachzudenken wäre. Der essayistische Aspekt fehlt in seinem Werk überhaupt fast ganz. Noch nicht einmal über den Einfluß von Autoren, die ihm Vorbild waren, gibt es Auskünfte oder gar theoretische Erörterungen.«1

Wilhelm Genazinos harsches Resümee aus dem Jahre 1977 wäre zu diskutieren, aber es fällt auf, dass Hans Fallada (1893–1947), wie viele andere Poetae minores auch, bislang kaum Forschung ausgelöst hat, die der Bedeutung seines Œuvres gerecht würde. Sieht man von biographisch orientierten Studien ab, ist das Feld eingehender Werk-Analysen weitgehend unbestellt geblieben, vor allem aber fehlt es an Untersuchungen, die den Autor in den zeit- und literarhistorischen Kontext stellen. Zwei neuere Publikationen haben das Diskussionsfeld eröffnet: 2005 erschien der Tagungsband Die Provinz im Leben und Werk von Hans Fallada, 2009 der Sammelband Hans Fallada und die literarische Moderne.2 Etwa zeitgleich mit dessen Erscheinen planten die Universität Rostock und die Hans-Fallada-Gesellschaft Carwitz ein Symposium über Fallada im denkgeschichtlichen und literarhistorischen Kontext. Dieser Kontext ist durch bestimmte Prämissen der Frühen bzw. Klassischen bzw. Synthetischen Moderne (ca. 1890–1950) gegeben, an deren 1

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Die Sekundärliteratur zu Fallada wird in diesem Forschungsbericht mit Kurztitel zitiert; die Kurztitel sind der Bibliographie (ebenfalls hier im Anhang des Bandes) zu entnehmen. Das einleitende Zitat stammt von Wilhelm Genazino: Der Alltag denkt nicht (1977). Genazino hat Jahre später, in seiner Dankesrede zum Hans-Fallada-Preis, den »spezifischen Blick« Falladas »für die unheimlichen Momente des Allgemeinen« gewürdigt. Vgl. Wilhelm Genazino, Die Drohung im Handgemenge (2004). Vgl. Die Provinz im Leben und Werk von Hans Fallada, 2005. Hans Fallada und die literarische Moderne, 2009.

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erzählender Literatur Fallada nicht unbeträchtlich Anteil hat.3 Sein Frühwerk (Der junge Goedeschal, 1920; Anton und Gerda, 1923) lässt expressionistische Stilgesten erkennen, Bauern, Bonzen und Bomben (1931) leistet einen Beitrag zum zeitgenössischen Landvolk-Roman,4 mit Kleiner Mann, was nun? (1932) erlebt die Strömung der Neuen Sachlichkeit einen späten Höhepunkt, und nach seinem großen Roman Wolf unter Wölfen (1937) etablieren sich konventionellere Erzählweisen, ohne dass die avantgardistischen Schreibverfahren ganz in Vergessenheit gerieten. Für die weitere Werkstiftung, die zu einem Großteil unter den Bedingungen des ›Dritten Reiches‹ erfolgte, war es offenbar wichtig, einen ästhetischen Common sense anzustreben. Daher verzichten die Zeitpanoramen Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (1934), Wolf unter Wölfen (1937) und Der eiserne Gustav (1938), die Unterhaltungsromane Wir hatten mal ein Kind (1934) und Altes Herz geht auf die Reise (1936) sowie die unter ›Erinnerungen‹ firmierenden Bände Damals bei uns daheim (1942) und Heute bei uns zu Haus (1943) weitgehend auf »die Verfahren der etablierten Avantgarde«5, ohne jedoch jemals konventionell zu werden: Selbst die scheinbar einfach strukturierten Kinder- und Jugendbücher verfügen über eine reich entfaltete Metaphorik, die Fallada als ungewöhnliche Begabung ausweisen und ihm den Respekt jedes Textlinguisten eintragen.

Fallada im literarhistorischen Kontext Die Verortung von Falladas Frühwerk im Expressionsmus ist bislang konsensuell erfolgt, wenngleich Forschungen dazu fehlen. Von seinen Romanen sind bislang überhaupt nur wenige eingehender untersucht worden.6 3

4 5 6

Vgl. Wolfdietrich Rasch: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart: Metzler 1967. Marianne Wünsch: Vom späten »Realismus« zur »Frühen Moderne«. Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hg. von Michael Titzmann. Tübingen: Niemeyer 1991 (Studien zur Sozialgeschichte der Literatur, 33), S. 187–203. Zum Konzept der »Synthetischen Moderne« vgl. Gustav Frank, Rachel Palfreyman, Stefan Scherer: Modern Times? German Literature And Arts Beyond Political Chronologies. Kontinuitäten der Kultur 1925–1955. Bielefeld: Aisthesis 2005 (Internationale Konferenz zur Neubestimmung der Phase zwischen Moderne und Postmoderne, 1). Andere Repräsentanten dieses Genres wären etwa Arnolt Bronnen mit O. S. (1929), Ernst von Salomon mit Die Stadt (1932) sowie Bodo Uhse mit Söldner und Soldat (1935). Norman Ächtler: »Ein Geschlecht voller Angst«, S. 131. Vgl. die Auswahl-Bibliographie am Ende dieses Bandes. Es handelt sich um Bauern, Bonzen und Bomben (1931), Kleiner Mann, was nun? (1932), Wer einmal aus

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Und der Begriff der ›Neuen Sachlichkeit‹ darf zwar »inzwischen zum festen Repertoire der Kulturgeschichtsschreibung« gezählt werden, dennoch »ist noch immer umstritten, welche ästhetischen Konzeptionen sich unter diesem Begriff subsumieren lassen«.7 Deutlich ist nur, dass der »von der Forschung geglättete Weg [...] zum Autor der Neuen Sachlichkeit«8 trügerisch ist: Bislang formuliert man ein Programm, auf das Falladas Texte reduziert werden, während philologisch belastbare Befunde fehlen. Bei dem von Joseph Goebbels geschätzten Autor konnten die staatlich gelenkte »Literaturpolitik« (Jan-Peter Barbian) und die privat verfolgte »Werkpolitik« (Steffen Martus) offenbar zur Übereinstimmung gebracht werden, obwohl in der Parteipresse ebenso wie in den Medien des Amtes Rosenberg (allen voran die »Bücherkunde«) grundlegende literaturpolitische Invektiven gegen Fallada exekutiert wurden. Der Sicherheitsdienst (SD) des Reichsführers SS attestierte ihm 1943 eine »zweifelhafte[] Einstellung zum Nationalsozialismus«.9 Wenngleich Fallada zu den »Uncoordinated Writers«10 im Nationalsozialismus zählte und sich – ähnlich wie vor ihm Ernst Jünger – im Jahr nach Hitlers Machtantritt in die Provinz zurückzog, konnte er weiter veröffentlichen: »politische Kurzsichtigkeit« darf man ihm also nicht vorwerfen.11 Fallada »hatte zwischen 1933 und 1945 ein zentrales Anliegen: unbehindert weiter zu produzieren.«12 Er arrangierte sich und erntete dafür Kritik, aber es wäre nicht unangemessen, wenn seine Kritiker die Zeitumstände stärker berücksichtigen und in ihren Formulierungen entsprechend Augenmaß beweisen würden. Der Schriftsteller Jörg Fauser hat es uns vorgemacht: Und Fallada, ist der nicht verkommen schon vor dem Sterben, damals, als er nicht mehr sagen durfte, was des Pferdes war? Ich bestellte ihm Korn, der Mann war ja ganz hippelig mit seinem Untergang. Du irrst, sagte ich, als er am Trinken war, er hat sehr wohl die Wahrheit gesagt. Der Blechnapf ist ein Buch, sehr viel wahrer ist in Deutschland seither nicht geschrieben worden. Aber dann ist er doch umgeschmissen, sagt mein Gegenüber. Na schön, gebe ich zu, umgeschmissen hat er schon, er hat auch wieder getrunken, und nach jedem großen Roman mußte er in die Klinik, eine Schlafkur machen, das ist ja kein Tanzsalon gewesen damals. Nein, sagt mein gegenüber, er hat doch auch die Wahrheit umgeschmissen, gib doch zu, er hat gebuckelt, selbst bei Wolf unter Wölfen, mit dieser Schmonzette am Schluß, dem Blechnapf frißt (1934), Wolf unter Wölfen (1937), Jeder stirbt für sich allein (1947) und Der Alpdruck (1947). 7 Bernhard Heinrich: Das reduzierte Pathos, S. 153. 8 Roland Ulrich: Gefängnis als ästhetischer Erfahrungsraum bei Fallada, S. 132. 9 Faksimiliert abgedruckt in ›Der Spiegel‹, Nr. 2 vom 6. 1. 2003, S. 133. 10 Vgl. Slochover: Hauptmann and Fallada (1942). 11 Menke, Schreiben als Daseinsbewältigung (2000) tut es dennoch. Vgl. a. a. O., S. 107 (zu Der eiserne Gustav). 12 Thoenelt: Innere Emigration, S. 315.

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und dann hat er den Eisernen Gustav zum Nazi gemacht! Nun fange ich aber an zu toben: Diesen Schund, den der Jannings ihm aufgeschwätzt hat, er mußte das ja machen, glaubst du, das war ein Konzerthaus, mit Goebbels und Rosenberg? Und sie haben es ja doch gemerkt, der Film ist ja nie gemacht worden! Jedenfalls, von Fallada gibt es kein Hirsegedicht und keine ästhetische Erregung vor dem Staat, weder Nazi noch sonst, merk dir das!13

Abwegig erscheint es uns etwa, bei Der Eiserne Gustav (1938) von einem »Nazischluss« zu sprechen: Das ist DDR-Philologie, und sie ignoriert Falladas Geschick, seine Bücher aus der Gefahrenzone zu bringen.14 Ein Nazischluss mag sich folgendermaßen anhören: »Der Krieg ist aus. | Der Kampf um Deutschland geht weiter! | Freiwillige vor die Front!«15 Fallada hingegen exponierte sich nicht, sondern fokussierte auf Gustavs Aussöhnung mit seinem Sohn: »Einen Augenblick zögert der, sieht nach dem Sohn. Der Sohn nickt. Da nimmt der eiserne Gustav die dargereichte Hand, drückt sie und sagt: Also denn: mit euch!« Diesen abschließenden Passus formulierte er 1938, lange bevor das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen bekannt wurde, und zu einem Zeitpunkt, wo sich nicht wenige Deutsche noch immer von einer Woge der Zustimmung tragen ließen. So muss man den Anfang von Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (1934) und den Schluss vom Eisernen Gustav als Teil der Fiktion lesen dürfen, ohne sogleich auf den Autor und seinen ›Opportunismus‹ gegenüber den Nationalsozialisten zu schielen – zumal es weiß Gott andere Beispiele gegeben hat. Und so wäre auch sein Werk nach Wolf unter Wölfen (1937) zu würdigen, ohne gleich die denunziatorische Klage von der angeblich »triviale[n] eskapistische[n] Literatur« anzustimmen.16 Das Werk von Hans Fallada ist in keiner Weise trivial – wer das behauptet, kennt keine Trivialliteratur. Es mag gleichwohl falsch gewesen sein, überhaupt Zugeständnisse zu machen – aber man wünschte sich, mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende, etwas mehr von Thomas Manns abwägender Besonnenheit: Ein neuer Roman von Fallada wird in der N.Z.Z. besprochen. Er hat ein Sträflingsschicksal zum Thema und scheint es altruistisch-sozial zu behandeln. In einem Geleitwort aber sagt der Verfasser, daß seine Schilderung des Strafvollzuges 13 Fauser: Fallada, S. 87. 14 Vgl. Werner Liersch: Zwischen Ausharren und Flucht, S. 12 (»Nazischluß«), S. 10– 12 (Wer eimal aus dem Blechnapf frißt). – Der Terminus wurde offensichtlich in Analogie zu »Nazi-Schwanz« gebildet. Vgl. Günter Caspar: Fallada und der Film. In ders.: Fallada-Studien, S. 302 f. 15 Hans Zöberlein: Der Glaube an Deutschland. Ein Kriegserleben von Verdun bis zum Umsturz. 24. Auflage. München: Eher 1937 [Erstausgabe 1931], S. 890. Es folgt noch der Satz: »– Denn – wir müssen ja das Licht in die dunkle Welt tragen – –.« 16 Williams: Mehr Leben als eins, S. 16.

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der deutschen Wirklichkeit nicht mehr entspreche und verhöhnt und verwirft die Humanität, die in der vergangenen Epoche den Strafvollzug zu regulieren versucht hatte, als grotesk und lächerlich. Wozu der feige Eselsfußtritt nach dem Besiegten, Gefallenen? Das Buch tritt ein für den Schutz des besserungsfähigen Verbrechers nach der Strafverbüßung. Es hat selber eine humane Tendenz. Mit ihr mußte wohl eine Staatsmacht versöhnt werden, nach deren Willen einmal einmal [sic] Bestraften überhaupt keine Hoffnung auf Leben und auf Versöhnung mit der Gesellschaft bleibt. – Um in Deutschland möglich zu sein, muß ein Buch seine menschenfreundliche Gesinnung in einer Einleitung verleugnen und in den Boden treten.17

Thomas Mann konnte den genauen Wortlaut des ›Geleitwortes‹ nicht kennen – und auch heutige Leser kennen ihn kaum mehr. Daher erscheint es lohnenswert, ihn sich einmal vor Augen zu führen: Mit diesem Roman rennt sein Verfasser offene Türen ein: der sogenannte humane Strafvollzug, dessen lächerliche, wie groteske, wie beklagenswerte Folgen auf seinen Seiten dargestellt werden, ist nicht mehr. Während der Autor noch schrieb, verwandelte sich auch dieses Stück der deutschen Wirklichkeit. Wenn nun Willi Kufalt, dieser beschattete Bruder des kleinen Mannes Pinneberg, doch vor die Lesewelt tritt, so darum, weil sein Schöpfer alle Hoffnungen für ihn hat: kein Geschwätz von Humanität für Strafgefangene, sondern Arbeit für Strafentlassene. Keine öde berufsmäßige Betreuung, sondern Verständnis. Keine Gnade, sondern Strich drunter, und nun zeige, wer du bist. Wie bei ›Bauern, Bonzen und Bomben‹, wie beim ›Kleinen Mann‹ konnte der Verfasser nur darstellen, was er sah, nicht, was da sein wird. Dies schien ihm seine Aufgabe, sonst nichts. Am 30. Januar 1934 Hans Fallada18

Es würde sich lohnen, den intentionalen Gehalt von Falladas Vorreden und Schlüssen nach allen Seiten hin auszuloten, denn das Vorwort aus Wer einmal aus dem Blechnapf frißt ist durchaus janusköpfig angelegt. Einerseits formuliert es Erkenntnisse des modernen Strafvollzuges, andererseits behauptet es, »dieses Stück der deutschen Wirklichkeit« habe sich verwandelt – ob zum Besseren, ob zum Schlechteren, wird nicht gesagt. Fallada konterkariert damit die dargestellte Wirklichkeit – denn von »humanem Strafvollzug« ist in seinem Roman nicht viel zu spüren. Hermann Hesse fasst ihn wie folgt zusammen: 17 Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/ M.: S. Fischer 1977, S. 356 f. Der Passus stammt aus der Tagebucheintragung vom 14. 3. 1934. 18 Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Roman. Berlin: Rowohlt 1934, S. [5].

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Diese stupide, alltägliche, schreckliche und herzbedrückende Geschichte hat scheinbar nichts mehr zu tun mit jener Art von Dichtung, an die wir gewohnt sind und die wir lieben, mit jener Dichtung, deren Sinne und Funktion es ist, uns die Möglichkeit eines schönen, eines echteren, eines edleren Lebens zu zeigen, als wir es tatsächlich leben. Fallada zeigt uns nichts davon, er zeigt uns eine böse, mechanisierte, ja teuflische Art von Leben, ein Leben, dem jeder Flug abgeschnitten, jeder Glanz ausgelöscht, jede Freude verdreckt und zertreten worden ist, und wir müssen es annehmen, müssen zugeben, daß es stimmt, daß es so ist, daß Tausende und Millionen so leben und daß ich, der ich das Glück habe, anders zu leben, dies Glück bloß einem Zufall verdanke, der mich von der Mitschuld am Dasein dieser ganzen Welt nicht freispricht, dieser Welt einer »Ordnung«, die durch Wachtmeister, Gefängnisse, roheste Brutalität und niedrigste Gemeinheit aufrechterhalten wird.19

Der Strafentlassene bedarf der Arbeit, so Falladas Plädoyer, und damit der Integration in die Gesellschaft – »Geschwätz von Humanität« allein bringt ihn nicht auf den richtigen Weg. Das Vorwort deutet damit die Probleme an, die seinerzeit noch ungelöst waren (und es wohl noch immer sind): Mit der Reichsgründung 1871 hatten die umfänglichen Maßnahmen zur Reform des Strafvollzuges eingesetzt, es folgten Eignungstests und Schulungen für das diensthabende Personal, man setzte verstärkt auf die »Besserung der Häftlinge« durch Einwirkung der Ärzte, Geistlichen, Lehrer und Wächter, und man versuchte, den »[a]llgemeinen sozialen Verhaltensweisen und Prinzipien zwischenmenschlichen Zusammenlebens [...] die ihnen eigentlich gebührende Aufmerksamkeit« entgegenzubringen.20 Ungeachtet der »Reformunwilligkeit« mancher Institutionen konnten in den Straf- und Korrektionsanstalten doch auch Erfolge erzielt werden, wenngleich die Diskrepanz »zwischen dem theoretischen Anspruch einer individuelleren Behandlung, also letztlich einer Förderung des Besserungswillens der Gefangenen und der praktischen Ausführung« nicht zu beseitigen war.21 Gleichwohl versuchte man im Rahmen »linksliberale[r] Grundsätze«,22 die Insassen im Haftalltag zu beschäftigen und ihnen geregelte Arbeit, »geistige Erbauung« und »religiöse[s] Leben« anzubieten.23 Mit Hilfe von »Gefängnisbeiräten« 19 Hesse: Hans Fallada. »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« (1934). 20 André Thieme: Das Gefängniswesen in Deutschland, speziell im Königreich Sachsen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In: Humaner Strafvollzug und politischer Mißbrauch. Zur Geschichte der Strafvollzugsanstalten in Bautzen 1904 bis 2000. Hg. von Karl Hermann Fricke. Dresden: Schriftenreihe des Sächsischen Staatsministeriums der Jusiz 1999 (Sächsische Justizgeschichte, 10), S. 7 – 30. Hier S. 16. 21 Thieme: Das Gefängniswesen in Deutschland, S. 17. 22 Peter Russig: Der Strafvollzug in Bautzen während der nationalsozalistischen Diktatur (1933 bis 1945). In: Humaner Strafvollzug und politischer Mißbrauch, S. 84–100. Hier S. 85. 23 Mike Schmeizner: Der Strafvollzug in Bautzen während der Weimarer Republik 1919 bis 1933. In: Humaner Strafvollzug und politischer Mißbrauch, S. 70–83. Hier S. 73–77.

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sollten die Bedürfnisse der Insassen besser ermittelt und der innere Friede der Haftanstalten besser gewahrt bleiben.24 Mit der »Verreichlichung« der Justiz 1935 war es mit dem Experiment freilich weitgehend vorbei.25 Fallada beruft sich auf die Integrität seines Werkes, wenn er sagt, »der Verfasser« habe nur darstellen können, »was er sah, nicht, was da sein wird.« Vor diesem Hintergrund bekommt seine Bemerkung, »sein Schöpfer« habe »Hoffnungen« für Kufalt, den mehrfach gestrandeten, doch besserungswilligen Protagonisten, eine besondere Qualität: Fallada appelliert hier an die wohlmeinenden Kräfte, die dem Haftentlassenen eine Perspektive bieten sollen. 1968 schrieb Helmut M. Braem in einer »Nachdenkliche[n] Erinnerung« an Rudolf Ditzen, genannt Fallada: »Fallada war nach heutigem Sprachgebrauch niemals ein Nazi. Er war auch nicht im Sinne der NSDAP ein Nationalsozialist.«26 Es ehrt Fallada, dass er, der er sich »im großen Strom mittreiben« ließ, »nicht besser erscheinen« wollte »als er gewesen war«27 – allzu peinliche Ergebenheitsadressen an die jeweiligen Machthaber hat er uns ohnehin erspart. In der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) konnte man ihn für den ›Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‹ gewinnen. Sein Roman Jeder stirbt für sich allein (1947), eine Auftragsarbeit Johannes R. Bechers, die auf der Grundlage von Ermittlungsakten der Berliner Polizei- und Justizbehörden der frühen vierziger Jahre beruht, erlebt derzeit eine Renaissance und löst international geführte Debatten über den Widerstand im Nationalsozialismus aus.28 Wie die revidierte Neuausgabe zeigt, hat sich Fallada auch hier nicht groß verbogen – er wusste, dass er bei den neuen Machthabern in der SBZ nicht unumstritten war: Es muß festgestellt werden, daß es nur ganz wenigen Menschen während der faschistischen Herrschaft in Deutschland unter Aufbietung ihrer ganzen seelischen und geistigen Stärke gelang, das faschistische Gift nicht in sich wirksam werden zu lassen. Hans Fallada gehört nicht zu diesen wirklich Auserlesenen. Dennoch begrüßen wir ihn als ehrlichen Mitkämpfer in den Reihen derer, die sich zur geistigen Erneuerung Deutschlands berufen fühlen und berufen sind. Wir glauben, daß

24 Schmeizner: Der Strafvollzug in Bautzen, S. 79. 25 Vgl. Schmeizner: Der Strafvollzug in Bautzen, S. 85 f., 88 (»Vollzugskonzeption in der NS-Zeit«). 26 Helmut M. Braem: Kleiner Mann – was nun? Rudolf Ditzen, genannt Fallada. Nachdenkliche Erinnerung. In: Stuttgarter Zeitung, Nr. 164 vom 19. Juli 1968, S. 25. HMB endet mit den Worten: »Hans Fallada: Eine Möglichkeit des Faschistoiden? Vielleicht.« 27 Vgl. Heinz Willmann: Steine klopft man nicht mit dem Kopf. Lebenserinnerungen. Berlin: Verlag Neues Leben 1977, S. 294 f. Zitiert nach Giesecke: Nachwort, S. 689. 28 Vgl. dazu Willi Winkler: Der gute Deutsche, S. 3.

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Fallada, der im besten Mannesalter steht, Wertvolles für die geistige Erneuerung Deutschlands geben kann und wird.29

Der Roman Jeder stirbt für sich allein (1947), nach Einschätzung seines Verfassers »der erste richtige Fallada« seit Wolf unter Wölfen (1937), »trotzdem mir der Stoff doch gar nicht lag: illegale Arbeit während der Hitlerzeit. Enthauptung der beiden Helden«,30 konnte nur in ›bereinigter‹ Form im Sinne »kulturpoltischer Korrektheit« der neuen Mandatsträger in Ost-Berlin erscheinen.31 »Die Nazis haben ihn nicht kauen mögen«, so wieder Jörg Fauser, und »der linientreuen Exegese in der DDR bekommt er nicht so recht.«32 Die Zeitumstände trugen ihr Übriges bei, die Werkstiftung zu behindern: So ist Manches, was dieser überaus produktive Autor schuf, zu Lebzeiten nie erschienen. Sein Roman Der Trinker beispielsweise, der 1944 im Manuskript vorlag, kam erst 1950 bei Aufbau heraus; Ein Mann will nach oben, 1942 als Roman in Fortsetzungen veröffentlicht, erschien erst 1953 in einer Buchausgabe. Im Spannungsfeld von Innerer Emigration, Mitläufertum und stiller Opposition markiert das (teils erst posthum publizierte) Werk einen höchst repräsentativen und auch riskanten Grenzgang. Dass Fallada nach Kriegsende auf die entschiedene Fürsprache Johannes R. Bechers bauen konnte, wirft dabei ein bemerkenswertes, nicht zuletzt biographisch motiviertes Schlaglicht auf diese schillernde Autorschaft im Zeitalter ideologischer Verwerfungen, die Gustav Frank als »Synthetische Moderne« beschrieben hat, weil sie Tradition und Avantgarde, Konventionelles und Experimentelles ›synthetisierte‹.

Aspekte der Fallada-Biographik – Grenzen und Möglichkeiten eines Genres Synthetisiert wird hier auch Faktisches und Fiktionales, ohne dass damit bereits ohne weiteres Rückschlüsse auf Falladas Biographie möglich und erlaubt wären: Denn in einem literaturwissenschaftlichen Verständnis ist das Werk überwiegend nicht autobiographisch, jedenfalls dann nicht, wenn man seiner Einschätzung die strengen Kriterien zugrunde legt, die Philip-

29 Anonym: Fallada und der Kulturbund. In: Neue Zeitung. Ca. 1945. 30 Rudof Ditzen: Brief an Anna Ditzen vom 27. 19. 1946. Zitiert nach Williams: Mehr Leben als eins, S. 339. 31 Die teils gravierenden Eingriffe von Aufbau-Lektor Paul Wiegler resümiert Giesecke: Nachwort, S. 696 f. 32 Fauser: Fallada, S. 81.

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pe Lejeune für autobiographisches Schreiben formuliert hat.33 Und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Rudolf Ditzen seine Bücher teilweise massiv mit Daten seiner eigenen biographischen Realität ausgestattet hat. Er hat dies freilich intentional mit einem Programm versehen, das nicht auf Darstellung des eigenen Lebens zielte, und dies wäre von einer Wissenschaft, die Literatur ernst zu nehmen verpflichtet ist, auch zu respektieren. Die »autobiographische Handschrift«34 des Autors Fallada ist daher (überwiegend) keine, und es greift erst recht zu kurz, Rudolf Ditzens Lebensvollzug als Beglaubigung und Bekräftigung von Lektüreerfahrungen zu werten. Wohin das führen kann, wenn man es dennoch tut, demonstriert die bisherige Fallada-Biographik, die an ihrem Gegenstand verschiedene Aspekte und Ideologeme exekutiert hat, ohne ihren je eigenen Standpunkt und damit Erkenntnishorizont zu reflektieren. Psychoanalytische (Manthey), ideologiekritische (Gessler, Liersch) und sozialbiographische Ansätze (Williams) haben Fallada ein halbes Jahrhundert lang »repräsentativ« gesetzt für »Tausende und Abertausende von Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« und haben dabei viel von ihren Deutungsmöglichkeiten verschenkt.35 Ausnahmslos alle der hier in Rede stehenden Biographien verstehen sich auch als Werkmonographien, soweit sie Feststellungen zur Genese des Œuvres, zu seiner Interpretation und der Aufnahme bei den Primärrezipienten treffen. Aber nur die Biographie von Jenny Williams, die bislang umfangreichste, leistet gelegentlich auch eine knappe Würdigung der wissenschaftlichen Rezeption – wobei »knapp« bedeuten soll, dass mitunter ein essayistischer Schlenker die Besonderheit einer solchen philologischen Arbeit markiert, während ihre eigentlichen Thesen undiskutiert bleiben. Insofern ist auch diese Biographie kein Forschungsbericht. Neben der Biographik, die für sich in Anspruch nimmt, eine Totalität von Falladas Lebensvollzug darzustellen, gibt es eine Reihe von Fallada-Kundigen, die sich Teilaspekten der Lebensumstände zugewandt haben: Ihre Darstellungen über Fallada in Neumünster (Crepon/Dwars 1993), Fallada in Feldberg (Lange 2002) oder auf dem Neumärkischen Rittergut Radach (Lamp 2002) wären hier beispielhaft zu nennen. Auch diese Arbeiten sind als diskursive Texte fassbar, die einer Argumentation folgen (und nicht einfach Leben dokumentieren), und als biographische Schlaglichter, die eine These vertreten, sind sie – wie literarische Texte auch – interpretierbar und interpretationsbedürftig: Sie haben einen ›ideologischen‹ Ort, der bestimmte Lesarten und Begriffe wahrscheinlich macht, und die Art und Weise der 33 Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Übersetzt von Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994 (edition suhrkamp, Aesthetica N. F., 896; es 1896). 34 Vgl. Menke: Schreiben als Daseinsbewältigung, S. 116. 35 Williams: Mehr Leben als eins, S. 9.

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›Beweisführung‹ sowie bestimmte Argumentationsfiguren (wie zum Beispiel die ›dialektische‹) geben dann Aufschluss über den ›Standpunkt‹ des Verfassers, über sein Erkenntnisinteresse, über die Möglichkeiten, aber auch Beschränktheiten seines Ansatzes. Man muss also nicht Glaubensstärke beweisen und alles unbefragt hin- und für ›wahr‹ nehmen, was hier behauptet wird; es ist im Gegenteil Skepsis angebracht angesichts der zahllosen, weder nachvollziehbaren noch nachweisbaren Unterstellungen, mit denen die Biographik arbeitet, und ihren bloß assoziativen ›Erkenntnissen‹ oder weltanschaulich motivierten ›Erklärungsangeboten‹. Zur Kritik der Biographik sind neben Sachkompetenz und Weltwissen auch Methodenkompetenz und spezifisches Wissen über die Möglichkeiten der Organisation von Lebensbeschreibungen vonnöten – man bedarf also eines deskriptiv-analytischen Inventars, um ein bestimmtes darstellerisches Verfahren und dessen Erträge klassifizieren zu können. Ein biographisches Datum wie der erweiterte Selbstmordversuch Rudolf Ditzens hat in der Rekonstruktion einer literarischen Biographie eine kotextuelle (sprich: textinterne, literarische) und eine kontextuelle (sprich: textexterne, kulturelle) Bedeutung: Ihn kotextuell analysieren heißt, ihn nach Maßgabe der jeweiligen biographischen Fragestellung und der Textposition zu beschreiben. Die psychoanalytische Biographie Mantheys etwa beschreibt diesen Doppelselbstmordversuch als »selbstzerstörerischen Akt«, der auf einen »kaum mehr auszugleichenden Zustand innerer Desintegration« zurückzuführen sei: Der Lebensvollzug ist im Ramen dieser Lesart als fortschreitender »Persönlichkeits-Abbau« zu fassen.36 Dieser Selbstmord als Datum der realen biographischen Realität Rudolf Ditzens hat darüber hinaus textexterne kulturelle Horizonte, die mitzulesen sind und die den tatsächlichen Vorfall transzendieren; die Darstellung des Falles erfolgt durch diskursive ebenso wie durch fiktionale Texte, durch Dokumente der ermittelnden und gutachtenden Behörden ebenso wie durch ›autobiographische‹ Erzählungen des Beteiligten und seiner Angehörigen; die Annahmen über die psychische Konstitution der beiden Duellanten beeinflussen, damals wie heute, den Befund, und dabei ist kulturelles Wissen allgemeiner oder gruppenspezifischer Art (das Wissen der damals ermittelnden Behörden und behandelnden Ärzte etwa) über Ursachen und Bedingungen solcher hochrangiger Normverstöße zu berücksichtigen; damit muss man aber auch das damals geltende Werte- und Normensystem kennen, speziell etwa ein Wissen über das zeitgenössische Duellwesen und über das System der Ehre haben und berücksichtigen. Wenn man beispielsweise aus den Untersuchungsakten weiß, dass das Ditzen-Neckar’sche Duell nicht regelkonform verlief, dann lohnt sich ein Blick auf die damals gelten36 Manthey: Hans Fallada | in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 39.

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den Regeln für die Austragung von Ehrenhändeln, denn nur so lässt sich entscheiden, ob und inwieweit die Handlungsweise der beiden Duellanten durch eine – möglicherweise literarisch romantisierende – gängige Auffassung vom Zweikampf modelliert worden ist. Nur dann, wenn man ein solches Bezugssystem wie den Kodex des Ehrenhandels oder die Darstellungskonventionen der Belletristik als hier spezifisch relevant setzen kann, nur dann kann man auch die auffälligen Abweichungen interpretieren, die bei diesem Duell beobachtet worden sind und Eingang fanden in die juristische Würdigung des Falles. Endlich sind die zahllosen anderen Vergleichsfälle in Betracht zu ziehen, insbesondere dann, wenn sie Anlass einer fiktionalen Darstellung geworden sind.37 Bei der Analyse eines diskursiven Textes wie einer Biographie ist also auch kulturelles Wissen als Kontextwissen zu berücksichtigen, das uns wiederum nur Texte zugänglich machen, deren Bedeutung ihrerseits textanalytisch zu rekonstruieren ist. Hier gelten etwa auch zusätzliche Regeln der Art, dass ein staatsanwaltlicher Untersuchungsbericht, bei dem ein textspezifisch juristisches Bedeutungspotential anzunehmen ist, den normalsprachlichen Bedeutungsanteil seiner Terme bei weitem übersteigt. Der Rezipient solcher Dokumente, der Verfasser oder Leser von Biographien weiß dies, zumindest annäherungsweise, auch. Das Material der Biographen wird gleichwohl je anders gesichtet und perspektivisch ausgerichtet. So hatten die beiden frühesten Biographen Falladas, Manthey und Gessler, die Möglichkeit, sowohl eine Psychobiographie als auch eine dialektisch-materialistische Psychohistorie am Beispiel Falladas zu entwerfen – doch der eine entschied sich für diese, der andere für jene Akzentuierung –, mit erheblichen Folgen für die textinterne (kotextuelle) Organisation des Ausgangsmaterials, für dessen Deutung und textuelle Funktionalisierung. Dokumente, die ihrerseits in bestimmten historischen und funktionalen Kontexten standen und dort auch spezifisch funktionierten (etwa: ihren juristischen Zweck erfüllten), sind hier in ein neues Universum der Rede eingetreten und werden dort, nicht selten mit beträchtlichem Aufwand, umsemantisiert: Der Biograph macht von seinem Recht Gebrauch, das Material nach Gusto auszuwerten. Zur Bedeutung der Fallada-Biographik gehört wesentlich die textexterne und textinterne Pragmatik, die mit der Darstellung jeweils verknüpft wird. Die textexternen Größen der realen Kommunikationssituation (Autor – Rezipient – Buchmarkt etcetera) sind bemerkenswert, da mindestens drei Mono- bzw. Biographien für den Buchmarkt der DDR verfasst und dort auch publiziert worden sind, nämlich Gessler (1972), Crepon (1979) und Liersch (1981). Diese Arbeiten sind für den westdeutschen Markt 37 Ansätze dazu bietet Mix: Pubertäre Irritation und literarische Examination. Sowie ders.: Selbstmord der Jugend.

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übernommen worden; eine Darstellung, die von Manthey, blieb westdeutschen Lesern vorbehalten. Eine Biographie wurde für den angelsächsischen Raum geschrieben und für den wiedervereinigten, jetzt gesamtdeutschen Markt übernommen. Eine weitere Biographie, materialreich mit Bildern und Briefen ausgestattet und herausgegeben von Gunnar Müller-Waldeck und Roland Ulrich, konnte sich auf die Mitarbeit von Uli Ditzen und der Familie Ditzen stützen und erschien 1997 auf dem wiedervereinigten deutschen Markt. Am interessantesten erscheint uns die textexterne Pragmatik der DDRBiographien, weil sie sich einem Gegenstand nähern, der nach dem offiziellen Literaturbegriff der DDR mindestens problematisch gewesen ist. Deren Übernahme für den Buchmarkt der BRD entsprach einem schon lange bestehenden Leserinteresse an einem Autor, der im Westen bereits prominent durchgesetzt und als Buchclub-Klassiker verbreitet war; dies galt auch für Mantheys Buch, das somit nicht das Problem hatte, für einen Schriftsteller werben zu müssen, der erst noch – sei es staatlicherseits, sei es vom Literaturbetrieb her – ideologisch sanktioniert werden musste. Indiz dafür ist etwa die Vergabe der Nummer 1 der Rowohlt-Taschenbücher an Kleiner Mann – was nun? Die beiden biographischen Annäherungen, die nach der Auflösung des Ostblocks entstanden sind, die Biographie von Jenny Williams und die Bildmonographie der Familie Ditzen, haben ebenfalls einen pragmatisch klar zu umreißenden Zweck: Williams erschließt Falladas Biographie für den englischsprachigen Markt, auf dem Fallada aufgrund seiner leichten Lesbarkeit und spannenden Unterhaltsamkeit traditionell ein gutes Standbein hat – der derzeitige Erfolg von Every Man Dies Alone auf dem amerikanischen beziehungsweise von Alone in Berlin auf dem englischen Buchmarkt belegt dies auf eindrucksvolle Weise. Die Bildmonographie der Familie Ditzen verfolgt mehrere Ziele: Sie entspricht einem anhaltenden Leserinteresse im geeinten Deutschland, sie stellt die erste gesamtdeutsche Biographie dar, die nicht den politischen Systemzwängen von BRD und DDR unterliegt, und sie ist entstanden zu einem Zeitpunkt, in dem die großen Gesellschaftsideologien, unter ihnen auch die Psychoanalyse und der Marxismus-Leninismus, abgedankt und ausgedient haben bzw. selber kritikwürdig geworden sind, so dass dieses Buch mindestens auch als impliziter Kommentar zur bisherigen Fallada-Biographik gelesen werden muss. Neben der textexternen Pragmatik wäre die textinterne genauer darzustellen – etwa anhand der dargestellten Sprechsituation. So klassifiziert sich Crepons Darstellungsversuch als auf »junge Leute« gemünzte Biographie.38 Verknüpft wird mit ihr ein pädagogischer Zweck, wobei nicht irgendwelche 38 Crepon: Leben und Tode des Hans Fallada. Vorwort, S. 5.

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Schüler gemeint waren, sondern Jugendliche des ›sozialistischen Vaterlandes DDR‹, die zu einem dem Gesellschaftsmodell entsprechenden, normkonformen Verhalten finden sollten. Illustriert wird das interessanterweise an dem Modellfall einer Biographie, deren Verlauf weder dem sozialistischen Wertesystem entsprach noch ein erkennbares Bemühen repräsentierte, ihm entsprechen zu wollen. Nicht nur Crepon stand vor diesem Dilemma – alle Fallada-Biographen der DDR, im Wesentlichen Gessler, Crepon und Liersch, mussten einer bestimmten Argumentation mit einer dialektischen Struktur folgen. So wandten sie sich in einem ersten Schritt gegen den ›Irrtum‹, dass Fallada aufgrund von Leben und Werk ein schwacher Autor sei; und sie plädierten in einem zweiten Schritt dafür, dass er sich in Wahrheit sehr gut in ein sozialistisches Menschenbild auf teleologisch-geschichtsphilosophischer Basis einpassen lasse. Die im Westen entstandenen Biographien mussten ihren Gegenstand zwar ebenfalls rechtfertigen, hatten aber nicht die Zielvorgabe, eine sozialistische Ikone zu erschaffen, sondern begründeten sich individuell: Jürgen Mantheys psychoanalytischer Versuch folgte einer Freud-Renaissance der vierziger und fünfziger Jahre, die auf die Ausgabe der Gesammelten Werke (1940–1952), auf die Freud-Biographie von Ernest Jones (1953–1957) und andere Faktoren zurückzuführen ist. Diese »Psychiatrisierung des Alltags« (Robert Castell) und die Vermarktung von »Psychowaren« schlugen sich auch in den Geisteswissenschaften nieder, blieben jedoch ein Phänomen des Westens. Die Beschäftigung mit Fallada im Westen hatte darüber hinaus mit der Entdeckung neuer Leserschichten in den Geisteswissenschaften zu tun. Dort, wo man einen »Werkkreis der Literatur der Arbeitswelt« stiftete, dort, wo man Verständigungstexte, Dokumentar- und Tendenzliteratur und Genres des Trivialen in die Untersuchung zog und den Kanon quasi »nach unten« erweiterte, da wurden nun auch Bestseller-Autoren der Neuen Sachlichkeit wie Hans Fallada, Lion Feuchtwanger oder Vicki Baum relevante Forschungsgegenstände – übrigens lange, nachdem sie ins Blickfeld des bürgerlichen Publikums gerückt waren. Hier, im anti-bürgerlichen Impetus, berührten sich DDR- und BRDBiographik wieder, zumindest punktuell: In der DDR besonders deutlich bei Werner Liersch, in der BRD auffällig bei Jürgen Manthey. Es belegt, dass beide ein Ziel verfolgten, das sich von der gegeben-gegenwärtigen Gesellschaft entfernte und in einer utopisch-zukünftigen Gesellschaft anzusiedeln war. Manthey deutete die bürgerliche als autoritative Gesellschaft, die sich im problematischen Vater-Sohn-Verhältnis manifestiert, Liersch wertete die bürgerliche als abgelebte Klassengesellschaft, die keine Kraft mehr zur menschenwürdigen Gestaltung der Zukunft habe und der der Logos-Gedanke einer vernünftigen Gesellschaftsformation nicht einsichtig sei. Beide Biographen äußern Zweifel an der Mündigkeit Falladas als Staatsbürger, doch

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führt der eine sie auf individualpsychologische und kollektivsymbolische Ursachen zurück, während der andere auf die gesellschaftlichen Kräfte abhebt, die in der Geschichte walten und denen sich Fallada noch nicht geöffnet habe. Falladas soziale und politische Mündigkeit steht also in fast allen Biographien auf dem Prüfstand und gibt auch die relevante Fragestellung der Werkanalysen vor: Inwiefern sich Fallada mit seinem Werk den Nationalsozialisten angedient habe, und inwiefern er aufklärerisch tätig geworden sei. So kann er im Westen »als getreuer Chronist kleinbürgerlicher Mentalitäten ideologiekritisch demontiert« werden, während er in Darstellungen des Ostens zum politisch aktiven Erzähler stilisiert wird, der aufgrund der rechtsreaktionären Entwicklungen aus seiner Naivität erwacht sei.39 Jürgen Mantheys Rowohlt-Monographie ist durch psychoanalytisches Interesse am Autor motiviert. Wie kaum eine andere psychologische Richtung hat die Psychoanalyse seit ihren Anfängen ein vielfältig motiviertes Interesse an Literatur bekundet und eine stattliche Zahl psychoanalytischer Textanalysen vorgelegt. Die Biographie von Gessler bekennt sich zum Historisch-dialektischen Materialismus Marx’scher Provenienz und trachtet danach, Falladas Ort im teleologischen Verlauf der Geschichte zu bestimmen. Die psychologische Richtung biographischer Annäherung blieb nach dem Zweiten Weltkrieg Westdeutschland vorbehalten, der geschichtsphilosophische Ansatz des Marxismus-Leninismus erfasste, aus der DDR und anderen sozialistischen Staaten und Kulturen kommend, in den sechziger Jahren auch Westeuropa. Insbesondere im Zuge der Studentenrevolte konnte sich dieses Denken auch in den Geisteswissenschaften Westdeutschlands festsetzen. Parallel dazu wurden im Westen soziologische und sozialgeschichtliche Fragestellungen forciert, für die es in Ostdeutschland unseres Wissens keine Entsprechung gibt. Die grundsätzliche Frage, so Marianne Wünsch 1977, [o]b die verschiedenartigen Versuche, mit Materialien oder Theorien anderer, nicht sprach- oder textwissenschaftlicher Disziplinen zu arbeiten, ein begrüßenswertes Zeichen interdisziplinärer Zusammenarbeit darstellen oder ob sie Symptom dafür sind, daß die Literaturwissenschaft einmal mehr ihr Heil in der Verdrängung fachinterner Probleme durch die Flucht in fachexterne Bereiche sucht, lasse ich dahingestellt: positive und negative Merkmale dieser Entwicklung der letzten Jahre dürften einstweilen schwer entwirrbar sein.40

Die Problemlage sei hier an einem Beispiel illustriert: Denn Mantheys psychoanalytische Annäherung an Fallada ist ein solcher Anwendungsversuch 39 Vgl. Zachau: »Armer Tredup, es war nie viel los mit dir«. Sowie ders.: Der politi-

sche Autor. 40 Marianne Wünsch: Zur Kritik der psychoanalytischen Textanalyse. In: Methoden der Textanalyse. Hg. von Wolfgang Klein. Heidelberg: Quelle & Meyer 1977 (medium literatur, 3), S. 45–60.

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einer »objektfremden« Theorie auf »Literatur«; die »Wissenschaftlichkeit« dieser Theorie ist relativ und umstritten, und das gilt forciert für psychoanalytische Ansätze, die »sprach- und textwissenschaftliche Theoreme« enthalten. Denn die psychoanalytische Textanalyse trifft einerseits grundsätzliche Aussagen zum Status von »Literatur«, und sie analysiert andererseits Texte und aber auch Autoren. Sie äußert sich also nicht nur zur Psychologie von Romangestalten, sondern auch »zur Psychologie der sie produzierenden Individuen« – hier also Falladas. Dabei fällt auf, dass die psychoanalytische Texttheorie und die konkrete psychoanalytische Textanalyse, also die Applikation dieser Theorie auf Texte, keineswegs immer übereinstimmen. Neben der auffälligen Tatsache, dass die psychoanalytische Textanalyse zentrale eigene Theoreme bei der Auswertung literarischer Sujets unberücksichtigt lässt, sticht hervor, dass sie literarische »Figuren« wie reale »Personen« behandelt und dabei insgeheim eine »Abbildtheorie« präsupponiert, »derzufolge ein literarischer Text eine psychische Realität abbildet«.41 Das ›Gemachte‹ des literarischen Textes, die Art und Weise der Präsentation der Histoire im Discours, ferner die Selektivität und spezifische Kodierung der Persönlichkeitsdaten der dargestellten Figuren, bleiben in der Regel im Windschatten der Reflexion. Das Gleiche gilt für einen besonderen Anwendungsfall, der sich in der psychoanalytischen Textanalyse großer Beliebtheit erfreut: Der Übertragung der Ergebnisse textanalytischer Befunde auf den Autor. Hier wird einmal mehr eine Abbildtheorie praktiziert, wenn die psychischen Strukturen, die man textintern für eine Figur ermittelt hat, nun auch textextern für ihren Urheber gelten sollen. Als pathologisch erkannte Phänomene haben nach dieser Lesart reale Korrelate in der Biographie des Autors. Und so auch umgekehrt: Literarische Figuren werden als Spiegel der Psychopathologie des Autors gelesen, wobei in der Regel ungeklärt bleibt, wodurch sich solche Lesarten ermuntert sehen und was zu der Annahme berechtigt, dass, was für den Autor gilt, auch für seine Figuren gelten müsse. Bei einem komplexen »Erzähltext mit mehreren Figuren« wäre dann beispielsweise zu fragen, »worin der Autor nun seine Psyche abgebildet haben soll. Im ›Helden‹? Was ist dann mit den anderen Figuren? In der Gesamtmenge der Figuren? Wie kann dann aus verschiedenen Figurenpsychologien eine Psyche des Autors erschlossen werden?«42 Angesichts solch ungeklärter Fragen erscheint der Schluss auf den Autor als Kurzschluss – und erscheint auch der Umkehrschluss vom Autor auf seine Figur respektive seine Figuren methodisch illegitim. Sie kann sich nur auf das Postulat der Psychoanalyse stützen, sie sei »anthropologisch universal« gültig und nicht, wie etwa die Semantik von 41 Ebd., S. 50. 42 Ebd., S. 54.

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Symbolen, eine »kulturelle Variable«.43 Etwas anders sieht es aus, wenn der Autor bewusst mit dem Wissen der Psychoanalyse operiert und seine Figuren mit psychoanalytisch kodierten Daten ausstattet, wenn er also auf einen Kode direkt referiert, der seit circa 1900 zum Wissen der Kultur und damit auch der Schriftsteller gehört. Was sich als Einwand gegen die Psychoanalyse formulieren lässt, gilt in gleicher Weise für die Annahmen des Historischen Materialismus, der auch »anthropologisch universale« Gesetzmäßigkeiten unterstellt, die dann nur noch im Autor oder seinen Figuren aufgefunden werden müssen. Ob das zulässig ist, sei dahingestellt – jedenfalls ermöglichen es solche weltanschaulichen Erklärungsangebote ihren Verfassern, Werturteile abzugeben und ihren Gegenstand je als reaktionär oder als fortschrittlich zu verorten. Dieses Bedürfnis scheint in Hochphasen der Fallada-Biographik besonders groß (gewesen) zu sein, schien es sich doch bei ihm um einen Autor zu handeln, den man erheben – oder über den man sich erheben könne.

Epochale Relevanz – Fallada in einem geistigen und literarischen Zwischenreich Mit dem vorliegenden Sammelband zu Fallada gerät nicht zufällig ein Vertreter der Poetae minores in den Blick, der – etwa im Unterschied zu Thomas Mann – nicht die Bürde symbolischer Repräsentanz zu tragen hatte, sondern in einem geistigen und literarischen Zwischenreich sein Werk stiften konnte. Im Gegensatz zu vielen anderen populären Autoren seiner Zeit jedoch ist es Fallada gelungen, immer wieder ein Publikum für sich zu gewinnen: In der Bundesrepublik ebenso wie in der DDR ist er nie vom Buchmarkt verschwunden, sondern in Werk-, Taschenbuch- und Buchclub-Ausgaben weit verbreitet worden. In den letzten beiden Jahrzehnten seit der Wende ist das Œuvre Falladas stetig durch Briefbände und Nachlasseditionen arrondiert und mitunter höchst prominent übersetzt worden. Die Beiträger des Fallada-Symposiums glaubten deshalb, mit Fallada einen Autor von epochaler Relevanz in den Blick genommen zu haben, über dessen Werk sich die Mechanismen des Denk- und Literatursystems der Moderne begreifen lassen. Es ging ihnen darum, ältere und jüngere Forscherpersönlichkeiten miteinander ins Gespräch zu bringen und sie zwar spezifisch zu Fallada arbeiten zu lassen, zugleich aber (im Sinne Martin Lindners) die historische Semantik der Epoche und ihrer Invarianten modellhaft aufzuweisen und an repräsentativen Beispielen zu belegen. Falladas Romanschaffen erscheint hier als Hybrid aus literarischer Stilisierung, fik43 Ebd., S. 55 f.

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tionaler Verfremdung und semi-dokumentarischem Bezug zur historischen »Realität« (Lindner). Ziel der Tagung war es, auch scheinbar ›autornahe‹ Texte nicht einfach als autobiographische Dokumente zu lesen, sondern als Ausdruck der »Lebensideologie« (Lindner, Wünsch), wie sie für die Literatur der Moderne typisch ist. Der Tagungsband setzt sich damit dezidiert von der gängigen Analysepraxis ab, die von der Forschung bislang favorisiert wurde und die Falladas Œuvre als Erhellung oder Verschlüsselung seines Lebens deutet. Der Begriff des »Lebens« freilich hat auch für uns einen hohen Stellenwert, wenngleich in anderer Bedeutung. Es geht uns um das umfassendere Lebenskonzept des »Denk- und Literatursystems« (Michael Titzmann), um das Konzept des ›Lebens‹ als einem »zentralen Wert an sich« (Marianne Wünsch), an dem sich auch das Krisenbewusstsein der Epoche festmachen lässt. So hoffen wir, mittels dieser Systematik auch einigen Missverständnissen beizukommen, die die Forschung zum Autor seit langem in die Sackgasse geführt haben. So ist dankbar aufzugreifen, was Karl Prümm bereits 1974 mit Blick auf die Neue Sachlichkeit konstatierte, dass nämlich unter den Vertretern (und Kritikern) dieser Literaturströmung ein geringes Problembewusstsein hinsichtlich der literarischen Reproduktion von Wirklichkeit und des Wahrheitsanspruchs von Literatur bestehe: »Der Glaube«, so Prümm, »daß die literarisch reproduzierte Wirklichkeit mit der Realität selbst identisch ist, ist stark ausgeprägt; die Frage, ob die Fiktion nicht eine eigengesetzliche Realität konstituiert, wird von der Neuen Sachlichkeit nicht gestellt.«44 Von der Literaturwissenschaft hingegen muss und wird sie gestellt werden. Dabei hat sich die methodische Prämisse bewährt, Literatur als sekundäres (modellbildendes) System (Lotman) zu begreifen, dessen Merkmale sich exemplarisch rekonstruieren und auf die jeweiligen Erzählstrukturen der Epoche beziehen lassen. Bereits 1967 hat Wolfdietrich Rasch für die Literatur zwischen 1890 und 1930 zentrale Epochenmerkmale bestimmt, darunter einen neu definierten Lebensbegriff. Seither haben sich Forscherpersönlichkeiten wie Marianne Wünsch und Jörg Schönert oder Ralf Bogner und Stefan Scherer die Moderne weiter erschlossen und sie nun auch spezifisch auf Falladas Werk bezogen. Die extremen Zustände seiner Protagonisten zwischen emphatischem und reduziertem Leben, der wiederholte »Lebenswechsel« (Wünsch) innerhalb des biologischen Lebens und die damit korrelierte Narration sind mit dieser epochentypischen Struktur erklärbar und bedürfen des Rekurses auf die Autorbiographie nicht mehr, 44 Karl Prümm: Neue Sachlichkeit. Anmerkungen zum Gebrauch des Begriffs in neueren literaturwissenschaftlichen Publikationen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 91 (1972) S. 606–616. Vgl. ders.: Die Oberfläche der Dinge. Sowie ders.: Exzessive Nähe und Kinoblick.

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wenngleich hier einer nach dem Lebensmodell der Moderne gelebt zu haben scheint – als sei es Literatur.

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Hans Fallada. Auswahl-Bibliographie der Briefe und der Sekundärliteratur 1. Briefe Briefe aus der Neumünsteraner Zeit. In: Hans Fallada. Werk und Wirkung. Hg. von Rudolf Wolff. Bonn: Bouvier 1983 (Sammlung Profile, 3), S. 64–92. Ewig auf der Rutschbahn. Briefwechsel mit dem Rowohlt Verlag. Hg. von Michael Töteberg und Sabine Buck. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008. 462 Seiten. Hans Fallada. Sein Leben in Bildern und Briefen. Hg. von Gunnar Müller-Waldeck und Roland Ulrich. Unter Mitarbeit von Uli Ditzen. Berlin: Aufbau 1997. 270 Seiten. Inedits. Hans Fallada et Romain Rolland: Trois lettres inedites des Fallada (1912). Présentées par Jean Full. In: Recherches Germaniques, Strasbourg (1973) N°3, S. 222–234. Lange, Sabine: Gespräche und Briefe. In: Hans Fallada Jahrbuch 1 (1995) S. 130–137. Mein Vater und sein Sohn. Briefwechsel. Hg. von Uli Ditzen. Mit Anmerkungen von Hartmut Schönfuß. Berlin: Aufbau 2004. 243 Seiten. Müller-Waldeck, Gunnar: Neues zu Romain Rolland, Hans Fallada und Ada Ditzen. In: Hans Fallada Jahrbuch 3 (2000) S. 49–63 [mit sieben Briefen Falladas an Rolland, S. 57–63]. Sandberg, Hans-Joachim: Stimmen fern und nah. Fallada und Rowohlt, Tucholsky, Hamsun, Thomas Mann. In: Hans Fallada Jahrbuch 3 (2000) S. 94–118 [Briefe von Hans Fallada, Walter Hasenclever, Thomas Mann, Robert Musil, Ernst Rowohlt, Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Peter Zingler]. Wenn du fort bist, ist alles nur halb. Briefe einer Ehe [Anna und Rudolf Ditzen]. Hg. von Uli Ditzen. Berlin: Aufbau 2007. 518 Seiten.

Ungedruckte Briefe und Briefwechsel: Briefwechsel Hans Fallada – Wilhelm und Elisabeth Ditzen (Eltern), 1928–1946 (ab 1937 Fallada – Elisabeth Ditzen). Hans-Fallada-Archiv Carwitz (HFA) des Literaturzentrums Neubrandenburg, Signaturen N 166–181. 3484 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Elisabeth (Schwester) und Heinz Hörig, 1928–1944. HFA, Signaturen N 182–197. 1231 Seiten.

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Briefwechsel Hans Fallada – Margarete (Schwester) und Fritz Bechert, 1928–1945. HFA, Signaturen N 198–213. 624 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – diverse Familienmitglieder, 1945–1946. HFA, Signatur N 214. 338 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Johannes Kagelmacher, 1928–1946. HFA, Signaturen N 215–232. 437 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Rowohlt Verlag, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart (als Nachfolgerin des Rowohlt Verlages) und Ernst Rowohlt (privat), 1928–1946. HFA, Signaturen N 234–252. 3262 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – diverse Briefpartner und Institutionen (A–Z), 1931–1945. HFA, Signaturen N 253–271. 3023 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – diverse Briefpartner und Institutionen (A–Z), 1945–1946. HFA, Signaturen N 272–290. 1108 Seiten. Leserbriefwechsel zu »Kleiner Mann – was nun?«, 1932/1933. HFA, Signaturen N 291–309. 386 Seiten. Briefe Rudolf Ditzens, 1913–1919. HFA, Signatur S 59. 30 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Johannes R. Becher/Kulturbund, 1945–1946. HFA, Signatur S 69. 7 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Tägliche Rundschau, 1946–1947. HFA, Signatur S 72. 26 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Ernst Rowohlt /Anna Ditzen / Lore und Uli Ditzen / Elisabeth Ditzen, 1945–1946. HFA, Signatur S 74. 95 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Wilhelm Kahlert, 1942. HFA, Signatur S 88. 13 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – diverse Verlage und Zeitschriften, 1912–1925 (inklusive zahlreicher Aktenvermerke Hans Falladas). HFA, Signatur S 89. 257 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Dora-Hertha Stein-Preisach, 1933–1946. HFA, Signatur S 287. 73 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Anna Ditzen, 1928–1944. HFA, Signaturen S 342–353. 1041 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Will Vesper, 1933–1934. HFA, Signatur S 389. 5 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Friedrich Hermann Küthe, 1933–1946. HFA, Signatur S 608. 107 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Paul Collrep, 1945–1946. HFA, Signatur S 697. 7 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Dora Isbrandt, 1932–1934. HFA, Signatur S 698. 15 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Werner Hütter, 1936–1946. HFA, Signatur S 699. 98 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Walter Liebschner, 1935–1946. HFA, Signatur S 830. 22 Seiten. Briefwechsel Hans Fallada – Geschwister Ebers, 1928–1929. HFA, Signatur S 1798. 34 Seiten.

Auswahl-Bibliographie

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Auswahl-Bibliographie

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Auswahl-Bibliographie

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Hübner, Anja Susan: »Erfolgsautor mit allem Drum und Dran«. Der Fall Fallada oder Sollbruchstellen einer prekären Künstlerbiographie im ›Dritten Reich‹. In: Im Pausenraum des ›Dritten Reiches‹. Zur Populärkultur im nationalsozialistischen Deutschland. Hg. von Carsten Würmann und Ansgar Warner. Bern [u. a.]: Lang 2008 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. N. F., 17), S. 197–208 [mit einem Dokument »Der unerwünschte Autor. Meine Erlebnisse während zwölf Jahren Naziterror«, S. 209–213]. Hütter, Werner: Besuch bei Hans Fallada. In: Hans Fallada Jahrbuch 1 (1995) S. 147– 154. Hummel, Adrian: »Ein klein bisschen gerechter könnte es gerne zugehen.« Deutschsprachige Fallada-Rezeption in den 1950er Jahren. In: Hans Fallada Jahrbuch 4 (2003) S. 125–154. Ignasiak, Detlef: Vom Umgang mit einem vermeintlichen Genre-Begriff: Kalendergeschichten bei Oskar Maria Graf, Hans Fallada und Bertolt Brecht. In: Das zwanzigste Jahrhundert im Dialog mit dem Erbe. Hg. von Klaus Krippendorf. Jena: FriedrichSchiller-Universität 1990 (Geisteswissenschaftliche Beiträge der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Dialog mit dem Erbe, 1), S. 173–181. James, Dorothy: »Grundanständige Bücher«? Fragen zur Resonanz von Falladas Romanen in den 30er Jahren. In: Hans Fallada Jahrbuch 2 (1997) S. 32–42. Joho, Wolfgang: Fallada. Größe und Grenzen einer Begabung. In: neue deutsche literatur 11 (1963) H. 7, S. 152–155. Jürß, Detlev: In der Wüste des Daseins. Hans Falladas verführbare Helden. Anmerkungen zur Suchtdarstellung in seinem Werk. In: Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk, S. 141–154. Jürß, Detlev: Rausch und Realitätsflucht. Eine Untersuchung zur Suchtthematik im Romanwerk Hans Falladas. Zürich: Universität Zürich 1985 [Dissertation]. 289 Seiten. Jürß, Detlev: Zur Fallada-Rezeption in Ungarn. In: Hans Fallada Jahrbuch 2 (1997) S. 104–115. Kaufman, Lia Solomonovna [id est Lili Kaufmann]: Soziale Romane von Hans Fallada. Moskau: MGPI. Moskauer Staatliches Pädagogisches W. I. Lenin-Institut 1964 [Dissertation, Masch., 1964]. Kaufman, Lia Solomonovna [id est Lili Kaufmann]: Die Werke der antifaschistischen Schriftsteller im nationalsozialistischen Deutschland. Problematik. Poetik. Moskau: MGU. Moskauer Staatliche Lomonossov-Universität 1985 [Habilitation, Masch., 1985]. 420 Seiten. Kaufman, Lia Solomonovna [id est Lili Kaufmann]: Zur Rezeption Hans Falladas in Rußland. In: Das Wort 10 (1995) S. 179–182. Kerker, Armin: Too Much Monkey Business – oder wie man aus einem faschistischen Roman ein »demokratisches Lehrstück« macht. In ders.: Aus den Köpfen an die Tafel. München: Raith 1976, S. 55–72. Keyserlingk, Hugo von: Liebe, Leben, Alkohol. Suchtkrankheiten im Spiegel deutscher Literatur. Mit den Lebenswegen der Dichter Reuter, Grabbe, Fallada. Lengerich: Pabst Science Publ. 2004. Klockars, Britta: Ein Willkommen für Fallada in Schweden. In: Hans Fallada Jahrbuch 1 (1995) S. 116–120. Kluwe, Philipp: Junges Volk geht auf die Reise. Bericht einer Studienfahrt nach Falladas Carwitz. In: Salatgarten (2006) H. 2, S. 31–33.

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Knüppel, Stefan: Falladas Gesichter. Literarische Physiognomien im Romanwerk Hans Falladas. Rostock: Universität Rostock 2008 [Dissertation, masch., 208]. 311 Seiten. Knüppel, Stefan: Das ›Gesicht‹ der Sucht. Ein Aspekt der literarischen Physiognomik Hans Falladas. In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 83–96. Knüppel, Stefan und Kuhnke, Manfred: Das Hans-Fallada-Haus in Carwitz. Ein Museumsführer. Friedland: Steffen 2010 (aktualisierte und erweiterte Neuauflage von Kuhnke, Manfred: Das Hans-Fallada-Haus in Carwitz. Ein Museumsführer. Neubrandenburg: federchen 2004). 124 Seiten. Knust, Herbert: Hans Fallada (Rudolf Ditzen). In: Dictionary of Literary Biography. Bd. 56: German Fiction Writers 1914–1945. Hg. von James Hardin. Detroit: Gale Research 1987, S. 84–94. Kopelke, Wolfdietrich: Hans Fallada. In: Kulturelles Erbe 3 (1988) S. 123–125. Kümmell, Renate: Die Handschriften Hans Falladas. In: Hans Fallada Jahrbuch 3 (2000) S. 164–180. Kuhnke, Manfred: Besuch bei Fallada. Sonntag, der 27. Mai 1934. Ein besonderer Tag im sonderbaren Leben des Hans Fallada. Neubrandenburg: federchen 1996 (Federlese). 119 Seiten. Kuhnke, Manfred: Fallada-Gedenkstätte in Carwitz. In: Deutschunterricht, Braunschweig, 43 (1990) S. 390 f. Kuhnke, Manfred: Fallada in Pankow. Berlin: Panke-Museum 1997. 64 Seiten. Kuhnke, Manfred: Gespräch mit Frau Dora Koch, geb. Isbrandt. In: Hans Fallada Jahrbuch 2 (1997) S. 56–62. Kuhnke, Manfred: Gespräch mit Lilo. In: Hans Fallada Jahrbuch 1 (1995) S. 138– 146. Kuhnke, Manfred: Das Hans-Fallada-Haus in Carwitz. Ein Museumsführer. Neubrandenburg: federchen 2004 (Federlese). 91 Seiten. Kuhnke, Manfred: »Ich würde es wieder so leben.« Zum 100. Geburtstag von Anna Ditzen. Neubrandenburg: federchen 2001 (Federlese). 116 Seiten. Kuhnke, Manfred: Eine kleine Oase fast unbekümmerter Menschlichkeit. Die Bildgeschichten um Vater und Sohn von e. o. plauen – Hans Falladas Vatergeschichten. In: Hans Fallada Jahrbuch 4 (2003) S. 202–215. Kuhnke, Manfred: Das Sprichwort: »Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist« – gilt es für Fallada? (Günter Caspar). In: Hans Fallada Jahrbuch 3 (2000) S. 29–48. Kuhnke, Manfred: Szene im Hörsaal. Eine Episode an Falladas Lebensende. In: neue deutsche literatur 39 (1991) H. 12, S. 167–172. Kuhnke, Manfred: Der traurige Clown und der Elefant auf dem Seil. Hans Fallada und e. o. plauen. Neubrandenburg: federchen 2003 (Federlese). 108 Seiten. Kuhnke, Manfred: Väterchen Rowohlt, Freund Franz, die unselige Miss Dodd. Hans Falladas Besucher in Carwitz. Neubrandenburg: federchen 2005 (Federlese). 200 Seiten. Kuhnke, Manfred: Verstrickt in die Zeiten. Anmerkungen zu den verwobenen Lebenslinien von Johannes R. Becher und Hans Fallada. Neubrandenburg: federchen 1999 (Federlese). 148 Seiten. Kuhnke, Manfred: »Wenn Sie aber wüssten, in welchem Durcheinander und welchen Sorgen wir in der letzten Zeit gelebt haben...« Zu einem Briefwechsel. In: Hans Fallada Jahrbuch 2 (1997) S. 43–55.

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Im Blinzeln der Großen Katze (1924) Mergenthaler, Volker: »Unkontrollierbare Geschichten«, die Bedingungen ihrer Hervorbringung und ihr epochengeschichtlicher Ort. Hans Falladas Gefängnistext »Im Blinzeln der Großen Katze«. In: Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 97–113.

In meinem fremden Land (1944) Lange, Sabine und Williams, Jenny: Anhang. Sendbrief aus dem Totenhaus. Nachwort. Zu dieser Ausgabe. Chronik. Anmerkungen. In: Hans Fallada: In meinem fremden Land. Gefängnistagebuch 1944. Hg. von Jenny Williams und Sabine Lange. Berlin: Aufbau 2009, S. 271–324.

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Montesinos Caperos, Manuel: Antifascismo y resistencia. Hans Falladas »Jeder stirbt für sich allein«. In ders.: Literatura e identidad cultural. Representaciones del pasado en la narrative alemana a partir de 1945. Bern [u. a.]: Lang 2009, S. 193–224. Montesinos Caperos, Manuel und Pérez Burgueño, Andrea: Schreiben um zu überwinden. Fiktion und Realität in »Jeder stirbt für sich allein« von Hans Fallada. In: »Erzählen müssen, um zu überwinden« [Literatura y supervivencia]. Hg. von Marisa Siguán-Boehmer. Barcelona: Sociedad Goethe en España 2009 (Congreso de la Sociedad Goethe en España, 4), S. 255–267. Motylewa, Tamara: Das Schicksal eines deutschen Schriftstellers. In: Sowjetliteratur. Zeitschrift zur sowjetischen Literatur. Nr. 9, September 1948. Auch in: Hans Fallada. Werk und Wirkung, S. 102–116. Rein, Hans: Die große Literatur des kleinen Mannes. Der Fall Fallada. In ders.: Die neue Literatur. Versuch eines ersten Querschnitts. Berlin: Henschel 1950, S. 327– 333. Auch in: Hans Fallada. Werk und Wirkung, S. 94–101. Turner, Henry Ashby: Hans Fallada for Historians. In: German Studies Review 26 (2003) N°3, S. 477–492. Vogel, Marion: Neuer Anfang in der Bündnispolitik. Bechers Bemühungen um Hans Fallada. In: Zwischen politischer Vormundschaft und künstlerischer Selbstbestimmung. Zur Herausbildung der DDR-Literatur 1945–1955. Protokoll einer wissenschaftlichen Arbeitstagung vom 23. bis 24. Mai 1989 in Berlin. Veranstaltet vom Institut für Literaturgeschichte der Akademie der Künste zu Berlin. Hg. von Irmfried Hiebel. Berlin: Institut für Literaturgeschichte 1989, S. 45–48. Auch in: Weimarer Beiträge 36 (1990) S. 674–680. Winkler, Willi: Der gute Deutsche. Mehr als sechzig Jahre nach der Erstausgabe wird ein Roman von Hans Fallada zum weltweiten Bestseller. Es ist die Geschichte eines Berliner Ehepaars, das Widerstand leistete. Wäre sie doch nur ganz wahr. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 164 vom 19. 7. 2011, S. 3. Zachau, Reinhard K.: Fallada’s Modernist Characters in his Berlin Novels »Little Man, What Now?«, »Wolf Among Wolves« and »Every Man Dies Alone«. In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 201–211. Zachau, Reinhard K.: Späte politische Selbstfindung: »Jeder stirbt für sich allein«. In ders.: Hans Fallada als politischer Schriftsteller, S. 183–196.

Der junge Goedeschal (1920) Caspar, Günter: Zu Falladas Frühwerk. In ders.: Falladas Frühwerk. Bd. 2. Berlin: Aufbau 1993, S. 137–190. Gansel, Carsten: »Es war eine verdammte Zeit«. Moderne Adoleszenzkrisen als traumatische Erinnerung. Neue Überlegungen zu Hans Falladas Frühwerk »Der arme Goedeschal«. In: Zeit vergessen, Zeit erinnern, S. 95–111. Jürß, Detlev: In der Wüste des Daseins: Hans Falladas verführbare Helden. Anmerkungen zur Suchtdarstellung in seinem Werk. In: Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk, S. 141–154. Mix, York-Gothart: Pubertäre Irritation und literarische Examination. F. Wedekind, R. Musil, E. Seyerlen, H. Fallada und die Selbstentfremdungserfahrung des Jugendlichen. In ders.: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der Moderne. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 130–145.

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Mix, York-Gothart: Selbstmord der Jugend. Hans Falladas »Der junge Goedeschal«, J. R. Bechers »Abschied«, H. Hesses »Unterm Rad« und der Erziehungsalltag im Kaiserreiche. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 44 (1994) H. 1, S. 63–76. U. d. T. »Pubertätsnarzißmus, Suizid und literarische Pathographie« auch in ders.: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der Moderne. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 166–183.

Der Jungherr von Strammin (1943) Engelhard, Gundula: Erzählen und Erinnern. Hans Falladas »Der Jungherr von Strammin«. In: Zeit vergessen, Zeit erinnern, S. 145–152.

Kleiner Mann – was nun? (1932) Améry, Jean: Zeitbetrachtungen, unpolitische und politische. Über Hans Falladas »Kleiner Mann – was nun?« und Lion Feuchtwangers »Erfolg«. In ders.: Bücher aus der Jugend unseres Jahrhunderts. Mit einem Vorwort von Gisela Lindemann. Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 80–94. Bartram, Graham: »Wenn das auch alles nicht stimmt und nur Kientopp ist ... «. Some Observations on the Cinema Episode in Fallada’s »Kleiner Mann, was nun?« In: The Modern Language Review 86 (1991) N°4, S. 929–938. Caspar, Günter: Fallada und der Film. In ders.: Fallada-Studien, S. 284–293. Ewald, Petra: »Emma Mörschel! Wie wär’s, wenn wir uns heiraten würden –?« Leistungen von Figurennamen in Hans Falladas Roman »Kleiner Mann – was nun?« In: Colloquia Germanica Stetinensia 16 (2009) Nr. 477, S. 127–144. Fritsch, Patricia: Hans Falladas Roman »Kleiner Mann, was nun?« in der zeitgenössischen Rezeption. Berlin: Freie Universität 1989 [Magisterarbeit, Masch.]. 230 Seiten. Fritsch, Patricia: Der Roman »Kleiner Mann, was nun?« im Spiegel der deutschen Presse im Jahr seiner Ersterscheinung. In: Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk, S. 249–272. Fritsch, Patricia: »Wie Erfolg gemacht wird.« Die Vermarktung des Romans »Kleiner Mann, was nun?« In: Dokumentation, S. 25–36. Frotscher, Hans Jürgen: Hans Fallada. »Kleiner Mann – was nun?«. Interpretation. München: Oldenbourg 1983. 90 Seiten. Gansel, Carsten: »Kleiner Mann – was nun?« oder »Theater ist ein Seismograph für die Gesellschaft«. Ein Gespräch mit Aleander Stillmark über die aktuelle Fallada-Inszenierung am Landestheater Neustrelitz. In: Hans Fallada und die literarische Moderne, S. 215–224. Gast, Wolfgang: Film als Gedächtnis. Die DDR-Interpretation von Falladas »Kleiner Mann – was nun?« 1967. In: Zeit vergessen, Zeit erinnern, S. 161–180. George, Marion: Falladas frühe Prosa. In: Hans Fallada Jahrbuch 4 (2003) S. 172– 192.

Auswahl-Bibliographie

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Grundmann, Hilmar: »Kleiner Mann – was nun?« – weltberühmt und verkannt zugleich. Literaturdidaktische Anmerkungen zum ersten deutschen Roman über die Arbeitswelt von Bedeutung. In: Hans Fallada Jahrbuch 4 (2003) S. 67–86. Grisko, Michael: »Es gibt keinen Frieden zwischen Arm und Reich«. Hans Falladas »Kleiner Mann – was nun?« im DDR-Fernsehen. Der kleine Mann – multimedial. In: Hans Fallada Jahrbuch 3 (2000) S. 229–246. Grisko, Michael: Hans Fallada. »Kleiner Mann – was nun?« Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 2002 (RUB, 16024). 178 Seiten. Hartlage-Laufenberg, Barbara: Kündigung und Kündigungsschutz in Hans Falladas Roman »Kleiner Mann, was nun?« In: Neue juristische Wochenschrift 47 (1994), Nr. 30, S. 1930–1933. Auch in: Hans Fallada Jahrbuch 1 (1995) S. 58–66. Hartlage-Laufenberg, Barbara: Zum juristischen Hintergrund von »Kleiner Mann – was nun?« In: Hans Fallada Jahrbuch 4 (2003) S. 99–106. Hüppauf, Bernd: Hans Fallada »Kleiner Mann – was nun?«. In: Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert. Analysen und Materialien zur Theorie und Soziologie des Romans. Hg. von Manfred Brauneck. Bamberg: Buchner 1976 (Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert, 1), S. 209–239. Jordan, Christa: »Hübsch bei sich zu Haus bleiben, bei den eigenen Sorgen?« Verelendung und Familienidyll. Hans Fallada: »Kleiner Mann – was nun?« (1932). In dies.: Zwischen Zerstreuung und Berauschung. Die Angestellten in der Erzählprosa am Ende der Weimarer Republik. Frankfurt/M. [u. a.]: Lang 1988 (Studien zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, 7) [Dissertation Universität Mainz, 1988], S. 172–203. Jürß, Detlev: »Kleiner Mann – was nun?« in den öffentlichen Büchereien des Dritten Reiches unerwünscht. In: Hans Fallada Jahrbuch 1 (1995) S. 52–57. Krohn, Claus-Dieter: Hans Fallada und die Weimarer Republik. Zur Disposition kleinbürgerlicher Mentalitäten vor 1933. In: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich. Hg. von Helmut Arntzen, Bernd Balzer, Karl Pestalozzi und Rainer Wagner. Berlin, New York: de Gruyter 1975, S. 507–522. Kuczynski, Jürgen: Hans Fallada: »Kleiner Mann – was nun?« – oder: Macht und Idylle. In ders.: Gestalten und Werke. Soziologische Studien zur deutschen Literatur. Berlin, Weimar: Aufbau 1969, S. 350–358. Labuhn, Peter: Aspekte zur russischen Erstausgabe von »Kleiner Mann – was nun?« In: Hans Fallada Jahrbuch 2 (1998) S. 64–72. Lange, I. M.: »Kleiner Mann – was nun?«. In: Leonhard Frank. Hans Fallada, S. 88–92. Latzkow, Bettina: »Wir werden doch nicht weinen müssen am Ende«. Leserbriefe zu »Kleiner Mann, was nun?« In: Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk, S. 273–284. Lethen, Helmut: Falladas »Kleiner Mann, was nun?« und die bürgerlichen Mittelstandstheorien. In ders.: Neue Sachlichkeit 1924–1932. Studien zur Literatur des »Weißen Sozialismus«. Stuttgart: Metzler 1970 (Metzler Studienausgabe) [Dissertation Freie Universität Berlin u. d. T. »Studien zur Literatur der neuen Sachlichkeit«, 1970]. 2, durchgesehene Auflage 1975, S. 156–167. Liersch, Werner: Kleiner Mann – was mit Dir tun? In: Hans Fallada und die literarische Moderne, S. 67–77. Liu, Li Li: Hans Fallada und sein Roman »Kleiner Mann, was nun?« Pullman: Washington State University 1988 [Examensarbeit, Masch., 1988]. Mayer, Dieter: Hans Fallada: »Kleiner Mann – was nun?« Historische, soziologische, biographische und literaturgeschichtliche Materialien zum Verständnis des Romans.

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Frankfurt/M. [u. a.]: Diesterweg 1978 (Literatur und Geschichte; Unterrichtsmodelle). 122 Seiten. Mayer, Dieter: Hans Fallada: »Kleiner Mann – was nun?«. In: »Kleine Leute«. Ideologiekritische Analysen zu Nestroy, Weerth und Fallada. Hg. von Jürgen-Wolfgang Goette, Dieter Mayer und Christl Stumpf. Frankfurt/M. [u. a.]: Diesterweg 1979, S. 80–116. Möhrmann, Renate: Biberkopf, was nun? Großstadtmisere im Berliner Roman der präfaschistischen Ära. Dargestellt an Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz« und Hans Falladas »Kleiner Mann, was nun?«. In: Diskussion Deutsch 40 (1978) H. 9, S. 133–151. Österling, Anders: Vorwort für die schwedische Übersetzung von »Kleiner Mann – was nun?« In: Hans Fallada Jahrbuch 1 (1995) S. 114–115. Prümm, Karl: Die Oberfläche der Dinge. Repräsentation des Alltäglichen im Film, im Theater und im Roman um 1930 am Beispiel von Robert Siodmak, Ödön von Horváth und Hans Fallada. In: Les fictions d’actualité dans les pays de langue allemande au XXe siècle. Die ästhetische Umsetzung des Zeitgeschehens im deutschsprachigen Raum im 20. Jahrhundert. Germanica 14 (1994) S. 31–59 [zu Fallada S. 54–58]. Prümm, Karl: Exzessive Nähe und Kinoblick. Alltagswahrnehmung in Hans Falladas Roman »Kleiner Mann, was nun?« In: Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Hg. von Sabina Becker und Christoph Weiß. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 255–272. Schmidt-Ott, Anja C.: Young Love. Negotiations of the Self and Society in Selected German Novels of the 1930s (Hans Fallada, Aloys Schenzinger, Maria Leitner, Irmgard Keun, Marie Luise Kaschnitz, Anna Gmeyner and Ödön von Horváth). [Dissertation, Oxford, 2001]. Bern [u. a.]: Lang 2002 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, 1835). Schütz, Erhard: ›Lämmchen‹ (H. Fallada: Kleiner Mann – was nun?). In ders.: Romane der Weimarer Republik. München: Fink 1986 (Text und Geschichte. Modellanalysen zur deutschen Literatur, 19. Uni-Taschenbücher, 1387), S. 172–177. Simon, Horst: Zeitgeschichtsdarstellung im Thema des »kleinen Mannes«. Falladas »Kleiner Mann – was nun?« und Kästners »Fabian«. In ders.: Zeitgeschichtsdarstellung im Roman um 1930. Jena: Universität Jena 1971 [Dissertation, Masch.], S. 141–168. Smail, Deborah: White-Collar Workers, Mass Culture and »Neue Sachlichkeit« in Weimar Berlin. A Reading of Hans Fallada’s »Kleiner Mann – was nun?«, Erich Kästner’s »Fabian« und Irmgard Keun’s »Das kunstseidene Mädchen«. Bern [u. a.]: Lang 1999 (Britische und Irische Studien zur deutschen Sprache und Literatur, 16) [Dissertation, London 1996]. 235 Seiten. Subiotto, Arrigo V.: Introduction. In: Hans Fallada: »Kleiner Mann – was nun?« London: Methuen 1987 (Methuen’s Twentieth Century Texts), S. 1–38. Subiotto, Arrigo V.: »Kleiner Mann – was nun?« and »Love on the Dole«: Two Novels of the Depression. In: Weimar Germany: Writers and Politics. Hg. von Alan F. Bance. Edinburgh: Scottish Academic Press 1982, S. 77–90. Turner, Henry Ashby: Hans Fallada for Historians. In: German Studies Review 26 (2003) N°3, S. 477–492. Williams, Jennifer: Some Thoughts on the Success of Hans Fallada’s »Kleiner Mann – was nun?« In: German Life and Letters 40 (1987) N°4, S. 306–318.

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Die Kuh, der Schuh, dann du (1929) Caspar, Günter: Anhang. Zu Falladas Frühwerk. Zu dieser Ausgabe. In: Hans Fallada: Frühe Prosa. Die Erzählungen. Berlin: Aufbau 1993 (Falladas Frühwerk in zwei Bänden, 2), S. 423–540. Gansel, Carsten: Zwischen Auflösung des Erzählens und ›Präzisionsästhetik‹ – Hans Falladas Frühwerk »Die Kuh, der Schuh, dann du« und das moderne Erzählen. In: Hans Fallada und die literarische Moderne, S. 35–50.

Märchen vom Stadtschreiber, der aufs Land flog (1935) Bloch, Robert N.: Hans Fallada. Märchen vom Stadtschreiber, der aufs Land flog. In: Werkführer durch die utopisch-fantastische Literatur. Herausgegeben von Franz Rottensteiner und Michael Koseler. 11. Erg.-Lfg. Meitingen: Corian 1993, S. 1–3.

Sachlicher Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein (1925/1930) Knüppel, Stefan: Das ›Gesicht‹ der Sucht. Ein Aspekt der literarischen Physiognomik Hans Falladas. In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 83–96.

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Strafgefangener, Zelle 32 Scheible, Hartmut: Vom Trost der Literatur: Falladas Aufzeichnungen im Gefängnis. In: Hans Fallada Jahrbuch 5 (2006) S. 222–249. Ulrich, Roland: Gefängnis als ästhetischer Erfahrungsraum bei Fallada. In: Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk, S. 130–140.

Der Trinker (1944) Caspar, Günter: Zwischen Roman und Konfession. Der Trinker Erwin Sommer. In ders.: Fallada-Studien, S. 183–212, 278–283. Jürß, Detlev: In der Wüste des Daseins: Hans Falladas verführbare Helden. Anmerkungen zur Suchtdarstellung in seinem Werk. In: Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk, S. 141–154. Knüppel, Stefan: Das ›Gesicht‹ der Sucht. Ein Aspekt der literarischen Physiognomik Hans Falladas. In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 83–96. Schroeder, Max: Hans Fallada. Zum Erscheinen seines nachgelassenen Romans »Der Trinker«. In: neue deutsche literatur 1 (1953) H. 12, S. 124–130. Als »Nachwort« auch in Hans Fallada: Der Trinker. Roman. Berlin: Aufbau 1953, S. 301–305. Turner, Henry Ashby: Hans Fallada for Historians. In: German Studies Review 26 (2003) N°3, S. 477–492. Zimniak, Pawel: Erzählte Sucht. Hans Falladas Psychogramm eines Trinkers. In: Hans Fallada und die literarische Moderne, S. 173–185.

Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (1934) Burns, Barbara: ›Vorbestraft‹. Differing Perspectives on Reintegration and Recidivism in Narratives by Storm and Fallada. In: Neophilologus 86 (2002) N°3, S. 437–453. Corvo Sanchez, Maria José: »Wer einmal aus dem Blechnapf frisst...« Una proyeccion Autobiografica. In: Babel-Afial (1997) N°6, S. 135–154. Caspar, Günter: Kippe oder Lampen. In ders.: Fallada-Studien, S. 5–65. Geerdts, Hans Jürgen: »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt«. In: Leonhard Frank. Hans Fallada, S. 92–98. Hesse, Hermann: Hans Fallada. »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt«. In: Nationalzeitung, Basel, 1. 4. 1934. Auch in ders.: Die Welt im Buch IV. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1926–1934. In Zusammenarbeit mit Heiner Hesse und Marco Schickling herausgegeben von Volker Michels. Frankfurt/M. Suhrkamp 2003 (Sämtliche Werke, 19), S. 454–456. Kreutzahler, Birgit: Der ›kleine Mann‹ als Verbrecher. »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« von Hans Fallada. In dies.: Das Bild des Verbrechers in Romanen der Weimarer Republik. Eine Untersuchung vor dem Hintergrund anderer gesellschaftlicher Verbrecherbilder und gesellschaftlicher Grundzüge der Weimarer Republik. Frankfurt/

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Wir hatten mal ein Kind (1934) Bredohl, Thomas: »Wir hatten mal ein Kind« im Visier der Kritik. In: Die Provinz im Leben und Werk von Hans Fallada, S. 80–95. Heinrich, Bernhard: Das reduzierte Pathos. Hans Falladas »neusachlicher« Held Johannes Gäntschow in »Wir hatten einmal [sic] ein Kind«. In: Hans Fallada und die literarische Moderne. Hg. von Carsten Gansel und Werner Liersch. Göttingen: V&R unipress 2010 (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien, 6), S. 153–161. Zachau, Reinhard K.: Beginn der ›Faschisierung‹: »Wir hatten mal ein Kind«. In ders.: Hans Fallada als politischer Schriftsteller, S. 129–158.

Wizzel Kien (1936) Caspar, Günter: Anhang. Nachwort. Zum Text. In: Hans Fallada: Wizzel Kien. Der Narr von Schalkemaren. Berlin: Aufbau 1995, S. 125–134. Montesinos Caperos, Manuel Ignacio: Wizzel Kien. Zwischen Narrenliteratur und Schelmenroman. In: Hans Fallada Jahrbuch 3 (2000) S. 191–203. Strässle, Thomas: »Wenn ich nur den Ton halte«. Hans Falladas Versuch einer Imitation Grimmelshausens. In: Simpliciana 24 (2002) S. 265–282.

Wolf unter Wölfen (1937) Bähr, Sarah-Sophie, Behrens, Antje und Krüger, Carolin: »Es gibt solche Namen, die ein Schicksal zu sein scheinen.« Offizielle Eigennamen des Schauplatzes Berlin. In: Namen- und Stadtlandschaften, S. 47–63 Brüggert, Maria und Sund, Simone: Du sollst nicht Mandchen sagen! Zur Ausdrucks- und Appellfunktion literarischer Namen. In: Namen- und Stadtlandschaften, S. 83–93. Caspar, Günter: Das Land in Brand. In ders.: Fallada-Studien, S. 120–182.

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Dahms, Andreas: Falladas Roman »Wolf unter Wölfen«. Ein Beitrag zur Analyse des epischen Textes und zu seiner filmischen Adaption. Potsdam: Filmhochschule Potsdam-Babelsberg 1988 [Dissertation, Masch., 1988]. Ehlers, Torsten: Herrschaft und Dienerschaft. Aspekte sozialer Kontrolle und politischer Ordnung in Hans Falladas »Wolf unter Wölfen«. In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 13–22. Ewald, Petra: Hans Falladas Roman »Wolf unter Wölfen«. Die Botschaften der literarischen Namen – Hinführung und theoretisch-methodische Grundlegung. In: Namen- und Stadtlandschaften, S. 5–20. Ewald, Petra und Diderich, Peter: »Wolf unter Wölfen« als Bilderbuch. Zu sprachlichen Bildern im Werk Hans Falladas. In: Salatgarten 18 (2009) H. 1, S. 11–15 (Teil 1); Heft 2, S. 13–17 (Teil 2). Hagestedt, Lutz: »Was ein junger Mann vor und von der Ehe wissen muss«. Zur frühmodernen Konzeption der Sexualpathologie in Hans Falladas Roman »Wolf unter Wölfen« (1937). In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 39–57. Hinck, Walter: Im brodelnden Vulkan. Walter Hinck über Hans Fallada: »Wolf unter Wölfen« (1937). In: Romane von gestern – heute gelesen. Bd. 3: 1933–1945. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M.: S. Fischer 1990, S. 120–126. Knüppel, Stefan: Das ›Gesicht‹ der Sucht. Ein Aspekt der literarischen Physiognomik Hans Falladas. In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 83–96. Kietzmann, Ina, Kohlenberger, Dominique und Neumann, Anne: In »Wolf unter Wölfen« auf den Straßen Berlins. In: Namen- und Stadtlandschaften, S. 35–46. Kuhnke, Manfred: Anständige Bücher schreiben und verlegen. Mühen um »Wolf unter Wölfen«. In: Hans Fallada Jahrbuch 5 (2006) S. 206–221. Lamp, Hannes: Fallada unter Wölfen. Schreiben im Dritten Reich. Die Geschichte des Inflationsromans »Wolf unter Wölfen«. Friedland: Steffen 2002. 130 Seiten. Lange, I. M.: »Wolf unter Wölfen«. In: Leonhard Frank. Hans Fallada, S. 98–104. Liersch, Werner: Die Chance der Distanz: Hans Fallada: Wolf unter Wölfen. In: Erfahrung Nazideutschland. Romane in Deutschland 1933–1945. Analysen. Hg. von Sigrid Bock und Manfred Hahn [Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Literaturgeschichte]. Berlin, Weimar: Aufbau 1987, S. 99–131, 478 f. Oertzen, Sybille von, Plenzke, Stefanie und Siolek, Franziska: Ledig ist ledig. Die Wahrnehmung von Namenbedeutsamkeit im Text. In: Namen- und Stadtlandschaften, S. 65–81. Pautzke, Antje: »Kein Mensch ist ganz schlecht, auch Sophie ist es nicht«. Aspekte eines abweichenden Lebenslaufs in Hans Falladas »Wolf unter Wölfen« (1937). In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 115–122. Porto, Petra: »Wird doch etwas Lebendiges geboren aus dieser fauligen Zeit?« Paarbildung und -bindung in Hans Falladas »Wolf unter Wölfen«. In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 123–133. Riffert, Dorothea und Thierauf, Doreen: Kapp-Putsch und Sunlichtseife. Sujetexterne Eigennamen in Hans Falladas Roman »Wolf unter Wölfen«. In: Namen- und Stadtlandschaften, S. 21–34. Rudolph, Andrea: Das Bild als Strukturgröße in Hans Falladas Roman »Wolf unter Wölfen« (1937). In: Hans Fallada Jahrbuch 4 (2003) S. 107–124.

Auswahl-Bibliographie

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Titzmann, Michael: Selbstfindung und Selbstverlust. Aspekte der textinternen Anthropologie in Hans Falladas »Wolf unter Wölfen« (1937). In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 169–188. Turner, Henry Ashby: Hans Fallada for Historians. In: German Studies Review 26 (2003) N°3, S. 477–492. Vaydat, Pierre: L’échec du personnage réparateur dans deux romans de Hans Fallada. In: La crise des relations interpersonnelles dans la littérature de langue allemande au XXe siècle. Germanica, Lille (1988) N°22, S. 33–51. Zachau, Reinhard K.: Fallada’s Modernist Characters in his Berlin Novels »Little Man, What Now?«, »Wolf Among Wolves« and »Every Man Dies Alone«. In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 201–211. Zachau, Reinhard K.: Selbstfindungsprozess im Chaos. In ders.: Hans Fallada als politischer Schriftsteller, S. 143–158.

Bibliographien: Dünnebier, Enno: Hans Fallada: 1893–1947. Eine Bibliographie. Neubrandenburg: federchen 1993. 84 Seiten. Farin, Klaus: Hans Fallada: »Welche sind, die haben kein Glück«. München: Tilsner 1993 (taschenführer populäre kultur, 3). S. 130–138 [mit Auflagenzahlen]. Hagestedt, Lutz: Hans Fallada. Auswahl-Bibliographie der Briefe und der Sekundärliteratur. In: Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne, S. 233–263. Hagestedt, Lutz: Auswahl-Bibliographie Hans Fallada. In: Namen- und Stadtlandschaften, S. 195–235. Hees, Anke: Fallada, Hans. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Biographisches-bibliographisches Handbuch. Hg. von Konrad Feilchenfeld. Achter Band: Erni–Fischer. Zürich, München: Saur 2005, Sp. 258–268. Loohuis, Wilhelmus J. M.: Hans Fallada in der Literaturkritik. Ein Forschungsbericht. Bad Honnef, Zürich: Keimer [u. a.] 1979 (Keimers Abhandlungen zur deutschen Sprache und Kultur, 3), S. 102–113. Wolff, Rudolf: Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur. In: Hans Fallada. Werk und Wirkung, S. 142–159. Zachau, Reinhard K.: Ein kurzer Blick auf die Fallada-Forschung. In: Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk, S. 26–44. Zachau, Reinhard K.: Hans Fallada 1893–1947. Bibliographie zur Sekundärliteratur [1931–1995]. Neubrandenburg: Federlese 1998. 56 Seiten. Zachau, Reinhard K.: Bibliographie. In ders.: Hans Fallada als politischer Schriftsteller, S. 223–229 [Primärliteratur] und S. 229–247 [Sekundärliteratur].

Personenregister Ächtler, Norman 70, 80, 216 Adam, Christian 75, 80 Adelung, Johann Christoph 43, 56 Althaus, Dieter 59 Aly, Götz 73, 80, 208, 210 Apitz, Bruno 78 Astruc, Alexandre 150 Balázs, Béla 146 f., 150 Balzac, Honoré de 105 Barbian, Jan-Pieter 24, 36, 217 Baum, Vicki 25, 172, 192, 227 Becher, Johannes R. 34, 78, 207, 210, 221 f. Becker, Erika 140 Becker, Peter 85, 96 Becker, Sabina 19, 22 Benjamin, Walter 201, 210 Benn, Gottfried 33 Betz, Thomas 155, 166 Binet, Alfred 48, 56 Blei, Franz 47 Bloch, Ernst 48, 52, 56, 201, 210 Bloch, Iwan 45–48, 56 Böll, Heinrich 73, 80, 163 Borchardt, Rudolf 33 f. Borchert, Wolfgang 69 Borzage, Frank 23 Braem, Helmut M. 221 Brecht, Bertolt 169 Broch, Hermann 26, 33, 35, 169 f., 181, 187, 206 f. Bronnen, Arnolt 216 Brunngraber, Rudolf 27 Brussig, Thomas 79 Buchan, James 207, 210 Bülow, Bernhard-Victor Christoph von (Loriot) 153 Canetti, Elias 26

Caspar, Günter 98 f., 106, 111, 138, 140, 150, 154–156, 158–160, 166, 218 Castell, Robert 227 Chamberlain, Stewart 85 Chaplin, Charlie 24 Cohen, Albert K. 122 Cramer, John 69, 80 Crepon, Tom 97, 105 f., 111, 138 f., 151, 201, 210, 223, 225–227 Diderot, Denis 45, 56 Dinter, Arthur 176, 187 Dietz, Antje 98, 112 Diez, Georg 70, 80 Ditzen, Anna (Suse) 139, 141, 160 Ditzen, Elisabeth 139 f. Ditzen, Uli 226 Döblin, Alfred 26 f., 32, 35, 156, 158, 163 f., 189, 202, 205 f. Dörner, Bernward 79 f. Dos Passos, John 32, 202 Dostojewski, Fjodor 106, 154 Dwars, Jens-Fietje 223 Edschmid, Kasimir 26 Engels, Franz 44, 56 Enzensberger, Hans Magnus 33 Erdtmann-Vourliotis, Martina 96 Faulkner,William 32 Fauser, Jörg 217 f., 222 Feuchtwanger, Lion 26 f., 170–172, 188 f., 193, 195, 200, 227 Fleißer, Marieluise 28 Fließ, Wilhelm 46 Fontane, Theodor 34, 104 f., 112 Foord, Ben 24 Fraenkel, Ernst 75, 80 Frank, Gustav 24, 28, 32–36, 70, 81, 170, 188, 216, 222

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Personenregister

Freisler, Roland 77 Freud, Sigmund 17 f., 22, 48, 56, 106, 112 Freytag, Gustav 33 Froelich, Carl 137 Frost, Eberhard 50, 56 Gansel, Carsten 98, 112, 136, 151 Geiger, Theodor 122 Genazino, Wilhelm 100, 112, 215 Genette, Gérard 72, 81 Gerhardt, Uta 69, 81, 122 Gessler, Alfred 203, 210, 223, 225, 227 f. Giesecke, Almut 70, 77, 222 Gieseke, Jens 79, 81 Gilman, Sander L. 84 Gleichen-Russwurm, Alexander 66 f. Goebbels, Joseph 24, 36, 137, 217 f. Goethe, Johann Wolfgang 13, 22 Goldmann, Otto 46 Göring, Hermann 79 Göttert, Karl-Heinz 60, 67 Graf, Oskar Maria 25, 29, 189 f., 195–197, 200 Grafe, Frieda 140 f., 151 Grehn, Franz 96 Günther, Hans Friedrich 85 Gutzkow, Karl 29, 170 Hagestedt, Lutz 72, 81, 180, 188 Hampel, Otto und Elise 73 f., 78–80, 207 Hantke, Dieter 40 Hauptmann, Gerhart 78 Hauser, Harald 69 Hegenbarth-Rösgen, Annelie 116, 122 Heinrich, Bernhard 217 Heister, Marion 153, 166 Hemingway, Ernest 202, 204 f. Hermann, Georg 2 Hernik, Monika 94–96 Herz, Rochus 47, 56 Hesse, Hermann 14, 22, 28, 220 Heydrich, Reinhard 50 Heym, Georg 172 Hilmes, Carola 97, 112

Himmler, Heinrich 60 f. Hippel, Theodor von 153 Hirschfeld, Magnus 43 f., 46, 48, 57 Hitler, Adolf 24, 79, 172, 217 Hobbes, Thomas 175 Höfler, Poly Maria 24 Hofmannsthal, Hugo von 106 Höllt, Volker 96 Horváth, Ödön von 169, 171, 188 f., 191, 194 f., 197, 200 Irsigler, Ingo 33, 36 Jannings, Emil 137, 140, 218 Jones, Ernst 227 Joyce, James 29, 31 Juhnke, Harald 138 Jünger, Ernst 25, 33, 174, 217 Jürss, Detlev 90, 96, 154, 166 Kafka, Franz 33 Kagelmacher, Johannes 61, 155 Kahr, Gustav von 172 Kaiser, Georg 29, 169 Kampik, Anselm 96 Karpenstein-Essbach, Christa 102, 112 Kästner, Erich 28, 66, 172, 189, 191, 193 f., 196–198, 200 Kessel, Martin 26, 189, 191, 195–197, 200 Keun, Irmgard 28, 172, 189, 191 f. Kiesel, Helmuth 101, 112 Kieser-Reinke, Angelika 208, 210 Klauber, Leo 46 Klemperer, Victor 77 Knüppel, Stefan 154 Kogon, Eugen 50, 57 Kohlhaas, Elisabeth 79, 81 Kondritz, Anja 40 Kracauer, Siegfried 25, 36, 190–192, 200 Krafft-Ebing, Richard von 48, 186 Krampik, Anselm 92 Kretschmer, Ernst 85 Kreutzahler, Birgit 158–160, 166 Kritzinger, Friedrich Adolph (Wilhelm Tissot) 45 Krohn, Klaus-Dieter 189, 200 Kuhnke, Manfred 73–79, 81, 207, 210

Personenregister

La-Mettrie, Julien Offray de 52 Lamp, Hannes 223 Lampe, Friedo 35 Lange, Horst 26, 33–35 Lange, Ulrich 106, 112 Langgässers, Elisabeth 30, 36, 69 Lauritzen, Lau 143 Lavater, Johann Caspar 83, 85 Leander, Zarah 137 Lehmann, Wilhelm 28, 33 Lehnerdt, Gotthold 46 Leixner, Otto von 105, 112 Lejeune, Philippe 222 f. Lendvai-Dircksen, Erna 85 Lethen, Helmut 27, 37, 189, 200 Levy-Lenz, Ludwig 46 Liebeneiner, Wolfgang 137 Liersch, Werner 136, 138, 151, 218, 223, 225, 227 Lindner, Martin 86–88, 90 f., 96, 123, 126, 128 f., 133, 153, 166, 169, 181, 188, 230 f. Lindwurm, Arnold 47 Littell, Jonathan 73 Loerke, Oskar 28, 33 Lombroso, Cesare 85 Loriot (Bernhard-Victor Christoph von Bülow) 153 Lotman, Jurij M. 231 Lubitsch, Ernst 144 Ludendorff, Erich 172 Lukács, Georg 34 Mann, Thomas 27, 30, 61, 67, 69 f., 186, 192, 218 f., 230 Mannheim, Karl 192 Manthey, Jürgen 111 f., 135 f., 138, 151, 223–230 Mallmann, Klaus-Michael 79, 81 Margenthaler, Volker 105, 112 Martus, Steffen 217 Marx, Karl 192 Matt, Peter von 84 f., 89, 96 Mayer, Franziska 155, 166 Mayer, Peter 92, 94, 96 Menke, Silvia 217, 223 Modrow, Hans 78, 81

267

Müller, Reinhard 78, 81 Müller-Waldeck, Gunnar 64, 67, 137, 139, 143, 151, 166, 206, 210, 226 Musil, Robert 26, 169 Necker, Hannes Dietrich von 224 Nietzsche, Friedrich 106 Ortner, Helmut 77, 81 Palfreyman, Rachel 24, 33, 36, 70, 81, 216 Parr, Rolf 27, 37 Paul, Gerhard 79, 81 Peter, Thomas 153, 167 Pieck, Wilhelm 78 Poulsson, E. 86, 96 Prümm, Karl 26, 37, 148, 151, 201, 231 Raabe, Wilhelm 35 Radway, Janice 23, 37 Rasch, Wolfdietrich 216, 231 Remarque, Erich Maria 25 Regener, Susanne 85, 96 Reich, Wilhelm 192 f., 200 Rilke, Rainer Maria 106, 156 Roh, Franz 34, 37 Rosenberg, Alfred 218 Roth, Joseph 172 Rowohlt, Ernst 23, 98, 137, 145 Rubin, Joan Shelley 31, 37 Rubiner, Ludwig 156 f. Rudolph, Andrea 206, 210 Russig, Peter 220 Salomon, Ernst von 171, 188, 216 Salomon, Ludwig 105, 112 Sander, August 85 Sartre, Jean Paul 23 Schäfer, Hans Dieter 32, 34, 37 Scheck, Denis 72 Schiller, Friedrich 109, 112 Scherer, Stefan 24, 28, 32–36, 70, 81, 216, 231 Scheunemann, Dietrich 101, 112 Schmeizner, Mike 220 f. Schmeling, Max 24 Schmitz-Berning, Cornellia 79, 81 Schmölder, Claudia 84 Schnitzler, Arthur 31

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Personenregister

Schönert, Jörg 27, 33, 37, 83 f., 231 Schönfeldt, Sybil von 59, 67 Schopenhauer, Arthur 47 f., 57 Schroeder, Klaus 79, 81 Scott, Walter 97, 112 Seghers, Anna 69 Shearer, Norma 145 Slochover, Harry 217 Soboczynski, Adam 208, 210 Springer, Mirjam 156, 167 Sternheim, Carl 155, 167 Stifter, Adalbert 35 Stocker, Günther 2, 11 Stockinger, Claudia 28, 37 Suse (Anna Ditzen) 139, 141, 160 Theweleit, Klaus 193, 200 Thiele, Hertha 23 Thieme, André 220 Thoenelt, Klaus 217 Tieck, Ludwig 34, 203 Tinsley, R. W. 206, 210 Tissot, Wilhelm (Friedrich Adolph Kritzinger) 45, 57 Titzmann, Michael 50, 57, 121 f., 181, 184, 187 f., 190, 200, 216, 231 Tolstoi, Leo 105 Toller, Ernst 169 Tucholsky, Kurt 202, 210 Uhse, Bodo 216 Ulrich, Plenzdorf 138 Ulrich, Roland 100, 112, 137, 139, 143, 157, 166 f., 202, 210, 217, 226

Vollnhals, Clemens 69, 81 Wagner, Walter 80 f. Walser, Martin 33 Watzek, Hans 78, 81 Wehdeking, Volker 69, 81 Wehner, Herbert 78 Weigel, Sigrid 101, 113 Weinke, Annette 69, 81 Weinrich, Harald 72, 81 Weisbrodt, Karl 40, 51 f., 55, 57 Weisenborn, Günther 25, 69 Werfel, Franz 189 f., 200 Werthauser, Johannes 46 Wichert, Ernst 104 f., 113 Wiechert, Ernst 26, 29, 33, 35, 69 Wiegler, Paul 222 Wiemann, Matthias 137 Wilde, Oscar 106, 156 Willmann, Heinz 221 Winkler,Willi 69, 81, 221 Williams, Jenny 31, 37, 98, 113, 154, 157, 162, 167, 218, 222 f., 226 Wiswede, Günter 119 f., 122 Wolff, Rudolf 140, 151 Wünsch, Marianne 163, 166, 181, 188, 216, 228–232 Wuthenow, Ralph-Rainer 2, 12 Zachau, Reinhard 75, 155–158, 160, 164, 166, 189, 200, 202, 210 Zarusky, Jürgen 80 f. Zellner, Dr. 66 Zöberlein, Hans 218 Zola, Émile 105 Zuckmayer, Carl 76

Werkregister Altes Herz geht auf die Reise 216 Anton und Gerda 4, 7, 9, 90, 216 Bauern, Bonzen und Bomben 3–7, 11, 26, 31, 63 f., 70 f., 136, 139–141, 146 f., 169–173, 176, 189, 201 f., 216 f., 219 Damals bei uns daheim 135, 216 Der Alpdruck 91, 217 Der eiserne Gustav 2–6, 8 f., 11, 55, 91, 207, 217 f. Der junge Goedeschal 2, 4, 7–9, 138, 216 Der Trinker 76, 88–90, 135, 138, 154 f., 157, 160–163, 165 f., 222 Der ungeliebte Mann 91 Die Stunde eh’ du schlafen gehst 91 Ein Mann will nach oben 222 Eiszeit. Steinzeit 157 Heute bei uns daheim 216 Im Blinzeln der Großen Katze 97–111, 157 In meinem fremden Lande 154 f.

Jeder stirbt für sich allein 1, 11, 61, 64–66, 70–78, 207–210, 217, 221 f., 226 Kleiner Mann – was nun? 2 f., 8–11, 23, 26, 30, 61–64, 135, 145, 148, 155–157, 159 f., 163, 165, 172, 178, 196–199, 201–207, 209 f., 216 f., 219, 226 Sachlicher Bericht über das Glück ein Morphinist zu sein 86–88, 92–95, 154 Strafgefangener, Zelle 32, 100, 106, 111, 154–158, 160–164 Wer einmal aus dem Blechnapf frißt 2–6, 8–10, 25, 30, 135, 153–155, 157–161, 163–165, 216, 218–221 Wir hatten mal ein Kind 216 Wolf unter Wölfen 13–35, 39–56, 70 f., 78, 90–91, 115–133, 136, 148–150, 169–187, 201 f., 204– 207, 209 f., 216–218, 222

Zu den Autorinnen und Autoren Ralf Georg Bogner, Univ.-Prof. Dr. phil. habil. (Jg. 1967). Seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Philologie und Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Studium der Germanistik, Philosophie und des Mittel- und Neulateinischen in Wien, Heidelberg und Berlin. Promotion: Die Bezähmung der Zunge, Literatur und Disziplinierung der Alltagskommunikation der frühen Neuzeit (1997). Habilitation: Der Autor im Nachruf zum literarischen Nekrolog (2005). Veröffentlichungen zuletzt: Deutsche Literatur auf einen Blick (2009); Leichabdankung und Trauerarbeit (2009); Im Banne von Verdun (2010); Realität als Herausforderung (2011); Tragödie – Die bleibende Herausforderung (2011). Torsten Ehlers, B. A. (Jg. 1982). Seit 2008 Master-Studium der Germanistik und der Kommunikationswissenschaft an der Universität Rostock. »Trotz seiner mehr als merkwürdigen Rolle freigesprochen«. Eine literarische Morphologie der Landvolkbewegung – am Beispiel Bronnen, Fallada, Salomon, Uhse illustriert (2011) Gustav Frank, Dr. phil. habil. (Jg. 1964). Mitarbeiter am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Wissenschaftsforschung in Passau und Wien. Promotion über komplexe Erzähltexte im literarischen Umbruch des 19. Jahrhunderts (1996), Habilitation über Visuelle Kultur und Moderne 1766–1938 (2011). Veröffentlichungen zu Hans Fallada: ›… und das moderne Epos des Lebens schreiben‹: Wirtschaftswissen bei Sternheim, Fallada, Borchardt und Fleißer. In: Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Hg. Christine Maillard/Michael Titzmann. Stuttgart, Weimar 2002, 279-330; (mit Stefan Scherer) Text+Kritik-Heft Hans Fallada (in Vorb.); (mit Stefan Scherer) Fallada-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (in Vorb.) Patricia Fritsch-Lange, M. A. (Jg. 1961). Seit 2004 Marketingleiterin in einem Sachbuch-Verlag. Studium der Germanistik, Anglistik und Italianistik an der FU Berlin. Magisterarbeit über Hans Falladas Roman ›Kleiner Mann,

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Zu den Autorinnen und Autoren

was nun?‹ in der zeitgenössischen Rezeption (1989). Veröffentlichungen: Diverse Beiträge und Herausgeberschaften zu Hans Fallada. Lutz Hagestedt, Dr. phil. habil. (Jg. 1960). Seit 2004 Professur für Neuere und neueste deutsche Literatur an der Universität Rostock. Studium der Neueren deutschen Literatur in Bielefeld und München. Promotion 1994 über Ludwig Tiecks Spätwerk. Habilitation 2004 in Marburg mit einer Arbeit über Siegfried Unseld und die Suhrkamp-Kultur. Veröffentlichungen: Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Bd. 15 (Hg., 2010); (zus. mit Petra Ewald, Hg.) Namen- und Stadtlandschaften. Beiträge des HansFallada-Symposiums Carwitz (2011); (zus. mit Michael Hofmann, Hg.) Uwe Johnson und die DDR-Literatur. Beiträge des Uwe-Johnson-Symposiums Klütz (2011). Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Bd. 16 (Hg., 2011); (zus. mit Danièle Beltran-Vidal) Les Carnets 11. Œuvres et correspondances. Dialogues d’Ernst Jünger. Werke und Korrespondenzen. Ernst Jünger im Dialog (2011). Bernhard Heinrich, Dr. phil. (Jg. 1969). Studienrat am Conrad-CeltisGymnasium Schweinfurt. Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in Berlin (Humboldt-Universität) und Edinburgh (University of Edinburgh). Promotion über Hans Fallada (2006). Veröffentlichungen: Du bist doch bei mir – aber wir sterben allein. Studien zu Hans Falladas Frauenbild (2007). Heribert Hoven, Dr. phil. (Jg. 1950). Oberstudienrat am Theresien-Gymnasium München. Studium der Germanistik und Geschichte in München. Promotion mit »Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung« (1978). Veröffentlichungen: Malcolm Lowry | mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (1988). Erika und Klaus Mann: Escape to life. Deutsche Kultur im Exil (Hg., 1991). Klaus Mann: Distinguished Visitors. Der amerikanische Traum (Hg., 1996). Der Tod in Japan. Walter Ruprechter: Gerhard Roths »Feldt«-Forschungen in Japan (2011). Stefan Knüppel, Dr. phil. (Jg. 1975). Seit 2005 Direktor des Hans-Fallada-Museums Carwitz. Studium der Deutschen Sprache und Literatur sowie der Politikwissenschaften in Rostock. Promotion über die Literarischen Physiognomien im Romanwerk Hans Falladas (2009). Veröffentlichungen: Diverse Beiträge zu Leben und Werk Hans Falladas und zum Hans-FalladaMuseum. Volker Mergenthaler, Dr. phil. habil. (Jg. 1969). Seit 2008 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg. Studium der

Zu den Autorinnen und Autoren

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Neueren deutschen Literatur, Politikwissenschaft, Allgemeinen Rhetorik, Philosophie und Romanistik. Promotion über Literatur und visuelle Wahrnehmung (1999), Habilitation über die Ästhetik der Transgression (2004). Veröffentlichung: »Der Dichtkunst Morgenröthe verließ der Erde Thal«: ›Viel Lärmen um Nichts‹. Modellstudie zu einer Literatur in Fortsetzungen mit einem Faksimile des ›Gesellschafters oder Blätter für Geist und Herz vom April 1832‹ (zusammen mit Nicola Kaminski) (2010). Antje Pautzke, M. A. (Jg. 1985). Seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere und Neuste deutsche Literatur und Promotionsstudium an der Universität Rostock. Studium der Germanistik, Kommunikation und Kommunikationsstörung sowie Politikwissenschaften. Derzeit Promotion über Uwe Johnson und seinen Leipziger Freundeskreis. Veröffentlichung: (zus. mit André Kischel) Rostocker Rückblick(e). Tagungsbericht zu: Identität des Autors zweifelhaft. Uwe Johnson. Werk und Leben (2011). Petra Porto, Dr. phil. (Jg. 1979). Seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Rostock. Studium der Neueren deutschen Literatur und Medien sowie Anglistik in Marburg und Exeter. Promotion (2011). Veröffentlichung: Sexuelle Norm und Abweichung. Aspekte des literarischen und des theoretischen Diskurses der Frühen Moderne (1890-1930) [im Druck]. Karl Prümm, Prof. Dr. (Jg. 1945). Bis 2010 Professor für Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Studium der Germanistik und der Geschichte in Marburg und Saarbrücken. Promotion mit einer Arbeit über Ernst Jünger (1973). Habilitation mit einer Arbeit Walter Dirks und Eugen Kogon als katholische Publizisten der Weimarer Republik (1981). Zahlreiche Publikationen zur Literatur des 19. und des 20. Jahrhunderts, zur Geschichte, Theorie und Ästhetik des Films, des Fernsehens und der Fotografie. Studien über »Hans Fallada und das Kino«. Jörg Schönert, Prof. Dr. phil. habil. (Jg. 1941). Seit 2007 ›im Ruhestand‹ nach Tätigkeiten an den Universitäten München und Heidelberg, der RWTH Aachen und der Universität Hamburg. Studium der Germanistik und Anglistik in München, Zürich und Reading. Promotion zur Poetik des satirischen Romans (1968), Habilitation zur Geschichte des satirischen Romans in der deutschen Literatur der Aufklärungszeit (1977). Veröffentlichungen: Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920 (Hg., 1991). Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis (2007); (zus. mit Rolf Parr) Autorschaft. Eine kur-

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Zu den Autorinnen und Autoren

ze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930 (2008). Stefan Scherer, Prof. Dr. phil. habil. (Jg. 1961). Akademischer Mitarbeiter (unbefristet) und Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am KIT (Karlsruher Institut für Technologie – Universität des Landes BadenWürttemberg und nationales Großforschungszentrum in der HelmholtzGemeinschaft). Studium Lehramt Deutsch/Sport an der Universität Würzburg. Promotion über Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne (1992). Habilitation in Karlsruhe über das Drama der Romantik (2001). Veröffentlichungen: Einführung in die Dramen-Analyse (2010); (mit Claudia Stockinger) Handbuch Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung (2011); (mit Gustav Frank) Text+Kritik-Heft Hans Fallada (in Vorb.); (mit Gustav Frank) Handbuch Hans Fallada. Leben – Werk – Wirkung (in Vorb.) Michael Titzmann, Prof. Dr. (Jg. 1944). Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Passau 1985–2009. Studium der Germanistik und Romanistik an der Universität München. Promotion 1972. Habilitation für Neuere deutsche Literatur 1982; Erweiterung der Habilitation auf Allgemeine Literaturwissenschaft 1983. Veröffentlichungen: Strukturale Textanalyse (1977); (zus. mit Thomas Steinhauser, hg. und kommentiert) Galilei: Lettera a Cristina di Lorena (2008); Realismus und Frühe Moderne. Beispielinterpretationen und Systematisierungsversuche. Hg. von Lutz Hagestedt (2009); (zus. mit Hans Krah, Hg.) Medien und Kommunikation. Zweite erweiterte Auflage (2010). Marianne Wünsch, Prof. Dr. phil. habil. (Jg. 1942). Seit 1989 Professorin am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien an der ChristianAlbrechts-Universität Kiel. Studium der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in München und Dublin. Promotion zum Thema Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes (1972). Habilitation zum Thema Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930) (1984). Ihre Schwerpunkte liegen im Realismus, der Literatur der Frühen Moderne und der Theorie und Methodologie der Literatur- und Medienwissenschaft. Veröffentlichung: Realismus (1850–1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche (2007). Reinhard K. Zachau, (Jg. 1948). Professor of German am German Department der University of the South in Sewanee, Tennessee, USA. Zahlreiche Arbeiten zu Hans Fallada, darunter Hans Fallada als politischer Schriftsteller (1990), Hans Fallada 1893–1947. Bibliografie zur Sekundärliteratur (1998) und Hans Fallada. Eine kritische Untersuchung zur Rezeption seines Werks in den Jahren 1930-1997 (2000). Zuletzt erschien: Topography and Literature.

Zu den Autorinnen und Autoren

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Berlin and Modernism (Hg., 2009) sowie Berliner Spaziergänge. Architektur, Literatur und Film (Hg., zus. mit Margit Sinka und Rolf Goebel, 2009).