Handlungswissen: Eine transzendentale Erkundung nach der sprachpragmatischen Wende 9783495860335, 9783495483657


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Inhaltverzeichnis
Vorwort
Einleitung
1. Transzendentale Argumente oder Transzendentalphilosophie?
1.1. Der Sprachbegriff in der klassischen Transzendentalphilosophie
1.2. Die sprachanalytische Problematik der transzendentalen Argumente
1.3. Die transzendentalpragmatische Frage
1.4. Letztbegründungsproblem und Korrekturbedürfnis
2. Handlungswissen und transzendentale Fragestellung
2.1. Von der Vernunfthandlung bis zur ursprünglichen Tathandlung
2.2. An Fichte anknüpfen?
2.3. Die Reichweite des Handlungswissens
2.4. Zurück zu Kant
2.5. Gewissheit als Unbestreitbarkeit
3. Die konstitutive Vollständigkeit des Handlungswissens
3.1. Die Bedeutungen des Wortes »transzendental«
3.2. Die Systemproblematik in der klassischen Transzendentalphilosophie
3.3. Eine Ausschließung der Systemidee aus dem Kern der Transzendentalpragmatik
3.4. Der Begriff der formal vollständigen Sprache
3.5. Regulative und konstitutive Vollständigkeit
3.6. Einheit, Vollständigkeit und Artikulation des Handlungswissens
4. Die transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie
4.1. Die kantische Auflösung der Freiheitsantinomie
4.2. Schwierigkeiten des kantischen Auflösungsvorschlags
4.3. Ein neuer transzendentaler Auflösungsvorschlag
4.4. Die möglichen Schwierigkeiten des neuen Auflösungsvorschlags
4.5. Freiheitsantinomie und Autonomie im transzendentalpragmatischen Rahmen
4.6. Transzendentalpragmatik und Freiheitsbegriff
5. Ein sinnkritischer Realitätsbegriff
5.1. Die kantische Deduktion der regulativen Ideen
5.2. Der kritisch rationalistische Essentialismusvorwurf
5.3. Metaphysische Unterstellungen des kritischen Rationalismus
5.4. Die Idee der ultimate opinion bei der sinnkritischen Forschungslogik
5.5. Der Pragmatismusstreit und der sinnkritische Realismus
5.6. Der sinnkritische Realismus und der Konsensbegriff
6. Müssen, Sollen und Wollen
6.1. Sittengesetz und moralische Pflicht bei Kant
6.2. Von der pragmatischen Forderung bis zum Sittengesetz
6.3. Sittengesetz und moralische Pflicht bei der Diskursethik
6.4. Guter Wille und konstitutive Idealität
7. Wahrhaftigkeit, Innenwelt und Kommunikation
7.1. Die Innenwelt nach der sprachpragmatischen Wende
7.2. Innenwelt und Argumentation
7.3. Überzeugen und Überreden. Die Aporie des misstrauischen Adressaten
7.4. Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit
7.5. Die Wahrhaftigkeit des Schriftstellers
8. Schluss
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Handlungswissen: Eine transzendentale Erkundung nach der sprachpragmatischen Wende
 9783495860335, 9783495483657

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https://doi.org/10.5771/9783495860335 .

Alberto Mario Damiani Handlungswissen

ALBER PHILOSOPHIE

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Über dieses Buch Durch diese Arbeit beabsichtige ich aufzuweisen, dass es zurzeit in der transzendentalpragmatisch begründeten Philosophie einige Schwierigkeiten gibt, die durch eine konsequente Anwendung ihrer eigenen Grundsätze aufgelöst werden können. Ich versuche also einerseits, zu der philosophischen Entwicklung des transzendentalpragmatischen Ansatzes kritisch beizutragen, und andererseits einige traditionelle Probleme der Transzendentalphilosophie und der Philosophie im Allgemeinen durch eine transzendentalpragmatische Erforschung unseres performativen Handlungswissens reflexiv zu berücksichtigen. Die Hauptabsicht der Arbeit besteht somit darin, reflexiv nachzuweisen, dass unser performatives Handlungswissen die transzendentalen Sinn- und Gültigkeitsbedingungen der Antworten auf verschiedene philosophische Fragen implizit enthält. Durch diesen reflexiven Nachweis versuche ich, den transzendentalpragmatischen Ansatz konsequenterweise bzw. manchmal auch gegen einige seiner bisherigen Resultate zu entwickeln. Über den Autor Alberto Mario Damiani, 1965 in Mendoza geboren, 1998 in Buenos Aires promoviert, 2008 in Berlin habilitiert. Ab 2001 Forscher des Staatlichen Wissenschaftlichen Forschungsrats, ab 2003 Professor an der Universität Rosario (Argentinien), 2004–2006 Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung und Gastprofessor an der Freie Universität Berlin.

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Alberto Mario Damiani

Handlungswissen Eine transzendentale Erkundung nach der sprachpragmatischen Wende

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2009 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg ISBN 978-3-495-48365-7 (Print)

ISBN 978-3-495-86033-5 (E-Book)

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Inhaltverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Transzendentale Argumente oder Transzendentalphilosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung 1.

1.1. Der Sprachbegriff in der klassischen Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die sprachanalytische Problematik der transzendentalen Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die transzendentalpragmatische Frage . . . . . . . . . 1.4. Letztbegründungsproblem und Korrekturbedürfnis . .

2.

Handlungswissen und transzendentale Fragestellung

2.1. Von der Vernunfthandlung bis zur ursprünglichen Tathandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. An Fichte anknüpfen? . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Die Reichweite des Handlungswissens . . . . . . 2.4. Zurück zu Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Gewissheit als Unbestreitbarkeit . . . . . . . . .

3.

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. 62 . 71 . 82 . 92 . 104

Die konstitutive Vollständigkeit des Handlungswissens . 114

3.1. Die Bedeutungen des Wortes »transzendental« . . . . . 3.2. Die Systemproblematik in der klassischen Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Eine Ausschließung der Systemidee aus dem Kern der Transzendentalpragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Der Begriff der formal vollständigen Sprache . . . . . . 3.5. Regulative und konstitutive Vollständigkeit . . . . . . . 3.6. Einheit, Vollständigkeit und Artikulation des Handlungswissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltverzeichnis

4.

Die transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die kantische Auflösung der Freiheitsantinomie . . . . . 4.2. Schwierigkeiten des kantischen Auflösungsvorschlags . . 4.3. Ein neuer transzendentaler Auflösungsvorschlag . . . .

161 163 169 177

4.4. Die möglichen Schwierigkeiten des neuen Auflösungsvorschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 4.5. Freiheitsantinomie und Autonomie im transzendentalpragmatischen Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4.6. Transzendentalpragmatik und Freiheitsbegriff . . . . . . 199

5.

Ein sinnkritischer Realitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . 202

5.1. Die kantische Deduktion der regulativen Ideen . . . . . 5.2. Der kritisch rationalistische Essentialismusvorwurf . . . 5.3. Metaphysische Unterstellungen des kritischen Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Die Idee der ultimate opinion bei der sinnkritischen Forschungslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Der Pragmatismusstreit und der sinnkritische Realismus . 5.6. Der sinnkritische Realismus und der Konsensbegriff . . .

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6.1. 6.2. 6.3. 6.4.

Müssen, Sollen und Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . Sittengesetz und moralische Pflicht bei Kant . . . . . . . Von der pragmatischen Forderung bis zum Sittengesetz . Sittengesetz und moralische Pflicht bei der Diskursethik . Guter Wille und konstitutive Idealität . . . . . . . . . .

248 250 259 275 285

7.

Wahrhaftigkeit, Innenwelt und Kommunikation . . . . . 293

6.

7.1. Die Innenwelt nach der sprachpragmatischen Wende . . 7.2. Innenwelt und Argumentation . . . . . . . . . . . . . . 7.3. Überzeugen und Überreden. Die Aporie des misstrauischen Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4. Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit . . . . . . . . . . 7.5. Die Wahrhaftigkeit des Schriftstellers . . . . . . . . . .

8.

216 222 230 243

295 307 318 340 346

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 6

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Vorwort

Das vorliegende Buch enthält den in einigen Passagen überarbeiteten Text, der 2008 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Habilitationschrift angenommen wurde. Meine mehrjährige Verbindung mit dem Institut für Philosophie dieser Universität wurde durch die Unterstützung der Alexander von Humboldt Stiftung, des Deutschen Akademischen Austauschdiensts und des CONICET (Staatlicher Wissenschaftlicher Forschungsrats Argentiniens) ermöglicht. Diesen Institutionen möchte ich danken, wie auch folgenden Kollegen: Karl-Otto Apel, Leon Pompa, Jürgen Trabant, Matthias Kettner, Ricardo Maliandi, Jorge Dotti und Mario Caimi für die Gutachten, die die von mir an diese Institutionen gerichteten Stipendienanträge begleiteten. Den Gutachtern bei dem Habilitationsverfahren Wolfgang Kuhlmann und Audun Øfsti. Dietrich Böhler, der sowohl Gutachter als auch Betreuer bei diesem Verfahren war. Für Förderung, Anregung und Geduld bin ich ihm zu tiefem Dank verpflichtet. Dieses Buch wurde mit Unterstützung der Alexander von Humboldt Stiftung gedruckt. Buenos Aires, im September 2008

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Einleitung

Handeln und Wissen sind gewissermaßen miteinander verknüpft. Zwar benötigt der Akteur normalerweise keine explizite bzw. theoretische Erkenntnis seiner Handlung, um sie durchführen zu können. Allerdings stellt sich die Frage, ob der Akteur nicht zumindest implizit wissen muss, was er tut und wie er seine Handlung durchführt. Dieses implizite Handlungswissen kann durch explizite Aussagen beschrieben werden bzw. durch eine bestimmte Art von Handlungen expliziert werden, nämlich durch Sprechhandlungen. Deshalb lässt sich das Handlungswissen am besten an diesen Handlungen philosophisch studieren. Die Gegenwartsphilosophie hat die Sprechhandlungen unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet, z. B. sprechakttheoretisch, sprachspieltheoretisch, handlungstheoretisch usw. Bei der vorliegenden Erforschung unseres Handlungswissens wird ein transzendentaler Standpunkt eingenommen, wenn wir die Frage stellen, inwiefern die Sinn- und Gültigkeitsbedingungen unserer Handlungen in diesem impliziten Wissen wirklich gefunden werden können. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts wurde die Sprache als intersubjektive Bedingung jedes möglichen Denkens aufgedeckt und anerkannt. Diese Anerkennung impliziert eine wichtige Überwindung des methodischen Solipsismus, der in der Philosophie der Neuzeit zu einer sehr tief sitzenden Grundüberzeugung entwickelt worden war. Zur Zeit spielt die Sprache in der Philosophie die Rolle, die im 17. und 18. Jahrhundert das Bewusstsein einnahm. Der Grund für die so genannte sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie besteht darin, dass keine Evidenz des Bewusstseins die intersubjektive Geltung der Erkenntnis und der ethischen Normen garantieren kann. Nach dieser Wende wurde anerkannt, dass der Sinn und die Gültigkeit des menschlichen Denkens von einer sprachlichen Interpretation der Kommunikationsgemeinschaft abhängen. Unter den neuen Bedingungen der Gegenwartsphilosophie kann man nicht mehr sinnvoll von einer sprachfreien Erkenntnis sprechen. Die Hauptrichtungen der Gegenwartsphilosophie haben den A

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Einleitung

kantischen Anspruch abgelehnt, die transzendentalen Bedingungen des Denkens in einem vermeintlich selbständigen »Bewusstsein überhaupt« zu finden. Trotz dieser gemeinsamen Ablehnung der allgemeinen Perspektive der Philosophie der Neuzeit, gibt es zur Zeit verschiedene Versionen der sprachpragmatischen Wende. Auf der einen Seite des Spektrums steht ein relativistisches Verständnis dieser Wende, demzufolge die Überwindung der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit zu einer totalen Auflösung des modernen Universalismus führe. Diese Version der sprachpragmatischen Wende versteht den Begriff der intersubjektiven Gültigkeit als etwas, das von zufälligen Verkettungen, geschichtlichen Überlieferungen und kontingenten Sprachspielen abhängt. Konservative Neoaristoteliker, radikale Neopragmatisten und Philosophen der sprachlichen Praxis vertreten zwar ganz verschiedene Auffassungen, aber alle identifizieren die Überwindung der modernen Bewusstseinsphilosophie mit dem Verzicht auf jede universale und transzendentale Geltungsinstanz. Auf der anderen Seite gibt es auch eine nicht relativistische Version der sprachpragmatischen Wende, die einen großen Einfluss auf die Philosophie der Neuzeit bekam. Ihr zufolge können die Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Erkenntnis und der ethischen Normen durch eine transzendentale Reflexion eingesehen werden. Die von Karl-Otto Apel aufgestellte Transformation der Philosophie besteht in einer Synthese zwischen der klassischen Transzendentalphilosophie und der analytischen Sprachtheorie. Das Ergebnis dieser Transformation ist eine Transzendentalpragmatik. Sie kritisiert nicht nur die kantische Absicht, Erkenntnis und Moral vom Bewusstsein her zu begründen, sondern auch die Reduktion der Philosophie sowohl auf die syntaktische und semantische Analyse der Sprache als auch auf eine Beschreibung von Sprachspielen. Seit einigen Jahrzehnten entwickelte sich die Transzendentalpragmatik durch eine systematische Auseinandersetzung mit anderen Neuansätzen der Gegenwartsphilosophie, nicht ausschließlich, aber insbesondere mit der sprachanalytischen Philosophie, die vom frühen und späten Wittgenstein ausging, mit der sprachhermeneutischen Phänomenologie vor und nach Heidegger und Gadamer sowie mit dem neuen amerikanischen Pragmatismus von Rorty. Der Kern dieser Diskussion besteht darin, dass diese drei Neuansätze der Philosophie des 20. Jahrhunderts zwar die Begriffe »Intersubjektivität«, »Sprache« und »Selbstreflexion« als Bedingungen eines neuen Paradigmas der 10

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Einleitung

Philosophie erkennen, aber nicht zu einem neuen Paradigma der Transzendentalphilosophie führen, weil sie die Transzendentalphilosophie mit einer Art der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit identifizieren. Im Mittelpunkt der erwähnten Diskussion steht also die Frage, ob eine Transzendentalphilosophie nach der sprachpragmatischen Wende der gegenwärtigen Philosophie überhaupt noch möglich ist. Diese Diskussion zwischen verschiedenen philosophischen Neuansätzen spielt zwar eine wichtige Rolle für die Begründung des Projekts einer sprachpragmatischen Transformation der Transzendentalphilosophie. Sie ist aber nicht ausreichend, um alle Möglichkeiten dieses philosophischen Projekts zu entwickeln. Meines Erachtens ist es darüber hinaus notwendig, eine »interne Diskussion« im Rahmen der Transzendentalpragmatik zu führen, um viele spezifische Probleme dieses Neuansatzes der Gegenwartsphilosophie richtig betrachten zu können. Die Grundlage der Transzendentalpragmatik muss nicht nur durch die Diskussion zwischen verschiedenen philosophischen Tendenzen herausgearbeitet, sondern auch durch eine sorgfältige Einsicht in ihre eigenen Grundbegriffe reflexiv beleuchtet werden. Diese reflexive Beleuchtung ist zweistufig. Zunächst geht es um eine ganz fallible Rekonstruktion unseres impliziten Handlungswissens durch explizite Explikationshypothesen. Auf dieser ersten methodischen Stufe muss der Rekonstrukteur berücksichtigen, was er und seine möglichen Dialogpartner von seinen Handlungen verstehen müssen, um sie sinnvoll durchführen zu können, z. B. welche gegenseitigen Erwartungen diesen Handlungen wahrscheinlich entsprechen. Erst nach dieser ersten Stufe der Rekonstruktionsbemühung kommt die zweite methodische Stufe, nämlich eine sinnkritische Überprüfung der Rekonstruktionsresultate. Diese besteht in der Konfrontation der Rekonstruktionshandlungen mit ihren eigenen Sinn- und Gültigkeitsbedingungen. Die Frage ist nun, ob und inwiefern diese zweite Stufe als »transzendental« bezeichnet werden kann. Mit der vorliegenden Arbeit beabsichtige ich aufzuweisen, dass es zur Zeit in der transzendentalpragmatisch begründeten Philosophie einige Schwierigkeiten gibt, die durch eine konsequente Anwendung ihrer eigenen Grundsätze aufgelöst werden können. In diesem Sinne versuche ich in dieser Arbeit keine »externe« Kritik an dem transzendentalpragmatischen Ansatz zu üben, der die Argumente anderer philosophischer Ansätze der Gegenwartsphilosophie anwenden würde, sondern es geht mir um eine neue Durchsicht der TransA

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Einleitung

zendentalpragmatik, die als Beitrag zu ihrer reflexiven Selbstkorrektur verstanden werden kann. Die vorliegende Untersuchung beruht auf der Unterstellung, dass die von Karl-Otto Apel vor drei Jahrzehnten begonnene Transformation der Transzendentalphilosophie noch ein offenes Forschungsprogramm ist, deren noch nicht gelöste Probleme einen aussichtsreichen Stoff für künftige philosophische Arbeiten bieten. Ich versuche also einerseits, zu der philosophischen Entwicklung des transzendentalpragmatischen Ansatzes kritisch beizutragen, und andererseits, einige traditionelle Probleme der Transzendentalphilosophie und der Philosophie im Allgemeinen durch eine transzendentalpragmatische Erforschung unseres performativen Handlungswissens reflexiv zu berücksichtigen. Diese Erforschung erlaubt uns, wenn nicht diese Probleme zu lösen, so doch einige notwendige Möglichkeitsbedingungen, die von jedem akzeptablen Lösungsvorschlag dieser Probleme erfüllt werden müssen, aufzudecken. 1 Die Hauptabsicht der vorliegenden Arbeit besteht also darin, reflexiv nachzuweisen, dass unser performatives Handlungswissen die transzendentalen Sinn- und Gültigkeitsbedingungen der Antworten auf verschiedene philosophische Fragen implizit enthält. Durch diesen reflexiven Nachweis versuche ich, den transzendentalpragmatischen Ansatz konsequent bzw. manchmal auch gegen einige seiner bisherigen Resultate zu entwickeln. Um diese Absicht zu verwirklichen, wird die vorliegende Arbeit in sieben Kapitel wie folgt eingeteilt: Das erste Kapitel ist einleitend und handelt von der philosophiIm Rahmen seiner Universalpragmatik spricht Jürgen Habermas über ein implizites Wissen, das der Sprecher über den performativen Teil seiner Sprechhandlungen hat. Er bezeichnet dieses Wissen als »know how«. In Dietrich Böhlers Pragmatik wird »das vom Argumentierenden notwendigerweise aktuell in Anspruch genommene metakommunikative Wissen« (S. 367) rekonstruiert. Erst Wolfgang Kuhlmann thematisiert ausdrücklich das »Handlungswissen« der Kommunikations- und Diskursteilnehmer als Mitglied einer realen Kommunikationsgemeinschaft, die nicht umhin kommen, idealisierende Geltungsansprüche zu erheben. Siehe dazu: Jürgen Habermas: Was heißt Universalpragmatik? In: Apel, K.-O. (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976, S. 174–272; Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981; Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewusstseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985; Wolfgang Kuhlmann: Reflexion und kommunikative Erfahrung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975; ders.: Reflexive Letztbegründung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik. Freiburg [u. a.]: Alber, 1985, S. 111–144.

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Einleitung

schen Perspektive unserer Forschung bzw. von dem Begriff einer Transzendentalphilosophie nach der sprachpragmatischen Wende. Vor dieser Wende schließt die klassische Transzendentalphilosophie den Sprachbegriff aus ihrer grundlegenden Fragestellung aus. Nach dieser Wende wurde hingegen die Sprache als Hauptelement von verschiedenen philosophischen Ansätzen anerkannt, z. B. von der sprachanalytischen Philosophie, in deren Rahmen die Problematik der sog. transzendentalen Argumente entwickelt wurde, und von der Transzendentalpragmatik bzw. der sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie. Diesen letzten Ansatz und nicht die analytische Philosophie nehmen wir als Gesichtspunkt in unsere Untersuchung auf. Im zweiten Kapitel wird das Thema unserer Forschungsarbeit, das performative Handlungswissen, unter dem erwähnten transzendentalpragmatischen Gesichtspunkt reflexiv betrachtet. Dieses Thema findet sich gewissermaßen schon in der klassischen Transzendentalphilosophie, wo es unter dem Begriff der Vernunfthandlung berücksichtigt wurde. Trotzdem fordert der sprachpragmatische Rahmen der Gegenwartsphilosophie eine entsprechende Deutung dieses Wissens, die es ermöglicht, einerseits die Notwendigkeit des Handlungswissens nicht mit einer Gewissheitsempfindung zu verwechseln und andererseits die Reichweite dieses Wissens zu bestimmen. Das dritte Kapitel handelt von dem systematischen Charakter unseres performativen Handlungswissens. Die klassische Transzendentalphilosophie wurde von vornherein als ein vollständiges System aufgefasst. Die Frage ist aber, ob die Systemidee auch im sprachpragmatischen Gegenwartsrahmen noch eine konstitutive Rolle spielen muss. Um diese Frage beantworten zu können, werden einerseits der Ausschließungsversuch dieser Idee aus der Transzendentalpragmatik und andererseits die Begriffe einer formal vollständigen Sprache und einer Architektonik der Gültigkeitsansprüche mit ihren zugehörigen Weltbezügen berücksichtigt, d. h.: der Wahrheitsanspruch hinsichtlich der objektiven Naturwelt, der Gerechtigkeitsanspruch hinsichtlich der intersubjektiven Sozialwelt und der Wahrhaftigkeitsanspruch hinsichtlich der subjektiven Innenwelt. Das vierte Kapitel widmet sich einem Problem, das im Rahmen der Systemproblematik der klassischen Transzendentalphilosophie von entscheidender Bedeutung war, nämlich dem Problem der Vereinbarkeit von Naturnotwendigkeit und menschlicher Freiheit. Dieses Problem muss auch von der Transzendentalpragmatik gelöst werA

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Einleitung

den, aber sie darf nicht die klassische Argumentationsstrategie bzw. die kantsche Auflösung der Freiheitsantinomie dafür benutzen. Ein neuer Auflösungsvorschlag muss einerseits mögliche Einwände berücksichtigen und widerlegen und andererseits die Beziehung zwischen dieser Antinomie und dem Autonomiebegriff im transzendentalpragmatischen Rahmen erklären können. Die letzten drei Kapitel befassen sich mit Problemen, die jeweilig den drei Dimensionen der schon erwähnten Architektonik der Gültigkeitsansprüche und den zugehörigen Weltbezüge zuzuordnen sind. Das fünfte Kapitel hat den sinnkritischen Begriff der Naturwelt zum Gegenstand. Dieser Begriff kann nur in Bezug auf den naturwissenschaftlichen Forschungsprozess und sein Ziel richtig aufgefasst werden. Dieses Ziel wurde von der klassischen Transzendentalphilosophie als eine regulative Idee verstanden. Die kritisch rationalistische Forschungslogik hat einen Essentialismusvorwurf gegen ein metaphysisches Verständnis dieses Ziels erhoben. Der gegenwärtige Pragmatismusstreit hat eben die Frage nach dem Sinn des Forschungsziels rehabilitiert. In diesem Zusammenhang muss der sinnkritische Begriff der objektiven Naturwelt im Lichte einer transzendentalpragmatischen Erforschung unseres Handlungswissens erklärt werden. Im sechsten Kapitel geht es um den zweiten systematischen Bereich unseres performativen Handlungswissens bzw. um den Gerechtigkeitsanspruch und seinen zugehörigen intersubjektiven Sozialweltbezug. Unsere Untersuchung gilt nicht dem in den letzten Jahrzehnten entwickelten ganzen Gebiet der Diskursethik. Sie beschränkt sich vielmehr auf ein spezielles Problem, das durch die folgende Frage formuliert werden kann: Wie kann eine transzendentalpragmatische Diskursbedingung, die als solche immer schon erfüllt wird, als ethisches Prinzip, das als solches erfüllt werden soll, fungieren? Gewissermaßen wurde ein ähnliches Problem im Rahmen der Ethik Kants durch die Beziehung zwischen Sittengesetz und moralischer Pflicht aufgeworfen. Die Diskursethik erfordert aber einen neuen Antwortvorschlag auf diese Frage, der den praktisch metaphysischen Hintergrund der kantischen Ethik nicht unterstellt. Dabei spielt die Berücksichtigung der pragmatischen Rolle des Diskurspartners und seines konstitutiven Willens eine wesentliche Rolle. Das siebente und letzte Kapitel handelt von dem dritten systematischen Bereich unseres performativen Handlungswissens, nämlich dem Bereich des Wahrhaftigkeitsanspruchs und dem ihm zu14

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Einleitung

gehörigen subjektiven Innenweltbezug. Die klassische Transzendentalphilosophie versuchte, in diesem Bereich bzw. im Bereich des Bewusstseins ihren letzten Grund zu finden. Nach der sprachpragmatischen Wende kann man einerseits das Scheitern dieses Versuchs verstehen und andererseits eine neue Rolle der Innenwelt reflexiv berücksichtigen. Dabei wird von einer Besonderheit dieser Welt und des Wahrhaftigkeitsanspruchs ausgegangen. Insbesondere die Frage nach der argumentativen Einlösbarkeit dieses Anspruchs und die damit einhergehende Problematik der Differenzierung zwischen Überzeugen und Überreden sowie die Frage nach der Angemessenheit der systematischen Verbindung zwischen Selbstdarstellung und Kunst sind in diesem Zusammenhang von eminenter Bedeutung. Jedes Kapitel des vorliegenden Buches fängt mit einer Rekonstruktion verschiedener Argumente der klassischen Transzendentalphilosophie an. Auf diese Weise versuche ich, keine neuen hermeneutischen Thesen zu begründen, sondern nur verschiedene Aspekte der sprachpragmatischen Transformation dieser Philosophie zu illustrieren. Bei dieser Rekonstruktionen werden die Texte von Kant und Fichte aus einer Perspektive interpretiert, die von der oben erwähnten Hauptabsicht dieser Arbeit bestimmt wird.

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1. Transzendentale Argumente oder Transzendentalphilosophie?

Diese Arbeit stellt die Resultate der transzendentalen Erforschung eines Gebietes dar, das uns nicht wirklich fremd, aber gleichwohl nicht gut bekannt ist: es geht um das Gebiet des performativen Wissens unserer Sprechhandlungen. Unsere Untersuchung nimmt einerseits die Konsequenzen aus der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie auf, andererseits beansprucht sie aber, das erwähnte Wissen von einem echt transzendentalen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Die erste Frage, die wir berücksichtigen müssen, ist deshalb die, worin der transzendentale Charakter einer philosophischen Forschung unter den Bedingungen der erwähnten Wende besteht. Die Beziehung zwischen der Problematik der Transzendentalphilosophie und dem Sprachbegriff kann unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Die klassische Transzendentalphilosophie als Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit hat den Sprachbegriff aus ihrer grundlegenden Fragestellung ausgeschlossen. Die analytische Sprachphilosophie hat die Problematik der sog. transzendentalen Argumente objektivistisch entwickelt. Sie konnte deshalb keine echt transzendentale Perspektive nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie eröffnen, d. h. eine Perspektive, die die notwendigen Sinn- und Geltungsbedingungen unserer Erkenntnis in den Handlungen der Sprecher reflexiv zu entdecken und zu überprüfen ermöglicht. Nur eine Erforschung der performativen Dimension der Sprechhandlungen erlaubt es, diese Sinnbedingungen so zu untersuchen und auf diese Weise eine echt transzendentale Perspektive nach der sprachpragmatischen Wende zu eröffnen. In diesem Kapitel soll die komplexe Beziehung zwischen der transzendentalen Geltungsfrage und dem Sprachbegriff dargestellt werden, um den Unterschied zwischen der Sprachanalyse der sog. transzendentalen Argumente und der transzendentalen Reflexion auf die Sprechhandlungen zu erläutern. Um diese Absicht verwirklichen zu können, wird erstens der Sprachbegriff bei Kant und Fichte 16

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Der Sprachbegriff in der klassischen Transzendentalphilosophie

herausgearbeitet, und es wird nachgewiesen, dass dieser Begriff im Rahmen der klassischen Transzendentalphilosophie keine grundlegende Rolle spielt (1.1.). Zweitens werden zwei philosophische Perspektiven hinsichtlich der transzendentalen Problematik unterschieden: die reflexive Perspektive einer transzendentalen Philosophie bzw. der Transzendentalpragmatik und die objektivistische Perspektive der analytischen Philosophie, in deren Rahmen sich die Untersuchung der sog. transzendentalen Argumente entwickelte (1.2.). Die transzendentalpragmatische Frage nach den erwähnten Sinn- und Geltungsbedingungen wird drittens durch einige veranschaulichende Beispiele von unvermeidbaren und unhintergehbaren Argumentationsvoraussetzungen dargelegt, sowie durch einige Einwände, die gegen diesen Vorschlag vorgebracht wurden. Durch die Analyse dieser Einwände wird versucht, die Frage nach dem Sinn der »Unbestreitbarkeit« der Argumentationsvoraussetzungen zu präzisieren (1.3.). Schließlich wird das Problem der scheinbaren Unvereinbarkeit des Anspruchs einer transzendentalen Erkenntnis über die unbestreitbaren Argumentationsvoraussetzungen mit der Anerkennung des Korrekturbedürfnisses der Explikation dieser Voraussetzungen berücksichtigt (1.4.). Die in diesem ersten Kapitel enthaltene Darstellung soll nur den transzendentalen Charakter unserer Untersuchung erklären. Diese wendet sich erst im nächsten Kapitel ihrem eigentlichen Gegenstand zu: dem Gebiet des Handlungswissens. 1

1.1. Der Sprachbegriff in der klassischen Transzendentalphilosophie Die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts hat der Sprache eine im Vergleich mit der Tradition neue Rolle zugeschrieben und so eine Wende in der philosophischen Perspektive herbeigeführt, nämlich den sog. linguistic turn. Die Sprache war vor dieser Wende nur ein Gegenstand der philosophischen Untersuchung bzw. der Gegenstand der Sprachphilosophie. Nach dieser Wende wird die Sprache auch als eine notwendige Voraussetzung der philosophischen Erkenntnis im Der Begriff des Handlungswissens wurde auch von einem nicht transzendentalen Gesichtspunkt aus betrachtet. Zu anderen Perspektiven über das Handlungswissen siehe z. B.: Gilbert Ryle: The Concept of Mind. New York: Hutchinson, 1949, S. 25–61; David Carr: The Logik of Knowing How and Ability. In: Mind, 88, 1979, S. 394–409.

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allgemeinen anerkannt. In der Philosophie der Neuzeit fungierte die subjektive Evidenz des Bewusstseins als letzte Instanz für die Beantwortung von Geltungsfragen. Nach der erwähnten Wende wurde erkannt, dass keine subjektive Evidenz eines vermeintlich privat zugänglichen Bewusstseins die Gültigkeit der objektiven Erkenntnis und der intersubjektiv geltenden moralischen Normen garantieren kann. Die Geltungsinstanz muss als solche öffentlich zugänglich sein. Deshalb wurde nach der Wende von ganz verschiedenen philosophischen Ansätzen anerkannt, dass nur die Sprache und ihr Gebrauch in einer Kommunikationsgemeinschaft die Rolle spielen kann, die die neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie einem isolierten Ich zugeschrieben hat. Auf diese Weise wurde die typisch neuzeitliche Analyse des Gemütsvermögens von einer Analyse der sprachlichen Strukturen und die Vernunftkritik von einer sprachlichen Sinnkritik ersetzt. Das Bewusstsein und die Sprache sind also Begriffe, die nicht nur mögliche Gegenstände der Neuzeit- und Gegenwartsphilosophie bezeichnen, sondern auch und besonders die entsprechenden Perspektiven, aus denen diese Philosophien jeden Gegenstand betrachten. Der erwähnte Wechsel der philosophischen Perspektive kann auch in der Transzendentalphilosophie beobachtet werden. Kant und Fichte haben die Transzendentalphilosophie im Rahmen der Bewusstseinsphilosophie behandelt, aber in diesem Rahmen spielt der Sprachbegriff keine entscheidende Rolle. Dies wird anhand von zwei Quellen deutlich: sowohl durch die wenigen Hinweise Kants auf den Sprachbegriff als auch in der einzigen systematischen Überlegung zu diesem Begriff in der klassischen Transzendentalphilosophie, nämlich in Fichtes Schrift Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache (1795). Die sprachpragmatische Wende der Gegenwartsphilosophie hat über das Interesse an historischer Forschung die Interpretation der klassischen Transzendentalphilosophie beeinflusst. Es wurde eine gewisse Kontinuität zwischen der Kantschen Kritik der Vernunft und der gegenwärtigen sprachlichen Sinnkritik behauptet. 2 Sowohl die erwähnten Hinweise Kants als auch der angeführte Aufsatz Fichtes sind Gegenstand spezialisierter Forschungen geworden. 3 Als Resultat dieser Forschungen muss man einerseits anneh2 Siehe dazu z. B.: Lewis White Beck: Was haben wir von Kant gelernt. In: Kant Studien, 72, 1981; Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. 6. Auflage, Stuttgart: Kröner, 1978, S. 555. 3 Siehe dazu z. B.: Daniel Leserre: Kritik der reinen Vernunft B140: Ein Hinweis auf die

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men, dass man eine mehr oder weniger entwickelte und explizite Sprachauffassung bei Kant und Fichte tatsächlich finden kann. Andererseits bestätigen gerade diese Forschungen, dass der Sprachbegriff bei diesen Autoren keine echt transzendentale Rolle spielte und Transzendentalphilosophie und Sprachphilosophie bei ihnen als zwei verschiedene Wissenschaften voneinander getrennt blieben. Die von der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie motivierten historischen Forschungen bezüglich des Sprachbegriffs bei Kant und Fichte weisen eigentlich nach, wie die transzendentale Bewusstseinsphilosophie diesen Begriff aufgefasst hat. Gegenüber der transzendentalen Ebene der synthetischen Verstandeshandlungen und der Tathandlung des absoluten Ichs bleibt die Sprache bei diesen neuzeitlichen Klassikern der Transzendentalphilosophie ein bloß empirisches Bezeichnungsvermögen, das keine Bedingung der Möglichkeit der gültigen Erkenntnis bildet. Kant hat keine vollständige Sprachphilosophie entwickelt. 4 Er machte nur einige isolierte Bemerkungen über die Sprache in verschiedenen Werken, wobei er verschiedene Absichten verfolgte. Diese Bemerkungen können trotzdem als Hinweise auf eine implizite Sprachauffassung Kants verstanden werden. Die historisch-philosophische Rekonstruktion dieser Auffassung zeigt, warum die Sprache nur eine nebensächliche Rolle in der Transzendentalphilosophie Kants spielt. Man findet in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) eine explizite Betrachtung über die Sprache als ein Bezeichnungsvermögen, einen Zeichengebrauch, durch den die menschlichen Gedanken ausgedrückt werden können. Die Sprache ist »Bezeichnung der Gedanken« und sie ermöglicht es, die Gedanken auszudrücken. Dank dieses Bezeichnungsvermögens kann jeder Mensch die Gedanken der anderen erkennen. Das erwähnte Vermögen wird von Kant als ein Aspekt der reproduktiven Einbildungskraft dargestellt, weil sie ermöglicht, die empirischen Gegenstände auch ohne deren Gegenwart in der Anschauung vorzustellen. Deshalb wird die Sprache als ein empirisches Vermögen, das von den psychologischen Assoziationsgesetzen regiert wird, aufgefasst. kritische Perspektive der Sprache. In: Gerhardt, V. [u. a.] (Hrsg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. II. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2001, S. 381–389; Jere Paul Surber: Language and German Idealism: Fichte’s Linguistic Philosophy. New Jersey: Humanities Press, 1996. 4 Siehe dazu Janos Kelemen: Language and Transcendental Philosophy. In: S. Europäische Zeitschrift für Semiotische Studien, 1, 1989, S. 97–135, bes. 123–126. A

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In seiner Anthropologie präsentiert Kant also die Sprache als ein bloß empirisches Vermögen, welches einerseits erlaubt, die menschlichen Gedanken zu bezeichnen und andererseits nach psychologischen Regeln funktioniert. Die Entwicklung dieser empirischen Sprachauffassung, die erst 1798 veröffentlich wurde, läuft parallel zur Entwicklung der Transzendentalphilosophie. Der Inhalt dieser Auffassung wurde von Kant vierundzwanzig Mal zwischen 1772 und 1796 in seinen Vorlesungen vorgetragen. 5 Obwohl die Transzendentalphilosophie und die empirische Sprachauffassung von Kant gleichzeitig formuliert werden, erkennt er der Sprache keine transzendentale Bedeutung zu. Der Grund dieser Verkennung liegt in dem bewusstseinsphilosophischen Charakter der klassischen Transzendentalphilosophie bzw. in dem methodischen Solipsismus der kantschen Perspektive. Kant untersucht die Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Erkenntnis, ohne der Sprache eine transzendentale Funktion zuzuschreiben. Die einzigen zwei kurzen Hinweise zum Sprachbegriff, die in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe bzw. im Kern der Transzendentalphilosophie Kants gefunden werden können, beweisen eben, dass Kant auch in der Kritik der reinen Vernunft die Sprache als ein bloß empirisches Bezeichnungsvermögen auffasst. Der erste Hinweis steht in der ersten Ausgabe im Kontext der Unterscheidung zwischen der reproduktiven oder nachbildenden und der produktiven oder erzeugenden Einbildungskraft bzw. des Vermögens, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen. 6 Die empirische Synthese der Reproduktion wird, wie schon erwähnt, durch die psychologischen Gesetze der Assoziation ermöglicht. Es handelt sich um die zufälligen Verbindungen, die von der Beständigkeit der sprachlichen Bedeutung bzw. von der Stabilität der Bezeichnungen organisiert werden. Diese empirische Synthese, die von der Sprache garantiert wird, setzt voraus, dass die von der Sprache bezeichneten Phänomene schon objektiven Regeln untergeordnet sind. Diese objektiven Regeln verweisen aber nicht auf eine empirische Synthese der reproduktiven Einbildungskraft, sondern auf die transzendentale

Vgl. Rudolf Malter: Anhang. In: Kant, I.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hamburg: Meiner, 1980, S. 315. 6 Vgl.: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Akademie-Textausgabe, Berlin: De Gruyter, 1968 A 101. (KrV, A 101) 5

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Synthese der erzeugenden Einbildungskraft, deren spontane Tätigkeit ganz unabhängig vom Sprachgebrauch sei. Der zweite erwähnte Hinweis zur Sprache steht in der zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft im Kontext der Unterscheidung zwischen der empirischen Einheit des Bewusstseins und der transzendentalen Einheit der Apperzeption. 7 In diesem Zusammenhang wird die Sprache als ein Beispiel der empirischen Einheit präsentiert, weil sie es ermöglicht, die Vorstellung, das Wort und den Gegenstand durch ein empirisches Assoziationsgesetz zu verbinden. Diese Verbindung des empirischen Bewusstseins, die durch die Sprache etabliert wird, hat nur eine subjektive Geltung, weil sie von den partikularen Bedingungen der Erfahrung abhängt. Im Gegensatz dazu ist die transzendentale Einheit der Apperzeption die Bedingung der Möglichkeit jeder spontanen Verstandeshandlung. Sie ist universal und notwendig gültig. Aus den erwähnten Stellen der zwei Ausgaben der Kritik der reinen Vernunft ergibt sich klar, dass Kant die Sprache als einen Aspekt des bloß empirischen Bewusstseins betrachtet, und genau deshalb hat der Sprachbegriff keine besondere Relevanz für die Transzendentalphilosophie Kants. Bekanntlich führte diese Kantsche Unterschätzung der Rolle der Sprache beim Aufbau der Transzendentalphilosophie zu einem der ersten und wichtigsten Einwände gegen die bewusstseinsphilosophische Perspektive dieser Philosophie, nämlich zu der von Johann Gottfried Herder und Johann Georg Hamann so genannten Metakritik der kritischen Philosophie Kants. Diese Metakritik bestreitet den von der Transzendentalphilosophie erhobenen Anspruch, einen unbedingten und obersten Grundsatz in einem angeblich ursprünglichen Selbstbewusstsein gefunden zu haben. Diesem Einwand zufolge verkennt die Transzendentalphilosophie ihre eigene faktische Möglichkeitsbedingung, nämlich die Existenz und die geschichtliche Entwicklung der Sprache in einer menschlichen Gemeinschaft. Diese Metakritik hält die Sprache für den Träger einer historisch-kulturell relativierbaren Weltanschauung und jede Philosophie muss in einer partikularen Sprache formuliert werden. Die Transzendentalphilosophie hat aber die Sprache als ihre eigene notwendige Voraussetzung nicht anerkannt, keine systematische Untersuchung über die Sprache durchgeführt und ist deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt. 7

Vgl.: KrV, B 140. A

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Der Aufsatz Fichtes Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache (1795) kann als eine Replik auf die erwähnte sprachorientierte Metakritik verstanden werden, weil diese Metakritik damals eine Bedrohung für seine transzendental begründete Wissenschaftslehre bedeutete, weshalb sie als solche widerlegt werden musste. 8 Bei diesem Versuch ist klar erkennbar, dass der Sprachbegriff im Rahmen der klassischen Transzendentalphilosophie auch noch bei Fichte eine nebensächliche Rolle spielt. In seiner erwähnten Schrift schreibt Fichte der Sprache eine einzige Funktion zu, nämlich – wie schon die Anthropologie Kants –, die menschlichen Gedanken zu bezeichnen. Die Sprache ermöglicht es, dass die Menschen ihre Gedanken durch willkürliche Zeichen ausdrücken können. Unsere Gedanken werden allerdings auch durch andere Mittel ausgedrückt bzw. durch unsere Handlungen. Nach Fichte besteht der Unterschied zwischen Sprache und Handlung als zwei Ausdrucksmitteln in folgendem: Der Sprecher benutzt die Sprache absichtlich als Mittel, um seine Gedanken gegenüber einem Adressaten auszudrücken bzw. um seine Gedanken einem anderen mitzuteilen. Die Absicht des Handelnden hingegen ist nur, seine Handlung durchzuführen. Seine Gedanken werden aber durch seine Handlungen unabsichtlich ausgedrückt. In diesem Werk versucht Fichte den Ursprung der Sprache nicht durch eine Hypothese zu rekonstruieren, sondern aus der Natur des menschlichen Wesens zu deduzieren. Der Ausgangspunkt dieser Deduktion ist das Prinzip der »Übereinstimmung mit sich selbst«, das Fichte der menschlichen Natur zuschreibt. Dieses Prinzip fördert zwei verschiedene Handlungsweisen der Menschen hinsichtlich der Natur und hinsichtlich der Mitmenschen. Die Natur erscheint in der menschlichen Erfahrung als eine Widerstandskraft, die der Mensch zu beherrschen versucht. Nur durch die Arbeit kann der Mensch wirklich erreichen, dass die fremden Kräfte der Natur mit sich selbst übereinstimmen, bzw. dass die Naturrealität der menschlichen Rationalität und der menschlichen Freiheit entspricht. Im Unterschied dazu findet der Mensch in einem Mitmenschen nicht etwas Fremdes, Obwohl die Metakritik Hamanns erst 1800 und die Metakritik Herders 1799 veröffentlicht wurde, weiß man, dass das noch nicht veröffentlichte Manuskript Hamanns in philosophischen Kreisen dieser Zeit schon im Umlauf war. Siehe dazu: Jere Paul Surber: Language and German Idealism: Fichte’s Linguistic Philosophy; Frederick Beiser: The Fate of Reason: German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 1987; Bruno Liebrucks: Sprache und Bewusstsein. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Akademie Verlagsgesellschaft, 1964, S. 43–78, 296–340.

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das angepasst werden muss, sondern jemanden, der ihm schon entspricht. Fichtes Deduktion vom Ursprung der Sprache enthält also drei Momente: erstens das erwähnte Prinzip der Übereinstimmung mit sich selbst, das als wesentlicher Bestandteil der menschlichen Natur präsentiert wird, zweitens das zufällige Treffen zweier Menschen, das Fichte durch eine Version der vertragstheoretischen Auffassung eines Naturzustandes darlegt, und drittens den Wunsch, die eigenen Gedanken anderen Menschen mitzuteilen und die Gedanken anderer Menschen zu erkennen. Um diesen Wunsch erfüllen und die Gedanken ohne Missverständnis und Zweideutigkeit kommunizieren zu können, entwickeln die Menschen die willkürlichen Zeichen und die Grammatik einer Sprache. Hier bedarf es keiner vollständigen Rekonstruktion dieser Auffassung vom Ursprung der Sprache, um die bewusstseinsphilosophische Perspektive der Sprachphilosophie Fichtes erkennen zu können. Eine für unsere aktuelle Absicht besonders wichtige Konsequenz dieser Perspektive kommt in der folgenden Stelle ganz klar zum Ausdruck: »Ich beweise hier nicht, dass der Mensch ohne Sprache nicht denken, und ohne sie keine allgemeinen abstrakten Begriffe haben könne. Das kann er allerdings vermittelst der Bilder, die er durch die Phantasie sich entwirft. Die Sprache ist meiner Überzeugung nach für viel zu wichtig gehalten worden, wenn man geglaubt hat, dass ohne sie überhaupt kein Vernunftgebrauch stattgefunden haben würde.« 9

Fichte fasst die Sprache also als ein bloßes Instrument der Gedankenmitteilung auf. Einerseits hat dieses Instrument seinen Grund in einem wesentlichen Trieb der menschlichen Natur. Andererseits ist die Konstitution der Gedanken, die durch willkürliche Zeichen mitgeteilt werden können, nach Fichte aber ganz unabhängig von der Sprache. Die bewusstseinsphilosophische Perspektive Fichtes führt also zu einer Auffassung, nach der das menschliche Denken schon ohne Sprache vollständig sein könnte. Die Sprache ist nach dieser Auffassung etwas Externes, dessen einzige Funktion darin besteht, angeblich sprachlose Gedanken auszudrücken. Die Gültigkeit sowohl Johann Gottlieb Fichte: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache. In: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. In: Lauth, R./ Gliwitzky, H. (Hrsg.): Nachgelassene Schriften, 2. Teil. Stuttgart-Bad Cannstatt, 1983, Bd. I, 3 103, Fn. (= GA: I/3 103, Fn.). 9

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unserer Erfahrungserkenntnis als auch unseres transzendentalen Wissens wird auf diese Weise für etwas gehalten, das ganz unabhängig von unserer »Sprachfähigkeit« wäre. Die transzendentalphilosophische Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit der gültigen Erkenntnis kann und muss deshalb diese Fähigkeit außerhalb seiner Reichweite lassen. Dennoch kann die Sprache das Thema einer besonderen philosophischen Wissenschaft bzw. einer secunda philosophia sein, die, wie das Naturrecht und die Sittenlehre, nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre behandelt werden kann. Diese Lehre, die als prima philosophia fungiert, wird aber ohne Bezug auf den Sprachbegriff allein vom Prinzip eines unbedingt freien bzw. sprachlosen Ichs her gedacht. Bei der absoluten Tätigkeit dieses Ichs spielt nach Fichte die Sprache keine entscheidende Rolle. Diese Tätigkeit, die die interne Beziehung des Ichs zu seinen sprachlosen Gedanken setzt, wäre der einzige Ausgangspunkt der Transzendentalphilosophie, die als Wissenschaftslehre verstanden werden kann. Die von Fichte an der zitierten Stelle postulierte Möglichkeit eines sprachlosen Vernunftgebrauchs kann aber nicht nur als eine klare Radikalisierung des methodischen Solipsismus der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie angesehen werden, sondern auch, historisch betrachtet, als ein problematischer Rückschritt zu einem mentalistischen Gesichtspunkt, den die Transzendentalphilosophie Kants in gewisser Weise damals schon überwunden hatte. Obwohl Kant, wie erwähnt, die Sprache als eine Art bloß empirischen Bewusstseins betrachtet und er deshalb dem Sprachbegriff keine Bedeutsamkeit für die Transzendentalphilosophie in engeren Sinne zuerkannt hat, hat er dennoch die Trennung zwischen Urteilen bzw. mentalen Operationen und Sätzen bzw. Sprechhandlungen bestritten, die sowohl von der empiristische Psychologie 10 als auch von der rationalistischen Logik behauptet wurde. Kant lehnt die Idee eines sprachlosen Denkens als sinnlos ab. In seiner Anthropologie präsentiert er die »Natur des Denkens, als ein Sprechen zu und von sich selbst« und definiert das Denken als »Reden mit sich selbst«. 11 Diese Behauptungen sind keine platonischen Metaphern, die von Kant nur reproduziert wurden. Sie enthalten vielmehr eine philosophische Position über die wesentliche Verknüp10 Vgl.: John Locke: An Essay Concerning Human Understanding (1690). Hrsg. v. Fraser, A. C. New York: Dover, 1959, 4. 5. §§ 2–4. 11 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Ak. Aus. 7 167.

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fung des Denkens mit der Sprache, die an verschiedenen Stellen von Kant klar dargelegt wird, z. B.: »So sind Urtheil und Satz dem Redegebrauch nach wirklich unterschieden. Wenn aber die Logici sagen: ein Urtheil ist ein Satz in Worte eingekleidet: so heißt das nichts, und diese Definition taugt gar nicht. Denn wie werden sie Urtheile denken können ohne Worte?« 12 Auch in seiner Streitschrift gegen Eberhart (1790) lehnt Kant die Möglichkeit von Urteilen, die nicht sprachlich gefasst wären, ab, und genau deshalb bestreitet er die traditionelle Definition von Proposition: iudicium verbis expressum (ein durch Worte ausgedrücktes Urteil). Vor dem Versuch Fichtes, die philosophischen Grundsätze einer Sprachtheorie zu formulieren, hatte Kant also richtig erkannt, dass ohne Sprache kein Vernunftgebrauch stattfinden kann. Diese Einsicht reichte aber im Rahmen der klassischen Transzendentalphilosophie nicht aus, um die echte transzendentale Bedeutung des Sprachgebrauchs zu entdecken. Der bewusstseinsphilosophische Charakter dieses Rahmens führte zu Versuchen, die Möglichkeitsbedingungen der gültigen Erkenntnis innerhalb eines isolierten und sprachlosen Selbstbewusstseins zu finden. Trotz der erwähnten Anerkennung wird die Sprache deshalb von der klassischen Transzendentalphilosophie für ein bloß empirisches Vermögen gehalten. Erst nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie kann man klar sehen, dass die Anerkennung des sprachlichen Charakters des menschlichen Denkens mit der bewusstseinsphilosophischen Perspektive unvereinbar ist. Nach dieser Wende kann man nicht mehr behaupten, dass die ursprüngliche Einheit des Selbstbewusstseins der oberste Grundsatz der ganzen menschlichen Erkenntnis ist 13 und als solcher von einer transzendentalphilosophischen Untersuchung anerkannt werden muss. Der Sprachbegriff verweist jetzt nicht auf ein isoliertes »Ich«, sondern notwendigerweise auf ein »Wir«, welches eine Sprache und damit das Denken voraussetzen muss. Ein Ich kann nur durch eine gemeinsame Sprache sinnvoll denken bzw. unter bestimmten intersubjektiven Bedingungen der für jeden durchführbaren Sprechhandlungen. Das »ich denke« kann nicht für eine unbedingte und höchste Gültigkeitsinstanz der Transzendentalphilosophie gehalten werden, weil nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie die Sprache nicht mehr als ein bloß em12 13

Immanuel Kant: Wiener Logik (ca. 1780). Ak. Aus. 24 934. Vgl. KrV, B 135. A

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pirisches Bezeichnungsvermögen, sondern als eine notwendige Sinnbedingung der Möglichkeit unseres Denkens berücksichtigt werden muss. Die Frage ist nun, woran sich eine echt transzendentalphilosophische Untersuchung nach dieser Wende orientieren muss.

1.2. Die sprachanalytische Problematik der transzendentalen Argumente Die Probleme der Transzendentalphilosophie wurden in der sprachanalytischen Philosophie vielfach betrachtet. Einerseits kann man klar erkennen, dass die analytische Fassung der sprachlichen Wende normalerweise einen Verzicht auf das Verständnis für die Bedeutung dieser Probleme impliziert. Die klassische Transzendentalphilosophie wird für eine Art der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit gehalten, deren metaphysische Unterstellungen durch die logische Sprachanalyse bestritten werden könnten und müssten. Diese Analyse beansprucht einerseits, den methodischen Solipsismus, der in der klassischen Transzendentalphilosophie als Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit tief verankert war, durch die erwähnte Wende der philosophischen Perspektive zu überwinden. Der Grund dieser Wende besteht eben darin, dass keine Evidenz des Bewusstseins bzw. kein reflexiver Rückgang zur synthetischen Einheit der Apperzeption die objektive bzw. intersubjektive Gültigkeit der Erkenntnis garantieren kann. Keine subjektive Vergewisserung innerhalb des Bewusstseins – weder des cartesianischen cogito noch des kantischen transzendentalen Selbstbewusstseins – kann ausreichend sein, um festzustellen, dass eine intersubjektiv gültige Erkenntnis den subjektiven Gewissheiten wirklich entspricht. Der linguistic turn der Gegenwartsphilosophie besteht in der Anerkennung der wesentlichen Rolle der Sprache bei der Erkenntnis, die nicht in der bloß zweidimensionalen Beziehung zwischen einem Bewusstsein und seinem Gegenstand bestehen kann. Die Erkenntnis muss immer in Propositionen artikuliert werden bzw. mit intersubjektiven und öffentlichen Mitteln der Sprache. Deshalb muss die traditionelle Analyse des menschlichen Gemütsvermögens (Sinnlichkeit, Bildungskraft, Verstand und Vernunft) durch eine logische Analyse der Sprache ersetzt werden. Nur die syntaktischen und semantischen Regeln, die diese Sprachanalyse entdecken kann, bestimmen nach diesem Ansatz die Möglichkeit jeder Beschreibung und 26

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jeder Erklärung von Dingen dieser Welt. Die reflexive Rückkehr zum Vermögen eines angeblichen Erkenntnissubjekts bzw. die typische Untersuchung der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit muss nach der sprachlichen Wende als eine metaphysische Last der philosophischen Tradition durch die Sprachanalyse aufgehoben werden. Andererseits gibt es aber auch in diesem sprachanalytischen Rahmen genügend Raum für den Versuch, einen rationalen Kern der traditionellen Transzendentalphilosophie zu retten und ihn unter einer neuen bzw. sprachanalytischen Form zu rehabilitieren. Dieser Versuch ist schon seit einigen Jahrzehnten das Thema der erweiterten Auseinandersetzung um die Natur der so genannten transzendentalen Argumente. 14 Diese Auseinandersetzung wurde durch einen Neuansatz des transzendentalen Programms in der Gegenwartsphilosophie von Peter Strawson eröffnet 15 . Der sprachanalytische Charakter der Rehabilitierung dieses Programms besteht darin, dass die in der Kantschen Transzendentalphilosophie entscheidende Gestalt des Erkenntnissubjekts beim Vorschlag Strawsons keine Rolle mehr spielen kann. Nach der Transzendentalphilosophie Kants bestimmen die geregelten Handlungen dieses Subjekts sowohl die Möglichkeit der Erfahrung als auch die Möglichkeit des Erfahrungsgegenstands. Beide Möglichkeiten werden von den Funktionen des reinen Verstandes bedingt. Kant benennt Kategorien bzw. ursprüngliche Begriffe des reinen Verstandes, die Begriffe von diesen Funktionen bzw. die Begriffe der Regeln, die die konstituierenden Handlungen des Erkenntnissubjektes regieren. Die Kategorien sind also strenggenommen nicht die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und ihres Gegenstandes, sondern die Begriffe dieser Bedingungen, die eigentlich nur als Handlungen, Funktionen und Regeln verstanden werden können. Nach dem sprachanalytischen Vorschlag Strawsons soll man hingegen annehmen, dass bestimmte Begriffe selbst die Bedingungen möglicher Erfahrung sind und nicht die Verstandesfunktionen und -handlungen, wie Kant behauptet, die durch diese Begriffe gedacht werden könnten. Nach Strawson gibt es also bestimmte Begrif14 Zu einer kritischen Rekonstruktion der wichtigsten Positionen bei dieser Auseinandersetzung siehe: Marcel Niquet: Transzendentale Argumente. Kant, Strawson und die sinnkritische Aporetik der Detranszendentalisierung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991. 15 Siehe dazu: Peter Strawson: Individuals. London: Methuen, 1959; ders.: The Bounds of Sense. London: Routlege, 1966.

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fe, deren Gebrauch und Anwendung für die empirische Erkenntnis wesentlich ist. Diese Begriffe sollen bei jeder kohärenten Auffassung der sinnlichen Erfahrung implizit vorliegen und eine Struktur bilden, die sie untereinander verknüpft, nämlich unser sog. Begriffsschema (conceptual scheme oder conceptual framework). An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass die Untersuchung Strawsons über dieses Schema keinen transzendentalen Charakter im kantschen Sinne haben kann, sondern wie schon erwähnt, einen bloß analytischen Charakter. Diese Untersuchung unterstellt dogmatisch und unanalysiert Folgendes: Die Erfahrungserkenntnis ist bei Strawson etwas, das schon gegeben ist, und der Philosoph kann nur versuchen, ihr angeblich unerlässliches Begriffsschema durch seine Analyse freizulegen. Durch diese analytische Erfahrungsauffassung hat Strawson auf die Hauptaufgabe einer echten Transzendentalphilosophie schlechthin verzichtet, nämlich darauf, Erfahrungserkenntnis konstituierender Handlungen aufzuweisen. Nach Strawson ist die Erfahrung etwas, das von einem subjektlosen und festen Begriffsschema schon strukturiert ist. Im Rahmen dieser analytischen Betrachtung gibt es keinen Platz für die Frage nach dem Grund des erwähnten Schemas unserer Erfahrung. Die sog. deskriptive Metaphysik Strawsons begnügt sich einfach mit einer Explikation dieses unerlässlichen Schemas, und man kann in diesem Sinne eigentlich nicht fragen, warum unsere Erfahrung durch dieses Schema so strukturiert ist. Der nicht transzendentale bzw. bloß analytische Charakter, der sich bei Strawson seit seinen fortdauernden Auseinandersetzungen mit dem Dualismus Schema/Inhalt und den sog. transzendentalen Argumenten findet, wird deutlich, wenn man feststellt, dass durch diese Argumente die objektive Gültigkeit der zum Schema gehörigen Begriffe überhaupt nicht bewiesen werden kann. Durch seine analytische Untersuchung versucht Strawson nachzuweisen, dass das oben erwähnte Begriffsschema in jeder verständlichen Auffassung unserer möglichen Erfahrung vorausgesetzt wird. Dieser Nachweis betrifft aber noch nicht die Frage, die Kant als wichtigste Frage seiner Transzendentalphilosophie bezeichnet hat, nämlich die quaestio iuris. Obwohl eine analytische Untersuchung wirklich aufweisen könnte, dass dieses Schema für unsere Erfahrung unerlässlich ist, würde trotzdem die Frage nach der objektiven Gültigkeit der zu diesem Schema gehörigen Begriffe noch offenbleiben, d. h. die Frage: Gibt es Gegenstände, die diesen Begriffen wirklich entsprechen? 28

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Die sprachanalytische Problematik der transzendentalen Argumente

In dieser Hinsicht besteht der wichtigste Unterschied zwischen der analytischen Perspektive Strawsons und der Perspektive der Transzendentalphilosophie, von Kant bis heute, also im Folgenden. Die analytische Perspektive erlaubt nur zu fragen, ob bestimmte Begriffe bzw. ein Begriffsschema von jeder verständlichen Auffassung unserer möglichen Erfahrung unerlässlich vorausgesetzt werden und begnügt sich mit einer Antwort auf diese Frage. Die transzendentale Perspektive hingegen fordert auch zu fragen, ob diese Begriffe auf die Erfahrungsgegenstände wirklich anwendbar sind. Diese letzte Frage aber nach der objektiven Gültigkeit der Möglichkeitsbedingungen unserer Erfahrung kann in einer bloß analytischen Untersuchung über die sog. transzendentalen Argumente nicht einmal gestellt werden. Deshalb kann man sagen, dass diese Untersuchung trotz des entstehenden Anscheins außerhalb der Transzendentalphilosophie bleibt, weil die transzendentale Hauptfrage nach der objektiven Gültigkeit unserer reinen Begriffe bzw. die Frage der kantschen transzendentalen Deduktion durch diese Untersuchung nicht beantwortet werden kann. »Strawsons analytischer Aufweis eines Begriffsschemas gibt keine Deduktion desselben und kann sie nicht geben.« 16 Bekanntlich bildet die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe die Hauptaufgabe der Kritik der reinen Vernunft und deswegen auch die der klassischen Transzendentalphilosophie. Diese Deduktion beansprucht zu beweisen, dass die Kategorien objektive Gültigkeit haben. Es handelt sich bei diesem Beweis nicht bloß darum, die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrungserkenntnis zu entdecken und freizulegen, wie es bei der von Kant so genannten metaphysischen Deduktion 17 der Fall ist, sondern um den Nachweis der Identität zwischen diesen Bedingungen und den Bedingungen des Erkenntnisobjekts. Diese in der kantschen transzendentalen Deduktion thematisierte Geltungsproblematik kann unter dem bloß analytischen Gesichtspunkt Strawsons überhaupt nicht wahrgenommen werden. Vielmehr kann diese echt transzendentale Problematik nur angesprochen werden, wenn sich die philosophische Untersuchung nicht rein analytisch für Begriffe und Begriffschemen interessiert, sondern wenn sie die konstituierenden Handlungen eines Subjektes 16 Rüdiger Bittner: Transzendental. In: Krings, H./Baumgartner, H. M./Wild, C. (Hrsg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 5. München: Kösel, 1974, S. 1524–1539, bes. 1529. 17 Vgl. KrV, B 159.

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reflexiv betrachtet. Die Möglichkeitsbedingungen des Erfahrungsgegenstandes lassen sich nicht als Begriffe bzw. feste Begriffsschemen verstehen, sondern nur als die der Tätigkeit des Erkenntnissubjekts. Diese Tätigkeit bedingt einerseits die Möglichkeit dieses Gegenstandes und kann andererseits durch bestimmte Begriffe und Grundsätze aufgefasst werden. Der analytische Versuch, die in unserer Erfahrung impliziten unerlässlichen Begriffe freizulegen, lässt die subjektive Tätigkeit, die nach der Transzendentalphilosophie den Erfahrungsgegenstand konstituiert, als eine metaphysische Last der philosophischen Tradition außer Acht. Dieser rein analytischen Betrachtungsweise zufolge können das Erkenntnissubjekt und seine Tätigkeit im postmetaphysischen Rahmen der Gegenwartphilosophie keinen Platz mehr haben. Die Konsequenz dieser analytischen Auffassung der Erfahrungserkenntnis ist, dass die Gegenständlichkeit des Begriffsschemas ein ungelöstes Problem bleibt. Bei dieser Auffassung ist der Erfahrungsgegenstand quasi zufällig und unabhängig von dem Begriffsschema, das die Erfahrungserkenntnis konstituiert. Die analytische Verwerfung der transzendentalen Auffassung eines selbsttätigen Erkenntnissubjekts, die die Möglichkeitsbedingungen sowohl der Erfahrungserkenntnis als auch des Erfahrungsgegenstandes gleichzeitig setzen könnte, beruht auf einer bestreitbaren Interpretation des Subjektbegriffs, nämlich auf der Vorstellung dieses Subjekts, wie sie die Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit bzw. der klassischen Transzendentalphilosophie präsentiert hat. Im postmetaphysischen Rahmen der sprachpragmatischen Wende kann die Philosophie nur mit empirischen Subjekten rechnen, d. h. nur mit Subjekten, die als räumliche, zeitliche und einzelne Gegenstände der möglichen Erfahrung erscheinen können und müssen. Diese Subjekte und ihre Handlungen sollen aber nur unter dem in unserer Erfahrung vorausgesetzten Begriffsschema verständlich sein und können deshalb nicht die ihnen von der klassischen Transzendentalphilosophie zugeschriebene Rolle einer Möglichkeitsbedingung der Erfahrung selbst spielen. Die subjektiven Tätigkeiten sind nach der analytischen Erfahrungsauffassung Strawsons keine transzendentale Möglichkeitsbedingung, sondern Gegenstände unserer Erfahrung, die wie Bewegungen anderer räumlicher und zeitlicher Individuen nur im Rahmen eines subjektlosen Begriffsschemas verständlich sind. Die Einseitigkeit der analytischen Auffassung Strawsons be30

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Die sprachanalytische Problematik der transzendentalen Argumente

steht darin, dass sie die kantsche bzw. bewusstseinsphilosophische Vorstellung des transzendentalen Subjekts und seiner Erkenntnisfunktionen für das einzige Modell hält, um transzendental konstituierende Handlungen zu verstehen. Sie blendet aus, dass diese Vorstellung nur eine Version des transzendentalen Subjekts und seiner Tätigkeit präsentiert, und fragt nicht, ob nicht auch eine andere Version im Rahmen der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie kohärent gedacht werden kann. Diese Frage kann bei der erwähnten analytischen Erfahrungserklärung nicht gestellt werden, weil sie als Schlussfolgerung der sprachpragmatischen Wende den Begriff einer transzendental konstituierenden Handlung zu schnell verwirft. Die Konsequenz ist, wie oben schon angegeben, eine subjektlose analytische Erfahrungsauffassung, die m. E. mit jeder möglichen Fortsetzung und Transformation des Programms einer Transzendentalphilosophie schlechthin unvereinbar scheint. Die klassische Transzendentalphilosophie hat die Frage nach der objektiven Gültigkeit der zur Erfahrung unerlässlich gehörigen Begriffe gestellt und hat diese Frage durch den Begriff eines spontan tätigen Subjekts, das die Möglichkeit der Erfahrung und des Gegenstandes gleichzeitig setzt, beantwortet. Der analytische Versuch Strawsons beansprucht, diese Begriffe freizulegen, aber er verwirft sowohl die erwähnte transzendentalphilosophische Frage als auch die transzendentalphilosophische Antwortstrategie. Hieraus kann man klar erkennen, dass die analytische Untersuchung der bounds of sense und die analytische Problematik der sog. transzendentalen Argumente keine Transzendentalphilosophie bilden und begründen können. Wesentlich für diese Art von Philosophie sind die erwähnte Geltungsfrage und der Versuch, diese Frage durch eine reflexive Rückwendung auf die konstituierenden Tätigkeiten eines Subjektes zu beantworten. Werden diese Fragen und diese Antwortstrategie als Elemente einer »revisionären Metaphysik«, die keinen Platz innerhalb einer »deskriptiven Metaphysik« haben kann, verworfen, dann kann die aus dieser Verwerfung hervorgehende Erfahrungsauffassung kein Neuansatz einer Transzendentalphilosophie sein. Vielmehr handelt es sich um eine analytische Philosophie, die beansprucht, durch eine besondere Art von Argumenten bzw. durch die sog. transzendentalen Argumente das angeblich unerlässliche Begriffsschema unserer Erfahrung freizulegen. Der Kern dieses hier behaupteten Unterschiedes zwischen Transzendentalphilosophie und analytischer Philosophie kann folA

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gendermaßen formuliert werden: Die Transzendentalphilosophie hat die Rolle der menschlichen Tätigkeit bei dem Erkenntnisprozess betont und den Beitrag dieser Tätigkeit für die menschliche Erkenntnisstruktur berücksichtigt. Das menschliche Gemüt kann nach diesem Ansatz a priori synthetische Erkenntnis über seine eigenen Handlungen erreichen, d. h. über die Tätigkeit, die sowohl die Erfahrungserkenntnis als auch den Erfahrungsgegenstand konstituiert. Die analytische Philosophie hat sich hingegen besonders für die logische Struktur der schon vorhandenen Information bzw. der Theorien, Erklärungen und Argumente interessiert, d. h. nicht besonders für die Tätigkeiten, durch die die Menschen diese Information bekommen können. Ganz grob und schematisch kann man sagen, dass sich die Transzendentalphilosophie auf die konstituierende Erkenntnistätigkeit konzentriert und die analytische Philosophie auf die Erkenntnisresultate. Die erste hält die Erkenntnis für eine Tätigkeit, die von Philosophen reflexiv betrachtet werden kann, die zweite lenkt ihren Blick auf Argumente, die objektivistisch analysiert werden können. 18 Eine bedeutungsvolle Ausnahme dieser so grob formulierten Charakterisierung der analytischen Philosophie bilden die verschiedenen Versionen der sog. Ordinary Language Philosophie, z. B. die Sprachspieltheorie Wittgensteins und die Sprechakttheorie Austins und Searles. 19 Über diese Ausnahme kann man Folgendes bemerken: Diese Theorien haben einerseits eine pragmatische Wende in der analytischen Sprachphilosophie eingeleitet und sind durch diese Wende über den syntaktisch-semantischen Rahmen der bisherigen Sprachanalyse hinausgegangen. Diese Theorien beachten nicht besonders die Wahrheitsbedingungen von Propositionen und die logische Struktur von Argumenten, sondern eben die Sprechhandlungen der Zeichenbenutzer, und sie haben offen gelegt, dass nur innerhalb dieser Handlungen eine sprachliche Aussage überhaupt verständlich werden kann. Andererseits aber ging diese pragmatische Wende der Sprachphilosophie nicht weit genug, um die traditionellen Probleme der Transzendentalphilosophie in diesem Rahmen noch einmal zu formulieren bzw. zu verstehen. Siehe dazu: Jaakko Hintikka: Kants New Method of Thought and his Theory of Mathematics. In: Ajatus, 27, 1965, S. 37–47. 19 Siehe dazu: John L. Austin: How to Do Things with Words. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 1962; John R. Searle: Speech Acts. Cambridge: Univ. Press, 1969; Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: ders., Schriften. Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, S. 225–580. 18

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Die Entwicklung dieser pragmatischen Sprachtheorien trug viel dazu bei, die konstitutive Rolle der menschlichen Handlung als wesentlichen Bestandteil der sprachlichen Bedeutung zu berücksichtigen. Hinsichtlich unseres Problems kann man den Beitrag dieser Theorien zu einer Transzendentalphilosophie nach der sprachpragmatischen Wende folgendermaßen auf den Punkt bringen: Die Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit fasste die menschliche Erfahrungserkenntnis als etwas auf, das innerhalb eines isolierten und sprachlosen Gemüts stattfinden könne. Nach der erwähnten Wende der Gegenwartsphilosophie muss diese Erkenntnis hingegen für etwas gehalten werden, das durch die Zeichen einer öffentlichen bzw. intersubjektiven Sprache immer schon vermittelt wird und ganz unabhängig von den subjektiven Gewissheiten des Bewusstseins ist. In diesem Zusammenhang hat die analytische Sprechakttheorie die Tatsache zutage gefördert, dass die Sprache nicht aus einem bloßen System von Propositionen besteht, sondern aus Sprechhandlungen, die vom Zeichenbenutzer durchgeführt werden. Durch diese Entdeckung des performativen Charakters der Sprache wird eine echte Transformation der Transzendentalphilosophie nach der Wende in gewisser Weise schon vorbereitet. Jetzt können die Handlungen der Zeichenbenutzer die Rolle spielen, die die klassische Transzendentalphilosophie den Handlungen eines reinen Verstandes zugeschrieben hat, nämlich die der Konstitution sowohl der Erfahrungserkenntnis als auch des Erkenntnisgegenstandes. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass diese sprachpragmatische Ersetzung des bewusstseinsphilosophisch konzipierten Erkenntnissubjekts und seiner Verstandeshandlungen durch die Sprechhandlungen von Zeichenbenutzern im Horizont der analytischen Philosophie überhaupt nicht stattfinden kann, weil diese Philosophie den Begriff eines Transzendentalsubjekts und seiner konstituierenden Handlungen für eine bloß dogmatisch metaphysische Vorstellung hält und deshalb beansprucht, diese Vorstellung durch die Sprachanalyse zu überwinden bzw. aufzulösen. Die analytische Sprechakttheorie hat also einerseits ein unerlässliches Instrument der sprachpragmatischen Transformation der Transzendentalphilosophie geliefert. Andererseits ist aber diese Theorie nicht in der Lage, dieses Instrument zu benutzen, um die erwähnte Transformation wirklich zu leisten. Als Beispiel für die Grenzen der analytischen Perspektive möchte ich daran erinnern, dass Strawson selbst einerseits wichtige Beiträge zur Sprechakttheorie lieferte, die für den universal- bzw. transzenA

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dentalpragmatischen Gesichtspunkt bedeutungsvoll sind 20 , dass er andererseits aber die von dieser Theorie entwickelten Instrumente bei seiner eigenen analytischen Erfahrungsauffassung nicht berücksichtigt. Deshalb kann Strawson nicht erkennen, dass die Konstitution der menschlichen Erfahrung nicht von bloßen Begriffen bzw. einem festen Begriffsschema, sondern von den Sprechhandlungen tätiger Zeichenbenutzer abhängt. Dieser Schritt geht über die Perspektive der analytischen Philosophie hinaus und verweist auf einen anderen Weg der Transformation der Transzendentalphilosophie innerhalb des sprachpragmatischen Gegenwartsrahmens, nämlich auf die Transzendentalpragmatik.

1.3. Die transzendentalpragmatische Frage Wenn die hier zusammengefasste Darstellung des Verhältnisses zwischen Sprachphilosophie und transzendentaler Untersuchung richtig ist, kann man wie folgt in der Argumentation fortfahren: Wie die vorigen Abschnitte gezeigt haben, unterschätzt die klassische Transzendentalphilosophie den Sprachbegriff, weil sie in ihm keine von ihr gesuchte Möglichkeitsbedingung der objektiv gültigen Erkenntnis zu finden erwartet. Daher wird die Sprache hier als ein bloß empirisches Bezeichnungsvermögen betrachtet. Die analytische Philosophie hingegen hat die Sprache ins Zentrum der philosophischen Untersuchungen gestellt und die konstituierenden Handlungen des Erkenntnissubjekts als eine bloße Last der traditionellen Metaphysik betrachtet, die durch die Sprachanalyse überwunden bzw. aufgelöst werden könnte. Die Entwicklung einer Sprechakttheorie und einer Sprachspieltheorie im Rahmen der Ordinary Language Philosophy hat in gewisser Weise den pragmatischen Begriff der Sprechhandlung als Ersatz für den bewusstseinsphilosophischen Begriff einer Verstandeshandlung vorbereitet. Die Transzendentalphilosophie kann jetzt anstelle der Tätigkeiten eines isolierten Selbstbewusstseins die Handlungen von Zeichenbenutzern reflexiv betrachten, um die Möglichkeitsbedingungen der gültigen Erkenntnis zu entdecken und a priori nachweisen zu können. Siehe unten, 7.3. Vgl. Peter Strawson: Intention and Convention in Speech Acts. In: Philos. Rev. 1964, S. 439 ff.; Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 393 ff.

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Nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie muss die Transzendentalphilosophie also zwei Bedingungen gleichzeitig erfüllen. Sie muss als Transzendentalphilosophie einerseits versuchen, die Frage nach den notwendigen Möglichkeitsbedingungen der gültigen Erkenntnis zu beantworten. Aber sie kann andererseits diese Antwort weder durch eine Untersuchung des menschlichen Bewusstseins, des Vermögens des Gemüts und seiner konstituierenden Handlungen, noch durch eine Sprachanalyse einer bestimmten Art von Argumenten bzw. der sog. transzendentalen Argumente liefern. Nach der erwähnten Wende muss die Transzendentalphilosophie als Transzendentalpragmatik weder bestimmte Argumente objektivistisch analysieren noch angebliche Verstandeshandlungen bewusstseinsphilosophisch betrachten, sondern die Sprechhandlungen der Zeichenbenutzer reflexiv und dialogisch betrachten, um in ihr die notwendigen Sinnbedingungen der Argumentation zu suchen. Auf diese Weise wird die transzendentale Geltungsfrage der klassischen Transzendentalphilosophie bzw. die kantsche quaestio iuris in der Transzendentalpragmatik zum Problem der Letztbegründung, das man folgendermaßen formulieren kann: Die Argumentation setzt einige pragmatische Präsuppositionen notwendig voraus, die weder (ohne Selbstwiderspruch) bestritten noch (ohne petitio principii) deduktiv begründet werden können. Um dieses Problem konkret behandeln und veranschaulichen zu können, werden im Folgenden einige Beispiele dieser pragmatischen Präsuppositionen bzw. notwendigen Voraussetzungen dargestellt. 21 (V1): »Wer argumentiert, muss die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners prinzipiell anerkennen, der seine Argumente durch Gegenargumente kritisieren darf.« (V2): »Wer eine These mit Argumenten verteidigt, beansprucht, dass jeder mögliche Argumentationspartner die Gültigkeit seiner These anerkennen muss.«

21 Zu anderen Beispielen siehe: Karl-Otto Apel: Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 81–193, bes. 159–160; Matthias Kettner: Ansatz zu einer Taxonomie performativer Selbstwidersprüche. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 187–211.

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(V3): »Wer argumentiert, muss die einstimmige Zustimmung aller möglichen Argumentationspartner als letzte Instanz für die Einlösung seiner Geltungsansprüche anerkennen.«

Die Notwendigkeit dieser Voraussetzungen zeigt sich einerseits an dem pragmatisch selbstwidersprüchlichen Charakter jedes Versuchs, sie zu bestreiten, und andererseits an dem pragmatischen Zirkelschluss jedes Versuchs, sie zu deduzieren. Man könnte sich den Fall eines Sprechers vorstellen, der die erste Voraussetzung (V1) argumentativ bestreiten möchte, weil er z. B. glaubt, dass Leute, die gelbe Krawatten tragen, kein Recht haben, seine Argumente zu kritisieren. Die These dieses Sprechers wäre: (PSW1): »Ich brauche die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners nicht prinzipiell anzuerkennen.«

Diese These könnte in folgende Sprechhandlungen umgesetzt werden, in denen der performative Teil von Schritt zu Schritt immer expliziter wird. Dieser Prozess des Explizierens kann als Dialog mit diesem Sprecher verstanden werden, in dem wir ihn fragen können, ob er erstens seine These (PSW1) als wahr behauptet oder nicht, zweitens gegenüber wem er seine These als wahr behauptet und drittens wie er die Adressaten seiner Behauptung betrachtet, z. B. als gleichberechtigt oder nicht. Eine negative Antwort auf diese drei Fragen würde bedeuten, dass wir seine Aussage (PSW1) nicht als eine diskutierbare These verstehen könnten bzw. dass er eigentlich keine These behauptet hätte. (PSW1a) »Ich behaupte als gültig (wahr), dass ich die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners nicht prinzipiell anzuerkennen brauche.« (PSW1b) »Ich behaupte als gültig (wahr) gegenüber jedem möglichen Argumentationspartner, dass ich die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners nicht prinzipiell anzuerkennen brauche.« (PSW1c) »Ich behaupte als gültig (wahr) gegenüber jedem möglichen Argumentationspartner, der als gleichberechtigt diesen Teil meiner Argumente durch Gegenargumente kritisieren darf, dass ich die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners nicht prinzipiell anzuerkennen brauche.«

Man könnte sich auch den Fall eines anderen Sprechers vorstellen, der die zweite Voraussetzung (V2) argumentativ bestreiten möchte, weil er z. B. glaubt, dass die Zustimmung seiner Großmutter hinrei36

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chend ist, um seine These als gültig zu beweisen. Die These dieses Sprechers wäre: (PSW2): »Ich beanspruche nicht, dass jeder mögliche Argumentationspartner die Gültigkeit meiner These anerkennen muss.«

Diese These könnte in folgende Sprechhandlungen übersetzt werden, in der der performative Teil von Schritt zu Schritt immer expliziter wird. Dieser Prozess kann wiederum als ein ähnlicher Dialog mit dem Sprecher verstanden werden, in dessen drittem Schritt wir fragen, ob er beansprucht oder nicht, dass wir als seine Argumentationspartner seine Aussage (PSW2) als eine gültige These annehmen müssen. (PSW2a) »Ich behaupte als gültig (wahr), ich beanspruche nicht, dass jeder mögliche Argumentationspartner die Gültigkeit meiner These anerkennen muss.« (PSW2b) »Ich behaupte als gültig (wahr) gegenüber allen möglichen Argumentationspartnern, ich beanspruche nicht, dass jeder mögliche Argumentationspartner die Gültigkeit meiner These anerkennen muss.« (PSW2c) »Ich behaupte als gültig (wahr) gegenüber allen möglichen Argumentationspartnern, die meine These als gültig anerkennen müssen, ich beanspruche nicht, dass jeder mögliche Argumentationspartner die Gültigkeit meiner These anerkennen muss.«

Wenn der gleiche Sprecher auch die dritte Voraussetzung (V3) bestreiten möchte, wäre seine These: (PSW3) »Ich brauche die einstimmige Zustimmung aller möglichen Argumentationspartner als letzte Instanz der Einlösung meines Geltungsanspruchs nicht anzuerkennen.«

Wie bei dem letzten Beispiel könnte diese These in folgende Sprechhandlungen umgesetzt werden, in der der performative Teil von Schritt zu Schritt immer expliziter wird. Dieser Prozess kann ebenfalls als Dialog mit dem Sprecher verstanden werden, in dessen drittem Schritt wir fragen, vor welcher Instanz der mit seiner Sprechhandlung (PSW3) erhobene Gültigkeitsanspruch eingelöst werden kann: (PSW3a) »Ich behaupte als gültig (wahr), ich brauche die einstimmige Zustimmung aller möglichen Argumentationspartner als letzte Instanz der Einlösung meiner Geltungsansprüche nicht anzuerkennen.«

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(PSW3b) »Ich behaupte als gültig (wahr) gegenüber allen möglichen Argumentationspartnern, ich brauche die einstimmige Zustimmung aller möglichen Argumentationspartner als letzte Instanz der Einlösung meiner Geltungsansprüche nicht anzuerkennen.« (PSW3c) »Ich behaupte als gültig (wahr) gegenüber allen möglichen Argumentationspartnern, deren einstimmige Zustimmung ich als letzte Instanz der Einlösung meiner Geltungsansprüche anerkenne, ich brauche die Zustimmung aller möglichen Argumentationspartner als letzte Instanz der Einlösung meiner Geltungsansprüche nicht anzuerkennen.«

Diese Beispiele veranschaulichen, dass sich, wenn jemand versucht, die Gleichberechtigung (V1) oder das Bedürfnis nach der Anerkennung (V2) jedes möglichen Argumentationspartners oder die Zustimmung aller möglichen Argumentationspartner (V3) argumentativ abzulehnen, sich ein besonderes Phänomen ereignet, das folgendermaßen dargestellt werden kann: Auch der Versuch, die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners argumentativ zu bestreiten, setzt notwendigerweise die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners voraus (PSW1c). Auch der Versuch, argumentativ darauf zu verzichten, die pragmatische Forderung, jeden möglichen Argumentationspartner zu überzeugen, setzt notwendigerweise diese Forderung voraus (PSW2c). Auch der Versuch, die einstimmige Zustimmung aller möglichen Argumentationspartner als letzte Instanz der Einlösung der Geltungsansprüche zu ignorieren, erkennt notwendigerweise diese Zustimmung als letzte Instanz an (PSW3c). Dieses Phänomen, das »performativer Selbstwiderspruch« (PSW) genannt wurde, kann man als hinreichenden Nachweis dafür nehmen, dass die erwähnten Voraussetzungen des argumentativen Dialogs (V1, V2, V3) notwendig und unvermeidlich sind, da sie von jedem möglichen Argumentierenden immer schon anerkannt werden müssen. Man könnte sich auch den Fall eines Sprechers vorstellen, der glaubt, dass diese Voraussetzungen in anderen Prämissen begründet werden können oder müssen: z. B. die schon erwähnte Argumentationsvoraussetzung (V1) in der Regel von formeller Gerechtigkeit 22 . Die These unseres Sprechers wäre: Siehe dazu: Chaim Perelman: Über die Gerechtigkeit. München: Beck, 1967, S. 53; Perelman, Ch./Olbrechts.-Tyteca, L.: Traité de l’argumentation. La Nouvelle Rhétorique. 2 Bde., Paris: Presses Univ. de France, 1958, § 52; R. D. Dearin: Justice and Justification in the New Rhetoric; und R. E. Mc. Kerrow: Pragmatic Justification and Perel-

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(PP1) »Die Gleichberechtigung aller möglichen Argumentationspartner muss anerkannt werden, weil Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Weise behandelt werden (i) und jeder mögliche Argumentationspartner zu derselben Kategorie gehört (ii).«

Wie bei den letzten Beispielen könnte diese These in folgende Sprechhandlungen umgesetzt werden, in denen der performative Teil von Schritt zu Schritt immer expliziter wird: (PP1a) »Ich behaupte als gültig (wahr), dass die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners anerkannt werden muss, weil Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Weise behandelt werden (i) und jeder mögliche Argumentationspartner zu derselben Kategorie gehört (ii).« (PP1b) »Ich behaupte als gültig (wahr) gegenüber jedem möglichen Argumentationspartner, dass die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners anerkannt werden muss, weil Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Weise behandelt werden (i) und jeder mögliche Argumentationspartner zu derselben Kategorie gehört (ii).« (PP1c) »Ich behaupte als gültig (wahr) gegenüber jedem möglichen Argumentationspartner, der als gleichberechtigt diesen Teil meines Arguments durch Gegenargumente kritisieren darf, dass die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners anerkannt werden muss, weil Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Weise behandelt werden (i) und jeder mögliche Argumentationspartner zu derselben Kategorie gehört (ii).«

Dieses Beispiel veranschaulicht ein zweites besonderes Phänomen, das »pragmatische petitio principii« (PP) genannt werden könnte 23 : Wenn jemand versucht, die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners durch eine deduktive Ableitung zu begründen, hat er die Anerkennung dieser Gleichberechtigung immer schon vorausgesetzt, weil die Anerkennung dieser Gleichberechtigung eine unhintergehbare Bedingung jedes möglichen Begründungsprozesses überhaupt ist. Mutatis mutandis könnte man ähnliche Beispiele

man’s Philosophical Rhetoric. In: Golden, J. L./Pilotta, J. J. (Hrsg.): Practical Reasoning in Human Affairs. Studies in Honor of Chaïm Perelman. Dordrecht [u. a.]: Reidel, 1986, S. 155–185, 207–225. 23 Es handelt sich um eine pragmatische und nicht eine bloß syntaktisch-semantische bzw. formallogische petitio principii, weil die Schlussfolgerung keine explizite oder implizite Prämisse, sondern eine pragmatische Voraussetzung des ganzen Arguments wiederholt. Zur formallogischen petitio principii siehe: Irving M. Copi: Einführung in die Logik, München: Fink, 1998, S. 65–66. A

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konstruieren, wenn jemand versuchen würde, die anderen zwei erwähnten Argumentationsvoraussetzungen (V2) (V3) zu begründen. Dieses zweite Phänomen (PP) kann man für einen hinreichenden Beweis dafür nehmen, dass die erwähnten Voraussetzungen des argumentativen Dialogs (V1, V2, V3) unhintergehbar sind, da sie von jedem möglichen Argumentierenden immer schon anerkannt werden müssen. Die zwei erwähnten Beweise gelten natürlich nicht nur für unsere Beispiele (V1, V2, V3), sondern auch für jede Aussage, die weder (ohne Selbstwiderspruch) bestritten, noch (ohne petitio principii) durch Ableitung begründet werden kann. Wenn die erwähnten Voraussetzungen der Argumentation wirklich unbestreitbar sind, sind sie notwendig »wahr«, und wenn es wirklich unmöglich ist, sie deduktiv zu begründen, sind sie notwendig »die ersten«. Deshalb kann man sagen, dass diese Behauptungen (V1, V2, V3) erste und wahre Prinzipien der prima philosophia unter den gegenwärtigen Bedingungen der pratagmatic-linguistic turn sind, und dass es unmöglich ist, einen Fehler zu begehen, wenn man diese Voraussetzungen als gültig annimmt. Keinen Fehler kann man identifizieren und korrigieren, ohne diese Voraussetzungen anzuerkennen. 24 Die Darstellung der notwendigen Voraussetzungen der Argumentation wurde »Letztbegründungsargument« genannt und mit Hilfe von verschiedenen Theorien und theoretischen Aussagen erklärt. Ein besonderer Gebrauch der Sprechakttheorie 25 spielte eine Ich werde auf dieses Problem im nächsten Abschnitt noch näher eingehen. Zu dieser Theorie siehe: John L. Austin: How to Do Things with Words; John R. Searle: Speech Acts.; und zum erwähnten Gebrauch: Jürgen Habermas: Was heißt Universalpragmatik. In: Apel, K.-O. (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie, S. 174– 272; ders.: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, S. 369 ff.; Karl-Otto Apel: Sprechakttheorie und tranzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen. In: ders. (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976, S. 10–173; ders.: Die Logos-Auszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Relevanz der Sprechakttheorie. In: Bosshardt, H.-G. (Hrsg.): Sprache interdisziplinär. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 1986, S. 45–87; ders.: Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 81–193; Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik; ders.: Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus. Eine Replik. In: Ztschr. F. Allg. Wissenschaftstheorie, XVI/2, 1985, S. 357–374; ders.: Bemerkungen zum Problem der Letztbegründung. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 212–237; Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußt-

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Die transzendentalpragmatische Frage

bedeutsame Rolle in der Erklärung dieses Arguments. Dieser Gebrauch erlaubte die Differenzierung zwischen dem performativen Teil und dem propositionalen Teil von jedem Sprechakt. Der performative Teil schließt die sogenannte illokutionäre Kraft der Sprechhandlung ein; d. h. dieser Teil weist darauf hin, ob es sich um eine Behauptung, eine Frage, ein Versprechen usw. handelt. Den performativen Teil des Sprechakts kann man durch ein illokutionäres oder performatives Verb in der ersten Person Indikativ klar ausdrücken, z. B.: »Ich behaupte, dass p«; »Ich verspreche, dass p«. Der propositionale Teil des Sprechakts schließt hingegen entweder den Gehalt der Sprechhandlung (p) oder ihre Existenzpräsuppositionen ein 26 . Dieser Gebrauch der Sprechakttheorie wurde mit der pragmatischen Auffassung verbunden, die demonstriert, dass der Sprecher durch seine Sprechhandlungen notwendig Geltungsansprüche erhebt. Der performative Teil des Sprechakts würde diese Ansprüche immer schon enthalten, und sie könnten immer explizit ausgedrückt werden. Der Sprecher, der »p« als wahr behauptet, könnte immer explizit sagen: »Ich behaupte als wahr, dass

« usw. Andere theoretische Instrumente, um das Letztbegründungsargument zu erklären, sind die Unterscheidungen zwischen dem theoretischen Wissen, das die Sprachwissenschaften und Sprachphilosophen über die Sprache haben, und dem strikt reflexiven Wissen des Sprechers. Während die Sprachwissenschaften und die Sprachphilosophie versuchen, die Sprechhandlungen eines Sprechers durch fehlbare Hypothesen zu beschreiben und zu erklären, erhebt der Sprecher hier und jetzt durch seine Sprechhandlungen universelle Geltungsansprüche gegenüber allen möglichen Adressaten. Er würde unfehlbar wissen, wie man eine Aussage behaupten muss. Ich möchte hier die Unterscheidung zwischen den notwendigen Voraussetzungen der Argumentation (z. B.: V1, V2, V3) und den theoretischen Instrumenten betonen, die bis heute benutzt wurden, um diese zu entdecken und darzulegen. (z. B.: Sprechakttheorie, Sprachspieltheorie, Sprachpragmatik usw.). Diese theoretischen Instrumente kann (und muss) man natürlich verbessern oder andere bessere Instrumente einsetzen. Die notwendigen Voraussetzungen

seinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, S. 364 ff. 26 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 417 ff. A

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der Argumentation hingegen kann man nicht ohne Selbstwiderspruch bestreiten. Seit dem Altertum haben viele Philosophen den Anspruch erhoben, gegen den skeptischen Zweifel eine unfehlbare Erkenntnis zu haben. Zurzeit scheint dieser Anspruch vielen gegenwärtigen Philosophen zu überschwänglich für die menschlichen Fähigkeiten. Das Letztbegründungsargument hält dagegen, dass der Mensch fähig ist, absolutes Wissen zu haben. Nach diesem Argument ist es ganz unmöglich, dass sich jemand irrt, wenn er z. B. die Gleichberechtigung jedes möglichen Adressaten seiner Argumentation als potentiellen Sprechpartner anerkennt, der seine Argumente kritisieren oder akzeptieren können muss (V1), oder wenn er beansprucht, dass jeder mögliche Argumentationspartner die Gültigkeit seiner These anerkennen muss (V2), oder wenn er zuletzt die einstimmige Zustimmung jedes möglichen Argumentationspartners als letzte Instanz für die Einlösung seiner Geltungsansprüche anerkennt (V3). Dieser Anspruch von Unfehlbarkeit, der von dem Letztbegründungsargument erhoben wurde, hat viele Einwände hervorgerufen. Ich erwähne hier nur einige Beispiele 27. Erster Einwand: Das Letztbegründungsargument beruht auf den Regeln vom zu vermeidenden (pragmatischen) Selbstwiderspruch und vom logischen Zirkel im Beweis, und diese Regeln müssen noch begründet werden. Deshalb sei das sogenannte Letztbegründungsargument nicht letztbegründet und die Voraussetzungen der Argumentation hintergehbar, weil sie von Regeln abhängen, die noch eine Begründung brauchen 28 . Zweiter Einwand: Das Letztbegründungsargument behauptet, dass, wer eine pragmatische Voraussetzung der Argumentation bestreitet, gleichzeitig diese Voraussetzung als gültig anerkennt. Der Proponent des Letztbegründungsarguments behauptet, dass der Opponent dieses Arguments sich selbst widerspricht, weil er eine Voraussetzung im propositionalen Teil seines Sprechakts ablehnt und im performativen Teil seines Sprechakts akzeptiert. Der Einwand sei,

Die Argumentationsstrategie, die ich hier darlege, könnte man auch gegen die anderen möglichen Einwände anwenden, die hier nicht explizit betrachtet werden. 28 Vgl. Carl F. Gethmann/Reiner Hegselmann: Das Problem der Begründung zwischen Dezisionismus und Fundamentalismus. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, VIII/2, 1977, S. 342–368: 347 ff. 27

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dass der Proponent ohne eine empirische Untersuchung bestimmen will, welche Voraussetzungen der Opponent für seine Argumentation als gültig akzeptieren muss. Der Proponent will dem Opponenten nicht die Chance geben, die Regeln und Voraussetzungen seiner Argumentation frei zu wählen. Dieser Anspruch des Proponenten wäre unbegründbar und überzogen. 29 Dritter Einwand: Der Proponent des Letztbegründungsarguments hält die Vermeidung des logischen Zirkels für ein methodisches Kriterium, das die notwendigen Voraussetzungen der Argumentation zu identifizieren erlaubt. Trotzdem verwickelt er sich in einen logischen Zirkel, weil er behauptet: »Wenn ›p‹ eine notwendige Voraussetzung der Argumentation ist, kann man ›p‹ nicht bestreiten, und wenn man ›p‹ nicht bestreiten kann, ist ›p‹ eine notwendige Voraussetzung der Argumentation.« Nach diesem Einwand widerspricht derjenige sich selbst, der versucht, eine Aussage letztzubegründen, weil er gegen die Regel (die Vermeidung des logischen Zirkels) verstößt, die er selbst etablieren will 30 . Vierter Einwand: Das Letztbegründungsargument setzt eine Theorie der Präsuppositionen voraus. Diese Theorie benutzt einige Begriffe (z. B. Wahrheit, Geltung, Sinn, universelle Gültigkeit usw.), deren Definitionen weder unstrittig noch voll ausgebildet sind. Wir haben keine endgültige Interpretation der Bedeutung dieser Begriffe. Deshalb wäre die Annahme der Voraussetzungen der Argumentation nicht unfehlbar, weil sie eine fehlbare Interpretation dieser Begriffe benutzen muss 31. Fünfter Einwand: Das Wissen, das der Sprecher von den Voraussetzungen der Argumentation hat, kann mangelhaft sein. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass die phylogenetische Entwicklung unserer argumentativen Kompetenz schon zu ihrem Ende gekommen ist. Hingegen ist es vorsichtiger zu glauben, dass, obwohl wir

29 Vgl. Ebenda, S. 348–349; Richard Rorty, Sind Aussagen universelle Geltungsansprüche? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 42, Heft 6, 1994, S. 975- 988: 978 30 Vgl., Peter Rohs: Philosophie als Selbsterhellung von Vernunft. In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.): Philosophie und Begründung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987, S. 363–390: 369 ff. 31 Vgl. Alfred Berlich: Elenktik des Diskurses. Karl-Otto Apels Ansatz einer transzendentalpragmatischen Letztbegründung. In: Kuhlmann, W./Böhler, D. (Hrsg.): Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982, S. 251–287: 270 ff.

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wissen, wie wir argumentieren müssen, wir zukünftige Korrekturen dieses Wissens sinnvoll erwarten können 32 . Sechster Einwand: Obwohl man annehmen könnte, dass es in unserem Handlungswissen etwas wie unhintergehbare Bedingungen der Möglichkeit der Argumentation gibt, muss man auch anerkennen, dass die explizite Rekonstruktion dieser Bedingungen fehlbar ist. Alles, was wir als Philosophen erreichen könnten, sind hypothetische und provisorische Rekonstruktionen, die immer von anderen, besseren ersetzt werden können und müssen. Deshalb – meint der Opponent – sind die Aussagen, die der Proponent des Letztbegründungsarguments für »unvermeidliche und unhintergehbare Argumentationsvoraussetzungen« hält, nur hypothetische Rekonstruktionen, die wie jede andere empirische Hypothese behandelt werden müssen 33 . Die Proponenten des Letztbegründungsarguments haben schon auf diese Einwände sinnvoll geantwortet 34 . Dafür haben sie auf verschiedene begriffliche Unterscheidungen zurückgegriffen, z. B. zwiVgl. Ebenda. Vgl. Jürgen Habermas: Was heißt Universalpragmatik. In: Apel, K.-O. (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976, S. 174–272; ders.: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. Suhrkamp, 1991, S. 185 ff.; Vittorio Hösle: Begründungsfragen des objektiven Idealismus. In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.): Philosophie und Begründung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987, S. 212–267; Alfred Berlich: Elenktik des Diskurses. Karl Otto Apels Ansatz einer transzendentalpragmatischen Letztbegründung. In: Kuhlmann, W./Böhler, D. (Hrsg.): Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel, S. 251–287. 34 Vgl. z. B.: Karl-Otto Apel: Sprechakttheorie und tranzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen. In: ders. (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie, S. 10–173; ders., Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 81–193: 146 ff.; Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegrünndung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, S. 91 ff., 107 ff.; ders.: Bemerkungen zum Problem der Letztbegründung. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, S. 212- 237; Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, S. 369 ff.; ders.: Dialogreflexion als Ergebnis der sprachpragmatischen Wende. Nur das sich wissende Reden und Miteinanderstreiten ermöglicht Vernunft. In: Jürgen Trabant (Hrsg.): Sprache denken. Positionen aktueller Sprachphilosophie, Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch Verl., 1997, S. 145–162; Mattias Kettner: Ansatz zu einer Taxonomie performativer Selbswidersprüche. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, S. 187–211. 32 33

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schen theoretischen und reflexiven Perspektiven, zwischen theoretischer und reflexiver Begründung, zwischen der Korrektur der faktischen Hypothesen und der Selbstkorrektur der transzendentalen Voraussetzungen, zwischen empirischer und maieutischer Entdeckung, auf die transzendentale Differenz zwischen empirischen Aussagen und den unhintergehbaren Argumentationsvoraussetzungen sowie auf die Unterscheidung zwischen bloßer Reflexion und strikter bzw. aktueller Dialogreflexion usw. Diese Diskussion zwischen dem Proponenten und dem Opponenten des Letztbegründungsarguments hat dazu beigetragen, den Bereich dieses Arguments zu erklären. Trotzdem wurde – so weit ich sehe – der Kernpunkt des Problems von den erwähnten Einwänden nicht getroffen. Dieser Kernpunkt heißt: Es gibt einige Voraussetzungen der Argumentation, die unbestreitbar sind, z. B.: »Wer argumentiert, muss die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners prinzipiell anerkennen, der seine Argumente durch Gegenargumente kritisieren darf«; »Wer eine These mit Argumenten verteidigt, beansprucht, dass jeder mögliche Argumentationspartner die Gültigkeit seiner These anerkennen muss«; »Wer argumentiert, muss die einstimmige Zustimmung jedes möglichen Argumentationspartners als letzte Instanz für die Einlösung seiner Geltungsansprüche anerkennen«. Ein echtes Bestreiten des Letztbegründungsarguments müsste diese Argumentationsvoraussetzungen in Frage stellen, d. h.: beweisen, dass sie nicht notwendig »die wahren und die ersten« sind. Meines Erachtens beschäftigen sich die erwähnten Einwände gegen das Letztbegründungsargument nicht damit zu beweisen, dass die unhintergehbaren Voraussetzungen der Argumentation bestritten werden können. Diese Einwände greifen hingegen nebensächliche Aspekte des Letztbegründungsarguments an, bzw. sie bestreiten nicht genau die These, die dieses Argument begründet: Bestimmte Aussagen sind universale und notwendige Sinnbedingungen der Argumentation (z. B.: V1, V2 und V3) 35 . Der erste Einwand behauptet, 35 Auch Marcel Niquet greift durch seine Einwände nicht diese These sondern nur nebensächliche bzw. erklärende Aspekte des Arguments an, z. B.: die Begriffe der strikten Reflexion, der maieutischen Entdeckung, des selbsttransformierten Wissens, der paradigmatischen Evidenz, usw. Er versucht aber leider nicht, konkrete und partikulare Beispiele von inhaltsreichen und unhintergehbaren schon explizierten Argumentationsvoraussetzungen direkt zu bestreiten, z. B.: die oben erwähnten Voraussetzungen V1, V2 und V3. Siehe dazu: Marcel Niquet: Nichthintergehbarkeit und Diskurs. Prolegome-

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dass die Regel vom zu vermeidenden (pragmatischen) Selbstwiderspruch und dem Zirkel im Beweis begründet werden muss. Aber das ist noch nicht ein Einwand gegen die Unhintergehbarkeit der Voraussetzungen der Argumentation, die durch diese Regel entdeckt wurde. Der Opponent, der das Letztbegründungsargument bestreiten will, müsste beweisen können, dass vom vermeintlichen Mangel einer Begründung dieser Regel eine Negation einer Argumentationsvoraussetzung abgeleitet werden kann; z. B. eine Negation der erwähnten Voraussetzung: »Wer argumentiert, erkennt gleichberechtigt jeden möglichen Adressaten seiner Argumentation als einen potentiellen Sprechpartner an, der seine Argumente kritisieren oder akzeptieren können muss.« Wenn der Opponent diese Voraussetzung der Argumentation bestreiten würde, müsste er sagen: »Ich brauche die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners prinzipiell nicht anzuerkennen«, usw. Wenn sich jemand beschränkt, zu behaupten, dass die Regel vom zu vermeidenden Selbstwiderspruch noch unbegründet bleibt, stellt er noch nicht die Voraussetzungen der Argumentation in Frage, die durch diese Regel entdeckt wurden. Sein Einwand betrifft nicht die These, die den Kern des Letztbegründungsarguments bildet: Die Argumentationsvoraussetzungen (z. B. V1, V2, V3) sind notwendig gültig. Der zweite Einwand behauptet, dass der Sprecher die Voraussetzungen seiner Argumentation frei wählen darf. Nur wenn aus dieser Behauptung abgeleitet werden kann, dass die Voraussetzungen (z. B.: V1, V2, V3) bestritten werden könnten, dann würde dieser Einwand den Kernpunkt des Letztbegründungsarguments angreifen. Um einen echten Einwand gegen dieses Argument zu formulieren, müsste der Opponent direkt und klar sagen: »Ich lehne frei die Voraussetzungen V1, V2. V3 ab« und durch Argumente diese Entscheidung verteidigen. Nur unter diesen Bedingungen wäre der zweite Einwand ein Einwand gegen das Letztbegründungsargument. Der dritte Einwand behauptet, dass das Letztbegründungsargument widersprüchlich sei, weil es die Regel, den logischen Zirkel zu vermeiden, gleichzeitig fordere und übertrete. Man kann jetzt die na zu einer Diskurstheorie des Transzendentalen. Berlin: Duncker & Humblot, 1999, S. 25–56. Zur Kritik der von Niquet vorgeschlagenen und genannten revisionären Transzendentalpragmatik siehe: Wolfgang Kuhlmann: Bemerkungen zum Problem der Letztbegründung. In: Dorschel, A. [u.a] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, S. 212- 237, bes. 224–237.

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Tatsache beiseite lassen, dass es in diesem Argument keinen Zirkel gibt, sondern die Beziehung zwischen ratio essendi und ratio cognoscendi 36 . Unsere Pointe ist, dass, selbst wenn es einen logischen Zirkel im Letztbegründungsargument geben würde, der Opponent dennoch die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners anerkennen müsste, der seinen Einwand gegen das Letztbegründungsargument kritisieren dürfte. Auch wenn es einen logischen Zirkel geben würde, müsste der Opponent auf die Zustimmung jedes möglichen Argumentationspartners als letzte Instanz für die Einlösung seiner Geltungsansprüche zurückgreifen usw. Der Verdacht eines logischen Zirkels in dem Letztbegründungsargument bedeutet keine Widerlegung der Argumentationsvoraussetzungen. Denn wenn der Opponent dieses Arguments mit seinem Vorwurf von einer logischen Kreisförmigkeit einen Wahrheitsanspruch erhebt, hat er auch die notwendigen Argumentationsvoraussetzungen immer schon in Anspruch genommen. Der vierte Einwand weist darauf hin, dass das Letztbegründungsargument von einer fehlbaren Interpretation von Begriffen wie »Wahrheit«, »Geltung«, »Sinn« usw. abhänge und deshalb dieses Argument keine Unfehlbarkeit beanspruchen könne. Die entscheidende Frage ist hier, ob von der sogenannten fehlbaren Interpretation eine echte Bestreitung der Voraussetzungen der Argumentation abgeleitet werden kann. Um diese Bestreitung zu formulieren, ist es nicht hinreichend zu vermuten, dass diese Voraussetzungen fehlbar sind. Man müsste hingegen auch darauf hinweisen können, unter welchen Bedingungen eine Voraussetzung der Argumentation ungültig wäre; z. B.: unter welchen Bedingungen wäre die folgende Norm ungültig: »Nur die Güte der Argumente (und nicht z. B. Interessen oder Zwang) soll das Ergebnis eines Diskurses bestimmen« oder die schon erwähnten Argumentationsvoraussetzungen (V1, V2, V3). Der fünfte Einwand hofft auf zukünftige Verbesserungen der menschlichen argumentativen Kompetenz und zukünftige Korrekturen unseres »Wissens davon, wie man argumentiert«, bzw. unseres Handlungswissens. Trotzdem wäre diese Hoffnung nur dann ein wirklicher Einwand gegen die transzendentalpragmatischen Voraussetzungen, wenn sie hier und jetzt diese Voraussetzungen vermeiden 36 Vgl. Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, S. 93.

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könnte; d. h.: Es handelt sich um keinen Einwand gegen die notwendigen Voraussetzungen der Argumentation, sondern um eine Voraussage eines möglichen zukünftigen Einwands, die von einem zukünftigen Opponenten formuliert werden könnte. Wer jetzt auf diesen Einwand hofft, glaubt, dass ein künftiger Opponent eine dergestalt entwickelte Argumentationskompetenz haben könnte, dass sie ihm erlaubte, die gegenwärtigen Argumentationsvoraussetzungen zu vermeiden. Trotzdem muss der gegenwärtige Sprecher, der diese Voraussage behauptet, hier und jetzt die Zustimmung aller möglichen Adressaten seiner Behauptung noch erwarten und seine Gleichberechtigung noch anerkennen, d. h. er muss die Voraussetzungen der Argumentation notwendig anerkennen oder besser: er hat die Gültigkeit dieser Voraussetzungen immer schon anerkannt. Der sechste Einwand unterscheidet zwischen den Bedingungen der Möglichkeit der Argumentation (know how) und der fehlbaren Rekonstruktionen dieser Bedingungen (know that). Der Opponent des Letztbegründungsarguments behauptet also, die vom Proponenten entdeckten Voraussetzungen der Argumentation seien nur hypothetische und fehlbare Rekonstruktionen dieser Voraussetzungen. Seiner Meinung nach sind diese Rekonstruktionen weder letztbegründet noch unfehlbar. Man kann erwarten, so der Opponent, dass sie in Zukunft durch bessere hypothetische Rekonstruktionen widerlegt werden. Im Unterschied zu dem fünften Einwand, der eine künftige Entwicklung der menschlichen argumentativen Kompetenz erwartet, ruht hier die Hoffnung auf dem Fortschritt der rekonstruktiven Wissenschaften. Aber um den Kernpunkt des Letztbegründungsarguments zu treffen, müsste diese Hoffnung hier und jetzt einen Grund zur Widerlegung einer Voraussetzung der Argumentation liefern. Gegen diese Möglichkeit kann man geltend machen, dass der sprachliche Ausdruck dieser Hoffnung die Gültigkeit der Argumentationspräsuppositionen notwendigerweise voraussetzen muss. Die Voraussage einer Kritik darf nicht als aktuelle Kritik gelten, besonders, wenn diese Voraussage das Objekt dieser künftigen Kritik hier und jetzt als gültig annehmen muss. Wenn diese Analyse der erwähnten Einwände richtig ist, könnte man zwei verschiedene Aspekte des Letztbegründungsarguments unterscheiden: die Voraussetzungen der Argumentation, die als unbestreitbar durch dieses Argument begründet werden, und die theoretischen Begriffe, die bis heute als Instrumente benutzt wurden, um diese Voraussetzungen zu erklären. Im Gegensatz zu den aufgedeck48

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ten und begründeten notwendigen Voraussetzungen der Argumentation sind diese theoretischen Instrumente fehlbar, und man muss deshalb immer versuchen, sie durch andere bessere Instrumente zu ersetzen. Die Diskussionen über die Kriterien der Unterscheidungen von Sprechakten, über die Klassifikation des Sprechaktes, über die Idee eines Geltungsanspruchs sind hinreichend, um das Korrekturbedürfnis der theoretischen Instrumente der Sprachphilosophie nachzuweisen. Trotzdem muss man hier betonen, dass der Fortschritt der sprachphilosophischen Erkenntnis, der als Ergebnis dieser Diskussionen erwartet werden könnte, die Gültigkeit der Voraussetzungen der Argumentation nicht betrifft. Weil jeder mögliche Teilnehmer einer Diskussion (auch einer sprachphilosophischen Diskussion) diese Voraussetzungen immer schon anerkannt hat; z. B. die Sprachphilosophen, die über die richtige Klassifikation des Sprechaktes oder über die Definition der Wahrheit oder über die Idee von Geltungsansprüchen diskutieren, müssen das gleiche Recht für jeden möglichen Argumentationspartner dieser Diskussion und seine einstimmige Zustimmung als letzte Instanz für die Einlösung seiner Geltungsansprüche immer schon anerkannt haben. In diesen Diskussionen darf kein Sprachphilosoph z. B. sagen: »Ich antworte auf keinen Einwand von Philosophen, die gelbe Krawatten tragen«, oder »ich beanspruche, durch meine Argumente nur meine Großmutter zu überzeugen«. Wenn – wie schon gesagt – die Diskussionen über die sprachphilosophischen Instrumente das Korrekturbedürfnis dieser Instrumente darstellen können, könnte man nach dem Sinn der erwähnten Diskussionen über die Argumentationsvoraussetzungen fragen. Wie darf der Proponent des Letztbegründungsarguments sinnvoll behaupten, dass die Argumentationsvoraussetzungen »unbestreitbar« sind, wenn er die Einwände seiner Opponenten beantworten müsste? Kurz und klar: Was heißt, dass eine Argumentationsvoraussetzung »unbestreitbar« ist? Die Voraussetzungen des argumentativen Dialogs sind faktisch Gegenstand einer Diskussion zwischen dem Proponenten und dem Opponenten des Letztbegründungsarguments geworden. Wie jeder Gegenstand einer Diskussion sind sie Inhalt einer These, die der Proponent argumentativ zu verteidigen versucht und der Opponent argumentativ zu bestreiten versucht. Als von dem Proponenten des Letztbegründungsarguments verteidigte These werden die unvermeidlichen Voraussetzungen der Argumentation der Kritik des Opponenten prinzipiell ausgesetzt. Die schon erwähnten EinA

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wände und Repliken in Bezug auf das Letztbegründungsargument weisen darauf hin, dass diese Voraussetzungen, wie jede mögliche These, vor den »Gerichtshof der Vernunft« gestellt werden 37 . Auch in diesem Fall erhebt der Sprecher (bzw. der Proponent des Letztbegründungsarguments) Geltungsansprüche für seine Äußerungen (bzw. die Voraussetzungen der Argumentation) gegenüber jedem möglichen Argumentationspartner, der prinzipiell diese Ansprüche kritisieren darf. Trotzdem kann man – meines Erachtens – einen wesentlichen und bedeutsamen Unterschied zwischen der erwähnten Diskussion über die Voraussetzungen der Argumentation und jeder anderen möglichen argumentativen Diskussion klar identifizieren. Obwohl der Opponent in allen Fällen das Recht hat, die These der Proponenten zu bestreiten, kann er dieses Recht niemals schon anwenden, wenn es sich bei dem von ihm Bestrittenen um eine notwendige Voraussetzung der Argumentation handelt. Mit anderen Worten kann man sagen, dass man immer versuchen darf und kann, die Voraussetzungen der Argumentation zu bestreiten, aber dieser Versuch ist immer schon zum Scheitern verurteilt. Wer die Voraussetzungen der Argumentation zu bestreiten versucht, muss sie gleichzeitig und unvermeidlich implizit als gültig anerkennen. Um dieses besondere Phänomen zu erklären, wurde gesagt, dass eine Argumentationsvoraussetzung ein Satz ist, »den man nicht verstehen kann, ohne zu wissen, dass er wahr ist« 38 . Deshalb könnte man sagen, dass der, der eine Argumentationsvoraussetzung bestreiten will, sie nicht richtig verstanden hat. Dieses notwendige Scheitern jedes möglichen Versuchs, die Voraussetzungen der Argumentation zu bestreiten, kann man als Beweis dafür nehmen, dass wir hier an die Grenze der argumentativen Vernunft gestoßen sind. Diese Voraussetzungen sind nicht jenseits, sondern diesseits jeder möglichen sprachphilosophischen Diskussion und diesseits jeder möglichen argumentativen Diskussion überhaupt. Deshalb kann man behaupten, dass diese Voraussetzungen die Bedingung der Möglichkeit jedes argumentativen Dialogs sind. Man kann immer jenseits der Grenze der kritisch-argumentativen Vernunft gehen, aber wer sich jenseits dieser Grenze vorVgl.: KrV, A XI–XII. Karl-Otto Apel: Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 81–193: 185. 37 38

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wagen will, verzichtet darauf, diese Entscheidung argumentativ zu rechtfertigen. 39

1.4. Letztbegründungsproblem und Korrekturbedürfnis Im letzten Abschnitt wurde dargelegt, dass die unhintergehbaren Argumentationsvoraussetzungen durch eine strikte Reflexion des performativen Teils der Sprechhandlungen entdeckt werden können und durch die Konfrontation des performativen und des propositionellen Teils dieser Handlung bzw. durch das Kriterium des performativen Selbstwiderspruchs als transzendentalpragmatische Bedingungen der Möglichkeit der sinnvollen Rede letztbegründet werden können. Die Unbestreitbarkeit dieser Bedingungen wurde durch die Berücksichtigung des notwendigen Scheiterns jedes möglichen Einwands des Letztbegründungsarguments nachgewiesen. Die philosophische Diskussion um dieses Argument muss die von diesem Argument letztbegründete These notwendigerweise voraussetzen. Strenggenommen kann man eigentlich eine Diskussion um die Gültigkeit dieses Arguments und seines transzendentalphilosophisch begründeten Resultat nicht beginnen. Der Proponent kann durch diese Diskussion nur versuchen nachzuweisen, dass die verschiedenen Opponenten dieses Arguments bzw. die Skeptiker, uneingeschränkte Fallibilisten, Relativisten, Kontextualisten, usw. die durch dieses Argument begründete Aussage notwendigerweise voraussetzen müssen, insofern sie als Diskurspartner an dieser Diskussion teilnehmen. Die hervorragende Leistung, die die Transzendentalpragmatik in dieser Diskussion erzielen kann, besteht darin, dass diese hartnäckigen Opponenten durch ihre selbstwidersprüchlichen Einwände immer die Gelegenheit bieten, sowohl die bisher noch nicht expliziten transzendentalen Argumentationsvoraussetzungen zu Tage zu bringen und auch die schon überprüften Voraussetzungen besser zu erläutern. 39 »Diese müssen die Grenzen der menschlichen Vernunft sein. Und wer auch sich ihnen entziehen will, der sehe zu, dass er sich nicht der ganzen Menschheit entziehe.« Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (1744). Hrsg. von Hösle, V./Jermann, Ch. Hamburg: Meiner, 1990, Bd. I, S. 157–158 § 360. Zu einer transzendentalpragmatischen Interpretation dieser Warnung von Giambattista Vico siehe: Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie. Bd. II. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973, S. 257 ff.

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An dieser Stelle muss man eine zumindest scheinbare Spannung in der Transzendentalerkenntnis nach der sprachpragmatischen Wende näher betrachten, nämlich die angebliche Unvereinbarkeit des Letztbegründungsarguments mit dem revidierbaren bzw. korrigierbaren Charakter der Formulierung seiner Resultate. Diese Spannung kann folgendermaßen dargelegt werden. Einerseits muss das im letzten Abschnitt präsentierte Argument bestimmte philosophische Aussagen als unbestreitbar begründen, insofern sie nur die Explikation des in unseren Argumentationsakten notwendigerweise vorausgesetzten performativen Handlungswissens enthalten. Andererseits muss man aber anerkennen, dass die Formulierung dieser Aussage bzw. diese Explikation des Handlungswissens immer korrigierbar sein muss, weil sie durch bessere Formulierungen ersetzt werden kann und muss, durch Formulierungen nämlich, die den Inhalt dieses Wissens in einer propositionalen Form genauer ausdrücken können. Die Frage ist also, ob eine Aussage, deren Formulierung noch korrigierbar ist, für gültig bzw. prinzipiell unbestreitbar gehalten werden kann, mit anderen Worten, ob die Unfehlbarkeit der letztbegründeten Argumentationsvoraussetzungen mit der Anerkennung der Möglichkeit, die propositionale Explikation dieser Voraussetzungen zu revidieren bzw. zu korrigieren, zu vereinbaren ist. Eine erste schon von Karl-Otto Apel benutzte Strategie, diese Frage zu beantworten, beruht auf der transzendentalen Differenz zwischen empirischen Hypothesen und philosophischen Aussagen über deren Geltungsbedingungen und dem entsprechenden »Unterschied zwischen der möglichen Revision der ersteren und der möglichen Revision der letzteren«. 40 Dieser Unterschied besteht in den Gründen, die bei jedem Revisionstyp eine entscheidende Rolle spielen. Bei der möglichen Revision von empirischen Hypothesen sind diese Gründe empirisch externe Evidenzen. Bei der möglichen Revision philosophischer Explikationshypothesen sind die Gründe hingegen die paradigmatischen Evidenzen bzw. das unfehlbare performative Handlungswissen der Argumentationspräsuppositionen, die gegen die Resultate ihrer Explikationen aufgeboten werden können. 41 40 Karl-Otto Apel: Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 81–193: 188. 41 Zum transzendentalpragmatischen Gebrauch des sprachspieltheoretischen Begriffs der paradigmatischen Evidenz siehe unten 2.5.

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Diese erste Antwort auf die Frage nach der angeblichen Unvereinbarkeit zwischen dem Letztbegründungsargument und dem Korrekturbedürfnis seiner Resultate wurde durch einige logisch-semantische Bemerkungen über die Rolle der Definitionen bei der Einschränkung der umgangssprachlichen Vagheit der Wortbedeutungen und den Nachweis des selbstwidersprüchlichen Charakters eines holistischen Unbestimmtheitsprinzips ergänzt. Im Folgenden wird eine zweite Antwortstrategie auf die erwähnte Frage präsentiert. Diese zweite Strategie beruht auf dem Unterschied zwischen zwei Arten von argumentativem Dialog. Durch den ersten versuchen die Dialogpartner die Gültigkeit einer Aussage zu beweisen oder zu bestreiten, d. h., sie versuchen zu bestimmen, ob eine Aussage wahr, richtig oder wahrhaftig ist. Dieser argumentative Dialog um die Gültigkeit einer Aussage kann von einer anderen Art von Diskussion unterschieden werden, nämlich um die Formulierung einer Aussage. Die Formulierung einer Aussage kann nicht als falsch, unrichtig oder unwahrhaftig, sondern z. B. als unverständlich, vage oder zweideutig bestritten werden. Bei dieser Art von Diskussion bzw. von argumentativem Dialog handelt es sich um die Präzisierung der Bedeutung einer Aussage und nicht um ihre Gültigkeit. Man stellt die Frage nach dieser Bedeutungspräzisierung, um mögliche oder aktuelle Missverständnisse beseitigen zu können. Man stellt hingegen die Frage nach der Gültigkeit, um den mit einer Behauptungshandlung erhobenen Geltungsanspruch einlösen zu können, bzw. um zu bestimmen, ob dieser Anspruch begründet oder bestritten werden kann und ob sie deshalb für eine ideale und unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft akzeptabel ist. Der Unterschied zwischen der Frage nach der Gültigkeit einer Aussage und der Frage nach der Genauigkeit ihrer Formulierung ist klar erkennbar. Die logische Beziehung zwischen beiden Fragen erscheint aber nicht so einfach. Auf den ersten Blick könnte man glauben, die Frage nach der Gültigkeit einer Aussage könne erst nach der definitiv genauen Präzisierung der Bedeutung dieser Aussage gestellt werden. Nach dieser Annahme setzt das Stellen der Geltungsfrage schlechthin voraus, dass z. B. die Diskurspartner, die diese Frage zu beantworten versuchen, eine eindeutige Bedeutung der durch ihren Dialog betrachteten Aussage schon kennen, wenn sie die Beantwortungsarbeit beginnen. Der angebliche Grund dieser Unterstellung besteht darin, dass die Diskurspartner die Gültigkeit nur von definitiv schon genau verstandenen Aussagen durch Argumente bestreiten A

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und begründen können. Hinsichtlich unserer Problematik der Vereinbarkeit von Letztbegründungsargument und Korrekturbedürfnis seiner Resultate wäre eine logische Konsequenz dieser Unterstellung folgende. Eine Aussage, deren Formulierung noch korrekturbedürftig wäre, könnte noch nicht für wahr oder falsch gehalten werden, aber genau deshalb könnte sie auch nicht als wahr begründet oder letztbegründet werden. Die Frage ist nun, ob die erwähnte Unterstellung wirklich sinnvoll ist. Der Grund des in dieser Frage impliziten Zweifels kann folgendermaßen präsentiert werden. Wenn in einem Diskurs um die Gültigkeit einer Aussage die von jedem Diskurspartner verstandene Eindeutigkeit dieser Aussage vorausgesetzt würde, wäre die Durchführung eines Diskurses fast unmöglich. Nur innerhalb einer logisch-mathematischen Konstruktsprache, wo die Bedeutungen durch konventionelle Definitionen eindeutig festgesetzt werden können, kann man gewissermaßen mit eindeutigen Termini rechnen. Diese konventionelle Festsetzung kann selbst aber durch eine Konstruktsprache allein nicht durchgeführt werden. Um eine Konstruktsprache aufbauen zu können, braucht man notwendigerweise die Hilfe der Natursprache, deren Elemente Vagheit, Ungenauigkeit und Zweideutigkeit unvermeidlich enthalten. Nur dank der Natursprache können die Regeln einer Konstruktsprache angewendet bzw. die innerhalb einer Konstruktsprache ausführbaren Operationen als sinnvolle Sprechhandlungen verstanden werden. Die Förderung von definitiver Genauigkeit und Eindeutigkeit ist aber in bezug auf die für die menschliche Kommunikation unentbehrliche Natursprache von vornherein übertrieben. Wenn die Genauigkeit und die Eindeutigkeit einer Aussage die Bedingung eines Diskurses um die Gültigkeit dieser Aussage wäre, könnte also dieser Diskurs niemals stattfinden. Über die Beziehung zwischen Diskurs und Genauigkeit können zwei Bemerkungen gemacht werden. Einerseits muss man beachten, dass eine Diskussion um die Formulierung einer Aussage erst dann anfängt, wenn ihre Bedeutung von den Dialogpartnern wirklich als unklar, vage oder zweideutig wahrgenommen wird, und sie endet mit dem Bedeutungserklärungen und Definitionen, die in einem bestimmten faktischen Kontext hinreichend sind, um den Sinn der Aussage zu verstehen. Andererseits aber kann man auch klar sehen, dass die definitive Genauigkeit und Eindeutigkeit nur ein Ziel eines diskursiven Prozesses sein können, in dem man durch bessere Formulie54

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rungen einer Aussage versucht, ihre Vagheit und ihre Zweideutigkeit einzuschränken. Obwohl dieses Ziel eine regulative Idee ist 42 , die den Diskurs nur orientieren kann, und genau deshalb im Zeitlauf als ein Diskursresultat niemals erreicht werden kann, kann man trotzdem die Gültigkeit von besser oder schlechter formulierten Aussagen sowieso bestreiten oder begründen. Der erwähnte Unterschied und die relative Unabhängigkeit zwischen dem Begründungsprozess einer Aussage und dem Prozess der Korrektur seiner Formulierung können im Fall des Letztbegründungsarguments und den korrigierbaren Formulierungen seiner Resultate angewandt werden. Die propositionale Formulierung einer Argumentationsvoraussetzung kann immer korrekturbedürftig sein, trotz des unbestreitbaren Charakters dieser Voraussetzung, weil die Korrektur der Formulierung die Gültigkeit der Voraussetzung nicht betrifft. Um dieses Problem besser erklären zu können, kann man die These der Unvereinbarkeit des Letztbegründungsarguments mit dem Korrekturbedürfnis der Formulierung seiner Resultate näher betrachten. Das Entscheidende bei diesem Problem ist, dass der Proponent dieser These zwei Sinnbedingungen seiner Behauptungshandlung notwendigerweise als gültig voraussetzen muss. Er muss einerseits annehmen, dass seine These hier und jetzt als wahr verstanden werden kann. Andererseits aber muss er auch voraussetzen, dass die Formulierung seiner These bei einer Missverständnissituation korrigiert werden könnte. Zum Beispiel kann man vielleicht in Zukunft gute Gründe dafür entdecken, bei denen das Wort »Unvereinbarkeit« bei dieser These durch »Inkohärenz«, »Widerspruch« oder »Gegensatz« ersetzt werden muss, weil durch diesen Wortersatz eine genauere Formulierung dieser These geschaffen werden könnte. Diese beiden Sinnbedingungen liegen implizit im performativen Teil der Sprechhandlung, durch die die These der Unvereinbarkeit als verständliche Aussage von dem Proponenten behauptet wird. Diese Sprechhandlung kann folgendermaßen präsentiert werden:

42 Zur semiotischen Erklärung des regulativen Charakters des Genauigkeitsbegriffs siehe: Charles Sanders Peirce: Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Bd. 5. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 1934, §§ 448–450 (= CP: 5.448–450); Gerd Wartenberg: Logischer Sozialismus. Die Transformation der kantschen Transzendentalphilosophie durch Ch. S. Peirce. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971, S. 212–216.

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»Ich behaupte als wahr die folgende Aussage, deren Formulierung ich gleichzeitig korrigierbar anerkenne: die Behauptung der Wahrheit einer Aussage ist mit der Anerkennung der Korrigierbarkeit ihrer Formulierung unvereinbar.«

Diese Sprechhandlung hat offensichtlich eine Schwierigkeit, die eben darin besteht, dass die in dem propositionalen Teil dieser Handlung behauptete These (bzw. nach dem Doppelpunkt) verneint, was in ihrem performativen Teil (bzw. vor dem Doppelpunkt) notwendigerweise vorausgesetzt wird. Diese Voraussetzung wird hier explizit präsentiert, aber sie ist auch implizit, wenn die erwähnte These der Unvereinbarkeit mit Sinn- und Wahrheitsanspruch von dem Proponenten behauptet wird. Die reflexive Berücksichtigung des hier als These präsentierten Einwands gegen das Letztbegründungsargument erlaubt also klar zu sehen, dass auch der Opponent dieses Arguments, der diesen Eiwand vorbringt, einerseits seinen Einwand als wahr behauptet und andererseits die Korrigierbarkeit der Formulierung seines Einwands anerkennen muss. 43 Ein erster Aspekt dieser Handlung, der berücksichtigt werden muss, ist, ob sie die Resultate des Letzbegründungsarguments wirklich betrifft. Im propositionellen Teil spricht diese These über die »Wahrheit einer Aussage« im Allgemeinen und nicht über die notwendige Wahrheit einer letztbegründeten Aussage bzw. ist ein Resultat des Letztbegründungsarguments. Dieser Unterschied der Art und Weise, wie eine Aussage als wahr behauptet wird, ist für unser Problem eigentlich nicht relevant, weil es darin besteht, ob jemand, der eine Aussage als wahr behauptet, die Korrigierbarkeit der Formulierung dieser Aussage gleichzeitig anerkennen muss. Es handelt sich hier also nicht um die Sicherheit, mit der jemand die Wahrheit einer Aussage erkennt bzw. als eine bloße Hypothese oder als eine letztbegründete Aussage ansieht, sondern es handelt sich um die Beziehung zwischen der Wahrheit einer Aussage und ihrer Formulierung. Die Vereinbarkeit der Wahrheit einer Aussage mit der Korrigierbarkeit seiner Formulierung ist also nicht etwas, das nur dem Proponenten des Letztbegründungsarguments eingeräumt werden muss, sondern etwas, das jeder Sprecher, der eine Aussage als wahr Genau diese reflexive Berücksichtigung fehlt bei der von Niquet vorgebrachten Kritik der von Apel vorgeschlagenen internen Selbstkorrektur der Argumentationsvoraussetzungen. Siehe dazu: Marcel Niquet: Nichthintergehbarkeit und Diskurs. Prolegomena zu einer Diskurstheorie des Transzendentalen, S. 57–62.

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Die transzendentalpragmatische Frage

behauptet, bzw. auch der Opponent dieses Arguments als Bestanteil seines Handlungswissens von vornherein anerkennen muss. Wenn nur präzise bzw. eindeutig formulierte Aussagen als wahr angenommen, als falsch bestritten und als sinnvoll verstanden werden könnten, könnten wir nicht einmal das hier dargelegte Problem verstehen. Eine eindeutig formulierte Aussage ist immer das gesuchte Resultat eines diskursiven Prozesses, durch den man versucht, die Bedeutung einer Aussage zu erklären bzw. zu präzisieren. Der Anfang dieses Prozesses kann z. B. ein von der Zweideutigkeit dieser Aussage verursachtes Missverständnis sein. In einem bestimmten Kontext, wo z. B. ein Missverständnis der Bedeutung einer Aussage vorliegt, kann also diese Aussage als zweideutig zurückgewiesen werden. Erst nach der Anerkennung des Missverständnisses und der entsprechenden verursachten Zweideutigkeit kann man sinnvoll versuchen, die vom Sprecher intendierte Bedeutung einer Aussage zu erklären. Das erfolgreiche Resultat dieses Versuchs ist eine zweite Aussage, die in diesem Kontext für eindeutig gehalten werden kann, weil sie ermöglicht, dieses Missverständnis zu beseitigen. In einem künftigen Zusammenhang kann aber auch dieses Resultat neue Missverständnisse produzieren und als vage und zweideutig zurückgewiesen werden. Eine definitiv eindeutige Aussage ist also das immer gesuchte, aber niemals schon faktisch erreichte Ziel eines diskursiven Prozesses, durch den die Bedeutung einer anderen als zweideutig zurückgewiesenen Aussage präzisiert werden kann. Der in diesem Abschnitt vorgeschlagene Unterschied zwischen der Ebene der Gültigkeit einer Aussage und der Ebene seiner besseren oder schlechteren Formulierung fordert aber nicht, die verstandene Bedeutung einer Aussage als völlig sprachunabhängig aufzufassen. Die sprachpragmatische Wende der Gegenwartsphilosophie ermöglichte, die traditionellen bzw. die sog. metasprachlichen oder gegenstandstheoretischen Bedeutungstheorien zu überwinden. Diese Theorien fassen die Bedeutung der menschlichen Gedanken als etwas auf, das vor oder außerhalb der Sprache oder der Sprachkompetenz stattfinden kann, und die Sprache als bloß externes Instrument der Mitteilung von diesen an sich sprachunabhängigen Gedanken. Diese traditionelle Bedeutungstheorie entspricht gewissermaßen dem Gesichtspunkt des methodischen Solipsismus der Bewusstseinsphilosophie. Es gibt verschiedene Versionen dieses Gesichtspunkts, z. B. die platonische Version Augustinus’, die empiristische Version Lockes und die oben erwähnte Version Kants und Fichtes. Die sprachpragA

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matische Wende der Gegenwartsphilosophie hat die Sinnlosigkeit der Vorstellung der von diesen Theorien behaupteten oder zumindest implizit unterstellten sprachunabhängigen bzw. sprachlosen Gedanken nachgewiesen. 44 Die Gültigkeit dieses sinnkritischen Einwands, die die Sprachspieltheorie gegen die traditionelle Bedeutungstheorie vorgebracht hat, muss natürlich akzeptiert werden. Trotzdem muss man Folgendes betrachten, um den oben schon erwähnten Unterschied zwischen der Ebene der Gültigkeit einer Aussage und der Ebene der Präzisierung ihrer Formulierung richtig verstehen zu können. Obwohl kein Gedanke vor oder außerhalb der Sprache oder Sprachkompetenz eine Bedeutung haben kann, muss man die Möglichkeit einer gewissen Trennung oder Unterscheidung zwischen Wort und Sprachspiel »nach« oder innerhalb der Sprache oder der Sprachkompetenz annehmen. Der Sprechhandelnde, insofern er eine vollständige Sprache sprechen kann, muss zwischen den Worten als willkürliches Ausdrucksmittel einer bestimmten Sprache bzw. Idiom und dem Sprachspiel, in dem er diese Worte anwendet, unterscheiden können. 45 Diese Unterscheidung zwischen Wort und Sinn hat einerseits mit der traditionellen Vorstellung von sprachlosen Gedanken nichts zu tun und ist andererseits eine notwendige Bedingung der Möglichkeit erstens der Übersetzung eines bestimmtes Ausdrucks von einer Sprache in die andere, zweitens der Interpretation eines Ausdrucks durch andere Ausdrücke der gleichen Sprache und drittens genau deshalb auch der Präzisierung der Formulierung einer Bedeutung. Wir können die Bedeutung einer Aussage durch eine andere Aussage ausdrücken und wir tun das tatsächlich, wenn wir übersetzen, interpretieren oder bessere Formulierungen vorschlagen. Die Vereinbarkeit der Gültigkeit des Letztbegründungsarguments mit der Korrigierbarkeit des Ausdrucks seiner Resultate wird also durch einen wesentlichen Bestandteil unserer Sprachkompetenz und durch ihr implizites Handlungswissen ermöglicht, nämlich der Kompetenz, eine sprachliche Bedeutung durch verschiedene AusSiehe dazu: Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. § 32; Dietrich Böhler: Wittgenstein und Augustinus. Transzendentalpragmatische Kritik der Bezeichnungstheorie der Sprache und des methodischen Solipsismus. In: Eschbach, A./Trabant, J. (Hrsg.): Foundations of Semiotics, Vol. 7, History of Semiotics. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publisher, 1983, S. 343–369. 45 Siehe unten: 3.4. Vgl.: Audun Øfsti: Abwandlungen: Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1994, S. 60–64. 44

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Die transzendentalpragmatische Frage

drucksmittel zu formulieren. Eine präzise Formulierung eines letztbegründeten Resultates erklärt seine Bedeutung besser durch die Beseitigung von möglichen Missverständnissen, aber wenn sie wohlwollend interpretiert wird, verändert sie nicht den gültigen Inhalt der Resultate selbst. Wir als Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft, die die Zeichen einer Natursprache gebrauchen, können die Eindeutigkeit und die Präzision unserer sprachlichen Ausdrücke immer suchen, aber niemals tatsächlich definitiv besitzen. Wir können uns trotzdem auf jeden Fall gegenseitig verstehen und sowohl über die Gültigkeitsansprüche unserer in gewisser Weise noch zweideutig und vage formulierten Aussagen als auch über ihre Bedeutungen bzw. über unsere Sinnansprüche diskutieren. Die Argumente, die wir nur mit unseren immer mangelhaften und korrigierbaren Sprachmitteln vorbringen können, sind der einzige Weg, um die beiden Arten von Ansprüchen einlösen zu können. Durch das im letzten Abschnitt präsentierte transzendentalpragmatische Letztbegründungsargument können wir die notwendigen Sinnbedingungen dieser Argumente explizieren und strikt reflexiv überprüfen. Die Gültigkeit dieser Bedingungen, die als Bestandteil unseres Handlungswissens immer schon vorausgesetzt werden, können durch dieses sinnkritische Argument »auf einen Schlag« eingelöst werden. Gleichzeitig muss aber anerkannt werden, dass die Explikation dieser Bedingungen, wie jede für uns mögliche Explikation, in gewisser Weise als vage und zweideutig präsentiert werden kann. Dieser Mangel der Explikation kann durch den erwähnten Versuch nur in the long run beseitigt werden. Die Gültigkeitsüberprüfung der Argumentationsvoraussetzungen und die Präzisierung ihrer expliziten Formulierungen sind vielleicht die zwei Hauptaufgaben der Transzendentalphilosophie nach der sprachpragmatischen Wende. Die Frage aber, die von dem Opponenten des Letztbegründungsarguments beantwortet werden muss, lautet: Was kann auf die Korrektur der Formulierung der letztbegründeten Resultate folgen?

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2. Handlungswissen und transzendentale Fragestellung

Die enge Verbindung zwischen Wissen und Handeln wurde schon im Altertum als Problem der philosophischen Reflexion betrachtet. Von der sokratischen Tugendauffassung – mit dem aristotelischen Gottesbegriff – bis zu dem Vorbild des Weisers bei den Stoikern steht dieses Problem im Kernpunkt des philosophischen Denkens. In der Neuzeit wird dieses Problem aber noch einmal durch eine ganz neue Perspektive erst nach der von Kant genannten kopernikanischen Wende der Metaphysik hervorgehoben. Diese Wende bedeutet die Annahme einer neuen bzw. ganz modernen Rolle der menschlichen Vernunft, die seither für ein handelndes Wesen angenommen werden kann. Diese neue, kritisch metaphysische Auffassung präsentiert also die menschliche Vernunft als etwas, das handelt und zugleich wissen können muss, was sie durch ihre Handlungen tut. Und was sie tut, ist nichts weniger als der konstituierende Gesetzgeber der Natur und der Sitten. Nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie wird dieser handelnde und selbst wissende Charakter der menschlichen Vernunft im Begriff eines performativen Handlungswissens in gewisser Hinsicht bewahrt und in anderer Hinsicht verändert. Die Absicht dieses Kapitels besteht also darin zu bestimmen, inwiefern und wie die von der sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie gelieferte letztbegründete Erkenntnis als strikt reflexives Explizieren und sinnkritische Überprüfung eines impliziten Handlungswissens verstanden werden kann, d. h. eines Wissens, das den Handelnden von vornherein notwendigerweise zuerkannt werden muss. Um diese Absicht zu verwirklichen, wird zuerst versucht, einerseits einige Aspekte der kantschen Lehre der konstituierenden Verstandeshandlungen, der doppelten Vernunftgesetzgebung und des Primats der praktischen Vernunft und andererseits die Weiterentwicklung dieses Primats bei Fichte bzw. bei seinen Thesen über eine ursprüngliche Tathandlung der menschlichen Vernunft und über eine angebliche »intellektuelle Anschauung« dieser Handlung kurz 60

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zu rekonstruieren (2.1). Danach werden zwei ganz verschiedene Vergleichsvorschläge zwischen der erwähnten fichteschen Lehre und dem transzendentalpragmatischen Verständnis des performativen Handlungswissens berücksichtigt, nämlich: die objektiv idealistische von Vittorio Hösle vorgeschlagene kritische Deutung der Transzendentalpragmatik als »Fichteanismus der Intersubjektivität« einerseits und die von Audun Øfsti vorgeschlagene sprechakttheoretische Darstellung des impliziten performativen Handlungswissens als einer sprachpragmatisch transformierten Fassung der fichteschen »intellektuellen Anschauung« (2.2). Nach der erwähnten Berücksichtigung der »erstaunlichen Ähnlichkeiten« zwischen der fichteschen und der transzendentalpragmatischen Deutung des performativen Handlungswissens wird versucht, einerseits den transzendentalen Charakter des performativen Handlungswissens im sprachpragmatischen Rahmen der Gegenwartsphilosophie zu erläutern und andererseits die Reichweite dieses Wissens mit Hilfe der von Dietrich Böhler vorgeschlagenen sprachpragmatischen Rekonstruktion der Handlungskonstitution zu bestimmen (2.3). Nach der Erläuterung des transzendentalen Charakters des Handlungswissens und der Bestimmung seiner Reichweite werden bestimmte Missverständnisse über den Begriff dieses Wissens berücksichtigt, die von der fichteschen Darstellung dieses Wissens und seinem gegenwärtigen sprachpragmatischen Gebrauch in gewisser Weise abstammen. Diese Missverständnisse sollen durch einen Rückgriff auf den kantschen »quid iuris?« aufgeklärt und beseitigt werden, um aufzuweisen, dass die transzendentale Frage nach der Gültigkeit des Handlungswissens von einem empirischen Beispiel bzw. von dem Fall eines Einzelnen, der nicht wissen kann, was er tut, überhaupt nicht betroffen ist (2.4). Dieser Aufweis erlaubt zuerst, den Unterschied zwischen dem transzendentalen Begriff der Gewissheit von dem performativen Handlungswissen und der bloß psychischen Gewissheitsempfindung zu behaupten. Dieser Unterschied wird durch eine strikte Reflexion über die philosophische Auseinandersetzung um das performative Handlungswissen selbst begründet und in Bezug sowohl auf die transzendentalpragmatische Kritik an der intentionalistischen Semantik als auch auf die peircesche Verneinung eines Intuitionsvermögens erläutert. Zum Schluss wird die bei dem transzendentalpragmatischen Ansatz genannte »paradigmatische Evidenz des transzendentalen Sprachspiels der Argumentation« als etwas berücksichtigt, dessen Inhalt nur durch einen sinnkritischen A

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Vorgang bestimmt werden kann und deren Gegebenheit dem Handlungswissen jedes möglichen Diskurspartners vor der Durchführung dieses Vorgangs notwendigerweise zuerkannt werden muss (2.5).

2.1. Von der Vernunfthandlung bis zur ursprünglichen Tathandlung In seiner Kritik der reinen Vernunft schlägt Kant vor, die noch ungelösten Probleme der traditionellen Metaphysik als eine Nachahmung der in der Astronomie von Kopernikus herbeigeführten Wende anzusehen. Die heliozentrische Hypothese bedeutet eine radikale Umkehrung des naturwissenschaftlichen Standpunktes, die als Vorbild einer Revolution des Denkens von der Philosophie imitiert werden muss. Man kann also versuchen, philosophisch zu bedenken, dass unsere Vorstellungen bzw. Anschauungen und Begriffe sich nicht nach den entsprechenden Gegenständen richten, sondern genau umgekehrt, dass die empirisch gegebenen Gegenstände sich nach unseren Vorstellungen a priori richten. Durch diese Umkehr der Erkenntnisfunktionen der Vorstellungen und Gegenstände öffnet sich eine neue Perspektive, die der Metaphysik den sicheren Gang einer Wissenschaft verspricht. Um diese veränderte Methode der Denkungsart in der Metaphysik einführen zu können, muss Kant dem Erkenntnissubjekt eine neue Rolle zuschreiben, nämlich eine besondere handelnde Rolle. Schon die rationalistische Tradition vor der kopernikanischen bzw. kritischen Wende hält doch den Verstand für ein handelndes Vermögen des menschlichen Gemüts. Die so genannten Verstandeshandlungen (operationen intellectus) werden bei dieser Tradition als mentale Vorgänge betrachtet, die formal logischen Regeln folgen. Nach dieser Auffassung der Logik gibt es drei Typen von geregelten Verstandeshandlungen, nämlich Auffassen, Urteilen und Schließen, die durch die entsprechenden Sprechhandlungen ausgedrückt werden können, bzw.: terminus, propositio und syllogismus. 1 Kant erhält diese formal logische Lehre der Verstandeshandlungen direkt aus der metaphysischen Schultradition der Neuzeit, und er transformiert Siehe dazu z. B. das Logikbuch des Königsberger Philosophen Martin Knutzen, der Kants Lehrer war: Martin Knutzen: Elementa philosophiae rationalis seu logicae (1747). Nachdruck, Hildesheim [u. a.]: Olms, 1991, §§ 21–45.

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sie zugleich auf eine von ihm selbst genannte transzendentale Weise. Bei dieser Transformation spielt der Funktionsbegriff eine entscheidende Rolle. Er definiert diesen Begriff folgendermaßen: »Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.« 2 Die logischen Funktionen sind also die Einheiten der Verstandeshandlungen. Jede dieser Einheiten kann in verschiedenen Handlungen ausgeübt werden, und jede konkrete Handlung kann viele Funktionen enthalten. Die Funktion als Einheit einer Handlung kann auch als Gesetz oder Regel dieser Handlung verstanden werden. »Alle Anschauungen, als sinnlich beruhen auf Affektionen, die Begriffe also auf Funktionen. […] Begriffe gründen sich also auf der Spontaneität des Denkens […]. Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen anderen Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt.« 3 Die vom Verstand in Urteilen ausgeübten Funktionen entsprechen einerseits den logischen Formen der Urteile und andererseits den »ursprünglich reinen Begriffen der Synthesis«, die der Verstand a priori in seinem »Stammregister« enthält, bzw. den Kategorien. 4 Die Handlungen des reinen Verstandes bringen also einerseits die logische Form der Urteile durch ihre analytische Einheit und andererseits transzendentale Inhalte, die auf die Erfahrungsgegenstände a priori verweisen 5 . Man kann deshalb behaupten, dass das von Kant vorgeschlagene metaphysische Nachahmen der kopernikanischen Wende eine ganz neue Auffassung der spontanen Verstandeshandlungen enthält. Sie stellen jetzt nicht nur formal logische Verbindungen zwischen Vorstellungen her, die die in der Erfahrung gegebenen bzw. schon konstituierten Naturgegenstände im empirischen Bewusstsein ganz passiv widerspiegeln, sondern auch die Bedingungen der Möglichkeit dieser Gegenstände selbst vorschreiben. »Es ist also der Verstand nicht bloß ein Vermögen, durch Vergleichung der Erscheinungen sich Regeln zu machen: er ist selbst die Gesetzgebung für die Natur, d. i. ohne Verstand würde es überall nicht Natur, d. i. synthetische Einheit

KrV, A 68/B 93. KrV, A 68/B 93. Im Kapitel 4 werden die metaphysischen Unterstellungen dieser kantschen Lehre der Spontaneität betrachtet und diskutiert. 4 Vgl. KrV, A 80–81/B 106–107. 5 Vgl. KrV, A 79/B105. 2 3

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des Mannigfaltigen der Erscheinungen nach Regeln geben […].« 6 Die konstitutive Gesetzmäßigkeit der Naturphänomene ist also die Natur formaliter selbst, die nur durch spontane Verstandeshandlungen geschaffen wird. Diese Gesetzmäßigkeit ist eine Bedingung, damit das Erkenntnissubjekt von den Erfahrungsphänomenen als solches bewusst werden kann. Die Spontaneität der Verstandeshandlungen konstituiert also den Erfahrungsgegenstand bzw. verbindet die sinnlich intuitive Vielfältigkeit der empirischen Synthese nach den Regeln der Synthesis a priori. Der Gegenstand überhaupt wird von den spontanen Verstandeshandlungen bzw. ihren besonderen Funktionen durch diese Regeln konstituiert, und genau deshalb kann der menschliche Verstand diese Gegenstände a priori erkennen. Der oberste Grundsatz, der diese synthetische Tätigkeit des menschlichen Verstandes ermöglicht, ist die ursprüngliche Einheit der Apperzeption bzw. des Selbstbewusstseins, die »die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle anderen muß begleiten können […]. Ich nenne auch die Einheit derselben die Transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen.« 7 Die menschliche Erfahrung von einer einheitlichen Natur ist also möglich, weil die synthetischen Verstandeshandlungen letzten Endes spontane Operationen eines identischen bzw. einheitlichen Selbstbewusstseins sind. Die neue bzw. dank der kopernikanischen Wende behauptbare Auffassung der Verstandeshandlungen beansprucht, eine transzendentale Erkenntnis dieser Handlungen liefern zu können, weil sie nachweisen will, dass die Handlungseinheiten bzw. die Funktionen der Verstandeshandlungen notwendige Bedingungen der Möglichkeit sind: sowohl der Vereinigung aller Erfahrungen unter einer einzigen ursprünglichen selbstbewussten Verbindung, als auch der Gegenstände dieser Erfahrung als Glieder einer gesetzmäßigen und objektiven Ordnung bzw. der Natur. Die Erkenntnis von diesen den Erfahrungsgegenstand konstituierenden Verstandeshandlungen und von den diese Handlungen regierenden Prinzipien muss transzendental bezeichnet werden, weil sie »sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart

6 KrV, A 126/127; Vgl. auch Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Akad. Ausg. § 20. 7 KrV, B 132.

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von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.« 8 Die Transzendentalphilosophie weist die Regeln bzw. Grundsätze nach, die dem menschlichen Verstand als Gesetzgeber der Natur ermöglichen, die Konstitution der Naturgesetze synthetisch vorzuschreiben. Diese gesetzgebenden Verstandeshandlungen und ihre konstitutiven Grundsätze sind also bei Kant das Hauptthema der Transzendentalphilosophie. Diese transzendentale bzw. hinsichtlich der vorkritischen Tradition neue Auffassung der Verstandeshandlungen geht, wie bereits bekannt ist, über die traditionelle erkenntnistheoretische Problematik der ganzen neuzeitlichen Philosophie von Descartes bis Hume hinaus, weil sie sich mit dem Problem der kognitiven Relation zwischen dem Denken und einer vermeintlich selbständig existierenden bzw. von der Verstandeshandlungen unabhängigen und schon konstituierten externen Welt nicht mehr beschäftigt, sondern vielmehr mit den durch diese Handlungen geschaffenen internen Verbindungen zwischen Erfahrungserkenntnis und Erfahrungsgegenstand. Diese hier nur erwähnte Auffassung kann doch für den theoretischen Aspekt des schon vor einigen Jahrzehnten genannten Prinzips Handlung in der Philosophie Kants gehalten werden, das als ein systematischer Leitfaden durch keine Grenzen dieser Philosophie eingeschränkt werden kann. 9 Die menschliche Vernunft wird von Kant verstanden als ein tätiges Vermögen, das eine doppelte Gesetzgebung sowohl der Verfassung der Natur als auch des moralischen Sittengesetzes schafft. Deshalb ist ihre legislative Handlung ein grundlegendes bzw. durch eine angemessene Interpretation herausgearbeitetes Prinzip, das die spekulative und die praktische Philosophie Kants, die Metaphysik der Natur und die Metaphysik der Sitten verbinden kann. Diese beiden gesetzgebenden Handlungen der menschlichen Vernunft sind also bei Kant architektonisch zugeordnet. 10 Sie haben aber wesentliche Zwecke und die Philosophie als teleologia rationis KrV, B 25. Vgl. Friedrich Kaulbach: Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 1978. Zu einer sprachpragmatisch rekonstruktiven Kritik an Kants Handlungsbegriff siehe: Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewusstseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie. 10 Im nächsten Kapitel wird die Problematik der Architektonik der Transzendentalphilosophie vor und nach der sprachpragmatischen Wende näher betrachtet. 8 9

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humanae ist bei Kant die Wissenschaft, die sich mit der Beziehung aller Erkenntnis über diese Zwecke beschäftigt. »Wesentliche Zwecke sind darum noch nicht die höchsten, deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann. Daher sind sie entweder der Endzweck, oder subalterne Zwecke, die zu jenem als Mittel notwendig gehören. Der erstere ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral.« 11

Die theoretische bzw. durch gesetzmäßige Verstandeshandlungen organisierte Bestimmung der Natur muss nach Kant also als ein subalterner Zweck betrachtet werden, der als Mittel für die ganze Bestimmung des Menschen dient. Die Kantsche Lehre des Primats der praktischen Vernunft besagt genau, dass die Naturgesetzgebung der spekulativen Vernunft ein Mittel der autonomen Sittengesetzgebung der reinen praktischen Vernunft ist, weil die Freiheitsidee, die von allen Vernunfthandlungen notwendigerweise vorausgesetzt wird, eine Grenze der Erfahrung festlegt. Diese kantsche Lehre wurde von Fichte dank einer für seine Zeit ganz besonderen Rezeption und Interpretation der Werke Kants konsequent weiterentwickelt. Die Besonderheit der fichteschen Kant-Rezeption besteht eben darin, dass sie die Idee einer handelnden bzw. gesetzgebenden Vernunft als grundlegenden Kern der Transzendentalphilosophie von vornherein anerkennt. Während andere zeitgenössische Anhänger und Kritiker den traditionellen bzw. von der kopernikanischen Wende der Metaphysik schon überwundenen Gesichtspunkt noch verteidigen, zieht Fichte dagegen die notwendigen Konsequenzen aus dieser Wende. Die Beiträge von Reinhold, Anaesidemus-Schulze, Jacobi, Maimon und Beck zur Diskussion über die Probleme des »Dings an sich«, des »ersten Grundsatzes der Philosophie« und »der Deduktion der Vorstellung« scheinen den erwähnten transzendental handelnden Charakter der menschlichen Vernunft nicht ausreichend zu beachten. Ganz im Gegenteil: Die Beiträge Fichtes zu diesen Diskussionen sind zumindest für unser Anliegen besonders interessant, weil sie von einem Standpunkt aus vorgeschlagen werden, der eben diesen Charakter hervorhebt. 12 KrV, A 840/B 868. »In sich selbst zurückgehende Tätigkeit überhaupt (Ichheit, Subjektivität) ist Charakter des Vernunftwesens«, Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, I, § 1. Siehe dazu: Marek J. Siemek: Die Idee des Transzendentalismus bei Fichte und Kant. Hamburg: Meiner, 1984, S. 45–114; ders.: Fichtes Wissenschaftslehre und die Kantische 11 12

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Der kantsche Begriff einer gesetzgebenden Vernunfthandlung fungiert bei Fichte sowohl als der Ausgangspunkt seiner ganzen philosophischen Entwicklung, als auch als das von ihm gegenüber seinen Zeitgenossen vorgeschlagene Fundament der Transzendentalphilosophie. Von Anfang an wird Fichte sich darüber klar, dass die Transzendentalphilosophie die sowohl theoretische als auch praktische Vernunft nur als ein handelndes Wesen richtig betrachten kann. Dieses Verständnis erlaubt ihm das von Kant postulierte Primat der praktischen Vernunft für den Mittelpunkt dieser Philosophie zu halten, um die gemeinsame Wurzel der von Kant getrennten Reiche der Natur und der Freiheit finden zu können. Durch diesen Beitrag geht Fichte in gewissem Sinn über den bisherigen Rahmen der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie hinaus, weil die ganze Problematik des vorstellenden Bewusstseins sich so als bloß sekundär bzw. als von der praktischen Instanz der spontanen Vernunfthandlungen ableitbar erweist. 13 Der so genannte »Satz des Bewusstseins« bzw. der von Kant behauptete Satz: »Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können«, den Reinhold zum Fundament der Philosophie erheben wollte, hängt nach Fichte von einer noch ursprünglichen Instanz ab, nämlich der notwendigen Handlung der Vernunft bzw. der von ihm genannten ursprünglichen Tathandlung. Diese Handlung spielt nach Fichte die entscheidende Rolle einer apriorischen Möglichkeitsbedingung sowohl der empirischen Vorstellungen und des vorstellenden Bewusstseins als auch der willkürlichen und zufälligen Handlungen des empirischen Ichs, die nur in und mit der Erfahrung vorkommen und entstehen können. Hinter allen vorstellbaren Dingen und allem vorstellenden Bewusstsein steht also dieser Auffassung nach die ursprüngliche Tätigkeit der Vernunft, die sowohl die Dinge als auch das Bewusstsein der Dinge ermöglicht, bedingt und konstituiert. Transzendentalphilosophie. In: Klaus Hammacher (Hrsg.): Der Transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes. Hamburg: Meiner, 1981, S. 155–167; Karl Spickhoff: Die Vorstellung in der Polemik zwischen Reinholt, Schulze und Fichte, 1792–1794. München, 1961; Ulrich Claesges: Geschichte des Selbstbewusstseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794–1795. Den Haag: Nijhoff, 1974. 13 Zur Schwierigkeit der Fichteschen Lehre des Primats der praktischen Vernunft siehe: Werner Becker: Fichte und der Mythos vom Primat der praktischen Vernunft. In: Manfred Riedel (Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Bd. II. Freiburg: Rombach, 1974, S. 593–615. A

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Diese ursprüngliche Tathandlung der menschlichen Vernunft enthält also bei Fichte die Bedeutung einer transzendentalen Einheit, die allen den von kantscher kritischer Philosophie behaupteten Spaltungen zwischen Sinn und Verstand, dem Ding an sich und den Phänomen, Natur und Freiheit, Sein und Sollen, usw. als notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit vorausgesetzt werden muss. Der Fichtesche Begriff der Tathandlung muss deshalb als etwas verstanden werden, das vor bzw. diesseits der erwähnten Spaltungen durchgeführt wird, und deswegen kann diese Handlung als ein externer bzw. gegenüber einem Bewusstsein gegebener Gegenstand nicht vorgestellt werden. Diese Handlung muss aber so verstanden werden, nämlich als ein geistiges Handeln, das zugleich und untrennbar Handlung und Wissen enthält. Dieses apriorische Wissen aber als letzte Bedingung der Erfahrung bzw. als erster philosophischer Grundsatz kann von etwas anderem nicht diskursiv abgeleitet werden, und deshalb bezeichnet Fichte dieses unmittelbare Wissen der ursprünglichen Tathandlung der Vernunft als »intellektuelle Anschauung«. In seiner ersten Kritik benennt Kant »Anschauung« als die unmittelbare Beziehung einer Erkenntnis zu ihren Gegenständen. Diese unmittelbare Beziehung ist nach Kants Lehre möglich für das menschliche Gemüt nur durch seine Rezeptivität bzw. die sinnlichen Affektionen der in der Erfahrung gegebenen Gegenstände. Die kognitive Endlichkeit des menschlichen Gemüts besteht für Kant eben darin, dass seine Anschauungen nur abgeleitet bzw. sinnlich sein können (intuitus derivativus), weil der Mensch keine intellektuelle ursprüngliche Anschauung (intuitus originarius) haben kann. 14 Nach Kant verhindert diese für das menschliche Gemüt konstitutive Unfähigkeit auch ein intellektuell intuitives Selbstbewusstsein bzw. eine Apperzeption. Die Unmöglichkeit des menschlichen Geistes, durch eine intellektuelle Anschauung sich selbst zu erkennen, wird von Kant besonders in der zweiten Auflage seiner ersten Kritik herausgehoben. »Das Bewußtsein seiner selbst (Apperzeption) ist die einfache Vorstellung des Ich, und, wenn dadurch allein alles Mannigfaltige im Subjekt selbsttätig gegeben wäre, so würde die innere Anschauung intellektuell sein. Im Menschen erfordert dieses Bewusstsein innere Wahrnehmung von dem Mannigfaltigen, was im Subjekte vorher gegeben wird, und die Art, wie dieses ohne Sponta-

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Vgl. KrV, A 23/B 38, B 72.

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neität im Gemüte gegeben wird, muß, um dieses Unterschiedes willen, Sinnlichkeit heißen.« 15 »Das Bewußtsein meiner selbst in der Vorstellung Ich ist gar keine Anschauung, sondern eine bloß intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts.« 16

Trotz dieser kritischen Warnung Kants vor der Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung als menschliche Selbsterkenntnisweise der Vernunfthandlungen behauptet Fichte die Realität dieser Anschauungsart beim menschlichen Gemüt als den ersten Grundsatz seiner systematischen Transzendentalphilosophie bzw. seiner Wissenschaftslehre. Der von Fichte gelieferte Grund für diese Behauptung scheint in der Notwendigkeit einer unmittelbaren Einheit zwischen Handeln und Wissen, die in der Erfahrung nicht gegeben werden kann, zu bestehen. Diese Einheit fungiert nach Fichte als erster Geltungsgrund der Transzendentalerkenntnis bzw. als unbedingte und autonome Bedingung aller möglichen Erkenntnis und Handlung überhaupt. Genau deshalb kann diese Einheit selbst nicht unter die Bedingungen eines zu denkenden Nicht-Ichs, sondern vor diese von ihr gestellten Bedingungen gesetzt werden. Nach Fichte kann nur die vordiskursive bzw. vorargumentative Unmittelbarkeit einer nicht empirischen Anschauung die notwendige Unbedingtheit der Transzendentalerkenntnis bzw. die Autonomie des handelnden Selbstbewusstseins gewährleisten. »Sie ist das unmittelbare Bewußtseyn, daß ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es thue. Daß es ein solches Vermögen der intellectuellen Anschauung gebe, lässt sich nicht durch Begriffe demonstrieren, noch, was es sey, aus Begriffen entwickeln. Jeder muß es unmittelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennen lernen.« 17 »Jeder der gefragt wird, woher er wisse, daß er etwas thue – das doch dieses oder jenes seyn kann, sagt: er wisse eben schlechthin was er thue, durchhaus weil es thue; er setzt daher eine unmittelbare Verbindung des Thuns und des Wissens, eine Untrennbarkeit beider, und da alle absolute Freiheit ein saltus ist, eine Continuität des Wissens über diesen saltus hinweg, voraus«. 18

KrV, B 68. KrV, B 278. 17 Johann G. Fiche: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. In: GA: I/ 4 217. 18 Johann G. Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre. In: GA: II/6 171. 15 16

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Das handelnde Subjekt ist also bei Fichte ein Ich, das unmittelbar weiß, was es durch seine geistige Handlung tut. Die notwendige bzw. transzendentale Voraussetzung der Untrennbarkeit zwischen dem Handeln und dem Wissen dieses Ichs wird von Fichte als die erwähnte Tathandlung präsentiert, durch welche das Ich in sich selbst zurückgeht und sich als Bedingung sowohl des Nicht-Ichs verarbeitenden bzw. vorstellenden Bewusstseins als auch des empirischen Selbstbewusstseins entdeckt. Diese Tathandlung als »unmittelbares Bewußtseyn, daß ich handle und was ich handle« kann aber nach Fichte weder eine sinnliche Anschauung sein, weil sie für eine Möglichkeitsbedingung dieser Anschauungsart gehalten werden muss, noch eine intellektuell begriffliche Erkenntnis, weil sie nicht diskursiv bzw. durch Begriffe vermittelte Erkenntnis, sondern eben unmittelbar sein muss. Deshalb wird dieses reflexive Zurückgehen des Ichs, in welchem es sein Handeln unmittelbar erkennt, von Fichtes Wissenschaftslehre als intellektuelle Anschauung dargelegt. Auf diese Weise wird die kantsche Auffassung einer Transzendentalerkenntnis über die gesetzgebenden Verstandeshandlungen bei Fichte zu einem intellektuell anschauenden Handlungswissen einer reflexiven Tathandlung. »[Der Satz] Philosophie ist Vernunfterkenntnis aus Begriffen ist durchaus falsch. Der Begriff ist überall nicht Urbild, nicht Sache selbst, sondern nur Nachbild. Die Anschauung ist Urbild. Der Begriff […] muss vor der Rechenschaft geben, daß gerade das, was in ihm zusammengefasst ist, in der Anschauung vorkomme und unzertrennlich beisammen sei. Eine Begriffphilosophie kann nur klar machen und consequent das schon fertige System, nimmer aber Grundirrtümer berichtigen: denn auf den Grund kommt sie nicht.« 19

Man kann klar sehen, dass diese philosophische Deutung der selbstwissenden Vernunfthandlung als einer intellektuellen Anschauung Fichtes Wissenschaftslehre uns jenseits des kantschen kritischen Unterschieds zwischen menschlicher und göttlicher Erkenntnis bzw. zwischen intuitus derivativus und intuitus originarius bringt. Die Frage ist nun, ob und wie dieser Zug von Fichte vermieden werden kann, wenn man heute versucht, den transzendentalen Charakter des Handlungswissens unter den Gegenwartsbedingungen der sprachpragmatischen Wende kritisch bzw. sinnvoll nachzuweisen. 19

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Johann G. Fichte: Neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre. In: GA II/5 338.

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An Fichte anknüpfen?

2.2. An Fichte anknüpfen? Die historisch-philosophische Aufgabe, eine kritische Rezeption und einen interessanten Gebrauch der von der philosophischen Tradition geerbten Begriffe zu liefern, ist nicht einfach. Deshalb waren leider nicht alle die Versuche einer sinnvollen und produktiven Verbindung zwischen der klassisch transzendentalen Problematik der selbstbewussten Vernunfthandlungen und der gegenwärtigen sprachpragmatischen Diskussion um ein Handlungswissen, das im performativen Aspekt der Sprechhandlungen liegt, erfolgreich. Die meisten waren einseitig, weil sie entweder bei dem traditionellen Gesichtspunkt blieben, und damit die Vorteile des neuen linguistischen Instrumentariums der Gegenwartsphilosophie nicht wirklich schätzen und zur Bearbeitung der philosophischen Probleme nicht richtig benutzen, oder sie unterstellen von vornherein zu Unrecht, dass der Gebrauch dieses Instrumentariums genug ist, um die transzendentale Frage nach dem Handlungswissen als ein für die Gegenwartsphilosophie unangemessenes metaphysisches Problem aufzulösen. Es wurde z. B. vorgeschlagen, erstens die fichtesche Lehre des Selbstbewusstseins durch den Gebrauch des Wortschatzes der analytischen Philosophie zu rehabilitieren, 20 zweitens diesen Vorschlag aus der Perspektive der Sprachspieltheorie zu widerlegen, 21 drittens nach der fragwürdigen Behauptung eines überraschenden Positivismusentwurfs gegen die Sprechakttheorie auf die fichtesche Lehre zurückzugehen, 22 und viertens die Begründungsproblematik der Wis20 Vgl. Dieter Henrich: Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie. In: Bubner, R./Cramer, K./Wiehl, R. (Hrsg.): Hermeneutik und Dialektik, Bd. I, Tübingen: Mohr, 1970, S. 257 ff. Siehe auch ders.: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1967. 21 Vgl., Ernst Tugendhat: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, S. 50–67. Siehe auch die Replik von Dieter Henrich: Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von Ernst Tugendhats semantischer Erklärung von Selbstbewusstsein. In: Bellut, C./Müller-Schöll, U. (Hrsg.): Mensch und Moderne. Würzburg: Könighausen und Neumann, 1989. 22 Vgl. Peter Baumanns: Von der Theorie der Sprechakte zu Fichtes Wissenschaftslehre. In: Hammacher, K. (Hrsg.): Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes. Hamburg: Meiner, 1981, S. 171–189; ferner: ders.: J. G. Fichte, Kritische Darstellung seiner Philosophie. Freiburg [u. a.]: Alber, 1990. Siehe auch: Wolfgang H. Schrader: Überlegungen zur sprachanalytischen und transzendentalphilosophischen Ich-Theorie. In: K. Hammacher (Hrsg.): Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes. Hamburg: Meiner, 1981, S. 107–117.

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senschaftslehre Fichtes und der gegenwärtigen Transzendentalpragmatik aus einer kritisch rationalistischen Perspektive zu identifizieren. 23 Die gemeinsame Schwierigkeit dieser ganz verschiedenen Vorschläge besteht m. E. darin, dass sie den Sinn der Frage nach dem transzendentalen Charakter des Handlungswissens und die Notwendigkeit der sprachpragmatischen Wende nicht gleichzeitig können, und deshalb gezwungen sind, entweder auf ein angemessenes Verständnis dieses Sinnes oder auf die Durchführung dieser Wende zu verzichten. Andere Vermittlungsversuche der transzendentalen Frage nach dem Handlungswissen und der sprachpragmatischen Wende können hingegen gleichzeitig erkennen, dass es einerseits eine transzendentale Ebene dieser Frage gibt und andererseits, dass diese Frage in semiotischen Termini und nicht durch die Perspektive der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie gestellt werden muss. Unter den Bedingungen der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie kann die von Karl-Otto Apel begründete Transzendentalpragmatik für eine konsequente Weiterentwicklung der klassischen Assimilation der Transzendentalerkenntnis mit einer philosophischen Bearbeitung des Handlungswissens gehalten werden. Bei diesem philosophischen Ansatz handelt es sich nicht mehr um eine einseitige Schätzung der klassischen oder gegenwärtigen Perspektive und auch nicht um einen bloß externen Vergleich zwischen der Rolle dieses Wissens in der klassischen Transzendentalphilosophie und einer philosophischen Sprachtheorie der Gegenwart, sondern eben um den Versuch einer sprachpragmatischen Transformation der klassischen Transzendentalphilosophie, die Reflexionsebene dieser Philosophie durch das sprachpragmatische Instrumentarium der Gegenwartsphilosophie weiterentwickeln zu können. Obwohl der transzendentalpragmatische Ansatz ursprünglich als eine von Charles Sanders Peirce durchgeführte Transformation der Transzendentalphilosophie Kants aufgefasst wurde, 24 wurden inVgl. Wilhelm Lütterfelds: Fichtes transzendentale Erfahrungserklärung und die Kritik der Letztbegründung bei H. Albert. In: Philosophisches Jahrbuch, 84, 1977, S. 293– 317; ders.: Fichte und Wittgenstein. Der thetische Satz. Stuttgart: Klett-Clotta, 1989, S. 172–193. 24 Vgl. Karl-Otto Apel: Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der transzendentalen Logik. In: ders.: Transformation der Philosophie. Bd. II S. 157–177; ders.: C. S. Peirce and the Post-Tarskian Problem of an Adequate Explication of the Meaning of Truth: Towards a Transzendental-Pragmatic Theory of Truth. In: E. Freeman (Hrsg.): 23

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An Fichte anknüpfen?

zwischen und mit ganz verschiedenen Absichten »erstaunliche« Ähnlichkeiten zwischen diesem Ansatz und der transzendentalen Wissenschaftslehre Fichtes bemerkt, in der die erwähnte Assimilation der Transzendentalerkenntnis mit einer Art von Handlungswissen zum ersten Grundsatz der Philosophie erhoben wurde. Apels Transzendentalpragmatik wurde einerseits mit Fichtes Wissenschaftslehre als Fälle einer einzigen Grundform des philosophischen Denkens verglichen. Sie wurden als zeitlich entfernte Ansätze, die eine gemeinsame Begriffsstruktur ausdrücken, betrachtet. Die Absicht dieses vergleichenden Vorschlages war, eine neue bzw. nuancierte Version der objektiv idealistischen bzw. hegelschen Kritik an Fichte gegen den transzendentalpragmatischen Ansatz üben zu können. 25 Der Ausgangspunkt dieses Vergleiches ist die von Fichte bemerkte Schwierigkeit der kantschen Transzendentalphilosophie hinsichtlich der Art und Weise, in der diese Philosophie begründet wurde. Kants Begründungsweise setzt nach Fichte die Möglichkeit der Erfahrung voraus und diese Möglichkeit kann selbstverständlich ohne Widerspruch bestritten und negiert werden. 26 Deshalb behauptet Fichte, dass die einzige absolute Begründungsinstanz der Transzendentalphilosophie ein Prinzip sein kann, über das nicht hinausgegangen werden könnte, ohne es zugleich vorauszusetzen. Dieses Prinzip kann nach Fichte nur das rationale Denken sein. Um dieses Prinzip als solches nachzuweisen, versucht die philosophische Methode alles in Frage zu stellen, bzw. alle die möglichen Vorstellungen wegzuabstrahieren. Durch dieses reflexive Verfahren stößt die Philosophie auf etwas, das nicht mehr negierbar bzw. abstrahierbar und bestreitbar ist, weil es der Grund jedes möglichen Negierens und Bestreitens ist. Das Denken ist die Bedingung der Möglichkeit jeder Abstraktion, Bestreitung und Negation, und genau deshalb kann es sich selbst durch eine absolute Gewissheit präsentieren. Fichte erklärt die Besonderheit der philosophischen Reflexion durch den folgenden Vergleich zwischen Einzelwissenschaften und The Relevance of Charles Peirce. La Salle: The Hegeler Institute, 1983, S. 189–223; ders.: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce – Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975. 25 Vgl. Vittorio Hösle: Die Transzendentalpragmatik als Fichteanismus der Intersubjektivität. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, 40, 1986, S. 235–252. Siehe auch: ders.: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik. 3. Aufl., München: Beck, 1997. 26 Siehe dazu: KrV, A 737/B765. A

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Wissenschaftslehre. Die Einzelwissenschaften behaupten Hypothesen, deren Gültigkeit immer von der Gültigkeit anderer inhaltlicher Sätze (Prämissen, Axiome, Definitionen, usw.) und von der Gültigkeit des formalen bzw. deduktiven oder induktiven Verfahrens abhängt. Die Philosophie oder Wissenschaftslehre behauptet hingegen das selbstbegründete Prinzip des Denkens, in dem Form und Gehalt bzw. Vernunftwissen und Vernunfthandlung von vornherein übereinstimmen. Fichte sei deshalb der Entdecker der notwendigen Unhintergehbarkeit der menschlichen Vernunft, die durch die Lehre des sich selbst Setzens des Ichs dargelegt wurde. Die selbstbegründete Vernunft kann ganz autonom und spontan handeln, weil es nichts geben kann, was ihr gegenüber fremd ist. Auf diese Weise verknüpft sich der Grundsatz der Transzendentalphilosophie bei Fichte mit einer sinnkritischen Ablehnung der kantschen Idee eines prinzipiell unerkennbaren Dinges an sich. 27 Die Frage nach einer Realität, die bleiben würde, wenn die Vernunft beiseite gelassen würde, ist nach Fichte schlechthin sinnlos, weil diese Frage selbst eine Vernunfthandlung ist, die im Rahmen dieses Gedankenexperiments, aber auch überhaupt nicht beiseite gelassen werden kann. Fichte entdeckt also den Zirkel der Unhintergehbarkeit, wo das reflexive Begründete und das reflexive Begründende ein und dasselbe sind. Obwohl ein direkter und wirklicher Einfluss dieser fichteschen reflexiven Selbstbegründung des menschlichen Denkens auf die transzendentalpragmatische Letztbegründung historisch kaum beweisbar ist, kann man doch wichtige Ähnlichkeiten zwischen beiden zeitlich entfernten Ansätzen sowohl hinsichtlich des Grundproblems als auch hinsichtlich der von diesen Ansätzen vorgeschlagenen Lösungen dieses Problems finden und sie wurden eigentlich schon vor vielen Jahren m. E. gut und richtig gefunden. 28 Eine erste Ähnlichkeit besteht darin, dass beide Ansätze die Besonderheit der philosophischen Begründung behaupten. Diese Begründung bedeutet eine reflexive Besinnung auf die notwendigen Sinnvoraussetzungen jeder möglichen Aussage und unterscheidet sich ganz klar von der deduktiven Begründung der Einzelwissenschaften. Die Schlussfolgerungen dieser Wissenschaften können nur hypothetisch sein, weil sie von der Die kantsche Problematik des Dinges an sich wird in den Kapiteln 4 und 5 im sprachpragmatischen Rahmen diskutiert. 28 Vgl. Vittorio Hösle: Die Transzendentalpragmatik als Fichteanismus der Intersubjektivität. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, 40, 1986, S. 235–252: 240 ff. 27

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An Fichte anknüpfen?

postulierten Wahrheit der Prämissen abhängen. Ganz im Gegenteil beansprucht die reflexive Begründung der Philosophie nicht bloß hypothetisch Begründungsresultate zu liefern, sondern ein prinzipiell unbestreitbares Wissen über die Bedingung jeder möglichen Überprüfung von Hypothesen überhaupt. Eine zweite Ähnlichkeit zwischen Transzendentalpragmatik und Wissenschaftslehre, die als solche bemerkt wurde, ist also, dass die Alternative zur Deduktion die Reflexion über den Ermöglichungsgrund allen sinnvollen Denkens ist. Durch ihre Art von Reflexion über die Sinnbedingungen dieses Denkens kann die Transzendentalphilosophie die unhintergehbaren Rahmen begründen. Zum Dritten kann man eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den von Fichte und Apel behaupteten Unterscheidungsmerkmalen des Grundsatzes der Transzendentalphilosophie sehen, d. h. die Entsprechung zwischen Satzform und Satzinhalt, die nach Fichte ein wesentliches Merkmal des Grundsatzes der Wissenschaftslehre ist, kann man mit der bei der Transzendentalpragmatik durch strikte Reflexion explizierten und als unhintergehbar nachgewiesenen pragmatischen Argumentationsvoraussetzungen in gewisser Weise vergleichen, deren behaupteter Inhalt jeder möglichen Behauptung entspricht. An letzter Stelle führt die Unhintergehbarkeit des rationalen Denkens, die von beiden Ansätzen aber auf verschiedene Weise anerkannt und nachgewiesen wurde, zu einer gemeinsamen Ablehnung des kantschen Postulats eines prinzipiell unerkennbaren Dinges an sich. Der Grund dieser Ablehnung ist in beiden Fälle sinnkritisch. Wer die Unterscheidung zwischen der für die Menschen notwendigen Art, die Realität zu denken, und der angeblich wirklichen Konstitution dieser Realität behaupten will und diese für die Menschen unerkennbare Konstitution als denkbar postulieren will, vergisst eben, dass diese Unterscheidung und dieses Postulieren selbst ein menschlicher Gedanke ist. Trotz dieser Ähnlichkeiten bzw. »überraschenden Analogien« zwischen der fichteschen Wissenschaftslehre und der Transzendentalpragmatik muss man auch die Unterscheidungen zwischen diesen beiden Ansätzen beachten, um Missverständnisse zu vermeiden. Zum Ersten enthält die reflexive Begründung bei Fichte keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit, während die Transzendentalpragmatik diesen Anspruch in gewisser Weise erheben muss, wenn eine transzendentalpragmatische Argumentationsvoraussetzung als ein Satz präsentiert wird, »den man nicht verstehen kann, ohne zu wissen, A

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dass er wahr ist«. 29 An zweiter Stelle muss man einen Fortschritt der Transzendentalpragmatik gegenüber der Wissenschaftslehre auf zweierlei Weise anerkennen. Dieser Fortschritt besteht einerseits in der klaren Formulierung der Kriterien, um die Unhintergehbarkeit der Argumentationsvoraussetzungen nachzuweisen, nämlich, dass sie ohne performativen Selbstwiderspruch nicht bestreitbar und ohne pragmatische petitio principii nicht beweisbar sind. Andererseits enthalten diese Kriterien einen sprechakttheoretischen Unterschied zwischen den propositionalen und den performativen Aspekten der sinnvollen Rede und die Möglichkeit eines Widerspruchs oder eines logischen Zirkels zwischen diesen Aspekten, die jenseits der fichteschen Formulierung der Grundsatz der Transzendentalphilosophie zu sein scheinen. Bei dieser Formulierung scheint der Übergang von der formallogischen Identität »A = A« zu der inhaltsphilosophischen bzw. transzendentalen Identität »Ich = Ich« innerhalb der propositionalen Ebene möglich zu sein, und genau deshalb kann ein Widerspruch zwischen dem Behaupteten auf dieser Ebene und der Voraussetzung dieser Behauptung bei der fichteschen Transzendentalphilosophie nicht klar erkannt werden. Der notorische Unterschied zwischen diesen philosophischen Versuchen, die Unhintergehbarkeit der menschlichen Vernunft reflexiv aufzudecken und nachzuweisen, ist eigentlich ein entscheidender Punkt der sprachpragmatischen Transformation der Transzendentalphilosophie, nämlich genau die Auffassung der strikt reflexiv selbst begründenden Instanz. Während Fichte die menschliche Vernunft mit einem nicht psychologischen und empirischen, sondern ursprünglichen bzw. transzendentalen Ich identifiziert, hält die sprachpragmatisch transformierte Transzendentalphilosophie eine prinzipiell unbegrenzbare Argumentationsgemeinschaft für die letzte Sinn- und Geltungsinstanz der vernünftigen Rede. Wegen der oben erwähnten Ähnlichkeiten und entscheidenden Unterschiede wurde die Transzendentalpragmatik von einem Versuch einer Gegenwartsrehabilitierung des hegelschen objektiven Idealismus als »Fichteanismus der Intersubjektivität« bezeichnet und als ein nicht ausreichend begründeter Ansatz kritisiert. Hier ist nicht die geeignete Stelle, um die bei diesem Versuch vorgebrachten Einwände gegen die Transzendentalpragmatik ausführlich darzuKarl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 185.

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legen und zu beurteilen. Es scheint vielmehr hier genug darauf hinzuweisen, dass diese Einwände auf einer unangemessenen Interpretation des transzendentalpragmatischen Ansatzes beruhen. Sie verwechselt erstens den von dem Letztbegründungsargument erhobenen Anspruch auf sinnkritische Unfehlbarkeit mit einer bloß psychologischen Gewissheit. 30 Sie beachtet zweitens nicht, dass die transzendentalpragmatische Behauptung einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft als Sinn- und Gültigkeitsbedingung der sinnvollen Argumentation keine von dem Letztbegründungsargument unabhängige These sein kann, sondern eben eine Voraussetzung dieser Argumentation, die als unhintergehbar nur durch dieses Argument nachgewiesen werden kann. Diese unangemessene Interpretation behauptet drittens, dass die intersubjektive Verständlichkeit nur »eine akzidentelle Nebenfolge« sein kann, ohne strikt reflexiv anerkennen zu können, dass diese Behauptung selbst diese Verständlichkeit notwendigerweise beansprucht und dass dieser Anspruch eine unhintergehbar und prinzipiell unbestreitbare Bedingung der Möglichkeit von jeder sinnvollen Behauptung ist. Viertens verwechselt diese Interpretation den Konsens einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft, die von der Transzendentalpragmatik als sinnkritische Explikation des Sinns von Wahrheit präsentiert wurde, entweder mit einem in der Gegenwart direkt anwendbaren Kriterium für die Wahrheit oder mit einem in der Zukunft faktisch erreichbaren Konsens einer realen Kommunikationsgemeinschaft, deren Mitglieder über die Einlösung der erhobenen Geltungsansprüche bloß willkürlich entscheiden könnten. 31 Statt einer vollständigen Einsicht der Schwierigkeiten dieser objektiv idealistischen Interpretation der Transzendentalpragmatik scheint es im Rahmen unserer aktuellen Absicht wichtiger zu bemerken, dass in ihrem interessanten Vergleich zwischen Fichteanismus und Transzendentalpragmatik eben der für uns relevanteste Aspekt leider noch fehlt, nämlich die gemeinsame Identifizierung der Transzendentalerkenntnis mit einer reflexiv philosophischen Bearbeitung des Handlungswissens. Genau dieser Aspekt wurde als solcher von Auf diesen Punkt kommen wir später noch zurück. Zu diesen objektiv idealistischen Kritiken am transzendentalpragmatischen Ansatz siehe: Vittorio Hösle: Die Transzendentalpragmatik als Fichteanismus der Intersubjektivität. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, 40, 1986, S. 235–252: 242 ff.; ders.: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung Ethik. 3. Aufl., München: Beck, 1997, S. 142 ff. 30 31

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Audun Øfsti klar hervorgehoben. In dem Zusammenhang einer philosophischen Diskussion über das Problem der Vollständigkeit der Sprache stellt Øfsti die folgende für unsere aktuelle Absicht interessante Frage: Inwiefern weiß der Handelnde, was er tut? Er betont auch dazu die »überraschende« Aktualität des fichteschen Begriffs einer »intellektuellen Anschauung« für die Behandlung des erwähnten sprachphilosophischen Problems. 32 Wie oben angegeben, definiert Fichte diese Anschauung folgendermaßen: »Sie ist das unmittelbare Bewusstseyn, daß ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es thue.« 33 Die Aktualität dieses Begriffes Fichtes präsentiert Øfsti in Bezug auf die praxeologische These eines »performativen Handlungswissens«, d. h. eines impliziten, nicht immer sprachlich artikulierten Wissens, das der Handelnde über seine Handlung hat, indem er handelt. 34 Normalerweise bleibt dieses Handlungswissen als Vorverständnis der Situation und der Handelnde braucht es durch eine explizite verbale Artikulierung nicht zu äußern, um seine Handlung durchführen zu können. Diese praxeologische Perspektive erlaubt zu sehen, dass das Handlungswissen als von dem Handelnden so verstandene Situationsformen und Praxisformen von vornherein existiert, d. h. bevor sie durch die Sprache tatsächlich ausgedrückt und artikuliert wird. Diese praxeologische Deutung des nicht thematisierten Handlungswissens wird von Øfsti mit Fichtes transzendentalem Begriff einer intellektuellen Anschauung bzw. des Selbstbewusstseins eines handelnden Ichs in Verbindung gebracht und durch eine sehr interessante Bearbeitung der Sprechakttheorie noch besser erklärt. Um eine Handlung als intentional bzw. als selbst wissende betrachten zu können, behauptet Øfsti, muss man voraussetzen, dass der Handelnde seine Handlung nicht nur implizit, sondern auch explizit verstehen können muss. Analytisch betrachtet, enthält also das Handlungswissen notwendigerweise zwei Ebenen. Erstens die Ebene 32 Vgl. Audun Øfsti: Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie. Würzburg, Könighausen und Neumann, 1994, S. 69, 70, 80; Jakob Meløe: The Agent and His World. In: Skirbekk, G. (Hrsg.): Praxeology. An Anthology. Oslo/Bergen, 1983, S. 13–30. 33 Johann G. Fichte: GA, I/4 216. Vgl. auch S. 218, 225, 228, II/6 171. 34 Vgl.: Jakob Meløe: Über Sprachspiele und Übersetzungen. In: Böhler, D./Nordenstam, T./Skirbekk, G. (Hrsg.): Die pragmatische Wende. Frankfurt a. M.: Surkamp, 1986, S. 113–130.

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An Fichte anknüpfen?

des Vorverständnisses des Akteurs, der, insofern er handelt, seine Handlung in der Situation tatsächlich implizit versteht, und die Ebene der von dem Akteur lieferbaren Beschreibung seiner Handlung. Diese untrennbaren Ebenen, die als Akteurebene und Zuschauerebene bezeichnet werden können, können auch durch die begrifflichen Instrumente der Sprechakttheorie folgendermaßen präsentiert werden 35 : Eine Sprechhandlung kann einerseits durch ein performatives Verb im Präsens, erste Person Singular realisiert werden, z. B. »Ich verspreche dir, dass p«, und andererseits durch das gleiche Verb, aber in einer anderen Person und/oder Zeit beschrieben werden: z. B. »Er verspricht ihr, dass p« oder »Ich habe dir versprochen, dass p«. Es gibt in jeder Sprechhandlung also eine von Øfsti so genannte doppelte Doppelstruktur der Rede. Einerseits gibt es die schon von Habermas genannte Doppelstruktur der Rede. 36 Jede Sprechhandlung enthält einen propositionalen Teil bzw. die lokutionäre Dimension »p« und einen performativen Teil, der die illokutionäre Kraft der Rede bestimmt und mitteilt, z. B.: versprechen, wetten, fragen, behaupten, usw. Dieser performative Teil enthält das Selbstverständnis der Sprechhandelnden. Es gibt also bei jedem Sprechakt zwei Ebenen der Rede. Eine verweist auf die Gegenstände, von denen die Rede handelt, und die andere auf die Dialogpartner, mit denen der Sprecher über diese Gegenstände reden kann. Diese intersubjektive Dimension der Rede kann durch den performativen Teil des Sprechaktes ausgedrückt werden, der das Handlungswissen der Sprecher enthält. Es handelt sich also um kein Wissen über einen Gegenstand der Rede (know that), sondern ein Wissen darüber, wie (know how) 35 Siehe dazu: John L. Austin: How to Do Things with Words; John R. Searle: Speech Acts; ders./Vanderveken, D.: Foundations of Illocutionary Logic. Cambridge: Univ. Press, 1985. 36 Siehe dazu: Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: J. Habermas und N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971, S. 101–141; ders.: Was heißt Universalpragmatik. In: Apel, K.-O. (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie, S. 174–272; ders.: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, Kap. III; Dietrich Böhler und Micha H. Werner: Alltagsweltliche Praxis und Rationalitätsansprüche der Kulturwissenschaften. In: Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, hrsg. v. Jaeger, F. und Straub, J., Stuttgart/Weimar: Metzler, 2004, S. 66–83: 72. Vergleiche auch: Dietrich Böhler: Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und Mit- Verantwortung. In: Apel, K.-O./Burckhart, H. (Hrsg.): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, S. 15–68: 33–38.

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eine bestimmte Sprechhandlung durchgeführt werden kann und muss. Diese erste Doppelstruktur der Rede erfasst aber noch nicht die spezifische Struktur der menschlichen Verstandeshandlungen, die nach der sprachpragmatischen Wende als Sprechhandlungen aufgefasst werden müssen. Deshalb schlägt Øfsti eine zweite Doppelstruktur der Rede vor, deren erster Teil die erwähnte performativpropositionale Struktur sei und deren zweiter Teil die Möglichkeit einer von dem Sprechhandelnden durchführbaren reflexiven Einholung seines performativ-propositionalen Verständnisses ist, bzw. die Möglichkeit, einen beschreibenden Bericht über seine Sprechhandlung zu geben. Das Handlungswissen besteht also nicht nur in der Kompetenz, performative Sprechhandlungen durchzuführen (z. B.: »Ich komme morgen«) und als solche zu explizieren (z. B.: »Ich verspreche dir hiermit, dass ich morgen komme«), sondern auch die schon durchgeführten und explizierten Handlungen als eigene oder fremde beschreiben zu können (z. B.: »Ich habe ihm gestern versprochen, dass ich heute komme« oder »Er verspricht ihr, dass er morgen komme«). Das Spezifische des menschlichen Handlungswissens ist also diese konstitutive Reflexivität der Handlungen. Die von Øfsti genannte doppelte Doppelstruktur der Rede verweist also auf die Kompetenz, die performativen Verben in verschiedene Personen und Zeiten abzuwandeln. Wer durch den Gebrauch dieser Verben handelt, weiß das und was er handelt, und genau deshalb muss er die eigenen und fremden Handlungen beschreiben können. Diese Kompetenz bedeutet also einerseits, dass der Akteur seine eigene Handlung aus der Perspektive eines virtuellen Dialogpartners betrachten kann, und andererseits, dass er für seine vergangenen Handlungen einstehen kann bzw. die Verantwortung für seine schon durchgeführten Handlungen übernehmen kann. Das Handlungswissen geht also über das implizite Vorverständnis der eigenen Sprechhandlungen hinaus, das durch performative Verben in der ersten Person Präsenz ausgedrückt werden kann, weil es auch die Kompetenz einer reflexiven Thematisierung dieser Handlungen enthält, die auf die zeitliche und intersubjektive Dimension verweist. Die zeitliche Dimension der Handlung fordert, dass der Akteur sowohl seine schon ausgeführten als auch seine noch nicht durchgeführten Handlungen als eigene reflexiv beschreiben kann, und genau deshalb kann er seine Identität bzw. die Identität zwischen Handelndem und Beschreibendem, im Lauf der Zeit bewahren. Die 80

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intersubjektive Dimension der Handlung präsentiert sich in dieser Selbstthematisierung des Akteurs in dem Sinne, dass er die Handlung eines Ichs gegenüber einem Du als die Handlung eines Er beschreiben kann und so seine Handlung als eine mögliche Handlung eines anderen verstehen kann. Deshalb betont Øfsti, dass das erwähnte performative Handlungswissen und die entsprechende Abwandlungskompetenz eine Beherrschung des Systems der Personalpronomina enthalten. 37 Durch seinen Vergleich der Transzendentalerkenntnis mit dem performativen Handlungswissen bei der Sprechakttheorie kann Øfsti über Fichtes Auffassung hinausgehen und eine notwendige Ergänzung dieser Auffassung aus dem folgenden Grund vorschlagen: »Ein Subjekt, das Verbalphrasen nur performativ (in der ersten Person Präsens) verwenden kann, das nur der intellektuellen Anschauung im Sinne Fichtes mächtig wäre – ein solches Subjekt würde in der Tat kein Subjekt sein, das «weiß, was es macht».« 38 Deshalb kann man den Begriff des performativen Handlungswissens als eine sprachpragmatisch transformierte Version des fichteschen Begriffes der »Tathandlung« bzw. der »intellektuellen Anschauung« ansehen. Andererseits ist aber diese Anschauung als unmittelbares Bewusstsein dieser Handlung nur in dem Aspekt des erwähnten Wissens, das man dem Handelnden als solche notwendigerweise zuerkennen muss, weil er auch die Kompetenz haben muss, dieses unmittelbare bzw. implizite Wissen seiner Handlung in einer expliziten und beschreibenden Weise zu verstehen. Dieses Verstehen bedeutet im sprachpragmatischen Sinne, die performativen Verben nicht nur durch Sprechakte zu verwenden (to use), sondern sie auch im Bericht über diese Akte erwähnen (to mention) zu können. Das von Fichte genannte »unmittelbare Bewusstsein« der eigenen Handlung enthält also immer schon die Möglichkeit ihrer reflexiven und durch die 37 Zum System der deiktischen (indexikalischen) Ausdrücke siehe: Audun Øfsti: Fregean Thoughts and Two Dimensions of Kantian »Thinking« of Intuitions. In: ders. [u. a.] (Hrsg.): Indexicality and Idealism. The Self in Philosophical Perspektive. Paderborn: Mentis, 2000, S. 100–126; und ders.: Das »vertikale« deiktische System der Umgangssprache und das Privatsprachenproblem. In: Lueken, G. L. (Hrsg.): Kommunikationsversuche. Theorien der Kommunikation. Leipzig: Leipziger Univ.-Verlag, 1997, S. 153– 181. Im nächsten Kapitel wird die Relevanz von Øfstis Begriff einer formal vollständigen Sprache zur Systemproblematik der Transzendentalphilosophie nach der sprachpragmatischen Wende berücksichtigt. 38 Audun Øfsti: Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie, S. 78.

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Sprache vermittelten Selbsteinholung bzw. ihrer Abwandlung in ein explizites Wissen über die Handlung. Auf diese Weise können die transzendentale Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts und seine Verstandeshandlungen, die zugleich Handlung und Wissen sind, nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie als ein performatives Handlungswissen verstanden werden, bzw. als ein Wissen, das in dem performativen Teil der Sprechhandlungen implizit oder explizit liegt und durch strikte Reflexion als Bedingung des Sinns und der Gültigkeit der menschlichen Erfahrung und der menschlichen Handlung überhaupt nachgewiesen werden kann. Die Frage ist nun einerseits, ob dieses performative Handlungswissen, das für einen konstitutiven Bestandteil von Sprechhandlungen gehalten werden muss, nur innerhalb von solchen Handlungen oder als implizites Begleitwissen von menschlichen Handlungen überhaupt eine Rolle spielt. Andererseits muss die Frage nach dem echt transzendentalen Charakter dieses Wissens gestellt werden.

2.3. Die Reichweite des Handlungswissens Nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie können die selbstwissenden Handlungen der menschlichen Vernunft nicht mehr als Operationen eines isolierten Ichs verstanden werden, sondern als (mindestens virtuell) kommunikative Handlungen, die sowohl durch Sprechakte als auch durch andere Lebensäußerungen durchgeführt werden. Die erwähnten Handlungen, die als Vehikel der von der philosophischen Reflexion explizierten Transzendentalerkenntnis betrachtet werden können, werden nach dieser Wende nicht mehr für übersinnliche Operationen eines einsamen Selbstbewusstseins in einer metaphysischen rein intelligiblen Welt gehalten, sondern als konkrete Sprechhandlungen von leiblichen Mitgliedern einer Kommunikationsgemeinschaft. Die Vernunfthandlung, die von der klassischen Transzendentalphilosophie als vermeintlich monologische Anwendung oder Setzung einer Verstandesregel betrachtet wurde, stellt sich nach der erwähnten Wende in konkreten Regelfolgen des Sprachgebrauchs dar, die als solche nur im Kontext einer (mindestens virtuellen) Kommunikationsgemeinschaft verstanden werden können. Deshalb brauchen die Vernunfthandlungen jetzt nicht als etwas 82

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betrachtet zu werden, das als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung jenseits dieser Erfahrung selbst stattfinden könnte, sondern als etwas, das nur im Rahmen einer besonderen Art von Erfahrung stattfinden kann, nämlich die so genannte »kommunikative Erfahrung« bzw. die intersubjektive Dimension von menschlicher Erfahrung überhaupt. 39 Dank der von der sprachpragmatischen Wende eröffneten Perspektive kann man klar sehen, dass die selbstwissenden Handlungen des von der klassischen Transzendentalphilosophie als höchste bzw. unbedingte Instanz präsentierten »Ich denke« nur unter intersubjektiven bzw. kommunikativen Bedingungen möglich sind. Eine Verstandesoperation eines denkenden Ichs kann als solche identifiziert und verstanden werden, nur weil sie eine bestimmte Bedeutung hat, die z. B. ermöglicht, sie von anderen Verstandesoperationen und von anderen Ereignissen, die keine Operationen sind, zu unterscheiden. Diese Bedeutung kann aber nicht etwas sein, das nur von einem bzw. von einem isolierten Ich verstanden werden könnte, sondern etwas, das nur durch die Sprache im Rahmen einer Kommunikationsgemeinschaft mitgeteilt und als implizit oder explizit sprachlich vermittelte Bedeutung von dem Sprecher und seinem möglichen Dialogpartner verstanden werden kann. Das Handlungswissen, das die entwickelte klassische Transzendentalphilosophie bzw. die fichtesche Wissenschaftslehre einem absoluten Ich zuschreibt, kann als verstehbares und gültiges Wissen nur etwas sein, das von einer besonderen Art von Kommunikationsgemeinschaft verstanden und als gültig anerkannt bzw. angenommen wird, nämlich nicht von einer bloß faktischen und kontingenten Sprachgemeinschaft bzw. einer geschichtlichen Lebenswelt, sondern von einer prinzipiell unbegrenzbaren Argumentationsgemeinschaft, die den Sinn der durch die Sprache durchgeführten Handlungen verstehen und ihre Gültigkeit als Vernunfthandlungen beurteilen kann. Wenn die transzendentale Auffassung der selbstwissenden Vernunfthandlungen aus dem von der sprachpragmatischen Wende abstammenden erwähnten Grunde in Termini der Sprechakttheorie übertragen werden darf und muss, dann kann die folgende Formulie39 Siehe dazu: Karl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 307 ff., 539 ff.; Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewusstseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion. Wolfgang Kuhlmann: Reflexion und kommunikative Erfahrung. Auf den Begriff der kommunikativen Erfahrung kommen wir im Kapitel 4 noch zurück.

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rung als erster Erklärungsschritt des transzendentalen Charakters des Handlungswissens vorgeschlagen werden: Wir als Sprechhandelnde müssen wissen können, was wir durch unsere Handlungen tun. Diese Formulierung macht deutlich, dass es sich nicht mehr um die Vernunfthandlungen eines isolierten Ichs handelt, das als Kenner dieser Handlungen präsentiert wurde, sondern um die Sprechhandlungen der Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft. Diese Handlungen müssen als die Handlungen der menschlichen Vernunft selbst anerkannt werden, insofern sie nicht für bloß physische Ereignisse gehalten werden, weil sie Ansprüche auf Sinn und Gültigkeit notwendigerweise erheben. Die Sprechhandlungen sind als menschliche Handlungen für einen faktischen oder möglichen Adressaten verstehbar, nur insofern der Sprecher durch sie verschiedene Geltungsansprüche erhebt und eine von diesen zur möglichen Einlösung vorrangig präsentiert. Diese Ansprüche, die die Mitglieder dieser Gemeinschaft gegenüber anderen Mitgliedern durch ihre Sprechhandlungen erheben, können nur durch einen rationalen Diskurs bzw. einen argumentativen Dialog zwischen ihnen eingelöst werden. Das bedeutet dann, dass die Geltungsansprüche nur durch neue Sprechhandlungen eingelöst werden können, die Gründe für und Einwände gegen diese Ansprüche vorbringen. Keine faktische und begrenzte Gemeinschaft kann aber diese Anspruchseinlösung liefern, weil neue Gründe und Einwände, die von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft noch nicht berücksichtigt wurden, für die erwähnte Einlösung entscheidend sein können. Genau deshalb kann und darf man nur einer prinzipiell nicht begrenzbaren bzw. unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft unter den sogenannten idealen Bedingungen die Rolle der letzten Instanz zuschreiben, gegenüber der sowohl die durch Sprechhandlungen erhobenen Geltungsansprüche eingelöst werden können, als auch diese Handlungen als solche von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft sinnvoll durchgeführt und verstanden werden können. Die idealen Bedingungen, unter denen die Sinn- und Geltungsansprüche der Sprechhandlungen durch ein argumentatives Verfahren eingelöst werden können, dürfen aber mit prinzipiell unrealisierbaren Bedingungen nicht verwechselt werden. Das Wort »ideal« kann hier nur rein argumentativ bedeuten, d. h. Bedingungen, unter denen kein extra argumentativer Faktor, wie z. B. Zwang, Drohung, Angst, Machtoder Gewinnstreben, Vorurteile, usw. die Urteilskraft der Mitglieder 84

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der Argumentationsgemeinschaft bestimmt. 40 Unter idealen Bedingungen beachten sie nur das Gewicht der Argumente und Gegenargumente. Jede sinnvolle Sprechhandlung, die als solche Sinn- und Geltungsansprüche erhebt, setzt immer schon voraus, dass diese Bedingungen prinzipiell realisierbar und in gewisser Weise schon gegeben sind. (Zum Beispiel: Wir bzw. der Leser und ich müssen die aktuelle Gegebenheit dieser idealen Bedingungen hier und jetzt notwendigerweise voraussetzen!) Zur philosophischen Rekonstruktion dieser pragmatischen Bedingungen muss man also nicht die bloß faktischen Diskurse, die die Mitglieder einer realen Kommunikationsgemeinschaft tatsächlich durchführen, soziologisch beobachten, weil diese Diskurse doch normalerweise mehr oder weniger von den erwähnten extra argumentativen Faktoren bestimmt werden. 41 Zu dieser Rekonstruktion muss man hingegen eine bestimmte Art von Erwartungen strikt reflexiv berücksichtigen, nämlich die Erwartung zur Einlösung von Geltungsansprüchen, die eben durch jede Sprechhandlung dieser Rekonstruktion erhoben werden. 42 Auf diese Weise kann man die kantsche Formulierung der transzendentalen Apperzeption bzw. die Vorstellung »Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können« vorschlagen und die fichtesche Formulierung der intellektuellen Anschauung bzw. »das unmittelbare Bewusstsein, dass ich handle und was ich handle« durch den folgenden zweiten Erklärungsschritt des transzendentalen Charakters des Handlungswissens in sprachpragmatische Termini übertragen: wir als aktuelle Mitglieder einer idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft müssen wissen können, was wir durch unsere Sprech- bzw. Argumentationshandlungen tun, d. h. welche spezifische Art von Sprechhandlungen wir durchführen, welchen vorrangigen Geltungsanspruch wir durch diese Handlungen als diskussionswürdig gegenüber dieser Gemeinschaft erheben und welche spezifische Art von Beitrag wir zu dem argumentativen Einlösungsprozess von diesen Ansprüchen auch durch diese Handlungen leisten. Siehe unten: 6.4. Siehe dazu: Pierre Bourdieu: Ce que parler veut dire: l’économie des échanges linguistiques. Paris: Fayard, 1982. 42 Es handelt sich um keine zufälligen subjektiven Erwartungen, sondern um Erwartungen, die von notwendigerweise vorausgesetzten Regeln und intersubjektiven Verpflichtungen abhängen. Siehe dazu: Dieter Wunderlich: Über die Konsequenzen von Sprechhandlungen. In: Apel, K.-O. (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie. S. 441–462. 40 41

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Das Handlungswissen, das wir uns selbst als Mitglieder einer idealen und prinzipiell unbegrenzbaren Argumentationsgemeinschaft bei jeder sinnvollen Sprechhandlung immer schon und notwendigerweise zuschreiben, enthält also die Kompetenz zu bestimmen, erstens, was für eine Sprechhandlung wir durchführen, z. B.: eine Beschreibung, eine Frage, einen Handlungsvorschlag, ein Bekenntnis, usw., zweitens, was für Geltungsansprüche wir mit dieser Handlung vorrangig zur Diskussion erheben, d. h. einen Wahrheitsanspruch, einen Richtigkeitsanspruch oder einen Wahrhaftigkeitsanspruch, und drittens, was für einen Beitrag wir zum Einlösungsvorgang dieser Ansprüche vorbringen, z. B. eine Rekonstruktion, eine Interpretation, eine Erklärung, ein Argument für oder einen Einwand gegen die erhobenen Ansprüche, usw. Dieses Wissen enthält auch eine Menge von pragmatischen Präsuppositionen dieser Handlungen, Ansprüche und Beiträge, die das Verhältnis zwischen Argumentationspartnern und auch ihr Selbstverständnis als solches bestimmen. Diese von unserem Handlungswissen konstitutiven Kompetenzen und Präsuppositionen können von uns im Rahmen eines argumentativen Dialogs reflexiv expliziert und überprüft werden. 43 Dank der oben genannten doppelten Doppelstruktur der Rede muss jeder kompetente Teilnehmer eines argumentativen Dialogs im Falle eines Missverständnisses auf die illokutionäre Kraft seiner schon durchgeführten Sprechhandlungen hinweisen können. Dieser retrospektive und reflexive Hinweis ist eigentlich schon der Anfang eines philosophischen bzw. sprachpragmatischen Explizierens und transzendentalen Nachweisens des menschlichen Handlungswissens. Die klassische Transzendentalphilosophie versuchte die konstituierenden und selbst wissenden Handlungen der menschlichen Vernunft, die als autonomer Gesetzgeber sowohl die Naturgesetze als auch die Sittengesetzte vorschreibt, durch eine Reflexion über das Vermögen eines Ichs zu identifizieren und ihre Gültigkeit zu »deduzieren« bzw. zu begründen. Diese Handlungen, Grundsätze und BeSiehe dazu: Dietrich Böhler: Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik. Karl-Otto Apels Athene im Rücken. In: Böhler, D./Kettner, M./Skirbekk, G. (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 15–43; ders.: Dialogreflexion als Ergebnis der sprachpragmatischen Wende. Nur das sich wissende Reden und Miteinanderstreiten ermöglicht Vernunft. In: Trabant, J. (Hrsg.): Sprache denken. Positionen aktueller Sprachphilosophie, S. 145–162. 43

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griffe wurden »transzendental« benannt, weil sie als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis a priori fungieren. Nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie kann weder die objektive Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis noch die Unbedingtheit des sittlichen Gebotes mittels der Operationen eines einsamen Ichs begründet werden. 44 Sowohl die Erkenntnis als auch das Sittengesetz können für gültig gehalten werden, nur wenn sie nicht nur »für mich« bzw. für ein isoliertes Ich gültig sind, sondern auch notwendigerweise für ein unbegrenztes Wir, bzw. eine Argumentationsgemeinschaft, deren Mitglieder durch ihre Sprechhandlungen Geltungsansprüche (bzw. erkenntnisbezogene Wahrheitsansprüche und moralbezogene Richtigkeitsansprüche) gegenüber den anderen erheben und versuchen, sie argumentativ einzulösen, weil ein Ich allein bzw. ohne mindestens virtuelle Kommunikation in der Gemeinschaft keine Handlung durchführen und verstehen kann. Die Durchführung dieser Handlungen ist also eine notwendige Bedingung für den Sinn und die Geltung jeder möglichen Erkenntnis und moralischer Normen überhaupt, weil sie nur durch diese Sprechhandlungen als intersubjektiv verstehbar und gültig präsentiert werden können. Trotz dieser intersubjektiven und sprachlichen Transformation des transzendentalphilosophischen Verständnisses von den menschlichen Vernunfthandlungen bleibt die These, dass diese Handlungen selbstwissende sind. Dieses Selbst-Wissen, das jede Vernunfthandlung begleiten können muss, kann jedoch als die reine Apperzeption eines transzendentalen Ichs nicht mehr erachtet werden, sondern ist ein notwendiger Bestandteil der illokutionären Kraft der Sprech44 Als echter Vorgänger der gegenwärtigen sprachpragmatischen Kritik an der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie hat Giambattista Vico in seinem frühen Liber metaphysicus (1710) schon bemerkt, dass das kartesianische ego cogito nicht genug ist, um die objektive Geltung der Erkenntnis zu gewährleisten, weil der Einzelne nicht der Besitzer, sondern nur ein Teilhaber der Vernunft ist: »hominem autem vulgo describebant animantem «rationis participem», non compotem usquequaque«. Giambattista Vico: Liber metaphysicus. Risposte, Lateinisch-Deutsche und Italienisch-Deutsche Ausgabe, München: Fink, 1979, S. 34. Zur transzendentalpragmatischen Rezeption der Kritik Vicos an Descartes siehe: Karl-Otto Apel: Giambattista Vicos Anticartesianismus und sein Programm einer ›Neuen Wissenschaft‹: Ein topologischer Beitrag zur Wissenschaftsprogrammatik der frühen Neuzeit. In: Zeitsprünge, Bd. 3, Heft 1–2, 1999, S. 209–245; ders.: The Cartesian Paradigm of First Philosophy: A Critical Appreciation from the Perspective of Another (The Next?) Paradigm. In: International Journal of Philosophical Studies, 6/1, 1998, S. 1–16.

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handlungen, der als solcher reflexiv identifiziert, als performativer Teil dieser Handlung in der ersten Person Singular Präsenz explizit ausgedrückt und in andere Zeiten und Personen retrospektiv und distanzierend umgewandelt werden kann. Wie bei der klassischen Transzendentalphilosophie muss man auch hier den transzendentalen Charakter dieses begleitenden Handlungswissens anerkennen. Dieser Charakter bedeutet einerseits, dass es sich um kein erfahrungsabhängiges bzw. bloß hypothetisch oder theoretisch rekonstruktives Wissen handelt, das ganz von außen die menschlichen Handlungen als quasi Naturphänomene beobachtet, sondern um ein Wissen a priori, dessen Gültigkeit völlig unabhängig von jeder möglichen Erfahrung sein muss. Andererseits bedeutet der transzendentale Charakter des in dem performativen Teil der Sprechakte implizit enthaltenen Selbst-Wissens, dass es eine Bedingung der Möglichkeit bzw. des Sinns und der Gültigkeit jeder Erfahrung und Handlung ist. Der Grund zur Behauptung dieses Charakters kann folgendermaßen ausgedrückt werden: Wenn man jemandem die Fähigkeiten nicht zuschreiben würde, die illokutionäre Kraft seiner eigenen Sprechhandlungen reflexiv zu identifizieren, durch performative Verben in der ersten Person Singular Präsenz explizit auszudrücken und diese Handlungen durch eine spätere und in gewisser Weise distanzierte Beschreibung retrospektiv selbst einzuholen, dann könnte man ihn als ein Handlungsund Erfahrungssubjekt eigentlich nicht ernst nehmen bzw. als ein mögliches Mitglied einer prinzipiell unbegrenzbaren Argumentationsgemeinschaft, das durch seine Sprechhandlungen gegenüber den anderen Mitgliedern Sinn- und Gültigkeitsansprüche erhebt und an diskursiven Einlösungsprozessen der eigenen und fremden Ansprüche teilnehmen kann. Deshalb ist das erwähnte Selbst-Wissen eine pragmatische Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis und Handlung überhaupt, die jedem Sprechhandelnden von vornherein bzw. a priori zugeschrieben werden muss, d. h. ein Wissen, das wir als Argumentierende uns selbst und wechselseitig immer schon notwendigerweise zuschreiben. Ein Teilnehmer eines argumentativen Dialogs muss immer als ein Handlungswissensträger behandelt werden bzw. als jemand, der die eigenen Diskursbeiträge sinnvoll leisten, beschreiben, erläutern und begründen kann und die fremden diskutieren bzw. kritisieren und auch von ihnen etwas lernen kann. Die Transzendentalerkenntnis, deren Gültigkeit die klassische Transzendentalphilosophie ver88

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suchte, durch eine angeblich monologische Reflexion über die Verstandeshandlungen eines einsamen Ichs zu »deduzieren«, kann jetzt nur durch eine strikt reflexiv sinnkritische Prüfung letztbegründet werden. Diese Prüfung besteht, wie schon bekannt ist, in einer Konfrontation des behaupteten propositionalen Teils der Sprechhandlung mit ihrem behauptenden performativen Teil zu bestimmen, ob es möglich ist, einerseits diesen letzten Teil ohne einen so genannten performativen Selbstwiderspruch zu bestreiten bzw. ohne einen Widerspruch zwischen den erwähnten Teilen, und andererseits den propositionalen Teil ohne pragmatisch-logische Zirkel abzuleiten, bzw. ohne eine Prämisse zu benutzen, die in dem performativen Teil immer schon vorausgesetzt wird. Das Handlungswissen bleibt normalerweise implizit in der performativen Dimension der Rede, und wenn es nötig ist, z. B. im Fall eines Missverständnisses, kann der Sprecher es explizit ausdrücken. Der transzendentale Charakter dieses Wissens wird durch die erwähnte sinnkritische Prüfung nachgewiesen. Es handelt sich um ein gemeinsames Wissen der Mitglieder der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft, die von jedem Sprechakt als Sinn- und Gültigkeitsinstanz immer schon vorausgesetzt wird, weil ein Sprecher als potentieller Diskurspartner mit der Durchführung seines Sprechakts notwendigerweise beansprucht, dass der Sinn seiner Handlung für die anderen Teilnehmer dieser Gemeinschaft und für sich selbst verstehbar ist und dass die durch diese Handlung erhobenen Geltungsansprüche als solche anerkannt und in dieser Gemeinschaft durch einen argumentativen Vorgang eingelöst werden können. Durch die dank der sprachpragmatischen Wende der Transzendentalphilosophie notwendige Anerkennung der notwendig intersubjektiven Dimension der Vernunfthandlung erweitert sich auch die Reichweite des Wissens dieser Handlungen. Diese Erweiterung des Handlungswissens besteht nicht nur in dem schon erwähnten Übergang von einem einsamen Ich denke, das zugleich handelt und weiß, zu einer Argumentationsgemeinschaft, deren Mitglieder wissen können, was für eine Sprechhandlung sie durchführen, sondern auch in einem noch weiteren Sinne, nämlich, dass alle menschlichen Handlungen bzw. nicht nur diejenigen, die durch Sprechakte durchgeführt werden, als Vernunfthandlungen in gewisser Weise verstanden werden können, d. h. als Träger von Sinn- und Gültigkeitsansprüchen, die gegenüber den Mitgliedern einer prinzipiell unbegrenzbaren Argumentationsgemeinschaft erhoben werden könA

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nen. Das Handlungswissen begleitet nicht nur die Sprechhandlungen, sondern auch alle menschlichen Handlungen, die als solche verstanden werden können. Deshalb wurde dieses Wissen als »Begleitwissen« bezeichnet. 45 Zum einen ist das so, weil der Mensch im Handeln und im Reden nicht zu trennen ist. Jemand, der eine nicht sprachliche Handlung durchführt, muss auf eine unausdrückliche Weise wissen können, was er tut, und deshalb muss er diese Handlung als solche beschreiben können, d. h. als Redesubjekt das Verständnis seiner Handlung durch Sprechakte ausdrücken und dadurch argumentativ einlösbare Sinn- und Geltungsansprüche implizit oder explizit erheben. 46 Zum andern kann der Sinn der nicht sprachlichen Handlungen sprachpragmatisch rekonstruiert werden, wenn diese Handlungen als Antworten auf herausfordernde Situationen durch ein quasi-dialogisches Modell verstanden werden. 47 Dieser pragmatisch rekonstruktive Ansatz geht über die handlungstheoretische Analyse hinaus, die das Handeln als Gegebenheit und die Handlung als ein zielgerichtetes intentionales Tun direkt ansetzen, um die Frage nach der Konstitution von Handlungen im weitergefassten begrifflichen Rahmen eines philosophischen Verständnisses der Handlungskompetenzen, der handlungsinhärenten Ansprüche, des Sich-Verhaltens der Handelnden und der von ihm verstandenen Sinnzusammenhänge seiner Handlungssituation stellen zu können. Die Berücksichtigung dieses Rahmens bei der sprachpragmatischen Rekonstruktion der Handlungskonstitution erlaubt die theoretische Abstraktion aufzuheben, die den Handlungsbegriff nur mit den Bezugssystemen verbindet, wie eine begrenzte Gemeinschaft, eine Institution oder ein Sozialsystem, und diesen Begriff einseitig für eine unreflexive Regelfolge, für ein Mittel zur Bedürfnisbefriedigung oder für eine Konsequenz einer bloß willkürlichen Vgl. Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. z. B., S. 303. Diskurse sind Spezialfälle kommunikativen Handelns und jede Handlung beinhaltet virtuelle Argumente bzw. eine Proto-Argumentation. Siehe dazu: Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie. Bd. II, S. 400; Herbert Schnädelbach: Reflexion und Diskurse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 140–144; und Paul-Ludwig Völzing: Begründen, Erklären, Argumentieren. Heidelberg: Quelle und Meyer, 1979, S. 124–126. 47 Siehe dazu: Dietrich Böhler: Konstituierung des Handlungsbegriffs. Teleologisches und quasi-dialogisches Rekonstruktionsmodell. In: H. Lenk (Hrsg.): Handlungstheorien interdisziplinär, Bd. 2. I., Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretation, München: Kösel, 1979, S. 161–197; ferner: Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik, S. 247–273. 45 46

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Entscheidung zu halten. 48 Im Unterschied zum theoretischen Versuch, die menschliche Handlung durch eine axiomatische Modellkonstruktion und Interpretationsregeln von außen zu erklären, 49 besteht die sprachpragmatische Rekonstruktion der Handlungskonstitution in einem reflexiven »Sich-Erinnern« an das, was wir als Handelnde in der Lebenspraxis immer schon können und wissen. Ein wichtiges Resultat dieses sprachpragmatischen und reflexivrekonstruktiven Unternehmens ist die Erläuterung des impliziten Handlungswissens als einer stufenförmigen Reihe von kognitiven und praktischen Kompetenzen, Handlungsorientierungen zu verstehen und zu befolgen, ihre Angemessenheit zur Situation zu beurteilen und hinsichtlich ihrer inhärenten Gültigkeitsansprüche zu kritisieren und zu begründen 50 . Diese reflexive Erläuterung der in dem Handlungswissen impliziten Kompetenzen führt, wie oben angegeben, nicht zur abstrakten Modellkonstruktion des Handlungsbegriffes, sondern zu einem quasi-dialogischen Modell, in dem die Handlung als eine Antwort des Handelnden auf die von ihm sprachlich unausdrücklich verstandene Situation und die fraglichen Handlungsorientierungen als Antworten auf vielfältig interpretierbare und deswegen bestreitbare Situationstypen rekonstruiert werden. Dieses rekonstruktive quasi-dialogische Handlungsmodell bringt zutage, dass der Akteur nicht nur eine handlungsorientierende Regel durch seine Handlung anwendet und die Angemessenheit dieser Orientierung mit der intentio recta implizit versteht, sondern auch, dass er sein Verständnis der Situation und der Regelanwendung mit der intentio obliqua sprachlich erläutern und diskursiv rechtfertigen können muss. Im Unterschied zu anderen philosophischen Ansätzen kann diese sprachpragmatische Rekonstruktion der Handlungskonstitution 48 Siehe dazu: Dietrich Böhler: Arnold Gehlen: Die Handlung. In: Speck, J. (Hrsg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 3. Aufl., 1991, S. 230–280; Karl-Otto Apel: Arnold Gehlens ›Philosophie der Institutionen‹ und die Metainstitution der Sprache. In: Ders: Transformation der Philosophie. 2 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973, Bd. I, S. 197– 222. 49 Vgl. z. B.: Georg Meggle: Eine Handlung verstehen. In: Apel, K.-O. (Hrsg.): Neue Versuche über Erklären und Verstehen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1978, S. 234–263; Karl-Otto Apel: Intention, Kommunikation und Bedeutung. Eine Skizze. In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.): Intentionalität und Verstehen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, S. 88–108. 50 Vgl. Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. 1985, S. 242 ff.

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einen Übergang von der Ebene des Verstehens und der Regelanwendung bzw. der institutionalisierten Antworten auf Situationen zur Ebene der Verständigung, Kritik und Begründung solcher Antworten liefern, ohne eine unangemessene Trennung zwischen Akteur und Beobachter zu postulieren. Für unsere aktuelle Absicht bedeutet dieses quasi-dialogische Verstehen des Handelns einen wichtigen Beitrag zum Bestimmen der Reichweite des Handlungswissens, das schon von der philosophischen Tradition des deutschen Idealismus für Träger der Transzendentalerkenntnis gehalten wurde und nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie in dem performativen Teil der Sprechakte wiederentdeckt wurde. Die hier nur kurz erwähnte pragmatische Rekonstruktion der Handlungskonstitution erlaubt uns zu erkennen, dass das von Transzendentalerkenntnis getragene Handlungswissen nicht nur dem Sprecher, sondern dem menschlichen Akteur überhaupt als stillem Teilhaber der menschlichen Vernunft zugeschrieben werden muss.

2.4. Zurück zu Kant In den letzten Abschnitten wurde die Idee des Handlungswissens sowohl im Rahmen der klassischen Transzendentalphilosophie als auch ihrer sprachpragmatischen Gegenwartstransformation kurz dargelegt. Diese Transformation bedeutet eine Wende, nach der die philosophische Reflexion sich nicht mehr mit dem Gemütsvermögen eines einsamen Bewusstseins beschäftigt, um die Bedingungen der Möglichkeiten der objektiven Erkenntnis aufzudecken und eine philosophische Aufklärung des Sittengesetzes zu liefern. Nach dieser Wende wird angenommen, dass die Sinn- und Gültigkeitsbedingungen sowohl der wahren Erkenntnis als auch der Gerechtigkeitsnormen in der pragmatischen Dimension der sprachlichen Zeichen von der philosophischen Reflexion gesucht werden müssen. Diese Reflexion kann also die Bedingungen als einen notwendigen Bestandteil des performativen Aspekts der Sprechhandlungen und der nur sprachlich verstehbaren, nicht sprachlichen Handlungen der Teilnehmer einer prinzipiell unbegrenzbaren Gemeinschaft der Zeichenbenutzer enthalten. Diese sprachlichen und sprachlich verstehbaren Handlungen einer Kommunikations- und Argumentationsgemeinschaft, die zum vorrangigen Gegenstand der transzendentalphilosophischen Reflexion nach der erwähnten Wende der Gegenwartsphi92

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losophie erhoben wurden, können nicht mehr für Verstandeshandlungen eines isolierten Ichs oder für selbst wissende Tathandlungen im Sinne der klassischen Transzendentalreflexion der Bewusstseinsphilosophie gehalten werden. Obwohl beide philosophischen Auffassungen der transzendentalen Reflexion, die klassische und die sprachpragmatisch transformierte, die transzendentalen Sinn- und Gültigkeitsbedingungen der Erkenntnis und der menschlichen Praxis in einer Art von Handlungswissen finden, kann man erst nach der Wende klar erkennen, dass die Handlungen eines angeblich selbständigen Ichs nicht als erster philosophischer Grundsatz fungieren können, weil diese Verstandeshandlungen selbst als solche bestimmte sprachpragmatische Präsuppositionen ihres zumindest virtuell kommunikativen Sinnes und ihrer Gültigkeit noch voraussetzen. Eine von diesen Präsuppositionen ist z. B. die notwendige Voraussetzung einer idealen und prinzipiell unbegrenzbaren Argumentationsgemeinschaft, gegenüber der das denkende Ich als virtueller Diskurspartner seine sprachlich artikulierbaren Gedanken als sinnvoll und gültig nur denken kann. Das denkende Ich ist also von dieser Gemeinschaft abhängig und kann deshalb als erster philosophischer Grundsatz nicht fungieren, weil es beanspruchen muss, dass seine Gedanken nicht nur für sich selbst, sondern auch für jeden anderen möglichen Diskurspartner bzw. Teilnehmer dieser Gemeinschaft sinnvoll und gültig sind, und dass die durch seine sprachlich artikulierbaren Gedanken erhobenen Sinnund Gültigkeitsansprüche nur durch einen prinzipiell intersubjektiven argumentativen Vorgang eingelöst werden können. Deshalb kann man Kants Formulierung 51 des Handlungswissens folgendermaßen sprachpragmatisch paraphrasieren: die sprachpragmatische Voraussetzung einer idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft muss alle meine sinnvollen Vorstellungen begleiten können, weil sonst etwas in meiner Vorstellung existieren würde, was von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft gar nicht sinnvoll gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, dass die Vorstellung sinnlos würde bzw. für uns keine diskutierbare Behauptung sein würde. Die oben erwähnte Wende der Transzendentalphilosophie und das entsprechende philosophische Verständnis des Handlungswissens fordern unbedingt eine radikale Änderung in dem philosophischen Wortschatz, durch den dieses Wissen präsentiert und 51

Vgl.: KrV, § 16, B 132–133. A

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als transzendental nachgewiesen werden kann. Die Beharrlichkeit bei der traditionellen Ausdrucksweise der klassischen Transzendentalphilosophie bzw. der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit kann hingegen zu möglichen Missverständnissen über die transzendentalpragmatische Auffassung des Handlungswissens führen. Solche irreführenden Missverständnisse können durch die oben erwähnte von Hösle und Øfsti vorgeschlagene Gleichsetzung des durch eine sprachpragmatische Reflexion rekonstruierbaren und nachweisbaren performativen Handlungswissens mit dem fichteschen Begriff einer »intellektuellen Anschauung« eingeführt werden. 52 Diese Missverständnisse finden wir z. B. bei der von Geert Keil dargelegten handlungstheoretischen Rekonstruktion des skeptischen Einwands gegen den so genannten klassischen Interventionismus. 53 Dieser handlungstheoretische Ansatz behauptet, dass es für den Handelnden einen ausgezeichneten epistemischen Zugang zu derjenigen Veränderung in der Körperwelt gibt, die auf seinen absichtlichen Eingriffen beruht. Nach der erwähnten Rekonstruktion wird das Postulat dieses Zugangs mit der Behauptung eines unfehlbaren Handlungswissens sowohl bei der Transzendentalphilosophie Fichtes als auch bei der Transzendentalpragmatik begleitet. Nach Keil scheinen aber die Aussichten für ein unfehlbares Handlungswissen bei der Transzendentalpragmatik aus zwei Gründen fraglich zu sein. Der erste besteht darin, »dass auch der Versuch, einen performativen Akt zu vollziehen, unbemerkt fehlschlagen kann, denn die Annahme des Er»Doch bei Fichte fehlt noch die Berücksichtigung der sprachlichen Vermittlung des performativen Handlungswissens und insofern auch das Verständnis des spezifischen Sinns der Selbstsetzungsakte des Ich aus der Reziprozität der Sprechakte im Dialog. Den nächsten Schritt, den Schritt ins sprachpragmatische Paradigma, vollzieht hier J. L. Austin in seinem Buch How to do things with words (1955) durch die Entdeckung der Performativa – zunächst als institutionalisierte Sprechakte, so dann als pragmatisch dominierenden Bestandteil aller Sprechakte bzw. aller semantisch- pragmatisch expliziten Sätze, sogar der assertorischen Sätze, wie ›ich behaupte hiermit, dass p‹«. Karl-Otto Apel: Intersubjektivität, Sprache und Selbstreflexion. In: Wolfgang Kuhlmann (Hrsg.): Anknüpfen an Kant. Konzeptionen der Transzendentalphilosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, S. 63–78: 69. 53 Vgl. Geert Keil: Handeln und Verursachen. Frankfurt a. M.: Klostermann, 2000, S. 417–430. Als Vertreter dieser interventionistischen Handlungsauffassung siehe: G. H. von Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt a. M.: Athenäum Verl., 1974; Karl-Otto Apel (Hrsg.): Neue Versuche über Erklären und Verstehen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1978; L. Krüger: Kausalität und Freiheit. Ein Beispiel für den Zusammenhang von Metaphysik und Lebenspraxis. In: Neue Hefte für Philosophie, 32/33, 1992, S. 1–14; H. Price: Agency and Causal Asymmetry. In: Mind, 101, 1992, S. 501–520. 52

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fülltseins seiner Gelingensbedingungen beruht zum Teil auf empirischen Feststellungen«. 54 Als Beispiel bringt Keil den Fall eines vermeintlichen Vollzuges einer Ehescheidung, der sich als »Versuch am untauglichen Objekt« herausstellen kann. Der zweite von Keil vorgebrachte Grund gegen die von der Transzendentalpragmatik behauptete Unfehlbarkeit eines performativen Handlungswissens lautet: »Zum anderen sind auch die Vollzüge von Sprechakten an körperliche Operationen gebunden, nämlich mindestens an die Bewegungen unserer Sprechwerkzeuge. Auch verlassen wir uns darauf, dass von uns produzierte Schallwellen das Ohr des Hörers erreichen. Hinsichtlich dieser Bedingungen sind wir aber in keiner prinzipiell anderen epistemischen Lage als hinsichtlich unserer elementaren Körperbewegungen.« 55

Diese handlungstheoretische Erläuterung der angeblichen Gründe für die Ablehnung der von der Transzendentalpragmatik beanspruchten Unfehlbarkeit des Handlungswissens belehrt uns offenkundig über die oben schon erwähnten Missverständnisse. Wenn jemand die transzendentale Dimension des performativen Handlungswissens wirklich berücksichtigen will, wäre es m. E. überhaupt nicht empfehlenswert, dass er als ersten Schritt die Fälle eines wegen empirischer Ursachen fehlgeschlagenen Sprechaktvollzugs oder die Sprechhandlungen eines Astronauten betrachtet. 56 Um diese Dimension strikt reflexiv anerkennen zu können, wäre es sinnvoller, den performativen Bestandteil der selbst von diesem Handlungstheoretiker durchgeführten Sprechhandlungen zu berücksichtigen, z. B.: nach der illokutionären Kraft der folgenden Aussage zu fragen: »Der Versuch, einen performativen Akt zu vollziehen, kann unbemerkt fehlschlagen.« Die Frage ist nun, was für eine Sprechhandlung durch diese Geert Keil: Handeln und Verursachen, S. 423. Ebenda. Siehe auch: Geert Keil: Gibt es ein infallibles performatives Handlungswissen? In: Boe/Molander, B. (Hrsg.): I Forste: Andre Og tredje person (Festschrift für A. Ofsti.). Trondheim, 1999, S. 211–221. 56 In seiner Habilitationsschrift versucht Keil den transzendentalpragmatischen Ansatz auch durch das folgende Beispiel zu bestreiten: »Aber denken wir an den Fall, dass jemand unsicher ist, ob er etwas nur gedacht oder den Gedanken laut ausgesprochen hat, Oder: Ein Astronaut ›fragt‹ bei einem Weltraumspaziergang bei abgeschaltetem Funkgerät seinen Begleiter etwas, vergessend, dass kein Schall zustande kommt: Hat er in diesem Fall eine Sprechhandlung vollzogen oder nicht?« Geert Keil: Handeln und Verursachen, S. 424, Fn. 37. Vgl. Geert Keil: Gibt es ein infallibles performatives Handlungswissen? S. 219, Fn. 28. 54 55

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Aussage von dem Sprecher bzw. hier dem Schreiber vollzogen wird. Um die Bedeutung dieser Aussage verstehen zu können, muss der Adressat bzw. hier der Leser nicht nur die bloß semantischen Wahrheitsbedingungen dieser Aussage verstehen, sondern auch die illokutionäre Kraft des Sprechaktes, durch den diese Aussage mitgeteilt wird, die durch diesen Sprechakt den zur Diskussion vorrangig erhobenen Gültigkeitsanspruch und die Einlösungserwartungen der Sprecher bestimmen kann. 57 Ohne zu wissen, ob diese Sprechhandlung eine These, ein Bekenntnis, eine Warnung, oder eine Voraussage ist, ob sie als wahr, normativ richtig oder als subjektiv wahrhaftig als Beitrag zur Diskussion vorgeschlagen wird und was für eine entsprechende Handlung der möglichen Adressaten den Sprecher erwartet, bleibt die Aussage über die möglichen und unbemerkten Fehlschläge von Sprechhandlungen völlig unverständlich. Weder die möglichen Adressaten noch der Sprecher selbst könnten diese Aussage überhaupt verstehen, wenn sie den performativen Aspekt dieser Aussage nicht bestimmen könnten. Diese sprachliche Äußerung ist nur als eine bestimmte Art von Sprechhandlung verstehbar, z. B. als eine behauptete allgemeine These oder als eine empirische Voraussage, durch die der Sprecher einen Wahrheitsanspruch vorrangig erhebt, oder als eine praktische Warnung, durch die er einen normativen Richtigkeitsanspruch vorrangig erhebt, oder als ein Bekenntnis des Sprechers, durch das er einen Wahrhaftigkeitsanspruch vorrangig erhebt. Deshalb ist dieses Wissen über die performative Dimension der eigenen und fremden Sprechhandlungen bzw. dieses performativen Handlungswissen eine Sinnbedingung der Kommunikation. 58 Natürlich kann man bei dem Verständnis von Sprechhandlungen Fehler machen, z. B. eine praktische Warnung über eine bedrohliche Gefahr für eine theoretische These oder für ein Bekenntnis einer subjektiven Überzeugung halten. Aber diese doch möglichen Deshalb erlaubt die Sprechakttheorie, über die semantische Bedeutungsauffassung des frühen Wittgenstein hinauszugehen. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-Philosophicus. 4.024–4.031. In: ders.: Schriften. Bd. 1; John R. Searle: Speech Acts; John L. Austin: How to Do Things with Words.; Karl-Otto Apel: Sprachliche Bedeutung, Wahrheit und normative Gültigkeit. Die soziale Bindekraft der Rede im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik. In: Archivio di Filosofia. LV. 1–3, 1987, S. 51–88. 58 Vgl. Searles These über den »self-guaranteeing« Charakter der performativen Aussagen: John Searle: Consciousness and Language. Cambridge: Univ. Press, 2002, S. 160 ff. 57

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Missverständnisse der alltäglichen Kommunikation können genau durch die Fortsetzung dieser Kommunikation selbst aufgeklärt und beseitigt werden. Deshalb muss man in diesem Punkt klar bemerken, dass diese möglichen Missverständnisse die Sicherheit des performativen Handlungswissens als angebliche Gegenbeispiele überhaupt nicht betreffen, weil genau dieses Wissen eine Bedingung der Möglichkeit der erwähnten Aufklärung und Beseitigung von Missverständnissen selbst ist. Ohne sicheres Wissen über die illokutionäre Kraft der Sprechhandlungen, über die Gültigkeitsansprüche und ihre entsprechenden Einlösungsvorgänge, über die gegenseitigen Erwartungen der Diskurspartner usw., könnten keine Missverständnisse aufgeklärt und beseitigt und auch nicht einmal als solche bemerkt werden. Die Entdeckung einer falschen Interpretation von Sprechhandlungen wird also durch ein sicheres performatives Handlungswissen sowohl bedingt als auch ermöglicht. Im lebendigen Rahmen eines mündlichen Dialogs können die erwähnten Missverständnisse aufgeklärt und beseitigt werden, wenn der Adressat einer Sprechhandlung, der an seinem Verständnis der illokutionären Kraft dieser Handlung zweifelt, bzw. der ein mögliches Missverständnis darüber zu bemerken glaubt, den Sprecher nach dieser Kraft einfach fragt. Diese Frage enthält die Erwartung, dass der Sprecher diese Kraft bestimmen kann, bzw. dass er weiß, was er meint, wenn er z. B. sagt: »Der Versuch, einen performativen Akt zu vollziehen, kann unbemerkt fehlschlagen.« 59 Im hermeneutischen Rahmen, wo der Verfasser eines diese Aussage enthaltenden Textes zu dieser Befragung wegen der zeitlichen oder räumlichen Entfernung prinzipiell oder momentan unerreichbar sein kann, muss aber der Leser selbst die Antwort des Verfassers durch die verfügbaren 59 Im Rahmen der sog. ordinary language phylosophy wurde dieses Problem in gewisser Weise berücksichtigt. Siehe dazu z. B.: Stanley Cavell: Must We Mean What We Say? Cambridge [u. a.]: Cambridge Univ. Press, 2002, S. 1–44. Die Behauptung der erwähnten Erwartung führt aber nicht zur bloß semantischen Auffassung von explizit performativen Äußerungen, die gegen die Sprechakttheorie Austins vorgeschlagen wurde. Siehe dazu: Günther Grewendorf: Explizit performative Äußerungen und Feststellungen. In: ders. (Hrsg.): Sprechakttheorie und Semantik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, S. 197–216. Zur Verbindung zwischen Erwartung, Präsupposition und Handlung, siehe: Konrad Ehrlich/Jochen Rehbein: Erwarten. In: Wunderlich, D. (Hrsg.): Linguistische Pragmatik. Wiesbaden: Athenaion, 2. Aufl., 1975, S. 99–114. Unsere Erforschung handelt aber nur von fraglosen Erwartungen, die nicht sinnvoll problematisiert bzw. diskreditiert werden können, d. h.: nur von prinzipiell unbestreitbaren Handlungspräsuppositionen.

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Dokumente wiederherstellen bzw. rekonstruieren, um diese Aussage z. B. als These, Warnung oder Bekenntnis interpretieren bzw. verstehen zu können. 60 In beiden erwähnten Rahmen erkennt aber der Adressat dem Sprecher ein performatives Handlungswissen notwendigerweise zu, dank dessen der Sprecher die illokutionäre Kraft seiner Sprechhandlung, den von ihm zur Diskussion vorrangig erhobenen Gültigkeitsanspruch und die entsprechenden Einlösungserwartungen mit Sicherheit ausdrücklich bestimmen kann. Ohne diese Zuerkennung gibt es in einer sprachlichen Aussage nichts zu verstehen, d. h. sie wird schlechthin sinnlos. Zur richtigen Differenzierung zwischen der empirischen Ebene, in der sowohl der Vollzugsversuch eines Sprechaktes fehlschlagen kann, als auch die illokutionäre Kraft einer Sprechhandlung missverstanden werden kann, und der transzendentalen Ebene des performativen Handlungswissens, das uns als Mitglieder einer idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft immer schon erlaubt, dieses Fehlschlagen und Missverständnisse als solche zu identifizieren und zu korrigieren, muss man explizit bemerken, dass es drei Verben sowohl in der kantschen Formulierung 61 der ursprünglichen Apperzeption als auch in der oben sprachpragmatischen Formulierung des performativen Handlungswissens gibt. Diese Formulierungen gehen m. E. in dieser Hinsicht über die fichtesche Darstellung der »intellektuellen Anschauung« hinaus, die für eine vorhergehende Darstellung des performativen Handlungswissens als irreführend erachtet wurde. Sehen wir uns also die Funktion dieser drei Verben bei der philosophischen Erklärung der transzendentalen Erkenntnis ein bisschen näher an. Wenn man sagt, dass jemand etwas weiß, meint man, dass er eine bestimmte Art von Erkenntnis tatsächlich hat. »Herr x weiß, dass die Katze auf der Matte ist« ist eine Beschreibung von einem faktischen Sachverhalt, der einfach wahr ist, wenn Herr x diese Erkenntnis wirklich hat, z. B. wenn er sagen kann, wo die Katze wirklich ist, und durch gute Gründe erklären kann, woher er das weiß. Ob Zu dieser hermeneutischen Logik von Fragen und Antworten siehe: Robin G. Collingwood: An Autobiography. London [u. a.]: Oxford Univ. Press, 1939, S. 66; Hans G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr, 1960. 61 Bei Kant sind diese drei Verben: Begleiten, Können und Müssen. »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; […].«: KrV, B 132. Hervorhebung von mir. 60

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Herr x etwas weiß, ist also eine bloß empirische Frage, die deshalb nur durch eine empirische Untersuchung beantwortet werden kann. Ein Prüfer, ein Richter, ein Polizist können sich z. B. dafür beruflich interessieren, ob ein Einzelner tatsächlich etwas weiß. Aber es handelt sich hier offensichtlich um keine (transzendental) philosophische Frage. 62 Wenn man aber sagt, dass jemand etwas wissen kann, meint man natürlich nicht, dass er tatsächlich eine Erkenntnis hat, sondern, dass er nur in der Lage ist, diese Erkenntnis zu bekommen. Es handelt sich jetzt nicht mehr um einen faktischen Sachverhalt, sondern um eine Möglichkeit, eine Fähigkeit oder eine Kompetenz. Die Frage nach der Gegebenheit dieser Kompetenz bei einem Einzelnen ist trotzdem noch eine empirische Frage, die durch eine empirische Forschung beantwortet werden kann. Die Entwicklungspsychologie hat z. B. eine Stufenreihe der ontogenetischen Entwicklung der kognitiven und praktischen Kompetenzen rekonstruiert, und ein Forscher kann experimentell bestimmen, ob jemand eine Wissens- oder Handlungskompetenz in einem bestimmten Moment schon entwickelt hat. 63 Diese logische Rekonstruktion der ontogenetischen Entwicklungsstufe wurde auch als ein Modell der Sozialentwicklung angewendet, in der sowohl die sozial angenommenen Weltanschauungen als auch die institutionellen Regeln von verschiedenen Gemeinschaften in Stufen einer methodisch-normativen Sozialentwicklung dargestellt wurden. 64 Deshalb kann man sagen, dass auch die Frage nach der Gegebenheit einer sozialen Wissens- und Handlungskompetenz Sowohl die sog. philosophy of mind als auch die analytische Behandlung des Selbstbewusstseins interessieren sich, so weit ich sehe, jedoch für diese empirische Ebene des Wissens als einen bloß faktischen Sachverhalt, bzw. dafür, was G. Keil mit Recht als trivialisierende Erklärung des Selbstbewusstseins bezeichnet. Vgl.: G. Ryle: The Concept of Mind; John Searle, Mind. Oxford [u. a.]: Oxford Univ. Press, 2004; Ernst Tugendhat: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen; Geert Keil: Indexikalität und Infallibilität. In: Øfsti, A./Ulrich, P./Wyller, T. (Hrsg.): Indexicality and Idealism. The Self in Philosophical Perspektive. Paderborn: Mentis, 2000, S. 25- 52. 63 Vgl. Jean Piaget: The Moral Judgment of the Child. Glencoe Illinois: Free Press, 1948; Lawrence Kohlberg: Essays in Moral Development. 3 Bde, San Francisco: Harper and Row, 1981–1984. 64 Jürgen Habermas: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976, S. 63–91; Karl-Otto Apel: Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewusstseins. In: ders. [u. a.] (Hrsg.): Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik. Weinheim [u. a.]: Beltz, 1984. 62

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– bzw. ob die Mitglieder einer Gesellschaft in einem bestimmten Moment etwas wissen oder lernen können – eine empirische Frage ist, die durch eine soziologische oder erziehungswissenschaftliche Forschung beantwortet werden kann. Das Wissen-Können oder LernenKönnen eines Einzelnen oder einer Gruppe ist noch kein (transzendental) philosophisches Thema, und die Frage danach, was jemand, der eine bestimmte Entwicklungsstufe erreicht hat, wissen kann und was nicht, ist keine (transzendental) philosophische Frage. Die wissenschaftlich rekonstruktiven Bemühungen, die die kognitiven und praktischen Kompetenzen von Individuen und Gruppen in verschiedene Stufen ordnen, können den an dieser Stelle thematisierten transzendentalen Charakter des performativen Handlungswissens nicht explizieren und als solchen überprüfen. Sie interessieren sich noch für die Kompetenzentwicklung von empirischen Subjekten bzw. für das Wissen-Können, aber nicht dafür, was die klassische Transzendentalphilosophie »quaestio iuris« genannt hat. 65 Um sowohl über die bloß empirische Ebene des faktischen Wissens als auch über die rekonstruktiv entwicklungslogische Ebene der faktischen Kompetenzen hinausgehen zu können und um die Perspektive, die eine echt transzendentale Problemstellung ermöglicht, erreichen zu können, muss man nicht auf der empirischen Ebene des bloßen Wissens und Wissen-Könnens bleiben. Die transzendentale Perspektive in der Problemstellung des performativen Handlungswissens eröffnet sich erst, wenn ein drittes Verb in die Formulierung der Frage eingeführt wird, nämlich das Verb müssen. Die echte transzendentale Frage nach dem performativen Handlungswissen ist also weder, »was jemand weiß«, noch »was jemand wissen kann«, sondern »was er wissen können muss«, um zum Mitglied der idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft gerechnet zu werden. Die durch diese Frage eröffnete Perspektive interessiert sich also weVgl. KrV, A 84/B 116–A 92/B 124. Kant unterschied ganz klar die Geltungsfrage seiner transzendentalen Deduktion von der empiristischen »physiologischen Ableitung«: »Diese versuchte physiologische Ableitung, die eigentlich gar nicht Deduktion heißen kann, weil sie eine quaestionem facti betrifft, will ich daher die Erklärung des Besitzes einer reinen Erkenntnis nennen.« KrV, A 86–87/B 119. Zum Unterschied zwischen den Ebenen der rekonstruktiven Entwicklungslogik und der transzendentalpragmatischen Begründung siehe: Karl-Otto Apel: Warum benötigt der Mensch Ethik. In: ders. [u. a.] (Hrsg.): Funkkolleg: Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge. Bd. I; Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch Verlag, 1984, S. 49–162; ders.: Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 306–369. 65

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der für bloß empirische Tatsachen bzw. faktische Sachverhalte, wie den mentalen Zustand eines Einzelnen, noch für die Möglichkeit dieser Tatsache bzw. für die Entwicklung einer Kompetenz, die es jemandem ermöglicht, etwas wissen zu können, sondern, wie die klassische Transzendentalphilosophie es von Anfang an völlig klar und explizit ausgedrückt hat, für die Bedingung dieser Möglichkeit. Die transzendentale Frage nach dem Handlungswissen ist also nicht, was ein faktischer Sprecher bei der Durchführung einer Sprechhandlung über die performative Dimension seiner Handlung tatsächlich weiß, und auch nicht, was er nach der entsprechenden Entwicklungsstufe seiner Sprachkompetenz über diese Dimension wissen kann, sondern welche Bedingungen er erfüllen können muss, um als ein Argumentationspartner betrachtet werden zu können, bzw. was er als Argumentationspartner wissen können muss. Die Aufdeckung, Formulierung und Überprüfung dieses Wissens ist deshalb keine Aufgabe, die durch eine externe bzw. objektivierende Beobachtung der Handlungen von sich gegenüberstehenden Akteuren theoretisch-hypothetisch oder empirisch experimentell ausgeführt werden könnte. 66 Durch diese Beobachtung fremder Sprechhandlungen als Gegenstände einer Sprechakttheorie kann man doch faktische Tatsachen wie gelungene oder fehlgeschlagene Sprechakte feststellen und vielleicht die in diesen Akten angeblich entsprechende Gegebenheit von bestimmten mentalen Zuständen postulieren. Aber zum Erreichen der Perspektive der echt transzendentalen Frage nach dem Handlungswissen muss der Handlungstheoretiker die methodische Distanz dieser Beobachtung zum Gegenstand in Klammern setzen und seine eigene Sprechhandlung reflexiv berücksichtigen bzw. die 66 Ein gutes Beispiel dieser Beobachtung ist das Gedankenexperiment einer sog. »radikalen Übersetzung« bzw. »radikalen Interpretation« bei der analytisch behavioristischen Sprachphilosophie. Vgl. Willard V. Quine: Word and Object. New York [u. a.]: Technology Pr. of the Mass. Inst. of Technology, 1960, S. 26–79; Donald Davidson: Radical Interpretation. In: Dialectica, 27, 1973, S. 313–327; ders.: Inquires into Truth and Interpretation. Oxford: Clarendon Press, 1985. Siehe dazu: Jaakko Hintikka: Behavioral Criteria of Radical Translation. In: ders./Davidson, D. (Hrsg.): Words and Objections. Essays on the Work of W. V. Quine, Dordrecht: Reidel, 1969; Dimitirios Markis: Quine und das Problem der Übersetzung, Freiburg/München, 1979; Marcel Niquet: Wahrheit und Verständigung. Radikale Interpretation als verständigungsmotiviertes Handeln. In: H. Burckhart/H. Gronke (Hrsg.): Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, Würzburg: Könighausen & Neumann, 2002, S. 203–219. Zur Kritik der verschiedenen Versionen der sog. radikalen Interpretation siehe: Karl-Otto Apel: Comments on Davidson. In: Synthese, 59, 1984, S. 19–26.

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Handlungen, die er selbst bei der Formulierung seiner Handlungstheorie durchführt, z. B. eine These behaupten, eine Frage stellen, einen Einwand erheben, ein Argument vorbringen. Die transzendentalphilosophisch entscheidende Frage ist aber nicht, was der Handlungstheoretiker von diesen Handlungen bloß faktisch weiß, indem er diese Sprechhandlungen durchführt, und auch nicht, was er nach ihren schon entwickelten kognitiven und praktischen Kompetenzen davon wissen kann, sondern, was er als Argumentationspartner bzw. als Mitglied einer idealen und unbegrenzbaren Argumentationsgemeinschaft von seinen Sprechhandlungen wissen können muss, indem er diese Handlungen durchführt, d. h. welches Wissen von ihren Sprechhandlungen die anderen Mitglieder dieser Gemeinschaft ihm immer schon und notwendigerweise zuerkennen. Es handelt sich also nicht um die bloß faktischen Erwartungen, die seine zufälligen Gesprächspartner in ihn als Träger eines Wissens ganz willkürlich setzen können, sondern um etwas Notwendiges und Kontrafaktisches, das durch die folgende Frage erläutert werden kann: Wie könnten wir reagieren, wenn nach einem handlungstheoretischen Vortrag ein Teilnehmer den Vorleser fragen würde, ob eine von ihm in seinem Vortrag behauptete Aussage (z. B. »Der Versuch, einen performativen Akt zu vollziehen, kann unbemerkt fehlschlagen«) eine These, eine Warnung oder eine Voraussage ist und der Vorleser auf diese Frage antworten würde: »Ich weiß es nicht.«? Diese Antwort wäre für uns natürlich enttäuschend, weil wir als Teilnehmer eines Vortrags normalerweise vermuten, dass der Vorleser (mindestens) von der illokutionären Kraft seiner Sprechhandlungen von vornherein weiß, und deswegen erwarten wir, dass er auf die erwähnte Frage in solcher Situation antworten kann. Aber der entscheidende Punkt ist im Rahmen der Absicht dieser Arbeit nicht diese doch bedauerliche Enttäuschung, sondern, dass eine Aussage (z. B. die erwähnte Aussage über einen möglichen Sprechaktfehlschluss) nur als eine bestimmte Sprechhandlung (z. B. eine These, eine Warnung, eine Voraussage, ein Versprechen, usw.) verstanden werden kann. Um die Bedeutung einer Sprechhandlung überhaupt verstehen zu können, muss man dem Sprecher ein performatives Handlungswissen zuerkennen, bzw. ein Wissen um die illokutionäre Kraft seiner Handlungen, um die durch diese Handlungen erhobenen und argumentativ einlösbaren Sinn- und Gültigkeitsansprüche und um alle pragmatisch notwendigen Voraussetzungen dieses Erhebens 102

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und dieser Einlösung. Wenn dieses Handlungswissen einem Sprecher bzw. einem möglichen Dialog- und Diskurspartner implizit nicht zuerkannt worden wäre, könnte seine Aussage als eine bestimmte Art von Sprechhandlung und deshalb auch überhaupt nicht verstanden werden. Das performative Handlungswissen hat einen transzendentalen Charakter, eben weil es eine Bedingung der Möglichkeit der sinnvollen Rede ist, die notwendigerweise bei jeder verstehbaren Sprechhandlung als von dem Sprecher immer schon als gewusst vorausgesetzt werden muss. Obwohl das Wort »Wissen« in anderen Zusammenhängen sowohl auf mentale Zustände als auch auf durch die ontogenetische Entwicklung der kognitiven und praktischen Kompetenzen erreichbare Erkenntnis verweisen kann, enthält es bei der Transzendentalphilosophie als performatives Handlungswissen nur die Bedeutung einer normativen Sinnbedingung unserer Sprechhandlung, die durch die folgende Behauptung ausgedrückt werden kann: Der Argumentierende muss wissen können, was er durch seine Sprechhandlungen tut. Er muss wissen können, z. B., ob er eine Frage stellt, eine Beschreibung vermittelt oder ein Geheimnis bekennt, ob er etwas als wahr, richtig oder wahrhaftig zur möglichen Diskussion verständlich behauptet, usw. Das performative Handlungswissen ist also eine pragmatische Sinnbedingung der Rede bzw. eine Bedingung, die auf die Beziehung zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer verweist. Diese Bedingung wird wahrscheinlich von dem empirischen Sprecher in alltäglichen Situationen nicht immer und richtig erfüllt. Aber es muss trotzdem hier zuerst klar hervorgehoben werden, dass das transzendentale Interesse für dieses Wissen mit dieser faktischen bzw. zufälligen Bedingungserfüllung nichts zu tun hat und dass die philosophische Gültigkeit dieses Interesses von dieser Erfüllung ganz unabhängig ist, denn, wer diese Sinnbedingung nicht erfüllen kann, bzw. wer überhaupt nicht wissen kann, was er durch seine Rede tut (z. B. fragen, versprechen, wetten usw.), kann auch keine sinnvolle Sprechhandlung durchführen bzw. einen Beitrag zum möglichen argumentativen Dialog leisten und deshalb als kompetenter Sprecher bzw. möglicher Diskurspartner weder von der Transzendentalphilosophie noch von allen seinen möglichen Adressaten im Allgemeinen behandelt werden. Der Fall von jemandem, der die Bedingung des performativen Handlungswissens wirklich nicht erfüllen kann, befindet sich außerhalb der Reichweite der transzendentalen Reflexion über dieses Wissen, und ihn kann deshalb die Gültigkeit dieser Reflexion selbst nicht betrefA

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fen. Kurz und klar: Dieser Fall ist kein Argument gegen die Unfehlbarkeit des performativen Handlungswissens.

2.5. Gewissheit als Unbestreitbarkeit Die oben dargelegten Bemerkungen über die angemessene Einstellung, um die echt transzendentale Frage nach dem performativen Handlungswissen stellen zu können, und besonders die Unterstreichung, dass diese Fragestellung drei Verben (also: Wissen, Können, und Müssen) enthalten muss, erlauben es nicht, die transzendentale Problematik der Gewissheit dieses Wissens mit der Behauptung eines angeblich ausgezeichneten epistemischen Zugangs des Akteurs mit dem Sinn seiner eigenen Handlungen zu verwechseln. Bei dieser Problematik handelt es sich nicht um die bloß subjektive Gewissheit, die jemand empfinden kann, dass er eine besondere Handlung intentional durchführt. 67 Der Unterschied zwischen der von dem transzendentalpragmatischen Ansatz behaupteten Gewissheit bzw. das sichere Wissen, das wir uns als Argumentierende mit Bezug auf den performativen Aspekt unserer Sprechhandlungen zuschreiben müssen und der psychischen Gewissheitsempfindung, die ein Sprecher von seinen eigenen intentionalen Zuständen erfahren kann, besteht in Folgendem: Während die letzte doch argumentativ bestreitbar ist, ist die erste eine prinzipiell unbestreitbare Bedingung der Möglichkeit von jedem argumentativen Bestreitungsversuch überhaupt. 68 Eine bloß psychische Gewissheitsempfindung, die ein Sprecher über die Durchführung seiner eigenen intentionalen Handlungen hat, kann sich eventuell als falsch bzw. als eine falsche Selbstwahrnehmung, eine falsche Selbstinterpretation, eine Selbsttäuschung herausstellen, d. h. man kann eventuell gute Gründe finden, um die objektive bzw. intersubjektive Gültigkeit dieser subjektiven Gewissheit in Frage stellen zu können. Diese Gründe können aber nicht die Gültigkeit des in diesem Kapitel thematisierten performativen Handlungswissens bzw. die absolute Gewissheit dieses Wissens betreffen, Vgl. John R. Searle: Intentionality. Cambridge [u. a.]: Cambridge Univ. Press, 1983, S. 118. 68 Dieser Unterschied wurde von Thomas Grundmann nicht berücksichtigt. Vgl.: Thomas Grundmann: Analytische Transzendentalphilosophie. Eine Kritik. Paderborn [u. a.]: Schöningh, 1994, S. 323 ff. 67

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weil diese Gründe als von einem Diskurspartner vorgebrachte öffentliche Argumente eben die gewisse Gültigkeit dieses Wissens immer schon voraussetzen müssen. Der erwähnte Unterschied zwischen diesen zwei Arten von Gewissheit bedeutet aber auch in gewisser Weise ihre wechselseitige Unabhängigkeit, die sich eben in der philosophischen Auseinandersetzung um das performative Handlungswissen selbst als offenkundig erweist. Bei dieser Auseinandersetzung versucht der Proponent des Letztbegründungsarguments aufzuweisen, dass bestimmte pragmatische Argumentationspräsuppositionen als Bestandteil dieses Wissens sinnvoll nicht hintergehbar und unbestreitbar sind bzw., dass sie als unfehlbar gewiss angenommen werden müssen. Der Opponent versucht hingegen, die Gewissheit dieses Arguments in Frage zu stellen und so die Fehlbarkeit und Unsicherheit des performativen Handlungswissens nachzuweisen. Schon die Gegebenheit dieser philosophischen Auseinandersetzung scheint auf den folgenden Umstand hinzuweisen, der zur Erläuterung des transzendentalen bzw. nicht bloß intentionalen Charakters des performativen Handlungswissens entscheidend ist. Jemand, der als kompetent Argumentierender dieses Wissen notwendigerweise als gewiss voraussetzt, braucht gleichzeitig als empirisch-psychologisches Subjekt in keinem bestimmten Moment eine Gewissheitsempfindung davon zu erfahren. Nur angesichts dieses Umstands können die Argumentationshandlungen der Teilnehmer dieser philosophischen Auseinandersetzung sich als verstehbar herausstellen. Das Unternehmen, das Letztbegründungsargument vorzubringen, kann nur sinnvoll sein, wenn das, was durch dieses Argument als absolut gewiss begründet wird bzw. die Gültigkeit einer Aussage als Bestandteil des performativen Handlungswissens, von den möglichen Adressaten dieses Arguments vor seiner Durchführung als ungewiss empfunden werden kann. Mit der Durchführung eines sinnkritischen Arguments versucht man, dass für den Adressaten die Gültigkeit der durch dieses Argument begründeten These reflexiv erkennbar wird, bzw. dass er als absolut gewiss klar anerkennen kann, was er bisher als unsicher empfand. Mit den Termini von Charles Sanders Peirce kann man sagen, dass ein sinnkritisches Argument in einem Vorgang besteht, der dunkle Ideen klarmacht, 69 69 Vgl. Charles Sanders Peirce: How to make Our Ideas Clear (1878). In: ders.: CP. §§ 388–410.

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bzw. sinnlose Überzeugungen, wie mentale Gewissheiten über selbstwidersprüchliche Aussagen oder Ungewissheiten über unbestreitbare Aussagen, als sinnlos klar darlegt und sie auf diese Weise argumentativ aufheben kann. 70 Den Unterschied zwischen psychischer Gewissheit und sinnkritischer Unbestreitbarkeit braucht man auch, um die nach sinnkritischen Kriterien sinnlosen Handlungen auch als Handlungen verstehen zu können, z. B. einen Widerlegungsversuch des Letztbegründungsarguments als einen diskursiven Zug, der einer Antwort bzw. Replik noch würdig ist. 71 Das performative Handlungswissen, das durch einen sinnkritischen Vorgang als prinzipiell unbestreitbar expliziert und überprüft werden kann, hat also mit einer bloß subjektiven Gewissheitsempfindung des Akteurs über seine eigenen intentionalen Zustände und über ihre Beziehungen mit seinen eigenen Sprechhandlungen überhaupt nichts zu tun, d. h. es ist ganz unterschiedlich von dieser Art von Gewissheitsempfindung, weil seine absolute Gültigkeit von dieser psychischen Empfindung völlig unabhängig ist. Um den transzendentalen Charakter des Handlungswissens und diese Unabhängigkeit seiner Gültigkeit von intentionalen Zuständen des Einzelnen besser erläutern zu können, kann noch einmal der oben erwähnte Fall eines Dialogs berücksichtigt werden, der wegen eines Missverständnisses über die illokutionäre Kraft einer Sprechhandlung eröffnet werden kann. In diesem Fall fragt der Adressat dieser Handlung den Sprecher, ob seine soeben durchgeführte Sprechhandlung z. B. ein Versprechen oder eine Voraussage ist. Wie oben angegeben wurde, Zur sprachanalytischen Differenzierung zwischen inkonsistenten und selbstwidersprüchlichen Überzeugungen siehe: Richard Foley: Is Possible to Have Contradictory Beliefs? In: Midwest Studies in Philosophy, X, 1986, S. 327–355, und auch: John Willams: Believing The Self-Contradictory. In: American Philosophical Quarterly. 19, 1982, S. 279–285. 71 Als Beispiele dieser Repliken siehe: Karl-Otto Apel, Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 33–80, 143–193; Wolfgang. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, Freiburg [u. a.]: Alber, 1985, S. 91 ff., 107 ff.; ders.: Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus. Eine Replik. In: Ztschr. F. Allg. Wissenschaftstheorie, XVI/2 (1985), S. 357–374; ders.: Bemerkungen zum Problem der Letztbegründung. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, S. 212- 237; Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik, S. 369 ff.; Mattias Kettner: Ansatz zu einer Taxonomie performativer Selbstwidersprüche. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl- Otto Apel, S. 187–211. 70

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schreibt diese Frage einerseits dem Sprecher als Dialogpartner die Kompetenz zu, darauf zu antworten, bzw. die besondere und bestimmte illokutionäre Kraft seiner eigenen Sprechhandlungen durch einen performativ-propositionalen Satz zu explizieren. Andererseits muss hier aber hervorgehoben werden, dass eine Sprechhandlung als solche für mögliche Adressaten verstehbar sein muss, bzw. es muss verstehbar sein, dass die Durchführung einer Sprechhandlung sein mögliches Verstehen-Werden konstitutiv voraussetzt. Diese Voraussetzung verweist auf die folgende Tatsache: Zur Durchführung einer Sprechhandlung reicht es nicht, dass der Sprecher subjektiv überzeugt ist sie durchzuführen. Es ist auch notwendig, dass sich diese Handlung an die bestehenden Sprachkonventionen wirklich hält bzw. an öffentliche Konventionen, die von den Mitgliedern einer realen Kommunikationsgemeinschaft als gültig anerkannt werden. 72 Dieser Rückgriff auf gemeinsame bzw. intersubjektive Sprachkonventionen erlaubt es, Missverständnisse über den performativen Aspekt der Bedeutung einer Sprechhandlung zu beseitigen und so einen undeutlichen Ausdruck einer performativen Bedeutungsintention zu korrigieren bzw. zu verdeutlichen. Dieser Rückgriff ist aber erst möglich, weil diese Konventionen konstitutive Regeln der sprachlichen Bedeutung enthalten und eben deshalb auch die noch nicht ausgedrückten, aber immer schon sprachlich ausdrückbaren Bedeutungsintentionen der Sprecher. Diese konstitutiven Regeln sind Bedingungen der Möglichkeit der konventionellen Tatsachen der menschlichen Kultur überhaupt, und die Sprachen gehören zu dieser Art von Tatsachen. 73 Diese Regeln, die die Sprechhandlungen als konventionelle Tatsachen bestimmen, können klar von den sog. regulativen Regeln bzw. technischen Regeln unterschieden werden, nach denen sich die instrumentalen bzw. zweckmäßig rationalen Handlungen orientieren. 74 Deshalb können die angeblich bloß sub72 Zur sprechakttheoretischen Analyse der verschiedenen Ebenen und Sinne der Sprachkonventionen und ihrer konstitutiven Verbindung mit intersubjektiven Erwartungen und Verpflichtungen innerhalb Handlungs- bzw. Dialogsequenzen siehe: Dieter Wunderlich: Zur Konventionalität von Sprechhandlungen. In: ders. (Hrsg.): Linguistische Pragmatik. 2. Aufl., Wiesbaden: Athenaion, 1975, S. 11–58. 73 Vgl. John R. Searle: Speech Acts. Saul Kripke bezeichnet diese Bedingungen »assertability conditions« in: Saul Kripke: Wittgenstein on Rules and Private Language. Oxford: Blackwell, 1982, S. 55–113. Vgl. auch: Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. §§ 198 ff. 74 Dieser Unterschied wird von Grices Bedeutungstheorie nicht beachtet. Vgl. Paul Grice: Meaning. In: The Philos. Review, 66, 1957, S. 377–388; ders.: Utterer’s Meaning and

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jektiven Bedeutungsintentionen der Sprecher nur in Bezug auf die erwähnten öffentlichen sprachlichen Bedeutungskonventionen als kommunikative Intentionen, deren mögliche Sprachausdrücke von diesen Konventionen geregelt werden, von vornherein verstanden werden. Die Resultate der ursprünglichen Sprechakttheorie wurden im Rahmen der universalen und transzendentalen Pragmatik so verstanden und gebraucht, dass die berühmte Entdeckung dieser Theorie bzw. der performativen Dimension der Sprache ein unerlässliches begriffliches Instrumentarium der sprachpragmatischen Transformation der Transzendentalphilosophie und des entsprechenden sprachpragmatischen Verständnisses des Handlungswissens als transzendentaler Erkenntnis wird. Nur dank dieser Entdeckung kann die Selbstbezüglichkeit der menschlichen Verstandeshandlungen, die ein wesentlicher Zug der klassischen Transzendentalphilosophie ist, im Rahmen der sprachpragmatischen Wende nach ihrem semantisch-analytischen Verbot philosophisch rehabilitiert werden. 75 Wie oben schon angegeben, wird die philosophische Erforschung dieser Selbstbezüglichkeit jetzt nicht mehr durch eine methodisch solipsistische Reflexion über das Vermögen und die Handlungen eines angeblich einsamen menschlichen Gemüts vorgenommen, sondern über die schon erwähnte Doppelstruktur der menschlichen Rede und die expliziten Sätze, die diese Struktur ausdrücken. Gegen eine direkte Angleichung des performativen Handlungswissens, das hier für den Träger der transzendentalen Erkenntnis gehalten wird, an das bloß psychologische Selbstbewusstsein der Bedeutungsintentionen eines einsamen Sprechers muss die transzenIntentions. In: The Philos. Review, 78, 1971, S. 147–177. Searle versucht trotzdem, seine spätere intentionalistische Bedeutungstheorie mit Grices zu vereinbaren. Siehe dazu: John R. Searle: Consciousness and Language. Cambridge: Univ. Press, 2002, S. 142– 155. Zur Unterscheidung und Kritik beider intentionalistischen Semantiken siehe: KarlOtto Apel: Lässt sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationalität unterscheiden? Zum Problem der Rationalität sozialer Kommunikation und Interaktion, in: Archivio di Filosofia. II, 1983, S. 23–80, siehe auch die folgenden Fußnoten. 75 Zu diesen Verbot siehe: Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-Philosophicus, 3.332. In: ders.: Schriften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984.; Alfred Tarski: Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik. In: Skirbekk, G. (Hrsg.): Wahrheitstheorien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977. Zur transzendentalpragmatischen Überwindung dieses Verbots siehe: Karl-Otto Apel: Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung. In: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 81–195: 140 ff.

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dentalpragmatische Kritik an der intentionalistischen Semantik des späteren Searle kurz erwähnt werden. Nach dieser Kritik kehrt diese Semantik in den methodischen Solipsismus der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit zurück, weil sie irreführend versucht, die sprachliche Bedeutung auf vorsprachliche und vorkommunikative intentionale Zustände (wie z. B. Überzeugungen, Wünsche, Absichten usw.) des Geistes bzw. des Selbstbewusstseins des Sprechers zurückzuführen, ohne zu beachten, dass die Bedeutung von diesen Zuständen selbst, dank welcher z. B. jemand einen eigenen bestimmten Wunsch als solchen schlechthin identifizieren und verstehen kann, von ihrem möglichen Ausdruck durch sprachliche Äußerungen von vornherein abhängt, und dass diese Äußerungen durch sprachliche Bedeutungskonventionen geregelt werden bzw. durch konventionelle Regeln, die für die Konstitution öffentlich gültiger Bedeutungen unentbehrlich sind. 76 Diese bedeutungstheoretische Diskussion und besonders die in ihrem Rahmen hervorgehobene Tatsache, »dass es keine vorsprachlichen Entitäten gibt, die bereits den Status intersubjektiv gültiger Bedeutungen beanspruchen könnten« 77 , interessiert uns hier insofern, weil ein Aspekt der Bedeutung in der performativen Dimension der menschlichen Rede enthalten ist, nämlich genau der Aspekt, der von einem kompetenten Sprecher mit Gewissheit erkannt werden muss, indem er eine Sprechhandlung durchführt und sogar eine bloße Bedeutungsintention im »inneren Gespräch der Seele mit sich selbst« 78 einsam, aber sinnvoll denkt. Die skeptische Verneinung eines ausgezeichneten epistemischen 76 Vgl. Karl-Otto Apel: Intentions, Conventions and Reference to Things: Dimentions of Understanding Meaning in hermeneutics and in Analytic Philosophy of Language. In: ders./Parret, H./Bouveresse, J. (Hrsg.): Meaning and Understanding, Berlin [u. a.]: De Gruyter, 1981, S. 79–111; ders.: Ist Intentionalität fundamentaler als sprachliche Bedeutung? Transzendentalpragmatische Argumente gegen Searles Rückkehr zum semantischen Intentionalismus der Bewusstseinsphilosophie. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 413- 457. 77 Karl-Otto Apel: Sprachliche Bedeutung und Intentionalität. Die Kompatibilität des Linguistic Turn und des Pragmatic Turn im Rahmen einer transzendentalen Semiotik. In: European Journal for Semiotic Studies, 1, 1, 1989, S. 11- 74: 63. 78 Plato, Sophistes, 264. Vgl. ebenda 363 d. Zur platonischen Vorbereitung des neuzeitlichen methodischen Solipsismus siehe: Dietrich Böhler: Wittgenstein und Augustinus. In: Eschbach, A./Trabant, J. (Hrsg.): Foundations of Semiotics 7: History of Semiotics, S. 343–369; ders.: Kosmos-Vernunft und Lebens-Klugheit. In: Apel, K.-O. [u. a.] (Hrsg.): Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik, Studientexte II, S. 356–394.

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Zugangs zu der Gegebenheit und Bedeutung der eigenen Sprechhandlungen bzw. die Ablehnung eines »unmittelbaren Bewusstseins«, durch das der Sprecher legitim gewiss sein könnte und nicht bloße Gewissheitserlebnisse darüber empfinden könnte, kann von dem transzendentalpragmatischen Ansatz über das performative Handlungswissen gern eingeräumt werden, weil es sich bei diesem Ansatz um keine unmittelbare Bewusstseinserkenntnis handeln kann, sondern nur um ein implizites Wissen, das durch Sprechhandlungen ausgedrückt werden kann und deshalb, weil die Bedeutung dieses Wissens durch die öffentlichen Bedeutungskonventionen, die diese Handlungen regeln, immer schon vermittelt wird. Man muss daher beachten, dass fichtesche Redewendungen wie »unmittelbares Bewusstsein« und »intellektuelle Anschauung« bei dem Versuch einer transzendentalphilosophischen Erläuterung des performativen Handlungswissens zumindest irreführend sind. 79 Schon Charles Sanders Peirce, der mit Recht für den Begründer einer semiotischen Transformation der Transzendentalphilosophie gehalten wurde, bemerkte sinnkritisch, dass, wenn das Wort »Intuition« eine Erkenntnis bezeichnet, »die nicht durch eine vorgehende Erkenntnis desselben Gegenstandes bestimmt ist«, wir kein Intuitionsvermögen haben und, dass wir deshalb auch kein intuitives Selbstbewusstsein haben können. 80 Das performative Handlungswissen hat die folgende Besonderheit, von der gewisse Missverständnisse abstammen können. Es handelt sich einerseits um ein Wissen, dessen Gültigkeit von keinem argumentativen Vorgang abhängt, weil es eine Bedingung von dieser Art von Verfahren ist, die bei jedem Argument immer schon vorausgesetzt wird. Es handelt sich andererseits um ein implizites Wissen, d. h.: obwohl jedes Argument und jede sinnvolle Rede überhaupt die Gültigkeit dieses Wissens notwendigerweise voraussetzt, ist es für uns nicht immer so klar, was wir als Argumentierende und kompetente Sprecher über unsere Sprechhandlungen wissen können müssen. Um den Inhalt des immer schon als gültig angenommenen performativen Handlungswissens explizit anerkennen zu können, Wie oben angegeben, benutzt Audun Øfsti oft diese Redewendungen in: Audun Øfsti: Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie. 80 Vgl. Charles Sanders Peirce: Questions Concerning Certain Faculties Claimed for Man (1868); Some Consequences of Four Incapacities (1868). In: ders.: C. P., bes. §§ 5. 213, 5.225–5.237, 79

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braucht man die Durchführung einer sinnkritischen bzw. strikt reflexiven Prüfung bzw. das sog. Letztbegründungsargument. Trotz dieses impliziten Charakters des Handlungswissens ist eindeutig zu bemerken, dass es kein »unmittelbares Bewusstsein« oder »intellektuelle Anschauung« sein kann. Wie Peirce es schon aufgewiesen hat, sind alle Arten von menschlicher Erkenntnis durch Zeichen immer schon vermittelt worden und das Handlungswissen kann keine Ausnahme sein. 81 Es ist hier zu erinnern, dass dieses Wissen eben in der performativen Dimension der Sprechhandlungen und als Begleitwissen von jeder menschlichen Handlung, die als Antwort auf eine Situation verstanden werden kann, getragen wird. Es ist gerade dank dieser sprachlichen Vermittlung des impliziten Handlungswissens möglich, dass es sowohl durch die performativ-propositionale Doppelstruktur kompletter Sätze als auch durch die letztbegründete Aussage sprachlich expliziert werden kann. Dieses sprachliche und strikt reflexive Explizieren, das jeder kompetente Sprecher und deshalb auch der Transzendentalphilosoph durchführen kann, wäre schlechthin unmöglich, wenn das zu explizierende bzw. noch implizite Handlungswissen in einem unmittelbar intuitiven Bewusstsein bestehen würde, d. h. wenn es schon als in der Sprachkompetenz inbegriffenes know how nicht durch Zeichen vermittelt wäre. Was im Allgemeinen zu verstehen ist und besonders, was durch die Sprache expliziert und überprüft werden kann, muss von vornherein durch Zeichen vermittelt werden und nur so als vorverstandene Voraussetzung in der Konstitution der Sprachkompetenz selbst vorliegen. Obwohl also alle menschliche Erkenntnis durch Zeichen vermittelt werden kann, ist ein in diesem Abschnitt schon herausgehobenes Merkmal des Handlungswissens, das es von den anderen Arten von Erkenntnis unterscheidet, seine prinzipielle Unbestreitbarkeit bzw. seine sinnkritische Gewissheit. Zur erwähnten Differenzierung dieser Gewissheit der bloßen Gewissheitserfindung wurde die erste durch einen von der Sprachspieltheorie genommenen Ausdruck bezeichnet, nämlich: »paradigmatische Evidenz« 82 . Obwohl dieser Begriff nützlich ist, um die argumentative Unbestreitbarkeit des HandPeirce: C. P.: 5. 250–5. 253, 5. 265, 5. 283 ff. Vgl. Karl-Otto Apel: Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 282–413. 81 82

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lungswissens mit der bloß subjektiven Gewissheitsempfindung nicht zu verwechseln, kann er aber auch irreführend sein, weil er eine unangemessene bzw. fragliche Assimilation der Argumentation bzw. den rationalen Kern einer formal vollständigen Sprache mit einem beliebigen Sprachspiel andeuten könnte. 83 Diese Evidenz kann aber nicht intuitiv sein, weil die bewusste und legitime Anerkennung ihrer Gültigkeit von einem sinnkritisch diskursiven Vorgang abhängt, nämlich das Letztbegründungsargument. Daher kann diese sinnkritische Gewissheit bzw. die sog. paradigmatische Evidenz auf die in dem erwähnten Argument angewendeten zwei Kriterien restlos zurückgeführt werden. Wie oben schon angegeben, handelt es sich weder darum, wessen jemand gewiss ist, noch wessen jemand gewiss sein kann, sondern darum, wessen jemand gewiss sein können muss, um als Argumentationspartner ernst genommen zu werden. Die Frage nach der sinnkritischen Gewissheit und ihrem legitimen Inhalt ist eine Frage nach einer Bedingung, die jemand erfüllen können muss, um für Mitglieder der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft und daher als kompetenter Sprecher und Handelnder überhaupt ernst genommen zu werden. Die Antwort auf diese Frage kann nur durch den sinnkritischen Vorgang gegeben werden, der in der Konfrontation der zwei Teile jedes sinnvollen Sprechaktes besteht, um zu bestimmen, ob die Behauptung des propositionalen Teils zwei sinnkritische Forderungen erfüllt, nämlich erstens, ob sie als gültig behauptet werden kann, ohne einer in dem performativen Teil notwendigen Präsupposition zu widersprechen, und zweitens, ob sie von Prämissen abgeleitet werden kann, die von dieser Art von Präsupposition logisch unabhängig sind. Wenn man bei der Durchführung dieses Vorgangs auf einen Sprechakt stößt, der diese Forderung nicht erfüllt, ist die Negation des propositionalen Teils dieses Sprechaktes eine unhintergehbare Argumentationsvoraussetzung bzw. eine pragmatische Sinnbedingung der Argumentation und der sinnvollen Rede überhaupt. Deshalb muss ein Argumentationspartner als solcher mit Gewissheit wissen können, dass diese Sinnbedingungen und alle, die durch den erwähnten sinnkritischen Vorgang als unhintergehbar Audun Øfsti kritisiert mit Recht diese Assimilation in: Audun Øfsti: Abwandlungen: Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie, S. 40–78: 44, 53–55. Zum Begriff der formal vollständigen Sprache siehe unten 3.4.

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aufgewiesen werden, und auch diejenigen, die bloß aufgewiesen werden könnten, absolut gültig sind. Eine in dem performativen Handlungswissen enthaltene Gewissheit ist also etwas, das der Transzendentalphilosoph den Argumentierenden bzw. dem kompetenten Sprecher und Handelnden erst nach diesem Vorgang und wegen seines Resultats als immer schon mit Sicherheit von ihnen gewusst zuschreiben darf. Wir (bzw. der Leser und ich) schreiben als Argumentierende uns ein solches sicheres Wissen davon notwendigerweise und von vornherein zu, was durch den sinnkritischen bzw. strikt reflexiven Vorgang als unhintergehbar und unbestreitbar aufgewiesen werden könnte, d. h.: wir schreiben uns selbst hier und jetzt notwendigerweise eine implizite Gewissheit zu, deren Inhalt nur durch einen sinnkritischen bzw. philosophischen Vorgang expliziert und überprüft bzw. klar bestimmt werden kann. Ohne die Behauptung dieser notwendigen Zuschreibung könnte dieser Vorgang keinen Anspruch darauf erheben, eine explizite, aber in dem Handlungswissen der Handelnden immer schon implizite Transzendentalerkenntnis zu liefern.

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3. Die konstitutive Vollständigkeit des Handlungswissens

Die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat dem Sprachgebrauch eine Funktion zugewiesen, die in der Neuzeit von dem Bewusstsein übernommen wurde, nämlich den Sinn und die Gültigkeit des menschlichen Denkens garantieren zu können. Diese Wende, die die sprachpragmatische Wende genannt wurde, hat die philosophische Perspektive so verändert, dass die traditionellen Probleme der Geschichte der Philosophie jetzt entweder auf eine ganz neue Weise berücksichtigt oder schlechthin aufgelöst werden müssen. Die sprachpragmatische Wende der Gegenwartsphilosophie hatte auch einen großen Einfluss auf die Art, wie die neuzeitliche Idee einer Transzendentalphilosophie noch heute entwickelt und verwirklicht werden kann. Der Übergang von der klassisch transzendentalen Bewusstseinsphilosophie bis zur sog. Transzendentalpragmatik 1 , der als sprachpragmatische Transformation der Transzendentalphilosophie bezeichnet wurde, enthält notwendig zwei Aspekte, die immer im Auge behalten werden müssen, um die Bedeutung dieser Transformation richtig verstehen zu können. Einerseits gibt es bei der erwähnten Transformation eine Überwindung des methodischen Solipsismus der klassischen Transzendentalphilosophie, nach dem ein vermeintlich selbständiges »Bewusstsein überhaupt« als Sitz der konstitutiven Bedingungen der Möglichkeit der objektiv gültigen Erkenntnis gedacht werden könnte. Statt dessen schlägt diese Transformation vor, diese Bedingungen in einer von den Argumentierenden immer schon vorausgesetzten Kommunikationsgemeinschaft zu suchen. Andererseits gibt es genau deshalb eine Grundidee der klassischen Transzendentalphilosophie, die nach der sprachpragmatischen Wende bleibt, nämlich der Anspruch darauf, diese notwendigen Bedingungen durch eine reflexive

1 Vgl. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie; ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes.

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Selbstkritik der Vernunft zutage treten zu lassen. 2 Wegen dieses bleibenden Anspruchs kann die Idee einer Transzendentalphilosophie unter dem sprachpragmatischen Gegenwartsrahmen noch entwickelt und realisiert werden. Die Frage ist nun die nach den wesentlichen Elementen der erwähnten Grundidee einer Transzendentalphilosophie im Allgemeinen, die noch heute auf die eine oder andere Weise unbedingt erhalten werden müssen, damit das Gegenwartsprojekt einer solchen Philosophie sinnvoll entwickelt werden kann. Die klassische Transzendentalphilosophie wurde von vornherein als ein vollständiges System aufgefasst, dessen Grundsätze durch die Selbstkritik der Vernunft entdeckt und begründet werden könnten. Die Frage ist also, ob die Einführung der Systemidee in den Kern der sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie ein solches Projekt in Gefahr bringt oder ob die Systemidee und die Idee einer Transzendentalphilosophie noch heute untrennbar sind. Die Absicht dieses Kapitels besteht also darin zu bestimmen, ob die Systemidee in der sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie noch eine konstitutive Rolle spielen muss. Um diese Absicht zu verwirklichen, wird einerseits der dreimal in der Geschichte der Philosophie stattgefundene verschiedene Gebrauch des Wortes »transzendental« unterschieden, damit die Bedeutung dieses Wortes nach der erwähnten Wende bestimmt werden kann (3.1), und andererseits werden einige Aspekte der Systemproblematik in der klassischen Transzendentalphilosophie berücksichtigt, um zwischen dem konstitutiven Begriff einer transzendentalen Vollständigkeit und dem regulativen Begriff einer empirischen Vollständigkeit bzw. zwischen dem Transzendentalsystem des reinen Verstandes und dem Erfahrungssystem der Naturgesetze klar differenzieren zu können (3.2). Danach werden zwei Gruppen von Argumenten rekonstruiert. Erstens diejenigen, die als vermeintlicher Grund für eine Ausschließung der Systemidee aus dem unhintergehbaren Kern der Transzendentalpragmatik vorgebracht wurden (3.3), und zweitens diejenigen, die den Begriff einer formal vollständigen Sprache sprachpragmatisch begründen (3.4). Diese Rekonstruktion erlaubt, die Relevanz der klassischen Differenz zwischen regulativer und konstitutiver Vollständigkeit für die transzendentalpragmatische Vgl. Wolfgang Kuhlmann: Kant und die Transzendentalpragmatik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1992, S. 64–78.

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Systemproblematik zu beurteilen (3.5). Zum Schluss werden die konstitutive Einheit, Vollständigkeit und interne Artikulation für wesentliche Aspekte sowohl unseres als Argumentierende vorausgesetzten Handlungswissens, als auch des sinnkritischen Vorgangs des Explizierens und der Überprüfung jedes Bestandteils dieses Wissens gehalten (3.6).

3.1. Die Bedeutungen des Wortes »transzendental« Spricht man über eine Transformation der Transzendentalphilosophie unter den Bedingungen der sprachpragmatischen Wende des Gegenwartsdenkens, dann muss man von vornherein die Frage nach der Bedeutung des Wortes »transzendental« stellen. In der Geschichte der Philosophie wurde dieses Wort mit vielfältigen Bedeutungen gebraucht. Zur Vermeidung möglicher Missverständnisse bei einer so genannten Transformation der Transzendentalphilosophie muss der Gebrauch des Wortes »transzendental« innerhalb dieser Gegenwartstransformation und im Vergleich mit anderen Anwendungsweisen kurz erläutert werden. Handelt es sich um eine Transformation der Transzendentalphilosophie, dann muss sorgfältig berücksichtigt werden, ob auch die Bedeutung des Wortes »transzendental« durch diese Transformation verändert wurde. Erst wenn diese Bedeutung innerhalb der Transzendentalpragmatik schon festgestellt ist, kann die weitere Frage nach der Möglichkeit eines Systems der Transzendentalphilosophie nach der sprachpragmatischen Wende sinnvoll gestellt werden. Die Idee des Transzendentalen hat eine lange Begriffsgeschichte in der abendländischen Philosophie. Hier braucht man nur einige Bemerkungen über drei Momente dieser Begriffsgeschichte zu berücksichtigen, nämlich: vor Kant, bei Kant und nach Kant. Vor der Kritik der reinen Vernunft wurde das Wort »transzendental« von der scholastischen Tradition benutzt, um die allgemeinen Eigenschaften des Seins zu nennen. Nach dieser Tradition ist ein jedes Seiende eines, wahr und gut. Diese Eigenschaften sind transzendentale Bestimmungen des Seins, weil sie als Prädikat sowohl der Substanzen als auch der Akzidenz benutzt werden können. In dieser Tradition und besonders bei dem deutschen Rationalismus im 17. Jahrhundert war die allgemeine Metaphysik oder Ontologie das philosophische Fach, das sich mit diesen »transzendentalen« Eigenschaften des Wesens 116

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beschäftigte. 3 Deshalb gebraucht Kant in seinem ersten bzw. vorkritischen Schreiben die Ausdrücke »allgemeine Metaphysik« und »transzendentale Philosophie« als Synonyme. 4 Dieser traditionelle bzw. vorkritische Gebrauch des Wortes »transzendental« steht auch an verschiedenen Stellen der Kritik der reinen Vernunft, z. B.: »Der transzendentale Gebrauch eines Begriffs in irgend einem Grundsatze ist dieser: dass er auf Dinge überhaupt und an sich selbst, der empirische aber, wenn er bloß auf Erscheinungen, d. h. Gegenstände einer möglichen Erfahrung bezogen wird.« 5 In der Kritik der reinen Vernunft benutzt Kant trotzdem auch das Wort »transzendental« mit einer ganz anderen Bedeutung bzw. einer Bedeutung, wie bekannt, die in Bezug auf die bisherige Geschichte der Philosophie für völlig neu gehalten werden muss. Dieser neue kritische Gebrauch des Wortes »transzendental« steht eben an der Stelle, wo Kant das System der Begriffe, die eine besondere Art von Erkenntnis liefern können, als »transzendentale Philosophie« bezeichnet. »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt.« 6 Diese Definition stellt eine neue Bedeutung des Adjektivs »transzendental« dar. Diese Bedeutung verweist nicht mehr auf die Bestimmungen a priori von »Dingen überhaupt und an sich selbst« und nicht einmal auf alle Erkenntnis a priori von Dingen. Die präzise Besonderheit des neuen kritischen Gebrauches von »transzendental« wird an der folgenden Stelle von Kant selbst betont: »Und hier mache ich eine Anmerkung, die ihren Einfluss auf alle nachfolgenden Betrachtungen erstreckt, und die man wohl vor Augen haben muss, nämlich: daß nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir Vgl. Franz Bader: Die Ursprünge der Transzendentalphilosophie bei Descartes, Bonn: Bouvier, 1982; Gottfried Martin: Wilhelm von Ockam. Berlin: De Gruyter, 1949. 4 Vgl. Immanuel Kant: Monadologia physica (1756). Akad. Ausgabe, I., S. 475; ders.: Vorlesungen über die Metaphysik. Darmstadt, 1964, S. 18. Zum Einfluss der traditionellen Begriffe des Transzendentalen auf Kants Konzeption siehe: Norbert Hinske: Die historischen Vorlagen der kantischen Transzendentalphilosophie. In: Archiv für Begriffsgeschichte, XII, 1968, S. 86–113. 5 KrV, A 238–239/B 297. Siehe auch: KrV, A 139/B 178, A 244/B 303, A 267/B 313, A 296/B 352, A 348/B 406, A 515/B 543, A 563/B 591, A 636/B 664, A 650/B 678, A 711/B 739, A 726/B 745. Vgl. ders.: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Ak. Aus. 478. Kant bezeichnet selbst »die Transzendentalphilosophie der Alten« als die Lehre, die behauptet: »quodlibet ens est unum, verum, bonum«. KrV, B 113. 6 KrV, A 11–12/B 25. 3

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erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglich sein, transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse.« 7

Die kritische Idee einer Transzendentalphilosophie verweist also nicht mehr auf die traditionelle allgemeine Metaphysik, sondern nur auf eine Metaphysik des empirischen Gegenstandes, die besonders in der transzendentalen Analytik dargelegt wird. 8 Obwohl Kant in Briefen und im Nachlass die transzendentale Philosophie mit der Kritik der reinen Vernunft gleichstellt 9 , behauptet er in seiner ersten Kritik, dass, während die Transzendentalphilosophie ein vollständiges und endgültiges System liefert, die Kritik der reinen Vernunft sich nun darauf beschränkt, die Möglichkeit der Erkenntnis a priori durch eine Analyse ihrer Elemente zu begründen. 10 Im nächsten Abschnitt wird dieser kantische Unterschied zwischen Kritik und System näher berücksichtigt. Hier muss man nun beachten, dass Kant als »transzendental« im engen bzw. kritischen Sinne nur die Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit der menschlichen Erkenntnis a priori bezeichnet. Das hat aber zwei wichtige Folgerungen für mein Anliegen. Einerseits können weder die praktische Philosophie noch der Inhalt der Kritik der Urteilskraft nach der Auffassung Kants zu dem System der Transzendentalphilosophie gehören. 11 Die Transzendentalphilosophie beschäftigt sich bei Kant nur mit einer Art von Erkenntnis, d. h. sie ist nur theoretiKrV, A 56/B 80. Zum Gebrauch der Termini »transzendental« in der ersten Kritik siehe: Gottfried Martin: Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie. Köln: Kölner Universitätsverlag 1951, § 6. 9 Immanuel Kant, Brief an Marcus Herz gegen Ende 1773, Ak. Aus. X 145; ders.: Reflexionen zur Metaphysik. 4455. Ak. Aus. XVII 558; ders.: Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik. Ak. Aus. XX 260. 10 Vgl. KrV, A 11/B 25, A 14/B 28, A 841/B 869, A 850/B 878. 11 In der Kritik der Urteilskraft (1790) bezeichnet Kant bestimmte universale Erkenntnisbedingungen, die eigentlich keine konstitutiven Bedingungen des Erfahrungsgegenstandes sind, als »transzendental«, nämlich die regulativen Bedingungen des Erfahrungserkenntnisprozesses (vgl. Ak. Aus. V 182). Im Anhang der »Transzendentalen Dialektik« bzw. noch in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) behauptet er, dass diese regulativen Prinzipien nur »transzendental zu sein scheinen«, weil eine echte Deduktion von ihnen unmöglich ist (vgl. KrV, A 663/B 691). Diese Ambivalenz im Gebrauch des Wortes »transzendental« entsteht wahrscheinlich aus der monologischen Perspektive der Bewusstseinsphilosophie, die die kommunikativen bzw. sprachlichen und intersubjektiven Bedingungen des Erkenntnisprozesses als konstituti7 8

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sche Philosophie. Andererseits behauptet Kant, dass »transzendental« nicht jede, aber eine gewisse Erkenntnis a priori heißen müsse. Nicht jede Erkenntnis a priori ist transzendental, aber jede transzendentale Erkenntnis ist a priori. Bei Kant ist eine Erkenntnis a priori, wie schon bekannt, wenn sie einerseits von aller möglichen Erfahrung unabhängig stattfindet und andererseits notwendig und streng allgemein ist. 12 Ist jede Transzendentalerkenntnis a priori, dann ist sie, bei Kant, unabhängig von möglicher Erfahrung, notwendig und streng allgemein. Es gibt also zwei Merkmale der kantischen Transzendentalphilosophie, die zur Untersuchung der Möglichkeit solcher Art von Philosophie nach der sprachpragmatischen Wende im Auge behalten werden müssen, nämlich: sie ist theoretisch und a priori. Nach dieser Wende der Gegenwartsphilosophie muss die Frage nach der Möglichkeit einer Transzendentalphilosophie noch einmal gestellt werden. Diese Wende besteht eben in dem Versuch, die Perspektive der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit bzw. auch der klassischen Transzendentalphilosophie zu überwinden. Der Grund dieses Versuchs besteht darin, dass keine vorsprachliche und vorkommunikative Evidenz eines Bewusstseins (auch nicht des »Bewusstseins überhaupt«) die intersubjektive Gültigkeit der objektiven Erkenntnis garantieren kann. Nach dieser Wende wurde endlich anerkannt, dass der Sinn und die Gültigkeit des menschlichen Denkens von einer sprachlichen Interpretation der Kommunikationsgemeinschaft abhängen. Wenn eine transzendentale Perspektive nach dieser sprachpragmatischen Wende noch möglich ist, kann sie sich nicht mehr für eine Untersuchung des geistigen Vermögens interessieren. Der kantische Anspruch, die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von objektiver Erkenntnis innerhalb eines vermeintlich selbstständigen »Bewusstseins überhaupt« zu finden, wurde nach der sprachpragmatischen Wende von den wichtigsten Ansätzen der Gegenwartsphilosophie abgelehnt. Trotz dieser allgemeinen Ablehnung der oft gebräuchlichen Perspektive der neuzeitlichen Philosophie, gibt es zurzeit verschiedene Versionen dieser Wende. Einerseits kann man ein relativistisches Verständnis dieser Wende identifizieren, indem die Überwindung der typischen Einstellung der Bewusstseinsphive Bedingungen der Beziehung zwischen Erfahrungserkenntnis und Erkenntnisobjekt nicht anerkennen kann. Siehe unten 5.1. 12 Vgl. KrV, B 2–3. A

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losophie zu einer totalen Ablehnung des neuzeitlichen Universalismus führt. Nach dieser Version, zu der sowohl die philosophisch hermeneutischen als auch die neopragmatischen Ansätze beigetragen haben, muss der Begriff der intersubjektiven Gültigkeit als etwas, das von zufälligen Verkettungen, geschichtlichen Überlieferungen und kontingenten Sprachspielen abhängt, verstanden werden. Diese relativistische Version der erwähnten Wende enthält doch eine radikale Ablehnung der kantischen Ansprüche, aber auch die Möglichkeit, über ein sog. »schwaches Transzendental« noch zu reden bzw. über die geschichtlichen und kontingenten Bedingungen der menschlichen Sprechhandlung. Diese Bedingungen sind konventionelle Sprachspiele und geschichtliche Überlieferungen, die für transzendental nur in »schwachem« Sinne gehalten werden können, weil sie weder von der menschlichen Erfahrung völlig unabhängig, noch notwendig und streng allgemein sind, d. h. sie sind a posteriori im Sinne Kants. Diese Bedingungen bestimmen nicht nur die wissenschaftlichen Paradigmata, weil sie nicht bloß theoretisch sind. Sowohl die kontingenten Sprachspiele als auch die geschichtlichen Traditionen spielen eine wichtige Rolle besonders innerhalb der praktischen Lebenswelten. Diese Version der sprachpragmatischen Wende enthält also eine Überwindung der methodisch solipsistischen Einstellung der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie, aber diese Überwindung ist vereinbar nur mit einer schwachen Bedeutung einer transzendentalen Untersuchung, nämlich die Untersuchung der kontingenten Bedingungen der sprachlichen Bedeutungen einer Aussage innerhalb eines Sprachspiels oder einer geschichtlichen Überlieferung. Es gibt aber auch eine andere Version der sprachpragmatischen Wende, die eigentlich versucht, die kantische Grundidee einer Transzendentalphilosophie unter dem sprachpragmatischen Rahmen zu transformieren und zu erweitern, nämlich die von Karl-Otto Apel vorgeschlagene und genannte Transzendentalpragmatik. Sie versucht, diese Wende innerhalb des kantischen Programms einer Transzendentalphilosophie zu entwickeln. Die sprachpragmatische Transformation dieser Philosophie bedeutet einerseits, dass als archimedischer Punkt nicht mehr das »Bewusstsein überhaupt« bzw. das kantische »Ich denke« gilt, sondern die ideal und unbegrenzte bzw. unbegrenzbare Argumentationsgemeinschaft und ihre konstitutiven und regulativen Bedingungen. Andererseits wird auch die Reichweite der Transzendentalphilosophie durch diese sprachpragmatische 120

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Transformation in einer von Fichte schon vorgeschlagenen Richtung erweitert. 13 Die transzendentalpragmatisch transformierte Transzendentalphilosophie ist keine bloß theoretische Philosophie wie die kantische Transzendentalphilosophie. Ganz im Gegenteil: sie enthält auch die Bedingungen einer diskursiven bzw. kommunikativen Ethik. Der Grund dieser Erweiterung besteht darin, dass es unter den unhintergehbaren und unvermeidlichen Bedingungen der sinnvollen Argumentation normative Voraussetzungen gibt, die in jedem praktischen Diskurs über moralische Richtigkeitsansprüche und in jeder konsistenten bzw. argumentativ begründbaren Handlungsweise als gültig immer schon angenommen werden müssen 14 . Im Vergleich zur kantischen Idee einer Transzendentalphilosophie ist die Transzendentalpragmatik also einerseits keine Bewusstseinsphilosophie, die die Einheit des Gegenstandsbewusstseins und des Selbstbewusstseins durch den höchsten Punkt einer transzendentalen Synthese der Apperzeption gewährleisten könnte. Die Transzendentalpragmatik ersetzt die von Kant durchgeführte kritische Analyse des Bewusstseins durch eine sinnkritische Analyse der sprachlichen Zeichen, dessen höchster Punkt ein intersubjektives Einverständnis einer idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft ist. 15 Andererseits wird die Transzendentalphilosophie durch diese sprachpragmatische Transformation nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Philosophie, deshalb geht sie über die kantische Definition der Transzendentalphilosophie als bloß spekulativ hinaus. Man kann also von einer doppelten Transformation der kantischen Idee einer Transzendentalphilosophie bei der Transzendentalpragmatik sprechen: einerseits vom Bewusstsein zur Sprache, anderseits von bloß theoretischer Philosophie zur theoretischen und praktischen Philosophie 16. 13 Vgl. Max von Zynda: Kant, Reinhold, Fichte. Studien zur Geschichte des Transzendentalbegriffs. Kantstudien. Ergänzungshefte, 20, Berlin: Reuther und Reichard, 1910; Marek J. Siemek: Die Idee des Transzendentalismus bei Fichte und Kant, Hamburg: Meiner, 1984. 14 Siehe unten 6.2. 15 Siehe dazu: Karl-Otto Apel: Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der transzendentalen Logik. In: ders.: Transformation der Philosophie. Bd. II, S. 157–177; Wolfgang Kuhlmann: Kant und die Transzendentalpragmatik. 16 Siehe dazu: Karl-Otto Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. In: ders., Transformation der Philosophie. Bd. II, S. 358–436; ders.: Sprechakttheorie und Begründung ethischer Normen. In: Lorenz, K. (Hrsg.):

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Trotz dieser beiden Transformationen bleibt die Transzendentalpragmatik in gewisser Weise kantisch wegen einer sehr wichtigen These, die sie von anderen Neuansätzen der Gegenwartsphilosophie ganz klar unterscheidet. Diese These besteht in dem Anspruch, eine Erkenntnis a priori reflexiv nachzuweisen. Ganz im Gegenteil zu anderen Ansätzen der Gegenwartsphilosophie, die die sprachpragmatische Wende als Ausgangpunkt auch anerkennen, behauptet die Transzendentalpragmatik einen Erkenntnisbereich, der nicht aus »schwach-« oder »quasitranszendental« bzw. bloß empirisch gültigen Aussagen besteht. Die Transzendentalpragmatik behält ein echt kantisches Erbe noch nach der sprachpragmatischen und praktischen Transformation der klassischen Transzendentalphilosophie bei. Es besteht eben darin, dass sie den Anspruch auf synthetische Erkenntnis erhebt, die einerseits von aller möglichen Erfahrung unabhängig stattfindet und andererseits notwendig und streng allgemein ist. Dieser Anspruch ist eben eine unterscheidende Eigenschaft der Transzendentalpragmatik gegenüber anderen Versionen der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie. Die Transzendentalpragmatik beansprucht, Argumentationsvoraussetzungen reflexiv aufzudecken und nachzuweisen, die für Bedingungen der Möglichkeit im strengen bzw. kantischen Sinne gehalten werden müssen. Diese Bedingungen können weder sinnvoll bestritten noch abgeleitet werden. Durch das so genannte Letztbegründungsargument 17 kann man die Erkenntnis solcher VorausKonstruktionen und Positionen, Berlin: De Gruyter, 1979, Bd. II, S. 37–107; ders.: Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 281–411; Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 175 ff. 17 Siehe dazu: Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik; ders.: Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus. Eine Replik. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, XVI/2, 1985, S. 357–374; ders.: Bemerkungen zum Problem der Letztbegründung. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, S. 212237; Karl-Otto Apel: Die Logos-Auszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Relevanz der Sprechakttheorie. In: Bosshardt, H. G. (Hrsg.): Sprache interdisziplinär, S. 45–87; ders.: Pragmatische Sprachphilosophie in transzendentalsemiotischer Begründung. In: Stachowiak, H. (Hrsg.): Pragmatics. Bd. IV. Hamburg: Meiner, 1993, S. 38–61; ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, passim; Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik, S. 364 ff., ders.: Dialogreflexion als Ergebnis der sprachpragmatischen Wende. Nur das sich wissende Reden und Miteinanderstreiten ermöglicht Vernunft. In: J. Trabant (Hrsg.): Sprache denken. Positionen aktueller Sprachphilosophie, S. 145–162.

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setzungen a priori nachweisen bzw. ihren Gebrauch a priori rechtfertigen; d. h.: nachweisen und rechtfertigen, dass sie als notwendig, streng allgemein und nicht bloß empirisch gelten. Aus dieser kurzen und partiellen Durchsicht der Begriffsgeschichte von »Transzendental« kann man zwei Folgerungen ziehen, die für die Absicht dieses Kapitels hoch bedeutsam sind. Einerseits kann man mindestens drei verschiedene Bedeutungen des Wortes »transzendental« noch schematisch, aber klar unterscheiden, nämlich eine dogmatische, eine skeptische und eine kritische Bedeutung. In seiner dogmatischen bzw. vorkritischen Bedeutung heißt »transzendental« eine allgemeine Eigenschaft von allen Wesen. Die dogmatische Lehre, die diese Eigenschaften behandelt, heißt »transzendentale Philosophie« bzw. »allgemeine Metaphysik« oder »Ontologie«. In seiner skeptischen bzw. nachkritischen und schwachen Bedeutung verweist »(quasi) transzendental« auf die kontingenten Sinnbedingungen einer Sprechhandlung bzw. auf ein partikuläres Sprachspiel. Diesen Gebrauch von schwach- bzw. »quasitranszendental« kann man skeptisch nennen, insofern er die Ablehnung der Möglichkeit unterstellt, Erkenntnis a priori über die Sinnbedingungen jeder Sprechhandlung zu erreichen. Wären diese Bedingungen konventionelle Regeln von bloß kontingenten Sprachspielen, dann könnte keine Erkenntnis a priori über sie erreicht werden, weil die Zeichenbenutzer willkürlich entscheiden könnten, ob sie nach diesen Regeln spielen wollen oder nicht. Die skeptische Lehre dieser quasitranszendentalen Sinnbedingungen des Zeichengebrauchs heißt Sprachspieltheorie. 18 In seiner kritischen Bedeutung ist »transzendental« weder eine ontologische Eigenschaft der Wesen noch eine Eigenschaft der kontingenten Sinnbedingungen eines Sprachspiels, die nur empirisch und fallibel rekonstruiert werden kann, sondern eine Eigenschaft einer besonderen Erkenntnis a priori, nämlich die Erkenntnis über die Bedingungen der Möglichkeit von objektiver Erkenntnis überhaupt. Nach der sprachpragmatischen Wende wurde diese kritische Bedeutung zweifach transformiert. Einerseits bedeutet das Wort

18 Siehe dazu: Susanne Fromm: Wittgensteins Erkenntnisspiele contra Kants Erkenntnislehre. Freiburg [u. a.]: Alber, 1979; Peter Bachmaier: Wittgenstein und Kant. Versuch zum Begriff des Transzendentalen. Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 1978.

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»transzendental« auch eine Eigenschaft der Sinnbedingungen sowohl von normativen Aussagen bzw. moralischen Maximen als auch von einem konsistenten Selbstverstehen der inneren Welt der Zeichenbenutzer. Andererseits handelt es sich nun um die Sinn-Gültigkeitsbedingungen, die als unbestreitbare und unhintergehbare Voraussetzungen bei jeder möglichen Argumentationshandlung immer schon angenommen werden müssen (d. h.: nicht mehr um die Formen des Bewusstseinsvermögens). Durch diese Transformation der kritischen Bedeutung von »transzendental« bleibt dennoch bei der Transzendentalpragmatik die These von dem Charakter a priori dieser transzendentalen Bedingungen: d. h. sie sind von aller Erfahrung unabhängig, notwendig und streng allgemein. Um mögliche Missverständnisse im Rahmen der transzendentalpragmatischen Auffassung zu vermeiden, braucht man deshalb die bloß kontingenten und empirisch rekonstruierbaren Bedingungen von partikulären Sprachspielen nicht »transzendental« zu nennen.

3.2. Die Systemproblematik in der klassischen Transzendentalphilosophie Innerhalb der Transzendentalphilosophie spielte die Systemidee eine wichtige Rolle, sowohl in der ursprünglichen Auffassung einer Transzendentalphilosophie als einer philosophischen Wissenschaft, die noch dargelegt werden müsste, als auch in der Entwicklung der Transzendentalphilosophie in der Geschichte des deutschen Idealismus. Man kann sagen, dass diese Entwicklung von dem Systemproblem in gewisser Weise abhängt, nämlich dem Problem der Einheit zwischen theoretischer und praktischer Philosophie nach Kant. Am Ende des 18. Jahrhunderts finden verschiedene Autoren in diesem Problem eine entscheidende Frage, die sie durch ihre Werke versuchen zu beantworten. Die Systemidee bekommt also durch diese philosophische Arbeit verschiedene Bedeutungen innerhalb der geschichtlichen Entwicklung der Transzendentalphilosophie von der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) bis zu Schellings System des transzendentalen Idealismus (1801). In diesem Abschnitt werden diese komplette Entwicklung und die entsprechende Veränderung des Systemproblems im Rahmen des deutschen Idealis124

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mus nicht rekonstruiert. 19 Statt dessen werden nur die verschiedenen Ebenen dieses Problems in Kants Werken begrifflich unterschieden. Diese Differenzierung kann sehr wertvoll sein, um dieses Problem im Rahmen der Gegenwartstranszendentalphilosophie zu analysieren und seine Relevanz für eine sprachpragmatisch transformierte Transzendentalphilosophie richtig beurteilen zu können. Wie viele andere philosophische Begriffe erhält Kant die Systemidee als Erbe der philosophischen Tradition des Rationalismus des 17. Jahrhunderts, und er verändert die Bedeutung dieser Idee in eine kritische Richtung. 20 Diese Veränderung besteht hinsichtlich der erwähnten Tradition in der strengen Unterscheidung zwischen zwei partikularen philosophischen Systemen, die nur nach ihrer begrifflichen Trennung als kompatibel präsentiert werden können. Wie bereits bekannt, hat Kants kritischer Vorschlag verschiedene Arten von begrifflichen Spaltungen als Resultat. Sinn und Vernunft, Phänomen und Ding an sich, sein und sollen, theoretisch und praktisch sind Elemente, die das philosophische Denken nach der Kritik der reinen Vernunft nicht verwechseln darf. Auch die traditionelle Systemidee wird von Kants kritischer Philosophie gespalten. Schon in seiner ersten Kritik bzw. in dem Architektonikkapitel präsentiert Kant diese gleichzeitigen Forderungen nach Trennung und nach Einheit des philosophischen Systems. »Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz, anfangs in zwei besondern, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System. Die Philosophie der Natur geht auf alles, was da ist; die der Sitten, nur auf das, was da sein soll.« 21

Die von der Kritik der reinen Vernunft nachgewiesene Trennung zwischen Natur und Freiheit verweist also auf den Unterschied zwischen zwei philosophischen Systemen, nämlich der Metaphysik der Natur und der Metaphysik der Sitten. Hier kann man noch einmal 19 Siehe dazu: Adolf Schurr: Philosophie als System bei Fichte, Schelling und Hegel. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1974. 20 Siehe dazu: Friedrich Kambartel: System und Begründung als wissenschaftliche und philosophische Ordnungsbegriffe bei und vor Kant. In: Blühdorn, J./Ritter, J. (Hrsg.): Philosophie und Rechtswissenschaft, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1969, S. 99–113; Erick Adickes: Kants Systematik als systembildender Factor. Berlin, 1887; Heinrich Rombach: Substanz, System, Struktur. 2 Bde, Freiburg: Mayer und Müller, 1965/66. 21 KrV, A 840/B 868.

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erinnern, dass Kant nur das erste »System der transzendentalen Philosophie« nennt und dass die Einheit von beiden das System der Philosophie wäre. Wie bereits bekannt, hat Kant durch seine erste Kritik nicht beansprucht, das ganze System der Transzendentalphilosophie zu entwickeln, sondern nur ihren kompletten architektonischen Plan zu entwerfen. Dieser Plan muss also bei völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit alle Stücke, die dieses Gebäude ausmacht 22 , enthalten. Der in dieser Kritik entworfene Plan des Systems der Transzendentalphilosophie wird nach Grundsätzen a priori ausgearbeitet, dessen systematischer Inbegriff den Kanon des reinen Verstands konstituiert. 23 Die transzendentale Analytik enthält nach Kant alle die Begriffe und Grundsätze, die wahre synthetische Erkenntnis a priori ermöglichen. 24 »Nun kann diese Vollständigkeit einer Wissenschaft nicht auf den Überschlag, eines bloß durch Versuche zu Stande gebrachten Aggregats, mit Zuverlässigkeit angenommen werden; daher ist sie nun vermittelst einer Idee des Ganzen der Verstanderkenntnis a priori und durch die daraus bestimmte Abteilung der Begriffe, welche sie ausmachen mithin nur durch ihren Zusammenhang in einem System möglich.« 25

Kant beansprucht, den Leitfaden aller reinen Verstandesbegriffe bzw. Kategorien in einer vollständigen Tafel der logischen Funktionen in allen möglichen Urteilen entdeckt zu haben. Die Grundsätze des reinen Verstandes sind die Regeln des objektiven Gebrauchs der Kategorien und deshalb bietet die von der erwähnten UrteilsfunktionenTafel abgeleitete Kategorientafel selbst schon eine vollständige Vorstellung aller Grundsätze des reinen Verstandes an. Hier brauchen wir nicht die Schwierigkeiten dieser drei Tafeln zu betrachten, obwohl die Diskussion darüber seit Ende des 18. Jahrhunderts einen großen Einfluss auf die Entwicklung der klassischen Transzendental-

22 Vgl. KrV, A 13/B 26. Siehe auch KrV, B XXXVII; Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Akad. Ausg. IV, S. 263. 23 »Ich verstehe unter einem Kanon den Inbegriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs gewisser Erkenntnisvermögen überhaupt. […] So war die transzendentale Analytik der Kanon des reinen Verstandes; denn der ist allein wahrer synthetischer Erkenntnisse a priori fähig.« KrV, A 796/B 824. 24 Vgl. KrV, A 796/B 824. 25 KrV, A 64–65/B 89.

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philosophie hatte. 26 Für meine Absicht reicht es zu bemerken, dass der in der transzendentalen Analytik dargelegte Kanon des reinen Verstandes, nach Kants Meinung, alle die transzendentalen Begriffe und Grundsätze dieses Vermögens, nicht als ein bloßes Aggregat, sondern als eine systematische Einheit enthält. Kant erhebt also den Anspruch, dass die drei Tafeln der transzendentalen Analytik vollständig und systematisch sind. Sie enthalten aber nur den architektonischen Plan des ganzen Systems der Transzendentalphilosophie. Dieses System könnte doch durch eine »ausführliche Analyse« der Stammbegriffe und eine »vollständige Rezension« der daraus abgeleiteten Begriffe aufgebaut werden 27 . Diese Analyse und Rezension hätten als Resultat die kritische Metaphysik der Natur bzw. das System der Transzendentalphilosophie. 1781 antizipiert Kant diese nie gelieferte systematische Metaphysik und lädt den Leser ein, zu dieser Analyse und Rezension beizutragen, weil das »mehr Unterhaltung als Arbeit ist«. 28 26 Siehe dazu: Michael Wolff: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges Begriffsschrift. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1995; Lorenz Krüger: Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen? In: Kant-Studien, 59, 1968, S. 333–356; Hans Lenk: Kritik der logischen Konstanten. Philosophische Begründungen der Urteilsformen vom Idealismus bis zur Gegenwart. Berlin: De Gruyter, 1968; Klaus Reich: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, 3. Aufl., Hamburg: Meiner, 1986; Heinz Heimsoeth: Zur Herkunft und Entwicklung von Kants Kategorientafel. In: Kant-Studien, 54 (1963), S. 376–403; Peter Baumanns: Kants Urteilstafel. Erörterungen des Problems ihrer systematischen Vollständigkeit. In: ders. (Hrsg.): Realität und Begriff. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1993 151–196; Reinhardt Brandt: Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft A 67–76; B 92–101. Kant- Forschungen, Bd. 4, Hamburg: Meiner, 1991. 27 Vgl KrV, A 13/B 26. 28 KrV, A XXI. In der folgenden Stelle präsentiert Kant eine Antizipation seines versprochenen Systemaufbaus: »Es sei mir erlaubt, diese reine, aber abgeleiteten Verstandesbegriffe die Prädikabilien des reinen Verstandes (im Gegensatz der Prädikamente) zu nennen. Wenn man die ursprünglichen und primitiven Begriffe hat, so lassen sich die abgeleiteten und subalternen leicht hinzufügen, und der Stammbau des reinen Verstandes völlig ausmalen. Da es mir hier nicht um die Vollständigkeit des Systems, sondern nur der Prinzipien zu einem System zu tun ist, so verspare ich diese Ergänzungen auf eine andere Beschäftigung. Man kann aber diese Absicht ziemlich erreichen, wenn man die Ontologischen Lehrbücher zur Hand nimmt, und z. B. der Kategorie der Kausalität die Prädikabilien der Kraft, der Handlung, des Leidens; der der Gemeinschaft die der Gegenwart, des Widerstandes; den Prädikamenten der Modalität die des Entstehens, Vergehens, die Veränderung usw. unterordnet«. KrV, A 82/B 108. In den Prolegomena verweist Kant auf die Ontologie von Baumgarten als Hilfe für diesen Systemaufbau. Vgl.: Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wis-

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Sowohl der systematische Plan als auch das komplette System einer Transzendentalphilosophie enthalten nach Kant die konstitutive (bzw. nicht bloß regulative!) Struktur des menschlichen Verstands. Der Übergang von dem architektonischen Plan der Transzendentalphilosophie bis zu diesem System kann nicht die Grundsätze dieses Plans verändern, weil sie die Glieder einer organischen Einheit sind, deren Wachstum ihre innere Artikulation bewahrt. »Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es kann zwar innerlich (per intus suspectionem), aber nicht äußerlich (per appositionem) wachsen, wie ein tierischer Körper, dessen Wachstum kein Glied hinzusetzt, sondern, ohne Veränderung der Proportion, ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht.« 29

Kant präsentiert also die Idee eines Systems der Transzendentalphilosophie als eine vollständige theoretische bzw. spekulative Philosophie, deren Plan in der transzendentalen Analytik durch die systematische Einheit aller konstitutiven Begriffe und Grundsätze des reinen Verstandes entworfen wurde. Gegenüber dieser Idee eines Transzendentalphilosophiesystems legt er sowohl in dem Architektonikkapitel der Kritik der reinen Vernunft als auch in der »Ersten Einleitung« in der Kritik der Urteilskraft die Idee eines Systems der Philosophie im Allgemeinen, die sowohl die Transzendentalphilosophie als auch die praktische Philosophie einschließen muss. Dieses philosophische System würde also versuchen, die zwei Teile der kritischen Metaphysik, nämlich die Metaphysik der Natur und die Metaphysik der Sitten, als vereinbar darzulegen. Dieser Versuch, die Philosophie als System kritisch zu denken, hängt aber nicht mehr von einer transzendentalen Analytik des reinen Verstandes ab, sondern von einer Reflexion über die Beziehung zwischen »den oberen Erkenntnisvermögen« und »den Vermögen des menschlichen Gemüts«. Die ersten können hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Allgemeinem und Besonderem unterschieden werden: der Verstand erkennt das Allgemeine bzw. die Regeln, die Urteilskraft subsumiert das Besondere unter das Allgemeine, und die Vernunft bestimmt das Besondere durch das Allgemeine bzw. leitet von Prinzipien ab. Hinsichtlich der zweiten sagt Kant: »Wir können alle Vermögen des menschlichen Gemüts ohne Ausnahme auf die drei zurückführen: das Erkenntnissenschaft wird auftreten können. § 39, Akad. Aus. IV 326 n. und Ak. Aus. XVII 5–226, XV 5–54. 29 KrV, A 833/B 861.

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vermögen, das Gefühl der Lust und Unlust, und das Begehrungsvermögen.« 30 Die Philosophie als System enthält nach Kant nur zwei Teile, nämlich einen theoretischen und einen praktischen, sie beruht aber auf einem System von drei oberen Erkenntnisvermögen: Verstand, Vernunft und Urteilskraft 31 . Das erste liefert die Naturgesetze, das zweite die Freiheitsgesetze und das dritte nur die Verbindung zwischen den anderen, d. h. keine besonderen Grundsätze a priori und deshalb keinen Grund für einen besonderen Teil der Philosophie. Die Urteilskraft kann diese Verbindung zwischen Natur und Freiheit nur durch die reflexive Voraussetzung einer Naturzweckmäßigkeit liefern. In der Kritik der reinen Vernunft wurde die Erfahrung als ein System durch transzendentale Gesetze dargelegt, durch Grundsätze des reinen Verstandes, die die Möglichkeit sowohl der Erfahrung als auch des Erfahrungsgegenstandes im Allgemeinen bedingen. Aber die empirischen Naturgesetze, die nur durch die wissenschaftliche Forschung entdeckt werden können, müssen auch in einer systematischen Einheit verknüpft sein, und sie können nicht aus den Grundsätzen des reinen Verstandes objektiv begründet werden. Um die Erfahrung als ein System der empirischen Gesetze denken zu können, muss man etwas bloß subjektiv einfach voraussetzen, nämlich, dass die Natur nach einer formalen Zweckmäßigkeit organisiert wird. Diese Voraussetzung erlaubt uns die empirischen besonderen Naturgesetze unter empirischen allgemeinen Naturgesetzen zu verstehen, als ob sie Glieder eines ganzen Systems wären. Die Naturzweckmäßigkeitsvoraussetzung ist doch nur subjektiv bzw. nach dem reinen Verstand bloß kontingent, aber ohne sie könnten die empirischen Naturgesetze nicht als solche Glieder einer vollständigen und artikulierten Verbindung betrachtet werden, sondern nur als ein bloßes Aggregat, wo die Teile nur zufällig nebeneinander bestehen würden. Ohne diese subjektive Voraussetzung wäre die Beziehung zwischen besonderen Wahrnehmungen und empirischen Gesetzen nur zufällig, und man könnte keine Affinität und Konkordanz zwischen den heterogenen Formen und vielfältigen Gesetzen der Natur erwarten. Der Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft setzt also zweckmäßig Immanuel Kant: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. Ak. Aus. XX 205–206. Ebenda S. 201–205. Trotzdem fügt er im Brief an Reinhold (28. 12. 1787) die Teleologie als Teil dem Philosophiesystem hinzu. Vgl. Ak. Aus. X 515. 30 31

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voraus, dass die Natur selbst eine Art von Uniformität hat, die für uns verstehbar ist, bzw. dass die Natur sich selbst technisch oder künstlich organisiert, um diesen Gebrauch in den Naturforschungstätigkeiten zu ermöglichen. 32 Die von der reflektierenden Urteilskraft bloß subjektiv brauchbare Voraussetzung liefert also weder theoretische Naturerkenntnis noch praktische Moralprinzipien, sondern ein Naturforschungsprinzip. Als Naturforscher muss man versuchen, jede besondere Erfahrung durch empirische Naturgesetze zu erklären und jedes besondere empirische Naturgesetz unter ein allgemeines und dieses unter ein noch allgemeineres usw. zu subsumieren, um die gesuchte Erfahrungserkenntnis als eine systematische Verbindung von verschiedenen Ebenen der Allgemeinheit zu betrachten. Es handelt sich also um ein heuristisches Prinzip, das die Entdeckung aller empirischen Naturgesetze in ihre unterstellte systematische Einheit als eine regulative Idee fordert. Dieses Prinzip erlaubt die vielfältigen Gesetze und die heterogenen Naturformen der Erfahrungsphänomene als besondere Elemente unter allgemeinen Gesetzen und Formen zu betrachten. Die Naturzweckmäßigkeit liefert als subjektive Voraussetzung unserer Urteilskraft also einerseits einen orientierenden Sinn der empirischen Naturerkenntnis und andererseits die Verbindung zwischen den zwei Teilen des Systems der Philosophie: das spekulative bzw. transzendentale System einer Metaphysik der Natur und die praktische Metaphysik der Sitten oder das System der Freiheit, weil nur ein freier Wille Zwecke verfolgen kann. Der Naturzweckmäßigkeitsbegriff versöhnt deshalb nach Kant die Reiche der Natur und der Freiheit. Zusammenfassend kann man mindestens zwei verschiedene Ebenen in Kants Systemproblematik unterscheiden: eine konstitutive Ebene bzw. das System der transzendentalen Erkenntnis und eine regulative Ebene bzw. das System der empirischen Naturgesetze. Die erste wird durch die objektiven Grundsätze des reinen Verstandes schon entworfen. Dieser in der transzendentalen Analytik dargelegte Entwurf ist nach Kant inhaltlich vollständig, weil die erwähnten Im »Anhang der transzendentalen Dialektik« antizipiert Kant diese reflexiv-teleologische Lehre durch die Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen. Vgl. KrV, A 642/B 670- A 668/B 696, bes.: A 658/B 686. Siehe unten: 5.1.

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Grundsätze alle die Glieder eines Systems sind, das doch als ein lebendiger Organismus von innen wachsen, sich artikulieren und sich entwickeln kann, aber keine anderen Glieder bzw. Grundsätze von außen bekommen kann. Die regulative Idee eines Systems der empirischen Naturgesetze ist hingegen immer nur eine bloß subjektive und heuristische Voraussetzung der Naturforschung, die wegen der Endlichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens prinzipiell nie verwirklicht werden könnte. Auf beiden Ebenen bleibt die Systemidee offen, aber man muss hier einen wichtigen Unterschied zwischen der konstitutiven Einheit der transzendentalen Grundsätze des reinen Verstandes und der bloß regulativen Idee eines möglichen Systems der empirischen Gesetze beachten. Die erste als konstitutive Bedingung der Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis wird von dem menschlichen Verstand in allen seinen Tätigkeiten immer schon vollständig beherrscht, obwohl das System der Transzendentalphilosophie noch nicht vollständig formuliert ist. Die zweite als regulatives Ziel der wissenschaftlichen Erfahrungserkenntnis wird von diesen Tätigkeiten immer gesucht, aber niemals erreicht. 33 Dieser Unterschied zwischen der konstitutiven und der regulativen Rolle der Systemidee im Rahmen der klassischen Transzendentalphilosophie Kants kann nützlich sein, um das Problem der transzendentalen Vollständigkeit nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie zu erhellen.

3.3. Eine Ausschließung der Systemidee aus dem Kern der Transzendentalpragmatik Die klassische Transzendentalphilosophie betrachtete sich selbst von vornherein als ein vollständiges System bzw. als eine artikulierte 33 »Erfahrung ist nicht blos ein willkürliches Aggregat der Wahrnehmungen sondern blos die Tendenz zu einem Vollständigen aber doch nie vollendeten System derselben, … sie selbst die immer nur Eine sein kann (denn es gibt nicht Erfahrungen) ist immer nur ein problematisches, (nicht assertorisches, noch weniger ein apodictisches) Wissen sondern bestehet blos im Forschen und auch fortschreiten zu ihr begriffen.« Immanuel Kant: Opus postumum, Ak. Ausg. XXI 99. Im Opus postumum scheint Kant Schellings System der transzendentalen Idealismus als Fortsetzung des Spinozismus abzulehnen, weil es den erwähnten Unterschied zwischen Transzendentalensystem und Erfahrungssystem missachtet. Vgl., S. 87; Burkhard Tuschling: System des transzendentalen Idealismus bei Kant? Offene Fragen der – und an die – Kritik der Urteilskraft. In: KantStudien, 86, 1995, S. 196–210.

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Einheit, die alle Bedingungen der Möglichkeit der objektiv gültigen Erkenntnis enthält. In dieser Systemauffassung der Transzendentalphilosophie spielte der oben erwähnte Unterschied zwischen einer konstitutiven Vollständigkeit der transzendentalen Grundsätze und einer regulativen Vollständigkeit der Erfahrungsgesetze eine sehr wichtige Rolle. Dank ihm konnte die kritische Transzendentalphilosophie die dogmatische Systemauffassung des neuzeitlichen Rationalismus überwinden. Die Frage ist nun, ob von diesem klassisch transzendentalphilosophischen Unterschied noch heute etwas gelernt werden kann, wenn man die Systemproblematik der Transzendentalphilosophie nach der sprachpragmatischen Wende berücksichtigt oder ob dieser Unterschied eben wegen dieser Wende der Transzendentalphilosophie aufgelöst werden muss oder einfach vergessen werden kann. Im Rahmen der sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie wurde die Idee des Systems von Wolfgang Kuhlmann sorgfältig analysiert. 34 Diese Analyse beginnt mit der Anerkennung der wichtigen Rolle des Systemgedankens innerhalb der geschichtlichen Entwicklung der kantischen Idee einer Transzendentalphilosophie bei Reinhold und Fichte und mit einer Erklärung der Transzendentalpragmatik als ein Versuch, die kantischen Ideen von Transzendentalphilosophie und radikaler Vernunftkritik sprachpragmatisch zu formulieren. Dieser Versuch muss sich auch mit der Systemsidee auseinandersetzen, aber, nach Kuhlmann, handelt es sich um eine »gefährliche Idee«, die vorsichtig und behutsam behandelt werden muss, »will man nicht die Pointe der Transzendentalpragmatik zerstören«. 35 Zur Vermeidung dieser Gefahr unterscheidet KuhlAuch Marcel Niquet hat die architektonische Problematik des Transzendentalen in diesem Rahmen berücksichtigt. Sein Versuch, eine sog. revisionäre Transzendentalpragmatik zu entwickeln, führt ihn aber dazu, auf die Notwendigkeit der Transzendentalerkenntnis zu verzichten und eine Auffassung des im letzten Abschnitt genannten »Schwachen Transzendentalen« vorzuschlagen. Vgl. Marcel Niquet: Evidenz, Selbstbezüglichkeit, Diskurs. Überlegungen zur Architektonik des Transzendentalen. In: Kuhlmann, W. (Hrsg.): Anknüpfen an Kant. Konzeptionen der Transzendentalphilosophie, S. 101–114. Dieter Wandschneider hat auch die Systemproblematik der Transzendentalpragmatik kurz berücksichtigt. Seine kritischen Bemerkungen beruhen aber auf Vittorio Hösles Missdeutung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Siehe: Dieter Wandschneider: Letztbegründung und Logik. In: Klein, H.-D. (Hrsg.): Letztbegründung als System? Bonn: Bouvier, 1994, S. 84–103. Zur erwähnten Missdeutung siehe oben: 2.2. 35 Wolfgang Kuhlmann: Systemaspekte der Transzendentalpragmatik. In: ders.: 34

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mann, erstens die Bedeutung des Systemsgedankens für die Philosophie und die Wissenschaften, zweitens das Spezifische der Letztbegründung der zentrierten transzendentalpragmatischen Konzeption von Philosophie und drittens, das Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Systemgedanken. Nach Kuhlmann besteht die Bedeutung des Systemgedankens in der Anforderung an Vollständigkeit, die die wissenschaftlichen und philosophischen Forschungen als Ziel ihrer Erkenntnisbemühungen führen. In diesen Forschungen will man einen Erkenntnisbereich allseitig kennenlernen oder mindestens die wesentlichen Aspekte dieses Bereichs berücksichtigen. Um diese Aspekte systematisch zu erkennen, muss man sie nicht als isolierte Elemente betrachten, sondern ihre gegenseitigen Beziehungen vollständig verstehen. Das bedeutet aber einerseits, dass ein Aspekt eines Erkenntnisbereiches nur als ein Teil eines Ganzen systematisch verständlich ist, und andererseits, dass dieses Verständnis nicht »auf einen Schlag«, sondern nur als Resultat eines diskursiven Forschungsprozesses möglich ist. Dieser Prozess wird von einem Kohärenzgesichtspunkt regiert, der eine globale Antizipation der gesuchten Vollständigkeit von vornherein unterstellt. Deshalb ist die Systemidee die Erkenntnisbemühungen eines Forschungsprozesses wert. Nach dieser Darlegung der Bedeutung des Systemgedankens präsentiert Kuhlmann die strikt reflexive Letztbegründung, die er selbst an anderer Stelle durchgeführt und methodologisch erklärt hat, als das Zentrum der Transzendentalpragmatik und diese als einen Versuch, das kritische Projekt einer rationalen und radikalen Vergewisserung der Bedingungen von Erkenntnis im Rahmen der Diskussionssituation der Gegenwartsphilosophie zu erneuern. 36 Die archimedische Basis dieses Erneuerungsversuchs ist das so genannte strikt reflexive Letztbegründungsargument, das etwas absolut sicher gegen jeden möglichen Zweifel bzw. gegenüber dem Skeptizismus

Sprachphilosophie –Hermeneutik – Ethik. Studien zur Transzendentalpragmatik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1992, S. 270–286: 270. 36 Wolfgang Kuhlmann: Kant und die Transzendentalpragmatik; ders.: Reflexive Letztbegründung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik; ders.: Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus. Eine Replik. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, XVI/2, 1985, S. 357–374; ders.: Bemerkungen zum Problem der Letztbegründung. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, S. 212- 237 A

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und dem uneingeschränkten Fallibilismus liefern kann 37 . Nach den Vertretern dieser Art von Fallibilismus sind alle erreichbaren Argumentationsresultate fallibel, weil sie immer von falliblen Theorien abhängen würden. In dem besonderen Fall, dass diese Resultate als Argumentationsvoraussetzungen anerkannt werden können, kann man dafür nur solche innerhalb einer falliblen Argumentationstheorie halten, und deshalb behauptet der Verfechter des uneingeschränkten Fallibilismus, dass keine durch ein sog. Letztbegründungsargument gelieferte Sicherheit gerechtfertigt werden kann. Gegen diese Art von Fallibilismus behauptet Kuhlmann mit Recht, dass das strikt reflexive Letztbegründungsargument von keiner falliblen Argumentationstheorie abhängt. Um das zu erklären, unterscheidet er eine »rekonstruktive« bzw. fallible Theorie der Argumentation von einer strikten Reflexion über die rekonstruierten Resultate dieser Theorie. Die Argumentationsvoraussetzungen sind ein Bestandteil des Handlungswissens (know how) des Argumentierenden. Werden diese Voraussetzungen durch Aussagen explizit nur rekonstruiert, dann müssen diese Aussagen noch als fallibel berücksichtigt werden. Bestehen diese Aussagen aber die Prüfung des Letztbegründungsarguments, dann müssen sie für unhintergehbare Bedingungen einer jeden möglichen Zweifelshandlung und einer jeden möglichen argumentativen Prüfung überhaupt behandelt werden. Kuhlmann unterscheidet also zwischen den Forschungsbemühungen einer theoretischen Reflexion bzw. falliblen Rekonstruktion einerseits, deren Resultate systematisch präsentiert werden können, und einem strikt reflexiven Argument andererseits, dessen letztbegründete Resultate als transzendentale Bedingungen von jedem möglichen Rekonstruktions- und Forschungsprozess und von jeder möglichen systematischen Darstellung der falliblen Resultate dieser Prozesse berücksichtigt werden müssen. Nach Kuhlmann kann die Systemidee eine wichtige Rolle innerhalb der falliblen ForschungsSiehe dazu z. B.: Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. 5., verb. u. erw. Aufl., Tübingen: Mohr, 1991; ders.: Transzendentale Träumerin. Karl-Otto Apels Sprachspiele und seine hermeneutischer Gott. Hamburg: Hoffman & Campe, 1975; ders., Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft. Tübingen: Mohr, 1982; William Warren Bartley: The Retreat to Commitment. New York, 1962; Gerard Radnitzky: In defense od Self-Applicable Critical Rationalism. In: International Cultural Foundation (Hrsg.): Absolute Values and the Creation of the New World. Vol. II. New York: International Cultural Foundation Press, 1983, S. 1025–1069.

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bemühungen einer bloß theoretischen Reflexion über das Handlungswissen der Argumentierenden spielen. Er konzediert also, dass die Idee der vollständigen Gesamtheit der Argumentationsvoraussetzungen als Ziel des Forschungsprozesses ihrer theoretischen Rekonstruktion vorgestellt werden kann. Diese Idee aber, behauptet Kuhlmann, spielt überhaupt keine Rolle innerhalb der strikten Reflexion, die diese Voraussetzungen als unhintergehbar nachweist, weil diese Reflexion einerseits in keinem Forschungsprozess besteht, sondern in einer Prüfung, die nur »auf einen Schlag« durchgeführt werden kann, und andererseits, weil durch diese Prüfung keine systematische Gesamtheit als unhintergehbar nachgewiesen werden kann, sondern nur partikulare Voraussetzungen. Zur Erklärung der Unabhängigkeit des Letztbegründungsarguments von der Systemidee unterscheidet Kuhlmann drei Ebenen innerhalb des Handlungswissens 38. Nach dieser Differenzierung gibt es erstens eine tief liegende Ebene der grammatischen Regeln (à la Chomsky), deren Transformation in explizites know that keine Anamnesiseffekte verwirklicht, zweitens gibt es eine oberflächliche Ebene, die von den rekonstruktiven Wissenschaften im know that transformiert wird. Auf dieser Ebene handelt es sich z. B. um die Unterscheidung der verschiedenen Sprechhandlungen und um die Ziele, die der Argumentierende ins Spiel bringt. Zwischen den erwähnten Ebenen gibt es noch eine Mittelebene des Handlungswissens, die durch eine mäeutische Geschicklichkeit in know that transformiert werden kann. Diese Transformation hat einen Wiedererinnerungseffekt. Auf dieser Mittelebene des Handlungswissens geht es z. B. um das Widerspruchsprinzip und die Voraussetzung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft. Kuhlmann behauptet also, dass nur die letzten zwei Ebenen des Handlungswissens nützlich sind, um das strikt reflexive Letztbegründungsargument durchzuführen. Der Teil des Handlungswissens, dessen Transformation im expliziten know that eine große rekonstruktive Forschungsbemühung braucht, kann und muss nicht zum Letztbegründungsargument benutzt werden, weil die Resultate dieser Bemühung bloß fallibel sind. Der Kern der Unterscheidung Kuhlmanns besteht in der Bemerkung, dass das strikt reflexive Handlungswissen nur von der Perspektive und den begrifflichen 38 Siehe dazu auch: Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, S. 140 ff.

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Mitteln des Argumentierenden qua Mitspieler abhängen kann. Dieser Mitspieler des argumentativen Dialogs weiß, wie man argumentieren muss, aber er verfügt über kein wissenschaftliches System seines Handlungswissens bzw. über keine Vollständigkeit dieses Wissens als ein explizites know that. Aus diesen Bemerkungen über das für das Letztbegründungsargument nützliche Handlungswissen schließt Kuhlmann folgendermaßen die These der Irrelevanz der Systemidee für dieses Argument. Man kann nur »punktuelle Gehalte« strikt reflexiv letztbegründen, und die »Lücken« zwischen ihnen sind nicht strikt reflexiv ausfüllbar. Deshalb, behauptet er, kann man sich nicht sinnvoll auf ein vollständiges System des letztbegründeten Gehalts berufen. Die einzelnen Inhalte, die letztbegründbar sind, kann man nicht als Teile eines vollständigen Ganzen holistisch vorstellen, als ob sie mit Rücksicht aufeinander modifiziert bzw. korrigiert werden könnten. Die maximale Gewissheit bzw. Sicherheit, die das Letztbegründungsargument durch die Konfrontation von einer behaupteten Proposition und einer Präsupposition der Behauptungshandlung liefert, ist völlig unabhängig von der möglichen Kohärenz oder Konvergenz zwischen den letztbegründeten Aussagen. Kuhlmann unterscheidet also als unvereinbar die strikt reflexive Einstellung, die hier und jetzt erlaubt, punktuelle Aussagen letztzubegründen einerseits, und die holistische Perspektive, nach der die Wahrheit einer isolierten Aussage von der Wahrheit aller anderen Aussagen eines Aussagensystems völlig abhängt. Nach dieser Perspektive wäre die Erkenntnis eines Ganzen eine Bedingung der Erkenntnis der Teile, und deshalb könnte man diese holistisch betrachteten Teile als isolierte Argumentationsvoraussetzungen »auf einen Schlag« nicht letztbegründen. Kuhlmann behauptet aus diesen Gründen also, dass die strikt reflexive Einstellung des Letztbegründungsarguments die Realisierung eines Systems von transzendentalen Argumentationsvoraussetzungen schlechthin verbietet. Nach diesen Erörterungen über die Unabhängigkeit des Letztbegründungsarguments von der Systemidee behauptet Kuhlmann, dass es einen nicht letztbegründbaren Teil der Transzendentalphilosophie bzw. der Transzendentalpragmatik gibt, für den diese Idee wesentlich ist, sowohl hinsichtlich seiner eigenen Unternehmung als auch hinsichtlich seines Verhältnisses mit dem letztbegründbaren Teil. Die Systemidee ist also wesentlich für die normativ-rekonstruktiven Forschungen der Wissenschaftstheorie und der praktischen 136

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Philosophie, die unter einem fallibilistischen Vorbehalt stehen. Aber, betont Kuhlmann mit Recht, die Sinnbedingungen dieser Idee und dieser Vorbehalt sind nicht selbst fallibilistisch und holistisch verstehbar. Diese Bedingungen sind hingegen die unhintergehbaren Argumentationsvoraussetzungen, deren Gültigkeit nicht durch eine systematische Forschungsbemühung, sondern nur durch das Letztbegründungsargument nachgewiesen werden können. Kuhlmann gibt zu, dass die Überschneidung der Gegenstandsbereiche der zwei Teile der Transzendentalphilosophie eine mögliche Schwierigkeit bzw. Komplikation der von ihm vorgeschlagenen Unterscheidung bedeuten könnte. Zur Überwindung dieser Schwierigkeit, behauptet er, dass der letztbegründbare Teil der Transzendentalphilosophie hinsichtlich des anderen Teils eine doppelte Rolle spielt. Aus dem ersten Teil ergeben sich einerseits die formellen Verfahrensprinzipien und andererseits auch inhaltliche Einsichten des zweiten Teils, die als Ausgangspunkt seiner rekonstruktiven Forschungsbemühung dienen können. Aus diesen Erklärungen schließt Kuhlmann, dass eine vollständige bzw. systematische Aufdeckung aller transzendentalen Argumentationspräsuppositionen keine Aufgabe des letztbegründeten Teils der Transzendentalphilosophie sein könnte, weil diese Aufdeckung aus einer theoretischen Rekonstruktion bzw. einer bloß falliblen Forschung besteht. Diese Forschung setzt aber als solche unhintergehbare Präsuppositionen voraus, die nicht systematisch betrachtet werden könnten. Nach der hier angegebenen Rekonstruktion von Kuhlmanns Argumenten über die Systemproblematik der Transzendentalpragmatik kann man leicht erkennen, dass sie nur die regulative Ebene dieser Problematik beachten, nämlich eine Ebene, die Kant in seinem architektonischen Vorschlag jenseits der konstitutiven Grundsätze des aufgebauten Transzendentalsystems stellt. Wenn diese Problematik nur auf dieser Ebene betrachtet werden könnte, wäre es selbstverständlich, dass das Letztbegründungsargument mit der Systemidee nichts zu tun haben könnte, weil dieses Argument auf die konstitutiven Sinnbedingungen des Zeichengebrauchs verweist. Aber die Frage ist eigentlich, ob die konstitutive Systemebene, die Kant beanspruchte, durch seine geplante Transzendentalphilosophie zu begreifen, nach der sprachpragmatischen Wende einfach vergessen werden darf.

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3.4. Der Begriff der formal vollständigen Sprache Die Frage nach einer transzendentalen Vollständigkeit nach der sprachpragmatischen Wende kann besser geklärt werden, wenn man den Ansatz von Audun Øfsti über das Einheitsproblem einer vollständigen Sprache beachtet. 39 Dieses Problem betrifft in gewisser Weise meine Absicht, weil ihre Behandlung fordert, die Argumentationskompetenz als eine vollständige und artikulierte Einheit zu berücksichtigen. Øfsti wendet sich gegen die von dem späten Wittgenstein vorgeschlagene Lösung für dieses Problem. Wie wir wissen, hat Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen die These der Mannigfaltigkeit der Sprachspiele, die keine allgemeine logische Form haben, sondern nur eine sog. Familienähnlichkeit, behauptet. 40 Nach dieser Sprachspieltheorie gibt es unzählige Arten von Zeichen, Worten und Sätzen, die in verschiedenen Sprachspielen verwendet werden. »Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andere veralten und werden vergessen.« 41 Wittgenstein illustriert diese ständige Veränderung der Anzahl von Sprachspielen durch das Bild einer alten Stadt, »mit alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten«. 42 Durch dieses Bild will er betonen, dass es unmöglich ist, die Vollständigkeit einer Sprache sinnvoll zu denken, weil die Entstehung von Sprachspielen prinzipiell unendlich ist. Sprechen ist eine Tätigkeit, die ganz verschiedene Arten von sprachlichen Werkzeugen mit verschiedenen Funktionen benutzt, und es gibt in der Werkzeugkiste unserer Sprache immer noch Platz für neue Werkzeuge, die noch nicht erfunden wurden, weil ihr Gebrauch und ihre Funktionen noch nicht nötig für uns sind. Das Spracheinheitsproblem wird von der Sprachspieltheorie folgendermaßen eingeschränkt. Eine Sammlung von Zeichen konstituiert eine Sprache bzw. ein Sprachspiel einfach, wenn mindestens zwei Audun Øfsti: Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie, S. 47–78. 40 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. § 67, 164, 179 (= PU § 67, 164, 179); Hjalmar Wennerberg: Der Begriff der Familienähnlichkeit in Wittgensteins Spätphilosophie. In: Savigny, E. v. (Hrsg.): Ludwig von Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen. Berlin: Akad. Verlag, 1998, S. 41–70. 41 Ludwig Wittgenstein: PU, § 23. 42 Ludwig Wittgenstein: PU, § 18. 39

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Zeichenbenutzer durch ihren Gebrauch ihre Handlungen mit Erfolg koordinieren können. Øfsti findet diesen Lösungsvorschlag trivial und versucht, das Einheitsproblem durch die begriffliche Differenzierung von zwei Typen von Mannigfaltigkeit zu erklären, das weder von Wittgenstein noch von Apel richtig bemerkt wurde. Es gibt einerseits vielfältige natürliche Sprachen bzw. Idiome und andererseits vielfältige Sprachspiele innerhalb jeder natürlichen Sprache. Man kann sagen, dass die verschiedenen Sprachen sich untereinander in einem Konkurrenzverhältnis befinden, weil jede den Anspruch auf das Ganze hat, d. h. jede will die Grenzen der Welt liefern. Dieser universelle Anspruch von jeder Sprache ermöglicht die Übersetzung zwischen ihnen. Jede Sprachgemeinschaft kann aber bestimmte Sprachspiele beherrschen, die vielleicht von anderen Gemeinschaften (noch) nicht entwickelt wurden, aber immer entwickelt werden können, weil die Anzahl von Sprachspielen in jeder Sprachgemeinschaft, wie schon gesagt, nicht fest und permanent ist. Die verschiedenen Sprachspiele innerhalb einer natürlichen Sprache haben untereinander nicht die Verhältnisse von Konkurrenz und Übersetzung, sondern von Arbeitsteilung, die der Differenzierung der Funktionen von den Sprachspielen entspricht oder, wie Wittgenstein selbst das ausdrückt, die Mannigfaltigkeit von Werkzeugen innerhalb eines Werkzeugkastens. 43 Sowohl die Sprachspieltheorie als auch die Transzendentalpragmatik verwechseln nach Øfsti die zwei erwähnten Typen von Mannigfaltigkeit. Diese Verwechslung führt die erste zu der Assimilation der ganzen Sprache eines Volksstamms mit einem partikularen Sprachspiel und zur relativistischen These der Unübersetzbarkeit der natürlichen Sprachen. Die gleiche Verwechslung führt die zweite zur Kritik der Idee der Familienähnlichkeit und zur Förderung der Anerkennung einer »Gemeinsamkeit aller Sprachspiele«, die eigentlich sinnvoll ist, wenn eine Übersetzung möglich ist, d. h. nur zwischen vollständigen natürlichen Sprachen oder Idiomen und nicht zwischen partikularen Sprachspielen oder Sprachwerkzeugen innerhalb einer natürlichen Sprache. Die schon erwähnte Metapher der Sprache als eine alte Stadt, die stetig ihre Teile verändert, illustriert doch, dass eine Sprache nie inhaltlich vollständig sein kann, weil es immer möglich ist, neue 43 Siehe dazu: Ferrucio Rossi Landi: Il linguaggio come lavoro e come mercato, Milano: Bompiani, 1968.

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Sprachspiele in eine Sprache einzufügen, z. B. »den chemischen Symbolismus und die Infinitesimalnotation«. 44 Man muss natürlich deshalb zugeben, dass eine Sprache immer neue Sprachspiele einverleiben kann. Øfsti stellt aber eine Frage nach einer anderen Art von Vollständigkeit der natürlichen Sprachen, nämlich nach dem Begriff einer formalen Vollständigkeit, durch den auch Sprachspiele und natürliche Sprache unterschieden werden können. Øfsti präsentiert seine Antwort auf die Frage nach der formalen Vollständigkeit der Sprache durch ein Argument, von der hier nur einige Aspekte rekonstruiert werden. Er betont die Zweideutigkeit des Ausdrucks »Pluralismus der Sprachspiele«, der die Vielfältigkeit der unvollständigen Sprachen bzw. der Sprachspiele, aber auch die verschiedenen vollständigen Sprachen bzw. Idiome normalerweise bezeichnet. Die Beziehung zwischen diesen beiden Arten von Sprachen ist so, dass eine vollständige Sprache einerseits viele verschiedene Sprachspiele enthält (ähnlich wie viele Werkzeuge in einer Werkzeugkiste), aber andererseits sie als vollständige Sprachkompetenz der Mitspieler in jedem Sprachspiel enthalten ist. Es gibt doch einfache Sprachspiele, eines z. B. dient der Verständigung zwischen einem Bauenden und seinen Gehilfen. Es besteht nur aus vier Worten bzw. Befehlen (»Würfel«, »Säule«, »Platte«, »Balken«) des Bauenden und den entsprechenden Tätigkeiten der Gehilfen 45 . Aber die Fähigkeiten, dieses einfache Sprachspiel zu spielen, setzt eine vollständige kommunikative Kompetenz der Mitspieler voraus, d. h. erstens die Beherrschung einer Übersichtsprache, mit der sie die Züge dieses Spiels identifizieren und beschreiben und dieses Spiel von anderen Spielen unterscheiden können, zweitens die Fähigkeit, die Züge dieses Sprachspiels in diese Übersichtsprache zu »übersetzen«, z. B. wissen zu können, dass »Platte« in diesem Sprachspiel heißt: »Bring mir eine Platte!« Das setzt aber auch die Kompetenz voraus, zwischen einem Befehl und anderen Arten von Sprechakten, die kein Zug in diesem Spiel sind, zu unterscheiden. Jedem Mitspieler eines einfachen Sprachspiels muss man also eine formal vollständige Sprachkompetenz zuschreiben. Eine entscheidende Eigenschaft dieser Kompetenz besteht darin, dass ein Sprecher einen beschreibenden Bericht seiner eigenen Sprechhandlungen geben können muss. Das bedeutet aber, dass ein 44 45

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Ludwig Wittgenstein: PU, § 18. Vgl. Ludwig Wittgenstein: PU, § 2.

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Der Begriff der formal vollständigen Sprache

Zug eines Sprachspiels nur als solcher gelten kann, wenn der Spieler nicht nur als faktischer Akteur betrachtet werden kann bzw. als jemand, der durch seinen Zug einer Regel des Spiels bloß folgen kann, sondern auch als möglicher Zuschauer seines Zuges, der als solcher in einer vollständigen Sprache beschrieben werden kann. Um diese Beschreibung durchführen zu können, braucht man aber etwas mehr als die Elemente und Regeln eines partikularen Sprachspiels (z. B. die vier Worte des erwähnten Bauendensprachspiels), nämlich eine vollständige Übersichtsprache. Øfsti erklärt diesen Kernpunkt der sprachlichen Vollständigkeit durch seine oben schon erwähnte These der doppelten Doppelstruktur der Rede, die auch einen wichtigen philosophischen Beitrag zur Sprechakttheorie liefert. Nach dieser These enthält jeder Sprechakt zwei Doppelstrukturen. Einerseits, wie es nach Habermas’ Gebrauch der Sprechakttheorie schon bekannt ist, kann man sagen, dass jeder explizite Sprechakt zwei Teile hat, nämlich einen propositionalen Teil, in dem der informative Gehalt des Sprechakts ausgedrückt wird (z. B.: »Ich komme morgen«), und einen performativen Teil, wo die illokutionäre Kraft der Sprechakte ausgedrückt wird (z. B.: »Ich verspreche dir hiermit, dass …«) 46 . Dieser performative Teil erlaubt, eine bestimmte Handlung durch den Sprechakt herzustellen (z. B.: versprechen, behaupten, fragen, wetten, befehlen, usw.). Üblicherweise bleibt dieser Teil implizit, weil die Sprechpartner die illokutionäre Kraft ihrer Sprechakte für selbstverständlich halten, aber dieser Teil kann immer bzw. im Fall eines Missverständnisses durch ein so genanntes performatives Verb in erster Person Singular ausgedrückt werden. Øfstis These der doppelten Doppelstruktur der Rede behauptet, dass ein Sprecher bzw. ein Mitspieler eines Sprachspiels, um als solcher von anderen möglichen Mitspielern berücksichtigt werden zu können, nicht nur die performativen Verben implizit oder explizit benutzen können muss, sondern auch diese Verben in andere Zeiten und Personen abwandeln können muss (z. B.: »Ich habe dir versprochen, dass …«, »Er verspricht ihr, dass …« usw.). Die Beherrschung der Abwandlungen verweist auf die zweite Doppelstruktur der Rede, die nicht in der Verbindung zwischen den propositionellen und per46 Vgl.: Jürgen Habermas: Was heißt Universalpragmatik. In: Apel, K.-O. (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie, S. 174–272; ders.: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 369–452.

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formativen Teilen eines expliziten Sprechaktes besteht, sondern in der Verbindung zwischen der Realisierung dieses Aktes und der Möglichkeit, sein performatives Handlungswissens in einem propositionalen bzw. beschreibenden Bericht oder einer Interpretation reflexiv einzuholen. 47 Diese zwei Doppelstrukturen der Rede sind also nach Øfsti eine wesentliche Eigenschaft einer vollständigen Sprache, in der der Sprecher nicht nur Sprechakte durchführen, sondern auch beschreibende Aussagen über seine eigenen und die fremden Sprechakte ausdrücken können muss. Die doppelte Doppelstruktur der Rede fehlt offensichtlich bei den einfachen Sprachspielen, die deshalb mit einer ganzen bzw. formal vollständigen Sprache schlechthin unvergleichbar sind, obwohl sie doch als Werkzeuge innerhalb dieser Sprache vorhanden sind und der Mitspieler, um diese Werkzeuge benutzen zu können, die Abwandlungen einer vollständigen Sprache beherrschen können muss. Gegenüber der Stadtmetapher, mit der Wittgenstein die Idee einer inhaltlich vollständigen Sprache als sinnlos illustrieren will, behauptet Øfsti also die formale Vollständigkeit einer Sprache. Dass eine Sprache formal vollständig ist, bedeutet also nicht, dass sie alle die möglichen Sprachspiele schon enthält, sondern, dass sie bestimmte Sprechhandlungen erlaubt, z. B.: Übersetzen, Unterscheiden zwischen Funktion und Wort, und zwischen Sinn und Wort, Beschreiben der Züge, die in den Sprachspielen dieser Sprache gemacht worden sind, usw. 48 Die Durchführung dieser für jede formal vollständige Sprache charakteristischen Sprechhandlungen setzt die Entwicklung der Sprachenkompetenz voraus, die über die Ebenen der Signalsprache, der symbolisch vermittelten Interaktion und der Propositionsebene bis zu einer vollständigen Beherrschung der Argumentationskompetenz hinausgeht. In diesem Punkt scheint sich die von Øfsti Wolfgang Kuhlmann hat schon m. E. richtig darauf hingewiesen, dass sowohl das performative Handlungswissen in propositionalen Sätzen auf diese Weise eingeholt werden kann, als dass auch eine reflexiv kontrollierte Argumentationstheorie auf der Grundlage dieser reflexiven Einholung entwickelt werden kann. Siehe dazu: Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik. 48 Siehe dazu: Audun Øfsti: Sprachspiel vs. Vollständige Sprache. Einige Bemerkungen zum späten Wittgenstein, zur Übersetzung und Übersichtlichkeit, zum Handlungswissen und Diskurs. In: ders.: Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie, S. 47–79. 47

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gestellte sprachpragmatische Frage nach einer formal vollständigen Sprache mit unserer Frage nach der Vollständigkeit der transzendentalpragmatischen Argumentationsvoraussetzungen zu verknüpfen, weil die vollständige Sprachkompetenz die schon entwickelte Fähigkeit zum richtigen Argumentieren bereits enthält. Der Unterschied zwischen Sprachspiel und vollständiger Sprache wird von Øfsti gegen Wittgenstein einerseits und gegen Apel andererseits präsentiert. Wie oben angegeben, kritisiert Øfsti die unrichtige Assimilation der vollständigen Sprache eines Volksstamms zu einem bloßen Sprachspiel, das nur ein Element bzw. ein Werkzeug dieser Sprache sein kann. Er lehnt auch die von Apel vorgeschlagene Assimilation der Argumentation zu einem transzendentalen Sprachspiel ab. 49 Der Grund dieser Ablehnung besteht in dem Versuch, die von Wittgenstein eingefügte Zweideutigkeit des Ausdrucks »Sprachspiel« zu vermeiden. Die Gemeinsamkeit und Übersetzbarkeit aller Sprachspiele, die von Apel gegen den pluralistischen Relativismus der Sprachspieltheorie gefördert werden, zwischen einfachen Sprachspielen bzw. sprachlichen Werkzeugen ist sinnlos, weil es zwischen ihnen nur eine Familienähnlichkeit geben kann. Gemeinsamkeit und Übersetzbarkeit gibt es doch aber nur zwischen formal vollständigen Sprachen bzw. Idiomen, weil es einen gemeinsamen Sinn gibt, der in diesen Sprachen ausgedrückt und deswegen übersetzt werden kann. Die Beherrschung einer formal vollständigen Sprache setzt voraus, dass der Sprecher seine Muttersprache in gewisser Weise für ein etwas bloß konventionelles und partikulares bzw. ein willkürliches Ausdruckmittel halten kann. Der durch eine vollständige Sprache ausgedrückte Sinn kann immer auch durch andere vollständige Sprachen ausgedrückt werden. Deshalb behauptet Øfsti eine Art von Unabhängigkeit des Gedankens hinsichtlich einer bestimmten und partikularen Sprache, die mit derjenigen von den metaphysischen Gegenstandbedeutungstheorien des Nominalismus oder Platonismus nicht verwechselt werden darf. 50 Wittgenstein hat gegen diese Theorien richtig bemerkt, dass es keinen Sinn des Gedankens außerhalb aller Sprache oder vor unserer Sprachkompetenz geben kann. Trotz49 Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie. Bd. II, S. 347; ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 155 ff. 50 Siehe dazu: Klaus Puhl: Bedeutungsplatonismus und Regelfolgen. In: Grazer Philosophische Studien, 41, 1991, S. 105–125; Ernst Tugendhat: Einführung in die sprachanalytische Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976.

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dem hebt Øfsti hervor, dass eine essenzielle Leistung unserer Sprachkompetenz eben in einer gewissen Unabhängigkeit des Gedankensinns von einer bestimmten bzw. konventionalen Sprache besteht. Der Sinn muss immer schon in einer Sprache gedacht werden, aber d. h. nur in einer beliebigen und nie obligatorisch in einer bestimmten Sprache. Auf diese Weise kann man einfach erkennen, dass alle die wesentlichen Eigenschaften einer vollständigen Sprache eigentlich auf die Kompetenzen der Menschen pragmatisch verweisen, die als Zeichenbenutzer über die eigenen und fremden Handlungen reflektieren können, d. h. sowohl über die Sprechhandlungen als auch über die durch die Sprache interpretierbaren und verstehbaren nichtsprachlichen Handlungen. Es handelt sich also nicht darum, nur einer Regel folgen zu können, sondern auch und besonders, eine Regel als solche zu verstehen und zu identifizieren, sie von anderen möglichen Regeln zu unterscheiden, zwischen diesen möglichen Regeln zu wählen und diese Wahl durch Argumente rechtfertigen zu können. Alle diese Fähigkeiten können doch nur durch eine vollständige Sprache verwirklicht werden, aber nicht in einer bestimmten und partikularen Sprache. Sie sind Kompetenzen der Zeichenbenutzer überhaupt, und die Idiome sind vollständige Sprachen, nur weil sie dem Zeichenbenutzer erlauben, diese menschlichen Fähigkeiten zu nutzen. Der Kernpunkt der Identifizierung einer Sprache als formal vollständig besteht also in der Kompetenz der Zeichenbenutzer, denen diese Sprache dienen muss. Kann eine Sprache zu den oben erwähnten Funktionen nicht benutzt werden, dann ist diese Sprache nicht vollständig. Die vollständige Sprachkompetenz enthält Reflexion, weil sie darin besteht, nicht nur Sprechhandlungen durchführen zu können, sondern auch sie als solche verstehen und rechfertigen zu können. Diese Kompetenz setzt also ein mindestens implizites Handlungswissen voraus, dank dessen der Zeichenbenutzer wissen kann, wie er die eigenen Sprechhandlungen durchführen muss und die fremden Sprechhandlungen verstehen muss, im Falle eines Missverständnisses, wie er seine eigenen Handlungen erklären und nach dem Sinn der fremden fragen muss, und im Falle einer Uneinigkeit über die durch Sprechhandlungen erhobenen Geltungsansprüche, wie er diese Ansprüche durch sinnvolle Argumente begründen oder kritisieren muss. Was Øfsti mit dem Ausdruck »formal vollständige Sprache« be144

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zeichnet, verweist also auf die kommunikative Kompetenz, die mit der Sprache im Allgemeinen, aber nicht mit einer bestimmten vollständigen Sprache bzw. einem Idiom verknüpft ist, weil sie dem Sprecher eben erlaubt, Fremdsprachen zu lernen und als Mitspieler an den Sprachspielen dieser Fremdsprachen teilnehmen zu können. Die Gemeinsamkeit zwischen vollständigen Sprachen entsteht aus einem Sozialisationsprozess, in dem sowohl eine Muttersprache und die entsprechenden Sprachspiele und Lebensformen einer Muttersprache gelehrt werden, als auch eine kommunikative Kompetenz gebildet wird, dank der der Sprecher über seine Sprache, Sprachspiele und Lebensformen reflektieren, eine Fremdsprache lernen und mit fremden Sprachgemeinschaften kommunizieren kann. Aber in diesem Prozess lernt man noch etwas mehr, nämlich nicht nur die Fähigkeit, den Regeln der innerhalb von einer oder der anderen vollständigen Sprache bzw. einem Idiom schon existierenden Sprachspiele zu folgen, sondern auch neue Regeln vorzuschlagen und einzufügen und neue Sprachspiele und Lebensformen zu schaffen, die weder in den schon existierenden Sprachgemeinschaften noch in der faktischen Kommunikationsgemeinschaft bestätigt werden können, weil sie auf eine nicht begrenzbare und noch nicht voll reale Kommunikationsgemeinschaft als Sinn- und Geltungsinstanz verweisen. Eine Sprache ist formal vollständig, nur wenn sie die Durchführung einer bestimmten Art von Sprechhandlungen erlaubt, durch die die von dem Zeichenbenutzer erhobenen Sinn- und Geltungsansprüche eingelöst werden können, nämlich die Argumentation. Mit Hilfe des Ansatzes von Øfsti haben wir bemerkt, dass die Idee der formalen Vollständigkeit einer Sprache sinnvoll ist. Diese Idee bezeichnet nicht eine Sprache, die alle die möglichen Sprachspiele enthält, sondern eine, die bestimmte, wesentlich menschliche Tätigkeiten ermöglicht, z. B.: Reflektieren, Verstehen, Kommunizieren, Argumentieren usw. Die Frage ist nun, ob diese Tätigkeiten und ihre unhintergehbaren Voraussetzungen sich zufällig zusammen ergeben werden oder ob sie in einer systematischen Einheit notwendig zu verknüpfen sind.

3.5. Regulative und konstitutive Vollständigkeit Oben haben wir gesehen, dass die Systemproblematik bei der klassischen Transzendentalphilosophie durch eine begriffliche Nuance präA

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sentiert wird, die bei der transzendentalpragmatischen Formulierung dieser Problematik bisher völlig fehlt, nämlich der Unterschied zwischen der konstitutiven und der regulativen Vollständigkeit. Meines Erachtens kann die Einführung dieses Unterschieds in der sog. sprachpragmatischen Transformation der Transzendentalphilosophie einen wichtigen Aspekt dieser Transformation ans Licht bringen. Es handelt sich darum zu bestimmen, ob die Transzendentalphilosophie nach dieser Transformation noch eine systematische Struktur bewahren kann und muss oder ob die Erkenntnis a priori über die Sinnund Gültigkeitsbedingungen, die durch strikte Reflexion als transzendental entdeckt und geprüft werden kann, für ein bloß zufälliges Aggregat von isolierten Voraussetzungen gehalten werden muss. Diese Bedingungen konstituieren die Sprechhandlungen, die im letzten Abschnitt von Øfsti als charakteristisch für eine formal vollständige Sprachkompetenz berücksichtigt wurden. Der Haupteinwand gegen die hier vorgeschlagene Einführung der Systemidee im Kern des transzendentalpragmatischen Gesichtspunkts beruht einerseits auf einer unangemessenen Assimilation dieser Idee einer Zielvorstellung, die von den Teilnehmern eines Forschungsprozesses regulativ vorausgesetzt wird, und andererseits auf einem fragwürdigen begrifflichen Gegensatz zwischen den Begriffen der Forschung, die nur in einem zeitlichen und diskursiven Prozess stattfinden kann, und dem Letztbegründungsargument, das »auf einen Schlag« durchgeführt werden könnte. Die erwähnte Assimilation erweist sich als unangemessen, sobald man an den oben angegebenen Unterschied zwischen dem Transzendentalsystem und dem System der empirischen Gesetze bzw. zwischen der konstitutiven und der regulativen Bedeutung der Systemidee bei der klassischen Transzendentalphilosophie erinnert. Die Assimilation der Systemidee an eine regulative bzw. von dem Forschungsprozess antizipierte Zielvorstellung vergisst einfach, dass nicht nur die gesuchten und antizipierten Resultate dieses Prozesses, sondern auch seine konstitutiven Sinn- und Gültigkeitsbedingungen als ein systematisches Ganzes gedacht werden können und, wie wir sehen werden, auch müssen. Auf der anderen Seite scheint ein nicht erklärter Gegensatz zwischen Forschung und Letztbegründungsargument auf den ersten Blick mindestens problematisch, weil er zu einer zweideutigen Vorstellung dieses Arguments führen könnte. Wenn dieses Argument eine bestimmte Erkenntnis »auf einen Schlag« als gültig nachweist, 146

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kann das nicht bedeuten, dass sowohl diese Erkenntnis als auch dieses Argument nicht diskursiv, sondern intuitiv ist, sondern nur, dass nach der Konfrontation zwischen den performativen und propositionalen Teilen eines Sprechaktes ein bestimmter Inhalt bzw. eine transzendentalpragmatische Argumentationsvoraussetzung definitiv als unhintergehbar und unbestreitbar nachgewiesen werden könnte. Nach der strikt reflexiven Prüfung braucht man keinen anderen diskursiven Vorgang durchzuführen, um die Gültigkeit der geprüften Voraussetzung zu bestimmen. Aber diese Prüfung selbst ist ein Argument bzw. ein diskursiver Vorgang, durch den der Transzendentalphilosoph versucht, eine Aussage als ein Kandidat für Argumentationsvoraussetzung ohne performativen Selbstwiderspruch zu bestreiten und ohne pragmatische petitio principii deduktiv abzuleiten. Eine Besonderheit dieser reflexiven Prüfung besteht doch in der Tatsache, dass ein und nur ein Kandidat jedes Mal durch diese Prüfung getestet werden kann und – im Falle einer erfolgreichen Prüfung – nur eine Argumentationsvoraussetzung als transzendental nachgewiesen werden kann. Diese Tatsache könnte aber den unrichtigen Eindruck einer Argumentationsvoraussetzungsisolation hervorrufen. Genau dieser Eindruck wurde von Kuhlmann durch eine Metapher ausgedrückt, die die unhintergehbaren Argumentationsvoraussetzungen als isolierte »Punkte« präsentiert bzw. als einzelne Elemente, die von strikt reflexiv nicht ausfüllbaren »Lücken« voneinander getrennt werden. Diese Metapher führt uns aber zu einer problematischen Auffassung der transzendentalen Erkenntnis unter dem sprachpragmatischen Rahmen der Gegenwartsphilosophie als ein zufälliges Aggregat von Argumentationsvoraussetzungen. Der erste Fehler dieser Auffassung besteht m. E. darin, dass sie beansprucht, die vermeinte Isolation der Voraussetzungen als einen Schluss aus der erwähnten Tatsache zu ziehen. Jede Anwendung des Letztbegründungsarguments besteht in der Konfrontation der propositionalen und der performativen Teile eines bestimmten und besonderen Sprechaktes, um zu bestätigen, ob der propositionale Teil ohne performativen Selbstwiderspruch bestritten werden und ohne pragmatische petitio principii deduktiv abgeleitet werden kann oder nicht. Diese Anwendung betrifft jedes Mal doch nur einen Sprechakt und kann jedes Mal nur eine Argumentationsvoraussetzung als transzendental, unhintergehbar, unableitbar, unbestreitbar usw. überprüfen. Aber dieser Umstand ist überhaupt kein Grund zu der Behauptung, dass es keine systematiA

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sche Verbindung zwischen diesen schon überprüften oder überprüfbaren Voraussetzungen selbst gibt. Der systematische Charakter eines begrifflichen Ganzen ist völlig unabhängig von der Art und Weise, wie die Elemente dieses Ganzen begründet werden. Diese Unabhängigkeit kann man leicht erkennen, wenn man an die empirische Forschung denkt, wo die einzelnen Hypothesen durch besondere Methoden jedes Mal überprüft werden und gleichzeitig als Glieder einer systematischen Einheit der Erfahrungserkenntnis regulativ betrachtet werden können und müssen. Die systematische Betrachtung ist also unabhängig von der besonderen Überprüfungsmethode. Im Vergleich zu den empirischen Aussagen besteht aber hier die Besonderheit der Argumentationsvoraussetzungen darin, dass ihre Gültigkeit nur durch einen einzigen Überprüfungsvorgang und nicht durch unzählige verschiedene Methoden bestätigt werden kann. Bei dem Letztbegründungsargument handelt es sich nur um die Anwendung einer Regel, die jedem Sprechakt die Konfrontation der zwei Teile vorschreibt. Jedes Mal, wenn diese Regel angewendet wird, kann man doch nur eine Argumentationsvoraussetzung als transzendental aufweisen. Aber jedes Mal gibt es nur eine Regel, die auf die verschiedenen Fälle angewendet wird. Alle die möglichen Argumentationsvoraussetzungen können nur durch die Anwendung eines einzigen Überprüfungsvorgangs als unhintergehbar, unbestreitbar und transzendental nachgewiesen werden. Diese Einzigartigkeit des von dem Letztbegründungsargument vorgeschlagenen Überprüfungsvorschlags kann doch in der Systemproblematik der Transzendentalphilosophie eine Rolle spielen. Man muss natürlich annehmen, dass der, der das Letztbegründungsargument strikt reflexiv durchführt, um zu bestimmen, ob eine Aussage eine transzendentale Argumentationsvoraussetzung ist oder nicht, im Rahmen dieses Verfahrens auf keine Vollständigkeit hoffen kann, weil das Resultat dieses Arguments nur die Bestätigung oder die Widerlegung einer einzelnen Aussage als transzendentale Präsupposition sein kann. Deshalb kann kein ganzes System von Argumentationsvoraussetzungen das Resultat einer partikularen Anwendung des strikt reflexiven Letztbegründungsarguments sein. Trotzdem muss man hier auf das Folgende hinweisen. Wer die Frage nach der transzendentalen Vollständigkeit im Rahmen der sprachpragmatischen Wende bzw. nach der Möglichkeit eines Systems der transzendentalpragmatischen Argumentationsvoraussetzungen rich148

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tig stellen will, muss nicht nur das faktische Resultat einer Anwendung dieses strikt reflexiven Verfahrens, sondern auch und besonders die Sinnbedingungen dieses Verfahrens selbst sorgfältig berücksichtigen. Diese Berücksichtigung könnte folgendermaßen beginnen: Wer das Letztbegründungsargument strikt reflexiv durchführen will, um zu bestimmen, ob eine Aussage eine transzendentalpragmatische Argumentationsvoraussetzung ist oder nicht, braucht nicht zu unterstellen, dass diese Aussage die einzige Voraussetzung solcher Art sein kann. Vielmehr versucht er durch die Durchführung dieses sinnkritischen Überprüfungsvorganges zu bestimmen, ob diese Aussage zu einer besonderen Aussagenklasse gehört oder nicht, nämlich der pragmatischlogischen Klasse der transzendentalen Argumentationsvoraussetzungen. Das Letztbegründungsargument ist das Verfahren, das diese Aussagenklasse begrenzt, und genau deshalb kann er ein Demarkationskriterium liefern, um die sog. Transzendentaldifferenz 51 zwischen empirischen Aussagen und ihren notwendigen Sinnbedingungen anerkennen zu können. Wer das Letztbegründungsargument strikt reflexiv durchführt, fragt doch nach dem transzendentalpragmatischen Charakter einer einzelnen und bestimmten Aussage, setzt aber einfach voraus, dass dieser Charakter auch den anderen Aussagen der gleichen Klasse gemeinsam ist. Er setzt also voraus, dass die »punktuellen« Gehalte seines Handlungswissens, die er durch dieses Argument als transzendental nachgewiesen hat, Glieder eines Ganzen bzw. der Argumentationsvoraussetzungsklasse sind. Bei jeder partikularen Anwendung des sinnkritischen Verfahrens bleibt jedoch dieses Ganze implizit, und es kann nicht jedes Mal als solches überprüft werden. Trotzdem muss jede Verfahrensanwendung als ein Fall einer möglichen Reihe berücksichtigt werden, in der der transzendentale Charakter aller Argumentationsvoraussetzungen überprüft werden kann. Wenn das Letztbegründungsargument sowohl das Überprüfungsverfahren als auch das Demarkationskriterium der transzendentalen Erkenntnis unter den sprachpragmatischen Bedingungen der Gegenwartsphilosophie enthält, wird die Vorstellung einer transzendentalpragmatischen Voraussetzung, die als solche prinzipiell unerkennbar wäre, sinnlos. Obwohl nur eine Argumentationsvoraussetzung bei jeder partikularen Anwendung der sinnkritischen Verfahren als transzen51 Vgl. Karl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 185 ff.

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dental überprüft werden kann, kann man demzufolge behaupten, dass die überprüfte Voraussetzung jedes Mal als Glied der kompletten Klasse von solchen Voraussetzungen berücksichtigt werden muss, deren andere Glieder durch die entsprechenden Anwendungen des gleichen Verfahrens als transzendental überprüft werden könnten. Wenn das Letztbegründungsargument eine Art von Erkenntnis liefern kann, die eigentlich eine explizite Version des impliziten Handlungswissens der Argumentierenden sein muss, ist also zu bemerken, dass man diesen Argumentierenden das implizite Wissen von allen transzendentalen Argumentationsvoraussetzungen notwendigerweise und immer schon zuschreiben muss. Das Letztbegründungsargument beansprucht nicht, eine total neue Erkenntnis über etwas, das den Argumentierenden bisher total unbekannt wäre, zu liefern, sondern eine strikt reflexive Anerkennung und Selbstvergewisserung von etwas, das von den Argumentierenden implizit immer schon als gültig angenommen und in gewisser Weise auch bewusst ist. Die Argumentierenden wissen immer schon, wie man argumentieren muss – oder vielleicht besser gesagt: man muss ihnen (bzw. auch uns!) dieses Handlungswissen zuschreiben. Liefert das strikt reflexive Verfahren nur eine artikulierte und explizite Version (know that) des Handlungswissens (know how), muss man dann behaupten, dass alle durch dieses Verfahren als transzendental überprüfbaren Argumentationsvoraussetzungen implizit in diesem Wissen der Argumentierenden immer schon liegen, weil alle diese Voraussetzungen von den Argumentierenden als Bestandteil ihres know how immer schon angenommen und angewendet werden. Wenn eine Argumentationsvoraussetzung durch strikte Reflexion zutage tritt, bleibt dieses transzendentale Ganze implizit als Bedingung des Verfahrens. Durch die Berücksichtigung der Sinnbedingungen einer Durchführung des Letztbegründungsarguments kann man über die Systemproblematik der Transzendentalpragmatik noch mehr verstehen, nämlich nicht nur, dass dieses Durchführen den Argumentierenden ein vollständiges Handlungswissen bzw. ein Wissen von allen Argumentationsvoraussetzungen zuschreiben muss, sondern auch, dass dieses Wissen die Form eines zufälligen Aggregats überhaupt nicht haben kann. Um diesen Punkt klar erkennen zu können, muss man erinnern, dass eine Aussage nach dem Letztbegründungsargument als transzendentale Argumentationsvoraussetzung überprüft wird, 150

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wenn es unmöglich ist, sie sinnvoll zu bestreiten und abzuleiten. Das bedeutet aber, dass die transzendentalen Argumentationsvoraussetzungen strenge Bedingungen erfüllen müssen, die bestimmte Kandidaten zur sinnkritischen Überprüfung von vornherein eliminieren. Zur Klasse solcher Voraussetzungen können zwei widersprüchliche Aussagen nicht gehören. Das Ganze unseres Handlungswissens muss eigentlich formal konsistent sein, weil die Verneinung einer transzendentalen Argumentationsvoraussetzung eine sinnlose bzw. eine performativ selbstwidersprüchliche Aussage ist und als solche keine Sinnbedingung der sinnvollen Rede überhaupt sein kann. Die transzendentalpragmatischen Argumentationvoraussetzungen sind wahre Aussagen und wahre Aussagen sind immer konsistent und untereinander kompatibel. Die Beziehung zwischen den Voraussetzungen, die unser vollständiges Argumentationshandlungswissen konstituieren, beschränkt sich aber nicht auf das bloß externe Verhältnis der formalen Konsistenz zwischen nicht widersprüchlichen Aussagen. Hier stoßen wir noch einmal auf den problematischen Kern der von Kuhlmann vorgeschlagenen antisystematischen Auffassung der Transzendentalphilosophie, die durch die oben erwähnte Metapher der »Punkte und Lücken« illustriert wurde. Diese Metapher verweist einerseits auf die Tatsache, dass jede Anwendung des Letztbegründungsarguments die transzendentale Gültigkeit nur auf einen »punktuellen« Gehalt überprüfen kann, und andererseits auf die Bemerkung über die Unmöglichkeit, die vermeintlichen und sog. »Lücken« zwischen diesen Gehalten durch dieses Argument auszufüllen. Diese antisystematische Auffassung der Transzendentalpragmatik ist aber problematisch, nicht nur, weil, wie oben schon angegeben, die Partikularität jeder Anwendung des strikt reflexiven Vorgangs und die Einzigartigkeit der jedes Mal durch diesen Vorgang erreichbaren Resultate keine Gründe für die Behauptung einer Isolation an sich dieser Resultate selbst sind, sondern auch und besonders, weil sie eine problematische bzw. atomistische Bedeutungskonzeption unterstellt, die ganz unvereinbar mit dem transzendentalpragmatischen Ansatz ist. Gegen diese Konzeption muss man hier kurz darauf hinweisen, dass eine Aussage im Allgemeinen nur in Bezug auf andere verstehbar ist. Das ist natürlich auch der Fall bei den transzendentalen Argumentationsvoraussetzungen, die als Bestandteil unseres Handlungswissens implizit bleiben und durch das Letztbegründungsargument als transzendentale Sinnbedingungen aller möglichen AusA

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sagen expliziert und strikt reflexiv überprüft werden können. Durch dieses Argument kann man z. B. aufzeigen, dass die Gleichberechtigung der Teilnehmer eines argumentativen Dialogs eine transzendentalpragmatische Voraussetzung bzw. eine Bedingung der Möglichkeit jedes sinnvollen Beitrages dieser Teilnehmer zu diesem Dialog ist, weil diese Gleichberechtigung ohne performativen Selbstwiderspruch nicht bestritten werden kann und ohne pragmatisch logischen Zirkel nicht abgeleitet werden kann. 52 Wer argumentiert, setzt also die Gleichberechtigung aller möglichen Diskurspartner voraus, und genau deshalb versteht er eine große Anzahl von Begriffen, die mit dem Gleichberechtigungsbegriff notwendig verknüpft sind. Wer voraussetzt, dass alle möglichen Argumentationspartner das gleiche Recht haben, Einwände vorzubringen, versteht schlechthin, was es heißt, ein Recht zu haben und es frei ausüben zu können. Wer die Gleichberechtigung der möglichen Diskurspartner als eine transzendentale Argumentationsvoraussetzung durch das Letztbegründungsargument nachweist, schreibt also diesen Partnern die Fähigkeit implizit, aber notwendig zu, freiwillige Handlungen durchzuführen. Diese Freiheit ist aber auch eine transzendentale Argumentationsvoraussetzung, die sinnvoll weder bestritten noch deduziert werden kann. 53 Es gibt also keine »Lücke« zwischen der Gleichberechtigung der möglichen Argumentationspartner und ihrer Freiheit, die irgendwie ausgefüllt werden müsste oder könnte, um die systematische Einheit unseres transzendentalen Handlungswissens sinnvoll denken zu können. Die transzendentalen Argumentationsvoraussetzungen finden sich von vornherein innerhalb unseres impliziten Handlungswissens immer schon notwendig miteinander verknüpft. Diese Bedeutungsverknüpfung aller transzendentalen Argumentationsvoraussetzungen, die implizit in unserem Handlungswissen liegen und durch strikte Reflexion expliziert werden können, bedeutet aber nicht, dass die Anerkennung der Gültigkeit jeder solcher Voraussetzungen von der Anerkennung der Gültigkeit des Ganzen abhängen muss. Die holistische Auffassung der Systemidee, der gegenüber Kuhlmann seine problematische Vorstellung einer vermeintlich nicht systematischen transzendentalen Erkenntnis behauptet, präsentiert die Systemidee auf eine Weise, die man nicht 52 53

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Siehe oben 1.3. Siehe unten 4.3.

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zu übernehmen braucht, um die interne Verbindung der transzendentalen Erkenntnis sinnvoll denken zu können. 54 Die klassische Transzendentalphilosophie hat hingegen die Grundsätze des reinen Verstandes als einen architektonischen Plan des Transzendentalsystems betrachtet, ohne eine holistische Gültigkeitsverbindung zwischen diesen Grundsätzen zu postulieren. Die Gültigkeit jedes Grundsatzes wird in der »Transzendentalen Analytik« durch einen besonderen Beweis begründet, die von der Gültigkeit anderer Grundsätze ganz unabhängig ist. Die traditionelle Idee eines philosophischen Grundsatzes verweist eigentlich auf eine Aussage, die aus anderen Aussagen bzw. Prämissen nicht abgeleitet werden kann, d. h. deren Gültigkeit von der Gültigkeit anderer Aussagen ganz unabhängig ist. Wenn der transzendentalpragmatische Ansatz eine Art von prima philosophia 55 unter dem sinnkritischen Rahmen der sprachpragmatischen Wende wirklich aufbauen will, können die durch das Letztbegründungsargument nachgewiesenen Argumentationsvoraussetzungen auch als philosophische Grundsätze oder Prinzipien eines Transzendentalsystems angesehen werden, weil sie nach die54 Die holistische Systemidee einer Transzendentalphilosophie, die Kuhlmann richtig als unvereinbar mit dem transzendentalpragmatischen Letztbegründungsargument präsentiert, hat eigentlich nichts mit der kantschen Systemidee zu tun, sondern vielleicht mit dem von Schelling vorgeschlagenen System der Philosophie. Siehe dazu: Friedrich W. J. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 4. Stuttgart [u. a.]: Cotta, 1859. Der Holismus kann für die Idee reflexiver Letztbegründung nur ein Problem darstellen, wenn er als eine Konzeption verstanden wird, »nach der vor dem definitiven Abschluss des Forschungsprojektes, genau genommen vor Abschluss aller theoretischen Erkenntnisbemühungen, von keinem einzigen (Zwischen-) Resultat beansprucht werden kann, es sei definitiv wahr, und dies deswegen, weil es hinsichtlich seiner Wahrheit abhängt von der definitiven Wahrheit aller anderen Resultate: Man kann also etwas Bestimmtes erst dann definitiv wissen, wenn man alles andere schon definitiv weiß.« Wolfgang Kuhlmann: Systemaspekte der Transzendentalpragmatik. In: ders.: Sprachphilosophie – Hermeneutik – Ethik. Studien zur Transzendentalpragmatik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1992, S. 282. Eine holistische Bedeutungstheorie braucht aber die erwähnte Konzeption nicht zu behaupten. Zur angemessenen Differenzierung verschiedener Arten von Bedeutungsholismus siehe: Hilary Putnam: Representation and Reality, Massachusetts: Massachusetts Institute of Technology, 1988. Außerdem muss man auch bemerken, dass die Idee des holistischen Abschleifens von Evidenzen eine wichtige Rolle beim Vorgang der unerlässlichen Selbstkorrektur der Formulierung der transzendentalpragmatischen Argumentationsvoraussetzungen spielen kann. Siehe oben 1.4. 55 Vgl. Karl-Otto Apel: Erste Philosophie heute? In: ders. [u. a.] (Hrsg.): Globalisierung: Herausforderung für die Philosophie. Bamberg: Univ. Verl, 1998, S. 21–74.

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sem Argument selbst aus unabhängigen Prämissen ohne pragmatisch logische Zirkel (petitio principii) nicht abgeleitet werden können. Genau deshalb wird die holistische Vorstellung eines Ganzen von der Systemproblematik schon von vornherein ausgeschlossen. Aber diese Ausschließung bedeutet nicht, dass das in unserer Argumentationskompetenz immer schon wirkende Handlungswissen als ein zufälliges Aggregat von partikularen Voraussetzungen betrachtet werden muss. Die konstitutive Einheit dieses Wissens muss dagegen als eine vollständige Verbindung dieser Voraussetzungen angesehen werden, die in einer Reihe von Durchführungen des Letztbegründungsarguments expliziert und als transzendental überprüft werden könnten. Die Frage aber nach der Möglichkeit eines vollständigen Systems der Aussagen, die tatsächlich expliziert und als transzendental schon strikt reflexiv überprüft würden, könnte natürlich als Einwand folgendermaßen vorgebracht werden: Wie könnte man in einem bestimmten Moment sicher sein, dass alle Bedingungen der Möglichkeit der sinnvollen Rede bzw. alle transzendentalen Argumentationsvoraussetzungen in solchem Aussagensystem wirklich expliziert werden? Ist es nicht vielleicht immer möglich, dass eine von solchen Voraussetzungen noch nicht expliziert würde, wenn der Transzendentalphilosoph die Vollständigkeit seines Systems schon bzw. zu eilfertig beansprucht? Beziehungsweise ist es möglich, dass eine Voraussetzung, deren Ausdruck in diesem sog. Transzendentalsystem noch nicht stattfindet, durch eine neue Anwendung des sinnkritischen Vorgangs in Zukunft als eine neue Aussage expliziert und überprüft werden könnte? Diese Frage nach einer neuen transzendentalen Aussage bzw. eine, die in einer schon vorgeschlagenen Formulierung des Systems keinen Platz findet, könnte vielleicht den Aufbau eines Transzendentalsystems unter den Gegenwartsbedingungen der sprachpragmatischen Wende scheitern lassen. Bei der Beantwortung dieser kritischen Frage kann uns auch die Systemproblematik der klassischen Transzendentalphilosophie helfen. Wie oben angegeben, präsentiert Kant den archimedischen Aufbau des transzendentalen Systems einerseits nicht als eine mechanische Arbeit, in der der Philosoph die bisher isolierten Elemente als Teile eines Ganzen von außen verketten könnte, sondern als ein organisches Wachstum eines Lebewesens, in der die verschiedenen Glieder von innen sich selbst entwickeln und sich selbst artikulieren. Andererseits präsentiert Kant nur den Plan eines solchen Aufbaus bzw. die Idee eines solchen Systems und nicht schon die vollständige 154

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bzw. schon fertige realisierte Transzendentalphilosophie. Um diese Idee unter den sprachpragmatischen Bedingungen der Gegenwartsphilosophie weiterentwickeln zu können, muss man m. E. die mechanischen Vorstellungen vermeiden. Zum Beispiel kann der Vergleich der Sprache mit einer alten Stadt, wie von Wittgenstein vorgeschlagen wurde, um die Sinnlosigkeit der Idee einer inhaltlich vollständigen Sprache mit Recht zu illustrieren, bei unserem Thema keine Rolle spielen. Um den Begriff einer transzendentalen Vollständigkeit richtig verstehen zu können, hat die organische Metapher Kants einen Vorteil gegenüber der städtebaulichen Wittgensteins, weil sie mit der folgenden Tatsache vereinbar ist. Jede neu aufgedeckte Argumentationsvoraussetzung ist eigentlich nicht etwas ganz Neues, die mit der schon aufgedeckten nichts zu tun hätte, wie die neuen Häuser in einer alten Stadt, sondern etwas, das mit allen anderen Gliedern unseres vollständigen Handlungswissens bzw. unserer argumentativen Kompetenz immer schon organisch bzw. intern verknüpft ist. Deshalb können die Resultate jeder neuen Explizierung und strikt reflexiven Überprüfung von bisher impliziten Argumentationsvoraussetzungen keine Wirkung auf die Gültigkeit der anderen konstitutiven Glieder des Transzendentalsystems haben. Diese neuen Resultate können nicht die Struktur der menschlichen Vernunft ändern, sondern uns nur helfen, ein klares Bild unseres eigenen argumentativen Handlungswissens zu erhalten, um eine philosophische Selbsterkenntnis der Argumentierenden schaffen zu können. Zuletzt muss man kurz darauf hinweisen, dass die Einführung der Systemidee in der sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie kein Grund ist, um einen möglichen skeptischen Flankenstoß zu fürchten, weil jeder Grundsatz eines transzendentalpragmatischen Systems immerhin unbestreitbar bleiben würde. Diese Einführung kann vielmehr dazu beitragen, eine noch nicht erfüllte Aufgabe der sprachpragmatischen Transzendentalphilosophie nach der sprachpragmatischen Wende zu verstehen.

3.6. Einheit, Vollständigkeit und Artikulation des Handlungswissens Der Übergang von der klassischen Transzendentalphilosophie zur Transzendentalpragmatik ergibt eine Transformation dieser PhilosoA

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phie in verschiedener Hinsicht. Trotz dieser sprachpragmatischen Transformation enthält die Systemidee aber eine wichtige Funktion, die darin besteht, wie oben dargelegt wurde, die Einheit, Vollständigkeit und interne Artikulation der Transzendentalerkenntnis gewährleisten zu können. Die klassische Transzendentalphilosophie versuchte, diese Eigenschaften solcher Erkenntnis durch verschiedene Argumente nachzuweisen, z. B. der Beweis der Vollständigkeit der formalen Urteilsfunktionen, die sog. metaphysische Deduktion der Kategorien, der Beweis des Systems aller Grundsätze des reinen Verstandes, usw. Nach der sprachpragmatischen Wende folgen diese systematischen Eigenschaften der transzendentalen Erkenntnis hingegen aus dem sinnkritischen Überprüfungsvorgang selbst, der erlaubt, jeden Bestandteil dieser Erkenntnis letztzubegründen. Die Einheit der Transzendentalerkenntnis ergibt sich daraus, dass alle unhintergehbaren Präsuppositionen nur durch einen sinnkritischen Vorgang als transzendental letztbegründet werden können bzw. dass dieser Vorgang selbst als Demarkationskriterium solcher Erkenntnis fungieren kann. Es gibt eine Klasse von Aussagen, die als transzendentalpragmatische Argumentationsvoraussetzungen bezeichnet werden können. Zu dieser Klasse gehören alle strikt reflexiv letztbegründbaren Aussagen. Die Vollständigkeit der transzendentalen Erkenntnis folgt aus der Tatsache, dass alle erwähnten Voraussetzungen als Bestandteile des Argumentationshandlungswissens, die durch die sinnkritische Prüfung prinzipiell expliziert und überprüft werden könnten, berücksichtigt werden müssen. Diese Prüfung schreibt den Argumentierenden eine formal vollständige Argumentationskompetenz zu, ihr erwähntes Wissen in den entsprechenden Situationen anwenden zu können. Die interne Artikulation der transzendentalen Erkenntnis ist sowohl die formal logische Konsistenz zwischen unhintergehbaren Argumentationsvoraussetzungen, die von dem Verbot des performativen Selbstwiderspruchs selbst ausgeschlossen wird, als auch die interne Verknüpfung der Bedeutung dieser Voraussetzungen, die keinen semantisch-pragmatischen Leerplatz lässt, der erlauben könnte, die transzendentale Erkenntnis als ein bloßes Aggregat von isolierten Teilen zu betrachten. Wie bei der klassischen Transzendentalphilosophie muss die konstitutive Bedeutung der Systemidee also auch bei der Transzendentalpragmatik anerkannt werden. Sie besteht nicht in der regulativen Zielvorstellung einer falliblen Rekonstruktion unseres Vorverständnisses, die eigentlich keine transzendentale Erkenntnis liefern 156

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kann, weil etwas transzendental in kritischem Sinn a priori bzw. notwendig, streng allgemein und unabhängig von jeder möglichen Erfahrungserkenntnis sein muss. Diese Bedeutung der Systemidee besteht vielmehr in der vollständigen und artikulierten Einheit des Handlungswissens, über die wir als Argumentierende immer schon verfügen, die wir in jeder Sprechhandlung unseres argumentativen Dialogs immer anwenden und deren Bestandteile bzw. Glieder wir als Philosophen durch die Durchführung des sinnkritischen Verfahrens als transzendentale Bedingungen der sinnvollen Rede hintereinander explizieren und überprüfen können. Die rekonstruktiven bzw. falliblen Forschungsbemühungen können und müssen sich doch nach der regulativen bzw. prinzipiell unverwirklichbaren Zielvorstellung eines kompletten Systems der rekonstruierten Resultate orientieren. Aber diese Bemühungen setzen hier und jetzt als ihre transzendentale Bedingung der Möglichkeit bestimmte pragmatische Präsupositionen voraus, die sinnvoll weder bestreitbar noch deduzierbar sind. Sie werden von jeder Erkenntnisbemühung nicht als bloßes Aggregat, sondern als Glieder einer systematischen Einheit notwendig vorausgesetzt. Die Systemidee erfüllt also diese konstitutive Funktion sowohl in der klassischen Transzendentalphilosophie als auch in ihrer sprachpragmatischen Gegenwartstransformation: in der ersten als System der rein theoretischen Philosophie, das durch eine »ausführliche Analyse« und »eine vollständige Rezension« der reinen Verstandesbegriffe aufgebaut werden könnte und in der zweiten als ein System der Transzendentalphilosophie, das die letztbegründbaren Grundsätze sowohl der theoretischen als auch praktischen Philosophie enthält. Nach der sprachpragmatischen Wende kann die Transzendentalphilosophie deshalb eine neue, aber auch von der begriffsgeschichtlichen Entwicklung der klassischen Transzendentalphilosophie vorbereitete Antwort auf das traditionelle Problem des Verhältnisses zwischen Erkenntnis und Freiheit anbieten. Jetzt können die Sinnbedingungen sowohl der theoretischen als auch der praktischen Vernunft als untrennbare Glieder einer konstitutiven Einheit betrachtet werden, in der die klassische Spaltung zwischen den sog. »zwei Gegenständen der Gesetzgebung der menschlichen Vernunft« nicht mehr stattfinden kann. 56 Sowohl Habermas als auch Apel haben den architektonischen 56

Siehe unten Kap. 4. A

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Charakter unseres performativen Handlungswissens durch die Behauptung eines Systems »von drei verschiedenen Gültigkeitsansprüchen und zugehörigen Weltbezügen und Einlösungsdimensionen« 57 schon seit langer Zeit tatsächlich anerkannt. Die Einteilung dieses Systems in drei Bereiche ist nicht willkürlich. Sie ergibt sich vielmehr aus der notwendigen Konstitution der Diskurssituation. 58 In dieser Situation erhebt der Sprecher Gültigkeitsansprüche und der Adressat kann diese Ansprüche entweder bejahen oder verneinen. Diese möglichen Stellungnahmen des Adressaten enthalten eigentlich das Kriterium der erwähnten systematischen Einteilung, weil er die sinnvollen Aussagen nur als wahr, gerecht oder wahrhaftig bejahen kann und nur als falsch, ungerecht oder unwahrhaftig verneinen kann. Jede Sprechhandlung kann unter diesen drei Aspekten als gültig angenommen oder als ungültig zurückgewiesen werden. Aber eine Sprechhandlung kann erst verständlich werden, wenn der Sprecher mit ihrer Durchführung nur einen thematisch hervorgehobenen Gültigkeitsanspruch erhebt bzw. erst wenn er eine Aussage entweder als wahr oder als gerecht oder als wahrhaftig behauptet. Bleibt diese Geltungsintention des Sprechers völlig unsicher, kann er keine verständliche Sprechhandlung durchführen. Aus dem erwähnten Primat eines Gültigkeitsanspruchs bei jeder verständlichen Sprechhandlung folgen eine Klassifikation der Sprechhandlungen und drei entsprechende Weltbezüge. Die konstaKarl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 448–449. Habermas spricht eigentlich von einem »System von Geltungsansprüchen«. Vgl.: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, S. 44. Zur begrifflichen Differenzierung zwischen Gültigkeit und Geltung siehe: Christoph Lumer: Geltung/Gültigkeit. In: Sandkühler, H.-G. (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Bd. 2. Hamburg: Meiner, 1990, S. 258–262. 58 Matthias Kettner bestreitet die von Habermas und Apel dargelegte Idee eines Systems von Geltungsansprüchen als einen »vorschnellen theoriengeleiteten« Ansatz. Statt dieser Idee fordert er deshalb, »Geltungsansprüche in unseren Problematisierungs- und Rechtfertigungspraktiken phänomengetreu zu erfassen«, ohne sehen zu können, dass sich die Systemidee eben aus einer strikt reflexiven Berücksichtigung dieser Praktiken ergibt. Meiner Meinung nach widerlegen die Einwände Kettners den systematischen Charakter der Gültigkeitsansprüche überhaupt nicht. So weit ich sehe, sind diese Einwände vielmehr ein Beitrag zur Explikation des Systems dieser Ansprüche, bzw. zur Korrektur einiger Aspekte der bisherigen Explikationen dieses Systems. Siehe dazu: Matthias Kettner, Geltungsansprüche. In: Meggle, G./Wessels, U. (Hrsg.): Analyomen 1. Proceedings of the 1st Conference »Perspectives in Analytical Philosophy«. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 1994, S. 750–760: 751, 759. 57

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Einheit, Vollständigkeit und Artikulation des Handlungswissens

tiven Sprechhandlungen erheben vorrangig einen Wahrheitsanspruch und beziehen sich typischerweise auf die objektive Naturwelt. 59 Die regulativen Sprechhandlungen erheben vorrangig einen Gerechtigkeitsanspruch und beziehen sich auf die intersubjektive Sozialwelt. Die expressiven Sprechhandlungen erheben vorrangig einen Wahrhaftigkeitsanspruch und beziehen sich auf die subjektive Innenwelt. Von einem philosophiegeschichtlichen Standpunkt aus kann man einerseits bemerken, dass der Ursprung dieses systematischen Ansatzes ein universal- bzw. transzendentalpragmatischer Gebrauch des sprachwissenschaftlichen Organonmodells von Karl Bühler ist. Andererseits wurde dieses System der Gültigkeitsansprüche mit der soziologischen Auffassung Max Webers, nach der sich verschiedene kulturelle Handlungssysteme (bzw. Wissenschaft, Recht und Kunst) in der europäischen modernen Gesellschaft unterscheiden, verknüpft. 60 Durch unsere Erforschung versuchen wir, weder eine vollständige Darstellung dieser transzendentalpragmatischen Architektonik zu präsentieren, noch die erwähnten sprachwissenschaftlichen und soziologischen Zusammenhänge zu behandeln, sondern nur einige traditionelle Probleme der Philosophie im Lichte des erwähnten Systems der Gültigkeitsansprüche und Weltbezüge zu berücksichtigen. Im nächsten Kapitel wird das Problem der Vereinbarkeit zwischen Naturnotwendigkeit und menschlicher Freiheit als die interne Verknüpfung zwischen Naturweltbezug und Sozialweltbezug unserer Sprechhandlungen betrachtet. Im fünften Kapitel wird die Problematik des sinnkritischen Realismus hinsichtlich des Wahrheitsanspruchs und des zugehörigen Naturweltbezugs besprochen, im sechsten Kapitel das Problem der Artikulation zwischen Sittengesetz

59 Die systematische Zusammenstellung der drei Gültigkeitsansprüche und der entsprechenden Weltbezüge bedeutet natürlich nicht, dass wir Wahrheitsansprüche nur durch unsere Aussagen über die objektive Naturwelt erheben könnten. Die Geisteswissenschaften erheben zwar den Anspruch wahre Aussagen über die Sozialwelt und über die Innenwelt zu behaupten. Die Gegenstände dieser Wissenschaften können sich aber ohne eine gewisse moralische Wertung (und ohne Bezug auf der Innenwelt) überhaupt nicht konstituieren. Siehe dazu: Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie. Bd. II. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973, S. 379–382; ders.: Die Erklären-Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979; ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 135–139, 569–607. 60 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 369–452.

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Die konstitutive Vollständigkeit des Handlungswissens

und moralischer Pflicht, und im siebenten Kapitel das Problem des Innenweltbegriffs nach der sprachpragmatischen Wende betrachtet. Die systematische Verbindung zwischen Wahrhaftigkeitsanspruch und Kunst wird am Ende des siebten Kapitels behandelt.

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4. Die transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie

Bevor die philosophische Reflexion sich mit dem Freiheitsbegriff beschäftigte, hatte er schon eine praktische und existentielle Bedeutung für das ethische Bewusstsein und die Verantwortungsfähigkeit des Menschen. Diese Reflexion hat geschichtlich eine hochkomplexe und vielfältige Problematik entwickelt. Der Kern dieser Problematik, der durch die geschichtliche Entwicklung der philosophischen Reflexion entstanden ist, ist das Problem der Möglichkeit der menschlichen Willensfreiheit. Erst seit dem Beginn der Neuzeit wurde die Fragestellung dieses Problems radikalisiert. Außer wenigen Ausnahmen haben die antiken und mittelalterlichen Philosophen die menschliche Freiheit für eine selbstverständliche Tatsache gehalten. Sie fragten sich besonders, worin die Freiheit besteht, aber noch nicht, ob sie möglich ist. Erst als der universelle Kausaldeterminismus der neuzeitlichen Naturwissenschaften als ontologischer Grundsatz verabsolutiert wurde, schien es, dass die freie Spontaneität des menschlichen Willens keinen Platz in der Welt haben könnte. Wenn also das methodische Prinzip der mechanischen Kausalerklärung zur spekulativen Idee erhoben wurde, musste das Problem der Willensfreiheitsmöglichkeit als eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Anspruch des metaphysischen Determinismus dargestellt werden. Durch seine kritische Auflösung der dritten Antinomie der reinen Vernunft versuchte Kant, den Widerstreit zwischen Bejahung und Verneinung der menschlichen Freiheit zu überwinden 1 . Unter einem geschichtlichen Gesichtspunkt muss der kantische Lösungsvorschlag dieses Widerstreits für einen ganz neuen Anfang der Fragestellung des Willensfreiheitsproblems gehalten werden, weil die späteren philosophischen Versuche, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, als eine Auseinandersetzung mit diesem Vorschlag betrachtet werden können. Wie viele andere Grundfragen des philosophischen Denkens besteht die Frage nach der Willensfreiheitsmöglichkeit trotz der vielfäl1

Vgl. KrV, A 532/B 560 ff. A

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tigen Antwortvorschläge fort. Deshalb enthält diese Frage unter den Bedingungen der Gegenwartsphilosophie eine dringliche Aktualität. Nach der sprachpragmatischen Wende der Philosophie des 20. Jahrhunderts wurde die Freiheitsproblematik vielfältig behandelt. Einerseits wurde sie, wie die anderen traditionellen Probleme der Philosophie, durch die Analyse des alltäglichen Sprachgebrauchs noch einmal erforscht2 . Andererseits aber wurden diese Probleme auch durch naturalistisch kausale Handlungserklärungen betrachtet, die für einen naiven Rückfall in den schon von Kant überwundenen Gegensatz der Freiheitsantinomie gehalten werden können 3 . In diesem philosophischen Zusammenhang kann man sich fragen, ob eine neue Einsicht des kantischen Lösungsvorschlags im Lichte einer sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie dazu beitragen kann, die Willensfreiheitsfrage im Rahmen der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie kritisch zu stellen 4 . Die Absicht dieses Kapitels besteht darin, eine transzendentalpragmatische Auflösung der kantischen dritten Antinomie der reinen Vernunft bzw. der Freiheitsantinomie vorzuschlagen. Um diese Absicht zu verwirklichen, wird versucht, einige Aspekte der Auflösung der Freiheitsantinomie im Rahmen der klassischen Transzendentalphilosophie Kants zu rekonstruieren (4.1). Einige Schwierigkeiten des kantischen Auflösungsvorschlags werden in Bezug auf das Problem des Dinges an sich präsentiert (4.2). Ein neuer Auflösungsvorschlag wird im Rahmen der sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie dargelegt (4.3), und zwei Vorwürfe werden berücksichtigt, die gegen diesen Vorschlag aus kantischer Perspektive gemacht werden könnten (4.4). Nach einem Hinweis auf die Beziehung zwischen der Freiheitsantinomie und dem Autonomiebegriff im transzendentalpragmatischen Rahmen Vgl. z. B.: John L. Austin: Ifs and Cans. In: ders.: Philosophical Papers. Oxford: Clarendon Press, 1961; Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. §§ 611 ff.; Peter F. Strawson: Freedom and Resentment. London: Methuen, 1974, S. 1–25. 3 Vgl. z. B.: Donald Davidson: Essays on Actions and Events. Oxford: Clarendon Press, 1980. 4 Zu diesem Problem siehe: Karl-Otto Apel, Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Annsatzes. S. 195–220; Hermann Krings: Empirie und Apriori. Zum Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Sprachpragmatik. In: Neue Hefte für Philosophie, Heft 14, 1978: Zur Zukunft der Transzendentalphilosophie, Göttingen, S. 57–75; Hans Michael Baumgartner (Hrsg.): Prinzip Freiheit. Eine Auseinandersetzung um Chancen und Grenzen transzendentalphilosophischen Denkens. Freiburg/München, 1979. 2

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(4.5) schließt es mit einigen Bemerkungen über Konsequenzen der sprachpragmatischen Transformation der Transzendentalphilosophie zum Freiheitsbegriff ab (4.6).

4.1. Die kantische Auflösung der Freiheitsantinomie Der Freiheitsbegriff spielt eine sehr wichtige Rolle in der Architektonik der Transzendentalphilosophie Kants. Er liefert sowohl den »Schlussstein« des Systems der spekulativen reinen Vernunft, als auch den »Grundstein« der praktischen Philosophie. 5 Innerhalb der theoretischen Philosophie stellt man die Frage nach der möglichen Vereinbarkeit zwischen der Naturnotwendigkeit, die eine Voraussetzung der Einheit der Erfahrung ist, und der Freiheit, die als eine Sinnbedingung der normativen Aussagen der Moral, dem Recht und der Politik unterstellt werden muss. Die Antwort auf diese Frage ist so wichtig, dass von ihr sowohl die Möglichkeit der menschlichen Erkenntnis der Natur als auch die ganze Metaphysik der Sitten abhängt. Diese Antwort muss einerseits die Abschaffung der Naturgesetze vermeiden und andererseits die Gültigkeit der praktischen Normen gewährleisten können. Das Problem der möglichen Vereinbarkeit zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheit wird von Kant als die berühmte Freiheitsantinomie dargestellt. Die Antinomien der reinen Vernunft enthalten Schwierigkeiten, in die sich die menschliche Vernunft notwendigerweise verstrickt, wenn sie beansprucht, jenseits der Grenze der sinnlichen Erfahrung die Welt an sich zu erkennen. Deshalb ist das Problem des sinnvollen Denkens der Freiheitsbegriff in der Kritik der reinen Vernunft nicht als ein Problem der rationalen Psychologie bzw. als ein Problem über eine Eigenschaft der menschlichen Seele, sondern als ein rational kosmologisches Problem aufgeworfen. Die Lösung dieses Problems hat wichtige Konsequenzen für die sinnvolle Denkbarkeit der menschlichen Freiheit, die aber von einer generellen kosmologischen Frage abhängt, nämlich der Frage nach der Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit überhaupt. Kant präsentiert das kosmologische Problem der Freiheit als eine Antinomie, die aus zwei vermeintlich widersprüchlichen FordeVgl. KrV, A 466/B 494;. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Ak. Ausg. V. 45 (KpV, V. 45).

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rungen besteht. Zur Erklärung der Ereignisse der physischen Welt muss man einerseits unterstellen, dass jedes Ereignis dieser Welt die notwendige Wirkung einer Ursache ist. Andererseits muss man trotzdem auch unterstellen, dass die Kette der kausalen Bedingungen einen ersten Anfang hat, um eine echt vollendete Erklärung der Ereignisse zu liefern, bzw. eine erste Ursache, die als bloße Wirkung einer vorigen Ursache überhaupt nicht vorgestellt werden kann. Die Freiheitsantinomie besteht also darin, dass die Erklärung eines Ereignisses, die Behauptung und die Verneinung der Existenz der Freiheit gleichzeitig zu fordern scheint. Nach der Thesis dieser Antinomie muss man den Begriff einer Kausalität aus Freiheit annehmen, um einen hinreichenden Grund eines Ereignisses denken zu können. Nach der Antithesis bedeutet hingegen die Behauptung einer Kausalität aus Freiheit die Zerstörung der Einheit von der sinnlichen Erfahrung und die Unmöglichkeit, die Träume von den Wahrnehmungen sinnvoll zu unterscheiden. Die Thesis und die Antithesis dieser Antinomie scheinen beide gleich beweisbar und gleichzeitig untereinander völlig unvereinbar zu sein. Dieser scheinbare Widerspruch der Vernunft mit sich selbst bedeutet für Kant einen philosophischen Skandal, der nur durch eine Kritik der reinen Vernunft aufgelöst werden kann 6 . Bei Kant geht das spekulative Problem der Freiheit über den Rahmen der rationalen Kosmologie hinaus, weil es Konsequenzen sowohl im theologischen als auch im psychologischen Bereich hat. Zur Erklärung der Ereignisse der Welt ist es notwendig, die Idee einer ersten Ursache bzw. eines ersten Motors anzunehmen. Es handelt sich um die Idee einer ursprünglichen Spontaneität, die als theologische Bedingung der Möglichkeit der Welt nach der Thesis der Antinomie unterstellt werden muss. Diese Spontaneität kommt erst, sowohl hinsichtlich der Zeit als auch hinsichtlich der Kausalität. Wurde diese theologische Bedingung schon angenommen, dann kann man auch an einen absoluten Anfang einer kausalen Kette innerhalb des Ganges der Welt denken. 7 Dieser Anfang würde nicht eine erste 6 Vgl: Immanuel Kant: Brief an Garve 21. September 1798. In: Ders: Briefwechsel, Hamburg: Meiner, 1986, S. 778–780; Heinz Heimsoeth: Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Berlin: De Gruyter, 1967, II, S. 199; Heinz Röttges: Kants Auflösung der Freiheitsantinomie. In: Kant Studien, 65, 1974, S. 33–49. 7 Vgl. KrV, A 450/B 478; Bernard Carnois: La cohérence de la doctrine kantienne de la liberté. Paris: Éditions du Seuil, 1973, S. 23 ff.

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Ursache hinsichtlich der Zeit bedeuten bzw. nicht die schöpferische Freiheit Gottes, sondern nur hinsichtlich der Kausalität. Es handelt sich also um die Möglichkeit, einem vernünftigen Wesen das Vermögen einer freien Handlung zuzuschreiben. Durch diese Idee kann man an die menschliche Handlung als an etwas denken, das keinen bestimmenden Einfluss der Naturkausalität bekommt und das den menschlichen freien Willen als spontanen Anfang von einer besonderen Reihe der Ereignisse betrachtet. Kants Auflösung der Freiheitsantinomie besteht im Nachweis, dass der vermeintliche Widerspruch zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheit bloß scheinbar ist. Dieser Nachweis wird möglich, insofern Freiheit und Naturnotwendigkeit sich nicht als zwei gegenseitig ausschließende Kausalitäten berücksichtigen, als ob jedes Ereignis in der Welt entweder eine Wirkung der Freiheit oder eine der Notwendigkeit wäre. Der Ausgangspunkt dieses Arguments von Kant ist ein Ergebnis seiner Transzendentalen Analytik, bzw. die zweite Analogie der Erfahrung, die den folgenden Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität enthält: »Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung.« 8 Dieses Kausalitätsprinzip ist bei Kant ein unverletzbares Gesetz des Verständnisses, das in der Natur ohne Ausnahme gilt. Die entscheidende Frage zur Auflösung der Freiheitsantinomie ist also, ob es Freiheit geben kann, trotz der Unverletzbarkeit der Naturkausalität, oder ob sie einen absoluten Widerspruch schlechthin bedeuten würde. 9 Kants kritische Antwort auf diese Frage besteht in der Verteidigung der logischen Möglichkeit von zwei Typen von Kausalität. Die Naturphänomene sind durch das unverletzte Gesetz der Naturkausalität notwendigerweise verkettet. Hätten die Naturphänomene absolute Realität und wären sie mit den Dingen an sich identisch, dann gäbe es keinen logischen Platz, um die Möglichkeit der Freiheit zu denken. 10 Aber die absolute Realität der Naturphänomene wurde schon in der Transzendentalen Ästhetik widerlegt. 11 Um zwei Typen der Kausalität ohne Widerspruch unterscheiden zu können, bzw. um den Freiheitsbegriff vor dem logischen Unsinn zu retten, muss die

Vgl. KrV, A 189/B 232. Vgl. KrV, A 536/B 564; A543/B 571. 10 Vgl. KrV, A 536/B 564. 11 Vgl. KrV, A 491/B 519 8 9

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Differenz zwischen Phänomenen und Dingen an sich behauptet werden. Die Behauptung dieser Differenz würde nach Kant erlauben, den intelligiblen Grund der Naturphänomene als einen transzendentalen Gegenstand zu betrachten. 12 Diese Möglichkeit, an eine übersinnliche Ursache zu denken, wurde schon in der Analytik der Begriffe durch die Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen Kategorien vorbereitet. Die Kategorie der Kausalität ist dynamisch und als solche können ihre Bestandteile (Ursache und Wirkung) nicht gleichartig sein 13 . Es wäre deshalb möglich zu denken, dass es jenseits der kausalen Reihe der Naturphänomene eine heterogene Bedingung dieser Reihe gibt, die kein Teil der Reihe ist, d. h.: eine intelligible Ursache einer kausalen Kette der Phänomene, die jenseits der Bedingungen der möglichen Erfahrung als erste am Anfang dieser Kette stehen würde. Durch die Einführung des Grenzbegriffs eines unerkennbaren, aber denkbaren Dings an sich könnten zwei Perspektiven über jedes sinnliche Ereignis existieren. Einerseits könnte man versuchen, seine kausale Verbindung mit den vorigen Phänomenen zu entdecken, die es als seine physischen Ursachen notwendig bewirken. Andererseits könnte man auch an dieses gleiche Ereignis als Wirkung einer intelligiblen Ursache denken. Ist das erwähnte Ereignis die Handlung eines Menschen, dann ist seine freie Entscheidung, diese Handlung auszuführen, die intelligible Ursache seiner Handlung. Kants Auflösung der Freiheitsantinomie beruht also auf zwei Prämissen: der Kausalität als Synthese des Heterogen und der Differenz zwischen Phänomenen und dem Ding an sich. Diese Antinomie zwischen Naturkausalität und Freiheit wird bei Kant aufgelöst, einerseits, ohne eines von diesen zwei scheinbar widersprüchlichen Elementen abzuschaffen, und andererseits, ohne sie untereinander zu identifizieren. Freiheit und Notwendigkeit behalten ihre Gültigkeit, aber eine jede nur in ihrem Bereich. 14 Die Auflösung der Freiheitsantinomie besteht eben in der Darlegung der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit. Das bedeutet aber, dass diese Antinomie nur dialektisch ist. Sie enthält keinen echten Widerspruch, weil ihre Elemente, sowohl der Satz (Thesis) als auch der Gegensatz (Antithesis), Vgl. KrV, A 494/B 522. Vgl. KrV, B 201–202 Fußnote. 14 Siehe dazu: Allen W. Wood: Kant’s Compatibilism. In: ders. (Hrsg.): Self and Nature in Kant’s Philosophy. Ithaca, NY [u. a.]: Cornell Univ. Press, 1984, S. 73–101. 12 13

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als wahr betrachtet werden können. 15 Einerseits gilt die Naturkausalität als unverletzbares Gesetz in dem Bereich der sinnlichen Phänomene, den die Naturwissenschaften zu erklären versuchen. Das ist aber kein Hindernis, will man die Idee einer Kausalität aus Freiheit als ein Ding an sich postulieren. Diese Idee erfüllt einerseits die Forderung der menschlichen Vernunft, an eine erste und unbedingte Ursache am Anfang und jenseits der Reihe von empirischen bedingten Ursachen als Noumenon zu denken. Andererseits unterbricht diese Kausalität aus Freiheit trotzdem keine kausale Reihe von Phänomenen, weil sie nicht zu dieser Reihe gehört. Nach Kants Auflösung der Freiheitsantinomie eröffnet sich die Möglichkeit, den vernünftigen Wesen ein intelligibles Vermögen von Selbstbestimmung zuzuschreiben. Diese Möglichkeit verwirklicht sich dank unseres Selbstbewusstseins. Der Mensch kann sich selbst nicht nur durch seinen inneren Sinn als ein empirisches Objekt, sondern auch durch die reine bzw. ursprüngliche Apperzeption als ein intelligibles Objekt begreifen 16 . Durch diese Apperzeption kann der Mensch sich als ein Noumenon betrachten, d. h. als etwas, das jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens ist. Auf diese Weise könnte die menschliche Freiheit als ein spontanes Vermögen, das eine kausale Reihe der Naturphänomene von sich selbst aus anfangen kann, gedacht werden. Als »Bürger von zwei Welten« ist der Mensch für sich selbst gleichzeitig Phaenomenon und Noumenon. Betrachtet er sich selbst als Phaenomenon, dann sind seine Handlungen erklärbar durch die Naturgesetze. Betrachtet er sich selbst als Noumenon, sind sie hingegen Wirkungen seiner eigenen Selbstbestimmung. Durch den Begriff einer Kausalität aus Freiheit versucht Kant, die Beziehung zwischen einer intelligiblen Ursache und einer sinnlichen Wirkung zu ermöglichen. Die menschliche Entscheidung wäre also eine Ursache, die jenseits der Bedingung der Zeit steht und eine Handlung unter dieser Bedingung bewirkt. Dieser Begriff ist aber nur eine Idee, d. h. ein Begriff von etwas, das von dem menschlichen Geist nicht als real erkannt, sondern nur als möglich gedacht werden könnte. Um die Idee der Freiheit zu retten, muss Kant die »Illusion der Freiheit« zerstören. 17 Er muss den dogmatischen Anspruch, die 15 Vgl. Julio C. R. Estevez: Musste Kant Thesis und Antithesis der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft vereinbaren? In: Kant-Studien, 95, 2004, S. 146–170. 16 Vgl. KrV, A 546–547/B 574–575. 17 Vgl. KrV, A 447/B 475.

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objektive Realität der Freiheit zu erkennen, widerlegen. Durch Kants Auflösung der Freiheitsantinomie wird diese Realität unerkennbar. Diese Auflösung versucht also nur die logische Möglichkeit des Freiheitsbegriffs festzustellen, bzw. die Möglichkeit, sinnvoll an ihn zu denken. Diese Feststellung bedeutet aber nicht die reale Möglichkeit, das Objekt dieses Begriffs zu beweisen, sondern ganz im Gegenteil auf den Versuch dieses Beweises von vornherein zu verzichten. Das bedeutet, dass im Bereich der theoretischen Vernunft die Idee der Freiheit als ein »problematischer Begriff« bleibt. 18 Die spekulative Vernunft kann die Realität der Freiheit eigentlich weder annehmen noch ablehnen. Der einzige positive Gebrauch der Idee der Freiheit in diesem Bereich ist deshalb nicht konstitutiv, sondern regulativ. Als Idee der Vernunft kann sie von dem Verstand als eine Regel (bzw. als heuristische Fiktion) 19 benutzt werden, die den Weg des Erkenntnisprozesses weist. Auf diese Weise kann man eine kausale Reihe von Phänomenen berücksichtigen, als ob sie in einer intelligiblen und unbedingten Ursache beginnen würde, bzw. als ob der Freiheitsbegriff einem realen Objekt entsprechen würde. Obwohl Kants Auflösung der Freiheitsantinomie den Anspruch, die Realität der Freiheit zu erkennen, als »Illusion der Freiheit« anficht, liefert der regulative bzw. immanente Gebrauch des Freiheitsbegriffs einen Grund, um einem Menschen eine Handlung zuzuschreiben. Dieser Grund ist der von Kant genannte intelligible Charakter 20. Nach Kant ist der Mensch das einzige Wesen der Natur, das nicht nur einen empirischen Charakter hat, sondern auch einen intelligiblen, bzw. das vernünftige Vermögen, um seine eigenen Handlungen zu bestimmen. Dieses Vermögen hat zwei komplementäre Aspekte. Einerseits gibt es einen bloß negativen Aspekt, der die Unabhängigkeit von den empirischen Bedingungen bedeutet, und andererseits auch den positiven Aspekt der freien Spontaneität der reinen Vernunft, bzw. eine Fähigkeit des inteligiblen Charakters, von sich selbst eine kausale Reihe von Ereignissen zu bewirken. Beide Aspekte des vernünftigen Vermögens könnten durch die reine Apperzeption betrachtet werden. Die Kausalität aus Freiheit des intelligiblen Charakters wäre trotzdem nach Kants Auflösung der Freiheitsantinomie so ewig wie unerkennbar. 18 19 20

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Vgl. KrV, A254–255/B 310–311; KpV, IV. 13. Vgl. KrV, A 771/B 799, A671/B 699. Siehe unten 5.1. Vgl. KrV, A 438–439/B 566–567.

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Schwierigkeiten des Kantischen Auflösungsvorschlags

4.2. Schwierigkeiten des kantischen Auflösungsvorschlags Nach der kantischen Auflösung der Freiheitsantinomie können sowohl der Satz als auch der Gegensatz wahr sein, insofern der deterministische Gegensatz nur für die Phänomene gilt. Sie stehen als solche unter den Bedingungen der Möglichkeit der menschlichen Erfahrung bzw. unter dem Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität. Auf diese Weise könnte man auch daran denken, dass die Behauptung der menschlichen Freiheit, die eine logische Folgerung des Satzes der Antinomie ist, nicht für die Naturphänomene, sondern nur für die Welt an sich gelten kann. Diese Auflösung begnügt sich also mit dem Nachweis der Möglichkeit, sich den Freiheitsbegriff sinnvoll vorzustellen. Das Verdienst von Kants erwähnter Argumentationsstrategie besteht darin, dass sie versucht, zwei Forderungen, die sich gegenseitig ausschließen könnten, zu erfüllen. Einerseits erfüllt diese Strategie eine erkenntnistheoretische Forderung, nämlich: die Begründung der Möglichkeit, die Naturphänomene durch Kausalgesetze zu erklären. Andererseits erfüllt sie auch eine Forderung des moralischen Gewissens. Damit die unbedingten Gebote dieses Gewissens sinnvoll sein können, muss man annehmen, dass die menschlichen Handlungen von einem noumenalen Ich bzw. intelligiblen Charakter ganz spontan stammen können. Dieser Charakter, als Grund der moralischen Urteile, muss als frei von jeder möglichen Naturbestimmung und als selbst bestimmend denkbar sein. Aus moralischen Gründen muss man also die Existenz von etwas postulieren, das jenseits der Bedingungen der Möglichkeit der menschlichen Erfahrung und gerade deshalb ganz unerkennbar ist, nämlich eine freie Handlung. Kants Auflösung der Freiheitsantinomie hat also das Verdienst, die Möglichkeit der objektiven naturwissenschaftlichen Erkenntnis und des Gewissens gleichzeitig zu begründen. Diese Auflösung beruht, wie schon bemerkt wurde, auf der Spaltung der Realität in zwei verschiedene Aspekte: die Phänomennatur, die von dem menschlichen Vermögen wirklich erkannt werden kann, und die Welt an sich (mundus intelligibilis), die nur gedacht werden kann. Kants Freiheitsauffassung postuliert also notwendigerweise die Existenz eines unerkennbaren Dings an sich: einen intelligiblen Charakter, der als unbedingte und erste Ursache der freiwilligen menschlichen Handlungen unterstellt werden muss. A

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Die transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie

Eine wichtige Schwierigkeit dieser Auffassung, die schon in Kants Epoche bemerkt wurde, besteht eben in dem Postulat eines unerkennbaren Dings an sich. Hier wird weder eine historische Rekonstruktion der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Unerkennbaren noch die Relevanz dieser Auseinandersetzung für die Weiterentwicklung des transzendentalen Idealismus dargelegt. Die Frage ist nun nach der Möglichkeit einer Transzendentalphilosophie, die an den Freiheitsbegriff sinnvoll denken kann, ohne ein unerkennbares Ding zu postulieren. Kant behauptet, dass der Freiheitsbegriff durch das Postulat eines unerkennbaren Dings an sich sinnvoll bzw. ohne Widerspruch gedacht werden kann. Die entscheidende Frage ist aber, ob dieses Postulat selbst sinnvoll ist. Ein aussichtsreicher Weg zur Beantwortung dieser Frage kann mit einer pragmatischen Sinnkritik der sprachlichen Zeichen anfangen. Charles Sanders Peirce hat diese Art von Sinnkritik an der Idee eines unerkennbaren Dings an sich geübt. Peirce bringt seine Kritik an dieser Idee im Rahmen der Darlegung einer Methode, um Ideen klarzumachen, vor, bzw. in seinem Aufsatz von 1878 »How to Make Our Ideas Clear«. 21 Er analysiert dort eine Definition der Realität, die auf den ersten Blick ganz akzeptabel erscheinen könnte: »We may define the real as that whose characters are independent of what anybody may think them to be.« 22 Nach dieser Definition ist etwas real, wenn seine Eigenschaften ganz unabhängig von unserem Denken sind. Diese Definition kann vielleicht nützlich sein, um etwas Reales von etwas Fiktivem in unserem alltäglichen Leben zu unterscheiden. Eine Fiktion hängt von dem Denken seines Autors völlig ab, d. h., er kann ihre Eigenschaften ganz willkürlich bilden und verändern. Die Eigenschaften eines fiktiven Objekts sind von vornherein unter der Macht des menschlichen Denkens. Nach dieser Definition ist das Reale hingegen völlig unabhängig von den Meinungen über das Reale, die einzelne Menschen haben können. Peirce behauptet, dass diese Definition des Realen als Unabhängigkeit vom Denken unbefriedigend bzw. bloß abstrakt und dunkel ist. Die Schwierigkeit dieser Definition besteht darin, dass sie uns dahin führen könnte, zu denken, dass die Realität von Denken im Allgemeinen (bzw. nicht bloß von dem Denken eines Einzelnen) un21 22

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Vgl. Charles S. Peirce: CP. 5.388–410. CP. 5.405

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abhängig sein kann und gerade deshalb absolut unerkennbar für die Menschen überhaupt ist. Das ist eben die kantische Idee eines Dinges an sich. Nach Peirce ist die entscheidende Frage zum Problem der Dinge an sich, ob das Reale unabhängig vom Denken im Allgemeinen ist oder nur davon, was Du oder ich oder irgendeine endliche Anzahl von Menschen darüber denken können. Zur Antwort auf diese Frage schlägt Peirce seine Methode vor, um unsere Ideen klarzumachen, bzw. die von ihm genannte pragmatische Maxime: »Consider what effects, that migth conceivably have practical bearnings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is he whole of our conception of the object.« 23 Die durch diese Maxime angewandte These ist, dass die wahrnehmbaren Wirkungen eines Dinges alle seine Eigenschaften erschöpfen. Folge dieser These ist, dass wir keine klare bzw. sinnvolle Idee über die für uns prinzipiell unentdeckbaren Eigenschaften der Dinge bilden können. Es ist zu unklar bzw. sinnlos, über vermeintliche Eigenschaften der Dinge zu sprechen, die keine wahrnehmbaren Wirkungen haben könnten. Peirce wendet seine Maxime auf verschiedene Ideen an, um sie zu verdeutlichen, z. B. die Ideen von »hart«, »schwer«, »Kraft« und »Realität«. In diesem letzten Fall behauptet Peirce: »The only effect which real things have is to cause belief, for all the sensations which they excite emerge into consciousness in the form of beliefs.« 24 Eine klare Idee des Realen erschöpft sich also in den wahrnehmbaren Wirkungen, die diese im menschlichen Bewusstsein hervorbringen kann. Diese Wirkungen sind Überzeugungen (beliefs). Deshalb ist die Idee eines realen Dinges oder einer realen Eigenschaft eines Dinges, die keine Überzeugung in unserem Bewusstsein bewirken könnte, völlig unklar und ganz unverstehbar. Nach dieser sinnkritischen Auffassung ist die kantische Idee eines Dinges an sich also sinnlos. Durch die Anwendung der pragmatischen Maxime auf die Idee des Realen kann man ein negatives Kriterium finden, um die Idee eines unerkennbaren Dings an sich als sinnlos auszuscheiden. Um eine klare Definition der Idee des Realen zu formulieren, muss man einen Schritt weiter gehen und das Reale als Objekt einer wahren Meinung berücksichtigen. Das verweist auf Peirces Konsenstheorie der Wahrheit, in der eine wahre Meinung über das Reale als eine 23 24

CP. 5.402 CP. 5.406 A

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Die transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie

»letzte Meinung« betrachtet werden muss, die als richtige Antwort eines naturwissenschaftlichen Problems durch einen Forschungsprozess von der unbegrenzten Forschungsgemeinschaft in the long run erreicht werden könnte. Hier braucht man jedoch nicht die epistemologische Auffassung Peirces darzulegen. Es scheint genug, nur darauf hinzuweisen, dass die wahrnehmbaren Wirkungen des Realen nicht etwas sind, das nur das private Bewusstsein eines Einzelnen betreffen kann. Nach dieser sprachpragmatischen Auffassung ist das Reale etwas, das alle möglichen Mitglieder einer unbegrenzten Forschungsgemeinschaft prinzipiell erkennen können. Werden die Folgerungen dieses sinnkritischen Arguments auf Kants Auflösung der Freiheitsantinomie angewendet, dann kann man bemerken, dass diese Auflösung eine problematische Unterstellung enthält, nämlich: die dunkle Idee der Freiheit als eine prinzipiell unerkennbare Realität. Nach Peirces Auffassung könnten alle die Handlungen eines Menschen als Wirkungen berücksichtigt werden, die als solche von der Forschungsgemeinschaft in the long run erkannt werden könnten. Nach der pragmatischen Maxime würden diese Wirkungen aber die Realität dieses Menschen erschöpfen, und es würde dort kein unerkennbarer Rest dieser Realität übrigbleiben, der in seinen Handlungen nicht erscheinen könnte. Die gleiche Schwierigkeit von Kants Auffassung der Freiheit als ein unerkennbares Noumenon kann auch durch ein anderes sinnkritisches Argument, das auf einen transzendentalpragmatischen Gebrauch der Sprechakttheorie zurückgreift, zutage gebracht werden 25 . Dieses Argument präsentiert die erwähnte Schwierigkeit folgendermaßen: Wenn man über die Behauptung von etwas unerkennbar reflektiert, kann man diese Behauptung als eine komplexe Sprechhandlung betrachten, die zwei verschiedene Teile hat. Einerseits enthält diese Handlung einen propositionalen Teil bzw. den informativen Gehalt, den ein Sprecher durch diese Sprechhandlung behauptet: »Es gibt etwas, das nicht erkennbar ist.« Andererseits enthält sie auch einen performativen Teil bzw. den expliziten Ausdruck der Behauptungshandlung und ihre pragmatischen Voraussetzungen. Diese entsprechen der Beziehung zwischen den sprachlichen Zeichen und den Zeichenbenutzern. 26 Vgl. Wolfgang Kuhlmann: Kant und die Transzendentalpragmatik, S. 79 ff. Siehe dazu: Jürgen Habermas: Was heißt Universalpragmatik. In: Apel, K.-O. (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie, S. 174–272; ders.: Theorie des kommunika-

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Schwierigkeiten des Kantischen Auflösungsvorschlags

Wer den Unterschied zwischen erkennbaren Phänomenen und unerkennbaren Dingen an sich als ein sinnvolles Denken behauptet, schlägt ihn als einen wesentlichen Teil einer Antwort auf ein philosophisches Problem vor, nämlich die Freiheitsantinomie. Wer die Möglichkeit eines unerkennbaren Dinges an sich behauptet, führt eine Sprechhandlung durch, deren propositionaler Gehalt auch innerhalb anderer Arten von Sprechhandlungen, die keine Behauptungshandlung sind, erscheinen könnte. Die Proposition »Es gibt etwas, das nicht erkennbar ist« könnte z. B. von einem Schauspieler gegenüber seinem Publikum ausgedrückt werden. In diesem Fall würde der Sprecher versuchen, keinen Beitrag zur Lösung eines philosophischen Problems zu leisten, sondern eine Stelle in einem Theaterstück darzustellen. Seine Sprechhandlung kann man von der philosophischen Behauptung der Denkbarkeit eines unerkennbaren Dinges an sich klar unterscheiden. Zur Unterscheidung verschiedener Arten von Sprechhandlungen (z. B. einer philosophischen Behauptung und einer theatralischen Darstellung) muss man also nicht die propositionalen, sondern den performativen Teil von Sprechhandlungen beachten. Das ist nicht so einfach wie die Berücksichtigung des propositionalen Teils, weil der performative Teil der Sprechhandlungen und ihre entsprechenden pragmatischen Voraussetzungen normalerweise nicht ausgedrückt werden. In den alltäglichen Situationen halten die Zeichenbenutzer diesen performativen Teil oft für selbstverständlich. Versteht der Adressat den Typ einer Sprechhandlung, den der Sprecher durchführt, dann braucht er ihn nicht zu fragen, ob es sich um z. B. eine Frage, eine Behauptung, ein Versprechen, eine Darstellung, ein Bekenntnis oder eine Wette handelt. Versteht er das nicht und teilt er dem Sprecher seine Frage mit, dann muss der Sprecher dagegen die illokutionäre Kraft seiner Sprechhandlung erst explizit ausdrücken. Obwohl der performative Teil der Sprechhandlungen in der alltäglichen Kommunikation implizit bleibt, kann sein expliziter Ausdruck eine wichtige Rolle im philosophischen Bereich nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie spielen. Zur Berücksichtigung dieser Rolle kann man z. B. den performativen Teil der Behauptung von Unerkennbarem einsehen. Wer behauptet, dass die Dinge an sich für die Menschen unertiven Handelns. Bd. I; John L. Austin: How to Do Things with Words; John R. Searle: Speech Acts. A

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kennbar sind, erhebt mit seiner Behauptung einen Gültigkeitsanspruch bzw. einen Wahrheitsanspruch gegenüber jedem möglichen Argumentationspartner. Das Erheben dieses Anspruchs bedeutet einerseits, dass der Sprecher bereit ist, seine Geltungsansprüche durch Argumente zu rechtfertigen bzw. zu begründen, und andererseits, dass er mögliche Adressaten seiner Behauptung als gleichberechtigte Argumentationspartner anerkennt. Diese Partner dürfen seine Geltungsansprüche durch Gegenargumente bestreiten, weil sie Mitglieder einer idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft sind, die als letzte Instanz zur Einlösung der Geltungsansprüche anerkannt werden muss. Man kann also sehen, dass jede Behauptung als Sprechhandlung gewisse pragmatische Voraussetzungen in ihrem performativen Teil notwendigerweise unterstellt. Sie verweisen auf die Einlösung der Geltungsansprüche der Sprecher als ein argumentatives Verfahren, in dem die Teilnehmer bestimmte Pflichten und Rechte haben. Die systematische Struktur von Pflichten und Rechten, die die Mitglieder der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft gegenseitig verbindet, setzt selbst voraus, dass diese Mitglieder fähig sind, die erhobenen Geltungsansprüche argumentativ einzuschätzen. Wer eine Aussage als gültig behauptet, schlägt sie als Diskursbeitrag gegenüber jedem möglichen Diskurspartner vor, der als kompetent für die kritischen Tätigkeiten einer argumentativen Einlösung von Geltungsansprüchen schlechthin anerkannt werden muss. Eine Behauptung ist eine Sprechhandlung, durch die eine These als ein Lösungsvorschlag eines Problems bzw. als Objekt einer kritischen Diskussion angeboten werden kann. Die Behauptungshandlung unterstellt die Möglichkeit der argumentativen Einlösung der Geltungsansprüche, die durch diese Handlung erhoben werden, und setzt gerade deshalb die diskursive Fähigkeit der Teilnehmer dieses Einlösungsvorganges voraus. Genau an diesem Punkt treten die Schwierigkeiten der Rede über eine prinzipiell unerkennbare Kausalität aus Freiheit der menschlichen Handlung und über Dinge an sich überhaupt auf. Wer diese Rede hält, bezieht sich nicht nur auf etwas, das durch seine Rede als unerkennbar bezeichnet wird, sondern auch auf die Grenzen des menschlichen Vermögens. Die Rede des Unerkennbaren ist eigentlich ein paradoxer Diskursbeitrag, weil sie die argumentative Fähigkeit der Diskursteilnehmer (bzw. sowohl des Adressaten als auch des Sprechers selbst dieser Rede) anficht und weil diese Fähigkeit unbe174

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dingt nötig ist, um diese Rede als Diskursbeitrag kritisch berücksichtigen zu können. Die erwähnte Schwierigkeit der Rede über die Unerkennbarkeit des Realen findet weder in der syntaktischen noch in der semantischen Dimension der sprachlichen Zeichen statt. Hinsichtlich der syntaktischen Dimension ist es die Aussage: »Es gibt etwas, das nicht erkennbar ist«, die weder syntaktische Regeln der deutschen Sprache noch logische Regeln verletzt. Hinsichtlich der semantischen Dimension scheint diese Aussage auch (mindestens auf den ersten Blick) unproblematisch, weil man vielleicht eine Vorstellung haben kann, worum es geht. Aber die entscheidende Frage ist in diesem Punkt, ob es sich um eine klare oder eine dunkle Idee (in Peirces Sinne) handelt. In Bezug auf die kantische Auflösung der Freiheitsantinomie kann man diese Frage folgendermaßen stellen: Ist es wirklich möglich, sich einen Begriff von einer prinzipiell unerkennbaren Kausalität aus Freiheit ohne Widerspruch zu machen? 27 Zur Beantwortung dieser Frage muss man über die syntaktischen und die semantischen Dimensionen der Sprachzeichen hinausgehen und die pragmatische Dimension beachten. So wird klar, dass jede sinnvolle Behauptungshandlung Geltungsansprüche gegenüber jedem möglichen Argumentationspartner erhebt. Deshalb muss der Sprecher diesem Partner eine Fähigkeit mindestens implizit, aber notwendigerweise zuschreiben, nämlich die Fähigkeit, seine eigenen Geltungsansprüche kritisch zu berücksichtigen und zu beurteilen. Aber es ist genau diese Fähigkeit, die der kantische Vorschlag eines prinzipiell unerkennbaren Dings an sich ablehnt. Wäre die Wahrheit einer Aussage für jemand prinzipiell unerkennbar, dann wäre er völlig unfähig zu beurteilen, ob diese Aussage wahr oder falsch ist. Aus einer pragmatischen Perspektive würde die Unerkennbarkeit von etwas die Unfähigkeit bedeuten, das zu erkennen. Aber diese Unfähigkeit kann der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft nicht sinnvoll zugeschrieben werden. In den Termini der Sprechtakttheorie kann die erwähnte Schwierigkeit folgendermaßen dargelegt werden. Behauptet jemand: »es ist prinzipiell unmöglich x zu erkennen«, führt er eine Behauptungshandlung durch, deren propositionellen Teil er als unmöglich ablehnt, genau was im performativen Teil notwendigerweise als mög27 Wie behauptet z. B.: Bernard Carnois: La cohérence de la doctrine kantienne de la liberté. S. 33, Fn. 5.

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lich unterstellt wird. Es handelt sich um einen Fall von einem performativen Selbstwiderspruch bzw. einer pragmatischen Inkonsistenz. 28 Auf diese pragmatische Weise kann man also gegen Kant nachweisen, dass die Idee eines unerkennbaren Dinges an sich ohne Widerspruch nicht denkbar ist. Dieser Widerspruch findet aber nicht in der syntaktisch-semantischen Ebene statt, sondern in der Beziehung zwischen dieser Ebene bzw. dem propositionalen Teil der Sprechhandlung und der pragmatischen Ebene bzw. dem performativen Teil der Sprechhandlung. Dieser pragmatische Selbstwiderspruch kann folgendermaßen ausgedrückt werden. »Ich erkenne euch und mich als Mitglieder eines Gerichtshofs an, der meine Wahrheitsansprüche prinzipiell einschätzen und beurteilen kann, insofern ich behaupte, dass wir die Wahrheitsansprüche über x prinzipiell nicht einschätzen und beurteilen können.« Der pragmatische Selbstwiderspruch dieser Sprechhandlung besteht darin, dass der Sprecher beim performativen Teil dieser Handlung genau das annimmt, was er beim propositionalen Teil ablehnt, nämlich: die Fähigkeit der Diskurspartner, um x erkennen zu können. Die Fähigkeit, Geltungsansprüche einzulösen, wird der idealen und unbegrenzten bzw. unbegrenzbaren Argumentationsgemeinschaft von jedem Sprecher notwendigerweise zugeschrieben, der eine Behauptungshandlung durchführt. Diese Gemeinschaft wird also als letzte Geltungsinstanz von jedem Sprecher immer schon anerkannt. Deshalb enthält die Rede des Unerkennbaren eine pragmatische Inkonsistenz, die eben darin besteht, dass diese Rede etwas sinnlos versucht, nämlich: die Aberkennung der unbegrenzten ArgumentaKarl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Sachregister; Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. Register; ders.: Dialogreflexion als Ergebnis der sprachpragmatischen Wende. Nur das sich wissende Reden und Miteinanderstreiten ermöglicht Vernunft. In: Trabant, J. (Hrsg.): Sprache denken. Positionen aktueller Sprachphilosophie, S. 145–162; Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik; ders.: Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus. Eine Replik. In: Ztschr. f. Allg. Wissenschaftstheorie, XVI, 1985, 2, S. 357–374; ders.: Bemerkungen zum Problem der Letztbegründung. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, S. 212- 237; Matthias Kettner: Ansatz zu einer Taxonomie performativer Selbstwidersprüche. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, S. 187–211; Martin Jay: The Debate over Performative Contradiction: Habermas vs. the Post-structuralist. In: Honneth, A. [u. a.] (Hrsg.): Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989, S. 171–189.

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tionsgemeinschaft als letzter Geltungsinstanz zur Einlösung der Geltungsansprüche von jeder möglichen Sprechhandlung. Dieser Versuch ist sinnlos, weil er selbst eine Sprechhandlung ist, die einen Geltungsanspruch gegenüber dieser Gemeinschaft erhebt, und genau das Erheben dieses Anspruchs setzt die Anerkennung dieser Gemeinschaft als letzte Geltungsinstanz immer schon voraus.

4.3. Ein neuer transzendentaler Auflösungsvorschlag Im letzten Abschnitt wurde dargelegt, dass eine sinnkritische Reflexion über die pragmatische Dimension des Zeichengebrauchs, den wir (der Leser und ich) als Argumentierende machen, erlaubt, einige Schwierigkeiten von Kants Auflösung der Freiheitsantinomie aufzudecken. Diese Aufdeckung entspringt einer reflexiven Erläuterung der pragmatischen Voraussetzung, die wir immer schon annehmen, wenn man Argumente vorschlägt, berücksichtigt, bestreitet usw. und aus der pragmatischen Inkonsistenz, in die man notwendigerweise verfällt, wenn man über ein unerkennbares Ding an sich (z. B. einen intelligiblen Charakter bei Kant) sprechen will. Diese Sinnkritik von Kants Auflösung der Freiheitsantinomie fordert einerseits, über die monologische und sprachfreie Vorstellung des Denkens hinauszugehen, die typisch für die Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit ist. Insofern die sprachlichen und kommunikativen Bedingungen des Denkens zutage gebracht werden, wird klar, dass die kantische Unterscheidung zwischen Erkennen und Denken nicht genug ist, um den Sinn des Freiheitsbegriffs zu retten. Obwohl es eine vermeintlich ursprüngliche Apperzeption gibt, wäre noch ein (mindestens virtuell) öffentlicher Vorgang nötig, um die Resultate dieser Apperzeption zur Geltung zu bringen. Andererseits fordert diese pragmatische Sinnkritik auch, über eine eng formale (bzw. bloß syntaktische) Auffassung des Widerspruchs hinauszugehen, um die Beziehung zwischen der syntaktisch-semantischen und der pragmatischen Ebene zu berücksichtigen, weil eben in dieser Beziehung ein performativer Selbstwiderspruch entstehen kann. Die pragmatische Sinnkritik der Idee eines unerkennbaren Dinges an sich, die eine entscheidende Rolle in Kants Auflösung der Freiheitsantinomie bedeutet, kann und muss trotzdem nicht auf den Sinn des Freiheitsbegriffs schlechthin verzichten und die Antithese der Antinomie als wahr annehmen, als ob die menschliche Handlung A

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von der bloßen Naturkausalität völlig bestimmt wäre. Glücklicherweise braucht man sich nicht entweder für den Verzicht auf den Freiheitsbegriff oder für die sinnlose Annahme des metaphysischen Postulats eines unerkennbaren Dinges an sich zu entscheiden 29 . Zur Behauptung des prinzipiell unbedingten Charakters der menschlichen Handlung zählen nicht nur die guten Motive von Kant z. B. die Rettung der Freiheit, sondern auch gute Gründe. Zur Entdeckung dieser Gründe braucht man keine metaphysischen Wesen zu postulieren, sondern nur eine sinnkritische Reflexion über die unvermeidlichen Voraussetzungen der Argumentation noch einmal durchzuführen. Das gleiche dialogisch-reflexive Verfahren, das eine Sinnkritik an der Idee des Unerkennbaren erlaubt, ist nützlich zum Nachweis der Freiheit der menschlichen Handlung bzw. zur Widerlegung des Determinismus. Der Determinismus ist eine Lehre, die behauptet, dass die so genannten freiwilligen Handlungen kein Resultat einer freien Wahl zwischen verschiedenen möglichen Handlungen, sondern nur notwendige Wirkungen von physischen, psychischen oder sozialen Ursachen sind. Diese Lehre wird manchmal von einer These begleitet, die behauptet, dass die Menschen an ihre eigene Freiheit glauben, weil sie die wirkliche Ursache »ihrer« Handlungen nicht erkennen. 30 Es gibt verschiedene Versionen des Determinismus, aber alle behaupten, dass die menschliche Handlung völlig von »externen« Ursachen bestimmt ist. Sie seien also bloße Reaktionen auf von dem Willen des Handlungssubjekts unabhängige Faktoren, z. B. metaphysische, physische, psychische, soziale oder ideologische Ursachen. Der Determinist behauptet also, dass, obwohl die Menschen glauben, ihre eigenen Handlungen ganz frei entscheiden zu können, sie zur Durchführung der einzigen Reihe von Handlungen, die sie tatsächlich in ihrem Leben durchführen, von diesen externen Ursachen gezwungen sind. Siehe dazu: Hilary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, S. 91; Jürgen Habermas: Werte und Normen. Ein Kommentar zu Hilary Putnams kantischem Pragmatismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 48, 2000 4, S. 547- 564; Karl-Otto Apel: Pragmatismus als sinnkritischer Realismus auf Basis regulativer Ideen (In Verteidigung einer Peirceschen Theorie der Realität und Wahrheit). In: Raters, M. L./Willaschek, M. (Hrsg.): Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 117–147. 30 Vgl. Baruch Spinoza: Ethica, ordine geometrico demonstrata. Pars prima: Apendix, Pars secunda: XXXV Scholium, (Lateinisch-Deutsche Ausgabe, Hamburg: Meiner, 1999, S. 78 ff., 170). 29

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Ganz unabhängig von den Meinungen, die die Menschen sich über ihre Freiheit bilden können, können sie – sagt der Determinist – nicht vermeiden, dass die ganze Reihe von Handlungen, die ihr Leben erschöpft, von externen Realitäten bzw. von ihrem Willen unabhängigen Faktoren völlig bestimmt werden. Zur richtigen Einschätzung des Determinismus muss man auf die mindestens implizit, aber unvermeidlich angenommenen Voraussetzungen dieser Lehre reflektieren bzw. auf die pragmatischen Argumentationsvoraussetzungen von jedem, der versucht, diese Lehre argumentativ zu verteidigen. Wer die These des Determinismus behauptet und versucht, sie durch Argumente zu rechtfertigen, beansprucht, dass seine Argumente von jedem möglichen Argumentationspartner berücksichtigt werden und dass sie nur dank guter Gründe von ihm angenommen werden. Das heißt: Wer behauptet, dass jede menschliche Handlung völlig von externen Faktoren bestimmt ist, setzt im performativen Teil seiner Sprechhandlungen immer schon voraus, dass die möglichen Adressaten seiner Behauptung frei von externen Bestimmungen sind, um seine Argumente einzusehen und zu beurteilen. Kein Argumentierender (d. h.: auch nicht der Determinist!) könnte sich mit einer Zustimmung seiner Adressaten abfinden, die eine bloße Wirkung von extra-argumentativen Faktoren wäre. Die Behauptungshandlung des Deterministen setzt also implizit voraus, dass die Adressaten ihr Urteil über seine These nur durch das Gewicht der besseren Gründe selbst bestimmen können. Die Schwierigkeiten des Versuchs, den Determinismus argumentativ zu halten, sind ähnlich dem Versuch, die Idee eines unerkennbaren Dinges an sich sinnvoll zu denken, der im letzten Abschnitt berücksichtigt wurde. Die Ähnlichkeit zwischen diesen zwei Versuchen besteht nicht in dem Inhalt der jeweiligen Thesen, die eigentlich mit Kant als gegensätzlich betrachtet werden könnten, sondern eben in der pragmatischen Inkonsistenz der Sprechhandlungen, in denen beide Thesen behauptet werden. In beiden Fällen kollidieren die behaupteten Thesen, die der propositionelle Teil der jeweiligen Sprechhandlungen sind, mit verschiedenen Argumentationsvoraussetzungen, die in diesen Handlungen mindestens implizit, aber immer schon unvermeidlich angenommen werden. Die pragmatische Inkonsistenz des Determinismus kann folgendermaßen nachgewiesen werden: Der Determinist führt eine Behauptungshandlung aus, deren propositioneller Teil lautet: »Jede A

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menschliche Handlung ist völlig von extra-argumentativen Faktoren bestimmt« und deren performativer Teil muss dem möglichen Diskurspartner notwendigerweise eine Fähigkeit zuschreiben, nämlich die Fähigkeit, seine Thesen und Argumente unabhängig von diesen Faktoren und nach einer freien Einsicht seiner Geltungsansprüche zu beurteilen. Es handelt sich also um einen pragmatisch selbstwidersprüchlichen Sprechakt. Einerseits behauptet der Sprecher, dass die Menschen im Allgemeinen und dann auch die möglichen Adressaten seiner Aussage keine freie Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen treffen können. Andererseits schreibt er aber diesen Adressaten die Fähigkeit zu, diese Entscheidung zu treffen; insofern beansprucht er, dass seine These nach einer freien Einsicht der relevanten Argumente und Gegenargumente angenommen werden könnte, d. h.: eine Einsicht, die von keinem extra-argumentativen Einfluss völlig determiniert ist. Die besondere Schwierigkeit des Determinismus bzw. seine pragmatische Inkonsistenz besteht also darin, dass man zur Verneinung der menschlichen Freiheit sie gleichzeitig und notwendigerweise voraussetzen muss. 31 Der Freiheitsbegriff ist keine kontingente Unterstellung, deren Gültigkeit die Diskurspartner sinnvoll bestreiten könnten, sondern eine unvermeidliche Bedingung des Sinns und der Geltung der Argumentation überhaupt. Es handelt sich also um eine transzendentale Argumentationsvoraussetzung. Die Diskursteilnehmer müssen diese Bedingung als a priori gültig annehmen und gerade deshalb auch akzeptieren, dass jede Handlung, die mittelbar oder unmittelbar von einem argumentativen Verfahren abhängen kann, von keinen extra-argumentativen Faktoren völlig bestimmt bzw. bewirkt werden kann. Die Sinnlosigkeit der Freiheitsverneinung besteht eben darin, Im Rahmen seiner sog. revisionären Transzendentalpragmatik behauptet Niquet, dass »eine phänomenologisch inspirierte Sinnklärung« erstens unumgänglich ist, um zweitens überprüfen zu können, ob die Behauptung der These des Determinismus tatsächlich performativ selbstwidersprüchlich ist. Ich möchte hier kurz darauf hinweisen, dass die reflexive Berücksichtigung der Sinnbedingungen dieser Behauptung Niquets selbst genug ist, um den Determinismus sinnkritisch widerlegen zu können. Wenn wir nicht den Inhalt seines revisionären Vorschlags, sondern den performativen Teil der Sprechhandlungen, durch die er seinen Vorschlag zu unserer freien Einsicht vorlegt, strikt reflexiv berücksichtigen, können wir uns schon darüber klar werden, dass der Determinismus sinnlos ist, weil er notwendige Sinnbedingungen dieser Sprechhandlungen und der Sprechhandlungen überhaupt schlechthin verkennt. Siehe dazu: Marcel Niquet: Nichthintergehbarkeit und Diskurs. Prolegomena zu einer Diskurstheorie des Transzendentalen, S. 202–207.

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dass es unmöglich ist, die menschliche Freiheit durch die deterministische These abzulehnen, ohne sie als transzendentalpragmatische Argumentationsvoraussetzung gleichzeitig und mindestens implizit anzunehmen. Ist die Idee der Freiheit eine Bedingung der Möglichkeit von der sinnvollen und gültigen Argumentation, dann ist es sowohl unnötig als auch unmöglich, diese Gültigkeit aus unabhängigen Prämissen deduktiv abzuleiten. Der Versuch, die Gültigkeit des Freiheitsbegriffs abzuleiten, ist sinnlos, weil in dieser Ableitung etwas bewiesen würde, das selbst eine pragmatische Voraussetzung dieses deduktiven Verfahrens wäre. Die Sinnlosigkeit dieses Versuchs besteht darin, dass er eine pragmatische petitio principii begeht. Wer die objektive bzw. intersubjektive Gültigkeit der menschlichen Freiheit ableiten will, muss genau diese Gültigkeit notwendigerweise immer schon voraussetzen. Möchte jemand die Aussage »die menschlichen Wesen sind frei« beweisen, könnte er versuchen, sie als deduktiven Schluss aus zwei Prämissen zu ziehen, z. B.: »die vernünftigen Wesen sind frei« und »die menschlichen Wesen sind vernünftig«. Die erwähnte Schwierigkeit dieses Syllogismus besteht in Folgendem. Wer ihn vorbringt, erhebt einen Gültigkeitsanspruch gegenüber jedem möglichen Argumentationspartner, schreibt ihnen die Fähigkeit zu, diese Ansprüche aus guten Gründen zu beurteilen, und genau deshalb setzt er unvermeidlich voraus, dass diese Fähigkeit sich unabhängig von extra-argumentativen Faktoren bzw. völlig frei von ihnen entwickelt und gezeigt werden kann. Aber diese letzte Voraussetzung bedeutet genau die Schlussfolgerung des oben angegebenen Syllogismus. Wer diesen Syllogismus vorbringt, begeht eine pragmatische petitio principii, d. h.: er setzt die Gültigkeit des Freiheitsbegriffs im performativen Teil seines Sprechakts immer schon voraus, die er versucht, im propositionellen Teil mit seinem Syllogismus abzuleiten. Gegen diesen pragmatisch-reflexiven Nachweis des Freiheitsbegriffs könnte vielleicht der Anhänger des Determinismus noch einen Einwand vorbringen: Es versteht sich nicht von selbst, dass der Determinist beim Affirmieren seiner These frei Stellung nimmt, denn zur Durchführung der sog. pragmatischen Selbstwiderlegung des Determinismus müsste man eine besondere »Theorie des SichEntscheidens« mindestens implizit annehmen, sonst könnte man den Akt der Wahl zwischen zwei vermeintlich offenen Alternativen nicht als frei bzw. spontan interpretieren, sondern als etwas, das aus der Gesamtheit der vorliegenden Bedingungen gesetzmäßig hervorA

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gegangen sein könnte. Dieser Einwand erläutert also, dass die pragmatische Selbstwiderlegung des Determinismus von bestimmten theoretischen Thesen abhängt. Nimmt man diese Thesen über die spontane Entscheidung und gleichzeitig auch die Lehre des Determinismus an, dann widerspricht man sich selbst. Aber lehnt man diese Thesen ab, dann bleibt der Determinismus widerspruchslos. 32 Die Schwierigkeit dieses Einwands besteht darin, dass sie die Diskussion über Freiheit und Notwendigkeit ganz »von außen« berücksichtigt. Wer diesen Einwand vorbringt, will die externe Perspektive eines Beobachters beibehalten bzw. eine unreflexiv theoretische Einstellung. Durch diese Einstellung wird ein Widerspruch möglich nur zwischen zwei Aussagen, z. B.: den jeweiligen Thesen des Determinismus und der Spontaneität der Entscheidung. Diese Einstellung erlaubt aber nicht, eine pragmatische Inkonsistenz innerhalb der Behauptungshandlung der Sprecher zu bemerken, weil diese Inkonsistenz in keinem formalen Widerspruch zwischen zwei behaupteten Aussagen besteht, sondern, wie oben angegeben, in einem Widerspruch zwischen dem Inhalt einer behaupteten Aussage und einer pragmatischen Voraussetzung der Behauptungshandlung. Das Begehen einer pragmatischen Inkonsistenz kann nicht aus der externen Perspektive des Beobachters festgestellt werden, sondern nur aus der reflexiven Perspektive des Mitspielers. 33 Wer den erwähnten Einwand gegen das reflexive Argument der Selbstwiderlegung des Determinismus vorbringt, erhebt einen Geltungsanspruch gegenüber einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft und erkennt die Mitglieder dieser Gemeinschaft als mögliche Partner eines Diskurses über seinen Anspruch an, die ohne extra-argumentativen Einfluss den Anspruch seines Einwands frei einsehen und beurteilen können. Erhebt dieser Kritiker keinen GelVgl. Ulrich Pothast: Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise. Zu einigen Lehrstücken aus der neueren Geschichte von Philosophie und Recht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980, S. 268–272. Zur transzendentalpragmatischen Kritik dieses Buches siehe: Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Argumente gegen den Determinismus. In: ders.: Sprachphilosophie, Hermeneutik, Ethik. Studien zur Transzendentalpragmatik, S. 208–223. Siehe auch dazu: Joseph Boyle/Germain Grisez/Olaf Tollefsen: Free Choice. A Self-referential Argument. Notre Dame: Univ. of. Notre Dame Press, 1976. 33 Zur Unterscheidung dieser zwei Perspektiven siehe: Lewis White Beck: The Actor and the Spectator. New Haven: Yale Univ. Press, 1975. Zum Gebrauch dieser Unterscheidung, um den neurobiologischen Determinismus zu widerlegen, siehe: Jürgen Habermas: Freiheit und Determinismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52, 2004, S. 871–890. 32

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tungsanspruch für seinen Einwand, erkennt er keine letzte Geltungsinstanz an oder schreibt er den Mitgliedern dieser Gemeinschaft keine Fähigkeit zu, um eine freie Einsicht und Beurteilung seines Anspruchs zu üben, dann kann seine Aussage nicht für einen Einwand bzw. für einen Diskursbeitrag zur Lösung des Freiheitsproblems gehalten werden. Am Schluss dieses Abschnitts kann man behaupten, dass die Gültigkeit des als Möglichkeit einer Wahl zwischen Alternativen verstandenen Freiheitsbegriffs eine unvermeidliche und unhintergehbare Argumentationsvoraussetzung ist, die von jedem Argumentierenden immer schon angenommen wird, obwohl er durch seine Argumente versucht, eine Version des Determinismus zu verteidigen oder einen Einwand gegen die reflexive Selbstwiderlegung des Determinismus vorzubringen. Die Gültigkeit des Freiheitsbegriffs muss als eine Bedingung der Möglichkeit der Argumentationshandlung a priori angenommen werden. Die Gültigkeit dieses Begriffs kann nicht ohne performativen Selbstwiderspruch bestritten und ohne pragmatische petitio principii abgeleitet werden. Wer argumentiert, kann sich doch mehr oder weniger seiner Annahme dieser Bedingung bewusst sein. Dieses Bewusstsein hängt von keiner theoretischen Erkenntnis ab, sondern nur von einer strikt 34 reflexiven Anerkennung von den immer schon angenommenen pragmatischen Argumentationsbedingungen.

4.4. Die möglichen Schwierigkeiten des neuen Auflösungsvorschlags Im ersten Abschnitt wurden einige Aspekte der Auflösung der Freiheitsantinomie im Rahmen der klassischen Transzendentalphilosophie Kants rekonstruiert. Dort wurde dargelegt, dass dieser Auflösungsvorschlag sowohl den Satz als auch den Gegensatz der Antinomie als wahr annimmt. Dieser Vorschlag beruht auf dem Unterschied zwischen erkennbaren Phänomenen und unerkennbaren Dingen an sich. Im zweiten Abschnitt wurde dieser Unterschied durch eine reflexiv-pragmatische Sinnkritik der Sprechzeichen als problematisch und die Rede über das prinzipielle »Unerkennbar« als 34 Siehe dazu: Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik.

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sinnlos präsentiert. Nach der Entdeckung dieser Schwierigkeit in dem kantischen Vorschlag wurde die Freiheitsantinomie noch einmal als philosophisches Problem dargestellt. Im dritten Abschnitt wurde ein neuer Auflösungsvorschlag im Rahmen der sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie dargelegt. Nach diesem Vorschlag wird der deterministische Gegensatz der Antinomie widerlegt, ohne das problematische Postulat des Unerkennbaren zu benutzen. Durch diese transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie wird endlich klar, dass wir als Argumentierende gar nicht in der Lage sind, uns zwischen dem Satz und dem Gegensatz der Freiheitsantinomie argumentativ zu entscheiden. In diesem Punkt muss man einen großen Unterschied bzw. eine transzendentale Differenz zwischen unhintergehbaren Argumentationsvoraussetzungen und anderen Aussagen beachten. Handelt der Diskurs von empirischen Hypothesen, konkreten Handlungsvorschlägen oder lebensweltlichen Normen, dann kann und muss man Argumente und Gegenargumente sorgfältig berücksichtigen, einschätzen und abwägen, um sinnvoll diese Diskursbeiträge entweder anzunehmen oder abzulehnen. Zur transzendentalpragmatischen Auflösung der Freiheitsantinomie muss man aber einerseits bemerken, dass der vom Determinismus verteidigte Gegensatz den unvermeidlichen und unhintergehbaren Voraussetzungen der Argumentationshandlungen (z. B.: Argumente berücksichtigen, einschätzen und abwägen) schlechthin widerspricht. Andererseits ist die Ablehnung des Gegensatzes und die Annahme des Satzes der Antinomie eine notwendige Sinnbedingung dieser Argumentationshandlungen. Die Reflexion über die pragmatischen Voraussetzungen der Behauptungshandlungen des Satzes und des Gegensatzes der Freiheitsantinomie führt also zu der Annahme des Satzes als einer notwendig wahren Aussage und der Ablehnung des Gegensatzes als notwendig falscher Aussage bzw. als einem pragmatischen Selbstwiderspruch.35 Diese Schlussfolgerung der transzendentalpragmatischen Auflösung der Freiheitsantinomie scheint aber wegen eines schon von Kant selbst vorgebrachten Einwands problematisch zu werden. Dieser EinDieses Ergebnis der transzendentalpragmatischen Auflösung der Freiheitsantinomie ist genau das Gegenteil der Schlussfolgerung von Strawsons Interpretation: »The thesis, then, is false, the antithesis true«. Peter Strawson: The Bounds of Sense, an Essay on Kant’s Critique of Pure Reason. London: Routlege, 1966, S. 209.

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wand könnte folgendermaßen lauten: Ohne den hier schon sinnkritisch abgelehnten Unterschied zwischen Phänomenen und Dingen an sich würde die Annahme des Satzes der Antinomie die Einheit der Erfahrung zerstören. 36 Diese mögliche Schwierigkeit des transzendentalpragmatischen Vorschlages könnte als das folgende Problem dargestellt werden. Obwohl die Rede des Unerkennbaren zumindest problematisch erscheinen kann, spielt sie eine sehr wichtige Rolle in Kants Vorschlag, nämlich: sie erlaubt, an den Freiheitsbegriff zu denken, ohne eine sinnlose Forderung nach dem unverletzbaren Prinzip der Naturkausalität zu stellen bzw. die zweite Analogie der Erfahrung zu übertreten, die die Einheit der Erfahrungserkenntnis gewährleistet. Wird die Rede des Unerkennbaren durch eine sinnkritische Reflexion abgelehnt und gleichzeitig der Satz einer unbedingten Freiheit behauptet, dann wird die Notwendigkeit der Naturgesetze und der anderen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis schlechthin außer Kraft gesetzt. 37 Wird die Kausalität aus Freiheit an einer intelligiblen bzw. unerkennbaren Welt nicht verbannt, dann wird die Einheit der menschlichen Erfahrung zerstört. Dieses Problem könnte man als Einwand gegen die oben dargelegte transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie geltend machen. Zur Berücksichtigung dieses Problems muss man die Grenzen des kantischen Erfahrungsbegriffs kurz näher betrachten 38 . In der Kritik der reinen Vernunft spielt die Erfahrung eine in mehrfacher Hinsicht wichtige Rolle. Einerseits wird die Erfahrung als synthetische Erkenntnis überhaupt betrachtet, andrerseits ist sie im engeren und strengen Sinn als »objektiv« gültige Erfahrungserkenntnis und in einem ebenso engen und strengen Sinn: die methodisch organisierte Erfahrung der neuzeitlichen Experimentalphysik. In beiden Fällen, die von Kant eigentlich kaum unterschieden wurden, fragt die Transzendentalphilosophie nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und diese Philosophie entdeckt, dass 36 Vgl. KrV, A 445/B 473. Zum apagogischen Beweis der Antithese siehe: Jens Timmermann: Warum scheint transzendentale Freiheit absurd? Eine Notiz zum Beweis für die Antithesis der 3. Antinomie. In: Kant-Studien, 91, 2000, S. 8–16. 37 Vgl. Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Akad. Aus. § 53. 38 Siehe dazu: Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik, S. 56 ff., 296 ff.,; Wolfgang Kuhlmann: Kant und die Transzendentalpragmatik, S. 64 ff.; ders.: Reflexion und kommunikative Erfahrung. S. 23 ff., 42 ff.

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diese Bedingungen ein massiv materiales invariantes Apriori sind, an das die menschliche Erfahrung gebunden ist, nämlich die Formen der sinnlichen Anschauung und die Kategorien des Verstandes. Dieses Apriori als ein fester Rahmen organisiert und lenkt die Perspektive des Erfahrungssubjekts. Dieser Rahmen ist also die gemeinsame Form der Welt der Phänomene bzw. die Natur formaliter genommen, die von dem Erfahrungssubjekt weder kontrolliert noch verbessert werden kann. Dieses Subjekt wird als ein einsames Ich verstanden, dessen Erfahrung nur in einer kognitiven Beziehung zu dem Naturobjekt besteht. Als typischer Vertreter der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit fasst Kant das Subjekt der objektiv gültigen Erfahrung als ein isoliertes »Bewusstsein überhaupt« auf. Diese Erfahrung sei objektiv gültig, weil ihre Bedingungen der Möglichkeit auch die Bedingungen der Möglichkeit ihres Objektes seien bzw. der schon erwähnte, fest invariante Rahmen, der sowohl die Rezeptivität und die Tätigkeiten des Erfahrungssubjekts als auch die Konstitution des Erfahrungsobjekts bedingt. In dieser Auffassung der menschlichen Erfahrung spielt keine konstitutive Rolle die gemeinsame Arbeit von verschiedenen empirischen Subjekten, die versuchen, die Objektivität bzw. Intersubjektivität ihrer Erfahrung mittels sprachlich ausgedrückter Vorschläge und Einwände zu gewährleisten 39 . Es fehlt hier also eine Berücksichtigung der Subjekt-Subjekt-Relation, die so wichtig ist wie die Subjekt-Objekt-Relation für die Konstitution einer objektiv gültigen Erfahrung. Der kantische Erfahrungsbegriff ist also stark verkürzt, weil er die unvermeidliche kommunikative Dimension der Erfahrung schlechthin ignoriert. 40 Es ist wichtig, in dieser Dimension zu verstehen, dass die sinnlichen Wahrnehmungen eines einzelnen Ichs eine bestimmte Bedeutung für ihn haben, die es in einer Aussage ausdrücken und von anderen verstanden werden könnte. Mit dieser Aussage erhebt der Einzelne einen Geltungsanspruch, der von jedem möglichen Diskurspartner bestritten werden könnte. Deshalb hat die sinnliche Erfahrung eines Einzelnen, insofern sie als objektiv gültig und nicht als eine bloß subjektive Illusion verstanden werden kann, eine mindestens virtuell kommunikative Voraussetzung, nämlich: 39 Kant betrachtet die Intersubjektivität als eine nicht a priori konstitutive Dimension der wissenschaftlichen Erfahrung besonders in seiner Kritik der Urteilskraft, §§ 61 ff. 40 Siehe dazu: Wolfgang Kuhlmann: Reflexion und kommunikative Erfahrung, S. 23– 38, 42–70; ders.: Kant und die Transzendentalpragmatik, S. 64–78; Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 56–67, 296–309.

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dass auch jeder andere Einzelne diese Erfahrung haben könnte. Kurz und klar: der kantische Erfahrungsbegriff verabsolutiert die SubjektObjekt-Relation der Erfahrung bzw. die bloß kognitive Auseinandersetzung mit den Sachen und ignoriert völlig die konstitutive Bedeutung der Subjekt-Subjekt-Relation dieser Erfahrung. Nur innerhalb dieser problematischen Auffassung der menschlichen Erfahrung kann der erwähnte Einwand gegen die transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie vorgebracht werden. Wird der Erfahrungsbegriff nur als die Beziehung zwischen einem isolierten Ich und einem durch die Naturkausalität ganz determinierten Objekt verstanden, dann muss die Freiheit aus einer denkbaren, aber unerkennbaren intelligiblen Welt verbannt werden, sonst wäre die Erfahrungseinheit zerstört. Wird der Erfahrungsbegriff hingegen durch die Subjekt-Subjekt-Relation erweitert und ein kommunikativer Erfahrungsbegriff in die Einsicht der Freiheitsantinomie eingefügt, dann bringt die Ablehnung des unerkennbaren Dinges an sich und der reflexive Nachweis des Freiheitsbegriffs als unvermeidliche Argumentationsvoraussetzung keine Zerstörung der Erfahrungseinheit hervor. Die transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie passt also mit einem kommunikativ erweiterten Erfahrungsbegriff zusammen, d. h.: einem Begriff, der erlaubt, sowohl die Subjekt-Objekt-Relation als auch die Subjekt-Subjekt-Relation zu berücksichtigen. Dank dieser Erweiterung des Erfahrungsbegriffs wird deutlich, dass die menschliche Erfahrung nicht nur in sinnlichen Wahrnehmungen von objektiven Naturphänomenen bestehen kann, sondern auch in der sprachlich-kommunikativen Vermittlung dieser Wahrnehmungen bzw. in der möglichen Auseinandersetzung zwischen Zeichenbenutzern über die in der Sprache ausdrückbare Bedeutung ihrer Wahrnehmungen und über die Geltungsansprüche, die von ihnen mit ihren Wahrnehmungsurteilen erhoben und (in the long run) eingelöst werden können. Nur durch die Einfügung dieser kommunikativen Dimension der Erfahrung kann man feststellen, dass die Naturerkenntnis immer schon mit Kommunikation verbunden ist, bzw. mit Tätigkeiten wie z. B.: Fragen stellen, Antworten geben, Probleme aufwerfen, Lösungen vorschlagen, Einwände vorbringen, Argumente und Gegenargumente abwägen, usw. Diese Tätigkeiten, die eigentlich für Bedingungen der objektiven Gültigkeit unserer Wahrnehmungsurteile gehalten werden müssen, können nicht als bloße Naturphänomene A

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betrachtet werden, als ob sie völlig kausal determiniert oder durch objektive Naturgesetze aus Antezedentenbedingungen erklärbar wären. Diese Tätigkeiten sind nicht auf Bewegungen der physischen Welt reduzierbar, weil sie als freie Handlungen nur in der sozialen Sinnwelt verstehbar sind. Das Erfahrungssubjekt wird auf diese Weise nicht mehr als ein einsames »Bewusstsein überhaupt«, das nur durch eine reine Apperzeption sich selbst denken, aber nicht erkennen könnte, berücksichtigt, sondern als die Kommunikationsgemeinschaft, die als pragmatische Sinn- und Geltungsbedingung von jedem möglichen Wahrnehmungsurteil (und Behauptung überhaupt) immer schon vorausgesetzt werden muss. Die Idee der Freiheit wird also eine Sinnbedingung des pragmatisch erweiterten Erfahrungsbegriffs. Durch die Einführung dieses Begriffs kann also der Vorwurf gegen die Erfahrungseinheitszerstörung zurückgewiesen werden. Trotzdem muss man noch einen Einwand, der von einer kantischen Perspektive erhoben werden könnte, gegen die transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie berücksichtigen. Er kann folgendermaßen vorgebracht werden. Trotz der reflexiven Betrachtung der kommunikativen Erfahrung müsse man noch fragen, ob die erwähnte Auflösung zu so etwas wie einer Restauration der vorkritischen »Illusion der Freiheit« führen kann. Durch seine Transzendentale Dialektik und zur Rettung des Freiheitsbegriffs hat Kant diese Illusion denunziert und widerlegt. Diese Illusion besteht in dem von der dogmatischen Metaphysik erhobenen Anspruch, die Freiheit nicht nur als eine bloße Idee der Vernunft zu postulieren, sondern sie auch tatsächlich als etwas Reales in der Welt zu erkennen. Man muss den möglichen Grund dieses Einwandes in diesem Punkt bemerken, nämlich, dass sich ein ähnlicher Anspruch eben aus dem im dritten Abschnitt dargelegten Auflösungsvorschlag ergibt. Wird der Freiheitsbegriff als eine unvermeidliche und unhintergehbare Argumentationsvoraussetzung angenommen, dann muss man gleichzeitig behaupten, dass die Argumentierenden tatsächlich immer schon eine echte Erkenntnis und nicht nur ein bloßes Denken dieses Begriffs haben können. Dieser mögliche Einwand muss ernst genommen werden, weil die Antwort auf die Frage nach dem selbstkritischen oder dogmatischen Charakter der transzendentalpragmatischen Auflösung der Freiheitsantinomie und der Transzendentalpragmatik im Allgemeinen von ihm abhängt 41 . 41

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Zum diesen Dogmatismusvorwurf siehe z. B.: Hans Albert: Transzendentale Träume-

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Zur Replik dieses Einwandes müssen die unterscheidenden Kennzeichnen die von den unhintergehbaren Argumentationsvoraussetzungen gelieferte Erkenntnis berücksichtigen. Es handelt sich um keine empirische Erkenntnis, sondern um etwas, das a priori erkannt werden muss, bzw. eine Erkenntnis, die notwendig, streng allgemein und unabhängig von der möglichen Erfahrung sein muss. Eine transzendentalpragmatische Argumentationsvoraussetzung ist eine Aussage, die man nicht verstehen kann, ohne zu wissen, dass sie wahr ist 42 . Es handelt sich um eine unbestreitbare Erkenntnis, weil sie als Bedingung von jeder möglichen Bestreitenshandlung immer schon vorausgesetzt werden muss. Sie ist also eine nicht fallible Erkenntnis, d. h.: wir als Argumentierende können uns nicht irren, wenn wir eine transzendentalpragmatische Argumentationsvoraussetzung als gültig annehmen, weil sie Bedingung eines jeden sinnvollen Korrekturverfahrens ist. Eine solche Voraussetzung ist etwas, wie oben schon angegeben, das man einerseits ohne pragmatischen Selbstwiderspruch nicht leugnen und ohne pragmatisch-logische Zirkel (petitio principii) deduktiv beweisen kann. Zuletzt kann man auch feststellen, das diese Argumentationsvoraussetzungen die pragmatische Dimension der menschlichen Vernunft konstituieren. Die transzendentalpragmatische Reflexion liefert also eine Erkenntnis, die die folgenden Eigenschaften hat. Sie ist streng allgemein, notwendig, streng unabhängig von Erfahrung, unbestreitbar, nicht fallibel, unableitbar und konstitutiv für die menschliche Vernunft. Ein Anspruch an eine solche Erkenntnis könnte natürlich auf eine Verwandtschaft mit den überschwänglichen Ansprüchen der vorkritischen Metaphysik verweisen. In seiner Transzendentalen Dialektik versucht Kant, zu beweisen, dass diese metaphysischen Ansprüche prinzipiell uneinlösbar sind, weil sie fordern, die menschliche Erkenntnis jenseits der menschlichen Erfahrungsgrenzen zu führen. Bei dem spezifischen Fall der Freiheitsantinomie beansprucht die vorkritische Metaphysik zu erkennen, ob es eine Kausalität aus Freiheit tatsächlich gibt oder nicht. Wer den Satz der Antinomie behauptet, beansprucht, eine echte Erkenntnis der Realität der Freiheit zu haben. Genau in diesem Anspruch besteht die »Illusion der Freirin. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott; ders.: Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft. 42 Siehe dazu: Karl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 164. A

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heit«, die Kant versucht, durch seinen Auflösungsvorschlag zu vermeiden. Zur Bestimmung, ob die transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie sich Illusionen darüber macht, die Realität der Freiheit zu erkennen, muss man nicht nur die Ähnlichkeiten zwischen den Ansprüchen der vorkritischen Metaphysik und der Transzendentalpragmatik berücksichtigen, sondern auch und besonders ihre jeweiligen Unterscheidungsmerkmale. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass die Transzendentalpragmatik keine metaphysische Theorie über die Eigenschaften einer transzendenten bzw. extra-empirischen Welt vorschlägt, sondern eine »Reflexion auf den Diskurs im Diskurs« 43 über die immanente Sinnkonstitution der kommunikativen Erfahrung durchführt. Es handelt sich also nicht um eine metaphysische Erkenntnis über ein vermeintliches Ding an sich, das jenseits der Bedingungen der Möglichkeit der menschlichen Erfahrung liegt, sondern genau um die reflexive Erkenntnis dieser Bedingungen bzw. um etwas, das diesseits der Erfahrung immer schon unvermeidlich vorausgesetzt wird. Wie oben angegeben, verweist der Erfahrungsbegriff, der hier auf dem Spiel steht, nicht nur auf die enge Subjekt-Objekt-Wahrnehmungsrelation, sondern auch und besonders auf die Subjekt-Subjekt-Kommunikationsrelation, die prinzipiell nötig ist, damit ein Einzelner die Bedeutung seiner eigenen sinnlichen Wahrnehmungen als Wahrnehmungen von etwas objektiv verstehen und Wahrnehmungsurteile über sein Erfahrungsobjekt sinnvoll behaupten kann. Deshalb kann klar werden, dass der erwähnte Dogmatismusvorwurf gegen die transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie nicht gemacht werden kann. Diese Auflösung führt doch zur Behauptung der Freiheitsrealität, aber diese Behauptung enthält keine theoretische bzw. dogmatische These über eine vermeintlich übersinnliche Welt, sondern das Resultat einer strikten Reflexion über die soziale Sinnwelt. Der reflexive Nachweis der kommunikativen Realität der Freiheit führt also weder zur Zerstörung der Erfahrungseinheit noch zur Freiheitsillusion, weil sie sowohl die kommunikative Dimension der Erfahrung als auch den Freiheitsbegriff als Argumentationsvoraussetzung zutage treten lässt.

Karl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 179.

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4.5. Freiheitsantinomie und Autonomie im transzendentalpragmatischen Rahmen Bei Kant ist der Freiheitsbegriff – wie die anderen Ideen – etwas, das aus dem metaphysischen Bedürfnis der Vernunft entsteht. Nach der kritischen Begrenzung dieses Begriffs, die sich aus Kants vorgeschlagener Auflösung der Freiheitsantinomie ergibt, hat er einerseits ein spekulatives Interesse für den transzendentalen Vernunftgebrauch bzw. das architektonische Interesse der Vernunft, ein vollständiges System durch die regulative Idee der Totalität der Reihe der Naturbedingungen auffassen zu können. Andererseits ist aber dieses »bloß spekulative Interesse der Vernunft nur sehr gering« 44 , weil die Entdeckungen, die in diesem Bereich gemacht werden könnten, für die empirische Naturforschung völlig unnütz wären. Deshalb wird das praktische Interesse des transzendentalen Freiheitsbegriffs vorrangig. Trotzdem versucht die kantische Auflösung der Freiheitsantinomie, wie oben schon bemerkt, nur die logische Möglichkeit des Freiheitsbegriffs zu liefern und nicht ihre objektive Gültigkeit bzw. die Wirklichkeit seines Objekts zu beweisen. Bei der von Kant vorgeschlagenen Arbeitsteilung der Philosophie entspricht dieser Beweis dem kritischen Kern der praktischen Philosophie bzw. der Kritik der praktischen Vernunft. Wegen der Resultate der schon in der Kritik der reinen Vernunft dargelegten Auflösung der Freiheitsantinomie ist eine echte »transzendentale Deduktion« der objektiven Realität des Freiheitsbegriffs unmöglich. Trotzdem muss sie als notwendiges Postulat der praktischen Vernunft vorausgesetzt werden. Wird die Gültigkeit des moralischen Gesetzes als ein gegebenes »Faktum der reinen Vernunft«, dessen wir uns a priori bewusst sind und welches apodiktisch gewiss ist, angenommen, dann kann die Existenz der Freiheit bei Kant als ratio essendi des moralischen Bewusstseins nachgewiesen werden 45 . Dieses Bewusstsein des moralischen Gesetzes wird umgekehrt der Grund, um die Existenz der menschlichen Freiheit zu postulieren, die ratio cognoscendi der Freiheit. Durch diesen letzten Zug wird das Sollen der Grund zum Postulat des Könnens, d. h.: Obwohl die theoretische Philosophie nur die logische Möglichkeit und nicht die objektive Gültigkeit des Freiheitsbegriffs 44 45

KrV, A 798/B 826 Vgl. KpV, S. 46 ff. A

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nachweisen kann, begründet die Gültigkeitsgewissheit der moralischen Gesetze innerhalb des Bewusstseins die These, welche die Existenz der Freiheit behauptet, im Rahmen der praktischen Philosophie. In diesem Punkt werden weder die Einwände gegen diese monologische Auffassung des »Faktums der reinen Vernunft« 46 , die im Lichte der Gegenwartsphilosophie vorgebracht werden könnten, noch die transzendentalpragmatische Letztbegründung des Sittengesetztes, die die Schwierigkeiten dieser Auffassung überwinden kann, präsentiert. 47 Was hier beachtet werden muss, ist hinsichtlich unserer Problemstellung nur das Folgende. Durch den Übergang von der theoretischen zur praktischen Philosophie werden nicht nur die Frage nach der Freiheit (von ihrer logischen Möglichkeit zu ihrer Existenz) und der Bereich der Freiheitsproblematik (vom kosmologischen zum moralischen Bereich) verändert, sondern auch die Bedeutung des Freiheitsbegriffs. 48 Die theoretische Philosophie setzt die Bedeutung dieses Begriffs als transzendentale Freiheit mit der Idee der Spontaneität bzw. der absoluten Selbsttätigkeit gleich. Diese ist, wie oben angegeben, die Freiheit eines intelligiblen Charakters, der völlig unabhängig von den Bedingungen der Naturwelt eine Reihe bzw. kausale Kette von Erscheinungen von selbst anfangen kann. In der praktischen Philosophie wird die Bedeutung des Freiheitsbegriffs durch die Idee der Autonomie des menschlichen Willens präzisiert. Die reine Vernunft wird praktisch, wenn sie den Willen durch das moralische Gesetz bestimmen kann. Das bedeutet aber nicht nur, Auch die ethische Auffassung von Jürgen Habermas muss eine Version der kantischen Lehre des »Faktums der Vernunft« annehmen. Siehe dazu: Klaus Keul: Subjektivität und Intersubjektivität zum Freiheitsbegriff bei Kant und Habermas. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 50, 2002, S. 69–86: 83. 47 Siehe unten 6.2. Vgl.: Karl-Otto Apel: Das Problem der Begründung einer Verantwortungsethik im Zeitalter der Wissenschaft. In: E. Braun (Hrsg.): Wissenschaft und Ethik. Frankfurt a. M., 1986, S. 11–52; ders.: Grenzen der Diskursethik? In: Zeitschrift für philosophische Forschung, 40, 1986, S. 3–31; Wolfgang Kuhlmann: Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich? In: Apel, K.-O./Böhler, D./Kadelbach, G. (Hrsg.): Funkkolleg praktische Philosophie/Ethik: Studientexte. Bd. II, S. 572–605; ders: Ethikbegründung – empirisch oder transzendentalphilosophisch? In: ders.: Sprachphilosophie, Hermeneutik, Ethik. Studien zur Transzendentalpragmatik, S. 176–207. 48 Siehe dazu: Lewis White Beck: Five Concepts of Freedom in Kant. In: Srzednick, J. T. (Hrsg.): Philosophical Analysis and Reconstruction. (Festschrift für Stephan Körner). Dordrecht: Springer, 1987, S. 35–51. 46

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dass der menschliche Wille unabhängig von den fremden Kausalgesetzen der Naturwelt ist, sondern auch, dass der Mensch als vernünftiges Wesen sein eigener Gesetzgeber sein kann. Nach Kants ethischer Auffassung erschöpft die Bedeutung des Freiheitsbegriffs sich nicht in der Idee der bloßen Unabhängigkeit von einer fremden Gesetzgebung. Sie besteht auch in einer Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft bzw. in ihrer Autonomie 49. Im Rahmen des vorliegenden Kapitels ist die Frage nach der moralischen Autonomie in folgender Hinsicht relevant. Die Auflösung der Freiheitsantinomie, die Kant in seiner spekulativen Philosophie durchführt, erlaubt, den Autonomiebegriff in seiner praktischen Philosophie einzuführen. Aber ob die oben im dritten Abschnitt vorgeschlagene Auflösung der Freiheitsantinomie auch erlaubt, diesen Begriff in eine transzendentalpragmatisch transformierte Ethik zu übernehmen, ist nach den schon dargelegten Erläuterungen vielleicht noch nicht klar. Zur Antwort auf diese Frage kann ein aussichtsreicher Weg ein schon erwähnter Aspekt der als Argumentationsvoraussetzung nachgewiesene Freiheitsbegriff, also seine Notwendigkeit sein. Es handelt sich also nicht um eine geschichtliche Bedingung, die von dem sozialen bzw. kulturellen Kontext einer partikularen Argumentationshandlung abhängen würde, oder um eine kontingente Unterstellung, die von den Argumentierenden willkürlich verleugnet werden könnte, sondern um eine unvermeidliche Voraussetzung, die nur bei Strafe des performativen Selbstwiderspruchs der Behauptungshandlung abgelehnt werden könnte. Die Notwendigkeit dieser Art von Argumentationsvoraussetzungen bedeutet, dass sie für Grundnormen der Vernunft nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie gehalten werden müssen. Als Grundnorm fordert der Freiheitsbegriff anzuerkennen, dass jeder mögliche Diskurspartner unsere Geltungsansprüche ganz unabhängig von extra-diskursivem Einfluss argumentativ beurteilen und kritisieren kann, d. h. sie fordert die verbindliche Anerkennung der Freiheit unserer möglichen Diskurspartner. Diese Norm ist nicht etwas, das jemand als Argumentierender sinnvoll verletzen könnte, weil die Argumentierenden als solche sie immer schon und a priori einhalten müssen. Wie die anderen unvermeidlichen und unhinter49 Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akad.-Ausg., S. 440 ff.; Gerold Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1983.

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gehbaren Argumentationsvoraussetzungen, die durch eine strikte Reflexion über die performative Dimension der Sprechhandlung nachgewiesen werden können, ist die Anerkennung der Freiheit des Adressaten in den Termini Kants ein Gesetz, das von der praktischen Vernunft sowohl erlassen als auch befolgt wird, d. h.: ein Gesetz, durch das der Mensch seine Autonomie erreichen und erhalten kann. Die Frage nach der Autonomie bzw. der Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft im Rahmen der transzendentalpragmatischen Rekonstruktion des Freiheitsbegriffs als Argumentationsvoraussetzung verweist also auf eine sinnkritische Transformation ihrer Beziehung zu der Spontaneität der Willkür 50. Werden die normativen Voraussetzungen, die von den Argumentierenden immer schon als unbestreitbar angenommen werden müssen, für Grundnormen bzw. Metanormen der transzendentalpragmatisch transformierten praktischen Vernunft gehalten, dann könnte man fragen, ob der menschliche Wille diese Normen nicht sinnvoll beachten oder verändern kann. Die Frage nach der Beziehung zwischen Autonomie und Willkür kann also folgendermaßen gestellt werden: Durch ein sinnkritisch reflexives Argument wurde oben schon nachgewiesen, dass die Urteilskraft der Argumentierenden von physischen, psychischen oder sozialen Bedingungen nicht determiniert werden kann. Die entscheidende Frage ist also die folgende: Wenn die Argumentierenden von diesen extra-argumentativen Bedingungen ganz frei sind, warum sind sie dann unfähig, die pragmatischen Sinnbedingungen ihrer eigenen Argumentationshandlung willkürlich zu etablieren? Ist die Spontaneität des menschlichen Willens etwa unabhängig genug, um seine Sinnbedingungen völlig frei zu wählen? Gegen den transzendentalpragmatischen Nachweis des unhintergehbaren und unbestreitbaren Charakters der Argumentationsvoraussetzungen wurden die folgenden Einwände in Bezug auf das Verhältnis zwischen spontaner Willkür und autonomem Willen vorgebracht. Der erste Einwand lautet: Es ist nicht klar, »dass man akzeptieren muss, was man voraussetzt. Vielmehr kann jemand in dem Moment, in dem man ihn auf die ›Voraussetzungen‹ seiner Argumentation aufmerksam macht, diese revidieren. Jedenfalls dürfte die pragmatische Regel akzeptabel sein, dass man seinen Standpunkt revidieren darf, wenn man erst später merkt, ›auf was man sich ein50

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Vgl. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Akad. Aus 6, S. 213–214: 226.

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gelassen hat‹.« 51 Dieser Einwand beruht also auf dem Unterschied zwischen Voraussetzen und Annehmen, weil »die Tatsache des Voraussetzens nicht bereits hinreichender Grund für die Annahme des Vorausgesetzten sein muss«. 52 Nach diesem Einwand sind die pragmatischen Argumentationsvoraussetzungen, die durch eine sinnkritische Reflexion zutage treten können, etwas, das die Argumentierenden bloß faktisch unterstellen, aber nicht notwendigerweise annehmen müssen. Ganz im Gegenteil wäre die reflexive Entdeckung dieser Voraussetzungen für die Argumentierenden eine gute Gelegenheit, um nach freier Einsicht entscheiden zu können, ob sie diese Voraussetzungen annehmen oder ablehnen wollen. Die Argumentierenden könnten sich auf diese Weise das Recht vorbehalten, ihre Argumentationsvoraussetzungen willkürlich anzunehmen oder abzulehnen. Der zweite Einwand versucht auch, die Freiheit der Argumentierenden vor der transzendentalpragmatischen Notwendigkeit der Argumentationsvoraussetzungen zu retten: »Apel und Habermas beschuldigen ihre Gegner der performativen Selbstwidersprüchlichkeit. Aber die Voraussetzungen, gegen die angeblich mit verschiedenen Handlungen verstoßen wird, können stets vom Agenten widerrufen werden. Er wird vielleicht eine andere Darstellung davon anbieten, was er tut, als diejenige, die jene anbieten, die ihn beschuldigen. Er wird vielleicht sagen, dass er besser weiß als seine Anschuldiger, was er voraussetzt und was nicht.« 53

Die Argumentierenden wären also nach diesem zweiten Einwand ganz frei, um die Bedeutung ihrer Argumentationsvoraussetzungen zu bestimmen bzw. die beliebige Darstellung von ihnen willkürlich zu postulieren. Dieser Einwand stellt die Argumentationsvoraussetzungen mit expliziten Konventionen gleich, die die Zeichenbenutzer frei feststellen oder verändern können, und hält die transzendentale 51 Carl Friedrich Gethmann/Reiner Hegselmann: Das Problem der Begründung zwischen Dezisionismus und Fundamentalismus. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, VIII, 2, 1977, S. 342–368: 350. Vgl. Hans Albert: Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott, S. 139. 52 Carl Friedrich Gethmann/Reiner Hegselmann: Das Problem der Begründung zwischen Dezisionismus und Fundamentalismus, S. 342–368: 351. 53 Richard Rorty: Sind Aussagen universelle Geltungsansprüche? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 42, 6, 1994, S. 975–988, bes. 977–978; ders.: Universality and Truth; Response to Habermas. In: Brandom, R. (Hrsg.): Rorty and his Critics. Malden, Mass.[u. a.]: Blackwell, 2000, S. 1–30, 56–64.

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Differenz zwischen falsifizierbaren Aussagen und unbestreitbaren Präsuppositionen für eine »bedauerliche Wiederkehr des Essentialismus« 54 . Die Replik auf diese Einwände ist besonders wichtig, um wissen zu können, ob durch die sinnkritische Reflexion über die Argumentationsvoraussetzungen etwas mehr als die Willkürspontaneität der Argumentierenden entdeckt werden kann, nämlich die Willensautonomie, bzw. die Willensfähigkeit durch eine Selbstgesetzgebung der Vernunft zu bestimmen. Zur genauen Betrachtung dieser Einwände muss man nicht die theoretische Perspektive eines externen Beobachters übernehmen, sondern die reflexive Perspektive der Mitspieler. So kann man feststellen, dass es doch viele empirische und kontingente Unterstellungen gibt, die wir als Sprecher unbemerkt und unbewusst faktisch voraussetzen, und wenn wir sie später entdecken, können und müssen wir sie revidieren oder als unrichtig bzw. ungültig schlechthin ablehnen. Diese kontingenten Unterstellungen können »Vorurteile« genannt werden 55 . Für alle Vorurteile gilt der Unterschied zwischen sie vorauszusetzen oder sie anzunehmen. Handelt es sich um Vorurteile, dann ist die Tatsache des Voraussetzens kein hinreichender Grund für die Annahme des Vorausgesetzten. Zur Feststellung, ob eine Voraussetzung ein bloßes Vorurteil ist oder nicht, muss man einfach probieren, ob es möglich ist, sie sinnvoll zu bestreiten bzw. abzulehnen. Diese reflexive Prüfung ist nützlich für die Feststellung, dass es besondere Voraussetzungen bzw. eben transzendentalpragmatische Argumentationsvoraussetzungen gibt, die Bedingungen der Möglichkeit der argumentativen Sprechhandlungen sind. Beispiele dieser Handlungen sind Revidieren, Ablehnen oder Annehmen einer bestimmten Aussage aufgrund von Argumenten. Die erwähnte kritische Prüfung stößt einfach an ihre eigenen Richard Rorty: Sind Aussagen universelle Geltungsansprüche? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 42 (1994), S. 975–988: 982. Zu dieser Differenz siehe: Karl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 163 ff. Zum Essentialismusvorwurf siehe unten 5.2. 55 Vgl. Andreas Dorschel: Vorgriffe. Über Präsumptionen, Präsuppositionen und Vorurteile. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 85, 2002, S. 83–100. Zu verschiedenen Arten von Präsuppositionen siehe: Alexander Ulfig: Präsuppositionen und Hintergrundwissen. Eine Kritik an formalpragmatischen Präsuppositionsbegriff. In: Preyer, G. [u. a.] (Hrsg.): Intention – Bedeutung – Kommunikation. Kognitive und handlungstheoretische Grundlagen der Sprachtheorie. Opladen: Westdt. Verl., 1997, S. 321- 343. 54

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konstitutiven Grenzen, wenn man versucht, ihre eigenen Sinnbedingungen auch kritisch zu überprüfen. Wer seine Vorurteile argumentativ revidieren will, um bestimmen zu können, ob er sie vernünftig annehmen oder ablehnen muss, muss von vornherein bestimmte unvermeidliche Voraussetzungen dieses Revisionsprozesses immer schon als gültig annehmen, z. B.: »Wer argumentiert, muss die Gleichberechtigung jedes möglichen Argumentationspartners prinzipiell anerkennen, der seine Argumente durch Gegenargumente kritisieren darf«; »Wer eine These mit Argumenten verteidigt, beansprucht, dass jeder mögliche Argumentationspartner die Gültigkeit seiner These anerkennen muss«; »Wer argumentiert, muss die einstimmige Zustimmung jedes möglichen Argumentationspartners als letzte Instanz für die Einlösung seiner Geltungsansprüche anerkennen.« 56 Wer versucht, diese pragmatischen Argumentationsvoraussetzungen zu revidieren, muss sie gleichzeitig als gültig annehmen und, wie oben schon gesagt wurde, wer sie verleugnet, verwickelt sich in einen pragmatischen Selbstwiderspruch, weil diese Voraussetzungen keine bloßen Konventionen sind, die völlig willkürlich festgesetzt, revidiert oder abgelehnt werden könnten, sondern Sinnbedingungen, die diesseits von jedem sinnvollen Revisionsprozess liegen. Um das zu bestätigen, muss man einfach probieren, d. h.: versuchen, sie ohne performativen Selbstwiderspruch zu bestreiten und ohne pragmatische petitio principii abzuleiten. Zur Einsicht der Frage nach dem Anspruch, den Agenten bzw. den Argumentierenden ihre eigene Darstellung von ihren Sprechhandlungen anbieten zu können, muss man das Folgende beachten. Einerseits ist dieser Anspruch richtig, insofern das Wissen über die Argumentationsvoraussetzungen ursprünglich für ein implizites know how der Argumentierenden gehalten werden muss. Nur der Sprecher kann in diesem Sinne z. B. die illokutionäre Kraft seiner eigenen Sprechhandlungen explizit ausdrücken, falls einer seiner Adressaten nicht verstehen kann, ob es sich z. B. um eine Frage, eine Wette, ein Versprechen, eine Voraussage oder ein Geständnis han56 Siehe oben 1.3. Zu anderen Beispielen siehe: Karl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 159–160; Matthias Kettner: Ansatz zu einer Taxonomie performativer Selbswidersprüche. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl Otto Apel, S. 187– 211.

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delt. Auch wenn es für den Adressaten nicht klar ist, was für ein Geltungsanspruch vom Sprecher erhoben wird, kann dieser immer explizit darstellen, ob er meint, z. B. dass seine Aussage wahr oder moralisch richtig ist. Diese Darstellung kann nur vom Sprecher im Dialog geliefert werden, weil nur er weiß, was für eine Sprechhandlung er durchführen will und was für einen Geltungsanspruch er mit seiner Sprechhandlung erheben will. 57 Deshalb hat der Sprecher in dieser Hinsicht eine privilegierte zugängliche Perspektive zu seinen eigenen Sprechhandlungen. Andererseits muss die von dem Agenten bzw. dem Sprecher angebotene Darstellung von seiner Handlung aber pragmatisch konsistent bzw. nicht widersprüchlich sein. In diesem Punkt kann eben diese Selbstdarstellung mit den intersubjektiven Sinnbedingungen seiner Sprechhandlung zusammenstoßen, weil nur unter diesen Bedingungen eine Sprechhandlung von den möglichen Adressaten als solche verstanden werden kann. Ein Sprecher kann und muss gegebenenfalls z. B. seinem Adressaten erklären, dass seine Aussage ein Lösungsvorschlag eines durch argumentativen Diskurs zu untersuchenden philosophischen Problems und nicht eine Wette war, aber er kann nicht sinnvoll zu seiner Erklärung hinzufügen, dass er nicht bereit ist, Einwände zu bekommen oder Gründe zu geben, oder dass er nur die von seinen Nachbarn vorgebrachten Einwände berücksichtigen wird. Hier stößt seine Darstellung von seiner Sprechhandlung mit den intersubjektiven Sinnbedingungen der Behauptung eines Lösungsvorschlags zusammen, nämlich: wer einen Lösungsvorschlag eines philosophischen Problems als Diskursbeitrag behauptet, erhebt mit seiner Behauptung einen universellen Geltungsanspruch, d. h.: er erkennt das Recht von jedem möglichen Diskurspartner an, von ihm Gründe zu fordern und seinen Anspruch bestreiten zu können. Bestreitet jemand diese konstitutive Sinnbedingung, dann verstrickt er sich in einen performativen Selbstwiderspruch. Als Schlussfolgerung dieses Abschnitts kann also behauptet werden, dass die Spontaneität der menschlichen Handlung, die oben durch ein strikt reflexives Argument nachgewiesen wurde, nur eine unter anderen pragmatischen Sinnbedingungen der Argumentation ist, die in jedem sinnvollen Diskursbeitrag mindestens implizit, aber Kann ein Sprecher die illokutionäre Kraft seiner Sprechhandlung im Falle eines Missverständnisses nicht explizieren, dann hat er keine verstehbare Sprechhandlung durchgeführt, d. h.: seine Aussage ist kein Diskursbeitrag. Siehe oben: 2.4.

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Transzendentalpragmatik und Freiheitsbegriff

unvermeidlich vorausgesetzt werden muss. Die menschliche Willkür kann sich nicht sinnvoll gegen diese Bedingungen wenden. Sie erlauben, die Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft nicht als ein bloßes Faktum aufzufassen, das prinzipiell nicht begründet werden kann, sondern als etwas, das durch letztbegründete Argumentationsvoraussetzungen diskursiv vermittelt ist. 58

4.6. Transzendentalpragmatik und Freiheitsbegriff Aus der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie folgt eine neue Einstellung, um die traditionellen Fragen der Philosophie noch einmal zu stellen und zu versuchen, sie noch einmal zu beantworten. Im postmetaphysischen Rahmen der sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie können die Fragen nach dem Freiheitsbegriff nicht mehr als kosmologische Probleme mit praktischen Folgerungen, wie bei Kant, gestellt werden, sondern von vornherein als ein handlungstheoretisches bzw. handlungsreflexives Problem, insofern die menschliche Handlung im Allgemeinen durch einen argumentativen Diskurs koordiniert, orientiert und gerechtfertigt werden kann. Dieser Diskurs bzw. argumentative Dialog setzt notwendigerweise den Freiheitsbegriff auf zweierlei Art voraus: einerseits als Spontaneität, bzw. als die von extraargumentativen Faktoren unabhängige Fähigkeit, zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten zu wählen, und andererseits als Autonomie, bzw. die Fähigkeit der argumentativen Vernunft, sich nach selbstgesetzgebenden Gesetzen zu verhalten. Die kantische Frage nach der Möglichkeit, allen vernünftigen Wesen das Vermögen einer spontanen Handlung zuzuschreiben, kann im postmetaphysischen Rahmen der Transzendentalpragmatik nicht einmal gestellt werden, weil dieses »Vermögen« als unvermeidliche Voraussetzung der argumentativen Kompetenz jedes möglichen Adressaten dieser Fragestellung selbst (und auch aller Fragestellungen allgemein) immer schon zugeschrieben ist. Die Verantwortung der Sprecher für ihre Sprechhandlungen ist eine Voraussetzung dieser Handlung, die sowohl der Sprecher als auch der Adressat bei Strafe von pragmatischer Inkonsistenz annehmen muss. Deshalb kann der mögliche Widerspruch zwischen Naturnotwendigkeit und 58

Siehe unten Kapitel 6. A

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Die transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie

Freiheit, den die kantische Auflösung der dritten Antinomie zu überwinden versucht, nicht innerhalb einer transzendentalpragmatischen Einstellung erscheinen. Die kausal-analytischen Erklärungen der menschlichen Handlungen, die aus einer externen bzw. quasi- nomologischen Perspektive vorgebracht werden können, sind kein Beweis von dem vermeintlich determinierten Charakter dieser Handlungen, weil diese Erklärungen eben in Sprechhandlungen bestehen, die die für den Adressaten geübte freie Einsicht implizit, aber notwendigerweise voraussetzen. In dem transzendentalpragmatischen Rahmen braucht man also über das unverletzbare Prinzip der Naturkausalität, das nach der zweiten Analogie der Erfahrung alle Phänomene und deswegen auch die menschlichen Handlungen als bloße Phänomene regieren würde, nicht zu reden, weil die einzige Notwendigkeit auf der internen Seite der freien Sprechhandlungen hier steht, nämlich die Notwendigkeit der Sinnbedingungen, die die Konstitution dieser Handlungen als verstehbare Handlungen bestimmen. Aus Kants Auflösung der Freiheitsantinomie ergibt sich die Möglichkeit, die menschliche Handlung aus zwei verschiedenen Perspektiven zu berücksichtigen: einerseits als Wirkung einer sinnlichen Ursache, die sie erklärt, andererseits als Wirkung einer intelligiblen Ursache, die erlaubt, sie als eine von dem Handlungssubjekt frei entschiedene Handlung zu sehen. Das problematische Postulat dieser intelligiblen bzw. unerkennbaren Ursache, die diese zweite Perspektive enthält, braucht man nicht im Rahmen der transzendentalpragmatischen Auflösung der Freiheitsantinomie zu behaupten. In diesem Rahmen eröffnet sich auch die Möglichkeit von zwei Perspektiven über die menschliche Handlung, aber keine von dieser fordert, die Rede des Unerkennbaren zu halten. Einerseits gibt es die externe Perspektive, die sich dafür interessiert, die menschliche Handlung aufgrund von quasi-nomologischen Hypothesen und Antezedenzbedingungen als Naturobjekt zu erklären. Diese Perspektive des distanzierten Beobachters entspricht Kants einseitiger Auffassung der Erfahrungserkenntnis, d. h.: einer Auffassung, die nur die Subjekt-Objekt-Dimension der Erfahrung berücksichtigt. Sie besteht in der Einstellung der quasi-nomologischen Sozialwissenschaften, die vielleicht innerhalb begrenzter Bereiche und für bestimmte Zwecke völlig richtig sein kann, und beruht auf einer methodischen Abstraktion, die die kommunikative Dimension der Erfahrungserkenntnis bzw. die Subjekt-Subjekt-Relation schlechthin 200

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Transzendentalpragmatik und Freiheitsbegriff

ignoriert. Wegen dieser Abstraktion verhindert die externe bzw. unreflexive Perspektive des Beobachters, die philosophischen Fragen nach der menschlichen Handlung sinnvoll bzw. ohne Paradoxe zu verstehen, z. B.: die Frage nach der Handlungsfreiheit. 59 Um diese Fragen zu beantworten, muss man die menschliche Handlung aus der Perspektive des Mitspielers berücksichtigen. Sie erlaubt, den Erfahrungsbegriff auch durch die kommunikative Subjekt-Subjekt-Relation aufzufassen. Diese intersubjektive Dimension der objektiven Erfahrung setzt von vornherein die Gültigkeit des Freiheitsbegriffs voraus. Wird diese transzendentalpragmatische Transformation der Transzendentalphilosophie angenommen, dann braucht man nicht mehr den problematischen Begriff einer unerkennbaren bzw. intelligiblen und zeitfreien Ursache zu postulieren, um die Gültigkeit des Freiheitsbegriffs zu retten. Durch den Übergang von der klassischen zu der pragmatischen Auflösung der Freiheitsantinomie kann man auch die Auffassung einer monologischen und sprachlosen Apperzeption, durch die das Erkenntnissubjekt als ein unerkennbares Noumenon sich selbst betrachten könnte, überwinden. Jetzt kann der Freiheitsbegriff als ein wesentlicher Bestandteil des Sich-Wissens der Argumentierenden expliziert werden, d. h. als eine von den Argumentierenden immer schon angenommene und reflexiv erkennbare Voraussetzung ihrer Argumentationshandlungen.

59 Siehe dazu: Jürgen Habermas: Freiheit und Determinismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 52, 2004, S. 871–890; Birgit Sandkaulen: System und Systemkritik. Überlegungen zur gegenwärtigen Bedeutung eines fundamentalen Problemzusammenhangs. In: ders. (Hrsg.): System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, S. 11–34: 17 ff.

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5. Ein sinnkritischer Realitätsbegriff

In den vorigen Kapiteln wurden allgemeine Aspekte unseres performativen Handlungswissens sinnkritisch, reflexiv bzw. transzendentalpragmatisch erforscht. In diesem und den folgenden Kapiteln orientiert sich unsere Erforschung an dem bei jeder Sprechhandlung erhobenen Gültigkeitsanspruch. Wie oben schon angegeben wurde, werden unsere sinnvollen Handlungen notwendigerweise von einem impliziten Wissen begleitet. 1 Dieses Wissen enthält eine Architektonik der Gültigkeitsansprüche und der dazugehörigen Weltbezüge. Bei jeder Sprechhandlung und auch bei jeder Handlung im Allgemeinen erheben wir mindestens (implizit und unter anderem) einen Wahrheitsanspruch mit Bezug auf die objektive Naturwelt. 2 Bestimmte Sprechhandlungen sind Beiträge eines naturwissenschaftlichen Forschungsprozesses. Dieser Prozess strebt das Ziel an, wahre Erkenntnis über diese Welt zu erreichen. Die Frage ist aber, wie dieses Ziel verstanden werden muss. Die klassische Transzendentalphilosophie hielt dieses Ziel für eine regulative Idee. Die kritisch rationalistische Forschungslogik erhebt einen Essentialismusvorwurf gegen ein metaphysisches Verständnis dieses Ziels. Der gegenwärtige Pragmatismusstreit hat eben die Frage nach dem Sinn des Forschungsziels rehabilitiert. In diesem Kapitel wird der in unserem performativen Handlungswissen implizite Begriff dieser Welt sinnkritisch erforscht. Die Absicht dieser Erforschung besteht darin zu bestimmen, welche Bedingungen eine philosophische Auffassung der Naturwelt erfüllen muss, um den notwendigen pragmatischen Voraussetzungen unserer Sprechhandlungen nicht zu widersprechen. Um diese Absicht zu verwirklichen, wird zuerst versucht, einige Aspekte der kantschen Deduktion der regulativen Ideen kurz zu rekonstruieren (5.1.). Danach wird der erwähnte Vorwurf des dogmatischen Essentialismus, der Karl Popper gegenüber der Idee einer »letzten Erklärung« gemacht 1 2

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Siehe oben: 2.3 und 2.4. Siehe oben: 3.6.

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Die kantische Deduktion der regulativen Ideen

wurde, präsentiert (5.2.), um nachweisen zu können, dass Popper sich nicht mit einem möglichen Verständnis der Idee der »letzten Meinung« beschäftigt hat, sowohl wegen des historisch-philosophischen Kontextes seiner Argumentation als auch wegen der erkenntnistheoretischen und metaphysischen Unterstellungen seiner Auffassung (5.3.). Durch die Analyse von zwei Aufsätzen von Peirce wird seine Idee der »letzten Meinung« (ultimate opinion) innerhalb seiner sinnkritischen Forschungslogik präsentiert (5.4.). Bestimmte Aspekte des gegenwärtigen Pragmatismusstreits über die Bedeutung und die Funktion der regulativen Ideen werden berücksichtigt, um den Begriff eines sinnkritischen Realismus im Lichte einer transzendentalen Erforschung unseres performativen Handlungswissens zu erklären (5.5.). Zuletzt wird die Beziehung zwischen dieser Art von Realismus und dem regulativen Begriff eines letzten Konsenses näher betrachtet (5.6.).

5.1. Die kantische Deduktion der regulativen Ideen In der gegenwärtigen Auseinandersetzung über die objektive Erkenntnis der Naturwelt im Rahmen einer pragmatischen Auffassung des Realitäts- und des Wahrheitsbegriffs spielt ein Begriff, der von der kritischen Philosophie Kants abstammt, eine bedeutsame Rolle. Dieser Begriff ist nicht die Vorstellung der Spaltung des Realitätsbegriffs in zwei Dimensionen bzw. die erkennbare Natur und die unerkennbare Welt, sondern der Begriff der regulativen Ideen. Dieser kantsche Begriff schreibt den reinen Vernunftprinzipien die immanente Funktion zu, die naturwissenschaftliche Forschungsarbeit zu lenken. Im »Anhang der transzendentalen Dialektik« versucht Kant durch eine besondere transzendentale Deduktion diese Funktion zu rechtfertigen 3 . Eine kurze Rekonstruktion dieser Deduktion kann also nützlich sein, um manche Aspekte der erwähnten Auseinandersetzung in Bezug auf unsere Problematik des performativen Handlungswissens erklären zu können. Es ist schon gut bekannt, dass Kant zwei verschiedene Funktionen der Vernunftbegriffe unterscheidet, nämlich einen dogmatischen, transzendenten und einen kritischen, immanenten Gebrauch. Beide stammen von dem »natürlichen Hang« der menschlichen Ver3

Vgl. KrV, A 642/B 670-A 704/B 732. A

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Ein sinnkritischer Realitätsbegriff

nunft zum Unbedingten bzw. von dem Hang, die Grenze der möglichen Erfahrung zu überschreiten. Der erste wird aber durch die kritischen Beweise der transzendentalen Dialektik als illegitim abgelehnt, weil er »eine Erweiterung unserer Erkenntnis über alle Grenzen der Erfahrung hinaus« verlangt. 4 Der zweite wird hingegen als ein unentbehrliches Element der naturwissenschaftlichen Forschungstätigkeit anerkannt. »Also werden die transzendentalen Ideen allem Vermuten nach ihren guten und folglich immanenten Gebrauch haben, […] Denn nicht die Idee an sich selbst, sondern bloß ihr Gebrauch kann, entweder in Ansehung der gesamten möglichen Erfahrung überfliegend (transzendent) oder einheimisch (immanent) sein, nachdem man sie entweder geradezu auf einen ihr vermeintlich entsprechenden Gegenstand, oder nur auf den Verstandesgebrauch überhaupt, in Ansehung der Gegenstände, mit welchen er zu tun hat, richtet, und alle Fehler der Subreption sind jederzeit einem Mangel der Urteilskraft, niemals aber dem Verstande oder der Vernunft zuzuschreiben.« 5

Nach der kritischen Widerlegung der Ansprüche der dogmatischen Metaphysik kann also die Transzendentalphilosophie einen legitimen Gebrauch der Vernunftbegriffe rechtfertigen. Diese Rechtfertigung muss nachweisen, dass diese Begriffe bloß formale Bedingungen einer möglichen Erfahrung ausdrücken und nur eine immanente Gültigkeit haben, »d. i., sie beziehen sich lediglich auf Gegenstände empirischer Erkenntnis, oder Erscheinungen«. 6 Der legitime Gebrauch der Vernunftbegriffe muss also zwei nur scheinbar gegensätzliche Bedingungen erfüllen. Er muss einerseits vom natürlichen Hang der menschlichen Vernunft zum Unbedingten profitieren und andererseits die Grenzen der möglichen Erfahrung respektieren. Die Erfüllung dieser Bedingungen wird möglich durch ein ergänzendes Zusammenspiel der Verstandeshandlungen und der Vernunfthandlungen. Die spontanen Verstandeshandlungen bestehen darin, die in sinnlichen Anschauungen gegebene Mannigfaltigkeit durch die reinen Verstandesbegriffe bzw. Kategorien zu verbinden. Das Resultat

KrV, A637-B665. »Nun ist, nach unseren obigen Beweisen, alle synthetische Erkenntnis a priori nun dadurch möglich, dass sie die formalen Bedingungen einer möglichen Erfahrung ausdrückt, und alle Grundsätze sind also nur von immanenter Gültigkeit«: KrV, A638/B666. 5 KrV, A 643/B 671. 6 KrV, A 638/B 666: 4

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Die kantische Deduktion der regulativen Ideen

dieser Handlungen ist der Erfahrungsgegenstand, der durch empirische bzw. partikulare Begriffe erkannt werden kann. Diese Handlungen können aber nicht diese Begriffe in einer systematischen Einheit organisieren, weil der Verstand eine Vorstellung des Ganzen entbehrt. Deshalb muss die Vernunft durch ihre Handlungen die konstitutiven Operationen des Verstandes ergänzen. Sie vereinigt das Mannigfaltige der partikularen bzw. empirischen Begriffe »durch Ideen, indem sie eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlungen setzt«. 7 Die Ideen, durch die die menschliche Vernunft handelt, haben keinen konstitutiven Gebrauch. »Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlichnotwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einem Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.« 8

Die Vernunft lenkt also die vom Verstand durchgeführte empirische Forschungsarbeit, weil sie die Idee einer kollektiven Einheit liefert. Diese Einheit besteht in der formallogischen Vorstellung einer Klassifikation der empirischen Begriffe in Arten und Gattungen und fungiert als Ziel der Richtungslinien der Verstandeshandlungen. Auf diese Weise liefert der natürliche Hang der menschlichen Vernunft zum Unbedingt einer unbestimmten Idee der systematischen Einheit der möglichen Erfahrungserkenntnis, die die logische Ordnung bzw. »die größte Einheit neben der größten Ausbreitung« dieser Erkenntnis ermöglicht. Die Vernunft bringt also durch ihre Ideen ein transzendentales Prinzip, unter dem die Mannigfaltigkeit der empirischen Begriffe systematisch vereinigt werden kann. Die regulative Funktion der Ideen besteht also darin, dass die formallogischen Regeln der Klassifikation der empirischen Begriffe in den entsprechenden Arten und Gattungen als heuristische Maxime in der naturwissenschaftlichen Forschung angewendet werden können und müssen. Diese Anwendung fordert, die heterogene Mannigfaltigkeit der Natur unter wenigen erklärenden Hypothesen

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KrV, A 644/B 672. KrV, A 644/B 672. A

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zu subsumieren, d. h.: das traditionelle ökonomische Prinzip: entia praeter necessitatem non esse multiplicanda. 9 »Die Vernunft bereitet also dem Verstande sein Feld, 1. durch ein Prinzip der Gleichartigkeit des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen, 2. durch einen Grundsatz der Varietät des Gleichartigen unter niederen Arten; und um die systematische Einheit zu vollenden, fügt sie 3. noch ein Gesetz der Affinität aller Begriffe hinzu, welches einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art zu jeder anderen durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit gebietet. Wir können sie die Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen nennen.« 10

Diese Prinzipien fordern also eine ansteigende und absteigende logische Bewegung in der Reihe der Arten und Gattungen, durch die die naturwissenschaftliche Erkenntnis sich gleichzeitig erweitert und vereinfacht und sich das doppelte Interesse der Vernunft bzw. zur Allgemeinheit und zur Bestimmtheit verwirklicht. Der immanente bzw. regulative Gebrauch der Vernunft ist also unentbehrlich nicht nur für die logische Ordnung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisresultate, sondern auch und besonders für die Richtung der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit. Es ist möglich, die Ideen regulativ zu gebrauchen, weil sie einen Konvergenzpunkt der heuristischen Richtungslinien der empirischen Forschung bieten, die immer »die größte Einheit neben der größten Ausbreitung« sucht. Wie bei den Verstandeshandlungen kann man bei den Vernunfthandlungen zwei verschiedene Dimensionen unterscheiden, nämlich eine formallogische und eine transzendentale Dimension. Die systematische Vereinigung der empirischen Erkenntnis in Arten und Gattungen ist eigentlich bloß formallogisch. Die transzendentale Frage ist hier, ob die Regeln einer empirischen und systematischen Beschaffenheit den Gegenständen wirklich entsprechen. Die Vernunft als formales Vermögen ordnet die Verstandeserkenntnisse nach einem logischen Prinzip der systematischen Einheit. Das Problem des transzendentalen Gebrauchs der Vernunft besteht darin, ob dieses Prinzip objektiv gültig ist oder nicht. Es handelt sich um eine quaestio juris bzw. um die Forderung einer transzendentalen Rechtfertigung des logischen Prinzips der systematischen Einheit, d. h.: um die Forderung einer transzendentalen Deduktion des Vernunftgebrauchs. 9 10

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Vgl. KrV, A 652/B 680. KrV, A 657/B685-A 658/B 686.

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Die kantische Deduktion der regulativen Ideen

Kant erklärt die Notwendigkeit einer solchen Deduktion und ihren Unterschied zur Deduktion des reinen Verstandesbegriffes folgendermaßen: »Man kann sich eines Begriffs a priori mit keiner Sicherheit bedienen, ohne seine transzendentale Deduktion zu Stande gebracht zu haben. Die Idee der reinen Vernunft verstatten zwar keine Deduktion von der Art, als die Kategorien; sollen sie aber im mindesten einige, wenn auch nur unbestimmte, objektive Gültigkeit haben, und nicht bloß leere Gedankendinge (entis rationis ratiocinantis) vorstellen, so muß durchhaus eine Deduktion derselben möglich sein, gesetzt, daß sie auch von derjenigen weit abwiche, die man mit den Kategorien vornehmen kann.« 11

Einerseits braucht man also eine Rechtfertigung der objektiven Gültigkeit der Ideen der reinen Vernunft. Ohne diese Rechtfertigung bzw. Deduktion würde die erwähnte systematische Ordnung der empirischen Erkenntnis nur einem subjektiven Interesse der Vernunft entsprechen. Andererseits aber kann die Deduktion der Ideen der Deduktion der Kategorien nicht gleichen. Die Ideen sind keine Begriffe, die sich auf Gegenstände direkt beziehen und deshalb muss ihre Deduktion nicht erklären, wie diese Beziehung a priori möglich wäre. Die Aufgabe der transzendentalen Deduktion der Ideen besteht darin nachzuweisen, dass die formallogische Einheit der Arten und Gattungen eine transzendentale Einheit voraussetzen. 12 Es handelt sich darum nachweisen zu können, dass das allgemeinlogische Vernunftinteresse eine systematische Form der Erkenntnis zu geben keine bloß willkürliche Unterstellung ist, sondern eine notwendig objektive Voraussetzung der menschlichen Erkenntnis. Die transzendentale Deduktion der Ideen als Vernunftprinzipien der systematischen Einheit der menschlichen Erfahrungserkenntnis besteht also darin zu beweisen, dass diese Einheit nur unter der Voraussetzung der objektiven Gültigkeit der Ideen möglich wird. Wenn die logischen Systeme, in der die empirischen Naturwissenschaften ihre Erkenntnis organisieren, nur bloß ökonomisch bzw. subjektiv nützlich wären, könnten die Begriffe von Arten und Gattungen keinen objektiven Sinn enthalten und dürfte der Verstand in der Naturwissenschaft diese Begriffe zur Erfahrungserkenntnis nicht anwenKrV, A 669/B 697-A 670/B 698. Mario Caimi betont die Rolle dieser Voraussetzung bzw. »relativen Annahme« in seinem Aufsatz: Über eine wenig betrachtete Deduktion der regulativen Ideen. In: Kant-Studien, 86, 1995, S. 308–320. 11 12

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den. Ohne die von den Vernunftideen gelieferte systematische Verbindung gäbe es also keine empirischen Begriffe, keine erkenntnismäßige Anwendung des menschlichen Verstandes und deshalb keine Erfahrungserkenntnis überhaupt. »Auch kann man nicht sagen, sie habe zuvor von der zufälligen Beschaffenheit der Natur diese Einheit nach Prinzipien der Vernunft abgenommen. Denn das Gesetz der Vernunft, sie zu suchen, ist notwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhangenden Verstandesgebrauch, und in dessen Ermangelung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden, und wir also in Ansehung des letzteren die systematische Einheit der Natur durchaus als objektivgültig und notwendig voraussetzen müssen.« 13

In diesem Passus liegt der Kern der kantschen transzendentalen Deduktion der regulativen Ideen. Sie setzt die systematische Einheit der Natur nicht als etwas von der Willkür der Naturwissenschaften Abhängiges, sondern als etwas Notwendiges und Objektivgültiges voraus. Diese objektive Gültigkeit der Vernunftbegriffe muss notwendigerweise von den Naturwissenschaften präsupponiert werden, weil es sonst keine Vernunft, keine systematische Einheit der Erfahrung und kein ausreichendes Merkmal der empirischen Wahrheit gäbe. Um ein empirisches Urteil als wahr oder falsch anerkennen zu können, ist weder das formallogische Wahrheitskriterium (bzw. der Satz vom Widerspruch) noch die allgemeine Bestimmung der Kategorien zureichend, weil die empirische Wahrheit die systematische Verbindung einer Vorstellung mit dem Ganzen der möglichen Erfahrung unterstellt. Ohne diese Verbindung wäre die Einheit der Erfahrung zerstört und deshalb könnte eine empirische Vorstellung von einem Traum kaum unterschieden werden. Die Voraussetzung der systematischen Einheit der Erfahrung, die nur durch die Vernunftbegriffe ermöglicht wird, ist also keine bloß methodologische Forderung, die als »ökonomischer Handgriff« für die formallogische Ordnung der Erkenntnis bzw. der Resultate der wissenschaftlichen Forschung nützlich sein kann. Diese Voraussetzung ist hingegen eine Apriori-Bedingung der Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis und der Erfahrungsgegenstand selbst und genau deshalb ist sie transzendental gültig. Diese Voraussetzung ist gültig nicht nur hinsichtlich auf die bloß formallogische Kohärenz der Erfahrungserkenntnis, sondern auch auf die Gegenstände der Er13

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Die kantische Deduktion der regulativen Ideen

fahrung, die durch die Vernunftbegriffe in einem objektiven System gedacht werden können. Die von dieser transzendentalen Deduktion gelieferte Rechtfertigung der Voraussetzung der systematischen Erfahrungseinheit liegt im notwendigen Charakter derselben. Nach der Formulierung dieser transzendentalen Deduktion des regulativen Gebrauchs der Vernunftbegriffe als notwendige Voraussetzungen der Erfahrungserkenntnis und der Erfahrungsgegenstände im Allgemeinen, wendet Kant die gleiche Rechtfertigungsstrategie einerseits auf die erwähnten Vernunftprinzipien (bzw. Homogenität, Spezifikation und Affinität) und andererseits auf die drei Ideen der reinen Vernunft (bzw. Seele, Welt und Gott) an. Die heuristische Maxime der Homogenität fordert die naturwissenschaftlichen Forscher dazu auf, heterogene Begriffe (Arten) immer unter allgemeinen Begriffen (bzw. Gattungen) und die partikulare Hypothese unter die allgemeine Hypothese zu subsumieren. Der regulative Charakter dieses Prinzips bedeutet einerseits, dass es als eine Regel eine Richtungslinie der Forschung vorschlägt, und andererseits, dass es ein für die empirische Forschung unerreichbares Ziel setzt. Es handelt sich um eine Regel, die eine unendliche Aufgabe vorschreibt, weil es prinzipiell unmöglich ist, die oberste Gattung oder die höchste Hypothese im faktischen Lauf des Forschungsprozesses zu erreichen. Die Voraussetzung der Gültigkeit des Homogenitätsprinzips ist aber eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der menschlichen Erfahrung und kann deshalb folgendermaßen transzendental deduziert werden: »Das logische Prinzip der Gattungen setzt also ein transzendentales voraus, wenn es auf Natur (darunter ich hier nur Gegenstände, die uns gegeben werden, verstehe,) angewandt werden soll. Nach demselben wird in dem Mannigfaltigen einer möglichen Erfahrung notwendig Gleichartigkeit vorausgesetzt (ob wir gleich ihren Grad a priori nicht bestimmen können), weil ohne dieselbe keine empirische Begriffe, mithin keine Erfahrung möglich wäre.« 14

Das Prinzip der Spezifikation als heuristische Maxime fordert von der Forschung die entgegengesetzte Richtung, d. h.: nicht von Arten zu Gattungen und von partikularen zu allgemeinen Hypothesen aufzusteigen, sondern die absteigende Suche nach den internen Unterscheidungen jeder Gattung, die Einzelangabe und Bestimmung von jedem Begriff und jeder Hypothese. Diese Maxime erlegt dem Ver14

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stand auf, »unter jeder Art, die uns vorkommt, Unterarten, und zu jeder Verschiedenheit kleinere Verschiedenheiten zu suchen« bzw. »eine unaufhörlich fortzusetzende Spezifikation seiner Begriffe«. 15 Sie fordert eine unendliche Mannigfaltigkeit der Natur zu vermuten, auch wenn sie in der Erfahrung tatsächlich nicht erscheint. Die Voraussetzung dieser Mannigfaltigkeit ist eine Apriori-Bedingung der Möglichkeit des erkennenden Gebrauchs des menschlichen Verstandes und als solche muss sie transzendental deduziert werden. »Denn wir haben eben sowohl nur unter Voraussetzung der Verschiedenheiten in der Natur Verstand, als unter der Bedingung, daß ihre Objekte Gleichartigkeit an sich haben, weil eben die Mannigfaltigkeit desjenigen, was unter einem Begriff zusammengefaßt werden kann, den Gebrauch dieses Begriffs, und die Beschäftigung des Verstandes ausmacht.« 16

Ohne die Voraussetzung einer objektiven Mannigfaltigkeit in der Natur könnten wir keine Erfahrung haben. Deshalb ist es notwendig, die Gültigkeit dieser Voraussetzung anzunehmen. Schließlich fordert das Prinzip der Kontinuität bzw. der Affinität aller Begriffe, immer einen dazwischen liegenden Begriff zwischen Arten und Gattungen bzw. Arten und Unterarten zu suchen. Genau wie die Prinzipien der Homogenität und der Spezifikation kann und muss auch dieses Prinzip als eine heuristische Maxime, als eine Bedingung der Möglichkeit der menschlichen Erfahrung deduziert werden, insofern ihre Gültigkeit in der naturwissenschaftlichen Forschungstätigkeit notwendigerweise vorausgesetzt werden muss. »Dieses logische Gesetz des continui specierum (formarum logicarum) setzt aber ein transzendentales voraus (lex continui in natura), ohne welches der Gebrauch des Verstandes durch jene Vorschrift nur irre geleitet werden würde, indem sie vielleicht einen der Natur gerade entgegengesetzten Weg nehmen würde. Es muß also dieses Gesetz auf reinen transzendentalen und nicht empirischen Gründen beruhen.« 17

Nach der transzendentalen Deduktion des immanenten Gebrauchs der Vernunft im Allgemeinen und der heuristischen Prinzipien, die die Vernunfthandlungen lenken, präsentiert Kant ein Argument, um die Gültigkeit der Vernunftideen als Quasi-Schemen zu begründen. 15 16 17

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KrV, A 656/B 684. KrV, A 657/B 685. KrV, A660/B 688.

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Die kantische Deduktion der regulativen Ideen

Die Vernunftideen spielen eine ähnliche Rolle wie die sinnlichen Schemen der Verstandesbegriffe. Während die Schemen die Beziehung zwischen Verstand und Sinnlichkeit vermitteln, ermöglichen die Ideen die Beziehung zwischen Verstand und Vernunft. Die Ideen sind eigentlich keine echten Schemen, weil es bei ihrer Vermittlung nur Begriffe und keine Anschauung gibt, aber sie sind Analoga der Schemen, weil sie die Gültigkeit einer Begriffsanwendung begründen. Die Schemen begründen aber die Gültigkeit der Konstitution der Erfahrungserkenntnis und des Erfahrungsgegenstandes, die Ideen hingegen nur ihre Regulation. 18 Das Analogon eines Schemas, die systematische Einheit aller Verstandesbegriffe ist, »die Idee des Maximum der Abteilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntnis in einem Prinzip« 19 . Eine Vernunftidee als Analogon eines Schemas vermittelt also zwischen dem Prinzip der »größten Einheit neben der größten Ausbreitung« und den partikularen Vorstellungen, um eine systematische Einheit der Erfahrung zu ermöglichen. Die kritische Untersuchung hat nachgewiesen, dass sich die Vernunftbegriffe nicht auf wirkliche Gegenstände beziehen. Die transzendentale Deduktion ihres regulativen Gebrauchs fordert aber, diesen Begriffen einen »Gegenstand in der Idee« zuzuschreiben. Die heuristische Aufgabe der Ideen wird erst möglich, wenn wir die Vernunftbegriffe so auffassen können, als ob sie sich auf Gegenstände beziehen. Die Idee der rationalen Psychologie bzw. der Seelenbegriff spielt in der Erfahrungserkenntnis die regulative Rolle des Analogons eines Schemas, insofern sie die systematische Einheit aller Erscheinungen des inneren Sinnes vorzustellen ermöglicht. Die kosmologischen Ideen sind auch nur Analoga der Schemen, die benutzt werden können, um regulative Prinzipien auf die Erfahrungserkenntnis anzuwenden. Die Weltidee dient zur Regel der empirischen Erklärungen, »nämlich in der Erklärung gegebener Erscheinungen (im Zurückgehen oder Aufsteigen) so, als ob die Reihe an sich unendlich wäre«. 20 Der Freiheitsbegriff präsentiert hingegen die praktische Vernunft selbst als reine intelligible Ursache bzw. als ob die Reihe der Bedingungen bei ihr ganz spontan anfinge. Die Idee der rationalen Theologie hat auch einen regulativen Gebrauch als 18 Siehe dazu: Mario Caimi: Über eine wenig betrachtete Deduktion der regulativen Ideen. In: Kant-Studien, 86, 1995, S. 308–320: 317–320. 19 KrV, A 665/B 693. 20 KrV, A 685/B 713.

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Ein sinnkritischer Realitätsbegriff

Analogon eines Schemas bei jeder Systematisierung. Man kann die Natur auffassen, als ob sie von Gott absichtlich geordnet worden wäre, als ob alle die Verbindungen der Naturphänomene »Anordnungen einer höchsten Vernunft wären«. »Ich denke mir nur die Relation eines mir an sich ganz unbekannten Wesens zur größten systematischen Einheit des Weltganzen, lediglich um es zum Schema des regulativen Prinzips des großtmöglichen empirischen Gebrauchs meiner Vernunft zu machen.« 21

Die systematische Ordnung, die durch dieses Schema gedacht werden kann, ist teleologisch, weil sie erlaubt, sich die Natur so vorzustellen, »als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre«. 22 Diese teleologische Perspektive, die ermöglicht, die Natur als die größte systematische Einheit aufzufassen, wird von Kant im zweiten Teil seiner Kritik der Urteilskraft vollständig entwickelt. Die reflexive Rechtfertigung der Voraussetzung einer Naturzweckmäßigkeit, die in der dritten Kritik dargelegt wird, ergänzt die hier nur kurz rekonstruierte Deduktion des regulativen Gebrauchs der Vernunftideen. 23

5.2. Der kritisch rationalistische Essentialismusvorwurf Im Rahmen seines kritisch rationalistischen Falsifikationismus hat Karl R. Popper die Idee einer letzten Erklärung bestritten. Diese Meinung könnte als ein Einwand gegen mindestens eine Interpretation der regulativen Idee der letzten Meinung verstanden werden. Popper thematisiert die Idee einer letzten Erklärung innerhalb seines Arguments über die Zielsetzung bzw. die Aufgabe der Erfahrungswissenschaften 24 . Wie andere vernünftige Tätigkeiten müssen diese Wissenschaften irgendein Ziel haben. In dieser Hinsicht lautet die These von Popper: das Ziel der Erfahrungswissenschaften liegt darin, »befriedigende Erklärungen zu finden für alles, was uns einer Erklärung zu bedürfen scheint«. Nach dieser Definition kann man in jeder möglichen Erklärung zwei verschiedene Klassen von Sätzen unterscheiKrV, A 679/B 707. KrV, A 686/B 714. 23 Siehe oben 3.2. 24 Vgl. Karl R. Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1973, S. 213 ff. 21 22

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Der kritisch rationalistische Essentialismusvorwurf

den: das explicandum und das explicans. Das explicandum ist ein Satz, der von ihm vorausgesetzt wird, er wird mehr oder weniger als wahr erkannt und bedarf einer Erklärung. Das explicans ist hingegen ein Satz, den wir suchen, um das explicandum zu erklären. Er wird in der Regel nicht bekannt sein, weil er noch entdeckt werden muss. Deshalb heißt empirisch wissenschaftliches Erklären, das Bekannte durch das Unbekannte zu erklären. Nach Popper muss eine empirisch wissenschaftliche Erklärung die folgenden Bedingungen erfüllen, um befriedigend zu sein: (1) das explicandum muss eine logische Folgerung des explicans sein, (2) das explicans darf nach strengster kritischer Prüfung nicht als falsch erkannt werden, (3) das explicans muß auf unabhängige Weise prüfbar sein bzw. auf andere logische Folgerungen des explicans, die vom explicandum ganz klar unterschieden werden können. Je unabhängiger und strenger das explicans geprüft wird, desto befriedigender ist die Erklärung. Poppers Logik der Forschung rekonstruiert ein empirisches explicandum als einen typischen Fall eines reproduzierbaren Effekts, der von einem universellen Naturgesetz (durch Anfangsbedingungen ergänzt) ableitbar ist. Deshalb sei eine empirisch wissenschaftliche Erklärung befriedigend, wenn sie das explicandum mit Hilfe von unabhängigen prüfbaren bzw. falsifizierbaren universellen Naturgesetzen und Anfangsbedingungen erklärt 25 . Je besser prüfbar und tatsächlich geprüft Gesetze und Anfangsbedingungen sind, desto befriedigender die Erklärungen. Deshalb könne man im Rahmen der empirischen Forschung von verschiedenen Graden von Befriedigung sprechen, die vom Grade der Prüfbarkeit und Universalität der Erklärungen abhängen. In dieser Hinsicht müsse man bemerken, dass ein explicans immer als explicandum berücksichtigt werden kann, das durch ein anderes explicans von höherem Grad von Universalität erklärt werden kann; d. h.: die Erfahrungswissenschaften könnten nicht nur empirische Phänomene durch universelle Naturgesetze bzw. wissenschaftliche Theorien erklären, sondern auch diese Naturgesetze könnten durch andere, von einem höheren Grad der Universalität erklärt werden; z. B.: Nach Popper erklärt die Dynamik Newtons einerseits in gewisser Weise die irdische Physik Galileis und die Himmelsphysik Keplers andererseits. Die Aufgabe der empirischen Wissenschaften sei »immer wei25

Vgl. Karl R. Popper. Logik der Forschung. 5. Aufl., Tübingen: Mohr, 1973, § 12. A

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terschreiten zu Erklärungen, auf immer höherer Universalitätsstufe« 26 . Genau an dieser Stelle seines Argumentes stellt Popper die Frage nach der Möglichkeit einer »letzten Erklärung« bzw. einer Erklärung, die zu weiteren Erklärungen weder fähig noch bedürftig ist. Popper weist auf den Essentialismus als die einzige Denkweise hin, die beansprucht, eine letzte Erklärung über die realen Objekte zu finden. Nach dem von Popper kritisierten Essentialismus müssen die empirischen Wissenschaften eine letzte Erklärung in der Form essentieller oder wesentlicher Eigenschaften des explicandum suchen. Wenn man diese Eigenschaften erkennen könnte, wäre jede weitere Erklärungsfrage sowohl unmöglich als auch unnötig (außer nach dem Schöpfer der Wesenheiten). Als Beispiele von diesem Typ von Essentialismus kann man die physischen Lehren von René Descartes 27 und Roger Cotes 28 erwähnen. Descartes hält die Ausdehnung für das Wesen der physischen Dinge und Cotes die Trägkeit. Um Essentialist zu werden, muss man nach Popper die drei folgenden Thesen annehmen: »1) The scientist aims at finding a true theory or description of the world (and especially of its regularities or ›laws‹), which shall also be an explanation of the observable facts (…) 2) The scientist can succeed in finally establishing the truth of such theories beyond all reasonable doubt (…) 3) The best, the truly scientific theories, describe the ›essences‹ or the ›essential natures‹ of things-the realities which lie behind the appearances.« 29 .

Poppers Position gegenüber dieser Art von Essentialismus kann folgendermaßen erklärt werden. Er bestreitet einerseits die zweite und die dritte der erwähnten Thesen des Essentialismus und nimmt andererseits nur die erste an. Popper bestreitet die zweite These des Essentialismus, weil er meint, dass die Wissenschaftler nur ihre Theorien bzw. Hypothesen oder Vermutungen streng überprüfen

Karl R. Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, S. 216, vgl. auch S. 67 ff. 27 Vgl. René Descartes: Principia Philosophiae (1644). In: Adam, Ch./Tannery, P.: Oeuvres de Descartes. Bd. 8. Paris: Vrin, 1996. 28 Vgl. Roger Cotes: Cotes’s Preface to the Second Edition (1713). In: Sir Isaac Newton’s Mathematical Principles. Bd. I. Berkeley/Los Angeles: Univ. of California Press, 1966, S. XX-XXIII. 29 Karl R. Popper: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge. London: Routlege and Paul, 1963, S. 103–104. 26

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können und durch diese Überprüfung die falschen Theorien widerlegen; d. h.: sie können nie absolut von der Wahrheit der Theorien überzeugt sein, weil die künftigen Überprüfungen und Argumente (»new theoretical discussion«) immer zeigen können, dass die empirisch wissenschaftlichen Theorien widerlegt werden können. Popper bestreitet auch die dritte These des Essentialismus. Seine Kritik versucht nicht zu beweisen, dass es kein Wesen der Dinge gibt, sondern, dass die Idee der Wesen den Wissenschaftlern keine Hilfe anbietet und zum Hindernis für die wissenschaftliche Forschung werden kann. Deshalb behauptet Popper, dass es keinen Grund gibt, damit die Wissenschaftler die Idee der Wesen akzeptieren. »The essentialist doctrine I am contesting is solely the doctrine that science aims at ultimate explanation; that is to say, an explanation which (essentially, or by its very nature) cannot be further explained, and which is in no need of any further explanation.« 30

Zuletzt muss man bemerken, dass Popper die erste These des Essentialismus annimmt, d. h.: Er behauptet, dass die empirischen Wissenschaftler versuchen, eine wahre Theorie oder Beschreibung der Welt zu finden, die als Erklärung der Phänomene gelten muss. Wegen der Annahme der ersten These des Essentialismus unterscheidet Popper seine eigene Auffassung der menschlichen Erkenntnis von der Auffassung der Instrumentalisten (z. B.: E. Mach, L. Wittgenstein, M. Schlick) 31 und nennt seine eigene Auffassung »modifizierter Essentialismus«. Gegenüber den Instrumentalisten behauptet Popper, dass die empirischen Wissenschaften versuchen, die reale Welt durch überprüfbare Theorien (bzw. Hypothesen oder Vermutungen) zu beschreiben. Nach Popper erheben die Erfahrungswissenschaften Wahrheitsansprüche über das Reale. Trotzdem handelt es sich um einen radikal modifizierten Essentialismus, weil er sowohl die Idee einer letzten Erklärung als auch die »Was ist«-Fragen aufgibt. Popper bleibt jedoch gewissermaßen »Essentialist«, indem er behauptet, dass die Erfahrungswissenschaften immer tiefer in die Welt streben bzw. in immer tieferliegende relationelle Eigenschaften der realen Welt eindringen. Nach Poppers modifiziertem Essentialismus 30 Karl R. Popper: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, S. 105. 31 Zur Diskussion zwischen Popper und den Instrumentalisten siehe: Karl R. Popper: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, S. 107–114; Karl R. Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, S. 217.

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hängt der Grad der Tiefe, wo eine Eigenschaft der realen Welt liegt, von dem Grad der Universalität und Prüfbarkeit der Theorie, die diese Eigenschaft beschreibt, ab. Durch eine so genannte logische Analyse des Ausdrucks »Grad der Tiefe« versucht Popper zu beweisen, dass je universeller und prüfbarer eine Theorie ist, desto tiefer sind die realen Eigenschaften, die sie beschreibt. Deshalb kann man behaupten, dass nach Poppers Auffassung die empirisch wissenschaftliche Erkenntnis zwei Aspekte des wissenschaftlichen Fortschritts analytisch unterscheiden kann: die Universalität und die Prüfbarkeit. Nach dem ersten Aspekt gibt es einen Fortschritt in der Forschung, wenn ein Naturgesetz oder eine Theorie durch ein anderes Gesetz oder durch eine andere Theorie von höherem Grad der Universalität erklärt wird. Dank des neuen Gesetzes erkennen (bzw. beschreiben mit Wahrheitsanspruch) die Naturwissenschaften etwas Neues über die reale Welt, das sie mittels der alten Gesetze nicht erkennen konnten. Andererseits findet ein wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt auch statt, wenn ein Naturgesetz oder eine Theorie durch kritische Prüfungen definitiv widerlegt wird. Durch die tatsächliche Falsifikation bzw. Widerlegung ihrer Theorien entdecken die Erfahrungswissenschaften, wie die reale Welt nicht ist, und nach dieser Falsifikation können und müssen sie befriedigendere Erklärungen der Phänomene bzw. Erklärungen, die noch nicht tatsächlich falsifiziert wurden, vorschlagen. Und auch der Philosoph lernt etwas sehr Wichtiges von den empirisch wissenschaftlichen Falsifikationen überhaupt: die empirischen Hypothesen sind echte Aussagen über die Welt, weil sie mit etwas zusammenstoßen bzw. an etwas scheitern können, das unabhängig von unserem Willens ist und was wir selbst noch nicht erfunden haben.

5.3. Metaphysische Unterstellungen des kritischen Rationalismus Nach dieser schematischen Erläuterung der Einwände Poppers gegen die Idee einer letzten Erklärung im Rahmen seines modifizierten Essentialismus möchte ich schon an dieser Stelle einen wichtigen Punkt der Argumentationsstrategie Poppers betonen. Obwohl Popper ganz klar drei Thesen des traditionellen Essentialismus unterscheidet, um die erste These anzunehmen und die anderen zwei Thesen zu kritisieren, berücksichtigt er keine andere mögliche Auffassung, z. B. die 216

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erste und die zweite These des von Popper so genannten Essentialismus anzunehmen und nur die dritte These aufzugeben. Er beschäftigt sich nicht mit einer möglichen Auffassung, die einerseits verteidigt, dass die Erfahrungswissenschaften versuchen, eine wahre Beschreibung der realen Welt zu formulieren und die Phänomene zu erklären, und andererseits, die Wissenschaftler die Wahrheit dieser Theorien jenseits aller vernünftigen Zweifel feststellen können, ohne die Erkenntnis des vermeintlichen Wesens der Dinge zu beanspruchen. Meiner Meinung nach beschäftigt Popper sich nicht mit dieser erwähnten möglichen Auffassung, und zwar aus zwei Gründen: erstens wegen des historisch-philosophischen Kontextes seines Argumentes über den Essentialismus und zweitens wegen einer problematischen erkenntnistheoretischen und metaphysischen Unterstellung seiner philosophischen Wissenschaftstheorie. Zum ersten Grund muss man bemerken, dass Popper seine Rekonstruktion des traditionellen Essentialismus innerhalb einer Diskussion über die Natur der menschlichen Erkenntnis präsentiert. Er legt seine Auffassung gegenüber zwei anderen philosophischen Positionen dar: dem traditionellen Essentialismus und dem Instrumentalismus, und er nennt seinen »modifizierten Essentialismus« eine »Dritte Position«. Man kann – m. E. – diese Diskussion eigentlich als eine Auseinandersetzung zwischen Popper und den Instrumentalisten über die folgende Frage interpretieren: Was ist richtig und was ist falsch im traditionellen Essentialismus? Die Argumentationsstrategie Poppers besteht darin, erstens diesen Essentialismus als die Annahme der drei schon erwähnten Thesen zu rekonstruieren, zweitens dem Instrumentalismus das Aufgeben dieser drei Thesen zuzuschreiben und drittens seine eigene »dritte« Position bzw. den »modifizierten Essentialismus« als die Annahme der ersten These und das Aufgeben der anderen zwei Thesen des traditionellen Essentialismus zu präsentieren 32 . Man könnte verstehen, dass Popper diese Strategie wählt, weil er seine Auffassung und seine Kritik am Essentialismus vom Instrumentalismus und der instrumentalistischen Kritik am Essentialismus unterscheiden will. Um diese Unterscheidung zu machen, braucht 32 Vgl. Herbert Keuth: Realität und Wahrheit. Zur Kritik des kritischen Rationalismus. Tübingen: Mohr, 1978, S. 89–111; Alan Musgrave: Explanation, Description and Scientific Realism. In: Keuth, H. (Hrsg.): Karl Popper, Logik der Forschung. Berlin: Akad.Verl., 1998, S. 83–102.

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Popper jedoch überhaupt nicht die Möglichkeit, andere Auffassungen der menschlichen Erkenntnis zu analysieren, z. B.: eine mögliche »vierte« Auffassung, die nicht nur die erste, sondern auch die zweite These des Essentialismus annehmen und nur die dritte essentialistische These aufgeben würde. Deshalb könnte man denken, dass der philosophische Kontext seiner Argumentation gewissermaßen und mindestens einen Aspekt seiner Argumentationsstrategie bestimmt. Dieser Aspekt besteht darin, dass Popper die zweite und die dritte These des Essentialismus als einen homologen Block präsentiert, der in seinem erwähnten Argument nicht analysiert werden muss, weil seine Diskussion gegenüber dem Instrumentalismus von der ersten These und gegenüber dem traditionellen Essentialismus von der zweiten und der dritten These im Ganzen handelt. Deshalb hält Popper die Ansprüche, unzweifelhafte wahre Aussagen in Erfahrungswissenschaften zu erreichen und die Wesen der Dinge zu erklären, für zwei essentialistische Thesen, die analytisch unterscheidbar, jedoch untrennbar seien. Die Untrennbarkeit der zweiten und der dritten These des Essentialismus im Rahmen der Argumentationsstrategie Poppers hängt – m. E. – nicht nur vom erwähnten Kontext seiner Diskussion gegenüber dem Instrumentalismus ab, sondern auch von einer erkenntnistheoretischen und metaphysischen Unterstellung des kritischen Rationalismus. Um diese Unterstellung zu explizieren, kann man auf die schon erwähnten zwei Dimensionen des wissenschaftlichen Fortschritts in der Auffassung Poppers verweisen: die Universalität und die Prüfbarkeit 33 . Man könnte bemerken, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Universalität und der Prüfbarkeit einer Aussage über die reale Welt gibt, denn, je universaler eine Aussage ist, desto mehr mögliche Folgerungen (bzw. Basis-Sätze) kann sie haben, die empirisch überprüft werden können: d. h.: je universaler, desto prüfbarer. Trotzdem kann man zwischen diesen zwei Dimensionen den wissenschaftlichen Fortschritt ganz legitim analytisch unterscheiden, um Poppers Position über die Idee der letzten Meinung zu erklären bzw. zu explizieren. In Hinblick auf die Universalität behauptet Popper mit Recht, dass die empirisch wissenschaftlichen Naturgesetze und Theorien nicht nur die Rolle des explicans, sondern auch die Rolle des explicandum spielen können und müssen; d. h.: jede mögliche, empirisch 33

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Vgl. Karl R. Popper: Logik der Forschung, §§ 31–40.

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wissenschaftliche Theorie kann und muss durch eine weitere universelle, empirisch wissenschaftliche Theorie erklärt werden. Deshalb gibt es keine legitime »letzte Erklärung« im Sinne der dritten These des traditionellen Essentialismus bzw. keine »wesentliche« Erklärung, die einer weiteren Erklärung auf einer höheren Universalitätsstufe weder fähig noch bedürftig wäre. Man kann sagen, dass in den empirisch wissenschaftlichen Theorien die Treppe der Erklärungen prinzipiell unendlich ist; d. h.: es gibt keine letzte Universalitätsstufe, auf der die vermeintlichen Wesen der realen Dinge beschrieben werden könnten. In dieser Hinsicht hat Popper Recht. In Hinblick auf die Prüfbarkeit behauptet Popper, dass die empirisch wissenschaftlichen Theorien nicht verifiziert, sondern nur falsifiziert werden können. Die Wissenschaftler könnten prinzipiell nicht beweisen, dass ihre Theorien wahr sind, sondern nur, dass sie falsch sind. Durch die Widerlegung können die empirischen Wissenschaftler die falschen Theorien definitiv beiseite lassen und versuchen, neue und bessere Theorien zu formulieren, die noch nicht widerlegt wurden, um auf die von alten Theorien nicht gelösten Probleme zu antworten. Mit dieser Perspektive kann man den empirisch wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt als die Identifizierung von falschen Aussagen über die Welt einerseits und als eine graduelle Wahrheitsannäherung 34 andererseits charakterisieren. Ich möchte hier betonen, dass Popper diese Wahrheitsannäherung als unendlich betrachtet, weil seine kritisch rationalistische Auffassung auf folgender epistemologischer Unterstellung beruht: Trotz aller möglichen künftigen Erkenntnisfortschritte können die Forscher überhaupt keine Aussage über das Reale als wahr erkennen. Aus dieser Unterstellung ergibt sich eine paradoxe Folgerung: Die empirischen Wissenschaftler bemühen sich, eine wahre Theorie bzw. Beschreibung der realen Welt zu finden (mit der von Popper akzeptierten ersten These des Essentialismus), aber sie können diese Beschreibung prinzipiell nicht finden, weil sie die Wahrheit von diesen Theorien jenseits aller sinnvollen Zweifel prinzipiell nicht feststellen können (gegen die von Popper abgelehnte zweite These des Essentialismus). Die Annahme der ersten These und die gleichzeitige Ablehnung der zweiten These des Essentialismus führen Popper zu einer paradoxen Vorstellung des empirisch wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses, nach der die Wis34 Siehe dazu: Herbert Keuth: Realität und Wahrheit. Zur Kritik des kritischen Rationalismus, S. 112–152.

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senschaftler a priori verurteilt wären, wahre Aussagen über das Reale nicht als wahr erkennen zu können, obwohl sie sich als Wissenschaftler bemühen, nur das Reale zu erkennen. Diese paradoxe Vorstellung der empirisch wissenschaftlichen Tätigkeit hängt – m. E. – von einer problematischen metaphysischen Unterstellung ab: Popper setzt voraus, dass die Wissenschaften niemals ihre Hypothesen über das Reale als wahr feststellen bzw. das Reale prinzipiell unerkennbar ist. Hier treffen wir also auf eine neue bzw. forschungslogische Version der kantischen metaphysischen Behauptung eines prinzipiell unerkennbaren Dinges an sich. 35 Karl Popper schätzt Charles Sanders Peirce als »den großen amerikanischen Mathematiker und Physiker und (…) einen der größten Philosophen aller Zeiten« 36 . Der Grund dieses positiven Urteils von Popper über Peirce liegt in den von Peirce 1892 dargelegten Thesen über das Problem des physikalischen Determinismus 37. Popper präsentiert Peirce als einen Vorläufer der antideterministischen Thesen, die von einigen Physikern und Wissenschaftsphilosophen erst nach der neuen Quantentheorie (1925–1927) behauptet wurden. Popper verteidigt diese Thesen von Peirce gegenüber der Meinung anderer Physiker, z. B.: Albert Einstein 38 . Als Popper die erste Auflage seiner Logik der Forschung (1934) veröffentlicht, waren ihm die Auffassungen von Peirce »leider unbekannt« 39 . Man kann vermuten, dass diese späte Rezeption der Auffassungen von Peirce bei Popper nicht genug zur richtigen Anerkennung kamen, dass dieser »große amerikanische Philosoph« nicht nur antizipierte physische Thesen dargelegt hat, sondern auch eine fallibilistische und falsifikationistische Epistemologie. Trotz der erwähnten Bewunderung von Peirces Auffassung bemerkt Popper überhaupt nicht, dass Peirce eine Auffassung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis entwickelte, die in der KlassifizieZur Verteidigung Poppers metaphysischen bzw. vorkantschen Realismus siehe: Karl R. Popper: Die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaft. In: Albert, H. (Hrsg.): Theorie und Realität: Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. Tübingen: Mohr, 1968; ders.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf; ders.: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge. 36 Karl R. Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, S. 236. 37 Vgl. Charles S. Peirce: C. P. 6. 43–65. 38 Vgl. Karl R. Popper: Logik der Forschung, § 77, Anhänge XI, XII. 39 Vgl. Karl R. Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, S. 239, Fußnote 16. 35

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rung Poppers von »three views concerning human knowledge« nicht zugeordnet werden kann 40 . Peirce vertritt eine Auffassung der menschlichen Erkenntnis, die weder die drei Thesen des traditionellen Essentialismus akzeptiert noch (wie die Instrumentalisten) diese drei Thesen ablehnt und auch nicht (wie der sog. modifizierte Essentialismus Poppers) die erste These akzeptiert, aber die zweite und die dritte These ablehnt. Peirce hat vor Popper eine fallibilistische und falsifikationistische Auffassung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, die vom Fallibilismus Poppers in verschiedenen Hinsichten ganz klar unterschieden werden kann. Ich möchte hier nur einen Unterschied zwischen Poppers und Peirces Auffassungen betonen, nämlich: die von Popper genannte »zweite These des Essentialismus«: »The scientist can succeed in finally establishing the truth of such theories (bzw. die empirisch wissenschaftlichen Theorien überhaupt) beyond all reasonable doubt.« Wie schon erwähnt wurde, verwirft Popper diese These. Peirce verficht sie hingegen. Durch die Verteidigung dieser These führt Peirce in seiner Auffassung einen Gebrauch des Ausdrucks »letzte Meinung« (bzw. ultimate opinion) ein, der von Popper in seiner Analyse des traditionellen Essentialismus – so weit ich sehe – nicht berücksichtigt wurde und mit dem dogmatisch essentialistischen Anspruch, das Wesen der Dinge zu beschreiben, nicht verwechselt werden kann. Peirces’ Idee der »ultimate opinion« verweist nicht auf die von Popper so richtig kritisierte Unterstellung einer Erklärung von höchster Universalitätsstufe, sondern auf die von Popper als paradox und problematisch abgelehnte folgende These: Die Erfahrungswissenschaften können durch wahre und nicht mehr bestreitbare Aussagen das Reale in the long run beschreiben. Die erwähnten Unterschiede zwischen Popper und Peirce beruhen auf Peirces Idee der ultimate opinion bzw. auf der von Popper verworfenen »zweiten These« des Essentialismus und dieser erkenntnistheoretische Unterschied selbst hängt noch von einer tieferen Differenz zwischen diesen beiden Philosophen über das Problem der Erkennbarkeit des Realen ab. Bei Peirce kann man eine fallibilistische Auffassung der menschlichen Erkenntnis finden, die frei vom Paradoxon Poppers ist; d. h.: frei von der Idee einer von den Wissen-

40 Vgl. E. Freemann: C. S. Peirce and Objectivity in Philosophy; und Karl Popper: Freeman on Peirce’s Anticipations of Popper. In: Freeman, E. (Hrsg.): The Relevance of Charles Peirce. La Salle, Ill.: Hegeler Institut, 1983, S. 59–67, 78–79.

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schaftlern immer beanspruchten wahren Beschreibung der realen Welt, die sie prinzipiell nicht als wahr formulieren könnten. Obwohl Popper Peirce als »einen der größten Philosophen aller Zeiten« bezeichnet, berücksichtigt er nicht, dass Peirce gute Gründe hatte, um die von Popper genannte und verworfene zweite These des traditionellen Essentialismus zu verfechten.

5.4. Die Idee der ultimate opinion bei der sinnkritischen Forschungslogik In seinem Aufsatz »How to Make Our Ideas Clear« (1878) unterscheidet Peirce zwei mögliche Definitionen der Realität: eine dunkle und abstrakte Definition und eine pragmatische bzw. sinnkritische Definition 41 . Die dunkle und abstrakte Definition lautet: »We may define the real as that whose characters are independent of what anybody may think them to be.« 42 Peirce bemerkt, dass diese Definition der Realität vielleicht erreicht werden kann, wenn man den Unterschied zwischen Realität und Fiktion (quasi-) reflexiv betrachtet. Wenn jemand sich eine Fiktion einbildet, verleiht sein Denken ihr alle die Eigenschaften dadurch, dass diese Fiktion definiert werden könne; d. h.: die Fiktion hängt absolut vom Denken seines Autors ab. Die Realität hingegen könne als etwas begriffen werden, das von den Meinungen eines bestimmten psychologischen Subjekts (z. B.: ich oder Du) vollkommen unabhängig sei. Nach Peirce ist diese abstrakte Definition der Realität noch eine dunkle Meinung. Sie könne uns dahin führen zu denken, dass die Realität vom Denken im Allgemeinen unabhängig sei und einige Eigenschaften der Realität für die Menschen prinzipiell unerkennbar sein könnten. Wie oben schon angegeben wurde, ist diese Folgerung absolut sinnlos, weil, wer sie aufstellt, einerseits beansprucht, dass die Realität vielleicht unerkennbar ist, und andererseits, dass er genau durch seine Vgl. Karl-Otto Apel: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, S. 51 ff., 118 ff. 42 Peirce, C. P. 5. 405. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der sog. kritische Rationalismus Poppers diese abstrakte Definition der Realität unterstellt. Vgl. Karl R. Popper: Logik der Forschung, § 79; ders.: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, S. 184–200; ders.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, S. 53 ff.; Herbert Keuth: Realität und Wahrheit. Zur Kritik des kritischen Rationalismus. 41

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Definition eine wahre Aussage über diese Realität machen darf. 43 Diese selbstwidersprüchliche Folgerung kann man durch die Antwort auf die folgende Frage vermeiden: Bedeutet die erwähnte abstrakte Definition der Realität, dass die Realität unabhängig von Meinungen ist? Nach Peirce kann das »unabhängig vom Denken im allgemeinen« überhaupt nichts bedeuten, sondern nur »unabhängig davon, was Du oder ich oder irgendeine endliche Anzahl von Menschen darüber denken«. Wenn die abstrakte Definition der Realität noch eine dunkle Meinung ist und wir unsere Idee der Realität verdeutlichen wollen, können wir die von Peirce vorgeschlagene Methode, um unsere Ideen klarzumachen, anwenden, nämlich: die pragmatische Maxime: »Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object.« 44 Nach Peirce muss, wer seine Ideen über Dinge klarmachen will, sich selbst fragen: Welche sind die wahrnehmbaren Wirkungen dieser Dinge? Keine Eigenschaft der realen Dinge, über die wir eine klare Idee erreichen wollen können, kann wirkungslos sein; d. h.: es ist sinnlos, über die für uns prinzipiell unentdeckbaren Eigenschaften der realen Dinge oder über unerkennbare Dinge zu sprechen. Peirce illustriert die Anwendung seiner erwähnten pragmatischen Maxime durch einige Beispiele. Er fragt sich selbst: Was meinen wir, wenn wir ein Ding als »hart« oder als »schwer« (heavy) bezeichnen oder über eine »Kraft« reden. Durch die Anwendung seiner pragmatischen Maxime verweist Peirce darauf, dass eine klare Definition keine vermeintliche Eigenschaft bezeichnen muss, die keine wahrnehmbaren Wirkungen hat. Die Wirkungen eines Dinges erschöpfen seine Eigenschaften, und es wäre sinnlos über etwas zu reden, das weder Wirkungen hat oder deren Wirkungen für uns prinzipiell unerkennbar sind. Man kann auf die pragmatische Maxime zurückgreifen, um auch die Idee der Realität deutlich zu machen und die Dunkelheit seiner erwähnten abstrakten Definition zu vermeiden. Die entscheiSiehe oben: 4.2. Ch. S. Peirce, C. P. 5. 402. Siehe dazu W. H. F. Barnes: Peirce on »How to Make Our Ideas Clear«. In: Wiener, Ph. P./Young, F. H. (Hrsg.): Studies in the Philosophy of Charles Sanders Peirce, Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 1952; Karl-Otto Apel: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, S. 133–146. 43 44

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dende Frage wäre also: Welche sind die Wirkungen eines realen Dinges überhaupt. Peirces Antwort auf diese Frage lautet: »Here, then, let us apply our rules. According to them, reality, like every other quality, consist in the peculiar sensible effects which real things partaking of it produce. The only effect which real things have is to cause belief, for all the sensations which they excite emerge into consciousness in the form of beliefs.« 45

Durch die Anwendung seiner pragmatischen Maxime weist Peirce darauf hin, dass die Realität in den wahrnehmbaren Wirkungen besteht, die sie im menschlichen Bewusstsein hervorbringen kann. All die Eigenschaften des Realen können als Überzeugungen (beliefs) der Erkenntnissubjekte prinzipiell erscheinen; d. h.: es wäre sinnlos, über eine Eigenschaft eines realen Dinges zu reden, das keine Wirkungen in unserem Bewusstsein überhaupt hervorbringen könnte. Es heißt natürlich nicht, dass jede unserer »Überzeugungen« einer realen Eigenschaft oder einem realen Ding entspricht. Nur die »true beliefs« (oder »beliefs in the real«) entsprechen den realen Dingen. Die »false beliefs« entsprechen hingegen nicht dem Realen, weil sie nur »beliefs in fiction« sind. An dieser Stelle verknüpft Peirce die Idee des Realen mit der Idee der Wahrheit, die auch als eine dunkle Idee im Bewusstsein der Menschen erscheinen kann und durch die pragmatische Maxime Peirces verdeutlicht werden könnte. Nach Peirce verweist der Unterschied zwischen »belief in the real« und »beliefs in fiction« auf die verschiedenen Methoden, um »Überzeugungen« (beliefs) zu festigen. In seinem Aufsatz »The Fixation of Belief« (1877) unterscheidet Peirce vier verschiedene Methoden, die die Menschen benützen, um ihre Überzeugungen zu festigen: die Methode des Beharrens 46, die autoritäre Methode 47 , die a priori bzw. metaphysische Methode und die logische bzw. wissenschaftliche Methode 48. Wegen des Themas dieses Kapitels lege ich Ch. S. Peirce, C. P. 5. 406. Im nächsten Abschnitt komme ich auf diese kausale Beziehung zwischen der Realität und unseren Überzeugungen zurück. 46 Vgl. Peirce, C. P. 5. 377, 380, 384–406. 47 Vgl. Peirce, C. P. 5.215, 359, 379–386, 391, 406. 48 Vgl. Peirce, C. P. 5. 377 ff.; Jörg Klawitter: Charles Sanders Peirce. Realität, Wahrheit, Gott. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1984, S. 105 ff.; Karl-Otto Apel: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, S. 127 ff.; David Wiggins: Refexions on Inquiry and Truth Arising from Peirce’s Method for Fixation of Belief. In: Misak, C. (Hrsg.): The Cambridge Companion of Peirce, Cambridge: Univ. Press, 2004, S. 87–126. 45

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im Folgenden nur kurz die Unterscheidung von Peirce zwischen den zwei letzten Methoden dar. Wer die a priori Methode 49 von der Festigung der Überzeugung benutzt, setzt schlechthin voraus, dass er ganz frei entscheiden darf und kann, welche Sätze akzeptabel sind und welche nicht. Jeder einzelne würde nur von seinen »natürlichen Vorlieben« bewegt, um seine Überzeugungen auszuwählen. Zur Entwicklung dieser Vorlieben könnten doch die Einzelnen miteinander reden und sich im Dialog wechselseitig beeinflussen. Auf diese Weise könnte jedes Problem durch verschiedene Perspektiven ruhig berücksichtigt werden, bevor jeder Einzelne seine Überzeugungen darüber festigt. Das einzige Orientierungskriterium, das die Einzelnen besitzen, um sich zwischen zwei widersprüchlichen Aussagen zu entscheiden, wäre, was jeder glaubt, was »der Vernunft angemessen« ist. Deshalb ist das Resultat von der a priori Methode, dass jeder Einzelne daran glaubt, was ein jeder als seiner Vernunft angemessen findet. Das Problem der Wahl zwischen zwei widersprüchlichen Überzeugungen würde durch diese Methode in einem Problem von Geschmack oder einer Modefrage aufgelöst werden bzw. letztlich zu einer Privatsache. Jeder Einzelne könnte nur an sein Gewissen appellieren, um diese Wahl zu treffen. Das Miteinanderreden zwischen den Einzelnen könnte vielleicht in einigen Fällen ein wenig helfen, aber dies gilt keinesfalls als ein sicherer Weg, um die einzige richtige Meinung zu finden. »These minds do not seem to believe that disputation is ever to cease; they seem to think that the opinion which is natural for one man is not so for another, and that belief will, consequently, never be settled.« 50 Vgl Peirce, C. P. 5. 382–387, 391, 406. Peirce, C. P. 5. 406. Im gegenwärtigen Pragmatismusstreit verteidigen sowohl die Anhänger des sog. »Pragmatismus ohne regulative Ideen« als auch die Anhänger einer möglichen »Transzendentalpragmatik ohne letzte Meinung« eine erkenntnistheoretische Einstellung, die mit der von Peirce genannten metaphysischen a priori Methode zur Festigung der Überzeugungen charakterisiert werden kann. Vgl., z. B.: Albrecht Wellmer: Pragmatismus ohne regulative Ideen. Sieben Thesen zu Rorty und Apel. In: Boe, S./Molander, B. (Hrsg.): I Forste: Andre Og tredje person (Festschrift für A. Ofsti.). Trondheim, 1999, S. 375–380; ders.: Der Streit um die Wahrheit: Pragmatismus ohne regulative Ideen. In: Böhler, D./Kettner, M./Skirbekk, G. (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, S. 143–170; Horst Gronke: Die Relevanz von regulativen Ideen zur Orientierung der Mit-Verantwortung. Eine Verteidigung von Apels transzendentaler Transformation des Pragmatismus. In: Böhler, D. [u. a.] (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung, Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, S. 260–282. Siehe unten 5.5. 49 50

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Die a priori Methode hat nach Peirce viele Vorteile gegenüber der Methode des Beharrens und der autoritären Methode, deswegen sagt er: »As long as no better method can be applied, it ought to be followed.« 51 Trotzdem leidet sie an einem entscheidenden Mangel: durch die Anwendung der a priori Methode können wahre Überzeugungen (bzw. beliefs in the real) von »falschen Überzeugungen« (beliefs in fiction) nicht unterschieden werden. Diese Unterscheidung kann nur durch die Anwendung der vierten Methode zur Festigung der Überzeugungen bzw. die von Peirce genannte logische Methode 52 gemacht werden. Im Unterschied zu der a priori Methode setzt die logische bzw. wissenschaftliche Methode einerseits voraus, dass die Überzeugung nicht (nur) durch das bloße individuelle Gewissen des Einzelnen, sondern von irgendeiner äußeren Permanenz bestimmt werden kann und muss, die ganz unabhängig davon ist, was Du oder Ich oder irgendeine endliche Anzahl von Menschen darüber denken. Wenn die empirisch wissenschaftlichen Forscher die Lösung eines Problems über das Reale suchen, setzen sie notwendig voraus, dass dieses Problem kein Geschmacksproblem, keine Modefrage oder Privatsache ist. Wenn verschiedene Forscher anfangen, sich mit einem empirischen Problem zu beschäftigen, ist es natürlich ganz wahrscheinlich, dass ein jeder eigene Meinungen (bzw. Lösungsvorschläge) darüber haben kann; d. h.: an dem Ausgangspunkt einer empirischen Forschung kann jeder Forscher seine Lieblingshypothese sozusagen erproben und durch seine Lieblingsexperimente überprüfen. Aber im Unterschied zur a priori Methode führt der Fortschritt der wissenschaftlichen Untersuchung jedes einzelnen Forschers zu ein und demselben Schluss. Dieser gemeinsame Schluss, der in jeder empirischen Forschung von jedem möglichen Forscher als endgültiges Ziel des Forschungsprozesses notwendig vorausgesetzt werden muss, ist, was Peirce »letzte Meinung« nennt (bzw. ultimate opinion, final opinion, predestinate opinion) 53 . Peirce, C. P. 5. 383. Vgl. Peirce, C. P. 5. 60, 168, 360 ff., 384 ff.; Reilly, F. E. s.j.: Charles Peirce’s Thoeory of Scientific Method. New York: Fordham Univ. Press, 1970. Siehe auch: Stefan Kappner: Why Schould We Adopt The Scientific Method? A Response to Misak’s Interpretation of Peirce’s Concept of Belief. In: Transactions of the Charles S. Peirce Society, 2000, XXX, 2, S. 253–270. 53 Seihe dazu: Murray G. Murphey: The Development of Peirce’s Philosophy. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 1961, S. 166–168, 301–302; Karl-Otto Apel: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce – Eine Einführung in den amerikanischen Prag51 52

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Die Idee der ultimate opinion bei der sinnkritischen Forschungslogik

Nach Peirce müssen die Resultate eines empirischen Überprüfungsprozesses nicht nur eine wachsende Anzahl von falschen Hypothesen (bzw. die empirischen Hypothesen, die durch empirische Überprüfungen schon widerlegt wurden) hervorbringen, sondern auch eine fortschreitende Konvergenz zwischen den ehemalig unterschiedlichen Meinungen von allen möglichen Forschern, die sich mit ein und demselben Problem über das Reale beschäftigen. Peirces Idee der »letzten Meinung« heißt also, dass die Erkenntnisresultate von verschiedenen Menschen über das Reale in the long run konvergieren müssen. Das Ergebnis des Forschungsprozesses ist eine aproximative Konvergenz zwischen Meinungen über das Reale 54. Der ideale Punkt, wohin alle Meinungen konvergieren müssen, ist eine ultimate opinion bzw. eine letzte und insofern unbestreitbare Meinung, und sie bedeutet für uns eine wahre Erkenntnis. »The opinion which is fated to be ultimately agreed to by all who investigate, is what we mean by the truth, and the object represented in this opinion is the real.« 55 Auf diese Weise verknüpft Peirce die sinnkritische Definition des Realen und die Idee der letzten Meinung: Das Reale ist das Objekt einer letzten Meinung bzw. einer Meinung, die von jedem möglichen Forscher in the lon run 56 bejaht werden muss, weil sie als eine wahre Meinung anerkannt würde. Die letzte Meinung über ein reales Ding, identisch für uns mit einer wahren Meinung, heißt bei Peirce, einen letzten Konsens über das Reale zwischen jedem möglichen Mitglied der Forschungsgemeinschaft zu finden. Wenn die letzte Meinung als »fated to be ultimately agreed« oder als eine »predestinate opinion« 57 bezeichnet wird, muss man diese Ausdrücke nicht in dem Sinne verstehen, dass die Forschungsgemeinschaft die letzte Meinung über das Reale sicher erreichen matismus, 1975, S. 53–59, 115 ff.; Robert Almeder: The Philosophy of Charles S. Peirce: A Critical Introduction. Oxford: Blackwell, 1980, S. 52–98. 54 Vgl. Peter Skagestad: The Road of Inquiry. Charles Peirce’s Pragmatic Realism. New York: Columbia Univ. Press, 1981, S. 187–192. 55 Peirce, C. P. 5. 408. Vgl. auch Peirce, C. P. 5. 430: »Then, according to the adopted definition of ›real‹, the state of things which will be believed in that ultimate opinion is real«; und auch: Peirce, C. P. 8. 12: »But human opinion universally tends in the long run to a definite form, which is the truth«. Siehe dazu: Peter Skagestad: The Road of Inquiry. Charles Peirce’s Pragmatic Realism. New York: Columbia Univ. Press, 1981. 28, 62–72; J. Klawitter, Charles Sanders Peirce. Realität, Wahrheit, Gott, Würzburg: Könighausen und Neumann, 1984, S. 52 ff. 56 »[…] in the long run, say in some thousands of generations«, Peirce, C. P., 5. 60. 57 Vgl. Peirce, C. P., 5. 407, 430; 8. 103–4, 261. A

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wird 58 . Diese Ausdrücke heißen bei Peirce nur, dass die Mitglieder der Forschungsgemeinschaft die Richtung ihrer Forschung nicht willkürlich bestimmen können. Deshalb ist die Aktivität des gemeinsamen Denkens über das Reale unter den Bedingungen der logischen Methode zur Festigung der Überzeugungen etwas wie das Walten des Schicksals 59. Meiner Meinung nach kann man zwei Aspekte der Idee von Peirce der letzten Meinung analytisch unterscheiden. Einerseits benutzt Peirce innerhalb dieser Idee ein sinnkritisches Argument, indem er versucht, durch eine Reflexion über die Bedeutung der sprachlichen Zeichen (bzw. durch die von ihm genannte pragmatische Maxime) die Ideen von Wahrheit und Realität klarzumachen. In dieser Hinsicht müsste man sein Argument durch potentielle Ausdrücke bzw. »would be«-Formulierungen richtig rekonstruieren; z. B.: Eine wahre Aussage würde als letzte bzw. unbestreitbare Meinung eines empirischen Forschungsprozesses die Zustimmung jedes möglichen Forschers in the long run bekommen; ein reales Ding wäre das Objekt einer letzten Meinung usw. Diese potentiellen Ausdrücke sind vielleicht hinreichend, um die sinnkritische Bedeutung von »Realität« und »Wahrheit« zu explizieren. Aber andererseits behauptet Peirce durch dasselbe Argument auch etwas mehr, nämlich, dass wir (bzw. die möglichen Mitglieder der Forschungsgemeinschaft) die Fähigkeit zur Erkenntnis des Realen wirklich besitzen; d. h.: das Reale ist wirklich erkennbar für uns. Ich möchte diesen Aspekt seines Argumentes an dieser Stelle betonen. Es handelt sich nicht nur darum, was die Forscher in the long run erkennen würden (etwa ein Gedankenexperiment über eine prinzipiell unerreichbare Situation) 60 , sondern auch um die wirklichen kognitiven Fähigkeiten, die die Forscher hier und jetzt tatsächlich besitzen, um das Reale erkennen zu können, d. h. die letzte Meinung über das Reale ist für uns eine »reale Möglichkeit«. 61 Dieser zweite Aspekt des sinnkritischen Arguments Vgl. Peirce, C. P. 8. 43; Karl-Otto Apel: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce – Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, S. 254. 59 »Now, just as conduct controlled by ethical reason tends toward fixing certain habits of conduct, the nature of which (…) does not depend upon any accidental circumstances, and in that sense may be said to be destined.« Peirce, C. P., 5. 430. Zur Erklärung des Begriffs von Peirce einer destinated opinion im Rahmen des erwähnten Konvergenzprinzips siehe: Christopher Hookway: Truth, Reality and Convergence. In: Misak, C. (Hrsg): The Cambridge Companion of Peirce, S. 127–149. 60 Vgl. Peirce, C. P. 5, 257; 8, 113; Karl-Otto Apel: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce – Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, S. 54, 173 ff. 61 Vgl. Karl-Otto Apel: Pragmatismus als sinnkritischer Realismus auf der Basis regu58

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Die Idee der ultimate opinion bei der sinnkritischen Forschungslogik

von Peirce sagt nicht voraus, dass wir die letzte Meinung über ein bestimmtes empirisches Erklärungsproblem in der Zukunft sicher erreichen werden. Trotzdem begründet es, dass die letzte Meinung über reale Dinge (bzw. die wahre Antwort auf ein empirisches Problem) für uns prinzipiell erreichbar ist, obwohl man a priori nicht wissen kann, ob wir (bzw. die möglichen Mitglieder der Forschungsgemeinschaft) sie tatsächlich erreichen werden 62 . Zuletzt möchte ich drei kurze Bemerkungen machen. Erstens: Gegenüber der a priori Methode zur Festigung der Überzeugungen, in der das Wort »wahr« nur eine emphatische Bedeutung haben kann 63 , kann man durch die logische Methode sowohl wahre Überzeugungen (beliefs in the real) von falschen Überzeugungen (beliefs in the fiction) 64 unterscheiden als auch einen richtigen von einem unrichtigen Weg, um wahre Überzeugungen bzw. letzte Meinungen über das Reale zu erreichen. Zweitens: Gegenüber der abstrakten Definition des Realen, in der das Reale als »Unabhängigkeit von unserem Denken« mit der paradoxen Vorstellung einer »vollkommenen Unabhängigkeit vom menschlichen Denken im Allgemeinen« einfach verwechselt werden kann, kann man durch die logische bzw. sinnkritische Definition des Realen, als Objekt einer für uns immer schon erreichbaren letzten Meinung, diese paradoxe Vorstellung als sinnlos beiseite lassen. Die Differenzierung zwischen »abhängig davon, was Du oder ich oder irgendeine endliche Anzahl von Menschen darüber denken« und »abhängig vom menschlichen Denken im Allgemeinen bzw. Objekte der letzten Meinung« ist bei Peirce hinreichend, um Fiktion und Realität zu unterscheiden, ohne die paradoxe

lativer Ideen. In Verteidigung einer Peirceschen Theorie der Realität und der Wahrheit. In: Raters, M.-L./Willascheck, M. (Hrsg.): Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, S. 117–147: 132. 62 »In that way, if we think that some questions are never going to get settled, we ought to admit that our conception of nature as absolutely real is only partially correct. Still, we shall have to be governed by it practically; because there is nothing to distinguish the unanswerable questions from the answerable ones, so that investigation will have to proceed as if all were answerable«. Peirce, C. P. 8. 43. Vgl. Karl-Otto Apel: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce – Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, S. 266; Peter Skagestad: The Road of Inquiry. Charles Peirce’s Pragmatic Realism, S. 74– 78, 166. 63 Vgl. Peirce, C. P. 5. 406. 64 »There never was a sounder logical maxim of scientific procedure than Ockam’s razor: Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem«, Peirce, C. P. 5. 60. A

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Vorstellung einer prinzipiell unerkennbaren Realität vorauszusetzen 65 . Drittens kann man klar feststellen, dass Peirces Idee der letzten Meinung mit dem von Popper richtig kritisierten essentialistischen Anspruch, eine »letzte Erklärung« durch eine unmögliche höchste Universalitätsstufe zu liefern, nichts zu tun hat. Peirces Idee der letzten Meinung verweist nicht auf die Erklärungen von verschiedenen Graden der Universalität, sondern auf die schon erwähnte zweite Dimension der empirisch wissenschaftlichen Forschung bei Popper, nämlich auf die Prüfbarkeit der Hypothesen und besonders auf den Überprüfungsprozess selbst. Bei Peirce (»einer der größten Philosophen aller Zeiten« nach Popper) ist die letzte Meinung das Ziel eines jeden empirisch wissenschaftlichen Überprüfungsprozesses, das jeder mögliche Forscher schon immer zu erreichen versucht, und das die (unbegrenzte) Forschungsgemeinschaft in the long run wirklich erreichen kann.

5.5. Der Pragmatismusstreit und der sinnkritische Realismus In den vorigen Abschnitten dieses Kapitels wurden zwei Argumente der transzendentalphilosophischen Tradition rekonstruiert: Erstens die kantsche Deduktion der regulativen Ideen und zweitens die von Peirce vorgeschlagene sinnkritische Rechtfertigung der notwendigen Funktion, die den Begriff einer »ultimate opinion« in der Forschungslogik der Naturwissenschaften erfüllt. Diese Rekonstruktionen fungieren bei unserer Untersuchung als Vorbereitung einiger Bemerkungen über die Rolle der regulativen Ideen im Rahmen der sog. gegenwärtigen Renaissance des Pragmatismus bzw. des aktuellen Pragmatismusstreits über die Begriffe von Wahrheit und Realität. 66 Durch diesen Streit wurden zwei verschiedene Tendenzen des klassischen amerikanischen Pragmatismus in gewisser Weise wiedereingeführt: Einerseits eine Tendenz zur De-Transzendentalisierung der Philosophie, 67 die ursprünglich von William James und von John Dewey stammt und die den Begriff der regulativen Ideen als eine Vgl. Peirce, C. P. 7. 336–345. Siehe dazu: Mike Sandbothe (Hrsg.): Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2000. 67 Vgl. Richard Rorty: Epistemological behaviorism and the de-transcendentalisation of Analitic Philosophy. In: Neue Hefte für Philosophie, 14, 1978. 65 66

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bloß metaphysische Unterstellung leugnet; andererseits die von Karl-Otto Apel durchgeführte kritische Rezeption bzw. transzendentalpragmatische Rehabilitierung des von Peirce gegründeten und genannten »Pragmatizismus«, in dessen Rahmen der oben rekonstruierte sinnkritische Begriff der »ultimate opinion« als eine realistische Version der kantschen regulativen Ideen verstanden wird. Eine gemeinsame Basis der Teilnehmer dieses Streits ist der Anspruch, die dogmatischen Voraussetzungen sowohl der realistischen als auch der idealistischen Metaphysik sinnkritisch zu überwinden. Beide Seiten des Pragmatismusstreits beanspruchen also, eine realistische und postmetaphysische Auffassung zu verteidigen. 68 In diesem Abschnitt wird nicht die ganze Geschichte der verschiedenen Positionen bei dem erwähnten Streit um die regulativen Ideen rekonstruiert. Im Rahmen dieser Erforschung reduziert sich das Interesse für diesen Streit auf die Frage, ob uns die Explikation unseres performativen Handlungswissens etwas über den Sinn der Wahrheits- und der Realitätsbegriffe lehren kann, bzw. ob uns dieses Wissen helfen kann, die Positionen des erwähnten Pragmatismusstreites zu beurteilen. Das in diesem Streit diskutierte Problem ist, ob der Begriff der regulativen Ideen bzw. der Begriff von Peirce eines letzen Konsenses (ultimate opinion) wirklich metaphysische Unterstellungen enthält, die mit dem postmetaphysischen Gesichtspunkt der gegenwärtigen Renaissance des Pragmatismus unvereinbar sind. Die entscheidende Frage ist also, wie dieser unbestreitbare Konsens verstanden werden muss. Um diese Frage anschneiden zu können, muss man einerseits den oben schon von Kant erwähnten vorgeschlagenen Unterschied zwischen der immanenten und der transzendenten Funktion der Vernunftideen von vornherein vor Augen haben 69 . Auf diese Weise kann man zwei Deutungen der regulativen Ideen eines in der naturwissenschaftlichen Forschung immer gesuchten letzten Konsenses über das 68 Horst Gronke verwechselt den Idealismus mit der Behauptung der regulativen Idee und den idealen Argumentationsbedingungen bzw. der idealen Argumentationsgemeinschaft und deshalb präsentiert er m. E. irreführend die Transzendentalpragmatik als eine Art von Idealismus. (Ich komme später darauf zurück.) Vgl. Horst Gronke: Die Relevanz von regulativen Ideen zur Orientierung der Mit-Verantwortung. Eine Verteidigung von Apels transzendentaler Transformation des Pragmatismus. In: Böhler, D. [u. a.] (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung, Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, S. 260–282: 271. 69 Siehe oben 5. 1.

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Reale von Anfang an als unrichtig ausschließen: Einerseits die theologisch-eschatologische Vorstellung eines wirklichen Zustands, die jenseits der Erfahrungswelt wäre, und andererseits auch die utopische Vorstellung eines faktisch realisierten Zustands innerhalb der menschlichen Geschichte bzw. Erfahrung. Beide Vorstellungen verweisen auf die von der transzendentalen Dialektik widerlegte transzendente Bedeutung der Vernunftideen und widersprechen der immanenten bzw. regulativen Funktion derselben. 70 Die Mitglieder einer naturwissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft brauchen diese metaphysischen Vorstellungen eigentlich nicht, um den Sinn ihrer Praxis verstehen zu können. Andererseits darf man aber auch nicht vergessen, dass Kant bei seiner oben angegebenen Quasi-Deduktion der regulativen Ideen bestimmte metaphysische Inhalte (z. B.: die Ideen von Seele, Welt und Gott als Analoga von Schemen) trotzdem einschmuggelt, d. h.: Inhalte, die innerhalb einer postmetaphysischen Auffassung der regulativen Ideen keinen Platz haben dürfen. Deshalb muss man noch erklären, wie die regulative Funktion der Ideen nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie verstanden werden muss. Um eine solche Erklärung ohne idealistisch-metaphysische Unterstellungen liefern zu können, hat die überwiegende Position im gegenwärtigen Pragmatismusstreit für eine gewisse Abkoppelung der Begriffe von Wahrheit und Rechtfertigung plädiert. Die Argumente für diese Abkoppelung bestehen einerseits in einer perspektivischen Auffassung der pragmatisch bzw. performativen Idealisierungen, die die Erhebung und Einlösung von Wahrheitsansprüchen ermöglichen, und andererseits in der realistisch intendierten Behauptung der Unabhängigkeit der Naturrealität von der menschlichen Erkenntnis und eines »strikt nicht epistemischen« Moments des Wahrheitsbegriffs. 71 Vgl. die Kritiken von Apel an Wellmer in: Karl-Otto Apel: Wahrheit als regulative Idee. In: Böhler, D. [u. a.] (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung, Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, S. 171–197. 71 Zur Verteidigung eines pragmatischen Perspektivismus siehe Albrecht Wellmer: Der Streit um die Wahrheit: Pragmatismus ohne regulative Ideen. In: Böhler, D./Kettner, M./Skirbekk, G. (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 143–170; ders., Pragmatismus ohne regulative Ideen. Sieben Thesen zu Rorty und Apel, in: Boe, S./Molander, B. (Hrsg.): I Forste: Andre Og tredje person, Trondheim, 1999, S. 375–380; ders.: Endspiele. Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a. M., 1993. Zur realistisch intendierten Behauptung siehe Jürgen Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung: Philosophische Auf70

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Die erwähnte Auffassung behauptet eine irreduzible Differenz der Perspektiven der verschiedenen Sprecher. Diese Behauptung enthält die folgende These: »Meine Gründe – was immer ich als gute Gründe annehme – sind eo ipso gute Gründe […] Für mich sind die begründeten Überzeugungen notwendigerweise die wahren Überzeugungen. Mit Bezug auf jeden anderen sind dagegen Begründungen nicht notwendigerweise stichhaltig und entsprechende Überzeugungen nicht notwendigerweise wahr.« 72

Erst aufgrund dieser Differenz konstituiert sich ein sog. »transsubjektiver Wahrheitsraum«, in dem jede Perspektive bestritten werden kann. Nach dieser Auffassung gibt es also die folgende Alternative. Wenn die Wahrheit mit der Rechtfertigung verbunden wird, bleibt der Wahrheitsbegriff perspektivisch relativ. Wenn dieser Begriff hingegen als transsubjektiv behauptet wird, bleibt die Wahrheit strittig. Auf diese Weise versucht Albrecht Wellmer, die von ihm wahrgenommene metaphysische Rückkehr der diskurspragmatischen Verbindung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung bzw. die sinnkritischen Begriffe der »ultimate opinion« und der regulativen Idee zu vermeiden. Karl-Otto Apel hat m. E. schon richtig nachgewiesen, dass die perspektivische Auffassung Wellmers erstens eine Kapitulation gegenüber dem Relativismus bedeutet, zweitens den falliblen Charakter der subjektiven Überzeugungen verkennt und drittens zu

sätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999, S. 230–318, und Hilary Putnam: Comments and Replies. In: Clark, P./Hale, B. (Hrsg.): Reading Putnam, Oxford [u. a.]: Blackwell, 1994, S. 242–295; ders.: Pragmatism and Realism. In: Cardozo Law Review 18 (1996), S. 153–170; ders.: Werte und Normen. In: Wingert, L./Günther, K. (Hrsg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Eine Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, S. 280–313. Zur diesem »strikt nicht epistemischen Moment« siehe: Cristina Lafont: Spannungen im Wahrheitsbegriff. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 42, 1994, S. 1007–1023. 72 Albrecht Wellmer: Der Streit um die Wahrheit: Pragmatismus ohne regulative Ideen. In: Böhler, D./Kettner, M./Skirbekk, G. (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, S. 143–170, 157. Gegen diese perspektivistische Deutung der Güte eines Grundes siehe: Matthias Kettner: Gute Gründe. Thesen zur diskursiven Verunft. In: Apel, K.-O./Kettner, M.: Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996, S. 424–464; und ders.: Second thought about argumentative diskurse, good reasons, and »communikative rationality«. In: Boe, S./Molander, B.: I Forste: Andre Og tredje person (Festschrift für A. Øfsti.), Trondheim, 1999, S. 223–233. A

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einer performativ selbstwidersprüchlichen Explikation des Sinns von Wahrheit führt. 73 Die regulative Idee eines letzten Konsenses einer unbegrenzten Diskursgemeinschaft, der für uns identisch mit der Wahrheit ist, wurde auch durch die Behauptung eines angeblich »rechtfertigungstranszendenten« bzw. »strikt nicht epistemischen« Moments des Wahrheitsbegriffes bestritten. Diese Behauptung drückt eigentlich die Intention einer realistischen Wende der Diskurstheorie der Wahrheit aus. Das Ergebnis dieser Wende war die Revokation des ehemaligen von Habermas und Putnam behaupteten Verständnisses des Sinnes des Wahrheitsbegriffs als »rationale Akzeptierbarkeit« (»rational acceptability« oder auch »warranted assertability«) 74 . Die Vertreter dieser Wende wollen eigentlich die Diskurstheorie der Wahrheit vor dem Idealismus retten und diese Intention motiviert sie zu behaupten, dass nicht der Diskurs sondern die Realität eine Aussage wahr macht 75 . Wie schon Apel richtig bemerkt hat, ist das Risiko dieser Position ein unbemerkter und unbeabsichtigter Rückfall in ein externalistisches bzw. metaphysisches Verständnis des Wahrheits- und Realitätsbegriffs, der mit der postmetaphysischen Wende der Gegenwartsphilosophie schlechthin unvereinbar ist. Bei dem hier nur erwähnten Pragmatismusstreit über die regulativen Ideen scheint also die entscheidende Frage zu sein, ob ein nicht metaphysischer Realismus sinnkritisch gerechtfertigt werden kann, bzw. nur durch eine immanente Reflexion über die Möglichkeitsbedingungen des diskursiven Einlösungsvorgangs von Wahrheitsansprüchen über das Reale. Der Ausdruck »sinnkritischer Realismus« enthält eigentlich eine Spannung zwischen zwei Polen: dem Diskurs und der Realität. Jeder Pol hat sozusagen sein Recht, das respektiert werden muss, um den vollständigen Sinn dieses Ausdrucks erhalten zu können. Die Entkräftung der Bedeutsamkeit des Diskurses als das einzige Mittel, den Sinn der Begriffe von Wahrheit und Realität zu explizieren, kann zu einem metaphysischen Realismus führen. Die Entkräftung der Realität zugunsten der Rolle des Diskurses kann aber zu einer Art von semiotischem Idealismus bzw. einer 73 Siehe dazu: Karl-Otto Apel: Wahrheit als regulative Idee. In: Böhler [u. a.] (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung, Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, S. 171–197. 74 Siehe dazu: Hilary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990. 75 Vgl. Jürgen Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt: Suhrkamp, 1999, S. 284 ff.

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semiotizistischen Verneinung des realen Denotatum von sprachlichen Zeichen führen. 76 Um die Bedeutung des Ausdrucks »sinnkritischer Realismus« erklären zu können bzw. um den Sinn der von dieser Art von Realismus behaupteten These aufgrund einer reflexiven Berücksichtigung unseres performativen Handlungswissens explizieren zu können, kann man die oben schon angegebenen von Peirce vorgeschlagenen zwei Definitionen der Realität noch einmal näher betrachten. Nach der abstrakten und dunklen Definition, die vom Gemeinsinn unterstellt wird, ist die Realität vom menschlichen Denken (bzw. was ich, du oder irgendeine endliche Anzahl von Menschen denken) völlig unabhängig. Nach der sinnkritischen bzw. durch die Anwendung der pragmatischen Maxime geschaffenen Definition ist die Realität hingegen vom menschlichen Denken bzw. von der ultimate opinion des Forschungsprozesses völlig abhängig. Diese zwei Definitionen können eigentlich als zwei verschiedene Aspekte eines diskursbezogenen Realitätsbegriffs verstanden werden, die eigentlich zwei verschiedene semiotische Kategorien hervorheben. Die erste Definition verweist auf die verschiedenen Zeitpunkte des Forschungsprozesses, in der sich die Realität als etwas Externes zu den verschiedenen diskursiven Erklärungsversuchen präsentiert. Das Reale bleibt in diesem faktischen Rahmen als unabhängig von den Versuchen, es zu erklären. Diese Unabhängigkeit besteht eben darin, dass die Erklärungsversuche keine Änderung in der zu erklärenden Realität verursachen. Dieses »externe« Moment des Realitätsbegriffs ist nach Peirce eine notwendige Voraussetzung der logischen bzw. naturwissenschaftlichen Methode, um Überzeugungen zu festigen: »To satisfy our doubts, therefore, it is necessary that a method should be found by which our beliefs may be determined by nothing human, but by some external permanency – by something upon which our thinking has no effect […]. It must be something which affects or might affect, every man.« 77

Die erste Definition der Realität entspricht der semiotischen Kategorie der Zweiheit, weil diese Definition den Gegensatz zwischen den durch den Forschungsprozess erreichten Meinungen und der permanenten und externen Realität voraussetzt. Wie oben schon ange76 Vgl. Karl-Otto Apel: Zur Idee einer transzendentalen Sprachpragmatik. In: Simon, J. (Hrsg.): Aspekte und Probleme der Sprachphilosophie. Freiburg: Alber, 1974, S. 283– 326. 77 Charles Sanders Peirce: The Fixation of Belief. In: C. P. 5. 384.

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geben, ist diese Definition der Realität dunkel und abstrakt. Deshalb muss der Realitätsbegriff durch die Anwendung der pragmatischen Maxime klarer definiert werden. Durch diesen Schritt geht die Reflexion über die abstrakte Kontra-Position von menschlichen Meinungen und bestehenden Sachverhalten hinaus und versteht die Wahrheit als regulative Idee des Forschungsprozesses bzw. als ultimate opinion und die Realität als den Gegenstand dieser wahren Meinung. Dieser Schritt entspricht der semiotischen Kategorie der Drittheit. Betrachten wir näher das Ergebnis der Anwendung der pragmatischen Maxime zum Realitätsbegriff. Dieses Ergebnis hat zwei Aspekte, die hier hervorgehoben werden müssen, um den Begriff eines sinnkritischen Realismus erklären zu können. Einerseits sagt Peirce: »The only effect which real things have is to cause belief […].« 78 Anderseits sagt er aber auch: »The object of the final opinion depends on what that opinion is.« 79 Es handelt sich also um eine besondere Beziehung zwischen der letzten Meinung (final opinion) und ihrem Gegenstand bzw. der Realität. Diese Beziehung muss man näher betrachten, um den Begriff eines internen bzw. sinnkritischen Realismus verstehen und verteidigen zu können. Meines Erachtens besteht diese Beziehung in einer besonderen Art von reziproker Abhängigkeit. Einerseits muss man beachten, dass die Realität als Gegenstand der letzten Meinung des Forschungsprozesses von dieser Meinung nur im epistemischen Sinn abhängen kann. Die Bedeutung dieser Abhängigkeit besteht nur darin zu ermöglichen, die Realität als prinzipiell erkennbar aufzufasCharles Sanders Peirce: How to make our ideas clear. In: C. P. 5. 406. [Hervorhebung von mir.]. Apel versucht, die Perspektive der hier zitierten Aufsätze Peirces zu unterscheiden, ohne sehen zu können, dass die in diesen Aufsätzen behaupteten Thesen voll vereinbar sind. Der von ihm vorgebrachte Grund seines Versuchs ist das Urteil von Murray G. Murphey, der »The Fixation of Belief« für »eine der seltsamsten und am wenigsten befriedigenden [Arbeiten], die Peirce jemals verfasst hat« hält. Trotzdem ist hier zu bemerken, einerseits, dass »The Fixation of Belief« im November 1877 und »How to make our ideas clear« im Januar 1878 als erster und zweiter Aufsatz einer einzigen Reihe über »Illustrations of Logik of Science« veröffentlicht wurden, und andererseits, dass Peirce in dem zweiten Aufsatz zwei Mal auf den ersten verweist und auf keine Positionsänderung hinweist. Vgl. Ch. S. Peirce, CP. 5. 391, 5. 406; Karl-Otto Apel: Pragmatismus als sinnkritischer Realismus auf der Basis regulativer Ideen. In Verteidigung einer Peirceschen Theorie der Realität und der Wahrheit: In: Raters, M.-L./Willascheck, M. (Hrsg.): Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, S. 117–147, 130; Murray G. Murphey: The Development of Peirce’s Philosophy, S. 164. 79 Ch. S. Peirce, C. P. 5.408 [Hervorhebung von mir.]. 78

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sen. Die menschlichen Meinungen bzw. auch die letzte Meinung müssen aber andererseits als von ihrem realen Gegenstand verursacht bzw. ontologisch bestimmt werden. In ontologischem Sinne hängt also der Inhalt der wahren menschlichen Meinung von den Eigenschaften der Realität ab. Ohne die erwähnte epistemische Abhängigkeit der Realität von dem gesuchten letzten Konsens könnte die sinnlose Vorstellung eines prinzipiell unerkennbaren Dinges an sich postuliert werden. Ohne die erwähnte ontologische Abhängigkeit des Inhalts der wahren Meinung von der in dieser Meinung gedachten Realität würde es sich um eine idealistische Erkenntnisauffassung handeln. Der Begriff eines sinnkritischen Realismus fordert deshalb diese gegenseitige Abhängigkeit des Diskurses und der Realität. Auf einer Seite fordert der sinnkritische Charakter dieses Realismus, die externalistische bzw. metaphysische Kontra-Position zwischen menschlichen Meinungen bzw. dem menschlichen Diskurs und der Realität zu vermeiden. Die Realität kann innerhalb dieser Konzeption nur durch eine Reflexion auf den diskursiven Forschungsprozess, die sie zu erkennen erlaubt, aufgefasst werden. Das Ergebnis dieser Reflexion ist die pragmatische Definition der Realität als Gegenstand der letzten Meinung, die durch diesen Prozess erreicht werden könnte. Das Reale hängt von dieser Meinung epistemisch ab, weil es sinnlos ist, eine unerkennbare Eigenschaft der Realität zu behaupten. Auf der anderen Seite fordert der realistische Charakter dieser Auffassung aber, dass der Inhalt der letzten Meinung von dem Inhalt der Realität sozusagen ontologisch bestimmt werden muss. 80 Mit anderen, Peirceschen Worten, kann man sagen, dass die Überzeugungen die einzigen Wirkungen der Realität sind. Die Anerkennung dieser ontologischen Abhängigkeit der letzten Meinung hinsichtlich ihres realen Gegenstandes ist einerseits kein Grund, um eine epistemische Unabhängigkeit dieses Gegenstandes bzw. die Möglichkeit eines unerkennbaren Dinges an sich zu behaupten, ist aber andererseits eine Bedingung jeder Art von Realismus, also auch des sinnkritischen Realismus. Der Realismus ist eine erkenntnistheoretische Position, dessen Hauptthese lautet: Bei Erkenntnishandlungen bestimmt der Gegen-

80 Siehe dazu: Daniel Kalpokas: El problema del conocimiento del mundo externo: de Kant a Peirce. In: Fernández, G./Parente, D. (Hrsg.): El legado de Immanuel Kant. Actualiad y perspectivas. Mar del Plata: Suarez, 2004, S. 83–89.

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stand die Erkenntnis, d. h.: der Gegenstand ist bestimmend und die Erkenntnis wird von ihren Gegenstand bestimmt. Eine Auffassung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, die den Erkenntnishandlungen die Aufgabe zuschreibt, den Naturgegenstand irgendwie zu schaffen, ist keine realistische, sondern eine idealistische Auffassung. Ein schon von Giambattista Vico bemerkter Unterschied zwischen den Gegenständen der Geisteswissenschaften und der Naturwissenschaften besteht eben darin, dass die ersten menschliche Werke sind und die zweiten nicht. Die von den Menschen geschaffenen Institutionen hängen vom menschlichen Denken auch ontologisch ab, die Naturgegenstände nur epistemisch. 81 Um realistisch zu bleiben, muss der sinnkritische Realismus anerkennen, dass das menschliche Denken bzw. auch die durch den Forschungsprozess gesuchte letzte Meinung als wahre Erkenntnis von ihrem realen Gegenstand inhaltlich bestimmt wird. Um sinnkritisch zu bleiben, muss diese Auffassung hingegen anerkennen, dass dieser reale Gegenstand prinzipiell erkennbar ist. Es gibt eigentlich keinen Widerspruch in der gleichzeitigen Behauptung der ontologischen Abhängigkeit der wahren Erkenntnis hinsichtlich der von ihr erkannten Realität und der epistemischen Abhängigkeit der Naturrealität hinsichtlich des menschlichen Diskurses. Diese Behauptung wird vielmehr von unserem performativen Handlungswissen in gewisser Weise gefordert. (Ich komme wieder darauf zurück.) In Bezug auf die epistemische Abhängigkeit der Realität hinsichtlich des menschlichen Denkens bzw. des durch den Forschungsprozess gesuchten letzten Konsenses über die Realität muss man aber eine bekannte und schon angegebene Differenz zwischen dem Verständnis der regulativen Ideen bei der klassischen Transzendentalphilosophie Kants einerseits und bei der sprachpragmatischen Transfor-

Hier ist hervorzuheben, dass die von Peirce vorgeschlagene sinnkritische Definition der Naturrealität deshalb über die theologischen Voraussetzungen des Prinzips verum/ factum Vicos hinausgeht, insofern sie die menschliche Erkennbarkeit der Naturrealität nachweist. Vgl.: Giambattista Vico: De nostri temporis studiorum ratione, IV. In: ders.: Opere. Hrsg. v. Battistini, A. Bd. 1. Milano, 1990, S. 114–118; ders.: Liber metaphysicus. Risposte. Lateinisch-Deutsche und Italienisch-Deutsche Ausgabe, München: Fink, 1979; ders.: Principi di Scienza Nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni, § 331. In: ders., Opere. Hrsg. v. Battistini, A. Bd. 1. Milano, 1990, S. 541–542; Alberto Mario Damiani: Domesticar a los gigantes. Sentido y praxis en Vico. Rosario: UNR Editora, 2005, S. 241–259. 81

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mation dieser Philosophie andererseits vor Augen haben. Diese Differenz besteht in der sinnkritischen Ersetzung der metaphysischen Unterscheidung Kants zwischen erkennbaren Erscheinungen und angeblich denkbaren, aber unerkennbaren Dingen an sich durch die sinnkritische Unterscheidung Peirces zwischen dem faktischen Erkannt und dem in the long run Erkennbar. Diese sinnkritische Unterscheidung muss man beachten, wenn man die besondere Bedeutung der regulativen Ideen im postmetaphysischen Rahmen richtig verstehen will. Die entscheidende Frage zu dieser Problematik lautet: Wie muss der sinnkritische Begriff eines letzten Konsenses eigentlich aufgefasst werden? Um diese Frage richtig beantworten zu können, müssen m. E. zwei komplementäre Aspekte unterschieden werden. Den ersten Aspekt kann man folgendermaßen präsentieren. Fast alle Missverständnisse um die Bedeutung des sinnkritischen Begriffes eines letzten Konsenses im Rahmen des gegenwärtigen Pragmatismusstreits entstehen aus der Verwechselung dieses Begriffs des letzten Konsenses mit dem Begriff eines faktisch erreichten Konsenses. Nur diese irreführende Verwechslung ermöglicht die folgende Frage: Durch welche Kriterien können die Diskuspartner bzw. die Mitglieder einer Forschungsgemeinschaft bestätigen, dass sie den letzten Konsens bzw. eine unbestreitbare Lösung für ein naturwissenschaftliches Problem schon erreicht haben? Mit anderen Worten: »Wie können wir sicher wissen, dass ein künftiger Konsens tatsächlich der letzte sein wird.« 82 Die erwähnte Verwechslung besteht eben darin, dass nur ein faktischer Konsens als schon erreicht gedacht werden kann. Der letzte Konsens hingegen kann niemals als schon erreicht, sondern immer nur als gesucht gedacht werden. Der letzte Konsens ist also das von jedem naturwissenschaftlichen Forschungsprozess gesuchte Ziel. Jeder schon erreichte Konsens ist bestreitbar und genau deshalb kann er keinesfalls für den letzten gehalten werden. Die prinzipielle Bestreitbarkeit bzw. Fallibilität jedes schon erreichten Konsenses über das Reale muss man natürlich annehmen. Um die Rolle der regulativen Idee des letzten Konsenses verstehen zu 82 Skirbekk, G.: Praxeologie der Moderne. Universalität und Kontextualität der diskursiven Vernunft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2002, S. 62. Siehe auch: ders.: Rationaler Konsens und ideale Sprechsituation als Geltungsgrund? In: Kuhlmann, W./ Böhler, D. (Hrsg.): Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl Otto Apel, S. 54–82.

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können, ist aber die entscheidende Frage folgende: Wofür bestreiten wir als mögliche Mitglieder der Forschungsgemeinschaft Lösungsvorschläge für naturwissenschaftliche Probleme? Durch die Widerlegung von Hypothesen suchen wir eigentlich keine bestreitbare Antwort, sondern eben eine, die allen Entkräftungsversuchen unter idealen Diskursbedingungen standhalten kann. 83 Die regulative Idee eines letzten Konsenses kann erst verstanden werden, wenn wir nicht nur die bestreitbare Aussage über das Reale sondern auch und besonders unsere Bestreitungshandlungen beachten. Die regulative Idee eines letzten Konsenses ist eine notwendige Sinnbedingung dieser Handlungen, weil wir diese Handlungen ohne die Voraussetzungen dieser Idee nicht verstehen könnten und genau deshalb sie als unsere Handlungen auch nicht sinnvoll durchführen könnten. Wenn wir die wahre Lösung eines naturwissenschaftlichen Problems durch Widerlegung von den gegebenen Lösungsvorschlägen suchen, ist ein unbestreitbarer Konsens das Ziel unserer Suche. Ohne das Ziel wäre die Suche sinnlos. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang lautet also: Was suchen wir, wenn wir hypothetische Aussagen über die Naturrealität bestreiten? Die Antwort auf diese Frage kann nicht sein: »wir suchen bestreitbare Aussagen«, weil wir solche Aussagen überhaupt nicht zu suchen brauchen: wir haben schon bestreitbare Aussagen über die Realität. Die Vermeidung der Verwechslung von Begriffen eines schon erreichten faktischen Konsenses über das Reale und des gesuchten letzten Konsenses darüber enthält einen ersten entbehrlichen Aspekt der Explikation der regulativen Bedeutung dieser Art von Konsens. Die Vermeidung dieser Verwechslung ist aber nicht hinreichend, um alle die Missverständnisse um die Bedeutung der regulativen Ideen nach der sprachpragmatischen bzw. postmetaphysischen Wende zu beseitigen. Neue Missverständnisse um die regulative Funktion des letzten Konsenses können sich auch genau von der ausgewählten Argumentationsstrategie gegen die erwähnte Verwechslung dieses Konsenses mit einem faktischen schon erreichten herleiten. Diese Argumentationsstrategie kann natürlich durch einen philosophisch-historischen Hinweis auf folgende kantsche Bemerkungen anfangen: die regulativen Ideen verweisen nur auf die Richtung 83 Vgl. Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der Kommunikativen Kompetenz. In: Habermas, J./Luhmann, N.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, S. 101–141.

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der Vervollständigung der möglichen Erfahrung und genau deshalb kann nichts Empirisches diesen Ideen »jemals« in der zeitlichen und räumlichen Erfahrung entsprechen. Diese kantsche Bemerkung ist noch im postmetaphysischen Rahmen des gegenwärtigen Pragmatismusstreits wertvoll, um darauf hinweisen zu können, dass die imaginäre Vorstellung einer faktischen Situation, in der die Mitglieder der Forschungsgemeinschaft die Erreichung eines letzten Konsenses tatsächlich bestätigen können, unangemessen ist, d. h.: diese utopische Vorstellung hat mit der durch eine sinnkritische Reflexion nachgewiesenen regulativen Idee dieses Konsenses nichts zu tun. Diese durch kantsche Bemerkungen geleitete Argumentationsstrategie kann man natürlich mit dem Unterschied zwischen dem faktischen Charakter der naturwissenschaftlichen Erfahrungserkenntnis und der kontrafaktischen Bedeutung der regulativen Ideen fortsetzen. Diese Fortsetzung hat noch einen wichtigen Anhaltspunkt in der Unterscheidung zwischen den »will be«- und den »would be«-Formulierungen von Peirce von der regulativen Hoffnung, d. h.: die sinnkritische Forschungslogik kann natürlich nicht voraussagen, dass der letzte Konsens in Zukunft tatsächlich erreicht wird, sondern kann nur den Sinn des Wahrheitsbegriffs in Bezug auf die Idee dieses Konsenses folgendermaßen erklären: »Wahrheit (hinsichtlich der Realität überhaupt) ist derjenige Konsens, der in einer unbegrenzten Forschungsgemeinschaft zuletzt erreicht würde.« 84 Nach der Durchführung dieser zwei Schritte in der Erklärung der regulativen Bedeutung des letzten Konsenses muss aber eine Formulierung geschaffen werden, die der postmetaphysischen Transformation der Transzendentalphilosophie konsequenterweise entsprechen kann. In diese Richtung geht z. B. die begriffliche Differenzierung zwischen der »would be«-Formulierung Peirce und der fiktionalistischen »als ob«-Formulierung Kants. Die postmetaphysische Wende der Transzendentalphilosophie fordert aber m. E. etwas mehr, nämlich den Verzicht auf alle kantschen Ausdrücke, die noch auf die metaphysische Unterscheidung zwischen erkennbaren Phänomenen und unerkennbaren Dingen an sich verweisen. Um die utopische Vorstellung eines realisierten Zustandes zu vermeiden, 84 Karl-Otto Apel: Pragmatismus als sinnkritischer Realismus auf der Basis regulativer Ideen. In Verteidigung einer Peirceschen Theorie der Realität und der Wahrheit. In: Raters, M.-L./Willascheck, M. (Hrsg.): Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, S. 117–147: 133.

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braucht man nicht die metaphysische »zwei Welten Theorie« Kants zu rehabilitieren. 85 Kann man durch ein reflexives bzw. sinnkritisches Verfahren das Reale als immer schon erkennbar, aber niemals schon erkannt definieren, dann muss man schlechthin anerkennen, dass der im Forschungsprozess gesuchte letzte Konsens als immer schon realisierbar vorausgesetzt werden muss, obwohl er als schon realisiert nicht sinnvoll behauptet werden kann. Wenn man diesen Konsens, der für uns identisch mit der Wahrheit über das Reale ist, von vornherein als prinzipiell nicht realisierbar denken würde, müsste man konsequenterweise die prinzipielle Unerkennbarkeit des Realen behaupten. Wenn das Reale erkennbar ist, muss man hingegen annehmen, dass die regulative Idee des letzten Konsenses über das Reale prinzipiell realisierbar ist, d. h. dass seine Realisierung eine »reale Möglichkeit« ist. 86 Der Begriff der faktischen bzw. tatsächlichen Verwirklichung dieser Möglichkeit ist aber keine sinnvolle bzw. regulative Idee, sondern eine metaphysische Vorstellung, die einerseits kein sinnkritisches Verfahren rechtfertigen kann und andererseits doch zu Paradoxa führt. Ohne die Vorstellung dieser Verwirklichung und aufgrund des Begriffes eines bloß möglichen Konsenses gibt es – so weit ich sehe – aber keine paradoxe Konsequenz. Der letzte Konsens ist also eine reale Möglichkeit, die immer als Möglichkeit gedacht werden muss und nur als Möglichkeit gedacht werden kann, weil die Vorstellung seiner tatsächlichen Realisierung keinen regulativen bzw. immanenten Sinn für unsere aktuelle Diskurspraxis hat. Diese metaphysische Vorstellung befindet sich jenseits der Grenze der Forderungen unseres performativen Handlungswissens.

85 Zu dieser Rehabilitation siehe: Horst Gronke: Die Relevanz von regulativen Ideen zur Orientierung der Mit-Verantwortung. Eine Verteidigung von Apels transzendentaler Transformation des Pragmatismus. In: Böhler, D. [u. a.] (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung, Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, S. 260–282. 86 Vgl. Karl-Otto Apel: Pragmatismus als sinnkritischer Realismus auf der Basis regulativer Ideen. In Verteidigung einer Peirceschen Theorie der Realität und der Wahrheit. In: Raters, M.-L./Willascheck, M. (Hrsg.): Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, S. 117–147: 132.

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5.6. Der sinnkritische Realismus und der Konsensbegriff Die von Peirce angefangene und von Apel fortgesetzte semiotische Transformation der Transzendentalphilosophie Kants hat wichtige Konsequenzen hinsichtlich der Funktion und der Bedeutung der regulativen Ideen. Bei dieser Transformation wird einerseits die kantsche Deduktion der erfahrungskonstitutiven Grundsätze a priori durch eine sinnkritische Rechtfertigung des synthetischen Schlussverfahrens (Induktion und Abduktion) und der Zeicheninterpretationsprozesse und andererseits die Synthese der Vorstellungen eines transzendentalen Selbstbewusstseins, die nach Kant der Höhepunkt der transzendentalen Logik war, durch eine letzte Meinung bzw. einen letzten Konsens einer unbegrenzten Forschungsgemeinschaft ersetzt. Dieser letzte Konsens fungiert einerseits als regulative Idee, weil er die Forschung in eine bestimmte Richtung bzw. zu einem Konvergenzpunkt lenkt. Andererseits bekommt die regulative Idee eines letzten Konsenses eine konstitutive Funktion in der Forschungslogik. Ein anderer Aspekt der sprachpragmatischen Transformation der Transzendentalphilosophie betrifft die Bedeutung der regulativen Ideen. Während Kant diese Ideen als ein unbestimmtes System der möglichen Erfahrung bzw. als »die größte Einheit neben der größten Ausbreitung« der empirischen Begriffe präsentiert, stellt Peirce seine sinnkritische These einer ultimate opinion als die Idee einer unbestimmten bzw. noch nicht erkannten, aber erkennbaren Lösung eines partikularen naturwissenschaftlichen Problems bzw. als die wahre Antwort auf eine partikulare Frage nach der Naturrealität dar. 87 Natürlich muss man auch unterstellen, dass diese wahren einzelnen Antworten untereinander kompatibel bzw. nicht widersprüchlich sein müssen. 88 Vgl. Peirce, C. P. 5. 407. Apel behauptet auch eine »holistische Fundierung« aller einzelnen wahren Aussagen in der ultimate opinion, die vielleicht für die kantsche Einheit und Ausbreitung der möglichen Erfahrungserkenntnis gehalten werden kann. Vgl.: Karl-Otto Apel: Wahrheit als regulative Idee. In: Böhler, D. [u.a] (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung, Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, S. 171–197: 196, Fn. 47. Die Frage ist aber, ob dieser holistische Wahrheitsbegriff durch eine sinnkritische bzw. strikt transzendentale Reflexion oder durch eine hypothetisch metaphysische Überlegung begründet werden kann. Siehe dazu die folgende Stelle Apels: »But I would concede that the function of philosophy cannot and must not be restricted to that of a strictly transcendental First Philosophy. Since the speculative thought of human beings ought not to be restricted – even in the interest of the scope of empirical sciences –, there should be a type of specu87 88

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Trotz dieser wichtigen unterscheidenden Bemerkung über die Funktion und die Bedeutung der regulativen Ideen in der klassischen und in der sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie bleibt die Notwendigkeit dieser Ideen, die beide Arten von Transzendentalphilosophie durch ein besonderes Argument zu begründen, nämlich durch die Deduktion der regulativen Ideen bei Kant und das sinnkritische Argument der ultimate opinion bei Peirce. Diese Argumente weisen nach, dass die regulative Idee keine willkürliche und kontingente Unterstellung, sondern eine notwendige Voraussetzung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ist. Die sprachpragmatisch transformierte Transzendentalphilosophie hat aber auch anerkannt, dass die Reichweite des regulativen Konsensbegriffes über die naturwissenschaftliche Forschung hinausgeht, weil dieser Begriff bei jedem theoretischen oder praktischen Diskurs immer schon als eine pragmatische Sinnbedingung vorausgesetzt werden muss. Die regulative Idee eines letzten Konsenses spielt also nicht nur bei der sinnkritisch realistischen Auffassung der Natur, sondern auch bei einer transzendentalpragmatischen Hermeneutik der Geisteswissenschaften und bei der Diskursethik eine unentbehrliche Rolle. Apel hat in verschiedenen Büchern und Aufsätzen eine erleuchtende Interpretation der sinnkritischen Theorie von Peirce dargelegt. Diese Interpretation hat die Unterschiede zwischen Poppers und Peirces Falsifikationismus schon bemerkt und deswegen ist sie auch eine theoretische Voraussetzung meines im dritten Abschnitt dieses Kapitels dargelegten Versuchs, die Idee Peirces der »letzten Meinung« im Gegensatz zu der von Popper kritisierten Idee der »letzten Erklärung« zu erläutern 89 . Ich möchte an dieser Stelle noch kurz darauf hinweisen, dass Apel die Auffassung Peirces nicht nur interpretiert hat, sondern auch einen neuen philosophischen Gebrauch dieser Auffassung entwickelt hat, der in verschiedenen Hinsichten als eine erlative, but not dogmatic but globally hypothetical metaphysics, as Peirce suggested«: Karl-Otto Apel: What is Philosophy? – The Philosophical Point of View after the End of Dogmatic Metaphysics. In: Heid, S./Rangland, S. (Hrsg.): What is Phylosophy? New Haven: Yale Univ. Press, 2001, S. 153–182. 89 Vgl. Karl-Otto Apel: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce – Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus; ders.: Transformation der Philosophie, Bd. II, S. 96–127, 157–177; ders.: C. S. Peirce and the Post-Tarskian Problem of an Adequate Explication of the Meaning of Truth: Towards a Transzendental-Pragmatic Theory of Truth. In: E. Freeman (Hrsg.): The Relevance of Charles Peirce, S. 189–223; Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 80–104.

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weiterte Fassung von Peirces Auffassung verstanden werden kann. Apels Erweiterung von Peirces Auffassung besteht darin, dass Apel sich nicht nur mit den von Peirce besonders90 behandelten, empirisch naturwissenschaftlichen Aussagen über die objektive Welt bzw. über die Natur beschäftigt, sondern auch mit anderen Typen von Aussagen; z. B. beschreibende Aussagen der Geisteswissenschaften über die intersubjektive Welt bzw. die Gesellschaft lato sensu (1), normative Aussagen des Rechts und der Sittlichkeit (2), unvermeidliche und unhintergehbare Argumentationsvoraussetzungen (3). Im Rahmen des vorliegenden Kapitels kann ich nicht die ganze Transzendentalphilosophie von Apel rekonstruieren. Deshalb möchte ich hier nur betonen, dass die Idee der letzten Meinung in dieser Philosophie eine wichtige Rolle spielt, auch wenn es sich nicht um die unvermeidlichen und unhintergehbaren Argumentationsvoraussetzungen handelt. Die transzendentalpragmatische Konsenstheorie der Wahrheit Apels handelt auch von Aussagen über das Reale und erklärt den Sinn der Wahrheit von diesen Aussagen durch die Idee der letzten Meinung, ohne auf das Letztbegründungsargument direkt zurückzugreifen: »Für das Verständnis dieses sinnkritischen Grundarguments der Peirceschen Konsenstheorie der Wahrheit ist es m. E. entscheidend, dass man es ganz unabhängig sieht von der erst später zu beantwortenden Frage, durch welche methodischen Forderungen die idealen Bedingungen des Konsensbildungsdiskurses sichergestellt werden können. […] Aber die Anfangspointe des Peirceschen – von mir als transzendentalpragmatisch bzw. sinnkritisch verstandenen – Ansatzes besteht darin, daß der Sinn dessen, was wir in einem pragmatisch relevanten Sinn als Wahrheit verstehen können, jedenfalls in der von uns überhaupt (d. h. unter den optimalen Bedingungen) erreichbaren, von uns allen nicht mehr bestreitbaren Meinung liegen muss. Wird dies nicht von Anfang an unterstellt, dann gibt es eben keinen pragmatisch relevanten Sinn von Wahrheit.« 91 90 Peirces Auffassung von inquire als einer Methode zur Festigung der Überzeugungen betrifft mehr oder weniger philosophische Probleme, die jenseits der Logik der Forschung stricto sensu sind, z. B. das Problem der Beurteilung der Vorteile und Nachteile der verschiedenen Methoden zur Festigung der Überzeugungen, die Peirce durch einen Vergleich zwischen der logischen Methode und den anderen Methoden thematisiert. Vgl. Peirce, C. P. 5. 385–387. Zur Ethik Peirces siehe: Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 423–435; Gerd Wartenberg: Logischer Sozialismus. Die Transformation der kantschen Transzendentalphilosophie durch Ch. S. Peirce. 91 Karl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 112, Fußnote 40.

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Deshalb kann man behaupten, dass die transzendentalpragmatische Konsenstheorie der Wahrheit Apels die von Peirce begreifende Idee der letzten Meinung über das Reale an sich enthält. Diese Meinung ist sowohl identisch für uns mit dem Sinn der Wahrheit von empirischen Aussagen als auch ein erreichbares Ziel von jeder möglichen empirischen Untersuchung. In Apels Theorie wird die Wahrheit einer Aussage als ein Anspruch eines Sprechers thematisiert, der eine Behauptungshandlung realisiert, in der er einen Wahrheitsanspruch gegenüber dem Adressaten erhebt. Mit dieser Terminologie kann man die regulative Idee Peirces auf die letzte Meinung durch die Idee der definitiven Einlösung eines Wahrheitsanspruchs übertragen. Die pragmatische Dimension einer wahren Aussage besteht also einerseits darin, dass der Sprecher mit dieser Behauptungshandlung einen Wahrheitsanspruch erhebt, der durch die Zustimmung der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft eingelöst würde, und andererseits, dass diese Gemeinschaft den Anspruch des Sprechers in the long run wirklich einlösen kann. Diese neue Formulierung von Peirces Idee der letzten Meinung verweist schon auf die erwähnte Erweiterung dieser Idee bei Apel, weil in dessen Transzendentalpragmatik die Wahrheitsansprüche nur als ein Typ unter anderen Gültigkeitsansprüchen behandelt werden, die auch in the long run argumentativ eingelöst werden können; z. B.: der normative Richtigkeitsanspruch, der von einem Sprecher gegenüber der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft erhoben wird, wenn er einen praktischen Vorschlag zur Handlung macht. Es handelt sich hier nicht um eine beschreibende oder eine erklärende Aussage darüber, wie das Reale (bzw. die objektive natürliche Welt) wirklich ist, sondern um eine normative Aussage darüber, wie die Menschen handeln sollen. 92 Trotzdem wird auch hier ein Gültigkeitsanspruch (bzw. ein Richtigkeitsanspruch) erhoben, der durch einen letzten argumentativen Konsens in the long run eingelöst werden kann, obwohl wir a priori nicht wissen können, ob wir diesen Konsens wirklich erreichen werden. Bei der Transzendentalpragmatik verweisen also sowohl die beschreibenden Aussagen über das Reale und ihre vorrangigen Wahrheitsansprüche als auch die normativen Aussagen über die menschliche Handlung und ihre vorrangigen Richtigkeitsansprüche auf die regulative Idee seiner möglichen Einlösung in the long run bzw. auf 92

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Siehe unten 6.3.

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die Idee der letzten Meinung. 93 Trotzdem muss man bemerken: Um den kognitiven Wahrheitsbegriff und den moralischen Richtigkeitsbegriff unterscheiden zu können, braucht man keine externalistisch metaphysische Kontra-Position zwischen menschlichen Meinungen und Naturrealität zu rehabilitieren. 94 Um diesen begrifflichen Unterschied machen zu können, genügt eine aktuelle Reflexion über unser performatives Handlungswissen. Um eine Beschreibung von einer Norm zu unterscheiden, braucht man nicht auf die Idee des letzten Konsenses zurückzugreifen, der von beiden in Bezug auf die mögliche Einlösung ihrer jeweiligen vorrangigen Gültigkeitsansprüche vorausgesetzt wird. Die Frage nach dem Unterschied zwischen verschiedenen Gültigkeitsansprüchen ist vor allem eine reflexive Frage, die der Adressat dem Sprecher immer stellen kann, wenn er überhaupt nicht versteht, was für einen vorrangigen Gültigkeitsanspruch der Sprecher erhebt. Die Frage des Adressaten wäre z. B.: »Was meinen Sie, wenn Sie mit der Aussage p behaupten, dass p wahr oder dass p (moralisch) richtig ist?« Wenn der Sprecher in diesem reflexiven Dialog seinen Anspruch letztlich nicht erklären könnte, könnte ihm leider von keiner philosophischen Theorie geholfen werden, und es würde, wie oben schon angegeben wurde, der argumentative Dialog mit dem Adressaten unterbrochen. 95 Als Argumentierende müssen wir von vornherein wissen können, was für einen Sprechakt wir durchführen, was für einen Gültigkeitsanspruch wir erheben und worüber wir den letzten Konsens der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft anstreben. Die Frage ist nun aber, was für ein Wille bei diesem Anstreben vorausgesetzt werden muss.

93 Die Richtigkeitsansprüche und ihre mögliche Einlösung spielen nach Apel eine entscheidende Rolle sowohl in der Ethik als auch in der Theorie des Rechts und in der Theorie der hermeneutischen Geisteswissenschaften bzw. kritisch- rekonstruktiven Sozialwissenschaften. Vgl. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. II, S. 178– 219; 1979; ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 135–140, 649–699. 94 Wie Habermas vorschlägt in: Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechfertigung: Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999, S. 271–318. 95 Siehe oben 2. 4.

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Im vorletzten Kapitel wurde der systematische Charakter unseres performativen Handlungswissens behauptet. Die Architektonik dieses Wissens besteht aus drei Bereichen, die den drei Gültigkeitsansprüchen und zugehörigen Weltbezügen und Einlösungsdimensionen entsprechen: dem Wahrheitsanspruch hinsichtlich der objektiven Naturwelt, dem Gerechtigkeitsanspruch hinsichtlich der intersubjektiven Sozialwelt und dem Wahrhaftigkeitsanspruch hinsichtlich der subjektiven Innenwelt. Im letzten Kapitel wurde unser performatives Handlungswissen in seinem ersten systematischen Bereich erforscht. Wir haben versucht, die Bedingungen eines sinnkritischen Begriffs der Naturrealität aufzuzeigen. In diesem Kapitel wird der zweite systematische Bereich unseres Handlungswissens erforscht. Wir werden uns hier also mit bestimmten pragmatischen Argumentationsvoraussetzungen, die eine besondere ethische Relevanz haben, beschäftigen. Sie werden vom berühmtesten und am weitesten entwickelten Fach der Universal- bzw. Transzendentalpragmatik schon seit langem auf eine richtige und angemessene Weise thematisiert, nämlich der Diskursethik. Hier wird keine vollständige Rekonstruktion dieser ethischen Theorie und der schon jahrzehntelangen Auseinandersetzung über diese Theorie präsentiert. Unsere Erforschung des Gerechtigkeitsanspruches und seines zugehörigen intersubjektiven Weltbezugs sowie seiner Einlösungsdimension konzentrieren sich vielmehr auf ein partikulares Problem, das durch die folgende Frage formuliert werden kann: Wie kann eine transzendentalpragmatische Diskursbedingung, die als solche immer schon erfüllt wird, als ethisches Prinzip, das als solches erfüllt werden soll, fungieren? Um diese Frage zu beantworten, wird zuerst die Verbindung zwischen Sittengesetz und moralischer Pflicht im Rahmen der kantschen Ethik kurz rekonstruiert. Durch diese Rekonstruktion werden zwei Dimensionen dieser Ethik unterschieden. Die erste Dimension ist der Versuch einer ethischen Begründung, den Kant zuerst in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vorstellt und danach in seiner Kritik der praktischen Vernunft zugunsten der oben 248

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erwähnten Lehre vom Faktum der Vernunft zurückweist. Bei diesem Versuch wird besonders die Funktion der Zwei-Welten-Theorie und des von dieser Theorie ermöglichten metaphysischen Postulats eines Reichs der Zwecke berücksichtigt. Die andere Dimension besteht darin, dass der kantsche Versuch – trotz seiner Schwierigkeiten – einen für unser Problem sehr wichtigen Aspekt enthält: nämlich die Anerkennung der Notwendigkeit des Sittengesetzes, gemäß dem alle Vernunftwesen handeln, und die moralische Pflicht, gemäß der alle Menschen handeln sollen, zu artikulieren (6.1.) Nach dieser philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion wird eine Version der diskursethischen Begründung dargestellt. Diese Begründung wird als Resultat einer strikt reflexiven Erforschung der Frage nach der Möglichkeit einer ethischen Begründung durchgeführt. Auf diese Weise wird versucht nachzuweisen, dass die performative Dimension dieser Frage selbst notwendigerweise bestimmte moralisch normative Bedingungen voraussetzt (6.2.). Nach dieser Darstellung einer sinnkritischen Begründung ethischer Prinzipien wird nunmehr das oben erwähnte Hauptproblem dieses Kapitels behandelt, nämlich das Problem der Verbindung zwischen Sittengesetz und moralischer Pflicht in der Diskursethik. Nach einer kurzen Erwähnung der berühmten Auseinandersetzung zwischen Karl-Otto Apel und Karl-Heinz Ilting wird versucht, dieses Problem durch den von Dietrich Böhler vorgeschlagenen diskurspragmatischen Unterschied zwischen den beiden Rollen zu lösen, die ein Sprecher einnimmt: nämlich die Rolle des Diskurspartners, der die moralisch normativen Diskursbedingungen als immer schon erfüllt voraussetzt, und die Rolle des lebensweltlichen Akteurs, der diese Bedingungen als moralische Verpflichtungen, die erfüllt werden sollen, versteht (6.3.). Zuletzt und mit Bezug auf den erwähnten diskurspragmatischen Unterschied von zwei Rollen wird der Begriff des Diskurspartners als sprachpragmatische Version des kantschen Begriffs eines guten Willens ausgelegt, der prinzipiell erfüllbare bzw. im Diskurs immer schon erfüllte Charakter der sog. idealen Diskursbedingungen behauptet und die konstitutive Idealität dieser Bedingungen von der regulativen Idealität eines letzten Konsenses der Argumentierenden unterschieden (6.4.).

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6.1. Sittengesetz und moralische Pflicht bei Kant Oben haben wir schon den Vorschlag Kants, die von ihm in der transzendentalen Dialektik präsentierte Freiheitsantinomie aufzulösen, kurz rekonstruiert. 1 Dort haben wir bemerkt, dass eine Prämisse dieses Vorschlags die Zwei-Welten-Lehre ist, bzw. das metaphysische Postulat einer intelligiblen Welt, die als Grund der Sinnenwelt fungiert und die entsprechende Zuschreibung von zwei Charakteren der menschlichen Natur mit sich bringt. Diese metaphysische Prämisse spielt eine bedeutsame Rolle nicht nur bei der kosmologischen Ebene der erwähnten Auflösung der dritten Antinomie der spekulativen Vernunft, sondern auch bei dem von dieser Auflösung ermöglichten Versuch, das Sittengesetz transzendental zu begründen, den Kant in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) wagt. Kant selbst scheint anerkannt zu haben, dass sein Versuch zum Scheitern verurteilt war. In seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) verzichtet er zugunsten der oben schon erwähnten Lehre des angeblich evidenten Faktums der Vernunft auf die philosophische Aufgabe, das Sittengesetz zu begründen. 2 Trotz dieses angeblich auch von ihm selbst anerkannten Scheiterns bleibt dieser frühe Versuch Kants im Rahmen der Absicht unserer Untersuchung aus zwei Gründen interessant. Einerseits geht es bei diesem Versuch um die Frage nach der transzendentalen Begründung des Sittengesetzes also um eine Frage, die erst durch eine diskursethische Erforschung unseres performativen Handlungswissens beantwortet werden kann, wie im zweiten Abschnitt dieses Kapitels nachgewiesen wird. Andererseits enthält der kantsche Versuch eine begriffliche Differenzierung, deren sprachpragmatische Transformation nützlich sein kann, um einen zentralen Aspekt der Diskursethik verständlich zu machen, nämlich die Unterscheidung zwischen dem von der reinen praktischen Vernunft selbst gesetzgebenden Sittengesetz und der für die Menschen unbedingt verbindlichen moralischen Pflicht, wie im dritten Abschnitt dieses Kapitels erklärt wird. In der Vorrede der Grundlegung unterscheidet Kant verschiedene Teile der Philosophie in einer Klassifikation, die aus dem Altertum stammt: Logik, Physik und Ethik. Die Ethik bzw. die sog. »sittliche Weltweisheit« hat mit den Gegenständen, die den Freiheitsgesetzen 1 2

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Siehe oben: 4.1. Siehe oben: 4.5.

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Sittengesetz und moralische Pflicht bei Kant

unterworfen sind, zu tun, und hat zwei Teile: einen empirischen Teil bzw. die sog. praktische Anthropologie, die den Willen des Menschen, »so fern er durch die Natur afficirt wird« 3 , erforscht, und einen metaphysischen Teil bzw. die sog. Metaphysik der Sitten. Sie behandelt »die Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens« bzw. eines Willens, der ohne alle empirischen Beweggründe allein aus den Prinzipien a priori bestimmt werden kann. 4 Durch seine Grundlegung der Metaphysik der Sitten beansprucht Kant nicht, eine vollständige Behandlung dieser Disziplin vorzulegen, sondern nur »das oberste Prinzip der Moralität« festzustellen. Die Methode Kants läuft hier erstens analytisch von gemeinsamer moralischer Erkenntnis zur Bestimmung dieses obersten Prinzips und dann synthetisch zurück von der Prüfung dieses Prinzips zur gemeinsamen Erkenntnis »darin sein Gebrauch angetroffen wird«. 5 Die ersten beiden Teile der Grundlegung behandeln die Formulierung dieses Prinzips und der dritte Teil den schon erwähnten problematischen Begründungsversuch desselben. Dieser dritte Teil enthält »die Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft« und versucht »die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs begreiflich zu machen«. 6 Es handelt sich also um die Begründung der Gültigkeit des Sittengesetzes bzw., mit kantschen Worten, um folgende Frage: Wie ist der kategorische Imperativ möglich? Im Rahmen unserer Untersuchung ist keine vollständige Rekonstruktion der kantischen Antwort auf diese Frage notwendig. Hier kann man sich auf einige Bemerkungen über diesen frühen kantischen Versuch, die Gültigkeit der moralischen Pflichten zu begründen, beschränken, weil unser Interesse sich auf einige Scheiternsgründe dieses Versuchs einerseits und auf den Unterschied zwischen Sittengesetz und moralischer Pflicht andererseits konzentriert. Dieser kantsche Versuch beruht auf der oben erwähnten Zwei-WeltenLehre und dem entsprechenden, schon bei der Auflösung der dritten Antinomie der reinen Vernunft behaupteten Unterschied zwischen zwei Kausalitätsarten, nämlich der Naturkausalität und der Kausalität aus Freiheit. 7 Wie in der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant Immanuel Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Ak. Aus 387. (Grundlegung: 387) 4 Vgl. Grundlegung: 390. 5 Grundlegung: 392. 6 Grundlegung: 447 7 Siehe oben: 4.1. 3

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in der Grundlegung den Vernunftwesen diese zweite Kausalitätsart zu und identifiziert sie schlechthin mit dem Willen. Die Tätigkeiten der vernunftlosen Wesen werden hingegen von dem Einfluss der notwendigen Naturkausalität bestimmt. Die Willensfreiheit wird aber auf zweierlei Art definiert: einerseits im negativen Sinne als Unabhängigkeit von der Naturkausalität und andererseits im positiven Sinne als Autonomie bzw. als Selbstgesetzgebung des Willens, »also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei«. 8 Die Vorstellung einer Freiheit ohne Gesetz ist nach Kant sinnlos. Die so definierte Willensfreiheit darf nicht allein den menschlichen Wesen zugeschrieben werden: »Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden.« 9 Die Sittlichkeit gilt also nicht nur für uns Menschen, sondern auch für alle möglichen vernünftigen Wesen und sie kann deshalb nur von der Freiheit aller vernünftigen Wesen abgeleitet werden. Jedes vernünftige Wesen, das einen Willen hat, muss als frei gedacht werden bzw. als »Urheber« seiner Prinzipien. Der Begriff eines vernünftigen Wesens enthält also notwendigerweise den Autonomiebegriff. Wie oben schon aufgeführt wurde, kann man nach Kant die Realität der Freiheit weder im Allgemeinen noch bei den Menschen erkennen, weil unsere Erkenntnis nur im Rahmen der möglichen Erfahrung stattfindet und diese Realität außerhalb dieses Rahmens steht. Man kann deshalb diese für uns prinzipiell unerkennbare Realität sowohl bei den vernünftigen Wesen im Allgemeinen als auch bei uns voraussetzen. Diese Voraussetzung hat aber zwei verschiedene Bedeutungen. Einerseits präsentiert Kant den Begriff eines reinen bzw. absolut guten Willens als die reine praktische Vernunft, die ohne sinnliche Hindernisse das Sittengesetz einhält. Für einen solchen »heiligen« Willen bedeutet die Einhaltung dieses Gesetzes keine Pflicht, sondern sein ganz spontanes Verhalten. Für uns, die »durch Sinnlichkeit als Triebfedern anderer Art afficiert werden« 10 , bedeutet hingegen diese Einhaltung doch eine moralische Pflicht bzw. ein sittliches Gebot, das von uns unbedingt erfüllt werden soll. Der Sollensbegriff setzt also nach der Auffassung Kants die Zugehörigkeit des Menschen zu zwei Welten gleichzeitig voraus: zur Grundlegung: 447. Ebenda. 10 Grundlegung: 449. 8 9

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Sinnenwelt und zur intelligiblen Welt. Diese doppelte Zugehörigkeit wird bei der Grundlegung als der Unterschied zwischen zwei Standpunkten beschrieben, aus denen wir selbst unsere Handlungen betrachten können. Sofern wir zur Sinnenwelt gehören, betrachten wir als passive Wesen unsere Handlungen als bloße Naturwirkungen, die nur nach den notwendigen Naturgesetzen stattfinden können. Sofern wir hingegen zur intelligiblen Welt gehören, betrachten wir uns als spontan aktive Wesen und unsere Handlungen als Wirkungen der Kausalität aus Freiheit, die nur nach den Sittengesetzen stattfinden können. 11 Diese perspektivische Fassung der Zwei-Welten-Lehre ermöglicht es dann, die Beziehung zwischen dem Sittengesetz, das die reine praktische Vernunft sich selbst geben, und der moralischen Pflicht, die von den menschlichen Handlungen erfüllt werden soll, folgendermaßen zu formulieren: »Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt, und erkennen die Autonomie des Willens samt ihrer Folge, die Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig.« 12

Durch diese perspektivische Fassung der Zwei-Welten-Lehre versucht Kant die ethische Begründungsfrage zu beantworten, nämlich: Warum bindet uns das moralische Gesetz? bzw. »Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?«. 13 Die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs wird von Kant durch eine Kombination von zwei Thesen beantwortet: einerseits der schon erwähnten These, die behauptet, dass der Mensch sowohl zur Sinnenwelt als auch zur Verstandeswelt gehöre, und andererseits der Behauptung, dass die Verstandeswelt die Grundlage der Sinnenwelt sei. Die erste These verweist auf den perspektivischen Unterschied zwischen Autonomie und Heteronomie. Der Mensch kann sich zugleich sowohl als Mitglied der Verstandeswelt als auch »als bloßes Stück der Sinnenwelt« ansehen. Ihrem intelligiblen Charakter entsprechend müssen seine 11 Kant behauptet hier ein unmittelbares Bewusstsein von der reinen Selbsttätigkeit der Vernunft. Diese Behauptung scheint den fichteschen Thesen der »Tathandlung« und der »intellektuellen Anschauung« sehr nahezustehen, die oben schon erwähnt wurden. Siehe dazu Grundlegung, 451–452, und oben: 2.1. 12 Grundlegung: 453. 13 Vgl. Grundlegung: 450, 453

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Handlungen autonom bzw. dem Sittengesetz gemäß sein. Von ihrem empirischen Charakter her gesehen müssen sie hingegen heteronom bzw. bloße Wirkungen der Naturkausalität sein. Aber weil die Verstandeswelt der Grund der Sinnenwelt ist, ist das Sittengesetz für uns eine moralische Pflicht, ein absolutes Gebot, ein kategorischer Imperativ, der unbedingt erfüllt werden soll. »Und so sind kategorische Imperative möglich, dadurch daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, wodurch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen.« 14

Beim Menschen ist der Wille nicht ausschließlich eine selbstgesetzgebende reine praktische Vernunft – wie vielleicht bei anderen möglichen Vernunftwesen – weil unser Wille auch von sinnlichen Begierden bestimmt werden kann, und genau deshalb bekommt das Sittengesetz die Form eines Imperativs. Im menschlichen Bewusstsein wird dieses Gesetz als eine Pflicht erfahren, weil der Mensch ein Mitglied zweier Welten ist. Die praktische Erfahrung der gemeinen Menschenvernunft bestätigt nach Kant diese Deduktion des kategorischen Imperativs durch den Konflikt zwischen Sittengesetz und Neigungen, der konstitutiv für den menschlichen Willen und ihm intrinsisch ist. Es wurde oben schon angegeben, dass Kant kurz nach der Veröffentlichung der Grundlegung der Metaphysik der Sitten auf die Möglichkeit, den kategorischen Imperativ zu »deduzieren« bzw. seine Gültigkeit zu begründen, verzichtet und genau deshalb behauptet, diese Gültigkeit sei eine Evidenz bzw. ein Faktum der Vernunft. Die Kant-Forschung des 20. Jahrhunderts hat verschiedene Schwierigkeiten dieser Deduktion, die die Positionsänderung Kants vielleicht motiviert haben, rekonstruiert. Die in diesem Zusammenhang aufgezeigten Schwierigkeiten der von Kant in der Grundlegung vorgebrachten Deduktion hätte er selbst später wahrscheinlich als Schwierigkeiten seines Vorschlags anerkennen können. 15 Im RahGrundlegung: 454. Siehe dazu: Dieter Henrich: Die Deduktion des Sittengesetzes. In: Schwan, A. (Hrsg.): Denken im Schatten des Nihilismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975, S. 55–112; Reinhard Brandt: Der Zirkel im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Oberer, H./Seel, G. (Hrsg.): Kant: Analysen, Probleme, Kritik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1988, S. 169–91; Mi-

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men unserer Erforschung sind diese Probleme des frühen kantschen Versuchs, das Sittengesetz zu begründen, aber nicht von solcher Bedeutung wie eine m. E. größere Schwierigkeit dieses Versuchs, die Kant selbst gar nicht bemerken konnte, weil sie erst nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie wirklich gesehen und richtig verstanden werden kann. Diese Schwierigkeit besteht in der Unvereinbarkeit der methodisch solipsistischen bzw. bewusstseinsphilosophischen Perspektive Kants mit der unentbehrlichen Einführung des Intersubjektivitätsbegriffs bei der Behandlung der ethischen Problematik. Die erwähnte Wende erfordert, den Begriff der Intersubjektivität ins Zentrum sowohl der theoretischen als auch der praktischen Philosophie zu stellen. Um diesen Begriff in Bezug auf die kantsche Bewusstseinsphilosophie erläutern zu können, muss man erinnern, dass Kant im Rahmen des Subjekt-Objekt-Schemas bleibt. Innerhalb dieses Schemas wird das Subjekt solipsistisch, mentalistisch und das Objekt naturalistisch aufgefasst. Bei Kants Dualismus gibt es eine Spaltung zwischen dem Kausaldeterminismus, der die Welt der Phänomene bestimmt, und dem Reich der Freiheit, die als Idee des praktischen Vernunftgebrauchs autonom und deshalb auch unabhängig von Ursachen der Sinnenwelt gedacht werden muss. Dieser Dualismus hat aporetische Implikationen, die von der schon erwähnten Einseitigkeit des Erfahrungsbegriffs bei Kant abhängen. 16 Um diese Implikationen zu verstehen, muss man beachten, dass nach dem Subjekt-Objekt-Schema die Handlungen bloße Phänomene sind, die als freie Handlungen nicht erscheinen können. Das eingeschlossene Ich kann nach dieser Auffassung nicht die Gedanken und Handlungen eines anderen Ichs verstehen, weil hier ein kommunikativer Erfahrungsbegriff fehlt, mit dem sich die fremden Kompetenzen und Handlungen als Antworten auf Situationen zu rekonstruieren ließen. Eine Handlung nicht als eine Naturerscheinung zu verstehen, sondern als eine freie Handlung, heißt verstehen, dass sie in sprachliche Äußerungen übersetzt werden kann. Handlungen sind Tätig-

chael H. Mc Carthy: Kant’s rejection of the Argument of Groundwork III. In: Kant-Studien 73 (1982), S. 169–190; ders.: The Objection of Circularity in Groundwork III. In: Kant-Studien 76, 1985, S. 28–42; Henry E. Allison: Kant’s theory of freedom. Cambridge: Univ. Press, 1990, S. 227–229; Dieter Schönecker: Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs. Freiburg [u. a.]: Alber, 1999. 16 Siehe oben: 4.4. A

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keiten, die sich an Regeln orientieren. Der Akteur muss sich diese Regeln vorstellen, sie wählen und verändern können. Eine pragmatische Voraussetzung einer Regel ist eine Gemeinschaft, deren Teilnehmer diesen Regeln folgen können. Im Unterschied zu diesem Verstehen und wegen der Verabsolutierung der Subjekt-Objekt-Relation kann die theoretische Philosophie Kants die Subjektseite nur als erfahrungsfrei sehen. Deshalb wird sowohl die Selbstbeziehung eines Subjektes als auch die Beziehung zwischen Subjekten ignoriert. Die Brücke zu anderen ist hier keine kommunikative Erfahrung, sondern nur ein Analogieschluss. Das Subjekt gilt als autonomer Gesetzgeber der Welt der Erscheinungen. Als solcher gehört es nicht zu dieser Welt. Es ist vielmehr der Grenzpunkt dieser Welt. Aber es gibt bei Kant nicht nur eine Welt, sondern zwei. In der Welt an sich (mundus intelligibilis) regiert nicht die Naturkausalität der Erscheinungen, sondern die Kausalität aus Freiheit. Es handelt sich um eine praktische Regel, in der die Vernunft als unbedingte Ursache und die Handlung als Ziel einer intendierten Wirkung gedacht werden. Diese praktische Regel hat nur die monologische Funktion eines kategorischen Imperativs, der der einzige Prüfstein für den (intelligiblen) »guten Willen« ist und keine Verantwortung für die Handlungsfolgen berücksichtigen kann. Die freien menschlichen Handlungen sind also bei Kant nicht das Objekt einer kommunikativen Erfahrung, sondern spontane Operationen eines außerweltlichen und einsamen Selbstbewusstseins. Erst nach der sprachpragmatischen Wende kann man den Begriff einer kommunikativen Erfahrung denken. Man muss natürlich auch bei Kant eine gewisse Antizipation einer dialogischen Ethik anerkennen. Die Philosophie Kants ist eine Philosophie der Spaltung. Beispiele von diesen Spaltungen wurden schon erwähnt: Subjekt und Objekt, Dinge an sich und Phänomene, theoretische und praktische Philosophie, Naturkausalität der Erscheinungen und Kausalität der Freiheit, usw. Auch die Ethik Kants ist zwiegespalten. Einerseits ist sie eine monologische Gesinnungsethik. Aber andererseits ist sie auch eine Vernunftethik, die in einer gewissen Vernunftgemeinschaft das letzte Kriterium der praktischen Vernunft sucht. Die Idee einer Welt vernünftiger Wesen als »Reich der Zwecke« unterstellt die Reziprozität der vernünftigen Wesen als vernünftiger Wesen. In diesem Reich sind die Gesetze würdig, für jedes vernünftige Wesen als praktisch zu gelten. Zwar antizipiert diese 256

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Idee Kants eine intersubjektive Begründung der Ethik. Aber diese Intersubjektivität ist nicht als Resultat der kommunikativen Erfahrung, sondern nur als metaphysisches Postulat der reinen praktischen Vernunft gedacht. Kant kombiniert also einen mundanen Solipsismus mit einem transmundanen Dialogismus. 17 Trotz dieser Antizipation einer intersubjektiv begründeten Ethik bleibt Kant in einer monologischen Perspektive. Deshalb wurde der methodische Solipsismus der praktischen Philosophie Kants vom diskursethischen Gesichtspunkt aus in Frage gestellt. 18 Wie oben schon ausgeführt wurde, konzipiert Kant die Vernunfthandlungen im Allgemeinen als Handlungen eines einsamen und isolierten Bewusstseins. 19 Diese solipsistische Perspektive enthält aber besondere Schwierigkeiten für die praktische Philosophie, in der die intersubjektiven Beziehungen nicht ignoriert werden können. »Es stellen sich nämlich Fragen wie: Warum sollte eine solipsistisch verstandene bzw. verfasste Vernunft bzw. ein ebensolches Vernunftsubjekt a priori dergleichen wie Unparteilichkeit oder Gerechtigkeit wollen? Oder: Warum sollte Gerechtigkeit, Unparteilichkeit und insbesondere die damit verbundene Beschränkung eigener Ansprüche zugunsten der Ansprüche anderer bei einer solchen Konzeption von Vernunft bzw. Vernunftsubjekt a priori als vernünftig gelten und in welchem Sinne von vernünftig?« 20

In seiner theoretischen Philosophie versucht Kant die Naturerkenntnis nur durch das Subjekt-Objekt-Schema aufzufassen. Im typisch neuzeitlichen Rahmen der Bewusstseinsphilosophie kann diese methodische Verneinung der notwendig intersubjektiven Dimension Siehe dazu: Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik, S. 348–354. Vgl. Wolfgang Kuhlmann: Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und die Diskursethik. In: ders., Kant und die Transzendentalpragmatik, S. 100–130. Siehe dazu besonders die Antwort Kuhlmanns auf Horsters Position: Detlef Horster: Der kantische »methodischen Solipsismus« und die Theorien von Apel und Habermas. In: Kant Studien, 73, 1982, S. 463–470. Der methodische Solipsismus der praktischen Philosophie Kants wurde schon im Rahmen der klassischen Transzendentalphilosophie von Fichtes System der Sittenlehre (1798) gewissermaßen in Frage gestellt und überwunden. Zum Vergleich dieser Lehre Fichtes mit der Diskursethik siehe: Wilhelm Lütterfelds: Die monologische Struktur des kategorischen Imperativs und Fichtes Korrektur der Diskursethik. In: Zeitschrift für philosophischen Forschung, 40, 1986, S. 90–103. So weit ich sehe, beruhen die Kritiken Lütterfelds’ an der Diskursethik aber auf einer Missdeutung. 19 Siehe oben: 2.1. 20 Wolfgang Kuhlmann: Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und die Diskursethik. In: ders.: Kant und die Transzendentalpragmatik, S. 100–130: 102. 17 18

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der Erkenntnis vielleicht möglich scheinen. In der praktischen Philosophie ist aber diese methodische Operation völlig unmöglich, weil es sich hier eben um die Problematik der Beziehungen zwischen Personen handelt und um das moralische Gesetz, das diese Beziehungen regieren soll. Die Begriffe der Gerechtigkeit und der Unparteilichkeit sind für die Sittenlehre unentbehrlich und sie verweisen notwendigerweise auf eine Pluralität von Subjekten. Es handelt sich um Begriffe, die von einem solipsistischen Gesichtspunkt aus nicht verstanden und gerechtfertigt werden können. Kant selbst hat diesen notwendig intersubjektiven Charakter der ethischen Problematik in der vielfältigen Formulierung des kategorischen Imperativs gewissermaßen schon anerkannt, nämlich in dem Übergang von einigen Formeln, die nur rein formale Gesetzmäßigkeit, abstrakte Allgemeinheit und Autonomie solipsistisch erfordern, hin zu anderen Formeln, die die Achtung anderer Personen als Zwecke an sich vorschreiben und den metaphysischen Begriff eines Reichs der Zwecke gebrauchen: »Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten muß, um aus diesem Gesichtspunkte sich selbst und seine Handlungen zu beurtheilen, führt auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den eines Reichs der Zwecke.« 21

Es gibt in dem zweiten Teil der Grundlegung einen Übergang von den Imperativformeln, die nur die Beziehung zwischen einem Willen und dem Sittengesetz betrachten, zu den anderen Formeln, die die Beziehungen zwischen einer Pluralität von Personen vorschreiben. Die Schwierigkeit dieses Übergangs besteht eben darin, dass er im neuzeitlichen Rahmen der Bewusstseinsphilosophie Kants nicht gerechtfertigt werden kann. 22 Grundlegung: 433. »Wo sind diese anderen, wo kommen sie her, wie werden sie bei Kant eingeführt? Wir behaupten nun, dass die erforderliche Pluralität von Wesen bei Kant nicht legitim eingeführt wird, auch nicht ohne weiteres eingeführt werden kann, und dass deshalb eine wesentliche Bedingung für den Sinn des kantischen Moralprinzips und insbesondere seine Konzeption von praktischer Vernunft fehlt. Der Solipsismus in der praktischen Philosophie Kants besteht darin – so unsere These –, dass Kant in Wirklichkeit nur mit so etwas wie einer reinen Vernunft im Singular rechnet und rechnet kann und dass daher der Gehalt des Moralprinzips, der es allererst zur Idee praktischer Vernunft macht, in Wahrheit nicht plausibel gemacht werden kann.« Wolfgang Kuhlmann: Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und die Diskursethik. In: ders.: Kant und die Transzendentalpragmatik, S. 100–130: 112.

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In dieser Hinsicht muss man also einerseits bemerken, dass Kant die Notwendigkeit, die intersubjektive Dimension bei der Behandlung der ethischen Problematik einzuführen, anerkannt hat, aber andererseits auch, dass seine methodisch solipsistische bzw. bewusstseinsphilosophische Perspektive eine nach den Maßstäben einer kritischen Philosophie gerechtfertigte Einführung dieser Dimension schlechthin verhindert. Die Idee des Reichs der Zwecke enthält zwar den Intersubjektivitätsbegriff, aber er wird innerhalb dieser Idee nur als ein metaphysisches Lehrstück postuliert, weil er nicht von dem gesinnungsethischen Bewusstseinsbegriff deduziert bzw. als eine notwendige Sinnbedingung reflexiv nachgewiesen werden kann. Zusammenfassend kann man bemerken, dass ein entscheidender Grund des erwähnten Scheiterns Kants, das Sittengesetz zu begründen, in der methodisch solipsistischen Perspektive seiner praktischen Philosophie besteht. Nur die Überwindung dieser Perspektive kann eigentlich eine positive Antwort auf die ethische Begründungsproblematik liefern. Diese Überwindung bedeutet aber eine sprachpragmatische Transformation der Philosophie Kants, die es ermöglicht, die intersubjektive Dimension als eine notwendige Sinnbedingung dieser Problematik selbst von vornherein anzuerkennen und die Gültigkeit des Sittengesetzes schließlich transzendental zu begründen.

6.2. Von der pragmatischen Forderung bis zum Sittengesetz Im letzten Abschnitt wurde schon erwähnt, dass Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft auf die Begründung des Sittengesetzes verzichtet und sie durch die Lehre vom Faktum der Vernunft ersetzt. Durch diesen Verzicht ergibt sich noch einmal die Frage nach der Begründung der moralischen Verpflichtungen. Im alltäglichen Leben nehmen wir es als etwas Selbstverständliches an, dass Verpflichtungen erfüllt werden sollen. Was nicht so selbstverständlich scheint, ist eben, warum wir sie erfüllen sollen. Die Geschichte der Ethik als philosophische Disziplin weist einerseits nach, dass der Mensch seit dem Altertum versucht, die Sittengesetze rational zu begründen, und andererseits, dass die Antwortversuche auf die Frage nach der ethischen Begründung vielfältig und miteinander unvereinbar sind. Die Absicht dieses Abschnitts ist es, eine Fassung der diskursethischen Begründungsstrategie zu präsentieren. Im Folgenden wird A

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versucht, die moralischen Verpflichtungen durch eine reflexive Erforschung unseres performativen Handlungswissens rational zu begründen. Durch diese Erforschung wird es möglich, gewisse normative Voraussetzungen unserer Sprechhandlungen zu entdecken. Diese normativen Voraussetzungen haben einen moralischen Inhalt und können als notwendige Sinnbedingungen der Sprechhandlungen nachgewiesen werden. 23 Um die erwähnte Absicht zu verwirklichen, wird erstens die Frage nach der Möglichkeit, die moralischen Verpflichtungen zu begründen, als Problem der philosophischen Ethik präsentiert (6.2.1.). Danach wird diese Frage als eine Handlung, deren Durchführung notwendigerweise die Erfüllung bestimmter performativer Bedingungen voraussetzt, reflexiv betrachtet (6.2.2.). Zuletzt werden diese Bedingungen als ethische Prinzipien präsentiert, deren Gültigkeit bei jedem Versuch der Begründung situationsbezogener moralischer Normen angenommen werden muss (6.2.3.). 6.2.1. Die Beziehung der menschlichen Handlung zu dem normativen Rahmen, der sie bestimmt, wird von verschiedenen wissenschaftlichen und philosophischen Gesichtspunkten aus studiert. Sowohl die Geisteswissenschaften wie die Linguistik, die Soziologie, die Anthropologie, die Wirtschaft und die Geschichtswissenschaften als auch bestimmte philosophische Fächer wie Geschichtsphilosophie, politische Philosophie, Rechtsphilosophie und Ethik beschäftigen sich mit diesem Bezug. Diese Vielfältigkeit von Forschungsgebieten hängt mit den verschiedenartigen Problemen zusammen, die die erwähnte Beziehung zwischen Handlungen und Normen impliziert. Wenn diese Normen moralische Verpflichtungen vorschreiben, ist die Ethik das philosophische Fach, in dessen Aufgabenfeld diese Beziehungen fallen. Die Verbindung zwischen menschlichen Handlungen und moralischen Verpflichtungen stellt aber verschiedene Arten von Problemen auf, die auf verschiedenen Ebene der ethischen Reflexion berücksichtigt werden müssen. 24 Das Problem der rationalen Begründung moralischer Normen, die unsere Handlungen regieren Zur Rekonstruktion und Replik der wichtigsten Einwände gegen die transzendentalpragmatisch begründete Diskursethik siehe die meisterhafte Abhandlung von Wolfgang Kuhlmann: Begründungsprobleme der Diskursethik. In: Niquet, M. [u. a.] (Hrsg.): Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen, Würzburg: Könighausen und Neumann, 2001, S. 9–41. 24 Siehe dazu: Ricardo Maliandi: Ética: conceptos y problemas. 3. Aufl., Buenos Aires: Biblos, 2004, S. 45–77. 23

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sollen, kann nur auf einer bestimmten Ebene der ethischen Reflexion betrachtet werden, nämlich auf derjenigen, die der normativen Ethik entspricht. Das ethische Begründungsproblem kann durch Fragen formuliert werden, z. B.: Warum müssen wir uns gemäß moralischer Normen verhalten? Warum sind diese Normen für uns verbindlich? Gibt es philosophische Gründe, die die Pflicht, sich an moralische Normen zu halten, rechtfertigen? Welche sind die Normen, die nach diesen Gründen als moralisch verpflichtend anerkannt werden sollen? Diese Fragen drücken verschiedene Aspekte des Problems der rationalen Begründung der Normen aus, die moralische Verpflichtungen vorschreiben. Das ethische Problem der Normenbegründung ist ganz spezifisch und um dieses Problem lösen zu können, ist eine besondere Forschungsarbeit vonnöten. Keine empirische bzw. geisteswissenschaftliche Untersuchung, die versucht, den normativen Rahmen einer partikularen Gemeinschaft durch Hypothesen zu beschreiben oder zu erklären, kann dieses Problem lösen. Dieses Problem kann auch weder durch eine semantische Bedeutungserklärung des Normbegriffs und des Handlungsbegriffs noch durch eine rekonstruktive Theorie der ontogenetischen oder der phylogenetischen Entwicklung der moralischen Urteilskraft gelöst werden. 25 Das ethische Problem der rationalen Normenbegründung besteht nicht darin, zu erklären, warum die Menschen bloß faktisch glauben, dass sie gemäß bestimmter moralischer Normen handeln sollen, sondern zu rechtfertigen, warum sie bzw. wir gemäß diesen Normen tatsächlich handeln sollen. Es handelt sich also nicht darum, was oder warum die Menschen etwas faktisch tun, sondern warum wir moralische Verpflichtungen erfüllen sollen. Wie man es von anderen philosophischen Hauptproblemen kennt, wurde im Laufe der Philosophiegeschichte auch versucht, das ethische Begründungsproblem auf verschiedene und völlig unvereinbare Weise zu lösen. Die Lösungsvorschläge können vielleicht in 25 Zu einer detaillierten Berücksichtigung des Unterschieds und der Beziehung zwischen dem philosophischen Problem der ethischen Normenbegründung und dem wissenschaftlichen Problem der Entwicklung der moralischen Urteilskraft siehe: Karl-Otto Apel: Eine philosophische Letztbegründung des moral point of view. In: Kurt Bayertz (Hrsg.): Warum moralisch sein? Paderborn [u. a.]: Schöningh, 2002, S. 131–143; ders.: Diskurs und Verantwortung, S. 306–369; ders.: Warum benötigt der Mensch Ethik. In: Apel, K.-O./Böhler, D./Kadelbach, G. (Hrsg.): Funkkolleg: Praktische Philosophie/ Ethik: Dialoge. Bd. I, S. 49–162.

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zwei großen Typen klassifiziert werden. Einige Philosophen behaupten die Möglichkeit, die moralischen Verpflichtungen rational begründen zu können und andere verneinen diese Möglichkeit. Innerhalb dieser beiden großen Vorschlagsarten kann man verschiedene Lösungsvorschläge unseres Problems unterscheiden, wenn man die von den Philosophen vorgebrachten Gründe für oder gegen diese Möglichkeit genau betrachtet. Diejenigen, die die Möglichkeit einer ethischen Begründung behaupten, beanspruchen auf unterschiedliche Weise diese Möglichkeit verwirklichen zu können. Einige behaupten, dass sich die Gründe der moralischen Verpflichtungen im Endzweck bzw. der teleologischen Anlage des menschlichen Wesens befinden, andere sehen diese in der Handlungsfolge und noch andere in unbedingten praktischen Prinzipien a priori. Diejenigen, die die erwähnte Möglichkeit verneinen, bringen wiederum verschiedene Argumente, mit denen sie entweder versuchen, die Gültigkeit der Normen mit ihrer faktischen Sozialgeltung innerhalb einer partikularen Gemeinschaft in einem bestimmten Zeitraum zu identifizieren oder aber diese Normen als widerlegbare Hypothesen anzusehen. Hier braucht man weder die erwähnten Lösungsvorschläge, noch ihre inhärenten Schwierigkeiten zu rekonstruieren. Die Vielfältigkeit und reziproke Unvereinbarkeit der in der Philosophiegeschichte vorgebrachten Lösungsvorschläge zum ethischen Begründungsproblem ist so evident, dass es empfehlenswert scheint, nicht diese Vorschläge, sondern das Problem selbst näher zu betrachten, d. h. die Frage ausführlich zu berücksichtigen, die diese Vorschläge zu beantworten beanspruchen. 26 Wie andere philosophische Hauptfragen auch, fordert unsere jetzt anstehende Frage nach der Möglichkeit, moralische Verpflichtungen rational zu begründen, von uns, dass eine detaillierte und sorgfältige bzw. reflexive Analyse der Frage selbst allen neuen Beantwortungsversuchen vorausgeht. Ohne diese vorausgehende Analyse der Frage können wir einen irreführenden Weg einschlagen, weil unsere moralischen Intuitionen, Vorurteile und alltäglichen Meinungen uns unmittelbar dazu führen könnten, zu versuchen, diese Frage vorschnell zu beantworten. Das peinliche Die hier vorgeschlagene Begründungsstrategie ist also relativ unabhängig von der Deutung der Diskursethik als entweder eine Normenethik oder als eine Aktethik. Siehe dazu: Wolfgang Kuhlmann: Diskursethik – Aktethik oder Normenethik? In: Gronke, H./Burckhart, H.: Philosophieren aus dem Diskurs, Beiträge zur Diskurspragmatik, S. 329–342.

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Resultat dieser Voreiligkeit wäre womöglich die unbewusste Wiederholung eines in der Philosophiegeschichte schon behaupteten und gescheiterten Lösungsvorschlags unseres Problems. Diese Wiederholung würde auch die Wiederholung der Schwierigkeiten des von uns ausgewählten Lösungsvorschlags bedeuten, die ja durch die jahrhundertealte philosophische Arbeit auch schon bemerkt und katalogisiert wurden. Zur Vermeidung eines übereiligen Antwortvorschlags scheint es also empfehlenswert, eine ausführliche Erforschung unserer Frage nach der Möglichkeit, moralische Verpflichtungen rational zu begründen, reflexiv durchzuführen. Diese Untersuchung wird uns helfen, den Sinn unserer Frage zu erhellen und uns so eine Orientierung für einen sicheren Antwortversuch liefern. 6.2.2. Es handelt sich also um die Frage nach der Möglichkeit, die Gültigkeit moralischer Normen rational zu begründen, d. h. der Normen, denen unsere Handlungen entsprechen sollen. Die Erforschung dieser Frage kann man mit der Unterscheidung von zwei ihrer Aspekte beginnen. Der erste Aspekt ihres Sinnes ist ihr unmittelbar begrifflicher Inhalt bzw. das Thema, mit dem wir uns beschäftigen, wenn wir diese Frage stellen. Genau diesem Aspekt haben wir bisher unsere Beachtung geschenkt, weil es der erste Gegenstand ist, der in die Augen springt, sobald wir unsere Frage stellen. Dieser inhaltliche Aspekt ist ein Teil des Sinnes unserer Frage wie folgt. Betrachten wir den Satz: »Es ist möglich, die moralischen Verpflichtungen rational zu begründen.« Wer die Bedeutung dieses Satzes nicht verstehen kann, kann auch die Bedeutung unserer Frage nach dem Wahrheitswert dieses Satzes nicht verstehen. Das Verstehen dieses Satzes ist eine semantische Bedingung des Verstehens unserer Frage und deshalb ist der erwähnte inhaltliche Aspekt dieser Frage ein notwendiger Bestandteil ihres Sinnes. Trotzdem muss hier auch hervorgehoben werden, dass das Verstehen des erwähnten Satzes keine hinreichende Bedingung des Verstehens unserer Frage ist. Wer beim Lesen oder Hören unserer Frage nur diesen Satz verstehen würde, hätte nämlich noch nicht verstanden, dass wir eine Frage nach dem Wahrheitswert dieses Satzes stellen. In dem Sinn unserer Frage gibt es also nicht nur den erwähnten inhaltlichen Aspekt bzw. das Thema der Frage, sondern auch einen weiteren Aspekt oder pragmatischen Bestandteil, der in der spezifischen Art menschlicher Handlung besteht, durch die wir uns jetzt A

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mit diesem Inhalt beschäftigen: Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Frage. Der Inhalt unserer Frage kann natürlich auch Gegenstand anderer menschlicher Handlungen sein, beispielsweise einer Wette, eines Wunschsatzes, einer Behauptung; er kann ein Teil eines Theaterstücks sein oder der Einführung eines grammatikalischen Beispiels, ein Bestandteil einer Traumerzählung, usw. Der Sinn unserer Frage hat also zumindest zwei verschiedene Aspekte, die sich voneinander unterscheiden lassen. Der erste ist der propositionale Gehalt unserer Frage nach der Möglichkeit, moralische Normen rational zu begründen. Der zweite ist die Fragehandlung, dank derer wir diesen Gehalt als ein zu lösendes Problem verstehen, also z. B. nicht als eine zu gewinnende Wette, den Ausdruck eines Wunsches, die Begründung einer These, die Aufführung eines Theaterstücks, den Gebrauch eines Beispiels oder die Erzählung eines Traums. Wer unsere Frage versteht, erkennt nicht nur ihren Inhalt bzw. die Wahrheitsbedingungen ihres propositionalen Bestandteils, sondern auch, dass es sich um einen spezifischen Handlungstyp handelt, nämlich um eine Fragehandlung. 27 Wie oben schon angegeben, muss, wer diese Handlung tut, wissen können, was er tut, bzw. dass er fragt. Wir (der Leser und ich) wissen jetzt, dass wir eine Frage stellen, sonst wäre unsere Rede für uns unverständlich. 28 Betrachten wir also jetzt diesen zweiten Aspekt des Sinnes unserer Frage bzw. die Fragehandlung, die wir durchführen. Einerseits hat diese Handlung, wie alle menschlichen Handlungen, bestimmte Eigenschaften, die es ermöglichen, sie von einem bloß physischen Phänomen z. B. einem Ton, zu unterscheiden. Es handelt sich um Siehe dazu: Karl-Otto Apel: Illokutionäre Bedeutung und normative Gültigkeit. Die transzendentalpragmatische Begründung der uneingeschränkten kommunikativen Verständigung. In: Preyer, G. [u. a.] (Hrsg.): Intention – Bedeutung – Kommunikation. Kognitive und handlungstheoretische Grundlagen der Sprachtheorie, S. 288–303. 28 Siehe oben: 2.4. Die Reflexion über die aktuelle Dialogsituation ist unentbehrlich, um das Problem der ethischen Begründung richtig aufzustellen. Siehe dazu: Dietrich Böhler: Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik. Karl Otto Apels Athene im Rücken. In: Böhler, D./Kettner, M./Skirbekk, G. (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, S. 15–43; ders.: Dialogreflexion als Ergebnis der sprachpragmatischen Wende. Nur das sich wissende Reden und Miteinanderstreiten ermöglicht Vernunft. In: Trabant, J. (Hrsg.): Sprache denken. Positionen aktueller Sprachphilosophie, S. 145–162; ders: Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und Mitverantvortung. In: Apel, K.-O./Burckhart, H. (Hrsg.): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, S. 15–68. 27

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ein freiwilliges Verhalten, dessen Urheberschaft wir einem Handelnden bzw. einem Sprecher zuschreiben. Wie andere menschliche Handlungen hängt auch die Fragehandlung von verschiedenen Regeltypen ab, die es uns ermöglichen, sie durchzuführen, zu verstehen und zu bestreiten. In dieser Hinsicht unterscheidet unsere Fragehandlung sich nicht von anderen menschlichen Handlungen. Andererseits aber hat unsere Handlung bestimmte Merkmale, die sie von anderen Handlungen unterscheidet. Einige dieser Merkmale verweisen auf den Unterschied zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen, andere Merkmale aber auf den Unterschied zwischen der Fragehandlung und anderen Sprechhandlungen bzw., in Worten der Sprechakttheorie, auf den Unterschied zwischen den verschiedenen illokutionären Kräften der Sprechhandlungen. Schließlich ermöglicht uns der Inhalt bzw. das Thema unserer Frage, sie von anderen Fragen zu unterscheiden. Betrachtet man diese letzte Unterscheidung noch näher, dann kann man einige hoch interessante Besonderheiten unserer Fragehandlung entdecken. Unsere Handlung besteht darin, nach der möglichen Begründung moralischer Normen zu fragen, d. h. der Normen, die alle menschlichen Handlungen regieren sollen und genau deshalb auch unsere aktuelle Fragehandlung regieren sollen. Es ist richtig zu bemerken, dass unser Problem in der Möglichkeit besteht, die Verbindlichkeit der moralischen Normen im Allgemeinen rational zu begründen bzw. nicht nur derjenigen, die unsere Fragehandlung regieren. Aber, wie oben angegeben, fängt der hier vorgeschlagene reflexive Weg zur Problemlösung bei der Erforschung unserer Fragehandlung selbst an; und diese Erforschung kann es uns ermöglichen, die Normen, nach denen wir diese Handlung durchführen, zu verstehen und zu beurteilen, zu entdecken und zu überprüfen. Deshalb kann man auch feststellen, dass unsere Fragehandlung darin besteht, nach einer rationalen Begründung moralischer Normen zu fragen, und dass diese Normen nicht nur die Handlungen im Allgemeinen, sondern auch unsere aktuelle Fragehandlung regieren sollen. Unsere Frage enthält also notwendigerweise einen selbstrückbezüglichen Bestandteil, in dem sich die beiden erwähnten Aspekte ihres Sinnes, also der Inhalt der Frage und die Fragehandlung miteinander verbinden, weil ihr Inhalt auf alle Handlungen verweist und genau deshalb auch auf die Handlung, die nach diesem Inhalt fragt. Ohne diese Selbstbezüglichkeit ist es völlig unmöglich, nach A

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einer möglichen Begründung der moralischen Normen zu fragen, weil diese Normen die menschlichen Handlungen regieren sollen und auch unsere Frage eine menschliche Handlung ist. Der reflexive Charakter unserer Erforschung besteht eben darin, dass sie diese konstitutive Selbstrückbezüglichkeit unserer Frage expliziert und thematisiert. Wenn wir jetzt zum Ausgangspunkt dieses Abschnitts zurückkehren, können wir behaupten, dass unsere aktuelle Fragehandlung von einem normativen Rahmen regiert wird. Als Elemente dieses Rahmens kann man verschiedene Arten von Regeln und Normen nach verschiedenen Kriterien unterscheiden. Erstens können die moralischen Normen, nach deren rationaler Begründung wir fragen, von anderen Regeln und Normen, die keine moralische Bedeutung haben, unterschieden werden. Zweitens können die Regeln, die unsere Frage regieren, gemäß den drei semiotischen Dimensionen, die unsere Frage enthält, berücksichtigt werden, nämlich gemäß der syntaktischen, der semantischen und der pragmatischen Dimension. Gibt es ethische Normen, die unsere Sprechhandlung als konstitutive Regeln regieren, dann scheint es ganz offensichtlich, dass es weder syntaktische noch semantische Regeln sein können. Die ersten betreffen nur die Beziehung zwischen Zeichen, mit denen wir unsere Frage formulieren, und die zweiten nur die Beziehung zwischen diesen Zeichen und der Bedeutung unserer Frage. Einige ethische Normen können aber zur Art der pragmatischen Regeln gehören, weil diese Regeln die Beziehung zwischen den Zeichen und den Zeichenbenutzern bzw. zwischen unserer Frage und uns betreffen, oder vielleicht besser ausgedrückt: Sie betreffen unsere intersubjektive Beziehung, in der wir uns befinden, während wir unsere Frage stellen. Diese Normen werden als Sinnbedingung unserer Fragehandlung in der pragmatischen bzw. performativen Dimension dieser Handlung notwendigerweise und immer schon vorausgesetzt, wie noch nachgewiesen werden muss. Die normativen Sinnbedingungen unserer aktuellen Fragehandlung, die in dieser Handlung pragmatisch vorausgesetzt sind, sind unter anderen folgende: Wer eine Frage sinnvoll stellt, muss notwendigerweise voraussetzen, dass seine möglichen Dialogpartner fähig sind, seine Frage zu beantworten. Das bedeutet natürlich nicht, dass seine wirklich anwesenden Dialogpartner, denen er die Frage faktisch stellt, die entsprechende bzw. richtige Antwort schon kennen. Es handelt sich nur darum, dass es Dialogpartner im Allgemeinen geben 266

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kann, die die Frage verstehen und die gültige Antwort ausfindig machen können. Eine Frage, z. B. unsere Frage nach der Möglichkeit, moralische Normen rational zu begründen, leitet ein Verfahren ein, in dem die Teilnehmer Aussagen als Antworten vorschlagen, d. h. sie beanspruchen, dass die von ihnen vorgeschlagene Aussage als Antwort auf die Frage gilt. Wer eine Fragehandlung durchführt, setzt einfach voraus, dass die entsprechende Handlung, eine Aussage als gültige Antwort vorzuschlagen, sowohl möglich als auch wünschenswert ist. Diese Handlungen haben einen notwendig intersubjektiven Charakter. Obwohl jemand eine Frage und eine Antwort einsam und lautlos denken kann (z. B. jetzt der Leser), sind Fragen und Antworten Handlungen, die einen Dialogpartner voraussetzen, wenn nicht einen realen und faktischen, dann zumindest aber einen virtuellen und möglichen. Fragen und Antworten sind Handlungen, die einsam oder gegenüber einer kleinen Zuhörerschaft faktisch durchgeführt werden können. Trotzdem verweist der Sinn dieser Handlungen auf alle möglichen Dialogpartner, die die Frage verstehen und die Antwort suchen könnten. Man fragt immer alle und man antwortet immer allen möglichen Zeichenbenutzern, die als mögliche Dialogpartner berücksichtigt werden können. Wer auf eine Frage antwortet, erhebt den folgenden Anspruch: seine Aussage muss nicht nur von ihm und dem Fragenden für eine gültige Antwort gehalten werden, sondern auch von allen möglichen Dialogpartnern, die die richtige Antwort finden wollen. Dieser Gültigkeitsanspruch ist eine Sinnbedingung, die in der Handlung des Fragens und des Antwortens pragmatisch vorausgesetzt wird. Wer eine Frage sinnvoll stellt (z. B. wenn wir unsere Frage stellen), setzt also voraus, dass die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft, an der er teilnimmt, die Aussage, die als gültige Antwort dieser Frage gelten muss, entdecken können. Die Reichweite dieser Gemeinschaft kann weder von dem, der fragt, noch von dem, der antwortet, willkürlich begrenzt werden. Um diesen Punkt näher betrachten zu können, denken wir an die Situation eines Sprechers, der die zwei folgenden Handlungen zugleich durchzuführen versucht: Einerseits unsere Frage nach der Möglichkeit, die Verbindlichkeit der moralischen Normen zu begründen, zu stellen und andererseits zu behaupten, dass die von ihm erwartete Antwort nur für einen begrenzten Kreis von Dialogpartnern gelten darf oder kann, z. B. nur für die Anhänger einer philosophischen Schule, die Gläubigen einer Religion oder die Staatsbürger A

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eines Staates. In dieser Situation kann man klar erkennen, dass die begrenzende Erwartung, die in dieser Behauptung enthalten ist, mit der universalen Erwartung, die für den Sinn unserer Frage konstitutiv ist, nicht vereinbar ist. Wie oben schon erwähnt, besteht diese Universalitätserwartung in Folgendem: Die rationale Begründung moralischer Normen, nach deren Möglichkeit man fragt und zu antworten versucht, muss für jeden möglichen Diskurspartner, der sich für die Frage ernsthaft interessiert, gelten. Unsere Frage setzt die Forderung, den Kreis der möglichen Adressaten nicht willkürlich zu begrenzen, als ihre Sinnbedingung voraus, bzw. die Verpflichtung, keinen Menschen von einem virtuellen Gerichtshof willkürlich auszuschließen, von dem Gerichtshof nämlich, der fähig ist, die Gültigkeit der Antwort auf die Frage nach der möglichen Begründung moralischer Verpflichtungen rational zu bestimmen. Auch das Urteil dieses Gerichtshofs kann von keiner willkürlichen Entscheidung abhängen, weil seine Aufgabe darin besteht, die Gültigkeit einer Antwort zu bestimmen, und er kann diese Aufgabe nur insofern erfüllen, als er die von den Dialogpartnern erhobenen Gültigkeitsansprüche einlöst. Diese Einlösung kann nur durch die Berücksichtigung der Argumente für und gegen diese Ansprüche erfolgen. In diesem Punkt treffen wir auf eine zweite Sinnbedingung unserer Frage, die in Folgendem besteht: Wer unsere Frage stellt, erwartet notwendigerweise, dass seine möglichen Dialogpartner zum argumentativen Einlösungsvorgang der mit den Antwortvorschlägen erhobenen Gültigkeitsansprüche beitragen. Wie oben schon angegeben, widerspricht eine willkürliche Einschränkung des möglichen Adressatenkreises dem Sinn unserer Frage, weil diese Einschränkung die Erfüllung ihrer pragmatisch konstitutiven Bedingung verhindert, nämlich die Erwartung einer möglichen Antwort, die für jeden möglichen Dialogpartner, der sich für die Frage ernsthaft interessiert, gültig sein kann. Jetzt erschließt sich uns auch, dass diese Universalitätserwartung eine notwendige bzw. nicht willkürliche Einschränkung dieses Kreises enthält. Wer nicht durch Argumente und Gegenargumente zum erwähnten Einlösungsvorgang beitragen will bzw. wer versucht, durch extraargumentative Faktoren wie Bedrohung oder Bestechung diesen Vorgang zu stören oder zu verhindern, kann als möglicher Adressat unserer Frage und als möglicher Dialogpartner im Vorgang der Antwortsuche nicht anerkannt werden. Unsere Frage fordert implizit von ihren möglichen Adressaten, unter denen auch die Leser und der Ver268

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fasser dieses Buches sind, eine Bereitschaft, seine Urteilskraft nur gemäß der Gültigkeit der Argumente und Gegenargumente zu gebrauchen. Es gibt also sozusagen ein implizites Verbot in dem performativen Teil unserer Frage nach der Möglichkeit, die moralischen Verpflichtungen rational zu begründen. Dieses Verbot schließt jede extraargumentative Bestimmung unserer Urteilskraft aus. Wenn wir unsere Frage sinnvoll stellen, fangen wir an, ihre Antwort zu suchen. Diese Antwort kann nur durch einen argumentativen Dialog gefunden werden, einen Dialog nämlich, in dem die Teilnehmer nur die Gültigkeit der Argumente beachten sollen. Extraargumentative Faktoren dürfen auf den Dialogpartner keinen Einfluss haben. Wer eine Antwort auf unsere Frage vorschlägt, erhebt Gültigkeitsansprüche, die nur durch einen argumentativen Dialog eingelöst werden können. Die Teilnehmer dieses Dialogs sind nicht alle möglichen Sprecher und Handelnden, sondern nur diejenigen, die ihrer Urteilskraft gemäß die Gültigkeit der vorgebrachten Argumente bestimmen. Bei der argumentativen Einlösung der Gültigkeitsansprüche haben die Dialogpartner eine symmetrische Beziehung, die in Folgendem besteht: Alle Teilnehmer des argumentativen Dialogs haben das gleiche Recht, Einwände zu erheben, und die gleiche Pflicht, Gründe vorzubringen. Diese Symmetrie bzw. Gleichberechtigung der Dialogpartner ist eine dritte notwendige Sinnbedingung unserer Frage, weil unsere Fragehandlung sie in ihrer performativen Dimension nolens volens voraussetzt. Um die Notwendigkeit dieser Bedingung erhellen zu können, kann man die Situation von jemandem betrachten, der versucht, die folgenden zwei Handlungen gleichzeitig durchzuführen: einerseits unsere Frage nach der Möglichkeit, die moralischen Verpflichtungen rational zu begründen, zu stellen und andererseits zu behaupten, dass einige der Dialogpartner, die die Antwort auf diese Frage ernsthaft suchen, kein Recht haben, Einwände zu erheben, und andere keinen Grund für ihre Antwortvorschläge auf unsere Frage vorzubringen brauchen. Der Versuch, diese zwei Sprechhandlungen zugleich durchzuführen, ist offensichtlich inkonsistent, weil unsere Frage die folgende Bedingung, die der erwähnten Behauptung explizit widerspricht, voraussetzt: diejenigen, die versuchen, unsere Frage nach der Möglichkeit einer ethischen Begründung zu beantworten (z. B.: wir jetzt), befinden sich immer schon in der erwähnten symmetrischen Situation. Wenn diese Bedingung nicht erfüllt wird, kann der Vorgang, Gültigkeitsansprüche einzulösen, nicht einmal anfangen. Dieser Vorgang befindet sich notwenA

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digerweise in den Erwartungen der Fragehandlung im Allgemeinen und deshalb auch unserer Frage nach der Möglichkeit, die moralische Verbindlichkeit von Normen rational zu begründen. 6.2.3. Unsere Erforschung der Frage nach der Möglichkeit, moralische Normen zu begründen, hat es uns ermöglicht, einige pragmatische Bedingungen, deren Annahme zum sinnvollen Stellen dieser Frage notwendig ist, zutage zu bringen. Damit haben wir nicht beansprucht, alle diese Bedingungen entdeckt zu haben, sondern wollten Folgendes zeigen: Um nach der Möglichkeit einer ethischen Normenbegründung sinnvoll fragen zu können, muss man die Gültigkeit der drei oben erwähnten Forderungen notwendigerweise annehmen. Diese Forderungen betreffen die Dialogpartner, die am Einlösungsvorgang von Gültigkeitsansprüchen teilnehmen können, der Ansprüche nämlich, die mit den Antwortvorschlägen der Dialogpartner auf unsere Frage erhoben werden. Diese oben erwähnten Forderungen sind: Man darf keine möglichen Dialogpartner von der Teilnahme an diesem Einlösungsvorgang willkürlich ausschließen (1), diese Partner dürfen nur die Gültigkeit der vorgebrachten Argumente beachten (2) und sie müssen reziprok als gleichberechtigt anerkannt werden (3). Unsere Untersuchung hat es uns also ermöglicht, diese drei meiner Ansicht nach besonders wichtigen Forderungen zu explizieren, Forderungen nämlich, die einerseits in der Frage nach der möglichen Begründung moralischer Normen bzw. in dem performativen Handlungswissen dieser Frage implizit und notwendigerweise vorausgesetzt werden. Andererseits sind diese Forderungen für diejenigen, die versuchen, diese Frage sinnvoll zu beantworten, absolut verbindlich. Um den verbindlichen Charakter dieser Forderungen erhellen zu können, kann man einige der oben schon erwähnten Begriffe, die von der universal- bzw. transzendentalpragmatischen Rezeption der Sprechakttheorie ausgearbeitet wurden, in unserem aktuellen Zusammenhang noch einmal anführen. Diesem philosophischen Ansatz zufolge kann die Frage: »Ist es möglich, die moralische Verbindlichkeit rational zu begründen?« in zwei verschiedenen Teilen analysiert werden: in ihrem propositionalen Teil und in ihrem performativen Teil. Im propositionalen Teil befindet sich der semantische Gehalt der Frage, nämlich: »die rationale Begründung moralischer Verpflichtungen ist möglich« (= p). Der performative Teil enthält den Sprechhandlungstyp bzw. die sog. spezifische illokutionäre Kraft der Fragehandlung: »ich frage, ob p«. 270

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Die oben erwähnten drei normativen Forderungen bezüglich des Sinns unserer Frage gehören nicht zum propositionalen Teil, sondern zum performativen Teil. Die Fragehandlung und nicht der propositionale Gehalt, nach dessen Wahrheit wir fragen, enthält implizit die normativen Forderungen, keine Dialogpartner willkürlich auszuschließen, nur das Gewicht der Argumente zu beachten und die Gleichberechtigung der Dialogpartner anzuerkennen. Es handelt sich also um Forderungen, die als »performativ« bezeichnet werden können. Wie oben schon angegeben, sind diese Forderungen für unsere Fragehandlungen aus folgenden Gründen notwendig und konstitutiv: Wer eine Frage ernsthaft stellt, z. B. unsere Frage nach der ethischen Begründung, ist eigentlich gar nicht in der Lage zu entscheiden, ob er die erwähnten performativen Forderungen annimmt oder nicht. Denn er muss diese Forderungen notwendigerweise annehmen und erfüllen – oder vielleicht besser ausgedrückt: Wenn er eine Fragehandlung wirklich durchführt, erfüllt er schlechthin diese Forderungen. Die Durchführung dieser Handlung und die Erfüllung dieser Forderungen sind untrennbar miteinander verknüpft. Eben darin besteht der konstitutive Charakter dieser Forderungen für unsere Fragehandlung. Deshalb können diese Forderungen weder mit Konventionen noch mit Spielregeln verwechselt werden. Diejenigen, die sich an eine Konvention halten oder die ein Spiel spielen, können die Regeln immer ändern. Der Inhalt unserer performativen Forderungen kann hingegen von den Dialogpartnern nicht willkürlich entschieden werden. Die Bestimmung dieses Inhalts steht nicht in ihrer Macht. Es handelt sich also nicht um kontingente Regeln, sondern um notwendige Forderungen bzw. konstitutive Bedingungen unserer Fragehandlung, deren Erfüllung im Sinn dieser Handlung immer schon vorausgesetzt wird. Der Nachweis der Notwendigkeit dieser Forderungen kann nur durch einen wirklichen Versuch, diese Forderungen zu bezweifeln, geführt werden. Der wirkliche Charakter dieses Versuchs besteht in Folgendem: Um diesen Nachweis führen zu können, reicht es nicht, sich eine dritte Person vorzustellen, die die erwähnte Forderungsbestreitung versuchen würde und deren Verhalten wir mit objektivierender Distanz beobachten könnten. Um die konstitutive Notwendigkeit unserer performativen Forderungen nachweisen zu können, müssen wir selbst tatsächlich versuchen, diese Forderungen zu bestreiten bzw. zu verneinen, z. B. durch die folgende These, die als »q« bezeichnet werden kann: »Wer an einem diskursiven EinA

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lösungsvorgang von Gültigkeitsansprüchen teilnimmt, darf mögliche Dialogpartner bzw. Teilnehmer von diesem Vorgang ganz willkürlich ausschließen, er darf diese Ansprüche, wenn er mag, auch allein aufgrund extraargumentativer Faktoren (z. B. Bedrohungen, egoistische Interessen usw.) beurteilen und die Gleichberechtigung der Diskurseilnehmer schlechthin verkennen.« Die unüberwindliche Schwierigkeit dieser These besteht eben darin, dass der Versuch, sie zu behaupten, die Gültigkeit der Forderung, die sie verneint, notwendigerweise voraussetzt. Diese Schwierigkeit zeigt sich klar am performativen Teil der Behauptungshandlung dieser These. Dieser Teil ist zwar noch implizit, aber er kann in folgender Weise reflexiv expliziert werden: Wenn wir »q« als wahr behaupten, erheben wir notwendigerweise einen Gültigkeitsanspruch (bzw. einen Wahrheitsanspruch) gegenüber allen möglichen Dialogpartnern, die zur rein argumentativen Einlösung dieses Anspruchs beitragen, und erkennen die Gleichberechtigung aller, die sich so verhalten, an. Wer also versucht, die oben erwähnten performativen Forderungen zu verneinen, nimmt sie doch unbewusst an, weil er diesen Versuch gegenüber allen möglichen Dialogpartnern, die zur Einlösung des Anspruchs dieses Versuchs beitragen können und die von ihm als gleichberechtigt anerkannt werden, durchführt. Durch diesen reflexiv explizierenden Nachweis wird klar, dass der Versuch, die erwähnten Forderungen zu verwerfen, pragmatisch inkonsistent ist, weil sein performativer Teil zumindest implizit eben das voraussetzt, was sein propositionaler Teil explizit verneint. Unsere reflexive Erforschung des Versuchs, die normativen Forderungen der Frage nach der ethischen Begründung zu bestreiten, führt uns also erstens zur Anerkennung des notwendigen Charakters dieser Forderungen, weil das Verwerfen dieser Forderungen ihre Annahme paradoxerweise voraussetzt. Zweitens führt unsere Erforschung zu der Erkenntnis, dass diese performativen Forderungen nicht nur in unserer Sprechhandlung und in der Fragehandlung im Allgemeinen vorausgesetzt werden, sondern auch zumindest in jeder Sprechhandlung, die ein Bestandteil eines Vorgangs ist, bei dem Gültigkeitsansprüche eingelöst werden sollen. Zuletzt kann man klar bemerken, dass die durch die vorige Erforschung explizierten und als notwendig nachgewiesenen pragmatischen Forderungen selbst moralisch verbindliche Normen sind. Sie schreiben uns bestimmte Verpflichtungen vor, die normalerweise als »moralisch« bezeichnet wer272

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den: Personen nicht willkürlich auszuschließen, ihre Kontroversen durch Argumente zu lösen 29 und sie als gleichberechtigt zu berücksichtigen. Die Anerkennung des moralischen Charakters der oben explizierten performativen Forderungen enthält schon den Anfang einer Antwortsuche auf unsere Frage nach der Möglichkeit, die moralischen Verpflichtungen rational zu begründen. Ein erster Schritt dieser Suche besteht darin zu behaupten, dass einige moralische Normen notwendigerweise als pragmatische Sinnbedingungen jeder Sprechhandlung, die Bestandteil eines argumentativen Vorgangs sein kann, vorausgesetzt werden und genau deshalb auch Sinnbedingungen der Frage nach der Möglichkeit einer rationalen Begründung moralischer Verpflichtungen sind. Diese Frage kann nur sinnvoll gestellt werden, wenn der Fragende und seine möglichen Adressaten bestimmte moralische Verpflichtungen annehmen und erfüllen, nämlich: nicht zu diskriminieren, die Kontroversen durch Argumente zu lösen und die Gleichberechtigung zu beachten. Durch die Anerkennung des moralischen Charakters der oben erwähnten performativen Forderungen wird einerseits unsere Frage positiv beantwortet und andererseits die ethische Begründung als reflexiver Vorgang dargestellt. Es gibt moralische Verpflichtungen, die verbindlich sind, weil ihre Bestreitung den Verzicht auf jede mögliche Argumentation schlechthin bedeutet. Wer die Gültigkeit dieser Verpflichtungen nicht anerkennen will, kann nicht einmal die Frage »warum?« sinnvoll stellen. 30 29 Die sog. Grundnorm der Diskursethik fordert eben, sich in jedem Konfliktfall um diskursive Konsensbildung zu bemühen. Zur Diskussion über die Formulierung dieser Norm siehe: Jürgen Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, S. 103 ff.; ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a M.: Suhrkamp, 1996; Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 123; Dietrich Böhler: Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung. In: Apel, K.-O./Kettner, M. (Hrsg.): Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992, S. 201–231; Horst Gronke: Apel versus Habermas: Zur Architektonik der Diskursethik. In: Dorschel, A. [u. a.] (Hrsg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl Otto Apel, S. 273–296. 30 Peter Rohs versucht, die transzendentalpragmatische Letztbegründung moralischer Normen wegen des im Rahmen dieser Begründung behaupteten notwendigen Charakters des erwähnten Anerkennens folgenderweise zu bestreiten: »Kuhlmann insistiert darauf, dass das Anerkennen ›notwendig‹ sei. Es ist also keine intentionale, frei vollzogene Handlung mehr – denn zu einer solchen gehört wesentlich die Möglichkeit, dass sie nicht geschieht, sie kann also nicht notwendig sein. Kuhlmann braucht denn die

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Hier muss man aber auch Folgendes bemerken: Es ist wahr, dass einerseits nicht alle performativen Forderungen moralische Verpflichtungen sind und andererseits nicht alle moralischen Verpflichtungen Forderungen solcher Art sind. Es gibt doch viele moralische Verpflichtungen, die keine diskursive Voraussetzung sind. Trotzdem muss man auch beachten, dass die Frage nach der Begründung aller moralischen Normen folgendermaßen formuliert werden kann: »Warum ist diese Norm moralisch obligatorisch?«. Diese Frage und ihre Beantwortung sind Handlungen, die nur innerhalb eines möglichen argumentativen Dialogs stattfinden können. Wie oben angegeben, setzt dieser Dialog die erwähnten performativen Forderungen voraus, deren moralischer Charakter offensichtlich ist. Diese FordeLeute auch nicht zu fragen, was sie anerkannt haben, sondern er beweist es ihnen sogar gegen ihr Wissen von sich selbst. Das Anerkennen verliert seinen Handlungscharakter und wird etwas wie eine Subjektivitätsstruktur nach Art der von Fichte deduzierten ›Tätigkeiten‹, nach deren Vollzug man ebenfalls die Leute nicht fragen kann. Da der Ausdruck ›Anerkennen‹ aber wohl nur für intentionale Handlungen eingeführt ist, denke ich, dass ein ›notwendiges Anerkennen‹ eine in sich sinnlose, widersprüchliche Konzeption ist. Annerkennen kann keine Subjektivitätsstruktur sein.« [Hervorhebung von mir] Peter Rohs: Moralische Präferenzen. In: Apel, K.-O./Pozzo, R. (Hrsg.): Zur Rekonstruktion der praktischen Philosophie. Gedenkschrift für Karl-Heinz Ilting. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1990, S. 205–225, Zitat: 209. Gegen diesen Einwand Rohs’ möchte ich das Folgende bemerken: Einerseits kann man gern einräumen, dass »die Leute« natürlich anerkennen können, was sie willkürlich wollen. Andererseits aber kann jemand, der die moralisch normativen Sinnbedingungen der Argumentation nicht voraussetzt, die Rolle des Diskurspartners überhaupt nicht spielen. Um die bloß faktische Ebene der Leute von der transzendentalen Ebene des Diskurspartners unterscheiden zu können, muss man die folgende strikt reflexive Frage stellen: Erkennt Rohs die Gültigkeit der oben erwähnten moralischen Normen an oder nicht, wenn er selbst gegenüber seinen möglichen Lesern bzw. virtuellen Diskurspartnern behauptet, dass das Anerkennen keine Subjektivitätsstruktur sein kann? (die Normen nämlich, keinen möglichen Diskurspartner willkürlich auszuschließen, nur aus guten Gründen seine Behauptung aufzustellen und die Gleichberechtigung seiner möglichen Diskurspartner anzuerkennen). Wenn nicht, dann kann die Äußerung »Annerkennen kann keine Subjektivitätsstruktur sein« nicht ernsthaft für einen sinnvollen Beitrag zu unserem aktuellen philosophischen Diskurs gehalten werden. Darin besteht eben die Notwendigkeit des Annerkennens, die von dem transzendentalpragmatischen Ansatz behauptet wird. Zu diesem Anerkennen siehe unten 6.3. und zur Diskurspartnerrolle siehe unten 6.4. Zur Diskussion zwischen Kuhlmann und Rohs siehe: Wolfgang Kuhlmann: Kant, Rohs und die Transzendentalpragmatik. In: ders. (Hrsg.): Anknüpfen an Kant. Konzeptionen der Transzendentalphilosophie. Würzburg: Könighausen und Neumann, 2001, S. 115–156; und: Peter Rohs: Anknüpfen an Kant – aber wie? In: Kellerwessel, W. [u. a.] (Hrsg.): Diskurs und Reflexion. (Festschrift für W. Kuhlmann). Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, S. 510–530.

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rungen sind Sinn- und Gültigkeitsbedingungen der Frage nach der Begründung aller moralischen Normen und ihrer Antwort. Bei jedem Versuch, moralische Normen rational zu begründen, müssen die erwähnten Forderungen als ethische Prinzipien vorausgesetzt werden, weil sie notwendige Bedingungen jedes Versuchs sind, die Verbindlichkeit situationsbezogener moralischer Nomen zu rechtfertigen oder zu kritisieren. Eine in der Lebenswelt akritisch angenommene Norm kann als verbindlich gerechtfertigt oder als willkürlich kritisiert werden. Diese Rechfertigung und diese Kritik sind aber Argumente, mit denen Gültigkeitsansprüche gegenüber allen möglichen Diskurspartnern erhoben werden, Partnern nämlich, die die Argumente nur gemäß den rationalen Gründen beurteilen und die Gleichberechtigung der anderen anerkennen. Die Frage nach der Möglichkeit, die moralischen Normen im Allgemeinen zu begründen, kann nur sinnvoll gestellt werden, wenn die Gültigkeit bestimmter moralischer Normen bzw. ethischer Prinzipien immer schon angenommen wird. Die Begründung dieser Prinzipien kann aber nur in einer aktuell reflexiven Feststellung von etwas bestehen, das wir immer schon vorausgesetzt und angenommen haben, insofern wir die Frage nach den Gründen moralischer Verpflichtungen stellen. 31 Die ethischen Prinzipien sind also ein Grundbestandteil unseres performativen Handlungswissens und können deshalb als solche durch eine reflexive Erforschung expliziert und transzendental nachgewiesen werden.

6.3. Sittengesetz und moralische Pflicht bei der Diskursethik Die im letzten Abschnitt durchgeführte Untersuchung zeigt uns, dass ein Grundbestandteil unseres performativen Handlungswissens aus normativen Sinnbedingungen besteht, die moralischen Charakter haben. Deshalb können wir jetzt behaupten, dass wir als Sprechhan31 Diese aktuelle Dialogreflexion des Diskurspartners im Diskurs wird von Dietrich Böhler auch hinsichtlich des Problems der ethischen Begründung meisterhaft dargelegt. Siehe dazu: Dietrich Böhler: Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und Mitverantwortung. In: Apel, K.-O./Burckhart, H. (Hrsg.): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik, S. 15–68. Über die Diskurspragmatik Böhlers siehe: Horst Gronke: Die Praxis der Reflexion. Dietrich Böhlers philosophisch-politischer Diskurs. In: Gronke, H./Burckhart, H. (Hrsg.): Philosophieren aus dem Diskurs, Beiträge zur Diskurspragmatik, S. 21–44.

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delnde nicht nur ein implizites Wissen über unsere Handlungen im Allgemeinen oder über die Handlungen haben, die auf die erkennbare Naturwelt verweisen, sondern auch ein Wissen darüber, wie unsere Handlungen sein sollen. Die oben erwähnten Sinnbedingungen sind pragmatische Präsuppositionen, die im performativen Teil unserer Sprechhandlungen verankert sind, z. B. im performativen Teil unserer Frage nach der möglichen Begründung moralischer Verpflichtungen. Diese Präsuppositionen haben einen transzendentalen Charakter a priori: ohne sie vorauszusetzen, kann man solche Sprechhandlungen nicht sinnvoll durchführen. Von vornherein wissen wir also zumindest implizit schon, wie wir uns gegenüber unseren möglichen Dialogpartnern verhalten müssen und sollen. An diesem Punkt unserer Untersuchung zeigt sich aber ein Problem, das folgendermaßen formuliert werden kann: Einerseits haben wir im letzten Abschnitt die normativen Sinnbedingungen unserer Sprechhandlungen als konstitutive Voraussetzungen a priori dieser Handlungen präsentiert. Der notwendige Charakter dieser Bedingungen besteht eben darin, dass man diese Handlungen nicht sinnvoll durchführen kann, ohne die normativen Sinnbedingungen von vornherein zu erfüllen. Andererseits muss man aber auch bemerken, dass wir in der alltäglichen Kommunikation bestimmte Normen als »moralische Normen« bezeichnen, nämlich solche, deren Erfüllung vom Willen des Akteurs abhängt. Der Begriff einer moralischen Verpflichtung, die von solchen Normen vorgeschrieben wird, verweist auf die Situation, in der der Akteur frei entscheiden kann, ob er diese Verpflichtung erfüllen will oder nicht. Jemand ist nur dann für eine Handlung verantwortlich, wenn er ganz frei entscheiden kann, ob er diese Handlung durchführt oder nicht. Die moralischen Verpflichtungen werden von den Menschen nicht von vornherein und immer schon erfüllt. Sie sollen eben von ihnen erfüllt werden. Das erwähnte Problem kann also in folgender Frage formuliert werden: Wie kann eine konstitutive Bedingung, die notwendigerweise immer schon als erfüllt vorausgesetzt werden muss, für eine moralische Verpflichtung, deren Erfüllung hingegen von einer freiwilligen Entscheidung des Akteurs abhängt, gehalten werden? Ist dieser begriffliche Unterschied zwischen konstitutiven Bedingungen und moralischen Verpflichtungen ein hinreichender Grund, um etwa eine Hauptthese der Diskursethik zu verneinen, die These nämlich, dass die ethischen Prinzipien transzendentale Sinn- und Gültigkeitsbedingungen a priori der Argumentation sind? Müsste man vielleicht einräumen, 276

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dass die pragmatischen, notwendigen Argumentationsvoraussetzungen doch Rationalitätsprinzipien, aber keine Ethikprinzipien sein können und dass es dann zwischen Rationalität und Ethik eine unüberbrückbare Trennung gibt? Man muss aber auch beachten, dass diese Konzession den Verzicht auf eine transzendentalpragmatische Begründung der Ethik bedeuten würde. Deshalb scheint es empfehlenswert, dieses Problem näher zu betrachten. Karl Heinz Ilting hat der transzendentalpragmatisch begründeten Diskursethik in verschiedenen Aufsätzen vorgeworfen, dass sie auf einem »intellektualistischen Fehlschluss« beruhe. 32 Nach Ilting besteht dieser Fehlschluss in dem diskursethischen Anspruch, moralisch verbindliche Normen bzw. den Geltungsgrund ihrer Verbindlichkeit mit den pragmatischen Bedingungen unseres Verstandesgebrauchs zu begründen. Dieser Anspruch sei intellektualistisch, weil der, der ihn erhebt, versucht, die Gültigkeit moralischer Verpflichtungen, die in der wirklichen Praxis verbindlich sein sollen, mit rein rationalen Prinzipien bzw. auf notwendigen Bedingungen der Argumentation zu begründen. Der erwähnte Vorwurf lautet: Wer diesen Versuch macht, verkennt einen wichtigen Unterschied zwischen zwei Arten zumutbarer Normen, nämlich: die moralischen Normen einerseits und die normativen Bedingungen eines argumentativen Diskurses andererseits. 33 Die ersten sollen das verantwortliche Handeln innerhalb des Interessenkonfliktes sozialer Interaktionen bestimmen. Die zweiten müssen nur bei dem rein argumentativen Diskurs vorausgesetzt werden. Ein wichtiger Unterschied zwischen wirklichen sozialen Interaktionen und argumentativem Diskurs besteht darin, dass es im Diskurs keinen Interessenkonflikt, sondern nur ein einziges und gemeinsames Interesse an der kooperativen Lösung bestimmter Probleme geben kann. Ein anschauliches Beispiel dieser diskursiven Kooperation findet sich bei der Wahrheitssuche innerhalb der naturwissenschaftlichen Forschung. Es gibt also doch normative Bedingungen, die das Verhalten der Teilnehmer dieser 32 Vgl. Karl-Heinz Ilting: Grundfragen der praktischen Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994. 33 Auch Habermas behauptet diesen Unterschied. Siehe dazu: Jürgen Habermas: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: ders.: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983; und ders.: Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung. Kleine Replik auf eine große Auseinandersetzung. In: Böhler, D./Kettner, M./Skirbekk, G. (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, S. 44–64: 48–51.

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diskursiven Suche bestimmen, aber diese Bedingungen sind – diesem Einwand nach – moralisch irrelevant, weil keine Interessenkonflikte zwischen den Diskurspartnern als solchen auftreten können. Sie haben nur und von vornherein das gemeinsame Interesse der Wahrheitssuche, das kein Gewicht für lebensweltliche Interaktionen und für verantwortliches Handeln haben könne. Dieser Intellektualismusvorwurf gegen die transzendentalpragmatisch letztbegründete Diskursethik beruht auf einer philosophischen Auffassung der menschlichen Praxis und auf einigen Thesen über die Natur der Moralität. Nach dieser Auffassung gibt es eine unüberbrückbare Trennung zwischen rationalem Diskurs und moralischen Verpflichtungen. Die normativen Bedingungen des rationalen Diskurses seien bloß hypothetische Imperative, die als solche keine moralische Relevanz haben können, weil sie nur für diejenigen gelten, die einen Diskurs durchführen wollen. Der Grund moralischer Verpflichtungen ließe sich nicht in solchen Bedingungen, sondern nur in einer sog. »freien Anerkennung« der Personen finden. Nach Ilting ist die Grundnorm der Ethik, was Hegel als Rechtsgebot bezeichnet hat: »sei eine Person und respektiere die anderen als Personen«. 34 Die einzige mögliche Rechtfertigung dieser Norm besteht in der Beschreibung der »schädlichen Folgen« ihrer Verletzung, sie zu verletzen bzw. in der hobbesschen Beschreibung des Naturzustands. Diese Norm bedingt aber weder logisch noch kausal die von dem Einzelnen durchgeführte freie Handlung, sie als verbindlich anzunehmen. Die »freie Anerkennung« des Sollensgesetzes bzw. die reziproke Anerkennung der Personen als Personen ist, dieser vertragstheoretisch inspirierten Auffassung nach, der einzige Grund der Sitten. Ohne diese ursprüngliche Anerkennungsentscheidung sei keine Norm moralisch verbindlich. Vor diesem wechselseitigen Verhältnis von Willensakten gibt es dieser Auffassung nach weder moralische Verpflichtungen noch ein Recht, das für alle Vernunftwesen gelten soll. Um eine intellektualistische Vorstellung der Ethik vermeiden zu können, so lautet der Einwand, darf man die moralische Verbindlichkeit nicht mit der theoretischen Wahrheit verwechseln. Eine Aussage ist wahr für alle Vernunftwesen, die sie durch Diskurse als wahr erkennen können bzw. die unter den notwendigen normativen BedinGeorg W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969, § 36.

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gungen des Verstandesgebrauchs diese Wahrheit finden wollen. Die Verbindlichkeit moralischer Normen sei von diesen Erkenntnisbedingungen hingegen ganz unabhängig, weil ihr einziger Grund nicht im menschlichen Verstand, sondern im menschlichen Willen liegt bzw. in der freien Anerkennung der Personen. Auf diesen hier nur kurz präsentierten Vorwurf Iltings, demzufolge die Diskursethik auf einem intellektualistischen Fehlschluss beruht, wurde schon früher und m. E. richtig von Karl-Otto Apel geantwortet. 35 Im Rahmen unserer Erforschung brauchen wir keine vollständige Darstellung dieser jahrzehntelangen Auseinandersetzung zwischen Ilting und Apel zu rekonstruieren. Es genügt hier vielmehr, einerseits kurz auf den Grund hinzuweisen, aus dem der Intellektualismusvorwurf scheitert, und andererseits zu bemerken, dass trotz dieses Scheiterns das oben erwähnte Problem der Verbindung zwischen den immer schon vorausgesetzten normativen Argumentationsbedingungen und ihrer wirklich moralischen Bedeutung, nach der wir diese Bedingungen erfüllen sollen, in der Diskursethik bestehen bleibt. Zuerst muss man berücksichtigen, dass der von Ilting vorgeschlagene Schlussbegriff einer »freien Anerkennung« keine hinreichende Begründung der Gültigkeit moralischer Normen enthalten kann, weil dieser Begriff auf den faktischen Moment der willkürlichen Entscheidung verweist und keine faktische Anerkennung die universale Gültigkeit der moralischen Verbindlichkeit begründen kann. Die Menschen können – irrtümlicherweise, aber frei – auch unmoralische Normen als verbindlich anerkennen. Der Versuch, die moralische Verbindlichkeit allein von einer bloß faktischen Anerkennung her zu begründen, zerstört schlechthin den Sinn des Verbind35 Vgl. Karl-Otto Apel: Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung? Beruht der Ansatz der transzendentalpragmatischen Diskursethik auf einem intellektualistischen Fehlschluss? In: ders.: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 221–280. Siehe dazu auch: Micha Werner: Diskursethik als Maximenethik. Von der Prinzipienbegründung zur Handlungsorientierung. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 78–89. Ricardo Maliandi hat interessanterweise gezeigt, dass es eigentlich keine wirkliche Antinomie zwischen der von Ilting hervorgehobenen Rolle der Normenanerkennung und der von Apel hervorgehobenen Rolle der normativen Argumentationsbedingungen gibt, bzw. dass beide Ansätze gewissermaßen miteinander vereinbar sind. Siehe dazu: Ricardo Maliandi: Anerkennung oder Argumentation? Zur Erörterung einer scheinbaren Antinomie in der gegenwärtigen Ethik. In: Apel, K.-O./Pozzo, R. (Hrsg.): Zur Rekonstruktion der praktischen Philosophie. Gedenkschrift für Karl-Heinz Ilting, S. 283–303.

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lichkeitsbegriffs. Selbst wenn jemand davon ausgeht, dass die einzige Begründung der ethischen Grundnorm bzw. des oben erwähnten hegelschen Rechtsgebots in der Beschreibung der Alternative, nämlich der »schädlichen Folgen« ihrer Verletzung bzw. des hobbesschen Naturzustands, bestünde, müsste man beachten, dass derjenige, der diese beiden Zustände miteinander vergleicht, seine möglichen Diskurspartner immer schon als Personen anerkannt hat. Das heißt.: Wer durch Argumente bestimmen will, ob er diese Grundnorm erfüllen soll, hat schon keine Wahlfreiheit mehr, sich gegen diese Norm zu entscheiden. In diesem Sinn hat Apel klar bemerkt, dass die Vorstellung einer vorrationalen Entscheidung für die Vernunft sinnlos ist. »In die Situation einer solchen prärationalen Entscheidung kann man gar nicht kommen. Denn jede Entscheidung angesichts einer Alternative, die als solche verständlich sein soll (für deren moralische Notwendigkeit man sogar soll argumentieren können), setzt bereits den vom Entscheidungssubjekt mit allen anderen möglichen Entscheidungssubjekten geteilten Standpunkt der kommunikativen, virtuell argumentativen Vernunft voraus. Man kann sich m. E. nicht von einem vernunftexternen Standpunkt aus für die Vernunft entscheiden, sondern allenfalls als ein Vernunftsubjekt gegen die Vernunft. Dies wäre freilich ein Akt der Selbstverneinung qua Selbstausschluß aus der Gemeinschaft der Vernunftwesen.« 36

Die Hauptschwierigkeiten des von Ilting formulierten Intellektualismusvorwurfs gegenüber der Diskursethik sind einerseits ein zumindest problematisches Verständnis des Diskurses als etwas, das von den Interessenkonflikten der sozialen Interaktionen von vornherein unüberbrückbar getrennt ist, und andererseits ein entsprechender und deshalb auch problematischer Begriff dieser Interaktion, die als bloßes strategisches Spiel gedacht wird. Was Ilting nicht sehen kann, ist einerseits, dass der Sinn des Begriffes strategischer Interaktion von dem Begriff einer nicht strategischen, sondern kommunikativen Handlung abhängt, d. h. er sieht nicht den parasitären Charakter des Begriffs der strategischen Handlung. 37 Andererseits scheint er vergessen zu haben, dass der Diskurs selbst eine Art von Handlung bzw. eine reflexive Form von sozialer Interaktion ist, durch die die sozialen Karl-Otto Apel: Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung? Beruht der Ansatz der transzendentalpragmatischen Diskursethik auf einem intellektualistischen Fehlschluss? In: ders.: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 221–280: 236. 37 Siehe dazu: Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 369– 462. 36

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Interessenkonflikte als Gültigkeitsansprüche dargestellt werden können, als Ansprüche nämlich, die nur durch Argumente eingelöst werden können. Der Träger von konfliktreichen Interessen ist also selbst ein zumindest virtueller Diskurspartner, der seine Interessen als Gültigkeitsansprüche im Diskurs erheben und rechtfertigen sollte, wenn die Diskursbedingungen in der Lebenswelt gegeben wären. Diese moralische Forderung, Diskurse zu führen sowie ihre nichthintergehbare Bedingungen gelten also schon für die realen Interessenträger qua virtuelle Diskurspartner. Gegenüber dem Intellektualismusvorwurf, der nur eine qualitative Differenz zwischen normativen Bedingungen des argumentativen Diskurses und den moralischen Bedingungen des verantwortlichen Handelns in der Lebenswelt sehen kann, behauptet Apel auch eine Kontinuität zwischen beiden Bedingungsarten: »Die Kontinuität besteht m. E. darin, daß die Möglichkeit und das Bedürfnis nach einer Lösung von Interessenkonflikten durch Verständigung über Geltungsansprüche schon in der lebensweltlichen Kommunikation angelegt ist und daß in jedem ernsthaften argumentativen Diskurs über die Möglichkeit der Begründung ethischer Normen die Teilnehmer sich dessen bewußt sind, daß in ihrem Diskurs das kommunikative Vernunftinteresse an der Verständigung über Geltungsansprüche seine – die einzig mögliche – Realisierung gefunden hat – derart, daß die strategische Rationalität der Durchsetzung der eigenen Interessen jetzt keine Rolle mehr spielen darf.« 38

Trotz dieser hier nur erwähnten Replik Apels gegen den Intellektualismusvorwurf bleibt noch als unbeantwortete Frage das oben schon formulierte Problem einer transzendental begründeten Ethik, nämlich: Wenn eine konstitutive Bedingung immer schon erfüllt wird und eine moralische Verpflichtung erfüllt werden kann oder auch nicht, wie darf man dann behaupten, dass diese Art von Bedingung eine solche Verpflichtung ist? Wenn z. B. die Gleichberechtigung der Diskurspartner immer schon als gültig vorausgesetzt bzw. angenommen und respektiert wird, was kann die Aussage dann bedeuten: dass sie als moralisch verbindlich angenommen und respektiert werden soll? Meiner Meinung nach ist dieser logische Übergang von etwas,

38 Karl-Otto Apel: Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung? Beruht der Ansatz der transzendentalpragmatischen Diskursethik auf einem intellektualistischen Fehlschluß? In: ders.: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 221–280: 277.

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das immer schon erfüllt wird, zu etwas, das erfüllt werden soll, im Rahmen der Diskursethik erklärungsbedürftig. Um diesen Übergang erklären zu können, müssen wir noch einmal auf die im ersten Abschnitt dieses Kapitels kurz rekonstruierte Lösung zurückgreifen bzw. sie teilweise gebrauchen. Wie oben schon erwähnt, hat die Ethik Kants einerseits verschiedene Schwierigkeiten. Die in der Grundlegung vorgeschlagene Ethikbegründung scheitert und die philosophische Aufgabe dieser Begründung kann nur durch die sprachpragmatische Überwindung der methodisch solipsistischen und praktisch metaphysischen Perspektive Kants ausgeführt werden bzw. durch eine postmetaphysische Transformation der Ethik Kants. Andererseits kann die Diskursethik, die diese Transformation durchführt, trotzdem etwas aus der Lehre Kants übernehmen, nämlich die Notwendigkeit einer Verbindung zwischen Sittengesetz und moralischer Pflicht. Das Sittengesetz gilt für jedes Vernunftwesen, das einen Willen hat und als solches gibt dieses für sich selbst ganz autonom das Gesetz. Der Begriff dieses Gesetzes enthält noch nicht die Bedeutung einer Pflicht, die von den Menschen erfüllt werden soll, sondern nur die Idee eines Gesetzes, das die Beziehungen zwischen Vernunftwesen regiert, wie die Naturgesetze die Verhältnisse zwischen Naturphänomenen. In praktisch metaphysischen Termini Kants verhalten sich die Glieder der Verstandeswelt gemäß dem Sittengesetz, und sie sind echt frei bzw. autonom, weil sie sich selbst dieses Gesetz gegeben haben. Das Sittengesetz kann aber als moralische Pflicht, die erfüllt werden soll, nur von bestimmten Vernunftwesen verstanden werden, nämlich nur von denjenigen, die auch zur Sinneswelt gehören, z. B. von den Menschen. Nur ein Wesen, das zugleich ein Glied der Verstandeswelt und der Sinneswelt ist, kann das Sittengesetz bzw. das Freiheitsgesetz als eine moralische Pflicht betrachten. Nur ein Vernunftwesen, dessen Wille nicht nur von seiner Vernunft, sondern auch von sinnlichen Neigungen bzw. nicht nur rational, sondern auch egoistisch bestimmt werden kann, kann das von ihm selbst gegebene Gesetz als eine Pflicht, die erfüllt werden soll, betrachten. Durch seine metaphysische Zwei-Welten-Lehre versucht Kant also die notwendige Verbindung zwischen Sittengesetz und moralischer Pflicht, d. h. das oben erwähnte Problem zu erklären: Wie kann ein rationales Prinzip, gemäß dem die Vernunftwesen a priori handeln, den Menschen eine moralische Pflicht vorschreiben? Im Rahmen der transzendentalpragmatisch begründeten Dis282

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kursethik muss eine postmetaphysische Transformation dieses Problems dargestellt werden. Diese Transformation bedeutet, einerseits den von der Zwei-Welten-Theorie bestimmten metaphysischen Hintergrund der kantschen Problemstellung zu überwinden und andererseits eine sprachpragmatische Formulierung des Problems schaffen zu können, eine Formulierung nämlich, die den Wahrheitskern der kantschen Artikulation bzw. Differenzierung und das Verhältnis zwischen Sittengesetz und moralischer Pflicht bewahren kann. Nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie kann man über die doppelte Zugehörigkeit des Menschen – zugleich zur Verstandeswelt und zur Sinnenwelt – nicht mehr mit kantschen Worten sprechen. Diese doppelte Zugehörigkeit kann aber durch die Berücksichtigung zweier möglicher Rollen des Akteurs ganz legitim ersetzt werden. 39 Diese zwei Rollen sind die Rolle des Diskurspartners und die Rolle des lebensweltlichen Akteurs. Als Diskurspartner setzt jemand die normativen Argumentationsbedingungen, die moralischen Gehalt haben, immer schon und notwendigerweise voraus. Man kann eigentlich nicht sagen, dass ein Diskurspartner als solcher diese normativen Bedingungen bzw. moralischen Normen oder in kantschen Worten Sittengesetze erfüllen soll, weil er sie immer schon erfüllt hat. Wer diese Bedingungen nicht erfüllt, kann als Diskurspartner nicht ernst genommen werden, weil er die Diskurspartnerrolle nicht spielen kann. Die moralisch normativen Bedingungen des Diskurses sind konstitutive Bedingungen der Rolle des Diskurspartners. Ohne die Erfüllung dieser Bedingungen gibt es keinen echten Diskurs bzw. keinen echt argumentativen Dialog. Deshalb können diese Bedingungen als notwendige Voraussetzungen des aktuellen Dialogs (bzw. des virtuellen Dialogs zwischen dem Leser und dem Verfasser) durch strikte Reflexion im performativen Teil unserer Sprechhandlungen entdeckt und nachgewiesen werden. Wären sie jetzt von uns nicht erfüllt, könnten wir sie dann nicht als konstitutive Bedingungen unseres argumentativen Dialogs reflexiv entdecken und letztbegründen. (Ich komme im nächsten Abschnitt darauf zurück.) Wenn wir unsere Diskurspartnerrolle spielen, sind die moralisch 39 Siehe dazu: Dietrich Böhler: Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Ein (wirtschafts-)ethischer Richtungsstoß der Berliner Diskurspragmatik und Diskursethik. In: Bausch, Th./Böhler, D./Rusche, Th. (Hrsg.): Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral? Münster: Lit, 2004, S. 105–148.

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normativen Bedingungen des Diskurses für uns ein konstitutiver Bestandteil dieser Rolle und haben doch die Bedeutung moralischer Normen im Sinne des kantschen Sittengesetzes. Aber insofern wir diese Rolle wirklich spielen, sind sie für uns keine moralischen Verpflichtungen, die wir erfüllen sollen, weil wir als Diskurspartner diese Bedingungen notwendigerweise immer schon erfüllen bzw. keine Alternative haben. Insofern beachten wir nur die Gültigkeit der Argumente bzw. bestimmen unsere Urteilskraft rein rational und durch keine extra-argumentative Motivation, spielen wir die konstitutiv moralische Diskurspartnerrolle und verhalten uns immer schon gemäß dem Sittengesetz, aber dieses Gesetz hat für uns noch nicht die Bedeutung einer Pflicht, die wir erfüllen sollen und die wir nicht erfüllen können. Wenn wir nur Diskurspartner wären bzw. wenn wir auch unsere nicht sprachlichen Handlungen nur an argumentativ gerechtfertigten Maßstäben orientieren wollen könnten, dann hätten wir keine moralischen Verpflichtungen und das Wort »Sollen« könnte für uns keine Bedeutung haben, weil wir nur moralisch richtig bzw. dem Sittengesetz gemäß ganz autonom handeln wollen könnten. Wir sind aber nicht nur Diskurspartner, sondern Menschen, die die Rolle solcher Partner spielen können und ab und zu auch spielen wollen. In der Lebenswelt können wir nicht nur gemäß moralischen Normen handeln, die wir entweder als Grundbestandteil unseres Handlungswissens zumindest implizit schon als gültig anerkennen oder durch den praktischen Diskurs als gültig rechtfertigen können. Wir können die moralischen Normen auch verletzen. Erst in diesem lebensweltlichen Zusammenhang, in dem wir die für uns immer mögliche Diskurspartnerrolle nicht oder nicht vorrangig spielen, werden die moralisch normativen Bedingungen unseres Diskurses für uns zu moralischen Verpflichtungen, die wir erfüllen sollen und die wir verletzen können. Das Sittengesetz, das auf der Ebene des Diskurses als konstitutive bzw. immer schon erfüllte Bedingungen erscheint, tritt in der Lebenswelt als Pflichten zutage, die unter gewissen Umständen 40 erfüllt werden sollen. In der Lebenswelt können wir sowohl das Gewicht des besseren Arguments als auch andere Handlungsmotivationen beachten. Deshalb haben die normativen Bedingungen des Diskurses für uns als lebensweltliche Akteure die Bedeutung moralischer Pflichten. Wir behandeln im Rahmen dieser Erforschung nicht die hochinteressante Problematik des von Apel sogenannten Teils B der Diskursethik.

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Auf diese Weise wird klar, dass eine konstitutive Norm die Bedeutung einer moralischen Pflicht bekommt. Man braucht also die kantsche Zwei-Welten-Theorie nicht zu postulieren, um den Unterschied und das Verhältnis zwischen Sittengesetz und moralischer Pflicht verstehen zu können. Es genügt, unsere erwähnte doppelte Rolle reflexiv anzuerkennen, d. h. die Rolle des Diskurspartners, der diese normativen Bedingungen von vornherein erfüllt, und die Rolle des lebensweltlichen Akteurs, der diese Bedingungen erfüllen kann und soll, aber nicht notwendigerweise und von vornherein tatsächlich erfüllt, insofern er von extraargumentativen Faktoren beeinflusst wird. So wird jetzt verständlich, dass eine transzendentale Bedingung der Möglichkeit der Argumentation im Allgemeinen als Ethikprinzip fungieren kann, bzw. dass sie nicht nur normativ ist, sondern auch wirklich moralisch sein kann.

6.4. Guter Wille und konstitutive Idealität Im ersten Abschnitt dieses Kapitels haben wir den kantschen Begriff des Sittengesetzes betrachtet. Wir haben dort schon festgestellt, dass es sich um ein Gesetz handelt, das der Wille eines Vernunftwesens sich selbst gibt. Wenn dieser Wille von keiner empirischen Motivation, sondern nur von diesem Gesetz selbst bzw. von Prinzipien a priori bestimmt wird, ist er ein reiner bzw. guter Wille. Er ist, sagt Kant, das einzige, »was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden«. 41 Die menschliche Vernunft ist ein praktisches Vermögen, weil sie Einfluss auf den Willen haben soll, und »die wahre Bestimmung« der praktischen Vernunft ist, einen »an sich selbst guten Willen hervorzubringen«. 42 Der Begriff dieses Willens wird im Begriff der Pflicht »unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen« eingeschlossen. Ohne diese Einschränkungen und Hindernisse ist ein guter Wille ein praktisches Vermögen, das nur von der Vorstellung des Sittengesetzes zur Handlung bewegt wird. Der gute Wille ist also der Wille eines Vernunftwesens, der von keiner sinnlichen Neigung und nur von Prinzipien a priori bzw. nur von dem autonom gegebenen Sittengesetz bestimmt wird. Nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphiloso41 42

Grundlegung 393. Grundlegung 396. A

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phie muss der Begriff eines guten Willens auf eine dieser Wende entsprechende Weise als der Wille des Diskurspartners aufgefasst werden. Ein Diskurspartner ist jemand, der zur argumentativen Lösung eines Problems beiträgt, und deshalb ist das einzige, was er als Diskurspartner eigentlich will und wollen kann, nur die mit den Lösungsvorschlägen erhobenen Gültigkeitsansprüche argumentativ einzulösen. Dieser Wille des Diskurspartners ist keine kontingente Willkür, weil er immer schon gemäß den notwendigen, moralisch normativen Sinnbedingungen der Argumentation handeln will. Diese Bedingungen sind praktische Prinzipien a priori, die den Willen des Diskurspartners von vornherein bestimmen. Diese Prinzipien sind also die Sittengesetze, die der Diskurspartner als solche notwendigerweise erfüllt. Der Wille des Diskurspartners ist der Wille, nur die Gültigkeit der Argumente zu berücksichtigen, die in einem Einlösungsprozess von Gültigkeitsansprüchen vorgebracht werden können, d. h. keine extraargumentativen Faktoren wie egoistische Interessen, subjektive Neigungen oder Leidenschaften können die Urteilskraft des Diskursteilnehmers bestimmen. Diese rein argumentative Bestimmung der Urteilskraft des Diskurspartners gehört konstitutiv zu den sog. »idealen« Kommunikationsbedingungen bzw. der »idealen« Kommunikationsgemeinschaft. Das Verhalten des Diskurspartners ist nur von dem »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« bestimmt. 43 All die anderen nicht argumentativen Zwänge spielen unter diesen »idealen« Bedingungen keine Rolle, d. h. sie werden von vornherein außer Kraft gesetzt. Um mögliche Missverständnisse über die Idealität dieser diskursiven Bedingungen zu vermeiden, darf man sie nicht mit regulativen Prinzipien verwechseln. 44 Wie oben schon angegeben wurde, spielt die regulative Idee eines letzten Konsenses bzw. der peircesche BeJürgen Habermas/Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Was leistet die Systemforschung? S. 137. Siehe auch: Jürgen Habermas: Zur Logik des theoretischen und praktischen Diskurses. In: Manfred Riedel (Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Bd. I, S. 381–402: 397. 44 Audun Øfsti hat eine irreführende Zweideutigkeit dieser idealen Bedingungen bemerkt, d. h.: einerseits als kontrafaktische Voraussetzungen des Diskurses und andererseits als regulative Ideen. Siehe dazu: Audun Øfsti: Apriori der idealen Kommunikationsgemeinschaft: metaphysische oder dialogpragmatische Implikationen? Einige Bemerkungen zu Albrecht Wellmer. In: Böhler, D. [u. a.] (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung, Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, S. 197–219: 202. 43

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griff einer ultimate opinion im Rahmen des transzendentalpragmatischen Ansatzes eine bedeutsame Rolle, sowohl hinsichtlich des theoretischen als auch des praktischen Diskurses. 45 Diese Idee bedeutet in beiden Fällen das immer gesuchte und niemals faktisch erreichte Ziel des Diskurses bzw. die definitive Einlösung eines Gültigkeitsanspruchs. Sie hat eine regulative Bedeutung, weil sich alle diskursiven Beiträge des Einlösungsprozesses an dieser Zielidee orientieren werden. Was hier deutlich hervorgehoben werden muss, ist aber, dass dieser Prozess selbst nur unter den erwähnten rein argumentativen Bedingungen stattfinden kann. Um diesen entscheidenden Aspekt unserer Erforschung verstehen zu können, muss man beachten, dass nicht alle Sprechhandlungen, die als Beitrag zu diesem Prozess faktisch vorgeschlagen werden, für wirkliche Beiträge gehalten werden dürfen. Man muss bestimmte strenge Bedingungen erfüllen, um zu einem Einlösungsprozess von Gültigkeitsansprüchen beitragen zu können. Diejenigen, die ihre Urteilskraft nicht von »dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments«, sondern von bloß faktischen bzw. extraargumentativen Zwängen bestimmen lassen, bzw. diejenigen, die z. B. nur gemäß egoistischer Interessen, dogmatischer Ideologien oder subjektiver Leidenschaften bejahen oder verneinen, können nicht als kompetente Diskurspartner zählen. Insofern diese extraargumentativen Faktoren ihre Handlungen von vornherein bestimmen, tragen sie nicht ernsthaft zum Einlösungsprozess von Gültigkeitsansprüchen bei. Die sog. idealen Bedingungen der Argumentation konstituieren deshalb jeden Beitrag des Diskurspartners. Kurz und klar: sie sind konstitutive und nicht regulative Bedingungen des Diskurses. 46 Siehe unten 5.6. Ernst Tugendhat hat gegen die Diskursethik den folgenden Einwand vorgebracht: Die Betroffenen einer Entscheidung beurteilen diese immer parteilich und selbstinteressiert und beanspruchen für sich mehr als das, was gerecht ist. Deshalb behauptet er, dass der Konsens der Betroffenen prinzipiell unerreichbar ist. Vgl.: Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp: 1993, S. 161–176. Dieser Einwand verrät, so weit ich sehe, eine Reihe von Missverständnissen. Einerseits verwechselt er den faktischen Konsens des selbstinteressiert Handelnden mit der regulativen Idee eines letzten Konsenses der Diskurspartner. Der erste ist vielleicht unter gewissen Umständen erreichbar, aber er umfasst nicht die Einlösung eines Gerechtigkeitsanspruchs. Der zweite ist zwar niemals faktisch erreichbar, lehrt aber die Diskurspartner den für sie verständlichen Sinn des Gerechtigkeitsbegriffs, d. h. den von uns im aktuellen Diskurs dieser Erforschung vorausgesetzten Sinn dieses Begriffs. Andererseits muss man auch das Folgende bemerken: Ob ein von einer Entscheidung Betroffener bei seiner Beurteilung 45 46

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Hier und jetzt und nicht in einem angestrebten langfristigen Ziel muss die Urteilskraft des Diskurspartners (z. B. des Lesers und des Verfassers dieses Buchs) nur von »dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments« bestimmt werden. Wir können unsere Diskurspartnerrolle nur insofern jetzt spielen, als wir die normativen Sinn- und Gültigkeitsbedingungen des Diskurses wirklich erfüllen. Nur die reale Erfüllung dieser idealen Bedingungen berechtigt uns, am Einlösungsprozess von Gültigkeitsansprüchen teilzunehmen, einem Prozess nämlich, dessen Ziel die regulative Idee eines letzten Konsenses zwischen allen möglichen Teilnehmern ist. Die Idee einer definitiven Einlösung von Gültigkeitsansprüchen kann eine regulative Bedeutung nur für diejenigen haben, die die sog. idealen Bedingungen tatsächlich erfüllen. Diese Bedingungen können also weder als regulative Ideen noch als prinzipiell nicht realisierbare Bedingungen verstanden werden. Wer seine Diskurspartnerrolle spielt, bzw. einen Gültigkeitsanspruch erhebt oder ihn durch Argumente beurteilt (z. B. jetzt der Verfasser oder der Leser), kann nur die Gültigkeit der Argumente beachten und muss deshalb die idealen Bedingungen tatsächlich erfüllen. Wie im letzten Abschnitt schon aufgezeigt, spielen wir in unseren alltäglichen Interaktionen nicht immer und richtig unsere Diskurspartnerrolle. Es gibt doch eine vielfältige Reihe von faktischen Bedingungen, die uns in der Lebenswelt daran hindern, nur das Gewicht der Argumente zu betrachten. Diese Bedingungen sind nicht nur die realen Interaktionskonflikte und die entsprechenden ideomehr beansprucht oder weniger, als wirklich gerecht ist, kann man nur durch die Durchführung eines praktischen Diskurses bestimmen, d. h. durch die diskursive Einschätzung bzw. Abwägung der Argumente für und gegen den Anspruch des Betroffenen. Wer an diesem Diskurs teilnimmt, lässt aber seine Urteilskraft nicht von seinem parteilichen bzw. egoistischen Selbstinteresse, sondern nur von dem »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« bestimmen. Ob diese reine bzw. unparteiliche Bestimmung der Urteilskraft des Diskurspartners möglich oder realisierbar ist, ist eine Frage, die einfach zu beantworten ist, wenn wir hier und jetzt unsere aktuelle Diskurssituation strikt reflexiv betrachten. Die entscheidende Frage lautet also: Erwartet Tugendhat selbst etwa parteilich und selbstinteressiert, dass sein erwähnter Einwand vom Leser bloß dogmatisch akzeptiert wird, oder beansprucht er vielmehr, dass dieser Einwand nur wegen guter Gründe angenommen wird? Tugendhat und sein Leser (bzw. wir hier und jetzt) müssen also bestimmte Sinnbedingungen erfüllen können, um den erwähnten Einwand verstehen und beurteilen zu können, die Bedingungen nämlich, die fordern, ihre Urteilskraft nicht parteilich und bloß selbstinteressiert, sondern nur von Argumenten bestimmen zu lassen. Diese Bedingungen sind ein Grundbestandteil unseres performativen Handlungswissens des Argumentationsakts. Zu diesen Bedingungen siehe oben 2.4.

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logischen Begrenzungen des Verständnisses unserer Situation, sondern auch unsere für uns als bloße Einzelne konstitutive existenzielle Endlichkeit. Der Mangel an Zeit, an Willen, an Kraft kann uns faktisch daran hindern, unsere Diskurspartnerrolle richtig zu spielen. Wenn also die idealen Diskursbedingungen nicht gegeben sind, wenn also wegen faktischer Hindernisse kein echter Diskurs durchgeführt werden kann, dann bekommen diese Bedingungen erst eine regulative Bedeutung für unsere Handlungen. Das ist es eben, was Apel als Dialektik der realen und der idealen Kommunikationsgemeinschaft bezeichnet hat. 47 Wer argumentiert, ist zugleich ein Glied beider Gemeinschaften. Er setzt einerseits die reale Kommunikationsgemeinschaft, die seinen Sozialisationsprozess ermöglicht hat, und andererseits die ideale Kommunikationsgemeinschaft, die die von ihm erhobenen Gültigkeitsansprüche in the long run einlösen kann, voraus. Die definitive Einlösung seiner Ansprüche in dieser zweiten Gemeinschaft ist doch eine regulative Idee, aber diese ideale Gemeinschaft selbst nicht. Wer argumentiert, verwirklicht eben durch seine Argumentationshandlungen die ideale Kommunikationsgemeinschaft. Die Idealität dieser Gemeinschaft bedeutet nicht, dass sie prinzipiell nicht realisierbar ist, sondern nur, dass keine extraargumentative Handlungsmotivation die Urteilskraft der Mitglieder dieser idealen Gemeinschaft bestimmt. »Ideal« heißt hier nur »rein argumentativ«. Der Gegensatz von »ideal« kann in diesem Zusammenhang nicht »real« sein, sondern »nicht argumentativ« oder »bloß faktisch«. Nur wenn faktische Faktoren die Argumentation verhindern, werden die rein argumentativen Bedingungen der idealen Kommunikationsgemeinschaft zu einer regulativen Idee, deren Verwirklichung durch argumentativ zu rechtfertigende strategische Handlungen angestrebt werden kann. Um nachweisen zu können, dass die idealen Bedingungen des Diskurses weder als prinzipiell unrealisierbar noch als nur in the long run realisierbar, sondern als etwas von den realen Diskurspartnern immer schon Erfülltes zu verstehen sind, müssen wir unser performatives Handlungswissen reflexiv berücksichtigen bzw. die folgenden Fragen anschneiden: Wie würden wir reagieren, wenn ein Dialogpartner auf die oben erwähnten normativen Diskursbedingungen verzichtet, sie verneint oder nicht erfüllt? Was könnten wir tun, wenn unser Diskurspartner explizit äußern würde, dass er nicht ge47

Vgl. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie. Bd. II, S. 423–435. A

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mäß der Gültigkeit der von uns vorgebrachten Argumente, sondern nur gemäß einer vorgefaßten Meinung bzw. einem dogmatischen Vorurteil die von uns erhobenen Gültigkeitsansprüche beurteilt? Ist die Fortsetzung des Diskurses etwa unter diesen nicht idealen Bedingungen möglich? Aber betrachten wir unsere aktuelle Dialogsituation bzw. den hier und jetzt real geführten Dialog zwischen dem Verfasser und dem Leser dieses Buches näher und reflexiv genau. Was würdest Du denken, wenn ich beanspruchen würde, ein philosophisches Problem, z. B. das oben betrachtete Problem der Beziehung zwischen Sittengesetz und moralischer Pflicht, nicht durch Argumente, sondern durch eine willkürliche Behauptung oder eine dogmatische Lehre zu lösen? Wäre ein solcher Anspruch für Dich ein hinreichender Grund, um einen Einwand dagegen zu erheben? Warum hättest Du unter diesen nicht idealen Bedingungen das Recht, mich als nicht kompetenten Diskurspartner zurückzuweisen und unseren aktuellen Dialog zu unterbrechen bzw. dieses Buch zu schließen? Wer glaubt, ein dogmatisches Vorurteil in der Einstellung der Dialogpartner entdeckt zu haben, darf einen Einwand dagegen vorbringen, z. B.: »Du beachtest nicht die Gültigkeit der Argumente, sondern nur deine vorgefaßten Meinungen.« Dieser Einwand kann natürlich gerechtfertigt sein oder nicht; wenn nicht, dann kann der Diskurspartner nachweisen, dass er grundlos ist. Aber in unserem Zusammenhang ist das Wichtigste nicht die Rechtfertigung eines solchen partikularen Einwands, sondern eine für die Diskurspartnerrolle konstitutive Erwartung, nämlich, dass ein Diskurspartner als solcher nur die Gültigkeit der Argumente und keine extraargumentativen Faktoren beachtet bzw. dass er die normativen Bedingungen einer idealen Kommunikationsgemeinschaft hier und jetzt erfüllt. Anders gesagt: Wenn diese idealen Bedingungen in unserem aktuellen Dialog nicht als schon erfüllte, sondern als regulative Ideen, die nur in the long run erfüllt werden können, vorausgesetzt würden, dann wäre der Einwand, diese Bedingungen hier und jetzt nicht zu erfüllen, sinnlos. Gegen die hier vorgeschlagene Behauptung des prinzipiell erfüllbaren Charakters der idealen Diskursbedingungen bzw. gegen die Behauptung, dass diese Bedingungen im Diskurs als schon erfüllt vorausgesetzt werden, könnte man vielleicht noch Folgendes bemerken. Wenn es sich um bestimmte faktische Hindernisse der realen Erfüllung der idealen Diskursbedingungen handelt, kann man gern einräumen, dass diese Hindernisse überwunden werden können, z. B. 290

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Guter Wille und konstitutive Idealität

wenn das Hindernis eine vorgefaßte Meinung oder ein dogmatisches Vorurteil ist, wie oben veranschaulicht wurde. Aber es gibt auch andere faktische Faktoren, die die Erfüllung der idealen Diskursbedingungen tatsächlich verhindern können, Faktoren nämlich, die von der Endlichkeit der menschlichen Existenz herrühren. Jemand kann z. B. ganz wahrhaftig bereit sein, nur die Gültigkeit von Argumenten zu beachten, bzw. er kann sich ernsthaft darum bemühen, den Einfluss aller extraargumentativen Faktoren auf seine Urteilskraft außer Kraft zu setzen. Unglücklicherweise leidet er aber jetzt an Zahnschmerzen oder er hat Hunger oder ist müde, oder er muss jetzt unbedingt einer nicht aufschiebbaren Beschäftigung nachgehen. Diese Faktoren hindern ihn daran, seine Diskurspartnerrolle zu spielen bzw. am Einlösungsprozess von erhobenen Gültigkeitsansprüchen teilzunehmen und nur die Gültigkeit der Argumente zu beachten. Unter bestimmten Umständen können wir also die Gültigkeitsansprüche unserer Diskurspartner nicht richtig beurteilen, weil der Einfluss dieser faktischen Faktoren zu groß ist. Und die Kraft dieses Einflusses kann so groß sein, dass man auch fragen könnte, ob es überhaupt eine Situation geben kann, in der wir frei von diesem Einfluss ein Urteil fällen können. Ist also unsere menschliche Endlichkeit vielleicht ein Grund, um den prinzipiell unerfüllbaren Charakter der idealen Diskursbedingungen zu behaupten? Um diese Frage beantworten zu können, muss man einen strikt reflexiven Standpunkt einnehmen bzw. man muss die pragmatischen Sinn- und Gültigkeitsbedingungen dieser Frage selbst reflexiv berücksichtigen, wie wir es im zweiten Abschnitt dieses Kapitels mit der Frage nach der möglichen Begründung moralischer Pflichten schon gemacht haben. Zuerst muss man zwei Aspekte dieser Frage unterscheiden: Man kann einerseits gern einräumen, dass die Menschen in ihrer alltäglichen Praxis nicht nur die Gültigkeit von Argumenten, sondern auch und besonders die erwähnten faktischen Faktoren tatsächlich beachten. Aus Zeitmangel kann z. B. ein Einzelner tatsächlich daran gehindert werden, als Diskurspartner an der argumentativen Lösungssuche eines für ihn hochinteressanten Problems teilzunehmen. Hier muss aber die folgende Tatsache andererseits ganz klar hervorgehoben werden: Kein faktisches Verhindertsein eines Einzelnen kann als ein Argument für oder gegen einen Lösungsvorschlag dieses Problems angesehen werden. Um die Frage nach der Beziehung zwischen der Endlichkeit der menschlichen Existenz und der Verwirklichung der idealen DiskursA

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bedingungen strikt reflexiv anschneiden zu können, müssen wir, wie schon gesagt, noch einmal unsere aktuelle Dialogsituation berücksichtigen. Wir bzw. der Leser und der Verfasser versuchen, diese Frage zu beantworten, aber der Leser bemerkt plötzlich, dass er jetzt etwas Wichtigeres zu tun hat oder er leidet jetzt unter Zahnschmerzen oder er will jetzt einfach schlafen. 48 Deswegen unterbricht er sein Lesen und schließt dieses Buch. Würden wir dieses Verhalten etwa für einen Beweis des prinzipiell unerfüllbaren Charakters der idealen Diskursbedingungen halten? Oder müssen wir vielmehr verstehen, dass der Leser seine Diskurspartnerrolle bis zu einem bestimmten Zeitpunkt richtig gespielt hat und dass er also bis dahin nur die Gültigkeit der Argumente beachtet und so die ideale Diskursbedingungen tatsächlich erfüllt hat? Eine Bedingung ist eine Forderung, die manchmal erfüllt werden kann und manchmal nicht. Die idealen Diskursbedingungen, nur die Gültigkeit der Argumente zu beachten, wird erfüllt, wenn wir unsere Diskurspartnerrolle spielen, z. B. jetzt bei der Berücksichtigung der Argumente, die in diesem Buch vorgebracht werden. Die Idealität dieser Bedingungen verweist also nicht auf die Unmöglichkeit, sie zu erfüllen, sondern auf die Unabhängigkeit von jedem faktischen extraargumentativen Faktor. Der rein argumentative Charakter des Willens zur Argumentation ist ein entscheidendes Merkmal der Diskurspartnerrolle. Im sprachpragmatischen Rahmen der Gegenwartsphilosophie kann der kantsche Begriff des guten Willens folgendermaßen erklärt werden: Ein guter Wille kann nur auf eine Weise handeln wollen, die unter idealen Diskursbedingungen gerechtfertigt werden würde. Der Diskurspartner, der als solcher diese Handlungsweisen durch Argumente entdecken will, ist also schon der Träger eines guten Willens. Deshalb wird der kantsche Gegensatz zwischen Handlungen »aus Pflicht« und »pflichtmäßigen« Handlungen im Rahmen der transzendentalpragmatisch letztbegründeten Diskursethik aufgelöst. 49

Die literarischen Fähigkeiten des Verfassers können durchaus dafür verantwortlich sein. 49 Siehe dazu: Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie. Bd. II, S. 404–405. 48

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7. Wahrhaftigkeit, Innenwelt und Kommunikation

In den letzten Kapiteln haben wir einerseits den systematischen Charakter unseres performativen Handlungswissens bzw. seine interne Artikulation in drei Dimensionen, die den drei Gültigkeitsansprüchen und den drei pragmatischen Weltbezügen entsprechen, aufgewiesen, nämlich die objektive Dimension des Wahrheitsanspruchs und der ihr zugehörige Naturweltbezug, die intersubjektive Dimension des Gerechtigkeitsanspruchs und sein zugehöriger Sozialweltbezug und die subjektive Dimension des Wahrhaftigkeitsanspruchs und sein zugehöriger Innenweltbezug. Andererseits haben wir auch bestimmte philosophische Probleme durch eine reflexive Erforschung der zwei ersten Dimensionen unseres performativen Handlungswissens berücksichtigt, nämlich das Problem einer sinnkritischen Definition des Naturweltbegriffes im fünften Kapitel und das Problem der moralischen Relevanz bestimmter normativer Diskursbedingungen im sechsten Kapitel. In diesem Kapitel wird versucht, einige philosophische Probleme, die auf die dritte erwähnte Dimension unseres performativen Handlungswissens verweisen, reflexiv bzw. durch eine transzendentale Erforschung des Innenweltbegriffes zu berücksichtigen. Bei der klassischen Transzendentalphilosophie erfüllte diese subjektive Dimension die Funktion eines letzten Grundes, entweder als transzendentales Selbstbewusstsein bei Kant oder als absolutes Ich bei Fichte. Nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie und der entsprechenden Überwindung des methodisch solipsistischen Gesichtspunktes der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie kann ein isoliertes Ich diese grundlegende Funktion nicht mehr erfüllen, weil die Handlungen dieses Ichs bestimmte sprachliche und intersubjektive Bedingungen a priori voraussetzen, nämlich die schon erwähnten transzendentalpragmatischen Sinn- und Gültigkeitsbedingungen dieser Handlungen. Das Bewusstsein kann also jetzt nicht als »höchster Punkt« einer transzendentalen Deduktion fungieren. Trotzdem muss man gleichzeitig anerkennen, dass es im Rahmen einer sprachpragmatischen Transzendentalphilosophie noch A

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eine bedeutsame Rolle spielen muss. Gegen andere Ansätze der Gegenwartsphilosophie, die die Innenwelt des Sprechers entweder durch eine logische Sprachanalyse objektivistisch aufzulösen oder sie sprachbehavioristisch zu verneinen versucht, hat die Transzendentalpragmatik eine unentbehrliche Funktion des Bewusstseins bzw. des Inneren der Zeichenbenutzer anerkannt. Die Frage ist nun, worin diese Funktion besteht. Die Absicht dieses Kapitels ist es, die Begriffe der Wahrhaftigkeit und der Innenwelt durch eine transzendentale Klärung unseres performativen Handlungswissens zu berücksichtigen, um den Sinn dieser Begriffe erhellen zu können. Um diese Absicht zu verwirklichen, wird zuerst behauptet, dass das von Wittgenstein vorgebrachte Privatsprachenargument kein Grund für eine Verneinung der subjektiven Innenwelt liefern kann und dass der prinzipiell öffentliche Charakter der sprachlichen Bedeutung dieser privilegiert zugänglichen Perspektive des Sprechers zu seiner Innenwelt nicht widerspricht (7.1.). Nach dieser Annerkennung der Notwendigkeit, das Innere zu behaupten, wird versucht, die Besonderheit des Wahrhaftigkeitsanspruchs gegenüber den anderen Gültigkeitsansprüchen zu bestimmen. Durch diesen Versuch werden zwei Aspekte dieser Besonderheit betrachtet. Einerseits wird mit Habermas und Apel anerkannt, dass der Sprecher ein gewisses Privileg hat, über einen leichteren Zugang zu seinem eigenen Inneren zu verfügen. Andererseits wird aber eine problematische Spannung bei der bisher formulierten universal- bzw. transzendentalpragmatischen Auffassung bemerkt, die Spannung nämlich zwischen dem universalen Charakter des Wahrhaftigkeitsanspruchs und der angeblichen Unmöglichkeit dieses Anspruchs durch Argumente einzulösen (7.2.). Nach der erwähnten Berücksichtigung des Problems der argumentativen Einlösung des Wahrhaftigkeitsanspruchs wird ein traditionelles Problem der Philosophie behandelt, nämlich das Problem der Unterscheidung zwischen Überzeugen und Überreden. Die klassische Transzendentalphilosophie hat versucht, diese Unterscheidung durch die Differenzierung verschiedener Arten von »Fürwahrhalten« zu bestimmen. Diese Differenzierung bleibt noch als ein unbemerkter Rest dieser Philosophie im Gegenwartsrahmen der Transzendentalpragmatik. Weder das begriffliche Instrumentarium der Sprechakttheorie und der Theorie des kommunikativen Handelns, noch eine von Apel vorgeschlagene Klassifikation der Perlokutionen sind ausreichend, um diese Unterscheidung transzendentalpragmatisch 294

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zu bestimmen. Deshalb wird hier versucht, die Begriffe von Überzeugen und Überreden durch eine Weiterentwicklung eines Vorschlags von Chaim Perelman zu unterscheiden (7.3.). Nach dieser transzendentalpragmatischen Darstellung der Überzeugen-Überreden-Problematik wird die Beziehung zwischen Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit und die von Böhler vorgeschlagene Unterscheidung zwischen zwei Arten von Glaubwürdigkeit berücksichtigt, nämlich die unmittelbare Glaubwürdigkeit des lebensweltlichen Akteurs bzw. die wahrhaftige Selbstdarstellung seiner subjektiven Innenwelt einerseits, und die sinnkritische Glaubwürdigkeit des Diskurspartner andererseits (7.4.). Zuletzt wird die Angemessenheit der von der Universal- bzw. Transzendentalpragmatik bisher vorgeschlagenen architektonischen Verbindung zwischen dem künstlerischen bzw. poetischen Ausdruck und der aufrichtigen Selbstdarstellung der Innenwelt in Frage gestellt. Dafür wird das von Roman Jakobson dargestellte Kommunikationsschema und besonders seine Erklärung der poetischen Sprachfunktion als Auswahl und Kombination von Zeichen berücksichtigt (7.5.).

7.1. Die Innenwelt nach der sprachpragmatischen Wende Wie oben schon angegeben wurde, lassen sich in der klassischen Transzendentalphilosophie als Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit zwei verschiedene Ebenen nicht klar und deutlich unterscheiden, nämlich die transzendentale Ebene der Bedingung der Möglichkeit der gültigen Erkenntnis und des verbindlichen Sittengesetzes einerseits und die Ebene des subjektiven Selbstbewusstseins bzw. eines Ichs, das nur unter diesen Bedingungen handeln und wissen kann, was es tut, andererseits. 1 Der Grund der Assimilation dieser zwei Ebenen bei der klassischen Transzendentalphilosophie besteht eben darin, dass dieses »Bewusstsein überhaupt« als »synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt [ist], an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muss, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst«. 2 Das transzendentale Wissen wird also bei dieser klassischen Auffassung mit einer Art von Selbsterkenntnis eines tätigen Ichs, das 1 2

Siehe unten 2.3. KrV, B 134, Fn. 1. A

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als synthetische Einheit der Apperzeption für den »höchsten Punkt« der Transzendentalphilosophie anerkannt werden soll, schlechthin assimiliert. Wie oben auch schon erwähnt, gibt es bei der klassischen Transzendentalphilosophie verschiedene Deutungen dieses Handlungswissens. Einerseits stellt die Deutung Fichtes dieses Wissen in der Form einer intellektuellen Anschauung dar, die die Handlungen des Ichs unmittelbar auffasst. Andererseits präsentiert Kant eine Deutung dieses Wissens, die die Möglichkeit dieser Anschauung beim menschlichen Geist ablehnt, und das Handlungswissen als etwas versteht, dass das »Bewusstsein überhaupt« vielleicht nicht tatsächlich hat, aber notwendigerweise haben können muss. Trotz dieses wichtigen Unterschiedes zwischen diesen zwei klassischen Deutungen des transzendentalen Handlungswissens ist hier entscheidend, Folgendes festzustellen. Beide halten das »Ich denke« für die letzte Geltungsinstanz bzw. für den »höchsten Punkt« des Verstandesgebrauchs, ohne anerkennen zu können, dass dieser Gebrauch als Verwirklichung der Argumentationskompetenz notwendigerweise bestimmte Bedingungen voraussetzt, die ein prinzipiell isoliertes »Ich denke« ganz allein überhaupt nicht erfüllen kann. Erst nach der sprachpragmatischen Wende der Gegenwartsphilosophie wird deutlich, dass der Sinn und die Gültigkeit der Verstandes- bzw. Argumentationshandlungen von einer intersubjektiven Instanz abhängen, nämlich einer idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft, gegenüber der ihre Mitglieder mit ihren Handlungen implizit oder explizit Sinn- und Geltungsansprüche erheben. Nur diese Gemeinschaft bzw. eine kollektive Instanz und nicht die Gewissheit eines Bewusstseins kann wirklich die Rolle spielen, die die klassische Transzendentalphilosophie dem Ich zuschreiben wollte, weil das Ich bzw. der Argumentierende beansprucht, dass seine Handlungen nicht nur für sich selbst, sondern auch für jedes mögliche Mitglied dieser Gemeinschaft sinnvoll und gültig sind. Das Ich führt seine Verstandeshandlungen notwendigerweise gegenüber einer idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft durch, die als »Gerichtshof der Vernunft« den Sinn und die Gültigkeit dieser Handlungen beurteilen kann und muss. Nach der sprachpragmatischen Wende kann man also klar erkennen, dass die von der klassischen Transzendentalphilosophie identifizierten konstitutiven Handlungen des menschlichen Verstandes die Handlungen der Argumentierenden an sich sind, und dass sie nur von einer Gemeinschaft 296

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als sinnvoll und gültig beurteilt werden können, die genau deshalb von ihnen bzw. auch von uns (dem Leser und dem Verfasser dieser Arbeit) als Mitglieder dieser Gemeinschaft notwendigerweise als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz, als echter »höchster Punkt« anerkannt werden muss. Nach der sprachpragmatischen Wende kann die Transzendentalphilosophie also dem Ich die traditionelle Rolle, d. h. die Rolle, die ihm von der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit zugeschrieben wurde, nicht mehr zuschreiben. Die Frage ist nun aber, ob das Bewusstsein und seine strikt subjektive Innenwelt nach dieser Wende noch eine philosophisch relevante Rollen spielen können oder ob diese Wende der Gegenwartsphilosophie uns schlechthin dazu zwingt anzuerkennen, dass das Subjektive nur ein neuzeitlicher Mythos ist, der durch eine sprachanalytische Sinnkritik aufgelöst werden muss 3. Die Bedeutung dieser Frage für unsere aktuelle Ansicht besteht in Folgendem. In Kapitel 2 wurde schon nachgewiesen, dass die durch aktuelle Dialogreflexion explizite und überprüfte transzendentale Erkenntnis über die Bedingungen der sinnvollen und gültigen Argumentation von keinem faktischen Selbstbewusstsein abhängt. Diese Erkenntnis besteht nicht in einer angeblichen Selbstwahrnehmung, dank der das Ich seine eigenen Gedanken als Bestandteile seines Inneren unmittelbar beobachten könnte, sondern eben in der Erkenntnis der Argumentationsbedingungen, die jeder kompetente Argumentationspartner erfüllen können muss und deswegen auch als gemeinsame Bedingungen eines kooperativen Zusammenspiels der Argumentierenden überhaupt anerkennen muss. Was dann oben schon nachgewiesen wurde, ist, dass die transzendentale Erkenntnis innerhalb des Bewusstseins nicht versteckt liegt und sie deshalb durch eine Analytik des geistigen Vermögens nicht erreichbar ist, weil sie nur von den Sinn- und Gültigkeitsbedingungen der menschlichen Handlungen abhängt und als solche prinzipiell öffentlich erkennbar und überprüfbar sind. Kurz gesagt: Wer nach der sprachpragmatischen Wende die Frage nach der Möglichkeit der transzendentalen Erkenntnis beantworten will, braucht diese Antwort nicht innerhalb seiner Innenwelt zu suchen, sondern in den notwendigen Sinn- und Gültigkeitsbedingungen bestimmter Handlungen, die nur in der intersubjektiven bzw. sozialen Welt 3 Vgl. Donald Davidson: Der Mythos des Subjektiven. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam, 1993.

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durchgeführt werden können. Wenn das so ist, muss man aber zugleich untersuchen, ob die subjektive Innenwelt noch eine Rolle bei der sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie spielt. Einige Ansätze der Gegenwartsphilosophie, die von der Sprachspieltheorie des späten Wittgenstein beeinflusst werden, haben die sprachpragmatische Wende einseitig radikalisiert. Die Folgerung ist eine Auffassung, in der der Sprecher als etwas ohne Inneres konzipiert wird, d. h. als etwas, das sich darauf beschränkt, die Regeln eines Sprachspiels zu befolgen. Diese Auffassung kann man gewiss als eine Reaktion gegen die Perspektive der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit und ihre gegenwärtige Fortsetzung verstehen. Die Frage ist also, ob die erwähnte Radikalisierung und ihre objektivistischen Folgerungen akzeptabel sind und inwiefern eine sprachpragmatisch transformierte Transzendentalphilosophie Platz für die subjektive Innenwelt machen muss. Diese objektivistische Auffassung versucht, die menschliche Sprechhandlung für ein bloßes Naturphänomen zu halten bzw. für eine Art von »linguistic behaivoir«. Die Hauptschwierigkeit dieser Art von Bedeutungsbehaviorismus besteht darin, dass es in ihrem Rahmen unmöglich wird, eine Sprechhandlung als solche verstehen zu können, weil dieses Verstehen schlechthin voraussetzt, dass eine Sprechhandlung etwas mehr als ein physisches Ereignis, z. B. ein Klang ist, und dass der Sprecher meint, was er sagt. 4 Diese in das Verstehen einer einfachen Sprechhandlung notwendigerweise vorausgesetzte Bedeutungsintentionalität kann aber aus einer externen Perspektive in der objektivierenden Sprache der naturalistischen Ereignisbeschreibungen nicht übersetzt werden. Trotzdem hat die sprachanalytische Philosophie, die von der Sprachspieltheorie des späten Wittgenstein beeinflusst wurde, versucht, die subjektive Dimension der Sprechhandlung durch eine semantische Kritik der Vorstellung einer sogenannten Privatsprache nicht anzuerkennen. Diese Vorstellung enthält nicht nur den Begriff einer Sprache, durch die der Sprecher »seine inneren Erlebnisse bzw. seine Gefühle, Stimmungen usw. für den eigenen Gebrauch aufschreiben oder aussprechen könnte«, weil jede Sprache dem Sprecher eigentlich erlaubt, seine inneren Erlebnisse aufzuschreiben und auszudrücken. Die Worte einer PriSiehe dazu: Hans Skjervheim: Objectivism and the study of man. Oslo: Universitetforlaget, 1959.

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vatsprache sollen sich vielmehr »auf das beziehen, wovon nur der Sprecher wissen kann; auf seine unmittelbaren, privaten Empfindungen. Ein anderer kann diese Sprache also nicht verstehen.« 5 Es gibt verschiedene Rekonstruktionen des Arguments Wittgensteins gegen die Möglichkeit einer Privatsprache. 6 Einige heben hervor, dass jede Sprache intersubjektiv sein muss, weil wir sie von anderen Subjekten lernen. Das ist auch der Fall bei diesem Bestandteil jeder Sprache, die als Empfindungsausdrücke bezeichnet werden können, z. B.: das Wort »Schmerz«. 7 Wir lernen die Bedeutung der Wörter, mit denen wir unsere Empfindungen nennen, innerhalb eines Zusammenhangs zwischen einer Empfindung und dem Ausdruck dieser Empfindung. Die erste Rekonstruktion des Arguments Wittgensteins gegen die Vorstellung einer Privatsprache verweist also auf die Tatsache, dass wir die Bedeutung der Empfindungsworte intersubjektiv lernen und verwenden, und genau deshalb ist die Vorstellung einer Sprache, die nur der Sprechende und kein anderer verstehen könnte, schlechthin sinnlos. Die zweite Rekonstruktionsstrategie der Sinnkritik an der Vorstellung einer Privatsprache verweist nicht auf die Problematik der Empfindungsbezeichnung, sondern auf die berühmte These Wittgensteins: »Es kann nicht ein einziges Mal nur einer Regel gefolgt sein.« 8 Die Verbindung zwischen der in dieser These behaupteten Unmöglichkeit, dass nur ein Mensch ein einziges Mal einer Regel folgen kann, und der Unmöglichkeit einer Privatsprache besteht eben darin, dass einerseits die Zeichenbenutzer einer Sprache Regeln folgen müssen, und, dass man andererseits nicht einer Regel privat folgen kann, »weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen«. 9 Kein Sprecher kann über die Richtigkeit seiner Regelfolgen willkürlich entscheiden und sein bloßes Glauben, den Regeln gefolgt zu sein, kann kein hinreichendes Kriterium sein, um zu bestimmen, ob er einer Regel tatsächlich gefolgt ist oder nicht. Der Einzelne kann nicht allein und willkürlich bestimmen, ob er einer Regel gefolgt ist, weil das Richtigkeitskriterium der RegelLudwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 243. Siehe dazu: Saul A. Kripke, Wittgenstein on Rules and Private Language. An Elementary Exposition. 7 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 244, Vgl. auch ders.: Über die Gewissheit, In: ders.: Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984. 8 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 199. 9 Ebenda § 202. 5 6

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befolgung notwendigerweise öffentlich sein muss. Deshalb ist eine Sprache, die nur von einem Einzelnen gebraucht und verstanden werden könnte, auch nach dieser zweiten Rekonstruktionsstrategie des Arguments Wittgensteins, schlechthin unmöglich. Wer eine Sprache spricht, muss die prinzipiell öffentlichen Regeln dieser Sprache befolgen, auch wenn er alleine und lautlos für sich selbst spricht. Eine Regel ist etwas, das auch von anderen befolgt werden kann. Deswegen kann die Vorstellung einer Privatsprache bzw. einer privaten Regelfolge keinen Sinn haben. An dieser Stelle ist es nicht wichtig zu bestimmen, welche von den erwähnten Rekonstruktionsstrategien des sinnkritischen Arguments Wittgensteins gegen die Vorstellung einer Privatsprache von einem hermeneutischen Gesichtspunkt aus richtiger ist, ob beide miteinander vereinbar sind und welche das stärkere Argument gegen diese Vorstellung vorbringt. 10 Der entscheidende Punkt, der für unsere beabsichtigte Erforschung hier hervorgehoben werden muss, ist vielmehr, dass die m. E. gut begründete These Wittgensteins über die Unmöglichkeit einer Privatsprache uns überhaupt nicht zwingt, die philosophische Bedeutung der subjektiven Innenwelt ganz und gar zu ignorieren, sondern nur, auf die Vorstellung dieser Welt, die für die Bewusstseinsphilosophie typisch ist, zu verzichten. Wie oben schon erwähnt, gibt es eine bestimmte Art von sprachlichen Ausdrücken, die sich explizit auf diese subjektive Innenwelt beziehen und mit denen eine spezifische Art von Gültigkeitsanspruch vorrangig erhoben wird, bzw. die expressiven Äußerungen, mit denen der Sprecher Wahrhaftigkeitsansprüche vorrangig erhebt. 11 Trotz dieser einfach festzustellenden Tatsache hat ein einseitiger Missbrauch des Privatsprachearguments Wittgensteins zu dem Versuch geführt, in diesem Argument einen Grund für die Verneinung des Inneren und der Verkennung der Besonderheit der Wahrhaftigkeitsansprüche zu finden. 12 Dieser Versuch beruht auf einer semantischen Satzanalyse, die eben die pragmatische Dimension der Sprechhandlung, die Wittgenstein durch seine Begriffe von Regelfolgen und Zur transzendentalpragmatischen Rekonstruktion des Privatsprachenarguments siehe: Wolfgang Kuhlmann: Begründungsprobleme der Diskursethik. In: Niquet, M. [u. a.] (Hrsg.): Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen, S. 9–41: 15–18; ders.: Reflexive Letztbegründung, Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, S. 145–180. 11 Siehe unten: 3.6. 12 Vgl. Ernst Tugendhat: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, S. 91–136. 10

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Sprachspiel bezeichnet, völlig zu ignorieren scheint. Die benutzte bloß semantische Argumentationsstrategie, um diese Verneinung zu begründen, besteht eben in einer problematischen Assimilation von beiden oben pragmatisch differenzierten Gültigkeitsansprüchen bzw. in der Eliminierung des Wahrhaftigkeitsanspruchs als unterschiedlich und unabhängig vom Wahrheitsanspruch. Der Grund dieses Eliminierungsvorschlags kann folgendermaßen dargelegt werden: Das Privatspracheargument Wittgensteins weist nach, dass die methodisch solipsistische Vorstellung einer angeblich inneren Wahrnehmung, durch die das Bewusstsein seine eigenen inneren Zustände introspektiv und sprachlos sehen könnte, sinnlos ist. Es ist notwendig, dass die Bedeutung eines subjektiven Erlebnisses von dem Erlebnissubjekt durch einen Erlebnissatz ausgedrückt werden kann, z. B. durch den Satz »ich habe Schmerzen«. Den gleichen Bewusstseinszustand, der durch diesen Satz ausgedrückt wird, kann ein Anderer mit dem Satz »er hat Schmerzen« beschreiben. Haben die Personalpronomina dieser Sätze die gleiche Referenz, dann haben diese Sätze die gleiche Bedeutung und genau deshalb würden die Sprechhandlungen, die diese Sätze behaupten, den gleichen Gültigkeitsanspruch erheben, nämlich einen Wahrheitsanspruch. Eine problematische Konsequenz dieser bloß semantischen Analyse, die von Jürgen Habermas schon richtig bemerkt wurde 13, ist wegen der sog. semantischen Symmetrie zwischen Sätzen in erster und dritter Person eine widersprüchliche Vorstellung der Erlebnissätze, nach der sie eine Erkenntnis im Sinne der propositionalen Wahrheit tragen, weil die Bedeutung eines von einem Sprecher behaupteten Erlebnissatzes (wie z. B. »ich habe Schmerzen«) in einem von einem anderen Sprecher behaupteten deskriptiven Satz (bzw. »er hat Schmerzen«) übersetzt wird. Andererseits aber können die Erlebnissätze keinen kognitiven Wert haben, weil die richtige Verwendung dieser Ausdrücke auch schon ihre Wahrheit garantieren soll. Nach diesem analytisch semantischen Versuch, den Status der ErlebJürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 420–423. Zur Kritik der von Tugendhat vorgeschlagenen semantischen Analyse der deiktischen (indexikalischen) Ausdrücke siehe auch: Audun Øfsti: Zwei Dimensionen des »Denkens« der Gegenstände sinnlicher Anschauung. Überlegungen zu Kant und den deiktischen System der Sprache. In: Kuhlmann, W. (Hrsg.): Anknüpfen an Kant. Konzeptionen der Transzendentalphilosophie, S. 79–100, und ders.: Fregean Thoughts and Two Dimensions of Kantian »Thinking« of Intuitions. In: ders. [u. a.] (Hrsg.): Indexicality and Idealism. The Self in Philosophical Perspektive, S. 100–126.

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nissätze zu erklären, stehen sie zwischen den vorsprachlichen Erlebnisausdrücken (z. B. Schreien), die weder wahr oder falsch sein können, noch kognitiven Wert haben, und den assertorischen Sätzen, deren richtiger bzw. regelkonformer Charakter ihre Wahrheit nicht garantieren kann, weil die Erlebnissätze wahr sind, wenn sie bloß regelkonform sind. Auf diese Weise versucht diese Auffassung, das epistemologische Problem »wie erkenne ich meine Erlebniszustände?«, das der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit zugeschrieben werden kann, als ein bloß scheinbares Problem aufzulösen und als ein semantisches Problem zu verstehen, nämlich: »Wie wird ein Erlebnisausdruck verwendet?« Gegen diesen durch eine einseitig semantische Analyse begründeten Versuch, die Innenwelt der Sprecher aufzulösen und die Wahrhaftigkeit mit der Wahrheit gleichzusetzen, kann man die folgenden Einwände vorbringen. Erstens ist zu bemerken, dass die Kritik Wittgensteins an der Vorstellung von einer Privatsprache keinen Grund für eine Verneinung der Innenwelt überhaupt und des Wahrhaftigkeitsbegriffs liefern kann, sondern nur für eine Widerlegung einer neuzeitlichen Auffassung der Selbstwahrnehmung des Bewusstseins. Wie oben schon angegeben wurde, bezieht sich die erwähnte Vorstellung auf eine von einem Sprecher privat gebrauchte Sprache, die von einem anderen prinzipiell nicht verstanden werden könnte. Aber der entscheidende Punkt für unser Problem ist der folgende. Man braucht keinesfalls die Gültigkeit einer solchen Vorstellung anzunehmen, um die Innenwelt als Referent von den expressiven Sprechhandlungen anzuerkennen. Ganz im Gegenteil setzt diese Art von Sprechhandlungen notwendigerweise die Möglichkeit voraus, die Innenzustände in einer öffentlichen Sprache kundzugeben. Eine Äußerung der Innenwelt kann nur als wahrhaftig oder unwahrhaftig beurteilt werden, wenn sie in einer Sprache, die Sprecher und Adressaten gemeinsam ist, ausgedrückt wird, d. h.: eine Sprache, mit der der Sprecher seine inneren Zustände kundgeben kann und die vom Adressaten verstanden werden kann. Kurz: Der im Wahrhaftigkeitsbegriff pragmatisch vorausgesetzte Innenweltbegriff ist mit der problematischen Vorstellung einer Privatsprache völlig unvereinbar. Gegen den semantisch analytischen Versuch, das Privatspracheargument Wittgensteins als Grund für die Verneinung der philosophischen Relevanz der Innenwelt nach der sprachpragmatischen Wende zu benutzen, muss man genau deshalb beachten, dass alle 302

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die Sprechhandlungen, die sich auf das Innere des Sprechers beziehen, den öffentlichen Charakter der sprachlichen Bedeutung notwendigerweise voraussetzen. Zum Beispiel, wer ein Geständnis macht, äußert etwas (einen Wunsch, eine Information, usw.), das innerhalb seines Bewusstseins liegt, von anderen bisher angeblich unbekannt, aber prinzipiell erkennbar ist, bzw. etwas, das von ihnen genau durch diese Äußerung erkannt wird. Ein Geständnis als Kundgebung der Innenwelt des Sprechers muss deshalb in einer von Anderen prinzipiell verständlichen öffentlichen Sprache ausgedrückt werden und das ist möglich, weil der Inhalt des Geständnisses des Sprechers schon vor seiner Kundgebung nur durch eine öffentliche Sprache gedacht und verstanden werden kann, bzw. durch keine Privatsprache, die für Andere prinzipiell unverständlich sein könnte. Der Geständnisbegriff und alle die Regeln, die seinen Platz im Sprachspiel der Kundgebung vorbereiten, setzen schlechthin voraus, dass der Sprecher eine gewisse Kontrolle über den Zugang zu seiner Innenwelt haben kann, die ihm schlechthin erlaubt, faktischen Adressaten die eigenen und prinzipiell von anderen verständlichen Innenzustände durch eine freiwillige Sprechhandlung tatsächlich kundzugeben oder nicht. 14 Ähnliche Fälle des erwähnten von dem Sprecher gewissermaßen kontrollierbaren Zugangs der Innenwelt sind die Lüge und das Geheimnis. Wer ein Geheimnis bewahrt, versteckt etwas freiwillig vor anderen, die es prinzipiell erkennen und genau deshalb verstehen könnten, wenn das Geheimnis von dem Sprecher nicht bewahrt würde. Zum Sinn des Geheimnisbegriffs gehört, dass einerseits der Geheimnisinhalt von Anderen genau so gut wie von dem Sprecher verstanden und erkannt werden kann und andererseits, dass er von dem Sprecher freiwillig versteckt oder kundgegeben werden kann. Diese Fälle stellen offensichtlich dar, dass die sprachlichen Äußerungen als ein Mittel für die Kundgebung der Innenwelt des Sprechers fungieren können. Diese Beispiele sind deshalb genug, um die folgende Tatsache zu illustrieren: es gibt keinen Widerspruch zwi-

14 Die sog. Autorität der ersten Person besteht meiner Meinung nach in dieser Kontrolle. Sie wurde aber von Donald Davidson in seinem interessanten Aufsatz darüber leider nicht berücksichtigt. Vgl.: Donald Davidson: First Person Authority. In: Dialectica, 38, 1984, S. 101–112. Siehe besonders die Kritiken Davidsons an anderen Ansätzen (Ryle, Ayer, Agassi, Strawson, usw.).

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schen dem öffentlichen Charakter der sprachlichen Bedeutung und der privilegiert zugänglichen Perspektive des Sprechers zu seiner Innenwelt. 15 Ganz im Gegenteil setzt die Anerkennung dieser Perspektive schlechthin voraus, dass der Sprecher, der ein Geständnis machen oder ein Geheimnis bewahren kann, und die möglichen Adressaten seiner Äußerungen eine gemeinsame Sprache benutzen, um öffentliche bzw. von beiden verständliche Bedeutungen untereinander mitteilen zu können. Deswegen kann das Privatspracheargument Wittgensteins kein Grund gegen die Annahme der Existenz dieser Welt liefern, wie es die semantisch analytische Kritik der Bewusstseinsphilosophie beansprucht. Die problematische Vorstellung einer angeblichen Privatsprache braucht man nicht anzunehmen, um die Innenwelt der Sprecher als besonderen Referenten von sprachlichen Äußerungen anzuerkennen. Zur Berücksichtigung der problematischen Konsequenzen einer bloß semantischen Analyse der expressiven Sätze bzw. einer Analyse, die die entscheidende pragmatische Funktion der Zeichenbenutzer und ihre Innenwelt ignorieren will, sollte man einige Stellen der Rekonstruktion Tugendhats von Wittgensteins Kritik am (methodischen) Solipsismus näher betrachten. Nach dieser Analyse kann man nur zwei Arten von Gültigkeit bei dem Sprachgebrauch unterscheiden. Diese Arten sind eigentlich zwei Bedingungen, die ein Satz erfüllen kann, nämlich: Ein Satz kann richtig sein, wenn er regelkonform konstituiert ist und er kann wahr sein. Die Beziehung zwischen diesen zwei Bedingungen wird folgendermaßen definiert: »Man versteht die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, wenn man seine Verwendungsregel kennt [… und] die Verwendungsregel eines assertorischen Satzes kennen, heißt wissen, wie festzustellen ist, dass er wahr ist.« 16 Wegen dem sog. Satz von der veritativen Symmetrie der Dieser privilegierte Zugang des Sprechers zu seiner Innenwelt bedeutet aber nicht die Behauptung der optischen bzw. bewusstseinsphilosophischen Metaphern einer angeblich privaten Selbstwahrnehmung. Siehe dazu: Gilbert Ryle: The Concept of Mind, S. 154–198. Der Ausdruck »privilegierter Zugang« kann sehr nützlich sein, um die unterschiedlichen Perspektiven von Sprecher und Adressaten hinsichtlich ihrer Innenwelten und die Gemeinsamkeit ihrer Perspektiven hinsichtlich der Natur und der Sozialwelt bezeichnen zu können. Was deshalb bei dem erwähnten Ausdruck philosophisch wichtig ist, ist nicht das Wort »Zugang«, sondern das Privileg des Sprechers hinsichtlich seiner Innenwelt und gegenüber dem Adressaten. 16 Ernst Tugendhat: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, S. 127, 129. 15

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Die Innenwelt nach der sprachpragmatischen Wende

Sätze über Bewusstseinszustände in der ersten und dritten Person gelten die gleichen Bedingungen auch für die expressiven Sätze. 17 Genau an diesem Punkt stoßen wir eigentlich auf die Schwierigkeiten bzw. auf die erwähnten problematischen Konsequenzen dieses semantischen Erklärungsversuchs der expressiven Sätze. Diese Konsequenzen bestehen darin, dass die Unwahrhaftigkeit innerhalb dieses Versuchs komischerweise für eine Unrichtigkeit der Zeichenverwendung gehalten wird. Diese semantische Auffassung der expressiven Sätze muss eine Lüge als eine Art von unrichtiger Regelverwendung darstellen, weil sie die Gültigkeitsdimension der Wahrhaftigkeit schlechthin ignoriert, bzw. diese Dimension im rein semantischen Rahmen dieser Auffassung überhaupt nicht berücksichtigt werden kann. Der Unterschied zwischen einem Sprecher, der die Bedeutung eines von ihm benutzten Ausdrucks nicht kennt, und einem anderen Sprecher, der diesen Ausdruck unwahrhaftig benutzt, würde also nach dieser Auffassung eben darin bestehen, dass der erste den Ausdruck unabsichtlich unrichtig verwendet und der zweite mit Absicht. Diese problematische Konsequenz der dogmatischen Reduktion der Gültigkeitsdimensionen der Sprechhandlungen auf die Wahrheit und die durch die Wahrheitsbedingungen konzipierte Bedeutung eines Satzes widerspricht einfach einer offenkundigen und notwendigen Bedingung der Wirksamkeit einer Lüge: sie muss für den Adressaten verständlich sein, d. h. eine unwahrhaftige Aussage muss, um überredend zu sein, nach den syntaktischen und den semantischen Regeln einer öffentlichen bzw. gemeinsamen Sprache konstruiert werden. Verwendet der Sprecher bei seiner unwahrhaftigen Aussage diese Regeln nicht und versteht deshalb der Adressat gar nicht die Bedeutung dieser Aussage, dann wird dieser letzte nicht getäuscht, wie der erste es beabsichtigt. Auf diese Weise kann man eindeutig feststellen, dass eine bloß analytischsemantische Bedeutungsauffassung die Besonderheit der Innenwelt der Sprecher zu ignorieren versucht und deshalb eine Erläuterung der Gültigkeit der expressiven Sätze nur in Bezug auf die Begriffe der Regelverwendung und der Wahrheit vorbringt. Dieser Versuch ist aber zum Scheitern verurteilt, weil er eine unwahrhaftige Aussage für einen Fall einer unrichtigen Verwendung der semanti17 »Der Satz ›ich y‹, wenn er von mir geäußert wird, ist notwendigerweise genau dann wahr, wenn der Satz ›er y‹, wenn er von jemand anderem geäußert wird, der mit ›er‹ mich meint, wahr ist«. Ebenda, S. 88.

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schen Bedeutungsregeln halten muss, und das widerspricht einfach einer notwendigen Bedingung der von dem Sprecher beabsichtigten Wirksamkeit seiner unwahrhaftigen Aussage, nämlich, dass sie regelkonform bzw. verständlich für den getäuschten Adressaten sein muss. Der Kern der Schwierigkeiten dieser Analyse besteht eben in seinem rein semantischen Charakter bzw. in seiner einseitigen Berücksichtigung der Sätze, ohne beachten zu können, dass sie nur ein Teil der Sprechhandlungen sind, deren anderer Teil performativ ist. 18 Nur durch die Beachtung der Doppelstruktur der Sprechhandlung kann man über den rein semantischen Rahmen der Satzanalyse hinausgehen und der besonderen Gültigkeitsdimension der Aussagen, die auf die Innenwelt der Sprecher verweist, gewahr werden. Mit anderen Worten kann man sagen, dass man, um die Wahrhaftigkeitsansprüche als einen Gültigkeitsanspruch, der überhaupt nicht auf den Sinn- und Wahrheitsanspruch reduziert werden kann, wahrzunehmen, von vornherein eine pragmatische Einstellung einnehmen muss, bzw. eine Einstellung, die erlaubt, nicht die isolierten vom Äußerungszusammenhang getrennten Sätze zu beachten, sondern eben die Beziehung zwischen Sätzen und Zeichenbenutzern, d. h.: die Sprechhandlungen, in denen diese Sätze von einem Sprecher gegenüber einem Adressaten als etwas Sinnvolles benutzt werden. Erst die Betrachtung dieser Beziehung ermöglicht die Frage nach den Handlungen dieser Benutzer, z. B.: Was tut der Sprecher durch seine Sprechhandlung? Was für einen Gültigkeitsanspruch erhebt er vorrangig mit seiner Handlung gegenüber seinem Adressaten? 19 Es wird damit deutlich, dass einerseits keine bloß semantische, Um ein Geständnis verstehen zu können, reicht es nicht, die Wahrheitsbedingungen seines propositionalen Teils zu verstehen. Man braucht etwas mehr, nämlich eben, dass es sich um ein Geständnis handelt (und nicht um ein Versprechen, eine Wette, eine Frage, einen Rat, usw.). Um eine angemessene Auffassung der Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke formulieren zu können, muss man nicht nur den propositionalen Teil sondern auch den performativen Teil bzw. die illokutionäre Kraft der Sprechhandlungen berücksichtigen. 19 Wie oben schon angegeben, benötigen wir eigentlich keine philosophische Theorie, um die Geltungsansprüche unterscheiden zu können. Nicht als Philosophen sondern als einfache Sprecher verstehen wir immer schon diesen Unterschied. Dank unseres performativen Handlungswissens müssen wir im Falle eines Missverständnisses die illokutionäre Kraft unserer Sprechhandlungen explizieren bzw. unterscheiden können. Jeder (kompetente) Sprecher kennt immer schon diesen Unterschied, wenn er z. B. sagt: »was ich soeben gesagt habe, war ein wahrhaftiges Geständnis (von etwas, was in meinem Inneren liegt. Das war weder eine wahre Aussage über die Natur noch ein gerechter Vorschlag für unsere Handlungskoordination.)«. 18

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wahrheitstheoretische Satzanalyse die Besonderheit der expressiven Aussagen und ihre typische Referenz auf die Innenwelt des Sprechers zutage treten kann, dass andererseits die Wahrnehmung der subjektiven Seite der Sprechhandlungen im Allgemeinen notwendigerweise eine pragmatische Sprechhandlungsreflexion erfordert. Man kann die Gültigkeit einer Aussage als etwas, das von dem Sprecher beansprucht wird und von dem Adressaten angenommen oder bestritten werden kann, berücksichtigen, wenn man nicht nur bloße Sätze analysiert, sondern wenn die Sprechhandlungen, das System der vom Sprecher erhobenen Gültigkeitsansprüche und die entsprechende von dem Adressaten abgegebene Ja/Nein- Stellungnahme betrachtet werden. Mit seiner Verneinung gegenüber jeder Aussage kann der Adressat, wie oben schon erwähnt, nicht nur meinen »das ist falsch« oder »das ist unverständlich«, sondern mindestens auch »das ist moralisch unrichtig« oder »das ist unwahrhaftig«. Erst im pragmatischen Rahmen eines argumentativen Dialogs über den vom Sprecher bzw. Proponenten erhobenen Gültigkeitsanspruch kann die Besonderheit der Wahrhaftigkeit gegenüber der Wahrheit und die entsprechende Notwendigkeit der philosophischen Behauptung der Innenwelt nach der sprachpragmatischen Wende reflexiv nachgewiesen werden. 20

7.2. Innenwelt und Argumentation Die Schwierigkeiten um den Wahrheitsbegriff entspringen nicht nur dem oben dargestellten semantischen Gesichtspunkt, der eigentlich verhindert, die unabhängige Gültigkeitsdimension dieses Begriffs zu erkennen, sondern auch einer objektiven Besonderheit des Wahrhaftigkeitsanspruchs, die sie von den anderen Gültigkeitsansprüchen unterscheidet, nämlich ihre spezielle Verbindung mit der Möglich20 Das hier präsentierte Zusammenbringen der Innenwelt mit dem Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit ignoriert natürlich nicht die selbstverständliche Tatsache, dass wir auch Wahrheitsansprüche in Bezug auf diese Welt erheben können. Dieses Zusammenbringen bedeutet nur, dass der Wahrheitsanspruch, den wir auf alle Sprechakte erheben, auf eine Welt verweist, die von der objektiven Naturwelt unterschieden werden kann und muss, nämlich eben auf die Innenwelt der Sprecher. Man kann also sagen, dass der Wahrhaftigkeitsbegriff die ratio cognoscendi der Innenwelt ist. Ohne diesen Begriff könnte die Idee dieser Welt als »der Mythos des Subjektiven« objektivistisch aufgelöst werden.

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keit ihrer argumentativen Einlösung. Um diese Besonderheit näher betrachten zu können, kann man sich Folgendes ins Gedächtnis rufen. Jede Sprechhandlung besteht in einem Versuch des Sprechers, sich mit einem Adressaten über etwas zu verständigen. Dieser Versuch setzt notwendigerweise die Erhebung von Gültigkeitsansprüchen und die Erwartung ihrer entsprechenden Einlösung voraus. Mit jeder Sprechhandlung erhebt der Sprecher also einen Sinnanspruch, einen Wahrheitsanspruch, einen Gerechtigkeitsanspruch und einen Wahrhaftigkeitsanspruch. Hinsichtlich des ersten Gültigkeitsanspruchs wurden im letzten Abschnitt die Gründe für die Annahme des öffentlichen Charakters der sprachlichen Bedeutung mit Hilfe der Sinnkritik Wittgensteins an der Vorstellung einer Privatsprache kurz dargelegt. Eine Folgerung dieser Annahme auf der pragmatischen Ebene des Zeichengebrauchs besteht darin, dass der von dem Sprecher für seine Sprechhandlung beanspruchte Sinn notwendigerweise öffentlich sein muss, bzw. ein Sinn, der nicht nur vom Sprecher, sondern auch von jedem möglichen Adressaten, der die konventionellen Regeln der vom Sprecher gesprochenen Sprache kennt, verstanden werden kann. Wie bereits oben angegeben, hat der Sprecher gegenüber seinem möglichen Adressaten keinen privilegierten Zugang zur Erkenntnis dieser Regeln, die seine Bedeutungsintentionen von vornherein konstituieren. Ganz im Gegenteil muss man behaupten, dass diese gemeinsame Erkenntnis eine Bedingung der Möglichkeit vom Verstehen jeder Sprechhandlung ist und als solche bei jeder Erhebung von Sinnanspruch a priori vorausgesetzt werden muss. Die Erkenntnis der sprachlichen Bedeutungsregeln, die sich die Kommunikationspartner von vornherein einander zuschreiben müssen, konstituiert eine gemeinsame Basis, dank der der von dem Sprecher erhobene Sinnanspruch eingelöst werden kann. Falls ein Missverständnis zwischen Sprecher und Adressaten über den Sinn einer Äußerung zustande kommt, können sie es durch die Fortsetzung der Kommunikationsprozesse dank dieser Basis argumentativ beseitigen. Der Einlösungsprozess eines Sinnanspruchs besteht also in einem argumentativen Vorgang, durch den der Sprecher und die möglichen Adressaten einer Äußerung bestimmen können, ob sie wirklich regelkonform bzw. verständlich ist oder nicht. Sowohl der Sprecher als auch der Adressat der Äußerung sind in der Lage, gleichwertige Beiträge für diesen Einlösungsvorgang zu leisten, weil ihr Zugang zu den öffentlichen Bedeutungsregeln prinzi308

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piell identisch sein muss. Bei dem argumentativen Einlösungsvorgang eines Sinnanspruches befinden sich der Sprecher und die möglichen Adressaten also in einer symmetrischen Lage zu bestimmen, ob die vom Sprecher geäußerte Aussage nach den Bedeutungsregeln der gemeinsamen Sprache richtig konstruiert ist oder nicht. 21 Bei der Einlösung der Wahrheitsansprüche und der Gerechtigkeitsansprüche befinden wir uns in einer ähnlichen Lage wie beim Sinnanspruch. Die Lage von denjenigen, die am Einlösungsvorgang dieser Ansprüche teilnehmen, ist ebenso symmetrisch, weil sie über den gleichen Zugang zur objektiven und sozialen Welt verfügen können. Der öffentliche Charakter der objektiven Naturwelt besteht, wie schon oben angegeben, darin: Eine wahre Erkenntnis dieser Welt kann nur in Propositionen artikuliert werden, die nur ein Teil von assertorischen Sprechhandlungen sein müssen. Diese Sprechhandlungen werden von den Mitgliedern einer Forschungsgemeinschaft durchgeführt, die sich gemeinsam bemühen, die erwähnte propositionell artikulierte Erkenntnis über die Naturwelt zu erreichen. Um einen abstraktiven Fehlschluss zu vermeiden, muss man immer beachten, dass nicht nur die Naturerkenntnis, sondern auch ihr Gegenstand nur innerhalb des Rahmens eines möglichen Forschungsprozesses stattfinden kann, bzw. ein Prozess, in dem die Mitglieder der Forschungsgemeinschaft Wahrheitsansprüche für die von ihnen vorgeschlagene Lösung zu auch von ihnen formulierten Problemen erheben und wo sie versuchen, diese Ansprüche durch einen argumentativen Vorgang methodisch einzulösen. Dieser Einlösungsversuch kann aber nur unter einer Bedingung für objektiv gehalten werden, nämlich: Alle möglichen Teilnehmer der Forschungsgemeinschaft müssen über den gleichen Zugang zur Naturwelt verfügen können. Ihre Aussage sind Lösungsvorschläge für naturwissenschaftliche Probleme. Kein Sprecher als möglicher Naturforscher darf also beanspruchen, eine privilegiert zugängliche Perspektive zur Naturwelt zu besitzen. Die Erhebung eines Wahrheitsanspruchs setzt einfach voraus, dass jeder mögliche Adressat die Gründe für die Einlösung dieses Anspruchs prinzipiell erkennen kann. Die Behauptung eines für 21 Dieser Einlösungsvorgang kann natürlich auch die Form eines Lernprozesses haben, bei dem sich für die Teilnehmer die richtige Bedeutung eines Ausdrucks erhellt, z. B. die Form eines sinnkritischen Prozesses, durch den vage Ideen klar werden können.

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einen Sprecher privilegierten Zugangs zur Naturwelt würde deshalb den von ihm mit seiner Aussage erhobenen Wahrheitsanspruch schlechthin zerstören. 22 Diese Behauptung würde die Meinungen über die Natur für eine Privatsache halten und sie würde auf den objektiven Charakter der assertorischen Sprechhandlungen über die Naturwelt verzichten. Kurz: die Behauptung eines solchen Zugangs zerstört den Begriff einer Naturwelt überhaupt. Der Sinn dieses Begriffs setzt notwendigerweise voraus, dass der Sprecher und jeder mögliche Adressat prinzipiell in der gleichen Lage sind, um am Einlösungsvorgang der mit ihren Aussagen über die Naturwelt erhobenen Wahrheitsansprüche teilzunehmen und dass der Zugang zur dieser Welt prinzipiell gemeinsam und öffentlich sein muß. Auch der Zugang zur institutionellen Sozialwelt muss natürlich für prinzipiell gemeinsam und öffentlich gehalten werden, und nicht nur im oben erwähnten Sinne, dass die Bedeutungsregeln, die die sprachlichen Äußerungen konstituieren, von jedem möglichem Sprechhandelnden gelernt und deshalb richtig verwendet werden können und insofern für jeden möglichen Adressaten verständlich sein müssen. Auch dieser Zugang ist gemeinsam und öffentlich, weil die Handlungsweise und Handlungskoordination, die die Institutionen der von den Menschen geschaffenen Sozialwelt organisieren, nicht nur durch Sozialprozesse gelernt und als Bestandteil der TradiDer kartesianische Gesichtpunkt des methodischen Solipsismus kann zwar versuchen, die notwendig intersubjektive Dimension der Wahrheitsansprüche zu ignorieren. Wer aber behauptet, dieser Gesichtpunkt selbst sei wahr, vollzieht eine Sprechhandlung, die immer schon auf die Intersubjektivität verweist und er verwickelt sich deshalb in eine pragmatische Inkonsistenz. Ein Bewusstsein kann zweifellos eine subjektive Gewissheit über seine Innenwelt empfinden. Wenn er aber den Inhalt dieser Empfindung als wahr behauptet, erhebt er einen Anspruch, der über diese Gewissheit hinausgeht. Das Erheben eines Wahrheitsanspruchs bedeutet ohne weiteres den Anspruch auf Objektivität bzw. auf Intersubjektivität. Die sprachpragmatische Wende der Gegenwartsphilosophie hat ja gegenüber der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie entdeckt, dass ein isoliertes Ich kein Richter der Wahrheit sein kann. Die subjektive Gewissheit dieses Ich kann als hinreichendes Wahrheitskriterium überhaupt nicht fungieren, weil man zur Einlösung des Wahrheitsanspruchs die Zusammenarbeit der Diskurspartner bzw. der idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft notwendigerweise braucht. So weit ich sehe, ist das Phänomen der Selbsttäuschung ausreichend, um die bloß subjektive Gewissheit von der notwendig intersubjektiven Wahrheit unterscheiden zu können. Viele zeitgenössischen Philosophen widersetzen sich zwar der notwendig intersubjektiven Dimension der Wahrheit bzw. den Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Die entscheidende Frage ist aber, ob dieser Widerstand pragmatisch konsistent ist.

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tion erhalten werden, sondern als etwas betrachtet werden können und müssen, das die Menschen als Autoren der von ihnen geschaffenen Institutionen diese entweder als unrecht kritisieren können oder als gerecht rechtfertigen sollen. Der in jeder Handlungsweise, in jeder Handlungskoordination und in jeder sozialen und politischen Institution mindestens implizit erhobene Gerechtigkeitsanspruch verweist eigentlich auf einen virtuell offenen argumentativen Einlösungsprozess, in dem kein möglicher Teilnehmer von vornherein als ausschließlicher Besitzer einer privilegiert zugänglichen Perspektive gehalten werden kann. Die vom Menschen geschaffene soziale Welt besteht aus einem komplexen System von Institutionen, die nach bestimmten Motivationen etabliert, erhalten und verändert werden können. Sowohl die Institutionen als auch die Motivationen der Menschen können aber zum möglichen Gegenstand eines argumentativen Diskurses werden, durch den die rationalen Gründe für oder gegen verschiedene Bestandteile der Sozialwelt berücksichtigt werden können. Kein möglicher Teilnehmer dieses argumentativen Diskurses darf für sich beanspruchen, prinzipiell in einer besseren Lage zu sein, diese Gründe besser als die anderen zu berücksichtigen und zu beurteilen, weil eine notwendige Voraussetzung der Gültigkeit dieser Gründe eben darin besteht, dass jeder Teilnehmer des Diskurses diese Gültigkeit nach diesen Gründen annehmen kann. Würde jemand beanspruchen, in der erwähnten Lage zu sein, dann müsste seine Position nicht für rational gerechtfertigt, sondern hingegen nur für eine bloß subjektive Äußerung eines privaten Interesses gehalten werden. Wie oben schon angegeben wurde, widerspricht die Verneinung der Gleichberechtigung des Diskurspartners, mit dem man die Gerechtigkeit einer sozialen Institution argumentativ bestimmen will, eben einer Sinnbedingung des einzigen möglichen Vorgangs, durch den der in jeder Institution implizit erhobene Gerechtigkeitsanspruch eingelöst werden kann, d. h.: einer Sinnbedingung des argumentativen Dialogs im Allgemeinen. Sowohl die objektive Naturwelt, deren Realität unabhängig vom menschlichen Willen ist, als auch die Sozialwelt, deren Realität hingegen in der institutionellen Verwirklichung dieses Willens besteht, sind öffentliche Gegenstände eines möglichen Diskurses, weil keiner beanspruchen darf, über einen privilegierten bzw. für andere prinzipiell verschlossenen Zugang zu diesen Welten zu verfügen. Ganz im Gegenteil besteht aber die oben erwähnte Besonderheit der InnenA

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welt eben in einem gewissen Privileg des Sprechers über einen leichteren Zugang zu seinen eigenen Erlebnissen. Der rein semantische Versuch, dieses Privileg zu verkennen, läuft, wie im letzten Abschnitt nachgewiesen wurde, auf die paradoxe Gleichsetzung der Wahrhaftigkeit mit der bloßen Verwendung der Bedeutungsregeln hinaus. Die Frage ist hier also weder, ob es eine Innenwelt des Sprechers gibt, die er durch expressive Sprechhandlungen kundgeben kann, noch, ob die mit diesen Handlungen vorrangig erhobenen Wahrhaftigkeitsansprüche von anderen Gültigkeitsansprüchen (z. B.: Sinn- und Wahrheitsansprüche) unterschieden werden müssen, sondern wie die erwähnte Besonderheit der Innenwelt gegenüber der Naturwelt und der Sozialwelt angemessen verstanden werden muss. Mit anderen Worten: Die Bedeutung der Behauptung der Innenwelt als notwendige Voraussetzung sinnvoller Sprechhandlungen muss an dieser Stelle näher betrachtet werden. Gegen den objektivistischen Versuch, die Innenwelt in der Naturwelt aufzulösen, hat Jürgen Habermas die Wahrhaftigkeit als unvermeidlichen Geltungsanspruch jeder Sprechhandlung durch eine universalpragmatische Rekonstruktion aufgezeigt und zwei verschiedene Bemerkungen über diesen Anspruch gemacht. Die erste verweist auf die erwähnte Tatsache eines privilegierten Zugangs des Sprechers zu seiner Innenwelt bzw. zu eigenen Erlebnissen. Die zweite besteht in der These eines angeblichen Unterschieds zwischen dem Wahrhaftigkeitsanspruch und den anderen Geltungsansprüchen in Bezug auf die Möglichkeit ihrer argumentativen Einlösung. Nach Habermas sind die expressiven Sprechhandlungen einerseits Erlebnisäußerungen, die mit einem spezifischen Geltungsanspruch verbunden sind, weil sie unter dem Aspekt der Wahrhaftigkeit der Selbstdarstellung des Sprechers von dem Adressaten bejaht oder verneint werden können. Andererseits aber besteht die Besonderheit des Wahrhaftigkeitsanspruchs darin, dass er unmittelbar mit Argumenten nicht eingelöst werden kann. Der Grund dieser Unmöglichkeit ist nach Habermas die oben erwähnte privilegiert zugängliche Perspektive des Sprechers zu seiner Innenwelt und die entsprechende Asymmetrie zwischen den Positionen des Sprechers und des Adressaten bei der Beurteilung dieses Anspruchs durch einen Vergleich zwischen dem in expressiver Äußerung ausgedrückten Erlebnis und diesem Erlebnis selbst als Bestandteil der Innenwelt des Sprechers. Ob das vom Sprecher Gesagte von ihm auch wirklich gemeint war, ist eine Frage, deren Antwort für den Adressaten immer schwieriger als für 312

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den Sprecher ist, weil der erstere den erwähnten Vergleich nicht unmittelbar verwirklichen kann, sondern nur mittelbar bzw. durch die Beachtung anderer sprachlicher oder nicht sprachlicher Äußerungen des Sprechers. Um den vom Sprecher erhobenen Wahrhaftigkeitsanspruch überprüfen zu können, muss der Adressat also die Vereinbarkeit von zwei Tatsachen der gemeinsamen, öffentlichen bzw. sozialen Welt, die auf die Innenwelt der Sprecher gleichwertig verweisen, berücksichtigen, nämlich (mindestens) zwei Handlungen des Sprechers. Einerseits muss der Adressat die expressive Sprechhandlung, durch die der Sprecher einen Wahrhaftigkeitsanspruch vorrangig erhebt, betrachten und andererseits auch alle die anderen Handlungen des Sprechers, die mit diesem Anspruch konsistent sein können oder nicht, in Betracht ziehen. Dieser mittelbare Vorgang ist beim Adressaten notwendig, weil kein vom Sprecher vorgebrachtes Argument ausreichend sein kann, um den Adressaten von der angeblichen Wahrhaftigkeit des Sprechers zu überzeugen 23 . Durch diese Argumente erhebt der Sprecher auch Wahrhaftigkeitsansprüche, deren Prüfstein innerhalb der Innenwelt des Sprechers liegt und die dem Adressaten nur durch Äußerungen des Sprechers zugänglich sind. »Expressive Sätze, die der Äußerung von Erlebnissen dienen, können unter dem Aspekt der Wahrhaftigkeit der Selbstdarstellung eines Sprechers bejaht oder verneint werden. Allerdings ist der mit expressiven Äußerungen verbundene Anspruch auf Wahrhaftigkeit nicht von der Art, dass er wie Wahrheits- oder Richtigkeitsansprüche unmittelbar mit Argumenten eingelöst werden könnte. Der Sprecher kann allenfalls in der Konsequenz seiner Handlungen beweisen, ob er das Gesagte auch wirklich gemeint hat. Die Wahrhaftigkeit von Expressionen lässt sich nicht begründen, sondern nur zeigen; Unwahrhaftigkeit kann sich in der mangelnden Konsistenz zwischen einer Äußerung und den mit ihr intern verknüpften Handlungen verraten.« 24

Nach Habermas’ Rekonstruktion besteht die Besonderheit des Wahrhaftigkeitsanspruchs also nicht nur in der Asymmetrie zwischen Sprecher und Adressaten zu ihrer Einlösung bzw. in der privilegiert zugänglichen Perspektive des Sprechers zu seiner Innenwelt, sondern auch und besonders in der Unmöglichkeit, diesen Anspruch durch Argumente überhaupt einlösen zu können. Die Frage ist aber nun, ob diese von Habermas postulierte Unmöglichkeit und der auch von ihm präsentierte rationale Charakter der illokutionären Kraft der ex23 24

Siehe unten 7.3. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 69. A

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pressiven Sprechhandlungen gleichzeitig und sinnvoll behauptet werden können. Gegen den rein semantischen Erklärungsversuch der expressiven Sätze, der ihre Gültigkeit nur in Termini ihrer Wahrheitsbedingungen rekonstruieren will, hat die universalpragmatische Auffassung von Habermas gezeigt, dass die illokutionäre Kraft der Sprechhandlungen überhaupt etwas ist, das dem Sprecher erlaubt, den Hörer rational zu motivieren, sein Sprechangebot anzunehmen und so eine rational motivierte Bindung einzugehen. Wenn aber die Wahrhaftigkeit von Expressionen durch Argumente wirklich nicht begründet werden könnte, wie Habermas in der oben zitierte Stelle klar behauptet, müsste man, gegen die Absicht von Habermas auf den rationalen Charakter des Anspruchs auf Wahrhaftigkeit einfach verzichten und die illokutionäre Kraft der Expressionen, im Unterschied zu der Kraft von assertorischen Sprechhandlungen, für eine irrationale Kraft halten. Ein nicht rational begründbarer Anspruch kann kein universaler Geltungsanspruch sein. Bei der habermasschen Rekonstruktion von expressiven Sprechhandlungen gibt es also eine problematische Spannung zwischen dem universalen Charakter des Wahrhaftigkeitsanspruchs und der angeblichen Unmöglichkeit, diesen Anspruch durch Argumente einzulösen. Der Kern der Schwierigkeiten dieser Rekonstruktion besteht, so weit ich sehe, in der von der Universalpragmatik unterstellten lebensweltlichen Vorstellung davon, was die argumentative Einlösung eines universalen Geltungsanspruchs im Allgemeinen bedeutet. 25 Der Ausgangspunkt dieser Rekonstruktion ist die schon erwähnte Asymmetrie zwischen Sprecher und Adressat, die sich von der privilegiert zugänglichen Perspektive des Sprechers zu seiner Innenwelt erweist. Diese Asymmetrie verweist auf die Tatsache, dass der Sprecher als Dialogpartner von vornherein wissen können muss, ob seine Äußerungen wahrhaftig sind oder nicht. Der Adressat hingegen hat dieses Wissen nicht und kann deshalb den vom Sprecher erhobenen Anspruch auf Wahrhaftigkeit in Frage stellen, wenn er ein Misstrauensmotiv hat. Von seiner Seite kann der Sprecher aus verschiedenen Motiven seine Erlebnisse gegenüber dem Adressaten als ein GeheimZu verschiedenen Lesarten dieser Einlösung und zur Erklärung des universalen Charakters solcher Ansprüche siehe: Mattias Kettner: Geltungsansprüche. In: Meggle, G./ Wessels, U. (Hrsg.): Analyomen 1. Proceedings of the 1st Conference »Perspectives in Analytical Philosophy«. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 1994, S. 750–760.

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nis bewahren. Dieses Vermögen des Sprechers ist konstitutiv für den Begriff der Innenwelt, so dass deren Kundgebung in gewisser Weise in der Hand des Sprechers liegen muss. »Dass ein Sprecher meint, was er sagt, kann er nur in der Konsequenz seines Tuns, nicht durch die Angabe von Gründen glaubhaft machen.« 26 Wenn der Adressat den vom Sprecher erhobenen Wahrhaftigkeitsanspruch akzeptiert, erwartet er eine entsprechende Verhaltenkonsistenz des Sprechers. Der Adressat kann dann in den Handlungssequenzen des Sprechers überprüfen, ob der Sprecher wirklich meint, was er sagt. So weit, so gut. Zu diesem Punkt sind aber noch zwei kurze Bemerkungen zu machen. Erstens muss diese Überprüfung die Form eines Arguments haben. Durch dieses Argument versucht der Adressat nachzuweisen, z. B. dass die Handlungsweise des Sprechers dem von ihm selbst Gesagten durch die von dem Adressaten bestrittene Äußerung einfach widerspricht und so ein wahrhaftiges Geständnis des Sprechers provoziert. Genau auf diese Weise müssen ein Richter, ein Staatsanwalt oder die Mitglieder eines Gerichts die Äußerungen eines Verdächtigen bei einem Prozess berücksichtigen. In diesem Sinne kann man also sagen, dass die Wahrhaftigkeitsansprüche trotz der angeführten Asymmetrie zwischen Sprecher und Adressaten in realen Zusammenhängen, z. B. im institutionellen Rahmen argumentativ bestritten und begründet und in gewisser Weise auch eingelöst werden können. 27 Ohne ein Geständnis des Sprechers kann jedoch der Zweifel bleiben, ob das Urteil des Adressaten über den Wahrhaftigkeitsanspruch des Sprechers gut begründet wurde oder nicht, weil die faktisch erreichbare Erkenntnis der Handlungssequenzen des Sprechers für den Adressaten immer unvollständig bleibt. In einer begrenzten Kommunikationsgemeinschaft kann es also keine definitive Einlösung des Wahrhaftigkeitsanspruchs geben, aber das Wichtigste ist hier, dass diese Unmöglichkeit kein besonderes Merkmal dieses Anspruchs ist. Ganz im Gegenteil kann man deutlich erkennen, dass der Begriff einer definitiven Einlösung eines Geltungsanspruchs über empirische Aussagen im Allgemeinen nur eine regulative Idee ist, die als solche in realen Zusammenhängen prinzipiell nicht verwirklicht werden kann. 28 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 408. Wegen der erwähnten Asymmetrie muss man auch gleichzeitig einräumen, dass diese institutionell bedingte Einlösung nicht definitiv sein kann. 28 Siehe oben 5.6. 26 27

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Zweitens muss man aber die Bedingungen berücksichtigen, unter denen man gezwungen sein kann, unter gewissen Umständen und aus guten oder schlechten Gründen unwahrhaftig zu sein und sogar unter denen jemand die Verpflichtung haben kann, ein Geheimnis gegenüber einem Mitmenschen zu bewahren. Es ist klar zu sehen, dass es sich überhaupt nicht um die Bedingungen einer idealen Sprechsituation handelt. 29 In dieser Situation wird die Urteilskraft der Dialogpartner nur von dem »zwanglosen Zwang des besten Arguments« bestimmt, bzw. nicht von einem gut oder schlecht begründeten reziproken strategischen Misstrauen. Unter rein idealen Bedingungen kann die Wahrhaftigkeit dieses Dialogpartners überhaupt nicht in Frage gestellt werden, weil sie von ihnen immer schon notwendigerweise vorausgesetzt werden muss. Die Wahrhaftigkeit des Sprechers ist eine Bedingung der Möglichkeit des argumentativen Dialogs, die als solche von den Dialogpartnern in einer idealen Sprechsituation a priori wechselseitig zugeschrieben werden muss. In dieser Situation, wo nur die Gültigkeit der Argumente wichtig ist, können die Dialogpartner die Sinn-, Wahrheits- und Gerechtigkeitsansprüche argumentativ bestreiten und deshalb auch begründen, weil es immer möglich ist, dass eine vom Sprecher behauptete Aussage als unverständlich, falsch oder ungerecht von einem Adressaten kritisiert wird. Aber hier muss man Folgendes betonen. Wenn ein Adressat eine Aussage als unwahrhaftig bestreitet, bzw. wenn er dem Sprecher einfach misstraut, sind sie schon in keiner idealen Sprechsituation mehr, weil er vermutet, dass ein extra-argumentativer Faktor die Sprechhandlung des Sprechers bestimmend beeinflusst hat. In einer idealen Sprechsituation werden also die Wahrhaftigkeitsansprüche der Dialogpartner von beiden als immer schon eingelöst angenommen. Im Gegenteil zu anderen Gültigkeitsansprüchen, derer Einlösung die Aufgabe des argumentativen Dialogs der Mitglieder der idealen Argumentationsgemeinschaft ist, sind die von ihnen erhobenen und gleichzeitig als immer schon eingelöst angenommenen Wahrhaftigkeitsansprüche eine Bedingung der Möglichkeit der Erfüllung dieser Aufgabe selbst. Die Teilnehmer eines argumentativen Dialogs, die versuchen, ein theoretisches oder ein praktisches Problem rein argumentativ zu lösen, machen Losungsvorschläge und erheben damit, wie oben schon angegeben, verschiedene Geltungs29

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Siehe oben 6.4.

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ansprüche. Sie beanspruchen erstens, dass es verständlich ist, was sie sagen, bzw. sie erheben einen Sinnanspruch für ihre Vorschläge. Sie beanspruchen zweitens bei der Lösung eines theoretischen Problems, dass ihr Vorschlag wahr ist, und drittens bei der Lösung eines praktischen, dass er gerecht ist, d. h. sie erheben vorrangig entweder einen Wahrheits- oder einen Gerechtigkeitsanspruch. Zuletzt erheben sie viertens mit ihren Lösungsvorschlägen auch einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Die ersten drei Ansprüche können die Teilnehmer eines argumentativen Dialogs nur erheben, weil ihre Einlösung von der Zusammenarbeit aller möglichen Teilnehmer dieses Dialogs abhängt. Diese Arbeit besteht eben in dem Vorbringen, Einsehen und Beurteilen der Argumente für oder gegen diese Ansprüche. Vor dieser Arbeit bzw. a priori können diese Teilnehmer überhaupt nicht wissen, ob ihre Ansprüche gerechtfertigt sind oder nicht. Eine Besonderheit des Wahrhaftigkeitsanspruchs lässt sich in diesem Zusammenhang noch aufzeigen. Die erwähnte Einlösungsarbeit ist bei diesem Anspruch unter idealen Bedingungen weder notwendig noch möglich, weil jeder unter diesen Bedingungen von vornherein darauf vertrauen muss, dass seine Diskurspartner sagen, was sie meinen. Schwächt sich dieses Vertrauen ab und werden die Wahrhaftigkeitsansprüche der Dialogpartner gegenseitig in Frage gestellt, dann werden die rein argumentativen Bedingungen der Einlösung der anderen Ansprüche außer Kraft gesetzt. Aus den hier vorgebrachten Bemerkungen ergeben sich wichtige Folgerungen, die m. E. erlauben, die besondere Beziehung zwischen Wahrhaftigkeit und Argumentation besser zu verstehen. In realen Zusammenhängen ist es immer möglich, die vom Sprecher mit seiner Sprechhandlung erhobenen Wahrhaftigkeitsansprüche durch Argumente zu bestreiten bzw. zu kritisieren. In dieser Kritik wird die Unvereinbarkeit zwischen der Bedeutung einer vom Sprecher behaupteten Aussage und den mit ihr intern verknüpften und von ihm durchgeführten Handlungen präsentiert. Diese Unvereinbarkeit wird vom Kritiker vor jedem möglichen Diskurspartner als ein Grund des gerechtfertigten Misstrauens gegenüber der Wahrhaftigkeit des Sprechers dargelegt. Durch diese Kritik behauptet der Kritiker aber implizit, dass der von ihm als Betrüger kritisierte Sprecher kein kompetenter bzw. glaubwürdiger Diskurspartner30 sein kann, dessen Aussage und Argumente über die erwähnte Unvereinbarkeit 30

Siehe unten: 7.4. A

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als sinnvolle Diskursbeiträge ernst genommen werden könnten. Ob die Zweifel dieses misstrauischen Kritikers gerechtfertigt sind oder nicht, kann man natürlich nur durch einen argumentativen Vorgang nachweisen, in der die Handlungssequenzen der Sprecher in the long run berücksichtigt bzw. untersucht werden müssen. Die pragmatische Bedeutung dieser vom Kritiker ausgedrückten Zweifel besteht aber in dem von ihm gegenüber jedem möglichen Adressaten gemachten Vorschlag, den von ihm kritisierten Sprecher von der Argumentationsgemeinschaft, die ihren Wahrhaftigkeitsanspruch beurteilen kann, zumindest momentan auszuschließen. Habermas behauptet, dass die Wahrhaftigkeit von Expressionen im Allgemeinen sich nicht begründen, sondern nur zeigen lässt. 31 Eine präzisere Formulierung dieser Behauptung kann vielleicht wie folgt lauten. Wurde der Wahrhaftigkeitsanspruch eines Sprechers bestritten, wurde gleichzeitig auch seine Kompetenz dafür, zum Einlösungsvorgang seines Anspruchs ernsthaft beizutragen, bestritten. Die anderen können diesen Anspruch bestreiten oder begründen und dafür beachten sie, was der Sprecher in seinen Handlungssequenzen zeigt.

7.3. Überzeugen und Überreden. Die Aporie des misstrauischen Adressaten Im letzen Abschnitt wurde ein Aspekt der komplexen Problematik betrachtet, die die Beziehung zwischen Wahrhaftigkeit und Argumentation enthält. Ein anderer, seit dem Altertum für die philosophische Reflexion hoch interessanter Aspekt dieser Problematik besteht in dem Unterschied zwischen den Begriffen von Überzeugen und Überreden. Um diesen Unterschied näher betrachten zu können, werden im Folgenden erst die Schwierigkeiten der kantischen Differenzierung dieser Begriffe betrachtet (7.3.1.). Danach wird behauptet, dass weder die Differenzierung Austins zwischen illokutionären und perlokutionären Akten (7.3.2.), noch der in dieser Differenzierung inspirierte Unterschied Habermas’ zwischen den Begriffen kommunikatives verständigungsorientiertes und strategisch erfolgsorientiertes Handeln zur Absicht dieses Abschnitts hinreichend sein können, weil sowohl Überreden als auch Überzeugen Perlokutionen 31

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Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 69

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sind. Apels Klassifikation von perlokutionären Effekten erlaubt uns, den Unterschied zwischen dem Überzeugensbegriff und dem Überredensbegriff ein bisschen näher zu erklären. Trotz dieses wertvollen Beitrags von Apel halten die Schwierigkeiten an – soweit ich sehe –, die wirklichen Referenten dieser Begriffe zu unterscheiden, weil alle Sprechhandlungen den Schein eines Überzeugensversuchs haben müssen (7.3.3.). Nach der Darstellung einer Aporie des misstrauischen Adressaten (7.3.4.) wird deshalb die von Chaim Perelman vorgeschlagene Unterscheidung der erwähnten Begriffe gebraucht, um ihren Sinn transzendentalpragmatisch auffassen zu können (7.3.5.). 7.3.1. Seit der Polemik zwischen Platon und Isokrates nimmt man an, dass die Philosophie und die Rhetorik verschiedene Zwecke verfolgen. Die Philosophie, als Liebe zur Weisheit, interessiert sich unbedingt nur für die Erkenntnis der ersten Grundsätze und der absoluten Wahrheit. Die Argumente, die die Philosophen über diese Grundsätze und die Wahrheit vortragen, müssen nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter vernünftig überzeugen können 32 . Die Rhetorik interessiert sich umgekehrt für die verschiedenen Weisen, eine bestimmte und besondere Zuhörerschaft hier und jetzt zu überreden. Die Argumente, die der Redner über irgendein Thema hervorbringt, müssen die Zustimmung eines besonderen Auditoriums erreichen und sind unabhängig von der Wahrheitssuche. Überzeugen und Überreden kann man jeweilig für den Zweck des Redens und der kognitiven Tätigkeit der Philosophen und der Rhetoren halten. Aus dem Unterschied zwischen dem Zweck der Philosophie und dem der Rhetorik ergeben sich die traditionellen Vorstellungen, die die Philosophen von der Rhetorik haben. Diese philosophische Vorstellung der Rhetorik ist in Platons Dialogen klar dargestellt. Nach dieser Vorstellung ist die Rhetorik eine bloße eristische Kunst, die einen epistemischen Skeptizismus und einen ethischen Relativismus voraussetzt. Der Sophist, als Lehrer von Rhetorik, interessiert sich nicht für die philosophische Wahrheitssuche, sondern für die Überredung irgendeiner Zuhörerschaft durch Tricks, Schmeicheln und Täuschung. Im Gegensatz dazu sucht der Philosoph die echte Erkenntnis der Ideen durch ein »inneres Gespräch der Seele mit sich

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Siehe dazu: Platon, Phaidr. 273 e. A

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selbst« 33 . So kann man sagen, dass Platon den philosophischen Universalismus eröffnet, indem er freilich die Stellung des modernen methodischen Solipsismus gegen die Rhetorik vorbereitet. 34 Die klassische transzendentale Philosophie, als der entwickeltste Vertreter dieses Solipsismus, schlug den folgenden Unterschied zwischen Überzeugen und Überreden vor: »Das Fürwahrhalten ist eine Begebenheit in unserem Verstande, die auf objektiven Gründen beruhen mag, aber auch subjektive Ursachen im Gemüte dessen, der da urteilt, erfordert. Wenn es für jedermann gültig ist, so fern er nur Vernunft hat, so ist der Grund desselben objektiv hinreichend, und das Fürwahrhalten heißt alsdenn Überzeugung. Hat es nur in der besonderen Beschaffenheit des Subjekts seinen Grund, so wird es Überredung genannt.« 35

Bei Kant sind Überzeugen und Überreden zwei verschiedene Arten von Fürwahrhalten. Das Überzeugtsein ist ein Glaube mit objektiven Grundlagen. Alle empirischen Positionen sind von einem wahren Urteil überzeugt. In diesem Fall gibt es eine Übereinstimmung aller empirischen Verständnisse, weil ein wahres Urteil sein Objekt richtig vorstellt (»consententia uni tertio, consentium inter se«). Demgegenüber zielt das Überreden auf einen Glauben ohne objektive Grundlagen. Das empirische Subjekt täuscht sich, wenn es die subjektive Ursache dieses Glaubens für die objektive Grundlage hält. Die transzendentale Dialektik entdeckt und erklärt diese Selbsttäuschung des menschlichen Geistes. Um Überzeugen und Überreden zu unterscheiden, ist es nicht genug, sagt Kant, dass das empirische Bewusstsein seine eigenen Vorstellungen analysiert: »Überredung demnach kann von der Überzeugung subjektiv zwar nicht unterschieden werden, wenn das Subjekt das Fürwahrhalten, bloß als Erscheinung seines eigenen Gemüts, vor Augen hat; der Versuch aber, den man mit den Gründen desselben, die für uns gültig sind, an anderer Verstand macht, Platon, Sophist 264. Über die »undialogische Methode« der platonischen Dialoge siehe: Dietrich Böhler und Horst Gronke: Diskurs. In: Ueding, G. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen: Max Niemayer Verlag, 1994, S. 764–819: 767– 777. 34 René Descartes: Discours de la Méthode. In: ders.: In: Adam, Ch./Tannery, P.: Oeuvres de Descartes. Bd. 8. Paris: Vrin, 1996, S. 7; John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. III. 10. § 53. Hrsg. v. Fraser, A. C. New York: Dover, 1959, S. 146; Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Ak. Ausg. III, B 848. 35 KrV, A 820/B 848. 33

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ob sie auf fremde Vernunft eben dieselbe Wirkung tun, als auf die unsrige, ist doch ein, obzwar nur subjektives, Mittel, zwar nicht Überzeugung zu bewirken, aber doch die bloße Privatgültigkeit des Urteils, d. i. etwas in ihm, was bloße Überredung ist, zu entdecken.« 36

Es ist unmöglich, sagt Kant, Überzeugen und Überreden subjektiv zu unterscheiden. Der einzige Prüfstein ist hier das Urteil der anderen empirischen Subjekte. Wenn die Grundlagen meines Glaubens für andere empirische Subjekte nicht gültig sind, handelt es sich um Überreden und nicht um Überzeugen. Dieses kantische argumentationspragmatische Experiment hat nur einen subjektiven Wert, weil das intersubjektive Einverständnis hier nicht als Bedingung der Möglichkeit und Gültigkeit von objektiver Erkenntnis gilt 37 . Um diese Bedingung zu entdecken, greift die klassische transzendentale Philosophie auf ein von aller öffentlichen Argumentation unabhängiges »Bewusstsein überhaupt« zurück. Deshalb ist die Unmöglichkeit, Überzeugen und Überreden empirisch und subjektiv zu unterscheiden, für die klassische transzendentale Philosophie nicht problematisch. Sie erhebt den Anspruch, die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit objektiver Erkenntnis zu entdecken, ohne auf das intersubjektive Einverständnis über Aussagen zurückzugreifen. Die wichtigsten Tendenzen der gegenwärtigen Philosophie haben diesen modernen transzendentalen Anspruch abgelehnt, die nichthintergehbare Begründung des Denkens in einem »Bewusstsein überhaupt« zu finden. Der Grund dieser Ablehnung ist, dass eine Evidenz des Bewusstseins nicht die intersubjektive Geltung der Erkenntnis gewährleisten kann. Seit dem so genannten »pragmatic linguistic turn« der gegenwärtigen Philosophie akzeptiert man eine auf W. von Humboldt zurückgehende These: jede mögliche Erkenntnis und jedes mögliche Denken setzt sprachliche und intersubjektive Bedingungen voraus 38. Wenn eine sprachfreie Erkenntnis und eine Privatsprache unmöglich sind, muss man annehmen, dass die intersubjektive Gültigkeit der Erkenntnis von einer sprachlichen InterpreKrV, A 821/B 849. Auch in der Kritik der Urteilskraft (§§ 20–22) gelten die Inanspruchnahme des »Gemeinsinns« und der »Beistimmung« der Anderen nur als »subjektives« Wahrheitskriterium. 38 Siehe dazu: Wilhelm von Humboldt: Über Denken und Sprechen, Über die Natur der Sprache im allgemeinen, Über den Dualis. In: ders.: Schriften zur Sprache. Hrsg. v. Böhler, M. Stuttgart: Reclam, 1973, S. 3–11, 21 ff. 36 37

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tation einer Kommunikationsgemeinschaft abhängt, die nicht durch die Evidenz eines vermeintlich selbständigen Bewusstseins ersetzbar ist. Die pragmatische sprachliche Wende kann als ein neuer Ausgangspunkt gelten, um die Differenz zwischen Überzeugen und Überreden zu bedenken. Nunmehr ist es unmöglich, Überzeugen mit »objektiv« und Überredung mit »subjektiv« zu identifizieren, wie es die moderne Bewusstseinsphilosophie tat. Jetzt verweisen das Überzeugen und das Überreden vielmehr auf verschiedene Typen von Intersubjektivität, weil keine Erkenntnis und keine Vorstellung sprachfrei »objektiv« oder »subjektiv« sein kann. Um die Bedeutungen der Begriffe »Überzeugen« und »Überreden« zu erklären, muss man freilich berücksichtigen, dass es verschiedene Versionen der sprachpragmatischen Wende in der gegenwärtigen Philosophie gibt. Man kann ein relativistisches Verständnis der sprachpragmatischen Wende identifizieren, das notwendig zu der Auflösung des Begriffs »Überzeugen« in den der »Überredung« führt. Nach dieser relativistischen Version hängt die Überzeugungskraft der Argumente von zufälligen Verkettungen und Traditionen ab. In jedem Fall gibt es immer schon einen faktischen und nichthintergehbaren Hintergrund der Argumentation, der das vernünftige Überzeugen von dem rhetorischen Überreden zu unterscheiden verhindert. Mit unterschiedlichen Absichten haben gegenwärtige Autoren, von konservativen Neoaristotelikern bis zu radikalen Neopragmatikern, den Begriffsunterschied zwischen Überreden und Überzeugen abgelehnt. 39 Gegen die verschiedenen relativistischen Versionen des »pragmatic linguisic turn« wurde ein berühmter und – meines Erachtens – endgültiger Einwand formuliert. Dieser Einwand könnte auf folgende Weise formuliert werden: Wenn jeder Geltungsanspruch relativ zu kontingenten Sprachspielen wäre und jeder Versuch zu überzeugen nur einen bloßen Versuch zu überreden bedeutete, könnte auch diese These (»eine jede Behauptung ist nur der Versuch zu überreden«) keine Gültigkeit und keine Überzeugungskraft enthalten. Das heißt, dass diese relativistische These einen pragmatischen Siehe z. B.: Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr, 1960; Richard Rorty: Consequences of Pragmatism. Brighton: The Harverster Press, 1982; ders.: Contingency, Irony and Solidarity. New York: Cambridge University Press, 1989; ders.: Is Truth a Goal of Enquiry? Davidson is right. In: Philos. Quart. 45, 1995, S. 281– 300; ders.: Universality and Truth. In: Brandom, R. (Hrsg.): Rorty and his critics, S. 1– 30. 39

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Selbstwiderspruch zwischen ihrem propositionalen Inhalt und ihren performativen Voraussetzungen einschließt. Wer behauptet, »jede Behauptung versucht nur, eine bestimmte Zuhörerschaft zu überreden«, nimmt gegenüber seinen realen und möglichen Zuhörern zwei grundlegende Geltungsansprüche der Rede zurück: den subjektiv kommunikativen Anspruch auf Ernsthaftigkeit seiner Redeintention im Verhältnis zu Anderen und den argumentativ kommunikativen Anspruch auf Prüfbarkeit der Gründe für seine Rede – durch Andere. Er verzichtet darauf, die Anderen als Argumentationsbzw. Erkenntnispartner, denen man Aufrichtigkeit und Begründung schuldet, anzuerkennen. Und er verzichtet stillschweigend darauf, seine These mit Argumenten zu verteidigen und damit auf die begründbare Zustimmung aller möglichen Adressaten. Wenn die relativistischen Versionen der sprachpragmatischen Wende zu einer selbstwidersprüchlichen Verwechslung der Begriffe Überzeugen und Überreden führen, muss man die anderen Versionen dieser Wende beachten, die nicht relativistisch, sondern universalistisch oder transzendental sind. Im Gegensatz zu den verschiedenen Arten von Sprachrelativismus muss die Transzendentalpragmatik die Differenz zwischen den Begriffen Überzeugen und Überreden klar definieren. Diese Aufgabe ergibt sich notwendig aus einem Kernpunkt der transzendentalpragmatischen Philosophie. Jeder argumentative Diskurs erhebt Sinn- und Geltungsansprüche (Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Richtigkeit), die nur durch eine einmütige Zustimmung einer idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft eingelöst werden können. Daher bildet die Anerkennung dieser Argumentationsgemeinschaft immer schon eine unvermeidliche Voraussetzung und kontrafaktisch letzte Geltungsinstanz jeder Argumentation. Die kontrafaktisch-pragmatische Dimension eines Geltungsanspruchs ist die Erwartung, jeden Teilnehmer einer idealen unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft überzeugen zu können; d. h.: ihn nicht etwa durch Tricks, Schmeicheln und Täuschung bloß zu überreden. Im Gegensatz zu der modernen Bewusstseinsphilosophie und besonders zu der klassischen transzendentalen Philosophie ist die intersubjektive Konsenssuche für die Transzendentalpragmatik kein »nur subjektives« Mittel, um in jedem empirischen Fall Überzeugen von Überreden zu unterscheiden, sondern die notwendige und unvermeidliche Bedingung von Sinn und Gültigkeit einer jeden möglichen Aussage. Deshalb wäre es wirklich problematisch für die Transzendentalpragmatik, wenn sie kein klares Kriterium A

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zur Differenzierung der Begriffe Überzeugen und Überreden besäße. Denn die Bedingung der Möglichkeit und Gültigkeit aller Erkenntnis hängt nicht von einem solipsistischen und sprachlosen »Bewusstsein überhaupt« ab, wie die klassische transzendentale Philosophie vermutete, sondern von der Anerkennung einer unbegrenzten und insofern idealen Argumentationsgemeinschaft, d. h. von der Fähigkeit, alle möglichen Adressanten eines argumentativen Diskurses in the long run zu überzeugen. Trotzdem darf die transzendentale Philosophie nach ihrer pragmatischen Transformation nicht auf die Unterscheidung verschiedener Arten von Fürwahrhalten zurückgreifen, um die Begriffe Überzeugen und Überreden zu definieren, wie die klassische transzendentale Philosophie es tut. Nach der sprachpragmatischen Wende muss man annehmen, dass die Bedeutung der verschiedenen inneren Zustände des Bewusstseins (Vorstellungen, Intentionen, Wünsche, Glauben) von ihrem möglichen sprachlichen Ausdruck durch Sprechakte abhängen. Wenn die öffentliche Gültigkeit der Bedeutung nicht durch vorkommunikative und vorsprachliche Vorstellung erklärt werden kann, wäre es unrichtig, auf die verschiedenen Arten von »Fürwahrhalten« zurückzugreifen, um die Überzeugungskraft der gültigen sprachlichen Aussage klarzumachen. An diesem Punkt möchte ich herausstellen, dass die transzendentalpragmatische Philosophie – gegen ein relativistisches Verständnis der sprachpragmatischen Wende – die Begriffe »Überzeugen« und »Überreden« unterscheiden können muss, aber dass sie dafür die kantische Differenzierung von verschiedenen Arten von »Fürwahrhalten« nicht verwenden kann. Deshalb könnte man die folgende Frage formulieren: Wie kann man auf eine transzendentalpragmatische Weise die Begriffe »Überzeugen« und »Überreden« unterscheiden? Meiner Meinung nach ist diese Frage bis heute ungelöst. Im Folgenden versuche ich, zu der Antwort auf diese Frage beizutragen. 7.3.2. Wie wir gesehen haben, führt die relativistische Assimilation der Begriffe »Überreden« und »Überzeugen« zu einem pragmatischen Selbstwiderspruch. Um diesen Widerspruch zu vermeiden, muss man annehmen, dass die sprachliche Institution der öffentlich teilbaren Bedeutungen von der Handlungsintention (im engen Sinn) der individuellen Sprecher unabhängig ist. Wie in dem relativistischen Verständnis der sprachpragmatischen Wende wird der Begriff 324

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›Überzeugen‹ von der intentionalen Semantik Grices mit dem Begriff ›Überreden‹ verwechselt 40 . Diese sprachliche Theorie versucht, den Begriff der Sinnintention auf die zweckrationale Erzeugung von Sprechhandlungseffekten im Bewusstsein des Hörers zu reduzieren. Die Beeinflussung eines Adressaten im Sinne der bloßen Überredung funktioniert hier als Modell der sprachlichen Kommunikation. Aber wenn ein Sprecher eine Aussage benutzt, darf man das Verständnis der Bedeutung dieser Aussage nicht mit dem von dem Sprecher verfolgten Zweck verwechseln. Die Bedeutung einer Aussage hängt nicht von den subjektiven Sinnintentionen eines Sprechers (wie dem Beeinflussen des Bewusstseins eines Hörers) ab, sondern von sprachlichen Regeln und Konventionen, die die Bedeutung von Zeichen festlegen. Wer einen Hörer überzeugen oder überreden will, muss sich notwendig an diese Regeln und Konventionen halten. Die Sprechakttheorie von Austin und die erste von Searle betonen die wichtige Rolle, die Sprachkonventionen bei der Bestimmung der Bedeutung sprachlicher Zeichen und in der menschlichen Kommunikation spielen 41 . Diese Theorie unterscheidet bekanntlich drei Aspekte, unter denen sich sprachliche Äußerungen als Handlungen verstehen lassen: dass man mit einer Äußerung einen lokutionären Akt, einen illokutionären Akt und einen perlokutionären Akt vollzieht. Lokutionär ist der Gehalt von Aussagesätzen. Durch einen lokutionären Akt spricht man über etwas mit wohlgeformten Ausdrücken und sagt darüber etwas Bestimmtes. Mit den lokutionären Akten drückt der Sprecher Sachverhalte aus. Durch einen illokutionären Akt erhält der lokutionäre Akt eine bestimmte kommunikative Funktion. Der Sprecher vollzieht eine Handlung, indem er etwas sagt, z. B.: versprechen, auffordern, bitten, warnen, behaupten. Die illokutionären Erfolge sind durch Konventionen festgelegt. Schließlich vollzieht man einen perlokutionären Akt, wenn man mit einer Äußerung bestimmte Sprechhandlungseffekte im Bewusstsein des Hörers erzielt. Die mögliche perlokutionäre Wirkung einer Aussage hingegen hängt nicht von Konventionen ab, sondern von zufälligen Verkettungen. An diesem Punkt möchte ich betonen, dass bei der Sprechakttheorie Austins nicht nur das Überreden, sondern auch das ÜberzeuPaul Grice: Meaning. In: The Philos. Review. 66, 1957, S. 377–388; ders.: Ulterer’s Meaning and Intentions. In: The Philos. Review. 78, 1971, S. 147–177. 41 John L. Austin: How to Do Things with Words; John R. Searle: Speech Acts. 40

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gen auf bloße perlokutionäre Effekte reduziert wird. Damit wären der Sinn und die Gültigkeit eines Sprechakts von dem Überzeugungsversuch des Sprechers unabhängig. Nach Austins Modell könnte ein Sprecher eine Präposition mit Wahrheitsansprüchen behaupten, eine Regel mit Rechtfertigungsansprüchen formulieren und ein Geständnis mit Wahrhaftigkeitsansprüchen ausdrücken, ohne die Absicht zu haben, seine möglichen Hörer zu überzeugen. Der Versuch zu überzeugen (sowie die Überredungsversuche) würde auf die inneren Intentionen der Sprecher verweisen und hätte mit dem Sinn und der Gültigkeit seiner Sprechakte nichts zu tun. Wer versucht, einen Hörer zu überzeugen, muss sich an die Sprachkonventionen halten, die die Vollziehung der illokutionären Akte regulieren. Deshalb sind weder Grices intentionale Semantik noch Austins Sprechakttheorie nützlich, um die Begriffe »Überzeugen« und »Überreden« klar zu unterscheiden. Mit der Betonung der Handlungsintentionen will die erste die Beeinflussung eines Adressanten als Modell der menschlichen Kommunikation werten, und deshalb unterscheidet sie nicht zwei Arten der Beeinflussung. Mit der Betonung der Sprachkonventionen schließt die zweite den Versuch zu überzeugen und den Überredungsversuch als bloße Intentionen der Sprecher und die Überzeugung und die Überredung als bloß zufällige perlokutionäre Effekte der Sprechakte aus. In seinem bekannten Aufsatz »Intention and Convention in Speech Acts« 42 verbindet Peter Strawson Austins Sprechakttheorie und Grices intentionale Semantik. Dort führt er die folgenden wichtigen Eigenschaften der Sprechakte vor: Die illokutionären Akte müsse man immer ausdrücklich vollziehen können. Wenn jemand ein Versprechen geben will, kann er ausdrücklich sagen: »Ich verspreche dir, dass …« Wenn jemand eine Wette eingehen will, kann er ausdrücklich sagen: »Ich wette etwas …« Wenn jemand eine Warnung aussprechen will, kann er ausdrücklich sagen: »Ich warne dich vor etwas …« Im Unterschied zu illokutionären Akten kann man die perlokutionären Effekte nicht auf diese Weise »bekennen«. Um einen Hörer zu beleidigen, kann der Sprecher nicht sagen: »Ich beleidige dich.« Um einen Adressaten zu beunruhigen, kann man nicht sagen:

Peter Strawson: Intention and Convention in Speech Acts. In: The Philos. Review. 73, 1964, 439 ff.

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»Ich beunruhige dich …« Um jemanden zu überreden, kann der Redner nicht sagen: »Ich überrede dich, damit …« Man könnte erwarten, dass diese letzten Beispiele uns helfen, die Begriffe »Überredung« und »Überzeugen« zu unterscheiden, weil der Versuch, Adressaten zu überreden, als Versuch Adressaten zu überzeugen verstanden werden muss. Der Redner, der eine Zuhörerschaft überreden will, muss seine Intention verbergen und muss sich betragen, als ob er keine Tricks, Schmeicheleien und Täuschungen, sondern nur sinnvolle Argumente benutzen würde. Trotzdem sind die Bemerkungen Strawsons über die Natur der Sprechakte nur teilweise nützlich, um die Begriffe »Überzeugen« und »Überreden« zu unterscheiden. Einerseits ist klar, dass der Überredungsversuch verborgen werden muss, um den erwarteten perlokutionären Effekt (die Überredung des Adressaten) erfolgreich zu erzielen. Der Überredungsversuch ist nicht deutlich zu erkennen. Andererseits ist das Überzeugen auch ein perlokutionärer Effekt einer Rede und nicht ein illokutionärer Akt. Um eine Kommunikationsgemeinschaft zu überzeugen, kann man nicht sagen: »Ich überzeuge euch.« Deshalb muss der Überredungsversuch sich hinter dem Schein eines Versuchs zu überzeugen verbergen, der auch nicht als ein illokutionärer Akt ausdrücklich vollzogen werden kann. 7.3.3. Aus der Perspektive der Theorie der sozialen Handlung hat Jürgen Habermas die intentionale Semantik kritisiert und eine neue Interpretation der Sprechakttheorie formuliert. Seine Theorie des kommunikativen Handelns kann auch einige begriffliche Instrumente anbieten, um unser Problem zu erörtern 43 . Habermas unterscheidet bekanntlich zwischen zwei Typen sozialen Handelns: strategisches Handeln und kommunikatives Handeln. Das strategische Handeln ist eine erfolgsorientierte Handlung, in dem der Akteur Regeln rationaler Wahl befolgt, um die Entscheidungen eines rationalen Gegenspielers zu beeinflussen. Durch eine egozentrische Handlungsplanung kalkuliert der Akteur ein eigenes Tun oder Unterlassen, um die erwarteten Entscheidungen der Adressaten zu bewirken. Das kommunikative Handeln ist dagegen ein verständigungsorientiertes Verhalten, in dem die beteiligten Akteure ihre individuellen Ziele und ihre Handlungspläne auf der Grundlage ge43

Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I., S. 369–452. A

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meinsamer Situationsdefinitionen koordinieren. Deshalb hängt das kommunikative Handeln von einem Prozess von Verständigungsversuchen ab, in dem jeder Akteur seine grundsätzlich kritisierbaren Geltungsansprüche erhebt und die fremden Geltungsansprüche nur durch sinnvolle und gut begründete Argumente anerkennen oder zurückweisen darf. Das Ziel dieses Prozesses ist ein Einverständnis, das »auf gemeinsamen Überzeugungen« beruht 44 . Habermas verwendet Austins Differenzierung zwischen illokutionärem Akt und perlokutionärem Akt, um die Begriffe »kommunikatives verständigungsorientiertes Handeln« und strategisch erfolgsorientiertes Handeln zu erklären. »Ich rechne also diejenigen sprachlich vermittelten Interaktionen, in denen alle Beteiligten mit ihren Sprechhandlungen illokutionäre Ziele und nur solche verfolgen, zum kommunikativen Handeln. Die Interaktionen hingegen, in denen mindestens einer der Beteiligten mit seinen Sprechhandlungen bei einem Gegenüber perlokutionäre Effekte hervorrufen will, betrachte ich als sprachlich vermitteltes strategisches Handeln.« 45

Die Theorie des kommunikativen Handelns behauptet also, dass das Kernstück des verständigungsorientierten Handelns illokutionäre Akte seien und die Erhebung von Geltungsansprüchen keine Beziehung zu perlokutionären Akten habe. Habermas nutzt auch die erwähnten Bemerkungen Strawsons über Austins Sprechakttheorie, um eine nachfolgende Klassifizierung des strategisch erfolgsorientierten Handelns vorzuschlagen. Dieses Handeln kann verdeckt oder offen sein. Die verdeckt strategischen Handlungen »sind Interaktionen, in denen sich mindestens einer der Beteiligten strategisch verhält, während er andere Beteiligte darüber täuscht, dass er diejenigen Voraussetzungen nicht erfüllt, unter denen normalerweise illokutionäre Ziele nur erreicht werden können« 46 . In diesem Fall verhält ein Beteiligter sich erfolgsorientiert, lässt aber andere in dem Glauben, dass er sich verständigungsorientiert verhält und sich um Zustimmung bemüht. In dem offen strategischen Handeln dagegen täuscht der Akteur nicht vor, Geltungsansprüche zu erheben. Es handelt sich um Imperative, die nur auf den Machtansprüchen des Sprechers beruhen. Habermas’ Klassifizierung des sozialen Handelns könnte uns 44 45 46

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Ebenda, S. 387. Ebenda, S. 396. Ebenda, S. 395.

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helfen, die Begriffe »Überzeugen« und »Überreden« teilweise klarzumachen. Der Überredungsversuch wäre eine verdeckt strategische Handlung. Der Redner sucht, mit seiner Rede die Meinung und Entscheidungen der Adressanten nur zu beeinflussen, ohne seine Intention ausdrücklich deutlich zu machen. Der Versuch zu überzeugen wäre dagegen ein kommunikatives verständigungsorientiertes Handeln, weil die Geltungsansprüche der Äußerungen nur durch ein kritisches und argumentatives Verfahren eingelöst werden können. Trotzdem ist es nötig, hier darauf hinzuweisen, dass Habermas’ Interpretation der Sprechakttheorie in einem Aspekt ein wenig problematisch ist. Der Punkt ist, dass die Verständigung und die verständigungsorientierte Einstellung nicht nur allein anhand illokutionärer Akte geklärt werden können, wie es Habermas will. Die Geltungsansprüche, die von den Teilnehmern eines Verständigungsprozesses erhoben werden, verweisen notwendig auf ihre mögliche Einlösung; d. h. das Überzeugen aller möglichen Adressaten. Und das Überzeugen ist ein perlokutionärer Akt oder ein Effekt der Äußerung im Bewusstsein des Hörers. Wenn Habermas die Beziehung zwischen formaler und empirischer Pragmatik analysiert, erkennt er, dass Perlokutionen in Handlungszusammenhängen als die erste Phase eines kooperativen Deutungsprozesses auftreten können. In natürlichen Situationen gibt der Sprecher dem Hörer »durch perlokutionäre Effekte etwas, das er (noch) nicht direkt mitteilen kann, zu verstehen« 47 . Aber die Perlokutionen sind nützlich nicht nur als zufälliges Mittel am Anfang der empirischen Verständnisprozesse. Habermas hat nicht gesehen, dass die Überzeugung einer idealen unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft ein perlokutionärer Akt ist, der immer schon als universal pragmatisches Ziel von allem möglichen kommunikativen verständigungsorientierten Handeln notwendig vorausgesetzt wird. 48 Ähnliche Bedenken wie die eben behandelten haben Karl-Otto Apel dazu bewogen, über Austins Sprechakttheorie und Strawsons Bemerkungen hinauszugehen, Habermas’ Interpretation der SprechEbenda, S. 444. Zur Kritik der von Habermas vorgeschlagenen Zusammenstellungen illokutionär/ kommunikativ einerseits und perlokutionär/strategisch andererseits siehe: Peter-Paul König: Kommunikatives und strategisches Handeln. Kritische Bemerkungen zu zwei zentralen Begriffen der »Theorie kommunikativen Handelns« von Jürgen Habermas. In: Preyer, G. [u. a.] (Hrsg.): Intention – Bedeutung – Kommunikation. Kognitive und handlungstheoretische Grundlagen der Sprachtheorie, S. 304–320. 47 48

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akttheorie abzulehnen und eine neue Einteilung der perlokutionären Akte vorzuschlagen. Apel unterscheidet zwischen perlokutionären Wirkungen, die zufälligerweise herbeigeführt werden (1); solchen, die durch einen verdeckt strategischen Gebrauch der Sprache herbeigeführt werden (2), und anderen, die durch die soziale Bindekraft der Geltungsansprüche unseres Sprechens herbeigeführt werden (3) 49 . Die Differenzierung zwischen dem zweiten und dem dritten Typ von perlokutionären Effekten ist für unsere Absicht sehr wichtig, weil der zweite dem Begriff »Überreden« und der dritte dem Begriff »Überzeugen« entspricht. Nach Apels Meinung wird eine intendierte perlokutionäre Wirkung durch die soziale Bindekraft der Geltungsansprüche unseres Sprechens herbeigeführt, wenn sie die drei folgenden Bedingungen erfüllt: Sie muss auf der Ebene eines öffentlich teilbaren Bedeutungsanspruchs verstanden werden (i), auf der Grundlage dieses Verstehens vom Hörer beurteilt werden können (ii) und in Bezug auf ihre weiteren Gültigkeitsansprüche akzeptiert werden (iii). Deshalb wäre eine perlokutionäre Intention, die nicht diese drei Bedingungen erfüllen könnte, nur ein bloßer Überredungsversuch. Wenn ein Sprecher einen Adressaten zu überzeugen versucht, erkennt er ihn als fähigen Richter der Geltungsansprüche seiner Sprechakte an. Die Einlösung von diesen Geltungsansprüchen hängt immer ab von einem freien Urteil des Adressaten, der bestimmen können muss, ob die Geltungsansprüche des Sprechers sinnvoll begründet sind oder nicht. In einem Versuch zu überzeugen liegt das freie Urteil des Adressaten über die Geltungsansprüche des Sprechers in der Mitte zwischen der lokutionären-illokutionären Einheit des Sprechakts und den perlokutionären Effekten; z. B. zwischen informativen Sätzen und dem erwarteten Glauben im Bewusstsein des Hörers vermittelt durch sein Urteil über die Wahrheitsansprüche Karl-Otto Apel: Sprachliche Bedeutung und Intentionalität. Die Kompatibilität des Linguistic turn und des Pragmatic turn der Bedeutungstheorie im Rahmen einer transzendentalen Semiotik. In: Europäische Zeitschrift für Semiotische Studien, 1, 1989, S. 11–73: 58; ders: Läßt sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationalität unterscheiden? Zum Problem der Rationalität sozialer Kommunikation und Interaktion. In: Archivio di Filosofia. LI. 1–3, 1978, S. 375–434; ders.: Das Problem des offen strategischen Sprachgebrauchs in transzendentalpragmatischer Sicht. Ein zweiter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken. In: Burckhart, H. (Hrsg.): Diskurs über Sprache. (Festschrift für Edmund Brown). Würzburg: Königshausen & Neumann, 1994, S. 31–52, auch in Karl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 701–725: 709, 716).

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des Sprechers; zwischen einem Befehl und der erwarteten Befolgung des Hörers, vermittelt durch sein Urteil über die Richtigkeitsansprüche des Sprechers und zwischen einer Kondolenz und den erwarteten Gefühlen des Trostes im Herzen des Hörers, vermittelt durch sein Urteil über die von dem Sprecher erhobenen Wahrhaftigkeitsansprüche. In einem Überredungsversuch wird der Adressat umgekehrt nicht als der fähige Richter der Geltungsansprüche der Sprechakte der Sprecher anerkannt. Wenn ein Redner einen Hörer zu überreden versucht, hält er das Bewusstsein, die Handlungen und die Gefühle des Hörers für einen bloßen Stoff, der sich durch die verdeckt strategischen perlokutionären Wirkungen seiner Rede beeinflussen lässt. Der Überredungsversuch setzt keine reflexive Vermittlung des Adressaten zwischen der lokutionären-illokutionären Einheit des Sprechakts und seinen perlokutionären Effekten voraus. Wer jemanden zu überreden versucht, muss diese reflexive Vermittlung vermeiden können. Auf diese Weise würde die Abgrenzung zwischen den Begriffen »Überzeugen« und »Überreden« von der Anerkennung der Autonomie des Adressaten abhängen. Im transzendentalpragmatischen Rahmen behandelte Wolfgang Kuhlmann ausdrücklich unser Thema in seinem interessanten Aufsatz »Zum Spannungsfeld Überreden – Überzeugen« 50 . Einige Bemerkungen dieses Aufsatzes können uns helfen, den Unterschied zwischen Typ 2 und Typ 3 der Klassifikation Apels von perlokutionären Wirkungen zu entwickeln. Kuhlmann zeigt das Überreden und das Überzeugen als zwei Wesen der Beeinflussung von Personen. Im Unterschied zu anderen Weisen von Beeinflussung (z. B. durch Gewalt, Drohung und chemische Mittel), die die Realität selbst direkt verändern, üben das Überzeugen und das Überreden Einfluss auf die Interpretation bzw. das Verhältnis zur Realität aus, d. h. auf den Verantwortungsbereich von Adressaten. Um die Begriffe »Überzeugen« und »Überredung« zu unterscheiden, formuliert Kuhlmann die so genannte »paradoxe Struktur des Überzeugens«. Der Versuch zu überzeugen sei paradox, weil er einerseits die gewünschten Effekte (eine bestimmte Meinung oder Handlung des Adressaten) garantieren will, aber andererseits dieser Effekt eine völlig freie Antwort des Adressaten sein muss. Der Sprecher will nicht nur die Interpretation 50 In: Wolfgang Kuhlmann: Sprachphilosophie – Hermeneutik – Ethik. Studien zur Transzendentalpragmatik, S. 73–91.

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bzw. das Verhältnis zur Realität beeinflussen, sondern auch das volle Risiko vermehren, dass der Adressat seinen Vorschlag ablehnen kann. Im Überredungsversuch muss der Sprecher umgekehrt dieses Risiko systematisch vermeiden oder verhindern, um seine Meinung für den Adressaten verdeckt durchsetzen zu können. Kuhlmann weist darauf hin, dass es immer schon in allen realen kommunikativen Lagen einen unvermeidlichen Moment des Überredens gibt, der erlaubt, dass die Überredungsversuche von dem Adressaten als Versuche zu überzeugen verstanden werden können. Dieser unvermeidliche Moment des Überredens ist die faktische Bedingung der Möglichkeit von allen notwendig verdeckten und überspielten Überredungsversuchen. Deshalb würde die Grenze in der realen Kommunikationsgemeinschaft zwischen einem Überredungsversuch und einem Versuch zu überzeugen nicht empirisch feststellbar sein, sondern wäre normativ zu fordern. Das Überzeugen ist eigentlich ein regulatives Prinzip, das in allen möglichen Sprechakten immer schon vorausgesetzt wird. Apels Klassifikation von perlokutionären Effekten der Sprechakte und Kuhlmanns Bemerkungen erlauben uns, den Unterschied zwischen den Begriffen »Überzeugen« und »Überreden« ein bisschen näher zu erklären. Jetzt ist es klar, dass der erwartete Einfluss von den in allen möglichen Sprechakten vorausgesetzten Geltungsansprüchen eine perlokutionäre Wirkung ist, die »Überzeugen« genannt wird. Die sogenannte »soziale Bindekraft« unseres Sprechens ist die pragmatische Fähigkeit aller gültigen Sprechakte, alle möglichen Adressaten zu überzeugen. Es ist auch klar, dass ein verdeckt strategischer Gebrauch der Sprache möglich ist, weil der unvermeidliche Moment des Überredens eine faktische Bedingung der Möglichkeit von allen Versuchen zu überzeugen ist. Trotz dieser wertvollen Beiträge von Apel und Kuhlmann halten die Schwierigkeiten an – soweit ich sehe –, bestimmen zu können, ob ein besonderer Sprechakt ein Überredungsversuch oder ein Versuch zu überzeugen ist. 51 Meiner Meinung nach ist die Ursache dieser Schwierigkeiten so etwas wie ein unbemerkter Rest der Bewusstseinsphilosophie in diesem KernDas bedeutet jedoch keine Bedrohung für die Idee der transzendentalen Bedeutung des performativen Handlungswissens. Wie oben angegeben ist der Inhalt dieses Wissens keine faktische Intention eines empirischen Sprechers bzw. eines lebensweltlichen Handelnden. Die transzendentale Bedeutung des performativen Handlungswissens besteht darin, dass es ein Wissen über die Bedingungen ist, die jemand erfüllen können muss, um als möglicher Diskurspartner ernst genommen zu werden. Siehe oben: 2. 4. 51

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punkt der transzendentalpragmatischen Philosophie: die Unterscheidung zwischen Überzeugen und Überreden. 7.3.4. All die Schwierigkeiten, die wirklichen Referenzen der Begriffe »Überzeugen« und »Überreden« zu unterscheiden, entstehen nicht bloß aus der notorischen Zweideutigkeit aller von persuadere, persuasio oder persuasivus 52, sondern aus der erwähnten Tatsache, dass, wer erfolgreich einen Adressaten überreden will, notwendig heucheln muss, dass er ihn überzeugen will. Die Schwierigkeiten, um die Beispiele dieser Begriffe zu unterscheiden, bestehen darin, dass jeder Überredungsversuch sich als Versuch zu überzeugen verkleiden muss; d. h.: Alle Sprechhandlungen haben den Schein eines Versuchs zu überzeugen. Um diese Schwierigkeiten zu behandeln, kann man sich den Fall eines misstrauischen Adressaten in drei Schritten vorstellen. 1 Wenn der Adressat den Verdacht hat, dass der Sprecher ihn nur überreden will, kann er die Wahrhaftigkeitsansprüche der Äußerungen bestreiten. Diese Ansprüche sind nicht nur in der performativen Dimension von expressiven Sprechhandlungen, sondern auch in der performativen Dimension von konstativen und regulativen Sprechhandlungen vorausgesetzt. In den expressiven Sprechhandlungen möchte der Sprecher, dass seine Äußerung unter dem Geltungsaspekt der Wahrhaftigkeit verstanden wird, in der konstativen unter dem Wahrheitsanspruch und in den regulativen unter der normativen Richtigkeit. Trotzdem setze jede Sprechhandlung die drei Geltungsansprüche voraus 53. In unserem Fall wäre die Bestreitung des misstrauischen Adressaten ein Versuch, den Sprecher zu entlarven. Wenn er den Verdacht hat, dass der Sprecher ihn nur überreden will, muss er nicht die konstativen Sprechakte als unwahr oder die regulativen Sprechakte als unrichtig kritisieren, sondern sie als unwahrhaftig decouvrieren können. Deshalb könnte die Bestreitung unseres Adressaten den folgenden Ausdruck haben:

52 Vgl. Karl-Otto Apel: Sprachliche Bedeutung, Wahrheit und normative Gültigkeit. Die soziale Bindekraft der Rede im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik. In: Archivio di Filosofia. LV. 1–3, 1987, S. 80; auch ders.: What is Philosophy? – The Philosophical point of View after the End of Dogmatic Metaphysics. In: Heidt, S./Regland, C. P. (Hrsg.): What is Philosophy? 53 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S. 397 ff.

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»Du heuchelst, sinnvolle Argumente vorzuführen, um deine Äußerungen zu begründen. Du heuchelst, mich als ein fähiger Richter anzuerkennen, der die Geltungsansprüche deiner Äußerungen richtig beurteilen könnte. Trotzdem versuchst du eigentlich nur, meinen Glauben, meine Befolgung oder meine Gefühle zu erzeugen, ohne mir die Chance zu geben, die Geltungsansprüche deiner Äußerungen wirklich beurteilen zu können.«

Die besondere Schwierigkeit dieses Einwands besteht darin, dass die Wahrhaftigkeitsansprüche (im Unterschied zu den Wahrheitsansprüchen und den Richtigkeitsansprüchen) durch einen echten Diskurs mit der Teilnahme des Sprechers nicht eingelöst werden können. Wenn der misstrauische Adressat diesen Einwand beweisen möchte, muss er die vorausgesetzte Entsprechung des sprachlich Ausgedrückten zur »Innenwelt« des Sprechers durch die Lebenspraxis in Frage stellen. Der Vergleich zwischen den Äußerungen und den Handlungen des Sprechers kann den Adressaten dazu führen, die Intention des Sprechers anzuzweifeln, die Wahrhaftigkeitsansprüche des Sprechers zu bestreiten und ihn zu entlarven versuchen. Wenn er Erfolg hätte, würde der Sprecher seine verdeckten Intentionen bekennen. Im Unterschied zu einer Diskussion über Wahrheitsansprüche und Richtigkeitsansprüche hat der Sprecher jedoch in diesem Fall eine privilegiert zugängliche Perspektive, um die Einlösung seiner eigenen Wahrhaftigkeitsansprüche zu erweisen; d. h.: seine echte Intention und die sprachlichen Äußerungen dieser Intentionen zu vergleichen 54 . Jede mögliche Diskussion über die Entsprechung des sprachlich Ausgedrückten zur »Innenwelt« des Sprechers ist notwendig keine symmetrische Lage, weil nur der Sprecher über einen privilegierten Zugang zu seinen subjektiven Erlebnissen verfügt. 2 Wenn der Versuch, die verdeckten Intentionen der Adressaten zu entlarven, keinen Erfolg hätte und der misstrauische Adressat das erwartete Bekenntnis des Sprechers nicht herzustellen vermag, könnte er seinen Blick auf seine eigene »Innenwelt« richten, auf die er eine privilegierte Perspektive hat, und sich selbst fragen, ob sein erwähnter Verdacht begründet war oder nicht. Durch die Bestreitung der Wahrhaftigkeitsansprüche der Sprecher konnte der Adressat Karl-Otto Apel: Sprachliche Bedeutung und Intentionalität. Die Kompatibilität des Linguistic Turn und des Pragmatic Turn im Rahmen einer transzendentalen Semiotik. In: European Journal for Semiotic Studies. 1, 1989, S. 11- 74: 58.

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nicht beweisen, ob es sich um einen Versuch zu überzeugen oder einen Überredungsversuch handelte. Deshalb könnte er sich fragen, ob die perlokutionären Wirkungen der Rede in seinem eigenen Bewusstsein (Glauben, Willen, Gefühle) das Resultat einer echten Überzeugung oder das eines bloßen Überredens sind. Weil der Versuch, die Wahrhaftigkeitsansprüche der Äußerungen des Sprechers zu bestreiten, problematisch ist, könnte der Adressat seine Analyse der anderen Geltungsansprüche beachten. Er könnte sich selbst fragen: »Wurde ich manipuliert oder hatte ich wirklich die Chance, die illokutionäre Kraft der Rede zu beurteilen? War meine Analyse sorgfältig genug oder waren meine Konklusionen voreilig? Bin ich überzeugt oder nur überredet von den Geltungsansprüchen des Sprechers?«

Dieser Versuch, Überzeugen und Überreden durch ein reflexives Gedankenexperiment bei dem Bewusstsein der Adressaten zu unterscheiden, hätte mindestens zwei Schwierigkeiten: (i) Er fällt noch einmal auf den so genannten »methodischen Solipsismus« der modernen Philosophie zurück. Der misstrauische Adressat muss in diesem Fall die Evidenz einer überzeugten Idee in seinem Bewusstsein akzeptieren, als ob es sich um eine intersubjektiv gültige Äußerung handeln würde. Aber – wie bekannt – die intersubjektive Gültigkeit der sprachlichen Äußerungen hängt von der möglichen öffentlichen Anerkennung ab und sie kann nicht durch eine einsame Reflexion eines Bewusstseins eingelöst werden. (ii) Eine zweite Schwierigkeit dieses solipsistischen Versuchs, Überreden und Überzeugen zu unterscheiden, ist, dass der misstrauische Adressat niemals von dem Resultat seines Begründungs-/ Bestreitungsprozesses überzeugt sein könnte. Im fallibilistischen Sinne ist keine faktische Konklusion endgültig und kein Grund zwingend. Deshalb könnte der Adressat niemals beweisen, ob er echt überzeugt oder bloß überredet ist. 3 Man könnte sich auch vorstellen, dass der Verdacht unseres Adressaten unberechtigt war und der Sprecher ihn ehrbar zu überzeugen und nicht zu überreden versuchte, d. h. ihn als den Richter der Geltungsansprüche seiner Äußerungen anerkennen möchte. Man könnte sich auch vorstellen, dass die Zweifel der Adressaten den Sprecher zu einer reflexiven moralischen Überlegung über seine echten Versuche führen. Auf diese Weise könnte der Sprecher sich selbst fragen, A

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ob er den Adressaten überzeugen wollte (wie er vor dem Einwand des Adressaten vermutete) oder ob er in Wirklichkeit ihn nur überreden wollte, wie der Adressat vermutet hatte. 55 Der Sprecher könnte sich selbst fragen: »War ich wirklich aufrichtig oder versuchte ich nicht nur den Adressaten, sondern auch mich selbst zu täuschen?«

Dieses Gedankenexperiment der Sprecher hätte die gleichen erwähnten Schwierigkeiten, nämlich die der Reflexion des Adressaten. Die Aporie des misstrauischen Adressaten veranschaulicht, dass der Unterschied zwischen den Begriffen »Überzeugen« und »Überreden« an die Wahrhaftigkeitsansprüche der Äußerungen verweist. Die Bestreitung dieser Geltungsansprüche hat besondere Schwierigkeiten, weil sie sich auf die Entsprechung des sprachlich Ausgedrückten zur »Innenwelt« des Sprechers bezieht, und verfügt über einen privilegierten Zugang zu dieser Welt. Im Unterschied zu der Bestreitung über die anderen zwei Geltungsansprüche gibt es hier keine symmetrischen Bedingungen für eine dialogische Einlösung (in the long run). Trotzdem zeigt der monologische Weg des methodischen Solipsismus auch keine Lösung, weil die Wahrhaftigkeitsansprüche (wie die anderen Geltungsansprüche) universal sind; d. h. Sie verweisen auf die intersubjektive und öffentliche Anerkennung einer idealen unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft, die immer schon von jedem Sprechakt kontrafaktisch als existent antizipiert wird. 7.3.5. Der Rückgang zu einer problematischen monologischen Perspektive in den letzten zwei Schritten unserer veranschaulichenden »Aporetik der misstrauischen Adressaten« ist nicht zufällig. Er ergibt sich notwendig aus der Definition von den Begriffen »Überzeugen« und »Überreden« als zwei Typen von perlokutionären Wirkungen in dem Bewusstsein des Adressaten, d. h. im kantischen Sinne: zwei Typen von »Fürwahrhalten«. Das kann man als einen unbemerkten Rest der klassischen transzendentalen Philosophie bedenken, die – soweit ich sehe – nach der sprachpragmatischen Wende der transzendentalen Philosophie nicht transformiert wurde. Der Fortbestand dieses Restes im gegenwärtigen pragmatischen Rahmen der transzendentalen Philosophie ist wirklich problematisch. »Überzeugen« Zur Problematik der Selbsttäuschung siehe: Martin Löw-Beer: Selbsttäuschung. Philosophische Analyse eines psychologischen Phänomens, München: Alber, 1990.

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und »Überreden« sind echt pragmatische Begriffe, und von der präzisen Differenzierung ihrer Bedeutungen hängt die Möglichkeit ab, über die universalen Bedingungen der Gültigkeit sinnvoll zu sprechen. Meiner Meinung nach braucht die transzendentalpragmatische Philosophie noch eine pragmatische Rekonstruktion von der Bedeutung der Begriffe »Überreden« und »Überzeugen«, um ihre sprachpragmatische Transformation ergänzen zu können. Karl-Otto Apel hat schon die Möglichkeit einer Konvergenz der ursprünglich verschiedenen Denkansätze vorgeführt, die zu dem methodischen Primat des Sprachaprioris greifen und sich an den modernen methodischen Solipsismus anlehnen. Diese verschiedenen Denkansätze sind: die postheideggersche Hermeneutik von H.-G. Gadamer, die Sprachspiel-Theorie des späten Wittgenstein, die Sprechakttheorie von J. L. Austin und J. Searle, die konstruktivistische Sprachpragmatik von P. Lorenzen und die pragmatische Semiotik von C. S. Peirce 56. Die Konvergenz wäre prinzipiell offen für andere Denkansätze, um die noch ungelöste Frage der transzendentalen Pragmatik zu beantworten. Ein vielversprechender Ausgangspunkt, um die Bedeutung der Begriffe »Überzeugen« und »Überreden« pragmatisch zu rekonstruieren, könnte die neurhetorische Definition dieser Begriffe sein, die von Chaim Perelman vorgeschlagen wurde. »Die Unterscheidung von Reden an einige wenige und solchen, die für alle gültig sein sollen, lässt deutlich werden, was die überredende Rede von der auf Überzeugung angelegten Rede unterscheidet.« 57

Siehe dazu: Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie; ders.: Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik. In: Kanitscheider, B. (Hrsg.): Sprache und Erkenntnis. Innsbruck: Institut f. Sprachwiss.der Univ, 1976, S. 55–82; ders.: Sprechakttheorie und tranzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen. In: Apel, K.-O. (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie, S. 10–173; ders.: Die Logos-Auszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Relevanz der Sprechakttheorie. In: Bosshardt, H.-G. (Hrsg.): Sprache interdisziplinär, S. 45–87; ders.: Pragmatische Sprachphilosophie in transzendentalsemiotischer Begründung. In: Stachowiak, H. (Hrsg.): Pragmatics. Bd. IV, S. 38–61. 57 Chaim Perelman: Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation. München: Beck, 1980, S. 26. »Nous nous proposons d’appeler persuasive une argumentation qui ne prétend valoir que pour un auditoire particulier et d’appeler convaincante celle qui est censée obtenir l’adhésion de tout être de raison.« Chaim Perelman/Lucia Olbrechts-Tyteca. Traité de l’argumentation. La Nouvelle Rhétorique. Bd. I, § 6, S. 36. 56

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Eine überredende Rede strebt die Zustimmung einer besonderen Zuhörerschaft an. Eine überzeugende Rede strebt umgekehrt die Zustimmung einer universalen Öffentlichkeit an. Die Zustimmung einer besonderen Zuhörerschaft ist eine mögliche faktische Wirkung von jeder Rede. Die Zustimmung einer universalen Öffentlichkeit ist umgekehrt eine notwendig ideale Regel (in dem Sinne einer regulativen Idee) für alle möglichen überzeugenden Reden. Die transzendentale Pragmatik ist über Perelmans Neue Rhetorik hinausgegangen, als sie eine Letztbegründung dieser Regel gegeben hat. Die Annahme der universalen Öffentlichkeit als Richter unserer Geltungsansprüche ist keine willkürliche Entscheidung eines besonderen Redners – wie Perelman vermutet –, sondern eine unvermeidliche Voraussetzung von aller möglichen sinnvollen Argumentation. Wenn jemand durch Argumente die einmütige Zustimmung einer idealen und universalen Kommunikationsgemeinschaft vorgibt abzulehnen, widerspricht er den pragmatisch nichthintergehbaren Bedingungen seiner Argumentation. Diese transzendentalpragmatische Überwindung der neuen rhetorischen Perspektive ist dennoch kein Hindernis, damit die transzendentale Pragmatik die Unterscheidung Perelmans von »Überzeugen« und »Überreden« benutzen kann. 58 Der wichtigste Vorteil von Perelmans erwähnten Definitionen ist seine sprachpragmatische Orientierung. Hier spricht man nicht über ein Bewusstsein, das von einem Sprecher beeinflusst wird, sondern über überredende und überzeugende Äußerungen und Argumente. Auf diese Weise könnte man den Rückschritt zu der aporetisch-monologischen Analyse der Entsprechung des sprachlich Ausgedrückten zur »Innenwelt« des Sprechers vermeiden, die ich durch den Fall des misstrauischen Adressaten zu veranschaulichen versuchte. Deshalb müssen »überredende« und »überzeugende« als mögliche Prädikate von sprachlichen Äußerungen und nicht als Typen von »Fürwahrhalten« eines beeinflussten Bewusstseins behandelt werden. Ob ein Adressat »überzeugt« oder »überredet« wurde von einer Idee, ist hier nicht so wichtig als viel mehr, ob eine sprachliche Äußerung oder ein Argument »überredend« oder »überzeugend« ist. Zur Verbindung zwischen Transzendentalpragmatik und Neuer Rhetorik siehe: Alberto Mario Damiani: Transzendentalphilosophie nach der Neuen Rhetorik. In: Josef Kopperschmidt (Hrsg.): Die neue Rhetorik. Studien zu Chaim Perelman. München: Fink, 2006, S. 333–344. 58

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Um Überzeugen und Überreden zu unterscheiden, braucht man nicht die Entsprechung des sprachlich Ausgedrückten zur »Innenwelt« des Sprechers zu beachten, sondern man muss nur die pragmatische Beziehung zwischen der sprachlichen Äußerung und ihrer möglichen Zuhörerschaft beachten. Aus einer transzendentalpragmatische Perspektive könnte man eine Äußerung »überredend« nennen, insofern sie eine faktische und provisorische Zustimmung einer realen und begrenzten Kommunikationsgemeinschaft wirklich erreicht, und »überzeugend«, insofern sie eine einmütige Zustimmung einer idealen und unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft erreichen können müsste. Diese Interpretation der Bedeutung von den Begriffen »Überzeugen« und »Überreden« hat für uns die folgenden Vorteile: (i) Sie erlaubt, den normativen Charakter der ersten und den faktischen Charakter der zweiten klar anzuerkennen. (ii) Sie vermeidet, das Überzeugen mit der illokutionären Dimension der Sprechhandlungen zu verwechseln. (iii) Sie unterscheidet »Überzeugen« und »Überreden« als zwei Typen von perlokutionären Wirkungen, ohne auf einen aporetischen Streit über die Einlösung der Wahrhaftigkeitsansprüche zurückzugreifen. Wer untersuchen will, ob eine Äußerung einen Versuch zu überzeugen oder einen Überredungsversuch ausdrückt, braucht nicht die für andere nicht unmittelbar zugängliche subjektive »Innenwelt« der Sprecher und der Adressaten zu beachten, sondern er muss die öffentliche und intersubjektive Welt beachten, wo die Benutzer sprachlicher Zeichen sich über etwas zu verständigen und ihre Handlungen zu koordinieren versuchen. Wenn die neue rhetorische Auffassung von den Begriffen »Überzeugen« und »Überreden« nützlich ist, um eine pragmatische Rekonstruktion der Bedeutung dieser Begriffe zu formulieren, müsste die transzendentalpragmatische Philosophie die monologisch- solipsistische Idee ablehnen, die die Rhetorik für eine bloß eristische Kunst hält. Wenn die Philosophie endlich anerkannt hat, dass die Sprache nicht ein bloßes Mittel ist, um Erkenntnis auszudrücken, sondern der Träger der unhintergehbaren Bedingungen der Möglichkeit von der menschlichen Rationalität, muss sie die platonische Vorstellung über die Rhetorik verlassen. Meines Erachtens kann der semiotische transzendentale Gesichtspunkt mit der neuen Rhetorik konvergieren, sofern man die ideale Argumentationsgemeinschaft als eine imA

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mer schon kontrafaktisch antizipierte Voraussetzung von aller möglichen besonderen Argumentation anerkennt.

7.4. Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit In den letzten Abschnitten wurde die besondere Beziehung zwischen Wahrhaftigkeit und Argumentation betrachtet. Es wurde dort einerseits bemerkt, dass der Anspruch auf Wahrhaftigkeit unter rein argumentativen Bedingungen für schon eingelöst gehalten werden muss, weil ihre Bestreitung bedeutet, dass diese Bedingungen zwischen dem Sprecher und dem Adressaten schon außer Kraft gesetzt wurden. Andererseits wurde auch die Möglichkeit nachgewiesen, die Begriffe einer überzeugenden und einer überredenden Rede zu unterscheiden, ohne auf den problematischen Einlösungsprozess von Wahrhaftigkeitsansprüchen hinauszulaufen. In diesem Prozess versucht man die Wahrhaftigkeit des Sprechers durch die Berücksichtigung seiner Handlungskohärenz zu überprüfen. Der Adressat kann diese Kohärenz durch einen Vergleich zwischen dem vom Sprecher Gesagten und dem von ihm in seiner Handlungssequenz Getanen berücksichtigen. Deshalb kann der Wahrhaftigkeitsanspruch eines Sprechers von seinem möglichen Adressaten durch Argumente überprüft werden. Durch diese Argumente versucht der Adressat, anderen möglichen Adressaten zu beweisen, dass z. B. der Sprecher nicht meint, was er sagt, weil das, was der Sprecher gesagt hat, nicht dem entspricht, was er vorher oder nachher getan hat, und dass diese vom Sprecher durchgeführten Handlungen seine echte Meinung bzw. die Meinung, die er durch seine Worte unwahrhaftig versteckt, unabsichtlicht ausdrückt. Genau deshalb sind diese Handlungen des Sprechers ein Grund, der erlaubt, seinen Wahrhaftigkeitsanspruch in Frage zu stellen. Bis hierher wurde also die Glaubwürdigkeit des Sprechers bzw. des möglichen Dialogpartners als etwas, das durch den Beweis einer Art von Handlungsinkonsistenz bestritten werden kann, berücksichtigt, nämlich die Inkonsistenz zwischen dem von dem Sprecher Gesagten bzw. die explizite Bedeutung seiner als unwahrhaftig bestrittenen Sprechhandlung und der Bedeutung anderer sprachlicher und nicht sprachlicher vom Sprecher durchgeführten Handlungen, die als Argument gegen seinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit von einem misstrauischen Adressaten präsentiert werden können. Man kann 340

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also sagen, dass es eine Art von Handlungsinkonsistenz gibt, die in der fehlenden Entsprechung zwischen der als unwahrhaftig bestrittenen Sprechhandlung und den anderen Handlungen derselben Akteure besteht und die Unwahrhaftigkeit des Sprechers eben in alltäglichen und lebensweltlichen Zusammenhängen verrät. Diese Art von Handlungsinkonsistenz weist einfach auf die Tatsache hin, dass der Sprecher durch seine Sprechhandlung seine eigenen Meinungen, Absichten und Erlebnisse bzw. bestimmte Bestandteile seiner Innenwelt nicht kundgeben, sondern verstecken will. Wird diese Art von Inkonsistenz einer Handlungssequenz von einem Kritiker ausreichend bewiesen, dann wird die Glaubwürdigkeit des Sprechers gegenüber seinen möglichen Adressaten zerstört. In diesem alltäglichen Sinn bzw. in diesem lebensweltlichen Verständnis ist jemand glaubwürdig, wenn die anderen seine Worte glauben und sich auf seine Praxis verlassen können. 59 Im Rahmen unserer sinnkritischen Untersuchung ist es aber wichtig, gewahr zu werden, dass es auch eine andere Art von Handlungskonsistenz gibt, die sich von der schon erwähnten klar unterscheiden lässt und auf eine andere Art von Glaubwürdigkeit verweist. 60 Wenn diese zweite Art von Handlungskonsistenz zerstört wird, entsteht eine weitere Art von Inkonsistenz, die nicht in der fehlenden Entsprechung zwischen dem durch die Sprechhandlung Gesagten und den anderen sprachlichen und nicht sprachlichen Handlungen des Sprechers besteht, sondern im Widerspruch zwischen dem durch eine Sprechhandlung Gesagten und dem durch die gleiche Handlung Getanen, bzw. den schon oben angegebenen performativen Selbstwiderspruch oder der pragmatischen Inkonsistenz zwischen den propositionalen und den performativen Teilen einer Sprechhandlung. Auch hier trifft man auf eine Handlungsinkonsistenz, sie aber verweist nicht auf die fehlende Entsprechung zwischen dem, was der Sprecher meint, und dem, was der Sprecher sagt, und ist deshalb kein Hinweis auf Unwahrhaftigkeit des Sprechers, sondern

59 Zu diesem alltäglichen Verständnis des Glaubwürdigkeitsbegriffs siehe z. B.: Alexander Kirchner/Baldur Kirchner: Rhetorik und Glaubwürdigkeit. Überzeugungen durch eine neue Dialogkultur. Wiesbaden, 1999. 60 Vgl. Dietrich Böhler: Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Ein (wirtschafts-)ethischer Richtungsstoß der Berliner Diskurspragmatik und Diskursethik. In: Bausch, Th./ Böhler, D./Rusche, Th. (Hg.): Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral? Münster: Lit, 2004, S. 105–148.

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auf eine Sinnlosigkeit, sowohl dessen, was er meint, als auch von dem, was er sagt, was hier für dasselbe gehalten werden kann. Man kann bemerken, dass der Vergleich zwischen dem Gesagten und dem Getanen nicht nur deshalb nützlich sein kann, um den Wahrhaftigkeitsanspruch eines Sprechers in Frage zu stellen, sondern auch, um seinen Sinnanspruch zu überprüfen. Die pragmatische Inkonsistenz einer Sprechhandlung besteht nicht in einem unwahrhaftigen Ausdruck der Innenwelt des Sprechers, sondern in einem für den möglichen Adressaten (und für den Sprecher selbst!) unverständlichen Ausdruck, insofern sie nicht wissen können, was der Sprecher durch seine inkonsistente Sprechhandlung tun will, und deshalb auch nicht wissen, wie sie auf diese Handlung reagieren sollen. Auf einer Seite kann man deutlich sehen, dass es also zwei ganz verschiedene Arten von Handlungsinkonsistenz gibt. Eine Art verrät eine Sprechhandlung als unwahrhaftig, indem sie aufzeigt, dass ihre Bedeutung mit der Bedeutung der vom Sprecher als Akteur durchgeführten Handlungssequenz unvereinbar ist. Die andere Art hingegen weist auf eine sinnlose Sprechhandlung hin, weil der Sprecher durch sie versucht, eine pragmatische Sinnbedingung seiner Handlung zu verneinen. Obwohl also diese beiden Arten von Handlungsinkonsistenz auf zwei verschiedene Gültigkeitsansprüche verweisen, die oben gegen den rein semantischen bzw. bloß satzanalytischen Versuch, sie zu assimilieren, schon unterschieden wurden, haben sie etwas gemeinsam, und zwar insofern, dass beide auf einen Mangel in der Durchführung einer Sprechhandlung hinweisen. Diese Gemeinsamkeit kann folgendermaßen formuliert werden. In beiden Fällen kann der Sprecher von seinen möglichen Adressaten als Dialogpartner nicht ernst genommen werden. Deshalb hat Dietrich Böhler diskurspragmatisch zwei Typen von Glaubwürdigkeit unterschieden, nämlich die unmittelbare Glaubwürdigkeit und die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Die unmittelbare Glaubwürdigkeit entspricht dem Vorverständnis des Wahrhaftigkeitsbegriffs in der Lebenspraxis. »Die Wahrhaftigkeit unserer Rede als Übereinstimmung von Wort und Absicht ist das eine, die Verlässlichkeit unserer Praxis als Übereinstimmung von Rede und Tun, Ankündigung und Ausführung ist das andere Moment jener grundlegenden moralischen Begleiterwartung, die wir »Glaubwürdigkeit« nennen. In der Perspektive des Gegenübers ist sie die Entsprechung zur Wahrhaftigkeit und Verlässlichkeit eines Ego. Der, welcher zu uns wahrhaf-

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Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit

tig redet und uns gegenüber verlässlich handelt, ist glaubwürdig – so sagt es jedenfalls unsere lebensweltlich mitgebrachte ethische Intuition.« 61

In der Lebenspraxis kann es immer Motive geben, um gegenüber dem Anderen vorsichtig strategisch zu handeln und diese unmittelbare Glaubwürdigkeit unter Vorbehalt zu stellen bzw. einzuklammern und so die Glaubwürdigkeitserwartung sinnvoll zurückzuziehen. Ob diese Motive in einem besonderen Fall wirklich für vernünftige Gründe gehalten werden können und müssen, ist eine Frage, deren Antwort das Resultat eines Diskurses bzw. eines argumentativen Dialogs sein kann. Die Teilnehmer dieses Dialogs erheben Gültigkeitsansprüche für ihre Argumente gegenüber den anderen und verhalten sich deshalb aber nicht wechselseitig strategisch und misstrauisch, weil sie als Diskurspartner in einer gemeinsamen Aufgabe notwendigerweise kooperieren müssen, nämlich bei der Entdeckung einer gültigen Antwort auf eine Frage. Sie müssen notwendigerweise vom anderen Glaubwürdigkeit bzw. eine wahrhaftige Rede und ein verlässliches Tun erwarten und jeder beansprucht, dass der andere ihm Glaubwürdigkeit bescheinigen könne. Genau auf dieser Ebene, wo Gültigkeitsansprüche der Teilnehmer eines argumentativen Dialogs erhoben und eingelöst werden können, finden wir den zweiten Typ von Glaubwürdigkeit, d. h.: nicht die oben erwähnte unmittelbare Glaubwürdigkeit der Lebenspraxis, die wegen guter Gründe unter gewissen Umständen und hinsichtlich eines faktischen Gesprächspartners strategisch eingeklammert werden kann, muss und soll, sondern die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners, gegenüber dem diese Gründe zur Einsicht vorgebracht werden müssen. Im Unterschied zur unmittelbaren lebensweltlichen Glaubwürdigkeit kann diese sinnkritische Glaubwürdigkeit des Diskurspartners wegen bestimmter Gründe überhaupt nicht in Frage gestellt werden, weil alle möglichen Gründe, die als Argumente gegenüber einem Diskurspartner vorgebracht werden, von vornherein die Glaubwürdigkeit dieses Partners als konstitutive Sinnbedingung dieses Argumentsvorbringens einfach voraussetzten. Versucht jemand die Glaubwürdigkeit des Dialogspartners argumentativ zu bestreiten, dann verstrickt er sich in eine pragmatische Inkonsistenz, d. h. er verliert selbst eben durch diesen Versuch seine eigene Glaubwürdigkeit als Diskurspartner. 61

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Oben wurde schon angegeben, dass die Reichweite des Handlungswissens über das im performativen Teil der Sprechhandlung implizit vorausgesetzte Wissen hinausgeht, weil auch die nichtsprachlichen Handlungen als menschlich verstehbare Handlungen wenigstens virtuell, aber auch notwendigerweise von einem Diskurs begleitet werden. 62 Dieser Begleitdiskurs kann den Sinn einer Handlung, bzw. den Sinn, der die Handlung als Verwirklichung bestimmter Absicht und Handlungsweise zu verstehen ermöglicht, und die in der Handlung implizierten Gerechtigkeitsansprüche des Handelnden thematisieren und überprüfen. Nur dank dieses Begriffs eines Begleitdiskurses kann man verstehen, dass das Handlungswissen nicht nur dem Sprechhandelnden, sondern dem Handelnden überhaupt a priori zuerkannt werden muss, weil nicht nur der Sprecher, sondern auch der nichtsprachliche Akteur wissen können muss, was er tut. Ohne diese Erweiterung der Reichweite des Handlungswissens würde eine menschliche Handlung auf eine bloß physische Bewegung assimiliert und so der Sinn des Handlungsbegriffs einfach zerstört. Als logische Folgerung dieser von ihm vorgeschlagenen Erweiterung der Reichweite des Handlungswissens hat Dietrich Böhler seinen sinnkritischen Begriff der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners als zwei Typen von Diskurskohärenz charakterisiert. Einerseits die hier schon erwähnte diskursive Kohärenz, deren Mangel zu performativen Selbstwidersprüchen führt. Andererseits betont Böhler eine praxisbezogene Kohärenz als einen notwendigen Bestandteil der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners, nämlich die Kohärenz zwischen zwei verschiedenen Rollen, die er als Handelnder spielen können muss: seine Diskurspartnerrolle, die schon intern kohärent sein muss, und seine institutionelle Rolle als jemand, der für andere und für sich selbst verständliche Handlungen durchführen kann. Diese Erweiterung der Reichweite der sinnkritischen Glaubwürdigkeit jenseits der Grenze der sprachlichen Handlungen ergibt sich aus der oben schon analysierten Erweiterung der Bedeutung des Handlungswissensbegriffs jenseits des performativen Wissens der Sprechhandelnden, weil seine Begründung das »Schonvermitteltsein« von Diskurs und Handlung ist: »Keine Praxis ohne möglichen, für ihren Sinn und ihr Geltenkönnen konstitutiven, Begleitdiskurs«63 , der ermöglicht, dass die Handlungen durch kommunikationsbezogene Über62 63

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Siehe oben 2.3. Dietrich Böhler: Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Ein (wirtschafts-)ethischer

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legungen sowohl entworfen und geplant als auch post facto kritisiert oder gerechtfertigt werden können. Diese Praxisseite des Kohärenzverhältnisses zwischen der Diskurspartnerrolle und der institutionellen Rolle des Akteurs besteht also darin, dass er ernstlich bereit ist, seinen Begleitdiskurs als Geltungsprüfung seiner Handlungsweise zu führen, um von anderen und von sich selbst für einen glaubwürdigen Diskurspartner gehalten zu werden. Im Unterschied zum lebensweltlichen Begriff der unmittelbaren Glaubwürdigkeit verweist dieser sinnkritische Begriff der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners also nicht auf eine wahrhaftige Selbstdarstellung der subjektiven Innenwelt des Sprechers, sondern auf die normativen, moralischen Bedingungen der intersubjektiven Sozialwelt, bzw. auf die moralischen Normen, die die wechselseitigen Erwartungen der Handelnden nicht nur unter idealen, sondern auch unter realen Bedingungen bestimmen sollen. 64 Beim strategischen Interessenspiel der Sozialwelt, in der jeder Spieler als Konkurrent die künftigen Züge der anderen antizipieren will, um die eigenen Züge gegen den anderen erfolgreich durchführen zu können, kann dieser sinnkritische Begriff der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners seine wirkliche Leistung bringen. Die praxisbezogene Kohärenz zwischen der Diskurspartnerrolle und der institutionellen Rolle des Akteurs, die oben als konstitutiver Bestandteil der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners präsentiert wurde, bietet nicht nur eine Sinnbedingung, die erlaubt, die Handlung als menschliche Handlung zu verstehen, sondern auch eine moralische Perspektive, die ermöglicht, die in der realen Sozialwelt durchgeführten menschlichen Handlungen moralisch zu beurteilen. In diesem Sinne ergänzt der Begriff der Glaubwürdigkeit der Diskurspartner die sinnkritische Erforschung der transzendentalen Sinnbedingungen, die als ethischer Bestandteil unseres Handlungswissens oben im sechsten Kapitel präsentiert wurden. Die Bedeutung dieser Ergänzung besteht in Folgendem: Während diese Bedingungen einer sprachpragmatischen Übersetzung des kantischen Begriffs des guten Willens entsprechen, entspricht die Glaubwürdigkeit der Diskurspartner besonders hinsichtlich ihrer praxisbezogenen Kohärenz einer sprachpragmatischen Übersetzung des kantischen Sollensbegriffs. Richtungsstoß der Berliner Diskurspragmatik und Diskursethik. In: Bausch, Th/Böhler, D./Rusche, Th. (Hg.): Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral?, S. 110. 64 Siehe oben 6.3. A

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7.5. Die Wahrhaftigkeit des Schriftstellers Wie oben schon angegeben, beruht die von der universalen und transzendentalen Pragmatik gelieferte Architektonik der Gültigkeitsansprüche und der dazugehörigen Weltbezüge einerseits auf dem linguistischen Organonmodell von Karl Bühler und wird andererseits von der soziologischen Auffassung Max Webers, dass sich verschiedene kulturelle Handlungssysteme (bzw. Wissenschaft, Recht und Kunst) in der europäischen modernen Gesellschaft ausdifferenzieren, inspiriert und verknüpft. 65 Das erwähnte Modell, das von Bühler als Ausarbeitung einer frühen Skizze (1918) in den dreißiger Jahren veröffentlicht wurde und das mit der Zeit einen großen Einfluss hatte, unterscheidet drei Elemente und drei entsprechende Funktionen der Zeichenverwendung. 66 Die Elemente sind der Sender, der Empfänger und der Sachverhalt. Diese Elemente sind folgendermaßen miteinander verknüpft: ein Sender verwendet Sprechzeichen, um sich mit einem Empfänger über Gegenstände und Sachverhalte zu verständigen. Die entsprechenden Funktionen dieser Zeichenverwendung sind Darstellen, Auffordern und Kundgeben, weil der Sender durch diese Verwendung drei Sprechhandlungen verwirklichen kann: erstens diese Sachverhalte darstellen, zweitens den Empfänger zu Handlungen auffordern und drittens seine eigenen Erlebnisse kundgeben. Deshalb können die Sprechzeichen nach Bühlers Modell entweder als Symbol, Signal oder Symptom funktionieren bzw. die erwähnten drei Funktionen erfüllen: die kognitive Funktion der Darstellung eines Sachverhalts, die appellative Funktion der Aufforderung, die an den Adressaten gerichtet wird, und die expressive Funktion der Kundgabe von Erlebnissen des Sprechers. Bei dem universal bzw. transzendentalpragmatischen Ansatz wird dieses linguistische Organonmodell Bühlers das architektonische Kernstuck eines Systems der Gültigkeitsansprüche, die der Sprecher bei jeder Sprachverwendung bzw. Sprechhandlung erhebt, d. h. einen Wahrheitsanspruch, in Bezug auf die objektive Naturwelt, einen Richtigkeitsanspruch, in Bezug auf die Sozialwelt und einen Wahrhaftigkeitsanspruch in Bezug auf die Innenwelt des Sprechers. Diese Gültigkeitsansprüche können und müssen in jedem Fall unter geeigSiehe oben 3.6. Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Jena: Fischer, 1934; ders.: Kritische Musterung der neueren Theorie des Satzes. In: Indogermanisches Jahrbuch. 6, 1918, S. 1–20. 65 66

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neten Umständen kritisiert und begründet werden. Auch die Äußerungen, die nicht strikt zu den drei Grundmodi der Sprechhandlungen (bzw. konstativ, normativ und expressiv) gehören, haben ihren Platz in dem System, z. B. evaluative Äußerungen bzw. Werturteile können durch kulturelle Wertstandards, die weder die intersubjektve Allgemeinheit der praktischen Normen haben, noch bloß subjektiv sind, begründet oder kritisiert werden. Es gibt auch Verwendungen dieser Standards, die nicht mehr mit einem alltäglichen Verständnis rechnen können, weil sie so stark von der Persönlichkeit des Senders bestimmt sind und seinen innovativen Charakter auszeichnen. Diese besonderen Zeichenverwendungen sind die Kunstwerke, die als authentischer Ausdruck der exemplarischen Erfahrung des Verfassers von der ästhetischen Kritik berücksichtigt werden können. Der universal- bzw. transzendentalpragmatische Ansatz erlaubt also die erwähnte Architektonik der Gültigkeitsansprüche und die zugehörigen Weltbezüge mit den in der modernen Gesellschaft ausdifferenzierten Handlungssystemen der Wissenschaft, des Rechts und der Kunst zu verknüpfen. Diese Systeme verkörpern sich in jeweiligen kulturellen Objektivationen eines expliziten Wissens. Diese Objektivationen sind erstens wissenschaftliche Theorien, die konstative Sprechhandlungen erhalten und dadurch vorrangig Wahrheitsansprüche erheben, zweitens Rechtssysteme, die normative Äußerungen erhalten und dadurch Richtigkeitsansprüche erheben, und drittens Kunstwerke, die als eine Art von dramaturgischem Handeln verstanden werden müssen, mit dem vorrangig Anspruch auf eine authentische Selbstdarstellung erhoben wird. Die systematische Verknüpfung der reflexiv nachweisbaren Gültigkeitsansprüche mit den jeweiligen Handlungstypen moderner Handlungssysteme und Arten kulturellen Wissens bedeutet aber, dass sich weder die Komplexität der Wissenschaft, des Rechts und der Kunst auf einzelne Äußerungen reduzieren darf, noch dass Aussagen, mit denen universelle Gültigkeitsansprüche erhoben werden, nur innerhalb der jeweiligen modernen Handlungssysteme und ihre Objektivationen stattfinden können. Die erwähnte Verknüpfung bedeutet vielmehr, dass die Ansprüche der Handlungssysteme und kultureller Objektivationen schon durch einzelne und einfache Sprechhandlungen erhoben werden und genau deshalb auch, dass die reflexiv pragmatische Analyse der Sprechhandlung ein heuristischer Ausgangspunkt für ein angemessenes Verständnis dieser modernen Systeme sein kann. A

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Die Frage ist nun, ob alle bisher gemachten Folgerungen dieser universal- bzw. transzendentalpragmatischen Verknüpfung zwischen einer reflexiv argumentativen Bearbeitung des linguistischen Organonmodells Bühlers und einer universalpragmatischen Weiterentwicklung der soziologischen Rationalitätstheorie Webers akzeptabel sind und ob die erwähnte Architektonik der Gültigkeitsansprüche weiter artikuliert und intern erweitert werden kann. Zur Berücksichtigung dieser Frage kann man zuerst bemerken, dass eine Folgerung dieser Verknüpfung zumindest problematisch zu sein scheint. Es handelt sich um die Behauptung, dass der Gültigkeitsanspruch auf eine authentische Selbstdarstellung bei poetischen Schriften und Kunstwerken im Allgemeinen dominierend ist. Dieser Anspruch müsste als eine besondere Art von Wahrhaftigkeitsanspruch bzw. Aufrichtigkeitsanspruch verstanden und systematisch untergeordnet werden, d. h. der Anspruch, der von einem Sprecher vorrangig erhoben wird, wenn er eine expressive Sprechhandlung durchführt, um seine eigenen bloß subjektiven Erlebnisse kundzugeben. So fragt man also nach der Angemessenheit der folgenden Zusammenstellung: einerseits dem ästhetischen Wissen, ihrer Verkörperung in Kunstwerken und ästhetischer Kritik als Argumentationsweise, die dieses Wissen bestreiten und begründen kann, und andererseits dem dramaturgischen Handeln, mit dem der Handelnde den vorrangigen Anspruch auf Wahrhaftigkeit und die Sprachfunktion einer aufrichtigen Selbstrepräsentation bzw. einer authentischen Selbstdarstellung der subjektiven Welt des Sprechers erhebt. 67 Die Frage nach der Angemessenheit der universalpragmatischen Zusammenstellung von Poesie und Selbstdarstellung ist aber nicht, ob der Dichter oder der Künstler durch seine Werke auch einen Wahrhaftigkeitsanspruch unter anderen Ansprüchen erhebt. Um diesen Punkt näher betrachten zu können, kann man die konstativen Sprechhandlungen der Wissenschaftler und die regulativen Sprechhandlungen der Rechtsanwälte oder der Richter berücksichtigen. Wenn sie diese Handlungen durchführen, erheben sie natürlich mehr als einen Geltungsanspruch und deshalb erheben sie auch durch ihre nicht expressiven Sprechakte einen Wahrhaftigkeitsanspruch, der Siehe dazu: Bernhard Steinert: Zur Funktion des Ästhetischen in der Theorie des kommunikativen Handelns. In: Danielzyk, R./Volz, F. R. (Hrsg.): Parabel. Vernunft der Moderne? Zu Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns. Münster, Edition Liberación, 1986, S. 51–58.

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auch bestritten und deshalb als ungültig argumentativ zurückgewiesen werden kann. Es ist aber hier noch einmal zu betonen, dass ein Sprecher, um verständlich sein zu können, durch jede Sprechhandlung einen und nur einen thematisch hervorgehobenen Gültigkeitsanspruch zur Diskussion erheben darf, z. B. einen Wahrheitsanspruch im Fall der konstativen Sprechakte eines Wissenschaftlers, durch den er eine Hypothese als Lösung für ein theoretisches Problem aufstellt, oder einen Richtigkeitsanspruch im Fall des regulativen Sprechaktes eines Rechtsanwalts, durch den er dem Gerichtshof eine Entscheidung als Lösung für ein praktisches Problem vorschlägt. Die oben gestellte Frage ist also, ob der Wahrhaftigkeitsanspruch bei der Kunst wirklich eine Rolle spielt, die zu den Rollen analog ist, die der Wahrheitsanspruch bei der Wissenschaft und auch bei den nicht institutionalisierten theoretischen Diskursen im Allgemeinen und der Richtigkeitsanspruch beim Recht und auch bei den nicht institutionalisierten praktischen Diskursen im Allgemeinen spielt. Anders formuliert kann man also diese Frage folgendermaßen stellen: Durch theoretische Diskurse kann man versuchen, die Wahrheitsansprüche von Aussagen über die objektive Welt einzulösen. Durch praktische Diskurse kann man versuchen, die Richtigkeitsansprüche von den in der sozialen Welt stattgefundenen normenregulierten Handlungen einzulösen. Die Frage ist aber, ob die Hauptaufgabe der ästhetischen Kritik wirklich die ist, die Wahrhaftigkeit der Selbstdarstellung der subjektiven Innenwelt der Künstler in ihren Werken zu beurteilen, ob man die Kritik dieser Werke vorrangig und notwendigerweise für eine Art von Selbstdarstellung halten muss, und ob dadurch dem Künstler eine privilegiert zugängliche Perspektive hinsichtlich seines eigenen Werkes zugeschrieben werden muss. Gegen diese zumindest problematische Assimilation der ästhetischen Erfahrung mit einer Art von Verständnis der expressiven Selbstdarstellung der inneren Welt des Künstlers kann das folgende Zitat ein weiteres Argument bringen. »Die ästhetische Erfahrung erneuert dann nicht nur die Interpretation der Bedürfnisse, in deren Licht wir die Welt wahrnehmen; sie greift gleichzeitig in die kognitiven Deutungen und die normativen Erwartungen ein und verändert die Art, wie alle diese Momente aufeinander verweisen.« 68

Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. In: ders.: Kleine politische Schriften, I-IV, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, S. 461.

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Die ästhetische Erfahrung ist also nicht nur die Erfahrung einer Verkörperung eines Anspruches auf Authentizität bzw. einer wahrhaftigen Selbstdarstellung der Innenwelt des Künstlers, dessen exemplarische Erfahrung die Selbstinterpretation der Empfänger erneuert. Diese Erfahrung kann ebenso eine erneuernde Kraft ausüben, die sowohl die kognitiven Deutungen der objektiven Welt als auch die normativen Erwartungen verändert bzw. bereichert, die der Empfänger über seine soziale Welt als auch über die Beziehungen zwischen den Verständnissen der objektiven, sozialen und inneren Welten hat. Deshalb bleibt noch die Frage nach der systematischen Zusammenstellung des Ästhetischen und des Expressiven, d. h. es stellt sich noch einmal die Frage nach dem Ort des ästhetischen Ausdrucks beim systematischen Modell der Zeichenverwendung und seiner entsprechenden Gültigkeitsansprüche. Um diese Frage richtig erörtern zu können, kann man zwei kurze Bemerkungen, die Habermas bei der Einführung und Diskussion des erwähnten Organonmodells von Bühler zur Erklärung des ursprünglichen Kernstücks seines Systems der universalen Geltungsansprüche macht, berücksichtigen. Die erste Bemerkung beschreibt die »entscheidenden Präzisierungen« dieses linguistischen Modells, die »mit einer Ausnahme« 69 von den sprachanalytischen Bedeutungstheorien vorgebracht wurde. Die erwähnte Ausnahme, die trotzdem, so weit ich sehe, bisher keine wichtige Rolle in dem architektonischen Vorschlag der Universal- und Transzendentalpragmatik gespielt hat, ist das von Roman Jakobson vorgeschlagene Kommunikationsschema. 70 Dieses Schema kann als Resultat einer ergänzenden Weiterentwicklung bzw. einer internen Differenzierung und internen Artikulation des Bühlerschen Organonmodells verstanden werden. In dieser Richtung hat Elmar Holenstein schon in den siebziger Jahren Folgendes richtig bemerkt: »Bühler beschränkte sich auf die drei außersprachlichen Fundamente der Sprechsituation, den Sprecher, den Hörer und den Gegenstand der Rede. Die eigentlichen sprachlichen Komponenten bleiben dagegen außerhalb seiner Reflexion, obwohl ihn sein illustres Schema geradezu darauf hätte stoßen

Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 372. Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik (1960). In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hrsg. v. Holenstein, E./Schelbert, T. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, S. 83–121.

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sollen. Der zentrale Faktor seines Schemas, das Zeichen Z, bleibt in seiner Funktionsanalyse unausgewertet.« 71

Wie oben angegeben, verweist das Organonmodell Bühlers auf die folgende elementare Situation. Ein Sender verwendet Sprechzeichen, um sich mit einem Empfänger über Gegenstände zu verständigen. Bei dem Modell Bühlers werden die drei außersprachlichen Elemente dieser Situation hervorgehoben und die entsprechenden drei Funktionen der Sprache ergeben sich aus diesen Elementen. Das Zeichen selbst aber, das diese Elemente in der Sprechsituation eigentlich vermittelt, bzw. die innersprachlichen Elemente dieser Situation und die entsprechenden Funktionen der Sprache können durch dieses Modell nicht wirklich berücksichtigt werden. Sie bleiben im Rahmen der Auffassung Bühlers völlig unbeachtet, insofern das Zeichen nur als intern undifferenzierter Vermittler zwischen Sender, Empfänger und Gegenstand betrachtet wird. Gegenüber diesem Modell Bühlers, das bisher als Kernstück der universal- und transzendentalpragmatischen Systematik der Gültigkeitsansprüche benutzt wurde, hat das Kommunikationsschema Jakobsons auch den Vorzug, dass es eine begriffliche Differenzierung der innersprachlichen Elemente der Sprechsituation und der entsprechenden Sprachfunktionen ermöglicht. Diese Elemente sind der Kode, der Kontakt und die Mitteilung bzw. die Botschaft. Der Kode ist das System, z. B. das Idiom, in dem die Botschaft ausgedrückt wird, »der ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem Empfänger (oder m. a. W. dem Kodier und dem Dekodier der Mitteilung) gemeinsam ist« 72 . Der Kontakt ist ein physischer Kanal oder eine psychologische Verbindung zwischen Sender und Empfänger, »der es beiden ermöglicht, in Kommunikation zu treten und zu bleiben.« 73 Die Botschaft ist eigentlich, was der Sender dem Empfänger durch den Kontakt und dank dem Kode über den Gegenstand oder Sachverhalt sagt. Nach Jakobson entsprechen diesen drei innersprachlichen Elementen drei Sprachfunktionen, die innerhalb des Modells von Bühler keinen Platz finden können. »Wenn der Sender und/oder der Emp71 Elmar Holenstein: Einführung: Von der Poesie und der Plurifunktionalität der Sprache. In: Jakobson, R.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, S. 7–60: 13. 72 Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, S. 88. 73 Ebenda.

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fänger kontrollieren wollen, ob beide denselben Kode gebrauchen, orientiert sich die Rede am Kode: Sie vollziehen eine metasprachliche (d. h. erläuternde) Funktion« 74 (z. B. durch die Frage, »Verstehen Sie, was ich meine?«). Wenn aber der Sender und/oder der Empfänger kontrollieren wollen, ob der die Kommunikation ermöglichende Kanal offen ist, vollziehen sie eine phatische Funktion (z. B. durch die Frage: »Hallo, können Sie mich hören?). »Die Einstellung auf die Botschaft als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen, stellt die poetische Funktion der Sprache dar.« 75 Sie wird von einem Sender vollzogen, wenn er sich für einen geeigneten Ausdruck oder eine Redewendung unter mehreren Möglichkeiten entscheidet und sie angemessen kombiniert. Der Vollzug der poetischen Funktion der Sprache beschränkt sich nicht auf Dichtung, literarische Texte und Kunstwerke, weil jeder Sender in der alltäglichen Kommunikation bei jedem Sprachgebrauch mit mehr oder weniger Bewusstsein sowieso Zeichen wählt und kombiniert. Auch diejenigen Sprechhandlungen, die andere Funktionen (z. B. referentiell, konativ oder emotiv) vorrangig vollziehen, tragen eine sekundär poetische Funktion in sich, weil die Botschaft ein konstitutiver Faktor der Kommunikation ist und der Sender in jeder Sprechhandlung die Zeichen der Botschaft auswählt und auf eine bestimmte Weise kombiniert. Die zweite Bemerkung von Habermas, deren Berücksichtigung die Frage nach der Gültigkeit der von ihm vorgeschlagenen systematischen Zusammenstellung der expressiven Sprechakte und des ästhetischen Wissens anzuschneiden erlaubt, lautet wie folgt: »Die Bedeutungstheorie kann das Integrationsniveau der von Bühler programmatisch entworfenen Kommunikationstheorie erst einholen, wenn sie für die Appell- und Ausdruckfunktionen (gegebenenfalls auch für die von Jakobson betonte, auf die Darstellungsmittel selbst bezogene »poetische« Funktion) der Sprache in ähnlicher Weise eine systematische Begründung geben kann wie die Wahrheitssemantik für die Darstellungsfunktion der Sprache.« 76

An dieser Stelle muss man darauf hinweisen, dass das dort verwendete Wort »Darstellungsmittel« auf zweierlei Arten irreführend sein kann. Muss dieses Wort einerseits als Synonym von Zeichen im All74 75 76

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Ebenda, S. 92. Ebenda. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 375.

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gemeinen verstanden werden, dann ist zu berücksichtigen, dass die poetische Funktion sich beim Kommunikationsschema Jakobsons nicht auf das Zeichen im Allgemeinen bzw. auf eine homogene semiotische Einheit bezieht, sondern nur auf einen innersprachlichen konstitutiven Faktor der Kommunikation, nämlich der Botschaft oder der Mitteilung. Neben ihr sind der Kontakt und der Kode auch innersprachliche Faktoren, die gegenüber dem Sender, dem Empfänger und dem Kontext oder Referenz, als intern ausdifferenzierte Aspekte der Zeichen selbst oder der von Habermas genannten »Darstellungsmittel« berücksichtigt werden müssen. Aber wie oben angegeben ist die sprachliche Funktion, die sich beim Schema Jakobsons an den Kontakt und den Kode richtet, aber nicht die poetische Funktion, sondern es sind die phatischen und die metasprachlichen Funktionen. Wenn das Wort »Darstellungsmittel« an der zitierten Stelle von Habermas Zeichen im Allgemeinen bedeutet, muss man darauf hinweisen, dass sich die von Jakobson betonte poetische Funktion nicht auf die Darstellungsmittel bezieht, wie Habermas behauptet, sondern auf einen eben erst durch das Schema Jakobsons ausdifferenzierten und hervorgehobenen Faktor dieser Mittel, nämlich der Botschaft, oder besser expliziert, auf die Selektion und Kombination der Zeichen, die erlauben, eine Botschaft aufzubauen. Andererseits muss man auch das Folgende beachten. Wenn das Wort »Darstellungsmittel« sich nicht auf Zeichen im Allgemeinen bezieht, sondern nur auf Zeichen, die die Darstellungsfunktion vorrangig erfüllen, dann ist die Botschaft, an die sich die poetische Sprachfunktion richtet, nicht nur ein Darstellungsmittel, weil sie nicht nur eine objektive Referenz durch konstative Sprechakte darzustellen, sondern auch andere Sprachfunktionen zu erfüllen ermöglichen, z. B. die subjektiven Erlebnisse der Sprecher durch expressive Sprechakte auszudrücken und die sozialen Handlungen der Empfänger durch normative Sprechakte zu fordern. Die von Jakobson betonte poetische Funktion bezieht sich also nicht, wie Habermas behauptet, auf die Darstellungsmittel, sondern auf die vom Sender vollzogene Selektion und Kombination von Zeichen eines gemeinsamen Kodes in einer von ihm formulierten Botschaft, die auch als Appellmittel, Ausdrucksmittel usw. gebraucht werden kann. An dieser Stelle können wir keinen geeigneten Einblick vermitteln in die vollständige Bedeutung, die die hier nur kurz erwähnte interne Weiterentwicklung bzw. Weiterdifferenzierung Jakobsons des Organonmodells Bühlers für eine entsprechende Entwicklung A

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der transzendentalpragmatischen Architektonik der Gültigkeitsansprüche hat, die bisher nur auf den drei Eckpfeilern von Bühlers Modell aufgebaut wurde. Trotzdem scheinen die in dem sechseckigen Kommunikationsschema Jakobsons differenzierten innersprachlichen konstitutiven Faktoren und die entsprechenden Sprachfunktionen zu genügen, um die folgenden kritischen Bemerkungen über die bisherige Formulierung dieser Architektonik begründen zu können. Das Kommunikationsschema Jakobsons ordnet die ästhetischpoetische Funktion nicht den expressiven Sprechakten unter. Diese problematische Unterordnung findet sich sowohl beim Organonmodell Bühlers als auch bei der analytischen Sprachphilosophie bzw. sprachanalytischen Ästhetik 77 und auch, wie oben schon angegeben, bei der Zusammenstellung des Ästhetischen und des Expressiven, die im architektonischen Rahmen der Universal- und Transzendentalpragmatik bisher behauptet wurde. Der Vorteil des Schemas Jakobsons kann folgendermaßen hervorgehoben werden. Nach diesem Schema kann erst deutlich werden, dass der Verfasser eines Kunstwerks nicht als vorrangig und primär einen Anspruch auf Authentizität bzw. auf eine Art von aufrichtiger Darstellung seiner bloß subjektiven Innenwelt erhebt und dass genau deshalb die Hauptaufgabe der ästhetischen Kritik nicht in einer begründeten Beurteilung der Wahrhaftigkeitsansprüche der Künstler bestehen kann. Dank der Differenzierung der drei innersprachlichen Fundamente der Sprechsituation erlaubt das Schema Jakobsons zu verstehen, dass die ästhetische Kritik versucht, die Transparenz bzw. die Authentizität der Selbstdarstellung der Künstler in seinem Werk nicht an erster Stelle abzuschätzen, sondern eben die nach ästhetischen Wertstandards prinzipiell kritisierbare Angemessenheit der Auswahl und der Kombination von Zeichen, die in einem Kunstwerk verkörpert werden. Natürlich können diese Zeichen die Innenwelt des Künstlers bzw. seiner »exemplarischen Erfahrung« der Natur, der Gesellschaft oder des Subjekts bezeichnen 78 , aber der entscheidende Punkt besteht eben in Folgendem: Was eine Äußerung zu einem Kunstwerk macht, ist nicht sein Referent, sondern die Art Siehe dazu: Jörg Zimmermann: Sprachanalytische Ästhetik. Ein Überblick. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1980. 78 Siehe dazu: Paul Ricœur: La métaphore vive. Paris: Éditions du Seuil, 1975, S. 273– 324. 77

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und Weise, in der der Künstler sich aus einem öffentlichen gemeinsamen Kode bestimmte Zeichen auswählt und sie in seinem Werk ganz besonders kombiniert. Das Interesse der ästhetischen Kritik konzentriert sich in einer Beurteilung dieser Auswahl und dieser Kombination, weil jedes Kunstwerk ein einzigartiges Resultat dieser zwei Operationen verkörpert. Diese Operationen, die die poetische Funktion konstituieren, finden trotzdem auch bei jedem Zeichengebrauch statt, d. h. auch bei den Äußerungen, die kein poetisches oder künstlerisches Ziel suchen. Im Unterschied zum Organonmodell Bühlers und den von ihm inspirierten Zusammenstellungen der expressiven Sprechhandlungen und des poetischen bzw. künstlerischen Zeichengebrauchs erlaubt das Kommunikationsschema Jakobsons zu verstehen, dass der Dichter nicht wahrhaftiger als der Wissenschaftler und der Richter zu scheinen braucht, weil seine Kunst nicht bloß darin besteht, eine transparente Selbstdarstellung seiner exemplarischen Erfahrung durch die Sprachzeichen schaffen zu können, sondern in einer eigenartigen Selektion und ungewöhnlichen Kombination dieser Zeichen, deren künstlerisches Resultat dazu beiträgt, die Interpretation der subjektiven Erlebnisse, der kognitiven Deutungen und der normativen Erwartungen kulturell mitzuteilen und zu erneuern. Fazit: Jeder kann sein Gefühl gegen den Inzest wahrhaftig ausdrücken, aber nur Sophokles hat König Ödipus geschrieben.

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8. Schluss

Die vorliegende Untersuchung ist abgeschlossen und einige Schlussfolgerungen können aus ihr gezogen werden. Wir haben unser performatives Handlungswissen unter einem transzendentalen Gesichtspunkt erforscht. Dieser Gesichtspunkt gibt sich mit konstituierenden Handlungen und nicht mit bloßen Begriffsschemen ab. Vor der sprachpragmatischen Wende befasst die Transzendentalphilosophie sich mit monologisch aufgefassten Verstandes- und Vernunfthandlungen, doch nach dieser Wende mit Sprechhandlungen. Der Gesichtspunkt dieser Philosophie wird nach der Wende strikt reflexiv, d. h.: Zur Beantwortung der Geltungsfragen beachtet sie ausschließlich die aktuelle Dialogsituation, z. B. die Situation, in der der Leser jetzt die Sinn- und Gültigkeitsansprüche des Verfassers berücksichtigt und beurteilt. Nur von diesem Gesichtspunkt aus kann die Transzendentalerkenntnis nachgewiesen werden. Die sinnkritische Prüfung solcher Erkenntnis besteht in dem transzendentalpragmatischen Letztbegründungsargument. Durch dieses Argument kann eine in unserem performativen Handlungswissen implizite Voraussetzung als eine notwendige Sinn- und Gültigkeitsbedingung des Diskurses nachgewiesen werden. Die Notwendigkeit einer so letztbegründeten Bedingung folgt aus der Tatsache, dass diese Bedingung ohne pragmatischen Selbstwiderspruch nicht bestritten und ohne pragmatisches petitio principii nicht deduziert werden kann. Die erste Schlussfolgerung unserer Forschung ist: Die Vereinbarkeit zwischen dem notwendigen Charakter der transzendentalpragmatisch letztbegründeten Resultate und dem Korrekturbedürfnis der Formulierung dieser Resultate kann durch die strikt reflexive Berücksichtigung des Versuchs, diese Vereinbarkeit zu verneinen, verstanden werden. Die Transzendentalphilosophie beschäftigt sich weder mit dem Handlungswissen als einer empirischen Tatsache, noch als einer Möglichkeit des Akteurs, sondern als einer Bedingung der Möglichkeit des argumentativen Dialogs, bzw. auch der sinnvollen Rede und der verständlichen Handlungen im Allgemeinen, weil auch eine nichtsprachliche Handlung, die von einem transzendentalpragmati356

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schen Gesichtspunkt aus betrachtet wird, von einem virtuellen Diskurs begleitet wird. Durch diesen Diskurs werden die in dem performativen Handlungswissen des Akteurs impliziten und von ihm erhobenen Sinn- und Gültigkeitsansprüche berücksichtigt und beurteilt. Die zweite Schlussfolgerung der vorliegenden Erforschung ist: Die Notwendigkeit von solchen Bedingungen ist ganz unabhängig von der zufälligen Tatsache ihrer faktischen Erfüllung, weil diese Bedingungen eben in unserem aktuellen Dialog notwendigerweise immer schon als erfüllt vorausgesetzt werden. Die Evidenz dieser Notwendigkeit beruht auf keiner Gewissheitsempfindung, sondern nur auf ihrer inhärenten Unbestreitbarkeit. Das in unserer Handlungen vorausgesetzte Wissen kann also durch strikte Reflexion aus der aktuellen Dialogsituation expliziert und als transzendental gültige Erkenntnis letztbegründet werden. Sowohl dieses performative Handlungswissen als auch seine reflexive Explikation haben einen systematischen Charakter. Im sprachpragmatischen Rahmen der Transzendentalphilosophie der Gegenwart braucht aber die Systemidee nicht mit einem holistischen Begriff verwechselt zu werden, weil jeder Bestandteil unserer Transzendentalerkenntnis auf einer von anderen Bestandteilen unabhängigen sinnkritischen Prüfung beruht, nämlich auf dem Letztbegründungsargument. Um die konstitutive Bedeutung des Systembegriffs im transzendentalpragmatischen Rahmen verstehen zu können, muss eben diese Prüfung selbst strikt reflexiv berücksichtigt werden. Die dritte Schlussfolgerung unserer Erforschung ist: Das auf unserer Argumentationskompetenz immer schon einwirkende Handlungswissen ist kein zufälliges Aggregat von partikularen Voraussetzungen, sondern ein einheitliches, vollständiges und intern artikuliertes System. Diese systematische Artikulation bedeutet nicht nur die formale Konsistenz und die Bedeutungsverknüpfung dieser Voraussetzungen, sondern auch die schon gut bekannte, universal- bzw. transzendentalpragmatische Architektonik von verschiedenen Gültigkeitsansprüchen, zugehörigen Weltbezügen und Einlösungsdimensionen. Die kantischen Spannungen zwischen der theoretischen und praktischen Philosophie und zwischen der Naturerkenntnis und freier Handlung bzw. zwischen Naturreich und Freiheitsreich motivierten die Entwicklung der Systemproblematik im deutschen Idealismus. Im Rahmen der sprachpragmatischen Transformation der Transzendentalphilosophie werden diese Spannungen durch eine neue Auflösung der Freiheitsantinomie gewissermaßen überwunA

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den, weil man nach dieser Transformation klar verstehen kann, dass sowohl der theoretische als auch der praktische Diskurs notwendigerweise moralisch normative Sinn- und Gültigkeitsbedingungen voraussetzen, bzw. dass die Freiheit eine Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis ist. Die vierte Schlussfolgerung der vorliegenden Erforschung ist, dass eine transzendentalpragmatische Auflösung der Freiheitsantinomie im Vergleich zu dem klassischen Auflösungsvorschlag die Bedeutungserweiterung von zwei Begriffen voraussetzt, nämlich des Erfahrungsbegriffs und des Widerspruchsbegriffs. Durch eine strikte Reflexion über unser performatives Handlungswissen kann man einerseits verstehen, dass unsere Erfahrung nicht nur die Subjekt-Objekt-Relation sondern notwendigerweise auch die Subjekt-Subjekt-Relation enthält, bzw. dass die in dieser letzten Relation vorausgesetzte Freiheit eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis und auch des Diskurses im Allgemeinen ist. Andererseits ermöglicht die erwähnte Reflexion zu berücksichtigen, dass es einen Widerspruch nicht nur zwischen Propositionen, sondern auch zwischen dem performativen und dem propositionalen Teil eines Sprechaktes geben kann, und dass der Determinismus auf diese letzte Art eines Widerspruches stößt. Dieser neue bzw. transzendentalpragmatische Auflösungsvorschlag der Freiheitsantinomie hängt nicht, wie der kantische, von einer Kombination einer idealistischen Erkenntnistheorie und der metaphysischen Behauptung eines prinzipiell unerkennbaren Dinges an sich ab. Dieser Vorschlag ist vielmehr nur vereinbar mit einer besonderen Auffassung der Naturwelt, nämlich mit dem sinnkritischen Realismus. Die fünfte Schlussfolgerung der vorliegenden Erforschung ist: Die sinnkritische Widerlegung des Begriffs eines solchen Dinges an sich und die entsprechende Behauptung des in the long run prinzipiell erkennbaren Charakters der Naturrealität sind mit einer besonderen bzw. mehr peirceschen als kantschen Bedeutung der regulativen Ideen vereinbar, nämlich mit der Idee eines letzten Konsenses (ultimate opinion) über diese Realität. Dieser Konsens ist für die Forschungsgemeinschaft prinzipiell erreichbar, obwohl er nicht als faktisch schon erreicht verstanden werden darf. Der sinnkritische Realismus muss den Inhalt dieses durch den Forschungsprozess immer gesuchten Konsenses als etwas verstehen, das von den objektiven Eigenschaften der Naturwelt bestimmt wird. Die sprachpragmatische Transformation der Transzendentalphilosophie führt zu einer Erweiterung ihrer Reichweite. Nach der 358

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sprachpragmatischen Wende ist die Transzendentalphilosophie nicht nur theoretisch sondern auch praktisch, weil es transzendentale Möglichkeitsbedingungen der Argumentation bzw. transzendentalpragmatische Argumentationsvoraussetzungen gibt, die moralisch relevant sind. Diese Voraussetzungen sind moralisch normative Diskursbedingungen, die einerseits immer schon erfüllt werden und andererseits erfüllt werden sollen. Die sechste Schlussfolgerung unserer Erforschung ist: Dieser doppelte Charakter der moralisch normativen Diskursbedingungen kann ohne die metaphysische Behauptung der kantischen Zwei-Welten-Lehre und nur durch die reflexive Anerkennung der doppelten Rolle des menschlichen Akteurs sinnvoll verstanden werden. Unter idealen bzw. rein argumentativen Bedingungen erfüllt der Akteur als Diskurspartner immer schon die erwähnten Bedingungen. Unter nicht idealen Bedingungen soll er sie als lebensweltlich engagierter Akteur hingegen erfüllen. Die konstitutive Idealität dieser Diskursbedingungen darf aber nicht für eine bloß regulative Idealität von etwas gehalten werden, das nur in the long run erfüllt werden kann, weil wir bzw. der Leser und der Verfasser als Diskurspartner diese Bedingungen hier und jetzt erfüllen. Die strikt reflexive Berücksichtigung unserer aktuellen Dialogsituation ermöglicht uns auch, den Wahrhaftigkeitsanspruch, seinen zugehörigen Innenweltbezug und seine Einlösungsdimension als einen besonderen Aspekt unseres performativen Handlungswissens zu verstehen. Die Besonderheit dieses Anspruchs im Vergleich zu den anderen Gültigkeitsansprüchen besteht darin, dass der Sprecher über eine privilegiert zugängliche Perspektive von seiner Innenwelt verfügt. Die siebte Schussfolgerung unserer Erforschung kann folgendermaßen formuliert werden: Die erwähnte Besonderheit verhindert nicht die diskursive Einlösung des Wahrhaftigkeitsanspruchs. Die Möglichkeit dieser Einlösung ist vielmehr eine Bedingung des universalen und rationalen Charakters dieses Anspruchs. In realen bzw. institutionellen Zusammenhängen werden diese Ansprüche sowieso argumentativ eingelöst. Unter idealen bzw. rein argumentativen Bedingungen werden diese Ansprüche hingegen als immer schon eingelöst vorausgesetzt. Man braucht aber nicht auf die Einlösung eines Wahrhaftigkeitsanspruchs zurückzugreifen, um den Überzeugungsbegriff von dem Überredungsbegriff unterscheiden zu können. Wenn nicht das Bewusstsein des Adressaten sondern die vorgebrachten Argumente berücksichtigt werden, kann man überredende Argumente diejenigen nennen, die eine faktische und provisoriA

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sche Zustimmung einer realen und begrenzten Kommunikationsgemeinschaft erreichen, und überzeugende Argumente diejenigen, die eine einmütige und definitive Zustimmung einer idealen und unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft erreichen können müssten. Zuletzt ermöglichte unsere Erforschung die problematische Zusammenstellung des Ästhetischen und des Expressiven in Frage zu stellen und so zu verstehen, dass der dominierende Gültigkeitsanspruch eines Kunstwerks darin besteht, nicht die subjektive Innenwelt der Künstler wahrhaftig bzw. transparent darzustellen, sondern eine ganz besondere Auswahl und Kombination von Zeichen eines prinzipiell öffentlichen Kodes zu schaffen. Die vorliegende Erforschung unseres performativen Handlungswissens und ihre zusammenfassenden Schlussfolgerungen wurden durch diese Arbeit in der Hoffnung dargelegt, dass sie zur Weiterentwicklung des transzendentalpragmatischen Ansatzes beitragen können.

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Personenregister

Adickes, Erick 125 Agassi, Joseph 303 Albert, Hans 72, 134, 188, 195, 220 Allison, Henry E. 255 Almeder, Robert 227 Apel, Karl-Otto 7, 10, 12, 35, 40, 43 f., 46, 50 ff., 56, 72 f., 75 f., 79, 83, 85 ff., 90 f., 94, 96, 99 ff., 106, 108 f., 111, 114, 120 ff., 133 f., 139, 141, 143, 149, 153, 157 ff., 162, 172, 176, 178, 189 ff., 195 ff., 222 ff., 228 f., 231 ff., 239, 241 ff., 249, 257, 261, 264, 273 ff., 277, 279 ff., 284, 286, 289, 292, 294, 319, 330, 331 ff., 337 Augustinus 57 f., 109 Austin, John L. 32, 40, 79, 94, 96 f., 162, 173, 318, 325 f., 328 f., 337 Ayer, Alfred J. 303 Bachmaier, Peter 123 Bader, Franz 117 Barnes, Willam H. F. 223 Bartley, William W. 134 Battistini, Andrea 238 Baumgartner, Hans Michael 29, 162 Baumanns, Peter 71, 127 Bausch, Thomas 283, 341, 345 Bayertz, Kurt 261 Beck, Jakob S. 66 Beck, Lewis White 18, 181, 192 Becker, Werner 67 Beiser, Frederick 22 Bellut, Clemens 71 Berlich, Alfred 43 f. Bittner, Rüdiger 29 Blühdorn, Jürgen 125 Boe, Solveig 95, 225, 232 f. Böhler, Dietrich 7, 12, 40, 43 f., 58, 61, 65, 78 f., 83, 86, 90 f., 106, 109, 122,

176, 185 f., 192, 225, 231 ff., 239, 242 ff., 249, 257, 261, 264, 273, 275, 277, 283, 295, 320 f., 341 f., 344 f. Bosshardt, Hans-Georg 40, 122, 337 Bourdieu, Pierre 85 Bouveresse, Jaques 109 Boyle, Joseph M. 182 Brandom Robert 195, 322 Brandt, Reinhard 127, 254 Braun, Edmund 192 Bubner, Rüdiger 71 Bühler, Karl 159, 346, 348, 350 ff. Burckhart, Holger 79, 101, 262, 264, 275, 330 Caimi, Mario 7, 207, 211 Carnois, Bernard 164, 175 Carr, David 17 Cavell, Stanley 97 Claesges, Ulrich 67 Clark, Peter 233 Collingwood, Robin G. 98 Copi, Irving M. 39 Cotes, Roger 214 Cramer, Konrad 71 Damiani, Alberto Mario 238, 338 Danielzyk, Reiner 348 Davidson, Donald 101, 162, 297, 303, 322 Dearin, Ray D. 38 Descartes, René 65, 87, 117, 214, 320 Dewey, John 230 Dorschel, Andreas 35, 40, 44, 46, 106, 122, 133, 176, 196 f., 273 Dotti, Jorge 7 Einstein, Albert 220 Eschbach, Achim 58, 109 A

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Personenregister Estevez, Julio C. R. 167 Fernández, Graciela 237 Fichte, Johann Gottlieb 15 f., 18 f., 22 ff., 57, 60 f., 66 ff., 81, 83, 85, 94, 98, 110, 121, 125, 132, 253, 257, 274, 293, 296 Foley, Richard 106 Fraser, Alexander Campbell 24, 320 Freeman, Eugene 72, 221, 244 Frege, Gottlob 81, 127, 301 Fromm, Susanne 123 Gadamer, Hans-Georg 10, 98, 322, 337 Galilei, Galileo 213 Gehlen, Arnold 91 Gerhardt, Volker 19 Gethmann, Carl F. 42, 195 Gliwitzky, Hans 23 Golden, James L. 39 Grewendorf, Günther 97 Grice, Paul 107 f., 325 f. Grisez, Germain 182 Gronke, Horst 101, 225, 231, 242, 262, 273, 275, 320 Grundmann, Thomas 104 Günther, Klaus 97, 233 Habermas, Jürgen 12, 34, 40 f., 44, 79, 99, 141, 157 ff., 172, 176, 178, 182, 192, 195, 201, 232 ff., 240, 247, 257, 273, 277, 280, 286, 294, 301, 312 ff., 318, 327 ff., 333, 348 ff., 352 f. Hale, Bob 233 Hammacher, Klaus 67, 71 Hamann, Johann 21 f. Hegel, Georg W. F. 73, 76, 125, 278, 280 Hegselmann, Reiner 42, 195 Heidt, Sarah 333 Heidegger, Martin 10 Heimsoeth, Heinz 127, 164 Henrich, Dieter 71, 254 Herder, Johann G. 21 f. Herz, Marcus 118 Hinske, Norbert 117 Hintikka, Jaakko 32, 101

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Hobbes, Thomas 278, 280 Holenstein, Elmar 350 f. Honneth, Axel 176 Hookway, Christopher 228 Horster, Detlef 257 Hösle, Vittorio 44, 51, 61, 73 f., 77, 94, 132 Humboldt, Wilhelm v. 321 Hume, David 65 Isokrates 319 Ilting, Karl-Heinz 249, 274, 277 ff. Jacobi, Friedrich 66 Jaeger, Friedrich 79 Jakobson, Roman 295, 350 ff. James, Willam 230 Jay, Martin 176 Jermann, Christoph 51 Kalpokas Daniel 237 Kambartel, Friedrich 125 Kanitscheider, Bernulf 337 Kant, Immanuel 14 ff., 18 ff., 24 f., 27 ff., 32, 57, 60, 62 ff., 72 f., 92 ff., 98, 100, 115 ff., 123 ff., 137, 154 f., 161 ff., 172, 176 ff., 183 ff., 188 ff., 191 ff., 199 f., 203, 207, 209 f., 212, 231 f., 237 ff., 241 ff., 248, 250 ff., 282, 285, 293, 296, 301, 320 f. Kappner, Stefan 226 Kaulbach, Friedrich 65 Keil, Geert 94 f., 99 Kelemen, János 19 Kellerwessel, Wulf 274 Kepler, Johannes 213 Kettner, Matthias 7, 35, 44, 86, 106, 158, 176, 197, 225, 232 f., 264, 273, 277, 314 Keul, Klaus 192 Keuth, Herbert 217, 219, 222 Kirchner, Alexander 341 Kirchner, Baldur 341 Klawitter, Jörg 224, 227 Klein, Hans-Dieter 132 Knutzen, Martin 62 Kohlberg, Lawrence 99 König, Peter-Paul 329

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Personenregister Kopernicus, Nikolaus 62 Kopperschmidt, Josef 338 Krings, Hermann 29, 162 Kripke, Saul 107, 299 Krüger, Lorenz 94, 127 Kuhlmann, Wolfgang 7, 12, 40, 43 f., 46 f., 83, 94, 106, 115, 121 f., 132 ff., 142, 147, 151 ff., 172, 176, 182 f., 185 f., 192, 239, 257 f., 260, 262, 273 f., 300 f., 331 f. Lafont, Cristina 233 Lauth, Reinhard 23 Lenk, Hans 90, 127 Leserre, Daniel 18 Liebrucks, Bruno 22 Locke, John 24, 57, 320 Lorenz, Kuno 221, 127, 337 Lorenzen, Paul 337 Löw-Beer, Martin 336 Lueken, Geert-Lueke 81 Luhmann, Niklas 79, 240, 286 Lumer, Christoph 158 Lütterfelds, Wilhelm 72, 257

110, 112, 138 ff., 141, 146, 233, 286, 301 Olbrechts-Tyteca, L. 38, 337 Parente, Diego 237 Parret, Herman 109 Peirce, Charles Sanders 55, 72 f., 105, 110 f., 121, 170 ff., 175, 203, 220 ff., 235 ff., 241, 243 ff., 337 Perelman, Chaim 38 f., 295, 319, 337 f. Piaget, Jean 99 Pilotta, Joseph J. 39 Platon 319 f. Pompa, Leon 7 Popper, Karl R. 202 f., 212 ff., 230, 244 Pothast, Ulrich 182 Pozzo, Riccardo 274, 279 Prauss, Gerold 193 Preyer, Gerhard 196, 264, 329 Price, Huw 94 Puhl, Klaus 143 Putnam, Hilary 153, 178, 229, 233 f., 236, 241 f. Quine, Willard. V. 101

Mach, Ernst 215 Maimon, Salomon 66 Maliandi, Ricardo 7, 260, 279 Malter, Rudolf 20 Markis, Dimitrios 101 Martin, Gottfried 117 f. Mc Carthy, Michael H. 255 Mc Kerrow, Raymie E. 38 Meggle, Georg 91, 158, 314 Meløe, Jakob 78 Misak, Cheryl 224, 226, 228 Molander, Bengt 95, 225, 232 f. Müller-Schöll, U. 71 Murphey, Murray. G. 226, 236 Musgrave, Alan E. 217 Newton, Isaac 213 f. Niquet, Marcel 27, 45 f., 56, 101, 132, 180, 260, 300 Nordenstam, Tore 78

Radnitzky, Gerard 134 Raters, Marie-Luise 178, 229, 236, 241 f. Regland, C. P. 333 Reich, Klaus 127 Reilly, Francis E. 226 Reinhold, Karl Leonhard 66 f., 121, 129, 132 Ricœur, Paul 354 Riedel, Manfred 67, 286 Ritter, Joachim 125 Rohs, Peter 43, 273 f. Rombach, Heinrich 125 Rorty, Richard 10, 43, 195 f., 225, 230, 232, 322 Rossi Landi, Ferrucio 139 Röttges, Heinz 164 Rusche Thomas 283, 341, 345 Ryle, Gilbert 17, 99, 303 f.

Oberer, Hariolf 254 Øfsti, Audun 7, 58, 61, 78 ff., 94, 99,

Sandbothe, Mike 230 Sandkaulen, Birgit 201

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Personenregister Sandkühler, Hans Georg 158 Savigny , Eike v. 138 Schelling, Friedrich W. J. 125, 153 Schlick, Moritz 215 Schnädelbach, Herbert 90 Schönecker, Dieter 255 Schrader, Wolfgang H. 71 Schulze, Gottlob E. L. 66 f. Schurr, Adolf 125 Schwan, Alexander 254 Searle, John R. 32, 40, 79, 96, 99, 104, 107 ff., 173, 325, 337 Seel, Gerhard 254 Siemek, Marek J. 66, 121 Simon, Josef 235 Skagestad, Peter 227, 229 Skirbekk, Gunnar 78, 86, 108, 225, 232 f., 239, 264, 277 Skjervheim, Hans 298 Sokrates 60 Sophokles 355 Speck, Josef 91 Spinoza, Baruch 178 Srzednick, Jan T. J. 192 Stachowiak, Herbert 122, 337 Stegmüller, Wolfgang 18 Steinert, Bernhard 348 Straub, Jürgen 79 Strawson, Peter 27 f., 33 f., 162, 184, 303, 326 Surber, Jere Paul 19, 22 Tarski, Alfred 108 Timmermann, Jens 185 Tollefsen, Olaf 182 Trabant, Jürgen 7, 44, 58, 86, 109, 122, 176, 264 Tugendhat, Ernst 71, 99, 143, 287 f., 300 f., 304

382

Tuschling, Burkhard 131 Ueding, Gert 320 Ulfig, Alexander 196 Ulrich, Peter 99 Vanderveken, Daniel 79 Vico, Giambattista 51, 87, 238 Volz, Fritz Rüdiger 348 Völzing, Paul-Ludwig 90 Wandschneider, Dieter 132 Wartenberg, Gerd 55, 245 Weber, Max 159, 346, 348 Wellmer, Allbrecht 225, 232 f., 286 Wennerberg, Hjalmar 138 Werner, Micha 67, 79, 279 Wessels, Ulla 158, 314 Wiehl, Reiner 71 Wiener, Philip P. 223 Wiggins, David 224 Wild, Christoph 29 Willams, John 106 Willaschek, Marcus 178 Wingert, Lutz 233 Wittgenstein, Ludwig 10, 32, 58, 72, 96, 107 ff., 123, 138 ff., 142 f., 155, 162, 215, 294, 298 ff., 304, 308, 337 Wolff, Michael 127 Wood, Allen W. 166 Wright, Georg H. v. 94 Wunderlich, Dieter 85, 97, 107 Wyller, Truls 99 Young, Frederic H. 223 Zimmermann, Jörg 354 Zynda, Max v. 121

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