Europa - Idee eines Kontinents: Eine kulturphilosophische Erkundung 9783534404445, 9783534404469, 9783534404452

Europa ist durch seine Kultur, Ideenwelt und Lebensweise eine starke Marke. Dennoch stockt der Prozess der europäischen

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German Pages 160 [162] Year 2020

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Table of contents :
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Impressum
Inhalt
Einleitung
Kapitel I – Der besondere Charakter Europas
Kapitel II – Die Modernität als die tektonischePlatte der europäischen Kultur.Der Aspekt der Aufklärung
Kapitel III – Das andere Gesicht der Modernität.Die europäische Personidee
Kapitel IV – Demokratie und Rechtsstaat alsinstitutionelle Übertragungen dereuropäischen Personidee
Kapitel V – Das europäische Ideal in einerwiderständigen Wirklichkeit
Bibliografie
Namenverzeichnis
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Europa - Idee eines Kontinents: Eine kulturphilosophische Erkundung
 9783534404445, 9783534404469, 9783534404452

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Koo van der Wal studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Germanistik in Amsterdam und Göttingen. Professor em. für Philosophie, Erasmus Universität Rotterdam. Publikationen u.a. auf dem Gebiet der politischen, Sozial- und Kulturphilosophie und der Natur- und Umweltphilosophie.

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www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40444-5

Europa – Idee eines Kontinents Koo van der Wal

Europa ist eine starke Marke. Dennoch stockt der europäische Integrationsprozess immer wieder. Das Problem: Die Bürgerinnen und Bürger haben das Gefühl, Europa werde von Bürokraten gelenkt und sie selbst seien vergessen worden. Daher plädiert Koo van der Wal dafür, auf die der europäischen Lebens- und Denkweise zugrunde liegende Geschichte und deren Form von Humanität zurückzugreifen. Diese steht im Zeichen der Entfaltung der Persönlichkeit, wobei alle Menschen ernst genommen werden und Solidarität eine wesentliche Komponente ist. Die Institutionen der Demokratie und des Rechtsstaates fußen auf dieser Humanitätsauffassung.

Koo van der Wal

Europa – Idee eines Kontinents Eine kulturphilosophische Erkundung

Koo van der Wal

Europa – Idee eines Kontinents

Koo van der Wal

Europa – Idee eines Kontinents Eine kulturphilosophische Erkundung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlagsabbildung: Adobe Stock / Mikhail Leonov Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40444-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40446-9 eBook (epub): 978-3-534-40445-2

Wenn es uns (…) nicht gelingt, Europa eine Seele zu geben, es mit einer Spiritualität und einer tieferen Bedeutung zu versehen, werden wir das Spiel verloren haben. Jacques Delors, ehemaliger Vorsitzender der Europäischen Kommission

We have more moral, political and historical wisdom than we know how to reduce into practice. Percy B. Shelley

Pourtant je rendais inconsciemment hommage à l’Europe en la reniant. (Dennoch erwies ich Europa unbewusst Ehre, indem ich es verleugnete.) Edgar Morin

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Inhalt Einleitung......................................................................................................................... 9 Kapitel I Der besondere Charakter Europas.............................................................. 13 Europa, Malaise eines vielversprechenden Projekts?......................................... 13 Mangel eines steuernden Gesellschaftsideals...................................................... 14 Die Verkürzung Europas auf ein „technisch“- bürokratisches Projekt. Das Bedürfnis nach einer begeisternden Betrachtungsweise............................ 16 Die mobilisierende Kraft „großer Geschichten“................................................. 18 Die Bedeutung des europäischen Projekts. Notwendigkeit einer tieferen Verankerung.............................................................................................. 25 Parallele zur Demokratie........................................................................................ 28 Europa als kulturelle Gemeinschaft...................................................................... 32 Nähere Typisierung der europäischen Denk- und Lebensweise...................... 36 Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur. Der Aspekt der Aufklärung............................................................................. 42 Zwei Hauptstränge der europäischen Kultur....................................................... 42 Die Modernität........................................................................................................ 44 Offenheit, Grenzverschiebung, Innovation......................................................... 46 Eine „faustische“, bürgerliche Kultur.................................................................... 48 Säkularisierung und Entzauberung der Wirklichkeit........................................ 53 Beherrschungsdenken............................................................................................ 55 Rationalisierung bzw. Instrumentalisierung und Managerialisierung ........... 58 Instrumentalisierung und Bürokratisierung des europäischen Projekts......... 65 Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee...... 71 Die „Halbierung des Weltbilds“............................................................................ 71 Die europäische Humanitätsauffassung............................................................... 75 Freiheit als konstitutives Element der europäischen Personidee. Altgriechische und moderne Freiheit................................................................... 78 Die Gleichheit der Menschen als Menschen. Der Primat des Menschseins. Kritik des Machtphänomens......................................................... 84 6

Die Menschenrechte............................................................................................... 87 Die Brüderlichkeit als intrinsisches Merkmal der europäischen Humanitätsidee....................................................................................................... 90 Von kollektiver zu individueller Identität. Kritik des atomaren Individuumbegriffs................................................................................................. 94 Rehabilitierung der sozialen Dimension des Menschseins. Die Person als Relationskategorie......................................................................... 98 Implikationen der Intersubjektivitätsidee..........................................................104 Solidarität als Form eines geteilten Daseins......................................................106 Das Rheinländische Unternehmensmodell als Ausdruck des sozialen Gesichts Europas....................................................................................108 Wirkung auf die Eigentumsverhältnisse............................................................111 Formen gemeinschaftlichen Eigentums.............................................................115 Kapitel IV Demokratie und Rechtsstaat als institutionelle Übertragungen der europäischen Personidee.....................................................................................118 Praktische Probleme mit der Demokratie. Die Notwendigkeit neuer Formen der Konsultation und Partizipation der Bürger......................119 Die Demokratie aus europäischer Perspektive. Gestaffelte Identität. Subsidiarität...........................................................................................................126 Der Rechtsstaat......................................................................................................129 Kapitel V Das europäische Ideal in einer widerständigen Wirklichkeit..............138 Die düstere Seite Europas.....................................................................................139 Offenheit als Grundzug des Menschseins..........................................................141 Die problematische Identität des Menschen.....................................................144 Negativer Platonismus..........................................................................................146 Konsequenzen aus der europäischen Geschichte für heute............................152 Bibliografie...................................................................................................................155 Namensverzeichnis.....................................................................................................158

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Einleitung Die Geschichte Europas kennt viele Höhen, aber auch viele Tiefen. Eine dieser Tiefen, eine ganz abgründige, war der Zweite Weltkrieg, als der Kontinent dem Anschein nach an Selbstvernichtung zugrunde ging. Aber wie schon so oft geschehen, richtete sich Europa auch diesmal wieder auf und begann sozusagen sein so und so vieltes Leben. Dazu passte auch die Entwicklung zu einem integrierten Europa, angefangen mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in deren Gefolge die Europäische Union, der Europäische Gerichtshof, die Europäische Zentralbank und eine Reihe anderer supranationaler Einrichtungen entstanden. Obwohl es von Anbeginn nicht an Skepsis gefehlt hat, kann der Anfangsphase dieses europäischen Projekts ein gewisser frischer Elan nicht abgesprochen werden. Das Projekt beabsichtigte ja, nicht nur der langen Kette von Kriegen, die den Kontinent immer wieder heimgesucht haben, ein Ende zu setzen. Es bezweckte obendrein, den Lebensstandard und das Kulturniveau aller Eingesessenen auf ein höheres Niveau zu heben. An diesen Zielen gemessen kann das Projekt Europa leidlich erfolgreich genannt werden. Unser Weltteil hat, außer an den Grenzen, schon mehr als siebzig Jahre keine Kriege mehr gekannt – was besonders bei den jüngeren Bevölkerungsgruppen zu der Überzeugung geführt hat, dies sei die normale Situation. Daneben hat der Integrationsprozess auch zu einem bisher ungekannten Wohlfahrtsniveau geführt. Dennoch sind im Lauf der Zeit bestimmte Kehrseiten des Projekts, die ihm eigentlich von Anfang an angehaftet haben, immer fühlbarer geworden. Der Integrationsprozess ist stets eine Angelegenheit der Regierungen der Nationalstaaten, ihrer Regierungschefs und Minister, geblieben, und spielte sich fern von den Bürgern ab. Er ist auch weitgehend in einem mühsamen Verhandlungsspiel zwischen souveränen Staaten hängen geblieben, die nur widerwillig bereit waren, nach und nach Teile ihres nationalen Selbstbestimmungsrechts supranationalen europäischen Instanzen zu übertragen. Daher die Zähflüssigkeit und relative Machtlosigkeit einer gemeinschaftlichen europäischen Politik. Und sofern die europäischen Bürger etwas von Europa spüren, ist das über höhere Befehle und Regeln einer 9

Einleitung

„Brüsseler“ Bürokratie, die unter der Führung eines Ausschusses steht, der via einer Hinterzimmer-Politik von Geben und Nehmen besetzt wird, dessen Mitglieder mit anderen Worten nicht demokratisch gewählt und legitimiert sind. Es hat auch lange gedauert, bevor es auf europäischer Ebene zu so etwas wie einem mit den notwendigen Zuständigkeiten ausgestatteten Parlament kam, das als kontrollierende Gegenmacht fungieren konnte, ein Prozess übrigens, der noch immer nicht abgeschlossen ist. Es war da noch gar nicht die Rede von der Europäischen Zentralbank, die durch ihr Geldschöpfungs- und Aufkaufprogramm durch die Hintertür, obwohl dazu nicht legitimiert, Politik treibt. Oder von dem unverhältnismäßigen Einfluss, die mächtige Lobbygruppen, der multinationalen Konzerne z. B., in Brüssel haben. Kurzum, es ist ein imposanter europäischer Bau errichtet worden, der jedoch einen fatalen Mangel aufweist, und zwar, dass darin die Bürger vergessen worden sind. Mit der Zeit ist deshalb eine gewisse Sympathie für das europäische Projekt, die man anfänglich als gegeben annehmen kann, zunehmend abgekühlt. Das bedeutet wahrscheinlich nicht, dass eine positive Einstellung in Bezug auf eine Form europäischer Zusammenarbeit bei breiten Schichten der Bevölkerung gänzlich verschwunden ist, wohl aber für diese Art von Integration, also für dieses Europa. Wie könnte ein anderes Europa aussehen, ein Europa, das die Bürger wieder als ihre Angelegenheit erfahren können? Ein Europa, das es fertig brächte, aus dem heutigen Zustand von Lethargie, Stagnation und drohender Desintegration aufzustehen und von einem neuen Elan und einer frischen Energie erfüllt wäre? Die Idee dieses Essays ist, dass wir dazu auf die Geschichte zurückgreifen sollten, die der europäischen Art des Lebens und Denkens zugrunde liegt und sich in einem langen und komplexen Prozess unter Einbeziehung von Elementen verschiedener Quellen herauskristallisiert hat. Wir sollten uns von Neuem auf das Potenzial unserer Tradition besinnen und daraus den Schwung und die Energie einer Reform des europäischen Projekts schöpfen, die unserer fundamentalen Geschichte entspricht. Auf diese Weise könnten wir die (historisch gesehen verständlichen) Webfehler, die dem Projekt von Anfang an angehaftet haben, reparieren, könnten ein Projekt in rein europäischem Sinn entwickeln. Es könnte so wieder Fahrt aufgenommen werden, die wegen aller Pragmatik, die die europäische Politik momentan kennzeichnet, verloren gegangen ist. Politik ist jedoch mehr als Pragmatik, die natürlich auch dazu gehört. Politik braucht eine Vision, eine klare Sicht für die Art von Gesellschaft und die Art des Menschseins, die wir uns wün10

Einleitung

schen. Dazu brauchen wir eine begeisternde Geschichte. Sonst wird alles kühle Sachlichkeit ohne Kompass, doch dafür erwärmen sich die Bürger nicht. Und das ist genau die Situation, in der wir gelandet sind. Verfügen wir über so eine Geschichte? Einflussreich ist die Auffassung, dass große Geschichten nicht mehr zeitgemäß sind. Die These, die ich in diesem Buch verteidige, ist, dass wir in Europa durchaus eine eigene besondere Geschichte besitzen. Wir müssen uns dann nicht durch die vielen mehr an der Oberfläche liegenden Verschiedenheiten in Lebens- und Denkweise auf dem Kontinent in die Irre führen oder imponieren lassen. Wir haben ein gemeinschaftliches Muster des Lebens und Denkens, eine gemeinschaftliche Grundkultur also, die in der Landschaft der Kulturen einzigartig ist. Wir haben in diesem Teil der Welt mit vielem Suchen und Herumtasten eine Form von Menschsein und Zusammenleben entwickelt, mit der wir uns identifizieren, sogar, wenn wir daran fundamentale Kritik üben. Sie durchzieht unsere Wirklichkeit bis in die Kapillargefässe, bildet unsere tiefste Identität und steuert ab diesem basalen Niveau unser Leben und unser Zusammenleben. Wenn wir uns diese Geschichte wieder vor Augen führen und ihre Kraft und Begeisterung erleben, dann könnte sie ein Mittel sein, die Sackgasse, in die wir geraten sind, zu durchbrechen und aus der mentalen Ermüdung herauszufinden. Im Folgenden versuche ich – so gesehen ist es wirklich ein Essay – die Konturen des europäischen Narrativs zu skizzieren. In Kapitel I mache ich die Bedeutung sichtbar, die große Geschichten in entscheidenden Augenblicken der Geschichte gehabt haben. Dies soll den Gedanken unterstützen, dass eine derartige Geschichte uns auch heute weiterhelfen könnte. Die Kapitel II und III enthalten dann in Hauptzügen die moderne europäische Geschichte. In zwei Kapiteln also, da die moderne europäische Kultur eine gespaltene Kultur mit zwei Gesichtern ist. Einerseits ist es die Erfolgsgeschichte einer offenen Gesellschaft, die im Zeichen von Entdeckung, Erweiterung der Grenzen, Innovation und Beherrschung der natürlichen und sozialen Wirklichkeit durch Wissenschaft, Technologie und Ökonomie steht. Dies ist das nach außen gerichtete Gesicht Europas. Will man dem einen Namen zulegen, so kommt der der Aufklärung dafür am meisten in Betracht. Die kühle, distanzierte, in anonymen Termini denkende Betrachtungsweise der Wirklichkeit durch die Aufklärung ist jedoch unzureichend, die ganze europäische Geschichte darzustellen. Europa hat noch ein anderes, persönlicheres Ge11

Einleitung

sicht – man könnte dafür die Romantik als Stichwort benutzen, dann aber als Geisteshaltung und nicht so sehr als historische Bewegung. Als Kerngedanken dieses Teils der europäischen Geschichte habe ich die Idee der Person gewählt: eines Wesens, das ein selbstständiges Aktionszentrum mit eigenen Überzeugungen, einer eigenen Gefühlswelt und einem eigenen Willen bildet, und als solches einen inneren Wert repräsentiert. Unter diesem Aspekt wird Europa durch eine eigene Konzeption von Humanität gekennzeichnet: Was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Aus dieser Personidee gehen, so die These, die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mehr oder weniger direkt hervor. Auf institutionellem Niveau, so im Kapitel IV, überträgt sich dieser Ideenkomplex in die Einrichtungen und Ideen der Demokratie, des Rechtsstaats, der Menschenrechte, der Partizipationsgesellschaft, des Rheinländischen Unternehmensmodells und dergleichen. Auf diese Weise nebeneinandergestellt kann es den Anschein haben, als bestehe zwischen den beiden Aspekten bzw. „Gesichtern“ von Europa ein unüberbrückbarer Gegensatz. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch tatsächlich der Fall. Es gibt jedoch auch Formen von Synergie. Z. B. setzt die Demokratie eine gewisse kritische Einstellung voraus, wie sie von der Aufklärung befürwortet wird. Auch scheint mir die These vertretbar, dass der Tenor der europäischen Geschichte dahin geht, dass letztendlich die (stark hervortretende) äußere Seite Europas von innen heraus gesteuert werden soll. In einem letzten Kapitel erörtere ich eine Reihe von Problemen, die der Fortwirkung der europäischen Geschichte im Weg stehen und leite daraus einige Empfehlungen für eine Reform der heutigen Praxis des europäischen Projekts her.

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Kapitel I Der besondere Charakter Europas Europa, Malaise eines vielversprechenden Projekts? Das Projekt Europa in seiner heutigen Form befindet sich in stürmischen Zeiten. Regelmäßig wird sogar von einer Krise gesprochen. Um nur einige Beispiele zur Illustration herauszugreifen: Im Frühjahr 2016 warnte Martin Schulz, der damalige Vorsitzende des Europaparlaments, vor einer „Implosion“ der Europäischen Union. Und der niederländische Premierminister Rutte verglich Europa einmal mit dem im Niedergang begriffenen Römischen Reich. Europa könnte also durch innere Schwäche und Richtungslosigkeit zusammenbrechen. Und dass es nicht bei beschwörenden Warnungen bleiben würde, sondern Desintegrationsphänomene auch ein reales Risiko bildeten, bewies die Entscheidung Großbritanniens, die EU zu verlassen. Ähnliche Stimmen vernimmt man übrigens auch in anderen europäischen Ländern, auch in den Niederlanden. In der Tat zeigt das Projekt Europa in seiner heutigen Form – es ist dann die Rede von der EU, von „Brüssel“, vom Europarat, von der EZB und anderen europäischen Institutionen – Zeichen von Stagnation und Desintegration. Es kommt, gelinde gesagt, bei großen Gruppen von Bürgern in verschiedenen europäischen Ländern immer weniger an, weil ohne sie über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen getroffen werden, weil Europa Züge eines bürokratischen Molochs angenommen hat, der sie überrollt. Und es steht im Zeichen eines Umherirrens von einem praktischen Problem, wofür eine Lösung gefunden werden muss, zum anderen, wobei ein steuerndes Gesellschaftsideal kaum noch eine Rolle spielt. So sagte z. B. der niederländische Premier Rutte beim Antritt des Vorsitzes der Union durch die Niederlande, dass in jener Periode von niederländischer Seite keine Vision oder Weitsicht zu erwarten seien, sondern dass alle Aufmerksamkeit auf die Lösung konkreter Probleme gerichtet sein würde. 13

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

Mangel eines steuernden Gesellschaftsideals Meiner Ansicht nach ist das ein Zeichen von Schwäche. Hat Politik als gerichtete Ordnung des Zusammenlebens doch zwei Dimensionen, eine „technische“ (in der breiten Bedeutung des Findens der richtigen Mittel und Strategien zum Erreichen gegebener Ziele) und eine „politische“ im engeren Sinn des Wortes. Was ersteren Aspekt betrifft: Wir wissen dann mehr oder weniger genau, was wir wollen, in welcher Hinsicht die gegebene Situation an unsere Wünsche angepasst werden soll. Beim zweiten Aspekt jedoch geht es um die Wünsche, Ziele und Prioritäten selbst, die nicht einfach gegeben sind, sondern ermittelt, artikuliert und dargestellt werden müssen (auch, aber gewiss nicht nur im Licht der vorhandenen Möglichkeiten). Wünsche, Ziele und Prioritäten sind, anders gesagt, keine Naturdinge, die mittels einfacher Betrachtung, sondern nur in artikulierter Form über einen Prozess der Selbstbesinnung erkennbar sind. Das setzt einen Bezugs- und Bedeutungsrahmen voraus, durch den eine Gemeinschaft ihre Sicht der Dinge und im Zusammenhang damit ihre Ansichten zum Ausdruck bringt, was im Leben gut und wünschenswert ist. Entscheidend ist nun, dass Politik im „technischen“ Sinn als Problemlösungshandeln so ein Bedeutungsschema, in dem unsere Wirklichkeitsdefinitionen und normativen Auffassungen enthalten sind, voraussetzt. Einige Beispiele: Wenn es sich um Änderungen des Gesundheitswesens handelt, oder um die Erweiterung der Befugnisse der Polizei bei der Kriminalitätsbekämpfung, oder um den Ausbau eines Flughafens im Hinblick auf die damit verbundene Umweltverschmutzung, oder um die Frage, ob bestimmte politische Parteien, die nach Ansicht der Mehrheit der Bevölkerung verwerfliche (z. B. rassistische) Auffassungen vertreten, verboten werden sollen, immer handelt es sich dabei um Fragen, die allein auf pragmatischem Weg nicht befriedigend zu lösen sind. Ohne grundlegende Ideen in Bezug auf die gesellschaftliche Solidarität (im Fall des Gesundheitswesens), auf die Rolle der Obrigkeit (die Zuständigkeit der Polizei), auf die Gründe und das Gewicht des Naturschutzes (Ausbau des Flughafens) und die Bedeutung der Demokratie (eventuelles Verbot politischer Parteien) werden solche Diskussionen richtungslos und chaotisch. Selbstverständlich braucht nicht jedes politische Problem prinzipiell vertieft zu werden. Aber eine Konzeption von Menschsein und Zusammenle14

Mangel eines steuernden Gesellschaftsideals

ben wird im Hintergrund praktischer Entscheidungsprozesse doch da sein müssen, wenn man nicht richtungslos von einer Ad-hoc-Lösung zur anderen wechseln will. Regelmäßig wird man darauf zur Verdeutlichung zurückgreifen, d. h. sich von Neuem auf seine prinzipiellen Ausgangspunkte besinnen müssen. Hier liegt meiner Ansicht nach die Crux der heutigen Europaproblematik. Diese wird nicht durch eine pragmatisch-„technische“ Annäherung an konkrete Probleme gelöst, wie notwendig das auch sein mag. Wenn am 22. August 2016 die Regierungschefs von Deutschland, Frankreich und Italien, Merkel, Hollande und Renzi, eine Minikonferenz über die Zukunft Europas abhalten und sie „ein Kapitel für die Zukunft“ schreiben wollen, um die Worte des italienischen Premierministers und Gastgebers zu verwenden, und sie dann als ihre Prioritäten die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das Wachstum der Ökonomie, Sicherheit und Überwachung der Außengrenzen von Europa nennen, dann bleiben sie damit in der Sphäre „technischer“ Maßnahmen. Auf diese Weise wird das tiefer liegende Problem der mentalen Ermüdung Europas nicht gelöst. Ähnliches gilt für Ideen wie die des Europas der Regionen von Ulrike Guérot1, in der die nationalen Staaten als die Instanzen bezeichnet werden, die für das Dysfunktionieren der EU verantwortlich sind. Die Lösung wäre also, die Nationalstaaten zu eliminieren und zu den organisch, von unten her gewachsenen Regionen zurückzukehren. Wie sympathisch dieser Gedankengang auch anmutet – die Identifikation der Bürger mit ihren Regionen ist unverkennbar, weil sie „ein Herz dafür“ haben –, es löst das europäische Problem nicht. Abgesehen davon, dass es das Verhältnis von Europa zu den Nationalstaaten nun nach dem Verhältnis von Europa zu den Regionen verschiebt, bietet es nur eine politisch-organisatorische Lösung für ein Problem an, das auf einer tieferen Ebene liegt. Auch die Szenarien für die Richtung, in die das europäische Projekt sich entwickeln könnte, die der Vorsitzende der Europäischen Kommission Juncker noch jüngst vorgelegt hat, liegen auf der gleichen Ebene.

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Ulrike Guérot, Warum Europa eine Republik werden muss. Eine politische Utopie, Dietz, Bonn 20162. 15

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

Die Verkürzung Europas auf ein „technisch“bürokratisches Projekt. Das Bedürfnis nach einer begeisternden Betrachtungsweise Obige Annäherungsweisen an die Malaise des europäischen Projekts bestätigen die Tatsache, dass das Projekt in seiner heutigen Form eine „technische“ Angelegenheit geworden ist, wobei es um die sachliche Implementierung eines Modells geht und dessen ideelle und normative Ausgangspunkte der Vergessenheit anheimgefallen sind. Wie schon mehrmals bemerkt: Europa hat seine Seele verloren. Wir wissen nicht mehr, wozu wir, wenn es darauf ankommt, stehen (im Fall der Flüchtlingsproblematik z. B.) und reihen nur noch pragmatische Lösungen aneinander. Aber für organisatorische Strukturen und Maßnahmen (auf ökonomischem, juristischem usw. Gebiet), für Bürokratien und ihre kühl-sachliche Handlungs- und Denkweise begeistern sich die Leute nicht. Wenn alles nackte Alltäglichkeit ohne Vision geworden ist und Menschen dazu auch noch Opfer bringen müssen, kein Wunder, dass es zu brodeln anfängt. Dass dann, um die Worte des niederländischen Autors Geert Mak zu verwenden, bei breiten Schichten der Bevölkerung über den ganzen Kontinent verbreitet, ein „Moorbrand“ an Misstrauen gegen die europäischen Magistrate (auch gegen die eigenen Politiker übrigens) entsteht. Allerorts nehmen wir einen Aufstand der Bürger gegen das politische Establishment wahr, weil dieses zwar damit beschäftigt ist, hunderte praktische Dinge zu regeln, aber im Großen und Ganzen fantasielos agiert. In einer Engpass-Situation – und wer wird abstreiten, dass das Europaprojekt zurzeit in einer Sackgasse steckt –, in der immer wieder die gleichen Handlungsmuster angewendet werden, die jedoch nicht mehr wirken (siehe z. B. die fruchtlosen Maßnahmen der EZB, um die Ökonomie anzukurbeln und die Inflation zu fördern), in einer solchen Situation wird nur eine neue Sicht der Dinge, die den politischen und gesellschaftlichen Prozess mit einem neuen Schwung versieht, für einen Durchbruch sorgen können. Dieser Zustand betrifft keinesfalls nur die Politik. Auch Wissenschaft, Literatur, Kunst, Ökonomie u. a. sind mit ähnlichen Sackgassen bekannt. Zum Beispiel kann eine wissenschaftliche Disziplin eine Zeit lang gute Erfolge verzeichnen mittels eines von der ganzen Berufsgruppe auf dem betreffenden Ge16

Die Verkürzung Europas auf ein „technisch“- bürokratisches Projekt.

biet verwendeten Modell – Thomas Kuhn hat dafür die Bezeichnung „normal science“ eingeführt. Früher oder später stößt man im fraglichen Fachbereich aber auf Phänomene, die sich für die gängige Methode und Denkungsart unzugänglich zeigen. So ließen sich im 19.  Jahrhundert allen Versuchen zum Trotz die thermodynamischen und elektromagnetischen Phänomene nicht in das mechanistische Modell der damaligen Naturwissenschaft einpassen, und anscheinend ist momentan im medizinischen Bereich etwas Ähnliches der Fall, wo psychosoziale Faktoren bei der Verursachung von Gesundheitsbeschwerden nur schwerlich in das naturwissenschaftliche Modell der regulären Medizin einzuordnen sind. Da hilft nur eine mehr oder weniger radikale andere Art des Denkens, d.  h. eine neue Auffassung des Forschungsobjekts mit einer dazugehörigen neuen Forschungsmethode. Ebenso sind literarische Perioden durch ein bestimmtes Paradigma gekennzeichnet, durch eine dominante Art und Weise, Gedichte, Romane und Theaterstücke zu schreiben. Aber auch dort funktioniert das „Modell“ irgendwann nicht mehr, wenn seine Ressourcen erkundet sind, es seinen Reiz verloren hat und ein Bedürfnis nach neuen Ausdrucksweisen entsteht, die neue Formen von Erfahrung ermöglichen. Das gilt auch für die Musik, die Malerei, die Architektur und die Bildende Kunst. Und in der Ökonomie liegen die Dinge nicht anders. Auch dort lösen sich verschiedene Ansichten des ökonomischen Prozesses mit den zugehörigen Methoden ab. Auch dort haben wir hin und wieder mit Phänomenen zu tun, die die dominante Theorie nicht in den Griff bekommt und die uns zu einer anderen Sicht und Annäherungsweise im Fachbereich zwingen. Auch im Bereich der Ökonomie bedarf es nach der finanziellen Krise eines Paradigmenwechsels oder, wie auch gesagt wird, einer Neuerfindung der ökonomischen Wissenschaft. Zurück zum Thema Europa: Die Malaise, die wir im Hinblick auf das europäische Projekt wahrnehmen und die Erfahrung, dass auch dort die gängigen Mittel stumpf geworden sind, machen klar, dass nur eine neue Idee, die eine neue Annäherung an die Dinge ermöglicht und neue Energien auslöst, helfen kann. Soll sich das Projekt Europa nicht definitiv festfahren, bedarf es einer beschwingenden Vision bzw. einer begeisternden Geschichte.

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Kapitel I Der besondere Charakter Europas

Die mobilisierende Kraft „großer Geschichten“ Wir brauchen also eine neue große Geschichte? Ist vonseiten der sogenannten Dekonstruktivisten nicht das Ende der großen Geschichten proklamiert worden? Sie seien nicht mehr zeitgemäß und in dieser kritischen Zeit auch nicht mehr glaubwürdig, sie würden Ausschließungsmechanismen (von Gruppen von Menschen, von Kulturen und weltanschaulichen und politischen Strömungen) implizieren, usw. Das stimmt vielleicht in vielen Fällen. Bestimmte Formen von Ausschließung, z. B. zum Schutz des Eigentums oder bei der Bestrafung krimineller Handlungen, sind für ein geordnetes Zusammenleben jedoch unentbehrlich. Sie alle mit einem Tabu zu belegen, weil gewisse Formen tadelnswert sind, ähnelt der Maxime, wie in einer Diskussion mal bemerkt wurde, alle Formen von Migräne mit der Guillotine als dem sichersten Mittel gegen Kopfschmerzen zu bekämpfen. Genauso unglaubwürdig ist es dann, einen allgemeinen Boykott über alle großen Geschichten zu verhängen, weil manche (oder sogar eine beträchtliche Anzahl) problematisch sind. Gegner der großen Geschichten weisen oft daraufhin, dass sie einen Qualitätsunterschied zwischen Kulturen, Gesellschaften, politischen Systemen und dergleichen implizieren. Gewiss ist diese Frage des Wertes oder Wertunterschieds von Kulturen eine heikle Sache. Aber die Leugnung jedes Unterschieds hat nicht weniger bedenkliche Konsequenzen. Es würde bedeuten, dass alles: Kulturen, Religionen, Weltanschauungen, politische Systeme, wissenschaftliche Positionen, gleichwertig wären. Aber deklassiert sich eine faschistische Rassentheorie nicht zutiefst wegen solcher gräulichen Konsequenzen wie den Holocaust? Deklassiert sich eine Kastengesellschaft nicht wegen der inhumanen Behandlung von Kastenlosen oder „Unberührbaren“? Wie ist das mit Gesellschaften, in denen Frauen kaum Rechte besitzen und z.  B. als Witwe zusammen mit ihrem gestorbenen Ehegatten verbrannt werden können? Deklassiert sich eine Religion wie die der Tolteken und Azteken nicht wegen des Kultus eines Gottes wie Quetzalcoatl, „perhaps the most bloodthirsty deity in the history of human religions“2? Und zwar wegen der Überzeugung, die Götter müssten regelmäßig mit Blut lebendig geopferter Menschen genährt werden, ansonsten würde das Universum zusammenfallen. Um diesem 2

Peter Berger, Pyramids of Sacrifice. Political Ethics and Social Change. Penguin, New York 1977, 18. 18

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Bedürfnis zu genügen, zogen die Azteken plündernd durchs Land, auf der Suche nach Opfern (schätzungsweise circa 10 000 allein schon auf der Opferstelle Tenochtitlan). Und man denke an all jene Beweise kannibalischer Praktiken, z. B. aus der Späten Steinzeit in Frankreich, wo Menschen wie Tiere geschlachtet wurden. Obendrein, wenn alle Geschichten gleichwertig wären, wären sie dann nicht gleich „wahr“ oder „unwahr“. Ein solcher Wahrheits- oder Kulturrelativismus ist das zynische Ergebnis der These vom Ende der großen Geschichten, beschädigt sich aber als „méta-récit“ auch selbst. Zugegeben: Große Geschichten haben, historisch gesehen, nicht selten zu katastrophalen Zuständen geführt. Aber es gibt auch das Gegenteilige: eine positive Wirkung. Was eine richtunggebende Geschichte bedeuten kann, geht aus einem Vergleich zwischen zwei Eruptionen gesellschaftlicher Unzufriedenheit hervor, nämlich den in ganz Europa herrschenden Bauernaufständen in der Übergangszeit vom Spätmittelalter zur frühmodernen Zeit, und der Erstürmung der Bastille im Jahr 1789 in Paris. Im 14. bis 16. Jahrhundert brechen an vielen Orten in Zentral- und West-Europa Bauernaufstände aus aufgrund stets höherer Steuern und schwererer Frondienste, die ihnen von einem oft verarmenden Adel auferlegt werden. In diesen Volksaufständen gegen Unterdrückung und Erpressung schwingen aber auch Ideen einer Kritik des ungerechten Charakters der feudalen Gesellschaft mit: Worauf gründet denn der Adel seine Ansprüche? Er kommt in der ursprünglichen Schöpfungsordnung doch gar nicht vor, sondern ist ein Produkt späterer Machtpraktiken und deshalb illegitim. Das kommt in dem in vielen Ländern und Sprachen kursierenden Spruch zum Ausdruck: „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“

Alle Menschen sind gleich und mit gleichen Rechten geschaffen worden. Die feudale Gesellschaft ruht also auf einer falschen Grundlage. Aber es ist ein großer Schritt von einer solchen intuitiven Vorstellung zu einem weiter ausgearbeiteten Konzept einer gerechten anderen Sozialordnung. Und so ein richtungweisendes Konzept fehlte bei den Bauernaufständen. Deshalb blieb es bei chaotischen Ausbrüchen sozialer Unzufriedenheit. Auch wegen der mangelhaften Organisation 19

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

des Widerstands, aber doch besonders durch das Fehlen eines auch nur vagen Konzepts einer postfeudalen Gesellschaft, ließen die Aufstände innerhalb kurzer Zeit ohne sichtbare Folgen nach. Wie anders entwickelten sich die Ereignisse in Frankreich im Revolutionsjahr 1789. Auch da fing es mit einem ungeordneten Volksaufruhr, der Erstürmung der Bastille, an. Nur lag da schon ein Profil einer postfeudalen Gesellschaft bereit, ausgedacht in zwei Jahrhunderten moderner politischer Philosophie. Dadurch wurde die Französische Revolution das bahnbrechende historische Geschehen, das sie geworden ist und nicht gewesen wäre ohne die neuen Ideen über Menschsein, Staat und Recht, die wir mit ihr assoziieren. Ideen, die im Besonderen von den Aufklärungsphilosophen entwickelt worden sind und die programmatisch ihren Niederschlag in der Devise der Revolution „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ und in der Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers gefunden haben. Das Bewusstsein der Wichtigkeit davon geht schon daraus hervor, dass die erste Tat der neuen Assemblée Nationale die Verkündung jener Erklärung war. Damit zeigte sie an, was die Grundlagen der neuen Gesellschaftsordnung seien. Durch jene ideelle Komponente markiert die Französische Revolution das Ende einer Gesellschaftsform, der des sogenannten Ancien Régime. Ohne dieses philosophische Moment wäre es bei einem Zwischenfall in der Geschichte geblieben, der auch bald wieder durch andere Geschehnisse überlagert worden wäre ohne viele Spuren zu hinterlassen, wie es mit den Bauernaufständen der Fall gewesen ist. Um Missverständnisse zu vermeiden: Hier soll keine idealistische Geschichtsphilosophie verteidigt werden, als würden einzig ideelle Faktoren den Lauf der Geschichte bestimmen. Aber ideelle Faktoren sind von Belang, eine richtungweisende und inspirierende Geschichte, besonders in entscheidenden, kritischen Momenten, ist von wesentlicher Bedeutung. Die Geschichte liefert davon schöne Beispiele. In solchen kritischen Augenblicken sind im Lauf der Zeit Reden gehalten und Proklamationen verkündet worden, in denen klar und überzeugend formuliert wurde, was auf dem Spiel stand, was es zu verteidigen (oder eventuell zu verlieren) gab. Durch so eine beschwingende Geschichte sollte den Angesprochenen eine Perspektive geboten werden, und sie sollten für die gute Sache mobilisiert werden. Ein schönes Beispiel ist die uns vom griechischen Historiker Thukydides überlieferte Rede, die Perikles, der Führer Athens, im Jahr 430 v. Chr. zum Andenken der Gefallenen im Krieg gegen Sparta hielt. Denn was für eine Sache kann das 20

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sein, die es wert ist, dafür Menschenleben zu opfern? Nun, in dieser Rede schildert er auf eindrucksvolle Weise das Gesellschaftsideal der athenischen Demokratie, die, das ist selbstverständlich der Tenor der Rede, es tatsächlich wert ist, dafür Menschenleben aufs Spiel zu setzen. Einige Zitate: „Die Verfassung, nach der wir leben, vergleicht sich mit keiner der Fremden; vielmehr sind wir für sonst jemand ein Vorbild als Nachahmer Anderer. Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft. Nach dem Gesetz haben in den Streitigkeiten der Bürger alle ihr gleiches Teil, der Geltung nach aber hat im öffentlichen Wesen den Vorzug, wer sich irgendwie Ansehen erworben hat, nicht nach irgendeiner Zugehörigkeit, sondern nach seinen Verdiensten. Und ebenso wird keiner aus Armut, wenn er für die Stadt etwas leisten könnte, durch die Unscheinbarkeit seines Namens gehindert. Sondern frei leben wir miteinander im Staat und im gegenseitigen Verdächtigen des alltäglichen Treibens, ohne dem lieben Nachbarn zu grollen, wenn er einmal seiner Laune lebt, und ohne jenes Ärgernis zu nehmen, das zwar keine Strafe, aber doch kränkend anzusehen ist. Bei so viel Nachsicht im Umgang von Mensch zu Mensch erlauben wir uns doch im Staat, schon aus Furcht, keine Rechtsverletzung, im Gehorsam gegen die jährlichen Beamten und gegen die Gesetze, vornehmlich die, welche zu Nutz und Frommen derjenigen, die Unrecht leiden, bestehen, wie auch gegen die sei es auch ungeschriebenen Gebräuche, deren Verletzung durch die öffentliche Meinung mit Schande gebrandmarkt wird. (…) Unsere Stadt verwehren wir keinem. (…) Wir lieben das Schöne und bleiben schlicht, wir lieben den Geist und werden nicht schlaff. Reichtum dient bei uns der wirksamen Tat, nicht dem prahlenden Wort, und Armut einzugestehen ist keinem schimpflich, ihr nicht tätig zu entgehen, schimpflicher. Wir vereinigen in uns zugleich die Sorge um unser Haus und unsere Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heißt einer, der daran gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter (!), und nur wir entscheiden in den Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch. Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber da21

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

rin, sich nicht durch Reden zuerst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet. (…) Zusammenfassend sage ich, dass insgesamt unsere Stadt die Schule von Hellas sei, und im Einzelnen, wie mich dünkt, derselbe Mensch bei uns wohl am Vielseitigsten mit Anmut und gewandt sich am Ehesten in jeder Lage genügen kann.“3

Kurzum, Bürger von Athen, dies ist unsere Geschichte, die Geschichte einer Lebensweise, die es wert ist, dazu zu stehen und eventuell dafür Opfer an Menschenleben zu bringen. Ich habe diese Rede etwas ausführlicher zitiert, weil sie nicht nur ein schönes Beispiel einer begeisternden Geschichte in einer kritischen Situation ist, sondern weil hier auch frühe Konturen des europäischen Geistes sichtbar werden. Ein anderes Beispiel einer solchen Geschichte ist die kurze (266 Worte), aber eindringliche Ansprache, die Präsident Lincoln 1863 während des amerikanischen Bürgerkriegs auf der Begräbnisstätte Gettysburg hielt. Wiederum ist der Anlass die Ehrung des Andenkens von Gefallenen in einem Krieg, jetzt sogar gegen Landsleute. Dafür muss es aber einen ganz guten Grund geben. Und wieder folgt eine Darstellung des höheren Ziels, des Gesellschaftsideals eines für jedermann freien Landes ohne Sklaverei, das auch in diesem Fall das Opfer von Menschenleben rechtfertigt. In dieser Ansprache gab Lincoln die berühmte Umschreibung der Demokratie als Regierung des Volks, durch das Volk und für das Volk. Lincolns Ansprache ist charakterisiert worden als „words that remade America“, und Generationen von Kindern haben sie in der Schule auswendig gelernt. Auch hier wird die Bedeutung einer Geschichte offenkundig. Und wer dächte in diesem Zusammenhang nicht an Martin Luther Kings Rede „I have a dream“, in der er das für den schwarzen Teil des Volks leuchtende Zukunftsbild einer friedlichen Koexistenz und gleicher Chancen für Schwarz und Weiß entfaltet. Es könnten noch viele derartige Beispiele genannt werden, in denen ein Ideal von Menschsein und Zusammenleben dargestellt wird, wie dem „ewigen Bund der Waldstätte“, der Erklärung, mit der eine Anzahl schweizerischer Kantone sich im August 1291 vom Kaiser lossagte, und in der sie sich gegen jede Art gewalttätiger Unterdrückung, Erniedrigung, Antasten von Leib und Gut und korrupter 3

Thukydides, Gefallenenrede, Historien II, 40ff. Übersetzung von Karen Piepenbrink, Fachtag Geschichte 2015 (mit kleinen Änderungen). 22

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Rechtspflege wenden. Ein weiteres Beispiel ist die Unabhängigkeitserklärung der Niederlande vom 26. Juli 1581, die mit dem Fanfarenstoß beginnt: „Ein Volk ist nicht wegen des Fürsten, sondern ein Fürst um des Volkes willen geschaffen“. Die Erklärung fährt dann fort: „Er ist dazu da, dass er seine Untertanen nach Recht und Billigkeit regiere und sie liebe wie ein Vater seine Kinder, dass er treu walte, wie ein Hirt über seine Herde. Behandelt er sie nicht so, sondern nur wie Sklaven, dann hört er auf, ein Fürst zu sein, und ist ein Tyrann. Die Untertanen haben das Recht, nach gesetzlichem Beschluss ihrer Vertreter, der Stände, wenn kein anderes Mittel mehr übrig ist und sie durch keine Vorstellung ihrer Not irgendwelche Versicherung der Freiheit für Leib und Gut, für Weib und Kind von dem Tyrannen erlangen können, diesen zu verlassen.“4

Das gleiche Freiheitspathos und Bewusstsein des Eigenwerts einer selbstbewussten Bürgerschaft kommt uns aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und den Bills of Rights von Juni/​Juli 1776 entgegen, als sich die amerikanischen Staaten von England lossagten und sie, wiederum in einem entscheidenden Moment, formulierten, für welche Art von Gesellschaft sie den Kampf aufnahmen. Ich habe oben schon die französische Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers von 1789 genannt, die in der gleichen Tonart steht. Und man kann an Präsident Roosevelts Ansprache an den Kongress vom 6. Januar 1942 denken (also wiederum in einem entscheidenden Moment) über die vier Freiheiten, die die Grundlage einer freien Gesellschaft bilden und es wert sind, zu ihrer Verteidigung einen Krieg zu führen. Oder an die Charta 77, gleichfalls ein Programm für eine freie Gesellschaft und gegen ein tyrannisches Regime. Es sind ebenso viele Beispiele von Geschichten, in denen eine Vision einer Art von Menschsein und Zusammenleben dargelegt wird, an der Menschen sich aufrichten und die sie anregt, sich dafür einzusetzen, nötigenfalls (und oft wahrscheinlich) um den Preis von Gefangenschaft oder Opfern von Menschenleben. Ich möchte noch ein Beispiel einer solchen Geschichte nennen – eigentlich kann man es kaum eine Geschichte nennen, aber sie steckt implizit drin und

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In: Janko Muselin (Hg.), Proklamationen der Freiheit, Fischer, Frankfurt a. M. 1959, 31. 23

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

scheint da hindurch –, und zwar den „Aufruf an alle Deutschen!“ der Geschwister-Scholl-Gruppe aus München von 1943, als schon deutlich war, dass Deutschland den Krieg verlieren wird. Wiederum so ein entscheidender Moment der Besinnung, wie es weitergehen soll. In diesem Flugblatt wird mit groben Pinselstrichen das Bild eines anderen Deutschlands skizziert, für das sich zu entscheiden alle Deutschen aufgerufen werden. Aber nicht nur das, dieses Bild wird, für das Thema dieses Buchs von Belang, auf ganz Europa ausgeweitet. Ich zitiere: „Was lehrt uns der Ausgang dieses Krieges, der nie ein nationaler war? Der imperialistische Machtgedanke muss, von welcher Seite er auch kommen möge, für allezeit unschädlich gemacht werden. Ein einseitiger preußischer Militarismus darf nie mehr zur Macht gelangen. Nur in großzügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf dem ein neuer Aufbau möglich sein wird. Jede zentralistische Gewalt, wie sie der preußische Staat in Deutschland und Europa auszuüben versucht hat, muss im Keime erstickt werden. Das kommende Deutschland kann nur föderalistisch sein. Nur eine gesunde föderalistische Staatsordnung vermag heute noch das geschwächte Europa mit neuem Leben zu erfüllen. Die Arbeiterschaft muss durch einen vernünftigen Sozialismus aus ihrem Zustand niedrigster Sklaverei befreit werden. Das Truggebilde einer autarken Wirtschaft muss in Europa verschwinden. Jedes Volk, jeder einzelne hat ein Recht auf die Güter der Welt! Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten, das sind die Grundlagen des neuen Europas.“5

In all diesen Fällen, und es könnte noch eine ganze Reihe anderer hinzugefügt werden, wird eine Vision einer Art von Leben und Zusammenleben vorgestellt, die in Krisenzeiten Menschen Aussicht und Halt bietet und bei ihnen die Bereitschaft weckt, sich für die Realisierung jener Vision einzusetzen. Geschichten, größere oder kleinere, können also, wie gesagt besonders unter kritischen Um-

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Muselin, a.a.O., 145. 24

Die Bedeutung des europäischen Projekts. Notwendigkeit einer tieferen Verankerung

ständen, durchaus eine positive Wirkung haben. Mehr noch: Sie sind unentbehrlich, um in jenen Situationen Kräfte in Menschen zu entfalten und sie zu Taten zu bringen, sie sozusagen über sich hinauszuheben, was ohne beflügelnde Geschichten nicht der Fall sein würde. Die Frage ist dann: Könnte in der heutigen Situation Europas eine derartige Geschichte auch Abhilfe bieten? Könnte es sein, dass jetzt, wo das Projekt Europa stagniert, dies zu einem nicht unwichtigen Teil dem Fehlen einer begeisternden Vision und Weltsicht zuzuschreiben ist? Könnte die These vom Ende der großen Geschichten Symptom einer Ermattung sein, die unser einst so kreatives Europa befallen hat? Und müsste die hektische Betriebsamkeit nicht als ein oberflächliches Kompensationsphänomen betrachtet werden? Anders gesagt: Kann es sein, dass das europäische Projekt im Lauf der Zeit seine ursprüngliche Inspiration bzw. seine „Seele“ verloren hat? Meiner Ansicht nach kann die Antwort auf diese Fragen nicht anders als mit einem Ja beantwortet werden.

Die Bedeutung des europäischen Projekts. Notwendigkeit einer tieferen Verankerung Wenn wir uns auf die Suche nach der „Seele“ Europas machen, um dem, wie wir hoffen, einen frischen Impuls für das Projekt Europa zu entlehnen, dann müssen wir uns zuerst die Frage stellen, warum wir uns so sehr für das Projekt interessieren. Würde etwas Wesentliches verloren gehen, wenn das Projekt einen sanften (aber möglicherweise nicht ganz geräuschlosen) Tod sterben würde? Es können mehrere Gründe angegeben werden, warum das Scheitern des Projekts eine Katastrophe wäre. Zuerst gibt es dafür einen ziemlich einfachen praktischen Grund. Die weltweit konkurrierenden großen ökonomischen Blöcke (Vereinigte Staaten, Japan, China, Brasilien, Indien u. a.), kombiniert mit fortgeschrittenen Technologien wie ICT, die sich um nationale Grenzen eher wenig kümmern (man denke an das über die ganze Welt schwirrende Blitzkapital) und andere grenzüberschreitende Probleme in den Bereichen Umwelt und Sicherheit, verursachen, dass ein Festhalten an der traditionellen europäischen Nationalpolitik aussichtslos ist. Sogar ein star25

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

kes Land wie Deutschland wäre nicht imstande, sich aus eigener Kraft in diesem rauen Wind zu behaupten, geschweige denn kleinere oder schwächere Länder wie die Niederlande, Italien, Portugal usw. Es gibt keine Alternative für Europa, als ein gemeinschaftlicher Verbund von Ländern inmitten anderer großer Blöcke zu sein. Das ist die pure Notwendigkeit. Man akzeptiert das, aber wie das mit solchen Argumenten (Notwendigkeit und Berechnung) im Allgemeinen geht, nicht von Herzen. Wenn dies der Grund der europäischen Zusammenarbeit ist, wie nicht wenige denken, bleibt es eine auf wackligem Boden ruhende Sache. Die Bürger Europas werden sich damit nur reserviert verbunden fühlen, sie werden Europa nicht von innen heraus gewogen sein und werden sich kaum als Europäer fühlen. Ebenso pragmatisch ist ein anderes Argument zugunsten einer europäischen Integration: Die Europäische Union ist bekanntlich aus der früheren Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl hervorgegangen, die 1951 von sechs Ländern gegründet wurde, und zwar Frankreich, Deutschland, Italien und den Benelux-Ländern Belgien, den Niederlanden und Luxemburg. Die Idee dahinter war, nach drei europäischen Kriegen innerhalb von 80 Jahren, den beiden verheerenden Weltkriegen und dem früheren deutsch-französischen bewaffneten Konflikt von 1870 (Deutschland war in allen drei Fällen der Hauptaggressor), einen dauerhaften Frieden in Europa zu sichern, indem man Deutschland in ein Netz internationaler Zusammenarbeit integrierte. Dies geschah auf der Grundlage der bekannten Friedenstheorie, dass Länder, die enge ökonomische Beziehungen miteinander unterhalten, kaum zu Kriegshandlungen gegeneinander bereit wären. Der Grund der Zusammenarbeit war also ein kühl-sachlicher. Es war primär eine organisatorisch-„technische“ Konstruktion, die kaum emotional verinnerlicht werden konnte. Und wenn doch, dann eher aus Angst. Darauf kann aber keine nachhaltige positive Beziehung gegründet werden. Der Gründer der Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Robert Schumann, war sich dessen deutlich bewusst. Eine seiner Ansprachen schloss er mit den Worten: „Die Ausführung dieses vielumfassenden Programms einer allgemein verbreiteten Demokratie, in der christlichen Bedeutung des Wortes, findet ihr Wachstum in der Einigung Europas. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Euratom und Euromarkt, mit freiem 26

Die Bedeutung des europäischen Projekts. Notwendigkeit einer tieferen Verankerung

Verkehr von Gütern, Geld und Personen, sind Einrichtungen, die die Verhältnisse zwischen den Mitgliedsstaaten gründlich und definitiv ändern; sie werden in gewissem Sinn Teilgebiete, Provinzen desselben Ganzen. Und dieses Ganze kann und soll kein ökonomisches und technisches Unternehmen bleiben: es braucht eine Seele, Bewusstsein seiner historischen Affinitäten und seiner heutigen und zukünftigen Verantwortlichkeiten, einen politischen Willen im Dienst eines gleichen menschlichen Ideals.“6

Schumann war ein warmherziger Führsprecher der europäischen Sache, wie schon der Titel einer Sammlung seiner Texte Pour l’Europe beweist, der auch die soeben zitierte Passage entnommen ist. Schon die Titel einer Anzahl von Kapiteln aus jener Sammlung sprechen eine klare Sprache in Bezug auf seine Auffassungen über die Zukunft Europas: „Abgesehen von einer militärischen Allianz oder einer ökonomischen Entität, muss Europa eine kulturelle Gemeinschaft in der best denkbaren Bedeutung des Wortes sein“; „Auf lange Sicht ist ökonomische Integration undenkbar ohne politische Integration“; „Ein verteiltes Europa ist ein absurder Anachronismus geworden“; usw. Ein Projekt Europa, das nur eine organisatorische (im Besonderen eine ökonomische) Angelegenheit ist, wird, wie Schumann schon voraussah, eine wacklige und verletzliche Sache bleiben, wenn sie nicht eine tiefere Verankerung in der Lebens- und Denkweise der europäischen Bürger erhält, in ihrer Kultur im allgemeineren Sinn. Und er war nicht der Einzige, der diese Auffassung vertrat. Ähnlich äußerte sich 1992 Jacques Delors, als er den Vorsitz der Europäischen Kommission hatte: „Wenn es uns in den nächsten Jahren nicht gelingt, Europa eine Seele zu geben, es mit einer Spiritualität und einer tieferen Bedeutung zu versehen, werden wir das Spiel verloren haben. Dies ist die Lektion meiner Erfahrung. Mit juristischem Geschick oder wirtschaftlichem Know-how allein ist Europa zum Scheitern verurteilt. Die potentiellen Möglichkeiten des

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Zitiert bei Rob Riemen (red.), De terugkeer van Europa (Die Wiederkehr Europas), Nexus Instituut, Tilburg 2015, 360f (eigene Übersetzung). 27

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

Abkommens von Maastricht werden nicht verwirklicht werden ohne irgendeine Form von Inspiration.“7

Parallele zur Demokratie In dieser Hinsicht ist es damit genau so bestellt wie mit der Demokratie – ich greife damit einen Augenblick lang auf ein Thema voraus, das auch für das europäische Projekt äußerst wichtig ist. Die Demokratie wird oft als ein Ganzes von Spielregeln aufgefasst, womit der politische Entscheidungsprozess einzig der Form nach und ohne inhaltliche Implikation geregelt wird, die sogenannte formale Auffassung der Demokratie. Sie wäre also eine Art Verwaltungsform und somit neutral in Bezug auf die verschiedenen Ansichten hinsichtlich einer idealen Gesellschaft, die letztendlich immer auf einer religiösen oder weltanschaulichen („metaphysischen“) Überzeugung bezüglich der wahren Natur des Menschen und der Gemeinschaft beruhen wird. Es ist dann auch keinesfalls fremd, diese neutrale Demokratieauffassung auf antimetaphysischen oder „relativistischen“ Gründen verteidigt zu sehen, wie es unter anderen Kelsen und Radbruch getan haben. So schreibt Letzterer im Vorwort seiner einflussreichen Rechtsphilosophie: „(…) der Relativismus ist die gedankliche Voraussetzung der Demokratie: sie lehnt es ab, sich mit einer bestimmten politischen Auffassung zu identifizieren, ist vielmehr bereit, jeder politischen Auffassung, die sich die Mehrheit verschaffen konnte, die Führung im Staat zu überlassen, weil sie ein eindeutiges Kriterium für die Richtigkeit politischer Anschauungen nicht kennt, die Möglichkeit eines Standpunktes über den Parteien nicht anerkennt. Der Relativismus, mit seiner Lehre, dass keine politische Auffassung beweisbar, keine widerlegbar ist, ist geeignet, jener bei uns in poli-

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Rede von der Seele Europas. Vortrag im Februar 1992 vor der Konferenz europäischer Kirchen (KEK). Zitiert von Dieter Bach in dem Heft Begegnungen 3/​95 der Evangelischen Akademie Mühlheim/​Ruhr: Europa eine Seele geben. Impulse und Visionen für Europa – nicht nur aus kirchlicher Sicht. Ms. Mühlheim/​Ruhr 1995, 1. 28

Parallele zur Demokratie

tischen Kämpfen üblichen Selbstgerechtigkeit entgegenzuwirken, die beim Gegner nur Torheit oder Böswilligkeit sehen will: ist keine Parteiauffassung beweisbar, so ist jede Auffassung vom Standpunkt einer entgegengesetzten zu bekämpfen; ist aber auch keine widerlegbar, so ist jede auch vom Standpunkt der gegnerischen zu achten. So lehrt der Relativismus zugleich Entschiedenheit der eigenen und Gerechtigkeit gegen die fremde Stellungnahme.“8

Die Demokratie ist also, wie auch behauptet wird, „prinzipiell offen für alle politischen Richtungen und Gruppen“. Bei Radbruch wird auch deutlich, wozu eine solche relativistische Auffassung der Demokratie führt. Weil keine politische Überzeugung beweisbar oder widerlegbar ist, sie also alle gleich respektabel sind, beinhaltet die Demokratie die Bereitschaft, „jeder politischen Auffassung, die sich die Mehrheit verschaffen konnte, die Führung im Staat zu überlassen.“ Aus dieser Sicht ist die Mehrheitsregel also bestimmend für die Demokratie. Sollen wir aber bereit sein, die Führung im Staat notorisch faschistischen oder fundamentalistischen Gruppen zu überlassen, die kein Geheimnis daraus machen, ihre politisch-soziale Ordnung, notfalls mit Gewalt, anderen aufzuerlegen, aber das demokratische Spiel aus strategischen Gründen eine Zeit lang mitzuspielen? In diesem Sinn sagte vor einigen Jahren ein niederländischer Justizminister ungeheuerlicherweise, dass, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung sich für die Sharia aussprechen würde, dies in der Tat geschehen sollte. Dies trotz der Tatsache, dass die Sharia ein Justizsystem ist, das quer zu den Voraussetzungen steht, die der Demokratie und Humanitätsidee in ihrer abendländischen Form zugrunde liegen. Durch die grässlichen Erfahrungen mit dem Nazismus belehrt, der auf legalem Weg, über einen Wahlsieg, an die Macht kam, verwarf Radbruch nach dem Zweiten Weltkrieg seine relativistische Position. Recht, so schrieb er nun, und das Gleiche gilt für die Politik, kann im formalen Sinn richtig und dennoch „gesetzliches Unrecht“ sein, gemessen an höheren Normen, von ihm als

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Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (hg. von Erik Wolf und Hans-Peter Schneider), Koehler, Stuttgart 19738, 82. 29

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

„übergesetzliches Recht“ bezeichnet9. Im Gegensatz zu seinem früheren relativistischen Standpunkt, dass alle politischen Auffassungen (also auch die der Nazis) gleich achtenswert sind, misst er sie jetzt an einem höheren Standard – man könnte es eine neue Version des Naturrechts nennen. In der modernen Zeit funktionieren die Menschenrechte in dieser Weise. Sie spiegeln eine tiefer liegende Auffassung des Menschseins bzw. eine bestimmte Konzeption von Humanität wider, die wir, obgleich noch nicht so formuliert, auch schon in der Rede des Perikles fanden. Die Demokratie, so kann man es auch formulieren, ist die Transformation dieser Auffassung des Menschseins und der zwischenmenschlichen Beziehungen nach einem Beschlussfassungssystem auf politischem Niveau. Regelmäßig wird (mit Recht) ein Unterschied zwischen der Demokratie als Idee und als Beschlußfassungssystem gemacht. So fängt der Artikel „Democracy“ in der International Encyclopedia of the Social Sciences mit dem Satz an: „The term democracy indicates both a set of ideals and a political system – a feature it shares with the terms communism and socialism.“10 Und es wird hinzugefügt, dass der Demokratiebegriff „is a by-product of the entire development of Western civilisation“. Deutlicher könnte kaum ausgedrückt werden, dass die Demokratie als politische Struktur nur aus einem zugrunde liegenden normativen Menschenbild, das sich in unserer Kultur herauskristallisiert hat, verstanden werden kann, aus einer Idee von Humanität, der sich auch die politischen Verhältnisse fügen müssen. Damit wird zweierlei gesagt. Erstens, dass die Demokratie in formalem Sinn in einer materialen Auffassung gründet, d. h. dass Toleranz, Minderheitenschutz, Anerkennung von Grundrechten wie Meinungsfreiheit und das Recht der freien Meinungsäußerung, Pressefreiheit und dergleichen wesentliche Bestandteile der Demokratie sind, „characteristics of democracy“, wie der spätere Kelsen, ebenfalls im Gegensatz zu seinen früheren Auffassungen, schreibt. Diese wesentlichen

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Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Rechtsphilosophie, a.a.O., 339ff. G. Sartori, Democracy. International Encyclopedia of the Social Sciences. New York 1968, vol. 4, 112–121. Etwas Ähnliches meint wohl William Carpenter, wenn er sagt, dass „Locke conceives democracy rather as a spirit than as a form of government“. Einführung zu John Locke, Two Treatises of Civil Government. Dent, London 1962, XIV. 30

Parallele zur Demokratie

Merkmale der Demokratie werden durch das deutsche Grundgesetz, mit Recht, wie ich meine, ihrerseits in der Idee der menschlichen Würde verankert. Deshalb statuiert Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes, gleich am Anfang: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Alle Ausübung der Staatsmacht steht also im Zeichen der Achtung jener unantastbaren Würde. Und das ganze Grundgesetz, Basisdokument für die Einrichtung der Gesellschaft, ist nichts als Operationalisierung jener Grundidee, namentlich durch die Anerkennung von Grundrechten, die die Achtung der menschlichen Würde konkretisieren. Nicht umsonst steht der Paragraf über die Grundrechte am Anfang des Grundgesetzes. Und weil die ganze Gesellschaftsordnung im Zeichen der Achtung der Menschenwürde steht, können politische Parteien, die damit im Widerspruch stehende Überzeugungen vertreten oder fördern, außerhalb des Gesetzes gestellt werden (Art.  21GG). Auf der Grundlage einer lediglich formalen Auffassung der Demokratie wäre das selbstverständlich unmöglich. Zweitens: Wenn die Demokratie als politische Struktur die Spiegelung einer ganzen Art und Weise des Denkens, Lebens und Zusammenlebens ist, wie sie sich in der abendländischen Kultur entwickelt hat, „a by-product of the entire development of Western civilisation“, ist sie auch keine Angelegenheit ausschließlich des politischen Niveaus. Mit anderen Worten: Wenn eine demokratische Haltung und Mentalität nicht auf allen Ebenen der Gesellschaft praktiziert wird, in Familien, Schulen, Vereinen, Gewerkschaften, Betrieben und nicht zuletzt innerhalb politischer Parteien, so führt die Demokratie als politisches System, und darum geht es mir selbstverständlich, ein äußerst unsicheres Dasein, ist ihr kein langes Leben beschert. Die Erfahrung lehrt, dass all jene schönen Mehrparteiendemokratien, die die Kolonialmächte England und Frankreich bei ihrem Aufbruch aus den Kolonien zurückließen, schnellstens hinweggefegt oder durch Einparteisysteme ersetzt wurden, die keine Opposition gestatteten. Dies, weil die Denkart und Mentalität, die für eine Demokratie im wirklichen Sinn erforderlich sind, in den betreffenden Gesellschaften fehlten, die allgemeinen sozialen und kulturellen Bedingungen nicht existierten. Dann kann man der Form halber, „für die Bühne“, weil jedermann das macht, noch „Demokratie“ spielen, z. B. Wahlen abhalten, deren Ergebnisse durch das Monopolisieren der Presse und anderer Kommunikationsmittel oder durch Manipulation, Einschüchterung und dergleichen im Voraus feststehen, aber dem Inhalt nach ist es etwas ganz anderes, nur keine Demokratie. 31

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

Europa als kulturelle Gemeinschaft Mit dem europäischen Projekt ist es meiner Meinung nach nicht anders bestellt. Wenn es einzig eine organisatorisch-bürokratische Konstruktion ohne tiefere Verankerung in der Lebens- und Denkweise der europäischen Bürger ist, wird Europa, in der heutigen Form jedenfalls, ein prekäres Dasein haben. Dem Augenschein nach könnte es ein robustes Gebilde sein, mit großen Gebäuden, einem Heer von Beamten, renommierten Führern, eindrucksvollen Budgets usw., aber ohne eine ausreichende Basis in der Bevölkerung ist es ein auf Sand gebautes Haus. Solange keine größeren Probleme drohen, die Opfer von der Bevölkerung erfordern, können solche Konstruktionen eine ganze Zeit lang ausharren. Ergeben sich jedoch solche Probleme, dann kann in kurzer Zeit das Ganze wie ein Kartenhaus zusammenfallen, wie der Zusammenbruch der osteuropäischen kommunistischen Regimes 1989 zeigt. Dass es sich um erstarrte sozial-politische Strukturen und stagnierende Ökonomien mit einem hohen Korruptionsgehalt und wenig Basis in breiteren Schichten der Bevölkerung handelte, war bekannt. Dennoch hatten sogar Kenner jener Gesellschaften bis kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht das Gefühl, dass das bald geschehen würde. Was von außen noch den Anschein einer ziemlich soliden Struktur hatte, war, so stellte sich heraus, von Innen her gänzlich morsch. Ein kleines Geschehen wie der Ruf einer Person auf dem Platz vor dem Palast des Präsidenten Ceaucescu während einer Ansprache an das Volk genügte, eine Kettenreaktion in Gang zu setzen und das Regime zusammenstürzen zu lassen. Soll es Europa nicht genauso ergehen, was keine fiktive Gefahr ist, wenn es nur bei einem organisatorischen Projekt bleibt, dann muss das Projekt Europa in den Köpfen der Bürger verankert sein. Das heißt: Ohne Seele schafft es Europa nicht, während es unter den heutigen mondialen Umständen keine seriöse Alternative für ein vereinigtes Europa gibt. Wie erwähnt, war schon Schumann der Überzeugung, dass, sollte das Projekt einer ökonomischen Gemeinschaft erfolgreich sein, es einer Seele bedürfe. Er, und wohl auch Delors, suchte diese Seele auf der kulturellen Ebene, die europäische Gemeinschaft müsse seiner Ansicht nach eine kulturelle Gemeinschaft sein. Die Frage ist dann selbstverständlich, ob es so etwas wie eine europäische Kultur im weiteren Sinn einer erkennbaren gemeinschaftlichen europäischen Lebens- und Denkweise gibt. 32

Europa als kulturelle Gemeinschaft

Wann kann von einer Gemeinschaft gesprochen werden? Über diese Frage ist viel nachgedacht worden, insbesondere in Bezug auf den Begriff „Nation“. In den Internationalen Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen von 1966 wird in Artikel 1 beider Abkommen das Recht auf nationale Selbstbestimmung proklamiert – nicht die Selbstbestimmung von Staaten also, sondern von Nationen, von denen die Staaten nur die politisch-juristischen Repräsentanten sind. Besonders auch, weil die Verträge von 1966 juristisch bindende Kraft besitzen, wird es dann wichtig, eine gute Definition des Begriffs „Nation“ zu haben. Meistens unterscheidet man zwei Arten von Kriterien zur Identifikation einer Gruppe von Menschen als einer Nation: objektive und subjektive. Objektive Merkmale einer Nation sind Gegebenheiten wie ein eigenes Territorium, eine gemeinschaftliche Religion, Kultur, Geschichte, Sprache und dergleichen. Und hinsichtlich des subjektiven Aspekts des Nationbegriffs denkt man an so etwas wie Gefühle von Zusammengehörigkeit, Schicksalsgemeinschaft und Solidarität. Wenn man diese Kriterien auf die europäische Ebene transformiert: Gibt es so etwas wie eine europäische Gemeinschaft mit einer in der Landschaft der Kulturen erkennbaren eigenen Zivilisation, einer gemeinschaftlichen Weltanschauung, Geschichte, Tradition, Denkweise und dergleichen? Und gibt es auf dem Kontinent so etwas wie ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Schicksalsgemeinschaft? Zur objektiven Seite: Die Frage, ob es so etwas wie eine gemeinschaftliche europäische Kultur, Geschichte, Tradition, Weltanschauung und Denkweise gibt, kann meines Erachtens gewiss in positivem Sinn beantwortet werden. Seit die Römer die erste Vereinigung (großer Teile) von Europa durchführten, und Karl der Große Jahrhunderte später in ihre Spuren trat, war Europa ein Reich, eine politische Einheit (dem Namen nach jedenfalls) mit einem Kaiser an der Spitze und daneben einer Menge großer und kleiner Lehnsmänner, einer Menge an Königen, Prinzen, Herzögen, Grafen bis hin zu Baronen. Die mittelalterliche Gesellschaft definiert sich denn auch als Einheit, als die respublica christiana nämlich, das christliche Gemeinwesen. Sie ist also zugleich eine politische und eine religiöse Union. Damit ist sogleich das zweite Einheit stiftende Moment angedeutet, nämlich das Christentum, institutionalisiert in der Kirche. Das Christentum hat, wie allgemein anerkannt wird, einen nachhaltigen Stempel auf Europa gedrückt, wenn auch große Gruppen europäischer Bürger heutzutage keine in organisiertem Zusammenhang praktizierende Christen mehr sind. Zum Beispiel hat das Christentum bei der Entwicklung des vielzitierten Individualismus der abendländischen Kultur 33

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

eine wesentliche Rolle gespielt, derart, dass der Liberalismus als das außereheliche Kind des Christentums bezeichnet worden ist. Ein gutes Mittel, einen Eindruck des Eigenen der europäischen Kultur und Lebensweise zu bekommen, ist, es mit außereuropäischen Kulturen und Lebensweisen zu kontrastieren. Solange man sich innerhalb des eigenen europäischen Raums bewegt, fallen zuallererst die Unterschiede zwischen Engländern, Franzosen, Deutschen, Italienern usw. auf – das gleiche Phänomen ereignet sich übrigens schon innerhalb der Grenzen von Ländern, zwischen Nord- und Süd-Niederländern, -Deutschen, -Italienern usw. Begibt man sich jedoch außerhalb der Grenzen des Kontinents, verschiebt sich im Kontrast zur Lebenseinstellung und zu den dortigen Gebräuchen der Fokus. Jetzt sieht man nicht so sehr die Unterschiede, vielmehr tritt das gemeinschaftlich Europäische deutlich hervor. Illustrativ dafür ist die Beobachtung der flämischen Romanschriftstellerin Kristien Hemmerechts unter dem Titel „Ich bin ein Christ“11 – ich erlaube mir ein längeres Zitat: „Seitdem ich in Äthiopien gewesen bin, weiß ich, dass ich ein Christ bin. (…) Das hatte nichts mit Kleidung oder Aussehen zu tun, sondern alles mit der Wärme des Empfangs. Nur bei Christen gab es Herzlichkeit. (…) Das Tolle ist, dass ich mich in fernen Ausländern auch wirklich einen Christen fühle. (…) Ich muss in letzter Zeit viel daran denken, mit all den scheußlichen Nachrichten über den Islamischen Staat, und die gezwungene Flucht der Jezidis, und die Verfolgung der Christen im Mittleren Osten. (…) Inzwischen bin ich den christlichen Ritualien entfremdet. Wenn ich noch mal in einer Messe lande, kommt der Hokuspokus mir zumal bizarr vor. Zugleich liegen die Gebärden noch immer irgendwo in meinem Leib aufbewahrt und kann ich sie mühelos mitmachen. Eine Menge von Gebeten kenne ich noch immer auswendig und ich kann Fetzen davon mitsagen. Ich gehöre selbstverständlich zu einer Generation, die eine traditionelle Erziehung genossen hat, vielleicht wohl die letzte derartige Generation in Belgien. Bis in mein sechzehntes Jahr ging ich jeden Sonntag brav zur Mes11

Zitiert bei Guido Vanheeswijck, De draad van Penelope. Europa tussen ironie en waarheid (Der Faden der Penelope. Europa zwischen Ironie und Wahrheit), Uitgeverij Polis, Antwerpen 2016, 302 (eigene Übersetzung). 34

Europa als kulturelle Gemeinschaft

se. Ich habe genügend Messen besucht und Hostien eingeschluckt – ohne darauf zu beißen! – um mich bis ans Ende meiner Tage einen Christen nennen zu dürfen, wenn ich auch ein ungläubiger, abtrünniger Christ bin und wie wenig ich auch mit der Kirche zu schaffen haben will. Offenbar muss ein Mensch viele Kilometer weit reisen, um sich klar zu werden, wer und was sie ist.“

Das gilt gewiss nicht weniger für das Europäer- als für das Christsein. Es gibt, wie mich dünkt, durchaus so etwas wie eine europäische DNS, oder, um eine andere Metapher zu verwenden, einen europäischen Nestgeruch, der im Zusammenhang mit einer europäischen Geschichte, eben Religion, Weltanschauung, Tradition von Denken und Erfahren, Lebenseinstellung, Mentalität und dergleichen steht12. Das macht, dass die europäische Kultur, wiederum im weiteren Sinn als ein erkennbares Muster von Leben und Denken verstanden, mit ihrer Ausstrahlung hin zur Kultur im engeren Sinn (Literatur, Kunst, Wissenschaft usw.), im Vergleich zu den nichtwestlichen Kulturen von mehreren Autoren als ein Gebilde mit einer ganz eigenen Physiognomie betrachtet worden ist. So ist die wesentliche Frage des großen Soziologen Max Weber die nach dem spezifischen Charakter der abendländischen Stadt, des abendländischen Rechts, des Kapitalismus als westlichem ökonomischen System und dergleichen. Faktisch ist er mit seiner Forschungsfrage, was das für eine Art von Menschsein ist, die sich hier in Europa herauskristallisiert hat, auf der Suche nach der spezifischen Identität des modernen westlichen Menschen und der modernen westlichen Gesellschaft und nach deren Wurzeln. Eigentlich ist es also eine philosophische Frage, die im Zentrum seiner Soziologie steht, man könnte es Philosophie im Medium soziologischer Forschung nennen.

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Siehe auch das Urteil des namhaften britischen Historikers Richard J. Evans in seinem Buch The Pursuit of Power: Europe 1815–1914 (Penguin History of Europe, Vol. 7, Viking 2016), dass Europa eine gemeinschaftliche Geschichte besitzt, in der die Geschichten der verschiedenen Nationalstaaten jede eine eigene kulturelle und politische Farbe haben, aber in der die Entwicklungen im Allgemeinen parallel zueinander laufen. Auch Hans Mooij gibt in seinem instruktiven Buch Het Europa van de filosofen (Das Europa der Philosophen), Klement, Kampen 2006, 81ff, eine Reihe von Gründen, „durchaus an eine europäische Identität zu glauben“. 35

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

In eine vergleichbare Richtung geht der niederländische Historiker Jan Romein, wenn er die abendländische Kultur in einer Anzahl von Publikationen als die große Ausnahme von dem, was er als das Allgemein Menschliche Muster (AMM) bezeichnet, charakterisiert13. Damit deutet er auf ein gemeinschaftliches Basismuster bzw. eine Tiefengrammatik hin, die die nichtwestlichen Kulturen, wie verschieden sie in ihrer konkreten Erscheinungsform auch sein mögen, miteinander teilen. Zum Beispiel sind es Kulturen, die alle durch die Religion als einen „himmlischen Baldachin“ überwölbt werden, um den bildhaften Ausdruck des Soziologen Peter Berger zu verwenden. In all jenen Kulturen sind, wenn auch auf unterschiedliche Weise, alle Bereiche der Gesellschaft (Recht, Ökonomie, Unterricht, Kunst, Literatur, Handwerk usw.) sozusagen Zweigstellen der Religion, sind sie alle durch die Religion geprägt. Dies im Gegensatz zu der westlichen säkularisierten Gesellschaft, wo die diversen Bereiche sich von der Religion emanzipiert haben (im Prinzip jedenfalls, in der Praxis liegen die Sachen oft komplizierter, gibt es noch manche Formen von Überschneidung). In dieser und in manch anderer Hinsicht nimmt also die abendländische Zivilisation in der Landschaft der Kulturen eine Ausnahmestellung ein.

Nähere Typisierung der europäischen Denk- und Lebensweise Wenn wir folglich davon ausgehen können, dass es so etwas wie eine gemeinschaftliche europäische Kultur gibt – ich komme noch darauf zurück, wie das eventuell relativiert und diversifiziert werden muss –, so wird selbstverständlich die Frage entscheidend, wie diese Kultur näher charakterisiert werden muss. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg sind diesem Thema viele Betrachtungen und Diskussionen gewidmet worden. Das bedeutet übrigens keineswegs, dass es davor, im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20., an solchen Reflexionen über Europa gefehlt hätte. Im Gegenteil. Ich greife nur einiges heraus. 13

Jan Romein, „De Europese geschiedenis als afwijking van het Algemeen Menselijk Patroon“ (Die europäische Geschichte als Abweichung vom Allgemein Menschlichen Muster). In: Ders., In de ban van Prambànan, Amsterdam 1954, 23–57. 36

Nähere Typisierung der europäischen Denk- und Lebensweise

Da gibt es die berühmte Eröffnungsrede des Internationalen Friedenskongresses in Paris von Victor Hugo, gehalten am 21. August 1849. Darin entfaltet er die Vision der „Vereinten Nationen von Europa“, die die Barbarei des Kriegs hinter sich gelassen haben (darum geht es also auch hier): „Es kommt ein Tag, an dem man in den Museen eine Kanone zur Schau stellen wird, wie man da heutzutage ein Foltergerät ausstellt, und dann das Staunen darüber, dass es so etwas hat geben können!“ „Es kommt ein Tag, an dem Frankreich und Sie, Russland, Italien, England, Deutschland, fest aufgehen werden in einer höheren Einheit, ohne Ihre besonderen Eigenschaften und Ihre ruhmvolle Eigenheit zu verlieren, und Sie die europäische Bruderschaft bilden werden, genauso wie Normandie, Bretagne, Burgund, Lothringen, Elsass, alle unsere Provinzen in Frankreich aufgegangen sind. (…) In unserem alten Europa hat England vor einem Jahrhundert den ersten Schritt gemacht und zu den Völkern gesagt: ,Sie sind frei‘. Frankreich hat den zweiten Schritt gemacht und zu den Völkern gesagt: ,Sie sind souverän‘. Lasst uns jetzt den dritten Schritt machen und alle zusammen, Frankreich, England, Belgien, Deutschland, Italien, Europa, Amerika, zu den Völkern sagen: ,Sie sind Brüder‘“14.

Hier wird also für einen Nationalismus auf höherer Ebene, für einen „Europäismus“15 wie man sagen könnte, plädiert und letztlich sogar für einen Kosmopolitismus. Man könnte im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. auch an Nietzsche denken, der Europa mit seiner Kultur über die Nationen stellte. Die „guten Europäer“ seien diejenigen, die die „Vaterländerei“ hinter sich gelassen haben und die wahren Erben Europas sind: „die Erben Europas, die reichen überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes“. Mit Nietzsche haben sich auf dem Kontinent viele Schriftsteller, Künstler, Philosophen, Wissenschaftler u. a. durch die Zeit hindurch vor allem als Europäer gefühlt. 14 15

Zitiert bei Riemen, a.a.O., 55ff. Den Terminus entlehne ich Mooij, a.a.O., 44. 37

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

Es könnte noch eine ganze Reihe von Philosophen, Schriftstellern, Künstlern u. a. genannt werden, die sich mit dem Thema Europa befasst und sich in dieser oder jener Form hinter die Idee der europäischen Kultur als einer besonderen Art des Lebens und Denkens gestellt haben. Ich nenne nur einige Namen: Max Scheler, Georg Simmel, Benedetto Croce, Hermann Keyserling, Julien Benda, Thomáš Masaryk, Stefan Zweig, Paul Valéry und viele andere. Wenn ich bezüglich meiner Reflexionen auf die abendländische Kultur insbesondere die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg anschaue, so deshalb, weil die Frage nach Europa jetzt in einem neuen Licht erscheint. Denn wenn man nach dem Krieg auf den Trümmerhaufen des Kontinents ein neues Europa zu errichten versucht, gilt es, die Fundamente auf gründliche Weise zu legen, nicht zuletzt in ideeller Hinsicht. Kulturen leben doch aus einer basalen Idee oder Sicht der Dinge. Ihre Vitalität (oder eben Schwäche) ist abhängig von der Kraft, mit der diese Kernidee oder „Metaphysik“ das Leben und Denken der betreffenden Bevölkerung durchzieht und formt. Nach dem Wort des niederländischen Historikers Johan Huizinga wird eine Kultur metaphysisch ausgerichtet sein müssen, oder sie wird nicht sein. In dem Bewusstsein, dass eine Kultur letztlich auf einer solchen ideellen Basis ruht – was selbstverständlich nicht besagt, dass das der einzige bestimmende Faktor einer Kultur ist –, hat man sich nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv auf die Frage besonnen, wofür Europa zutiefst steht, was ihr ideeller Kern ist. Erwähnenswert sind in dieser Hinsicht die „Rencontres internationales de Genève“. Unter deren Schirmherrschaft wurde im September 1946 eine Konferenz unter dem Titel „Der europäische Geist“ abgehalten. Teilnehmer dieser Konferenz waren Prominente wie die Franzosen Georges Bernanos, Julien Benda, Jean Guéhenno, der Deutsche Karl Jaspers, der Italiener Francesco Flora, die Schweitzer Jean de Salis und Denis de Rougement, der Engländer Stephen Spender und der Ungar Georg Lukács. Bereits auf dieser Konferenz – und das würde bei anderen Gelegenheiten nicht anders sein – stellte es sich heraus, dass in Bezug auf die Frage, was kennzeichnend ist für den „europäischen Geist“, ganz verschiedene Ansichten verteidigt wurden. Zwar wurden ziemlich allgemein das Christentum und der Humanismus als Faktoren genannt, die die europäische Kultur geprägt haben. Dann aber fächern sich die Auffassungen bezüglich der Angelegenheiten, die das Gesicht von Europa bestimmt haben, ziemlich weit aus. Regelmäßig wird in diesem Zusammenhang die 38

Nähere Typisierung der europäischen Denk- und Lebensweise

(im modernen Sinn verstandene) Wissenschaft genannt. Europa ist dieser Ansicht nach die Kultur, die durch die Aufklärung hindurchgegangen ist, auf die also Vernunft und selbstständiges Denken ihren Stempel gedrückt haben. Dennoch hat es im Lauf der Zeit immer Gegenstimmen gegeben, die gegenüber der einseitigen Betonung der Vernunft und des rationalen Denkens (der „Tagesseite“) durch die Aufklärung Beachtung der „Nachtseite“ gefordert haben, des Gefühlslebens, der Intuition, der geheimnisvollen Tiefen der menschlichen Seele und der Wirklichkeit als Ganzer. In der Romantik erhält dieser Strom des europäischen Erfahrens und Denkens ihr repräsentatives Gesicht, und sie ist seitdem ein bestimmender Aspekt der europäischen Identität geblieben. Die europäische Kultur lässt sich offenbar nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Sie ist, wie schon öfter bemerkt worden ist, eine gespaltene Kultur, kein Kreis mit einem alles bestimmenden Mittelpunkt. Man könnte sie im Gegenteil einer Ellipse mit ihren zwei Brennpunkten vergleichen. Das kann anders benannt werden als das Zweigespann von Aufklärung und Romantik. Z. B., wie es Kurt Hübner in seinem glänzenden Buch Die Wahrheit des Mythos16 macht, als die Zweiheit von Rationalität und Mythos als ganz verschiedenen Denk- und Lebensformen, die beide die moderne Kultur prägen. Beide sind für jene Kultur unentbehrlich, sie lassen sich jedoch nicht aufeinander oder auf ein tiefer liegendes Prinzip zurückführen. Kurzum, die europäische Kultur ist ein spannungsvolles Ganzes mit allen daran inhärenten Komplikationen. Ich komme hierauf weiter unten zurück. Was ich in diesen Betrachtungen unternehme, um den Gedankengang einen Augenblick zu unterbrechen und ein Interludium einzuflechten, ist eine Suche nach den Grundzügen, oder so man will, nach der Tiefengrammatik der modernen europäischen Kultur. Das Wort Tiefengrammatik deutet schon an, dass die verschiedenen Merkmale Europas nicht alle auf derselben Ebene liegen. Das erinnert an die interessante Art der Geschichtsschreibung, die von der französischen Annalenschule, mit als bekanntestem Vertreter Fernand Braudel (1902–1985), entwickelt worden ist. Ihr Modell halte ich für die Strukturanalyse, die hier versucht wird, sehr brauchbar. Diese Historiker machen einen einleuchtenden Unterschied zwischen dem historischen Geschehen auf drei Ebenen, und zwar der der Strukturen, der Konjunkturen und der Geschehnisse. Ich beginne mit Letzteren:

16

Beck, München 1985. 39

Kapitel I Der besondere Charakter Europas

Geschehnisse sind die Ereignisse an der Oberfläche des historischen Änderungsprozesses, wie Kriege, Revolutionen, Regimewechseln und dergleichen. Sie springen am direktesten ins Auge, haben deshalb auch überwiegend unser Bild der Geschichte bestimmt. Dennoch haben sie, wie im Fall der Revolutionen, nur eine geringe Wirkung gehabt. Es sind Geschehnisse mit einem kurzen Wellenschlag, die die tiefer liegenden Prozesse mit längerem Wellenschlag kaum von ihrem Kurs abbringen. Im Sprachgebrauch von Braudel sind es Geschehnisse der kurzen Frist („courte durée“) bzw. der „evenementiellen“ Zeit („temps évenementiel“). Darunter liegen, wie schon angedeutet, auf einer tieferen Ebene Prozesse von mittlerer Länge. Braudel nennt als Beispiele ökonomische Zyklen oder die Fortwirkung technologischer Erneuerungen. Sie geben bestimmten Perioden ein Gesicht und stecken sozusagen das Spielfeld der Geschehnisse ab. Diese Konjunkturen fallen viel weniger auf als die unmittelbar erfahrbaren Geschehnisse, prägen jedoch das historische Geschehen viel tiefgreifender. Man kann dabei auch an das geistige Klima von Perioden wie der Renaissance, der Aufklärung oder der Romantik denken, das das Denken und Handeln in den betreffenden Perioden in hohem Maß bestimmt hat. Darunter liegen in der Sicht der Annalenschule dann noch die Geschichtsprozesse der langen Wellenlänge, die träge verlaufenden Änderungen der langen Frist („longue durée“), wo es sich um fundamentale Verschiebungen handelt, die für die Zeitgenossen nicht oder kaum sichtbar sind. Sie können nur im Nachhinein und aus einer gewissen Distanz durch ein dafür geschärftes Auge wahrgenommen werden. Dennoch geht es hier um die basale Ebene, die die Prozesse auf den anderen Ebenen trägt und deren Richtung und Spielraum bestimmt, die tektonische Platte sozusagen, die alles mit ihrem Tempo mitführt und allem ihren prägenden Stempel aufdrückt. Eine solche Betrachtungsweise könnte auch auf die europäische Kultur und Identität angewandt werden. Auf dem Niveau der Geschehnisse liegen dann Ereignisse wie der Friede von Münster, der dem Dreißigjährigen Krieg ein Ende setzte und ein Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts als eines Systems juristisch geregelter Beziehungen zwischen Staaten war; oder die Französische Revolution, die das Ende des Ancien Régime und die politische Emanzipation des dritten Standes bzw. der Bürgerschaft bedeutete; oder der Erste Weltkrieg, der dem Fortschrittsoptimismus und dem Glauben am überlegenen Charakter der europäischen Zivilisation einen schweren Schlag versetzte; usw. Auf dem Niveau 40

Nähere Typisierung der europäischen Denk- und Lebensweise

der Konjunkturen können wir, wie gesagt, Perioden wie die Renaissance, die Romantik (als historisches Phänomen, unterschieden von einer allgemeinen Geisteshaltung wie oben gemeint) oder das breite Wellen schlagende Krisenbewusstsein um den Ersten Weltkrieg ansiedeln.

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Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur. Der Aspekt der Aufklärung Zwei Hauptstränge der europäischen Kultur In dieser Abhandlung handelt es sich vor allem um die langfristige Perspektive auf Europa, oder, um bei dem Bild zu verharren, um die tektonische Platte der abendländischen Tradition. Hier können wir, wie oben angedeutet, zwei Hauptstränge dieser Kultur unterscheiden, die im Großen und Ganzen auf die Nenner der Aufklärung und der Romantik gebracht werden können. Erstgenannter Strang, der des Aufklärungsdenkens, stellt die kühle Seite der europäischen Kultur dar. Er steht im Zeichen des sachlichen, rationalen Denkens, der Annäherung an die Dinge von außen her. Hier wird gedacht (und gehandelt!) in Termini von Objektivierung und Verdinglichung, stehen die Dinge und Prozesse in der dritten Person, sind also anonym und unpersönlich. Hier bewegen wir uns, kurzum, in einer Welt der Äußerlichkeit bzw. Exteriorität. Illustrativ für diese Anschauungsweise ist das „mechanisierte Weltbild“, um die vom niederländischen Historiker der Naturwissenschaft E. J. Dijksterhuis formulierte Bezeichnung der Wirklichkeitsauffassung zu verwenden, die sich in der frühmodernen Ära herauskristallisiert. Die ganze Natur, d. h. die ganze nichtmenschliche Wirklichkeit, den menschlichen Körper eingeschlossen, wird hier als ein Ensemble toter, inerter Dinge ohne Innenseite, Wahrnehmung, Gefühl und eigenes Streben vorgestellt, das willenlos eisernen Naturgesetzen gehorcht. Max Weber hat diese Sicht der Dinge als die „Entzauberung der Welt“ charakterisiert. Und in der Tat haben wir es hier mit einem Wirklichkeitsbild zu tun, aus dem aller Glanz und alle 42

Zwei Hauptstränge der europäischen Kultur

Schönheit verschwunden sind, gänzlich versachlicht und prosaisiert. Durch die Brille des mechanisierten bzw. Newtonschen Weltbilds betrachtet, wird die Natur von einem beseelten Verband von Mitgeschöpfen (dem vormodernen Naturbild) zu einem Inventar von Ressourcen degradiert, die der Mensch beliebig ausnutzen kann. Überhaupt steht die Wirklichkeit aus dieser Perspektive im Zeichen des Machens, Beherrschens, Manipulierens und Managens, man denke z. B. an die betriebswirtschaftliche Bezeichnung von Arbeitnehmern als „human resources“, die „gemanagt“ werden müssen. Alles kann hier in Maß und Zahl ausgedrückt werden und wird so erklärbar, voraussagbar und beherrschbar. Auf der gleichen Linie liegt es dann, dass alles zur verhandelbaren Ware wird. Daraus folgt, dass alles einem Nutz- und Effizienzregime untersteht. Kurzum, hier herrschen die „harten Kräfte“, die empirisch direkt greifbar und gezielt bespielbar sind. Ganz in Übereinstimmung hiermit gibt es aus dieser Sicht keine Mysterien, die sich unserem Verständnis entziehen. Im Gegenteil: Es gibt nur Probleme, die einer Lösung zugeführt werden müssen und auch können – im Prinzip jedenfalls, in der Praxis kann das noch Zeit und Mühe genug erfordern. Isaiah Berlin17 hat dieses Aufklärungsdenken einmal mittels dreier Thesen charakterisiert: 1) soll zwischen genuinen und uneigentlichen Fragen unterschieden werden; 2) alle echten Fragen haben eine und nur eine richtige Lösung, unter der Bedingung, dass man die richtige Methode anwendet (daher ist die moderne Philosophie, ob es nun Descartes, Locke, Hume, Kant, Husserl usw. betrifft, vor allem mit der Suche nach der richtigen Methode beschäftigt); und 3) alle jene Antworten auf richtige Fragen passen wie Puzzlestückchen in ein Tableau von Wirklichkeitserkenntnis hinein, die Theorie von Allem. Kurz gefasst, auf dieser Linie des Denkens zeigt Europa sein kühles Gesicht, es gibt hier viel kaltes Licht, aber wenig Wärme. Daneben kennt die europäische Kultur ein anderes und milderes Gesicht. Hier herrscht eine Empfindsamkeit für die „sanften Kräfte“, für dasjenige, was sich nicht in Maß und Zahl fassen lässt, für das qualitativ Eigene, das sich folglich der Machbarkeit entzieht. Dieser zweite Strang, so die These, ist nicht weniger als der andere charakteristisch für die europäische Kultur. Sie kennt eine Sensibilität für das, was nicht von außen her organisierbar ist, sondern sich selbst von innen heraus organisiert, für das, was nicht gemacht wird, sondern wächst. Im Gegensatz

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I. Berlin, The Roots of Romanticism, Pimlico, London 2000, 21f. 43

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

zum anderen Strang, der, wie gesagt, im Zeichen der Exteriorität, der äußeren und unpersönlichen Erfahrung steht, handelt es sich hier um die Sphäre der Innerlichkeit, um die durchlebte Erfahrung, um dasjenige, was das Persönliche ausmacht und deswegen in der ersten und zweiten Person steht. Zu denken ist hier, auf den Spuren Kierkegaards, an die Existenzphilosophie von Karl Jaspers und Gabriël Marcel, an die existenzielle Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty, an die dialogische Philosophie von Martin Buber, Franz Rosenzweig, Emmanuel Levinas u. a., an den Personalismus von Denkern wie Denis de Rougement und Emmanuel Mounier, und an den sogenannten Marxismus mit einem menschlichen Gesicht von Adam Schaff, um nur diese zu nennen.

Die Modernität Ich werde nun die beiden Linien der europäischen Kultur noch etwas mehr aus der Nähe betrachten, angefangen mit dem ersten Strang. Zu dessen Charakterisierung wird oft der Terminus „Modernität“ bzw. „Moderne“ verwendet – obwohl die andere, „romantische“ Linie auch durchaus „moderne“ Züge aufweist. Mit dem Terminus ‚„Modernität“ wird für gewöhnlich ein Ganzes gesellschaftlicher Erscheinungen und Entwicklungen bezeichnet, die sich seit der industriellen Revolution, aber im Prinzip schon viel eher, ereignet haben und zwar seit der Ablösung der traditionellen Ständegesellschaft durch die bürgerliche Lebensund Denkweise. Die moderne Kultur ist, anders gesagt, eine bürgerliche Kultur, eingeleitet durch den sozialen Erdrutsch, der sich im Übergang von spätmittelalterlicher nach frühmoderner Zeit zuerst in Teilen Europas vollzog und in den Jahrhunderten danach immer breitere Kreise auf dem Kontinent gezogen hat. Ich komme in der Folge noch darauf zurück. Zu den Erscheinungen, die unter dem Oberbegriff der „Modernität“stehen, gehören unter anderem: gesellschaftliche Differenzierung, Rationalisierung, Bürokratisierung, Demokratisierung, Säkularisierung, Individualisierung und Kommodifikation. Unter letzterem Terminus versteht man die Betrachtung und Behandlung von stets zunehmenden Aspekten des menschlichen Daseins, wie Güter, Dienste, Arbeit, Ideen u. a., als „commodity“ bzw. Handelsware. Sie können in Geldwerten ausgedrückt werden durch Weglassen ihres eigenen ‚„inneren“ 44

Die Modernität

oder „inhärenten“ Werts. Für diese Entwicklung kann man auch die Bezeichnung Versachlichung verwenden, die dann ihre Rückwirkung auf die Gesellschaft im allgemeineren Sinn hat. In Bezug auf alle genannten Kennzeichen der Modernität kann man sich fragen, ob wir es hier mit Wesensmerkmalen der Modernität oder vielmehr mit einer Fehlentwicklung zu schaffen haben. Letzteres war die Überzeugung von Marx, während z. B. Simmel der Meinung war, es handele sich hier um ein bleibendes Merkmal der modernen Gesellschaft, dass die Modernität also ihrer Art nach Gefühle der Entfremdung mit sich bringe bzw. unvermeidlich einen Preis an menschlichem Wohlergehen habe. Meine eigene Auffassung, um vorzugreifen, ist, dass in der Tat ein Maß an Rationalisierung, Versachlichung oder „Entzauberung“ der Modernität inhärent ist, ein gewisses Maß an Skepsis uns modernen Menschen einfach eigen ist. Doch mit der heutigen Gewichtung haben wir es meines Erachtens mit einer Form von Fehlentwicklung zu tun. Wenn wir uns jetzt an eine nähere Charakterisierung der modernen abendländischen Kultur bzw. der „Modernität“ heranwagen, können wir als ersten Grundzug eine besondere Idee der Ordnung nennen. Nicht zuletzt unterscheidet sie sich damit vom Allgemein Menschlichen Muster, der gemeinschaftlichen Tiefengrammatik der vormodernen Kulturen. Diese stehen alle im Zeichen einer Ordnung, die am Anfang der Dinge von Gott, Göttern, Ahnen oder Kulturheroen eingesetzt worden ist und an die man sich nun halten soll. Diese Ordnung hat also neben einem faktischen auch einen normativen Charakter. Man kann das auch so formulieren, dass Realität und Idealität hier zwei Seiten derselben Sache sind. Die „Modernität“ ist dann durch eine Entkoppelung beider Seiten gekennzeichnet, durch die Auffassung also, dass die Faktizität der Dinge (so ist die Welt halt erbaut, und so funktioniert sie) keine normativen Implikationen welcher Art auch immer hat. Aus Fakten können aus dieser Perspektive keine normativen Vorschriften für das Handeln abgeleitet werden. Macht man das dennoch, hat das sogar die abfällige Benennung des naturalistischen Fehlschlusses erhalten. Normativität, eine normative Ordnung, wird moderner Auffassung nach von uns Menschen selbst erzeugt. Sie ist Produkt unserer menschlichen Selbstgesetzgebung bzw. Autonomie, wie namentlich von Kant stark betont worden ist. Das beinhaltet auch eine neue Sicht der Wahrheit. Im vormodernen Denken ist die Wahrheit eine Gegebenheit, einer heiligen Überlieferung nämlich, die entweder mündlich weitergegeben oder schriftlich festgelegt worden ist. Sie braucht nur weitergereicht, erklärt und durchdacht zu werden. Man denke nur 45

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

an den Ausdruck fides quaerens intellectum (der Glaube auf der Suche nach Verständnis) des mittelalterlichen Theologen/​Philosophen Anselmus von Canterbury (1033–1109): Der Glaube, der den festen Ausgangspunkt bildet, sucht nach vernünftiger Einsicht, eine Auffassung übrigens, die sich schon bei Augustin findet. Deshalb schreiben die mittelalterlichen Theologen und Philosophen immerfort Kommentare zu heiligen und anderen kanonischen Schriften. Das Gleiche geschieht auch in der jüdischen, islamischen, chinesischen, indischen usw. Tradition. In der modern-westlichen Philosophie und Wissenschaft ist Wahrheit jedoch nicht etwas bereits Gegebenes. Im Gegenteil: Sie muss erst noch gefunden und entdeckt werden.

Offenheit, Grenzverschiebung, Innovation Das deutet dann sofort auf ein hiermit im Zusammenhang stehendes anderes Charakteristikum des europäischen Geistes hin, und zwar auf Offenheit. Auf der Schwelle der modernen Zeit öffnet sich der Horizont in verschiedenen Hinsichten: Die Kosmologien eines unendlichen Universums kommen herauf, die Welt wird nicht länger als eine endliche und geschlossene Wirklichkeit betrachtet, wie es in wohl allen prämodernen Religionen und Weltanschauungen der Fall ist. Entdeckungsreisende ziehen in die Welt hinaus auf der Suche nach neuen Kontinenten und Seestraßen – die heutigen Raumfahrten sind davon die selbstverständliche Fortsetzung. Wie schon angedeutet, werden auch Philosophie und Wissenschaft zu Entdeckungsreisen nach unbekannten Formen von Wirklichkeit und Wahrheit. Es entsteht, kurzum, eine neue Sicht von Grenzen: Sie sind da, um verschoben und überschritten zu werden18. Diese neue Haltung in Bezug auf Grenzen wird in einer Geschichte in Dantes Divina Commedia anschaulich dargestellt. Im 26. Gesang der „Hölle“ kommt ein Gespräch zwischen Dante und Ulysses, wie Odysseus in der lateinischen Literatur genannt wird, vor. Odysseus erzählt dort die Geschichte seiner Irrfahrten nach der Eroberung von Troja, aber auf eine andere Weise als das bei Homer 18

Siehe dazu z. B. A. Koyré, From the Closed World to the Infinite Universe, Harper, New York 1958. 46

Offenheit, Grenzverschiebung, Innovation

der Fall ist. Denn im Gegensatz zum Ablauf bei Homer kehrt Odysseus nicht mehr nach Hause zurück. Er erzählt, wie er, mit nur noch wenigen Gefährten zum äußersten Westen des Mittelmeers verschlagen wird und in Sichtweite der sogenannten Säulen des Herkules kommt, den emporragenden Felsen auf beiden Seiten der Straße von Gibraltar. Diese galten in der Antike als das Ende der vertrauten Welt, als Wächter, „dass der Mensch nicht weiter dringe“. Odysseus jedoch, getrieben durch den „Durst nach Kenntnis von dem Weltgetriebe“, ruft seine Kameraden auf, an den Säulen vorbeizufahren, um sich auf die Suche nach dem Unbekannten zu machen („dem Kontinent, wo keine Menschen wohnen“): „Bedenkt doch euren Ursprung, denkt, ihr seid nicht wie das Vieh [das immer dasselbe Leben lebt] und nie dürft ihr erkalten bei dem Erwerb von Kenntnis, Tüchtigkeit.“ Es gelingt ihm, seine Gefährten zu überreden. Sie fahren auf dem Ozean in südliche Richtung, fünf Monate lang. Dann ragt ein Berg empor, nach Dantes Ansicht wahrscheinlich der Läuterungsberg. Dorther erhebt sich ein heftiger Sturm, der das Schiffchen dreimal um seine Achse kreisen lässt, wonach es von den Wellen verschlungen wird. Dante ist noch ein original mittelalterlicher Mensch. Die Moral der Geschichte ist natürlich, dass derjenige, der die gesetzten Grenzen überschreitet, zu Fall kommt. Aber Dante sieht in seiner Umgebung, dem Norditalien der beginnenden Renaissance – er lebte um 1300 –, einen neuen Menschentypus heraufkommen, der sich der Tradition nicht mehr fügt, sondern entdeckend und grenzüberschreitend in die Welt zieht, den Prototyp des modernen Menschen. Diese neue Haltung in Bezug auf Grenzen bzw. dieses Ausgerichtetsein auf Grenzüberschreitung und Innovation spiegeln sich im Wachstumsdenken der modernen Ökonomie und Geschäftskultur. Kennzeichen einer „gesunden“ Ökonomie ist dieser Auffassung nach, dass sie wächst, sogar dass dieses Wachstum „self-sustaining“ bzw. „self-reliant“ (sich selbst erhaltend und tragend) ist. So dachte man in den ersten Jahrzehnten des Nachdenkens über Entwicklung von „unterentwickelten“ Gesellschaften. In der Wirtschaft liegen die Dinge nicht anders. Der „Normalfall“ ist, dass Unternehmen wachsen wollen, ihre Produktionszahlen und ihren Absatz erhöhen, ihre Niederlassungen erweitern und ihr Absatzgebiet vergrößern. Kurzum, Wachstum ist gut und „normal“, gilt als erstrebenswertes Ziel, während Stillstand und gar Schrumpfen schlecht und „abnormal“ und möglichst zu vermeiden sind. 47

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

Eine „faustische“, bürgerliche Kultur Die Offenheit des europäischen Geistes, das Ausgerichtetsein auf Grenzverschiebung und Innovation, verweist ihrerseits auf ein anderes Merkmal der europäischen Kultur, und zwar auf deren dynamischen, oder wie es auch heißt „faustischen“ Charakter. Soziologisch gesehen hängt dieses Merkmal mit dem sozialen Umsturz beim Übergang von der mittelalterlichen zur (früh)modernen Gesellschaft zusammen, wie schon angedeutet. Während die mittelalterliche Gesellschaft von den Ständen des Adels und der Geistlichkeit dominiert wird, wird die moderne Kultur durch den Aufstieg des „dritten Stands“, des Großbürgertums bzw. des Patriziats, bestimmt. Er übernimmt die führende Rolle in den Städten, die im Lauf des Mittelalters zu immer größerer Blüte gelangen. Man denke z. B. an den mächtigen Hansebund oder an Städte wie Regensburg, die „reichsunmittelbar“ waren, also nicht mehr unter dem Verfügungsrecht von Prinzen, Herzögen oder Grafen standen. Die Städte werden zu Inseln von Autonomie bzw. Selbstverwaltung, sie erhalten Privilegien oder Freiheiten. Man sagt ja auch: „Stadtluft macht frei.“ Dies ist natürlich noch nicht die moderne Freiheit der individuellen Person, sondern eine kollektive Freiheit, die der Stadt als solcher gehört. Wem es gelingt, sich ein Jahr und einen Tag in der Stadt aufzuhalten, wird Bürger und hat Anteil an ihrer kollektiven Freiheit. Die Stadt hat also ein besonderes Verhältnis zur Freiheit, die sich zur normativen Schlüsselidee der Moderne auswachsen wird. Die Stadt ist der Ort von Handel und Gewerbe und damit des Unternehmertums. Das erfordert, um sich behaupten zu können, Kreativität, Findigkeit, die Suche nach neuen Absatzmöglichkeiten. Damit entwickelt die Stadt und namentlich das Großbürgertum eine neue Form sozialer Dynamik. Marx und Engels haben das in einem bekannten Passus ihres Kommunistischen Manifests auf prägnante Weise zum Ausdruck gebracht: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die

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Eine „faustische“, bürgerliche Kultur

ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisie-Epoche vor allen früheren aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft [in der plastischen englischen Übersetzung: all that is solid melts into air], alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“19

(So deuten Marx und Engels die Versachlichung des sozialen Klimas in der modernen Gesellschaft). Dass die Stadt der Ort von Handel und Gewerbe ist, drückt sich im Besonderen darin aus, dass hier eine ganz andere Mentalität als die der alten führenden Stände des Adels und der Geistlichkeit vorherrscht. Bei beiden ist die Blickrichtung von oben nach unten gerichtet: bei der Geistlichkeit vom Heiligen als dem Höheren zum Profanen als dem Niederen, beim Adel von der sozial höheren Klasse zum gemeinen Volk der Untergebenen – die oft nicht als vollwertige Menschen betrachtet werden, wie diese Aussage beweist: „Der Mensch fängt beim Baron (der niedrigsten Stufe des Adels) an.“ Beide Stände sind also mit „höheren Sachen“ (Dienst Gottes oder Regieren) beschäftigt. Bei Handel und Gewerbe handelt es sich dagegen um die Dinge des alltäglichen Lebens. Der bürgerliche Geist ist dann auch viel mehr „down to earth“ als der der beiden anderen Stände: sachlicher, weltlicher, prosaischer, schlechtweg profan20. Ich erlaube mir einen kurzen Exkurs: Diese Änderung der Blickrichtung und Mentalität ist Teil eines viel umfassenderen Umbruchs in der Lebens- und Denkweise, der sich in der Übergangszeit vom Spätmittelalter zur frühmodernen Zeit durchgesetzt hat. In der Tat findet in dieser Periode ein sozialer und kultureller

19

20

Marx/​Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: Kurt Rossmann (Hg.), Deutsche Geschichtsphilosophie von Lessing bis Jaspers, Schünemann Verlag, Bremen 1959, 247. Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat diesen Sachverhalt als „the affirmation of ordinary life“ (die Bestätigung des gewöhnlichen Lebens) gedeutet. Taylor (1980), 211ff. 49

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

Erdrutsch statt, den ich anderswo als die „Umkehrung der Welt“21 betitelt und beschrieben habe. Nicht nur wechselt in jenem Übergang von vor- nach frühmoderner Weltsicht alles seinen Platz. Stärker: Aus moderner Sicht wird im Vergleich zur vormodernen alles unter umgekehrtem Vorzeichen gelesen. Ich erläutere das anhand einiger Stichwörter. Aus vormoderner Sicht wird die Welt von einer allumfassenden Ordnung überwölbt, die am Anfang der Dinge höheren Orts beschlossen worden ist und nun als ewig und immerwährend betrachtet wird. Dieses Weltbild ist durch die Vorrangsstellung des Seins vor dem Werden und der Ewigkeit vor der Zeit gekennzeichnet. Die (ewige) Ordnung wird folglich von oben herab auferlegt, wie überhaupt aus prämoderner Perspektive die Welt von oben herab betrachtet wird, „from a God’s eye-point“. Die Wirklichkeit ist hier streng hierarchisch geordnet als eine Kette von Seinsformen, die von hoch nach niederig reicht. Nicht umsonst steht „hoch“ hier an erster Stelle. In dieser Vorstellungswelt gilt der Primat des Höheren gegenüber dem Niederen, der Primat des Allgemeinen, „Typischen“ gegenüber dem Besonderen und Individuellen, sowie der Primat des Außergewöhnlichen und Idealen gegenüber dem Alltäglichen und Gewöhnlichen. Diese Wirklichkeitsstruktur enthält daher zugleich eine Rangordnung, z. B. im Hinblick auf die menschliche Gemeinschaft als auch im Blick auf die individuelle Persönlichkeit. Die Gesellschaft ist eine hierarchisch geordnete Ständegesellschaft. Auf die Person bezogen stehen Seele und Leib in einem hierarchischen Verhältnis zueinander und innerhalb der Seele wiederum die unterschiedlichen „Seelenteile“ (vegetative, animalische und rationale Seele). Ein Beispiel zur Veranschaulichung des Primats des Außergewöhnlichen gegenüber dem Gewöhnlichen: In der vormodernen Literatur erscheinen fortwährend Helden, Fürsten, Adlige, Heilige, kurzum außergewöhnliche Personen und selten oder nie der einfache Mann oder die einfache Frau. Und der Antiheld der modernen Literatur kommt dort überhaupt nicht vor. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass aus dieser hierarchischen Sicht der Wirklichkeit, besonders der sozialen Wirklichkeit, Macht und Autorität „natürliche“, mit der Realität als solcher gegebene Phänomene sind. 21

Siehe meine Studie Die Umkehrung der Welt. Über den Verlust von Umwelt, Gemeinschaft und Sinn, Königshausen & Neumann, Würzburg 2004, insbesondere Kap. 1–3. 50

Eine „faustische“, bürgerliche Kultur

Kein Wunder auch, wenn man dieses Tableau überblickt, dass die Religion, die ihrem Wesen nach im Zeichen des Heiligen, Höheren, Ewigen und Idealseienden steht, in der vormodernen Gesellschaft so eine vorherrschende Stellung hat, dass sie diese Gesellschaft als ein „himmlischer Baldachin“ überwölbt, wie es der Soziologe Peter Berger beschrieb. Mit der Stadt kommt dann eine Mentalität und Sicht der Dinge herauf (der Nachdruck liegt hier auf dem Alltäglichen, Gewöhnlichen und Profanen), wo anstatt von oben herab von unten nach oben gedacht wird, und wo Ordnung nicht so sehr etwas Gegebenes und immerfort Gültiges ist, als vielmehr etwas, was immer neu gestiftet werden muss. Die Ewigkeit kann nur noch von der Zeit aus als Grenzbegriff gedacht werden, das Sein vom Werden, die Transzendenz von der Immanenz, das Heilige vom Profanen aus, usw. Gerade an der Religion lässt sich die Veränderung in der Vorstellungsweise und Lebenshaltung demonstrieren, die mit dem Aufstieg der Städte im Hoch- und Spätmittelalter stattgefunden hat. Der Löwener Kunsthistoriker Raoul Bauer hat das neulich an der Änderung von Kirchenarchitektur und Gottesbild veranschaulicht. Sein Buch mit dem besonderen Titel Die Entführung Gottes (Untertitel „Die Bedeutung der gotischen Kirchenarchitektur“)22 – ist ein Zeugnis aus unerwarteter Ecke, wie man wohl sagen kann, in dem eine Reihe von Aspekten der Änderung von Denkart und Vorstellungsweise aufscheint, die sich im Lauf des Mittelalters vollzieht. Im Umbruch vom romanischen zum gotischen Kirchenbau spiegelt sich nämlich nach Ansicht Bauers eine allgemeine Änderung des Zeitgeistes und der Wirklichkeitsanschauung. Das Halbdunkel des romanischen Kirchenraums mit seiner mysteriösen Atmosphäre hängt mit dem Bild eines transzendenten Gottes zusammen, der außer und über der Welt thront. Die Wende zur Gotik, die vor allem eine in den Städten entstandene Baukunst ist, ist dann der Ausdruck einer allgemeinen Änderung der Kultur am Ende des 11. Jahrhunderts. „Das Entstehen und allmähliche Wachsen der Städte mit ihren neuen sozialen Gruppen rücken die Welt direkter als früher ins Blickfeld von immer mehr Menschen. (…) Eine städtische Kultur kommt herauf. Und mit ihr eine neue politische Macht, ein neuer Reichtum und ein neuer Daseinshorizont.“23

22 23

Davidsfonds, Leuven 2009. A.a.O., 14. 51

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

Merkwürdigerweise spielt die sogenannte gregorianische Reform24 hierbei eine wichtige Rolle. Das Bestreben dieser Reform war die Säuberung der Kirche von allerhand Laieneinflüssen, indem die weltlichen Mächte der Herrschaft der Kirche unterworfen werden sollten. Das Papsttum wurde zu diesem Zweck zu einem effizienten Verwaltungszentrum ausgebaut. Dabei geriet die Kirche jedoch in den Bann der Welt. Paradoxerweise bedeutete, wie Bauer schreibt, „die gregorianische Reform faktisch den Anfang einer tiefgreifenden Desakralisierung der Welt, auf ihren Spuren gefolgt durch eine wachsende Emanzipation des Laienstaates. Nahtlos schließt sich die gregorianische Kirche an die heraufkommende städtische säkulare Kultur an. Die romanische Architektur mit ihrem durchaus sakralen Raum, in dem der überweltliche Gott im Mittelpunkt steht, passt nicht mehr zu dieser Verweltlichung. Ein neues Bauprojekt, das die neue Kirchen- und Gesellschaftsanschauung unterstützt, drängt sich auf. In dieser Atmosphäre der Änderung ist die Gotik entstanden.“25 Die weltliche Mentalität und Dynamik der Stadt, der Nachdruck, der hier auf Zeit, Geld und Arbeit liegt, führen zu einer anderen Sicht Gottes, des Menschen und der Wirklichkeit. Der religiöse Blick ist nicht länger auf die überirdische und überzeitliche göttliche, sondern auf die irdische Realität gerichtet. So verschiebt sich der Akzent vom transzendenten Gott zum leidenden Christus als dem Fleisch gewordenen Bild Gottes. Das Göttliche wird vermenschlicht, verleiblicht, erhält einen Platz in unserer zeitlichen Wirklichkeit und drückt auf diese Weise das Lebensgefühl des Stadtbewohners aus. Kein Wunder dann, dass die gotische Kunst realistisch ist, d. h. die Dinge, den menschlichen Leib z. B., darstellt, wie sie wirklich sind. Dies im Gegensatz zur romanischen Kunst, die stark symbolisch ist: Es handelt sich da nicht um eine wirklichkeitsgetreue Darstellung der Dinge, sondern um die Idee, die darin zum Ausdruck kommt.

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25

Benannt nach Papst Gregorius  VII. (1073–1085), einem der mächtigsten Päpste, der z. B. den deutschen Kaiser Heinrich IV. exkommunizierte und ihn, als er zum Papst reiste, vom kirchlichen Bann durch Buße freigesprochen zu werden, bei seinem Landsitz zu Canossa drei Tage draußen im Schnee stehen ließ (25.–28. Januar 1077). Bauer, a.a.O., 15. 52

Säkularisierung und Entzauberung der Wirklichkeit

Säkularisierung und Entzauberung der Wirklichkeit Eine Reihe von Begriffen, die oben genannt wurden, wie Säkularisierung, Dynamik, Verzeitlichung, Verleiblichung, Ausgerichtetsein auf das Irdische, sind Andeutungen der Richtung, in die sich die westliche Gesellschaft in der Folge entwickeln wird. Zur Säkularisierung: Allmählich entziehen sich immer mehr Lebensbereiche der Dominanz der Religion. So werden in vielen Städten (!) seit dem 11. Jahrhundert Universitäten gegründet, als erste die von Bologna im Jahr 1088. Es sind Einrichtungen zur Pflege der Wissenschaft, die nicht länger unter kirchlicher Aufsicht stehen wie die Klosterschulen des Frühmittelalters, sondern von Stadtverwaltungen oder politischen Führern ins Leben gerufen werden. Die Wissenschaft verselbstständigt sich und geht nach eigenen Maßstäben auf die Suche nach der Wahrheit, einer Wahrheit also, die erst noch entdeckt werden muss und nicht schon vorgegeben ist wie die der mittelalterlichen Theologen und Philosophen und dann nur noch erläutert und kommentiert zu werden braucht. Schon hier meldet sich ein anderes Merkmal der Moderne, nämlich, dass sich die Horizonte öffnen und eine Haltung der Grenzerweiterung, der Entdeckung unbekannter Gebiete (geografisch, wissenschaftlich, artistisch usw.), des Experimentierens mit neuen Möglichkeiten und dergleichen geboren wird. Auch die Künste lösen sich aus der Bindung an die Religion. Ton Lemaire hat in seiner schönen Studie Filosofie van het landschap (Philosophie der Landschaft)26 die Verselbstständigung der Landschaft in der Malerei beschrieben. Das Erscheinen der Landschaft kann als die Kehrseite des Verschwindens des transzendent orientierten Weltbilds betrachtet werden. In der vormodernen Malerei ist man nicht auf die Landschaft als solche aufmerksam: Sie dient als Hintergrund und Ausschmückung religiöser Darstellungen, wie z.  B. die Anbetung der Hirten. Auch in der frühen Renaissance bleibt sie noch eine Zeit lang ein hinzugefügter Hintergrund z. B. von Porträts. Aber um 1450 wird die Landschaft zum selbstständigen Thema in der Malerei, und zwar im Zusammenhang mit einem neuen „diesseitigen“ Naturverständnis. In dieser Malweise drückt sich ein neuer Um-

26

Ambo, Baarn 1966. 53

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

gang mit der Wirklichkeit aus, und zwar die des Erkundens und Eroberns der erfahrbaren Realität (die Parallele zur neuen empirischen Wissenschaft ist unverkennbar). Dass es um eine neue Haltung der Wirklichkeit gegenüber geht, die uns in den Stand versetzen soll, sie in den Griff zu bekommen, geht aus der Erfindung der Perspektive hervor: Die Dinge werden dadurch auf uns zu geordnet27. Lemaire beschreibt die Entwicklung der Landschaftsmalerei in einer Reihe von Etappen. Nach der soeben genannten ersten Phase folgt ein Zeitabschnitt, für den insbesondere die holländische Landschaftsmalerei charakteristisch ist: „Lässt man die vielen holländischen Landschaften an sich vorbei ziehen, dann drängt sich uns unwillkürlich eine Stimmung der Ruhe, des Vertrauens und der Zufriedenheit auf. Die Landschaft wird ohne die Teufel und Ungeheuer von Bosch abgebildet, meistens auch ohne biblische Figuren und ohne Gestalten jener anderen abendländischen Mythologie, der griechischen. (…) Die holländische Landschaft ist damit die erste gänzlich weltliche, irdische Landschaft, jeder mythologischen Aufmachung und Verweisung entledigt, ent-idealisiert. Es ist die endgültige Emanzipation der gewöhnlichen, alltäglichen Landschaft, der Welt des Menschen, und damit der Triumph dessen, was im fünfzehnten Jahrhundert als Hintergrund einer religiösen Szene angefangen hatte. Es ist dem Menschen gelungen, sich in einem profanen Raum niederzulassen.“28

Diese desakralisierte Kunst spiegelt Lemaires (richtiger) Meinung nach den Prozess der „Entzauberung“ (ein Terminus, den er auch explizit verwendet), den die abendländische Welt seit dem Spätmittelalter durchgemacht hat – man könnte anstatt „Entzauberung“ auch Termini wie Versachlichung, Prosaisierung, Verlust 27

28

Zur Perspektive sagt der Kunsthistoriker Erwin Panofsky, dass es „that representational method [is] which more than any other single factor distinguishes a ‚modern‘ from a medieval work of art (…).“ Early Netherlandish Painting, Cambridge, Mass. 19664, Vol. I, 3. Siehe auch Brigitte Scheer, Einführung in die philosophische Ästhetik, WBG, Darmstadt 1977, 30f, die die Einführung der Zentralperspektive eine Anpassung des Objekts an das Auge des Betrachters nennt. Diese Perspektive hat, ihrem Urteil nach, eine analoge Position wie die Kategorien Kants, mit denen die Objekte vom kennenden Subjekt her geordnet werden. A.a.O., 32f. 54

Beherrschungsdenken

des Symbolwerts oder der ideellen Dimension der Wirklichkeit verwenden. Auch damit trifft man ein fundamentales Merkmal der Modernität. In der vormodernen Denkweise spiegeln die Dinge (im Idealfall) eine Ordnung der Wirklichkeit wider, die am Anfang der Welt von höheren Mächten (Gott, Göttern, Ahnen, Kulturheroen) eingesetzt worden ist und bei Strafe von allen befolgt werden muss. Alles besitzt aus dieser Perspektive seine eingeborene ideelle Dimension, die zugleich als Norm für das Verhalten funktioniert. Realität und Idealität sind hier also unlöslich miteinander verknüpft. Die Modernität kann demgegenüber als die Entkoppelung beider gekennzeichnet werden. Die Dinge verweisen nicht länger auf eine einprogrammierte Norm, sie sind einfach, was sie sind, reine Faktizität. Wenn sie Regeln befolgen, sind das wie die Naturgesetze rein faktische Regeln ohne normativen Gehalt. Dann können wir der Natur ihre Geheimnisse ablauschen, um sie zu ändern und in unseren Dienst zu stellen (Francis Bacon). Diese Denkweise hat für die die Modernität kennzeichnende technologische und ökonomische Änderungswut den roten Teppich ausgerollt.

Beherrschungsdenken Damit ist ein anderes Grundmotiv der Modernität angesprochen worden, das Beherrschungsdenken. Max Weber hatte schon klar gesehen, dass darin die Pointe der Entzauberung (bzw. Intellektualisierung, wie er auch sagt) der Welt liegt. Nachdem er angegeben hat, was jene Entzauberung oder Intellektualisierung nicht ist, nämlich keine zunehmende Kenntnis der Lebensumstände, unter denen man lebt (nur Wenige in der modernen Gesellschaft wissen z. B. genauer, wie die Straßenbahn oder die Ökonomie funktioniert, oder das Magnetron, der Computer oder das Handy, könnte man hinzufügen), fährt er fort: „Sondern sie bedeutet etwas anderes: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle [!] Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die 55

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“29

Wenn es also kennzeichnend für die Modernität ist, dass sie in Begriffen von Berechnung und Beherrschung denkt, muss damit eine bestimmte Auffassung der Wirklichkeit einhergehen, und zwar einer machbaren, steuerbaren und kontrollierbaren Wirklichkeit. Das drückt sich seinerseits in einem anderen Erkenntnisbegriff als dem der vormodernen Zeit aus. Dort ist die Wirklichkeit, wie oben gesagt, eine Gegebenheit in Bezug auf ihr Was und Wie. Dem entspricht ein kontemplativer Erkenntnisbegriff, der die Realität erfassen will, wie sie ist und gerade nicht darauf gerichtet ist, sie zu ändern30. Das Denken folgt dem Sein, wie die mittelalterlichen Philosophen sagen, es will dieses Sein möglichst getreu in Begriffen abbilden. Wahrheit ist in dieser Sicht die Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit. Auf der Schwelle der modernen Zeit kommt dagegen eine neue Erkenntnisauffassung herauf, wobei Erkennen und Machen eine enge Verbindung eingehen. Genauer: Machbarkeit wird zum Kriterium von Erkennbarkeit. Kant hat das auf seine unvergleichlich kernige Weise in Worte gefasst: „Denn nur das, was wir selbst machen können, verstehen wir aus dem Grunde.“31 Das heißt: Was nicht machbar ist, ist auch nicht wirklich erkennbar. Die moderne Denkart ist folglich,

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31

Max Weber, „Wissenschaft als Beruf “, in: ders., Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, Kröner, Stuttgart 1956, 317. Dass Beherrschung der Welt letztendlich der Zweck der theoretischen Wissenschaft ist, ist zahllose Male ausgesprochen worden. Z. B. von Carl Menger, Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften (Leipzig 1833), 33: „Der Zweck der theoretischen Wissenschaft ist (…) die Beherrschung der realen Welt.“ Zitiert bei Karl-Heinz Brodbeck, Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften, WBG, Darmstadt 1998, 17 Anm. Aristoteles macht einen Unterschied zwischen episteme, praxis und poiesis, respektive Wissenschaft im strikten Sinn, die auf unveränderliche Sachen gerichtet ist (die also kein Gegenstand menschlichen Handelns sein können), der Bereich des Handelns, das, wie z.  B. die Politik, seinen Zweck in sich selber hat, und der Bereich des Machens, Produzierens (von Sachen, die ihre Ursache und ihren Zweck außer sich haben), wie das Handwerk. Nikomachische Ethik, VI, 2,1ff, 1139a18ff. I. Kant, Brief an Plückner vom 26-1-1797, Gesammelte Schriften, Bd. XII, Berlin/​Leipzig 1922, 57. 56

Beherrschungsdenken

alles aus der Perspektive der Machbarkeit anzugehen, im Vertrauen, dass alles, vielleicht jetzt noch nicht, aber im Prinzip irgendwann, machbar und rekonstruierbar sein wird. Zum ersten Mal kam diese Denkweise in der Mathematik auf. Nikolaus Cusanus (1401–1464) zufolge ist sie eine strenge Wissenschaft, weil wir die mathematischen Entitäten selber konstruieren, sie also das Erzeugnis des Geistes sind. In einem glänzenden Aufsatz mit dem etwas umständlichen Titel „Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen“32 hat Karl Löwith, einer der Großmeister der Ideengeschichte, gezeigt, dass dieser operativ-technische Erkenntnisbegriff für den breiten Hauptstrom des modernen abendländischen Denkens kennzeichnend ist. Er findet sich bei Bacon, Descartes, Hobbes, Kant, Hegel, Marx und vielen anderen Philosophen und Wissenschaftlern. Das Wahre (verum) und das Faktische (factum im ursprünglichen Sinn des Gemachten) sind gegenseitig auswechselbar (und nicht das Wahre und das Sein, wie die mittelalterlichen Philosophen meinen). Kurzum, Machbarkeit wird zur Bedingung von Erkennbarkeit. Z. B. ist bei Hobbes die Politik eine echte Wissenschaft, weil wir die Gesellschaft über den Gesellschaftsvertrag selber hervorbringen: „because we make the commonwealth ourselves“. „The creation of a body politic by arbitrary institution of many men assembled together (…) is like a creation out of nothing by human will.“ Ein ähnlicher Gedanke findet sich z. B. bei Marx: Auch seiner Ansicht nach wird die Gesellschaft von Menschen gemacht, und zwar über die produktive Arbeit. Deshalb lautet der erste Satz der Deutschen Ideologie: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.“ Nur müssen die Menschen zur Einsicht gelangen, dass die historisch entstandene Gesellschaft ihr eigenes Produkt ist. Dann verliert die Gesellschaft ihren Charakter eines massiven und unnachgiebigen Gegenübers, das man nur hinnehmen kann, wie es ist, sie wird änderbar in von Menschen erwünschter Richtung usw. Am weitesten ging in dieser Hinsicht die Transzendentalphilosophie Kants und der Neukantianer, wo die Natur und die Kultur ganz und gar (was ihre Erscheinungsweise betrifft) Erzeugnis des menschlichen Geistes ist. Sogar der Mensch selber wird in dieser Sichtweise sein eigenes Produkt, in Kants und Fichtes Selbstsetzungslehre nämlich. Kant sagt: „Ich bin ein Gegenstand von mir 32

Karl Löwith, Sämtliche Schriften, Bd. 9, Metzler, Stuttgart 1986, 195–227. Die Zitate von Hobbes, Marx und Kant finden sich dort. 57

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

selbst und meiner Vorstellungen. Dass noch etwas außer mir sei, ist ein Produkt von mir selbst. Ich mache mich selbst. (…) Wir machen alles selbst.“33 Aber wenn die Wirklichkeit und sogar wir selbst Erzeugnis unseres Willens sind (siehe oben das Zitat von Hobbes), können wir in der Tat alles nach Belieben anders einrichten. Wieder haben wir hier einen Fall der „Umkehrung der Welt“ vor uns, die für den Umbruch von der Prämodernität zur Modernität kennzeichnend ist. Erstere kennt, wie gesagt, eine vorgegebene Ordnung und damit ein inhärentes Maß aller Dinge. Diese Ordnung und dieses Maß werden (im Idealfall) vom Intellekt gekannt und setzen dem Willen feste Grenzen. Hier herrscht also der Primat des Intellekts in Bezug auf den Willen („Intellektualismus“). Im späteren Mittelalter setzt sich mit dem aufkommenden Voluntarismus der Primat des Willens durch, dem der Intellekt gehorchen muss. Von Hume wurde dies z. B. auf die Formel gebracht, dass „reason the slave of the passions“ ist. Man kann sagen, dass die gesamte Modernität, auch wenn sie einen intellektualistischen Eindruck erweckt wie bei Kant und Hegel, durch einen tiefgreifenden Voluntarismus bestimmt ist. Dann kümmert der Wille sich jedoch nicht länger um vorgegebene Grenzen. Alles ist jetzt eine Sache unserer Entscheidung – der schon genannte Peter Berger hat den Unterschied zwischen Prämoderne und Moderne als den von „givenness“ und „choice“ benannt34. Die Modernität ist also durch eine fundamentale Entgrenzung und Maßlosigkeit gekennzeichnet. Grenzen sind zum Überschreiten da, und ein innewohnendes Maß der Dinge wird prinzipiell geleugnet.

Rationalisierung bzw. Instrumentalisierung und Managerialisierung Ich erläutere das an zwei der genannten Merkmale der Modernität, an der Rationalisierung und der Bürokratisierung. Rationalisierung steht in engem Zusammenhang mit Instrumentalisierung.

33 34

I. Kant, Opus postumum, Kants Gesammelte Schriften, Bd. XXII, Berlin 1936, 82. Peter Berger, a.a.O., 196: „Modernization is a shift from givenness to choice on the level of meaning.” 58

Rationalisierung bzw. Instrumentalisierung und Managerialisierung

Es handelt sich um den instrumentellen Gebrauch der Vernunft. Weber, und in seinen Spuren viele andere, wie z. B. Hans Albert, war der Meinung, dass dies die einzige vertretbare Form von Rationalität ist. Denken, besonders auch das wissenschaftliche Denken, steht immer im Modus des Wenn-Dann. Dieses Wenn kann von der Vernunft nicht aus eigener Kraft ausgefüllt werden. Dafür ist sie in empirischer Hinsicht von der Erfahrung abhängig und in normativer Hinsicht von der Entscheidung. Eine Rationalität der Ziele oder Werte gibt es Webers Überzeugung nach nicht, das Urteil über die Richtigkeit von Werten oder Zielen überschreitet das Vermögen der Vernunft. Höchstens kann indirekt über Werte reflektiert werden, indem sie auf ihre Ausgangspunkte, Konsequenzen, Konsistenz oder eventuell Gegensätzlichkeit miteinander untersucht werden. Dieses instrumentelle Denken hat sich in der modernen Kultur immer stärker durchgesetzt. Der belgische Philosoph Etienne Vermeersch hat in seinem Büchlein De ogen van de panda (Die Augen des Pandas)35 behauptet, der Motor der modernen Gesellschaft sei der WTK-Komplex, der Komplex von Wissenschaft, Technologie und Kapitalismus, die eine enge Verbindung miteinander eingegangen sind – ich möchte lieber vom WTÖ-Komplex sprechen, wo das Ö für Ökonomie als allgemeinem generischen Terminus steht: Die moderne Ökonomie ist sowieso kapitalistisch mit den Varianten Staats- und Marktkapitalismus. In jeder der drei Komponenten herrscht eine instrumentalistische Denkweise, in der Technologie z. B. gehört das zu ihrem Wesen. Technologie ist ja das Bearbeiten von Naturgegebenheiten, um sie unseren menschlichen Bedürfnissen und Wünschen dienstbar zu machen. Aber auch mit der Ökonomie, verstanden als wirksamster Einsatz von knappen Mitteln im Hinblick auf das menschliche Wohlergehen oder „Glück“, was immer das auch sein möge, ist das der Fall36. Nicht anders sieht es bei der Wissenschaft aus, wenn man darunter die sogenannte nomothetische, auf das Ermitteln allgemeiner Gesetzmäßigkeiten gerichtete Wissenschaft, versteht, die strukturell äquivalent mit Technologie, d. h. ihrer Art nach in Technologie transformierbar, ist. Es handelt sich dabei nicht so sehr um den Wahrheitswert wissenschaftlicher Einsichten, sondern um deren praktische Anwendungsmöglichkeiten. Es ist klar, dass die Politik und 35 36

Uitgeverij Van de Wiele, Brugge 1988, 24ff. Siehe z. B. Lionel Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, MacMillan, London 1946: „the economist is not concerned with ends as such“. 59

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

das Geschäftsleben vornehmlich an diesem Typus von Wissenschaft interessiert sind, was sich an der Bereitschaft zeigt, wissenschaftliche Forschung zu finanzieren. Von ihr wird erwartet, dass sie kurzfristig Erfolge zeitigen wird. Demgegenüber gibt es beträchtlich weniger Interesse an Grundlagenforschung, wo es vor allem um Einsicht in die Natur der Dinge geht und die Resultate eher unsicher sind. Und wenn man dabei auch erfolgreich ist, wird oft erst auf längere Sicht deutlich, was die Anwendungsmöglichkeiten sind. Über die Geisteswissenschaften haben wir dann noch gar nicht gesprochen, die ihrer Art nach nicht oder kaum in technologische Anwendungen übersetzbar sind. Bei den genannten Komponenten des WTÖ-Komplexes, Technologie, Ökonomie und anwendbare oder anwendungsbezogene Wissenschaft, wird immer behauptet, dass es dort letztendlich um die Förderung des menschlichen Wohlergehens geht. Aber wenn es richtig ist, dass der WTÖ-Komplex das Gesicht der modernen Gesellschaft prägt, bedeutet dies, dass das Hauptgewicht des Strebens nach einem „guten Leben“ von den Mitteln abhängt. Und eine unausgesprochene Voraussetzung unserer modernen Kultur ist, dass jeder Fortschritt im Bereich der Mittel mehr oder weniger automatisch das menschliche Wohlergehen fördert. Deshalb wird fieberhaft am Ausbau des Arsenals der Mittel gearbeitet, werden immer neue Dimensionen der Wirklichkeit davon bestimmt (Kern-, Gen-, Informationstechnologie usw.), wird die Dominanz des Nutzens immer radikaler betrieben, ohne dass man sich kritisch fragt, ob der beabsichtigten Förderung des Wohlergehens damit wirklich gedient ist. Ganz abgesehen davon, ob die Natur, die ja die Ressourcen für die Bearbeitung und Neueinrichtung der Dinge liefern muss, überhaupt für ein menschliches Eingreifen geeignet ist, das immer größer angelegt ist, in immer tiefere Schichten der Wirklichkeit eindringt und ein immer höheres Niveau an Verbrauch von Grundstoffen beinhaltet (quod non). Diese instrumentalistische Denkweise, die sich bei dem WTÖ-Komplex deutlich zeigt, hat, wie oben schon gesagt, die moderne Kultur und Gesellschaft immer tiefer durchdrungen. In diesem Sinn ist der WTÖ-Komplex eine Äußerung eines viel allgemeineren Merkmals der Modernität. Auch hier gilt wieder, dass eine Gesellschaft die Wissenschaft, Technologie und Ökonomie bekommt, die sie „verdient“. Einige weitere Erscheinungsformen einer instrumentalistischen Mentalität sollen noch wenigstens gestreift werden: Auch die immer stärker um sich greifende Managerialisierung der Gesellschaft ist eine Äußerung davon. 60

Rationalisierung bzw. Instrumentalisierung und Managerialisierung

Managerialisierung bedeutet, dass betriebswirtschaftliches Denken das allgemeine Paradigma für die Führung und Verwaltung von Organisationen wird, bzw. dass überall auf betriebswirtschaftliche Weise in Termini von objektivierbaren Ergebnissen gedacht wird. Selbstverständlich ist dieses Modell, das Wort deutet schon darauf, dem Betriebsleben mit seiner Ausrichtung auf Effizienz, Effektivität und Planbarkeit entnommen worden. Aber schon da stimmt es nicht ganz, denn in der Organisationstheorie hat sich ein wachsendes Interesse für die Beteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmen, für Teamgeist, für die Art der Führung, kurzum für die menschliche Seite und das soziale Klima des Unternehmens entwickelt. Es handelt sich dabei um Faktoren, die viel schwieriger zu greifen sind als die messbaren Tatsachen (die „harte“ Seite der Organisation), aber die, wie inzwischen wohl klar geworden ist, von großer Bedeutung für das Funktionieren des Unternehmens sind. Es geht um den Einsatz für den Betrieb, um verminderten Arbeitsausfall wegen Krankheit, und überhaupt um die Verbesserung des Betriebsergebnisses – darauf komme ich bei der Besprechung des Unterschieds zwischen dem angelsächsischen und dem Rheinländischen Unternehmensmodell nochmals zurück. Die Managerialisierung der Gesellschaft bedeutet jedoch, dass auch Organisationen wie Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Hauspflegeorganisationen, Gerichte, das Heer und sogar der Staat nach dem Modell von Betrieben geführt und verwaltet werden. Bei Schulen und Universitäten führt das zu einer einseitigen Konzentration auf messbare Formen von Kenntnis und Fähigkeiten, unter Vernachlässigung des Bildungsaspekts der Ausbildung, d. h. der Förderung der Fantasie von Schülern und Studenten, der Verfeinerung ihres Gefühlslebens, der Übung des selbstständigen Denkvermögens, des Verständnisses für andere Lebens- und Denkweisen, kurzum der Entwicklung der persönlichen und sozialen Fähigkeiten der Schüler und Studenten. Ein Beispiel: In einer niederländischen Oberschule saß in einer der Schulklassen ein an den Rollstuhl gebundenes Mädchen. Beim Wechseln der Stunden, wobei die Schüler sich durch die ganze Schule hindurch zu den Klassenzimmern für Fachunterricht bewegen mussten, war es ihr unmöglich, das in der dafür bestimmten beschränkten Zeit zu machen. In der Klasse wurde dann von den Klassenkameraden die Verabredung getroffen, dass planmäßig jeden Tag einer ihrer Mitschüler sie durch das Gewühl hindurchlotsen würde, damit sie rechtzeitig zur nächsten Stunde anwesend sein konnte. Die Initiative dazu kam vonseiten der Schüler, sie war nicht von einem Lehrer angeregt 61

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

worden, sagt jedoch etwas über das soziale Klima der Schule. Es kommt aber in den Statistiken, mit denen Schulen sich nach außen hin vorstellen (Prozentsätze erfolgreicher Absolventen usw.), nicht vor. Symptom eines in Termini objektivierbarer, zähl- und messbarer Faktoren denkenden intellektuellen und sozialen Klimas ist auch die zurückgehende Wertschätzung der Geisteswissenschaften. Der Beitrag, den sie dem Gemeinschaftsleben liefern, ist viel weniger direkt feststellbar als derjenige der Natur- und Technikwissenschaften. Dennoch ist es für eine vitale Demokratie und überhaupt für die Gesellschaft, besonders wenn die Bevölkerung immer diverser wird, von eminentem Interesse, dass Bürger und Amtsträger über eine entwickelte Einbildungskraft und über das Vermögen verfügen, sich in die Situation und Denkweise anderer zu versetzen. Die alten Athener waren sich dessen jedenfalls klar bewusst, in Anbetracht des großen Interesses, das sie der Kunst, der Literatur und dem Theater beimaßen. Es war für sie Teil der Paideia, der Bildung, namentlich auch zum Bürger. Das Theater bildete für sie eine Art soziales Labor, in dem an konkreten Situationen gezeigt wurde, was Normen und Werte im Zusammenleben bedeuten oder jedenfalls bedeuten könnten. Die Leidener Hellenistin Ineke Sluiter hat vor Kurzem in einem Interview zum wiederholten Mal auf die Bedeutung kultureller Bildung für eine lebensfähige Demokratie hingewiesen. „Kultur“, so sagt sie, „steht auf der ‚Spielseite‘ und stellt einen in die Gelegenheit, sich Welten vorzustellen, die es nicht gibt. Mit counter-factuals umzugehen. Sich in die Geistesgestelltheit, in die Motivation jemandes anderen zu versetzen. Wenn man ein Buch liest, lebt man mit der Hauptperson mit; das ist eine ganz nützliche Eigenschaft für Bürger in einer Demokratie.“

„Deshalb“, so folgert sie, „ist es so ein entsetzlicher Irrtum, darauf zu sparen in Zeiten, wo man die Demokratie noch immer hoch in Kurs hat.“37 Könnte es sein, so kann man sich fragen, dass die Demokratie im Moment so sehr in die Defensive gedrängt ist und nur mühsam funktioniert, weil die kulturelle Bildung zu einem wenig ergiebigen Luxusartikel degradiert worden ist? Und dass diese ver37

Zitiert bei René Foqué, De demokratische rechtsstaat: een onrustig bezit? (Der demokratische Rechtsstaat: ein unruhiger Besitz?), FORUM, Utrecht 2011, 33f. 62

Rationalisierung bzw. Instrumentalisierung und Managerialisierung

kürzte Auffassung von Nutzen die Gesellschaft durch soziale Probleme, die sie hervorruft, straft? Nicht anders als die Bildung haben die Gesundheitsfürsorge, das Recht und die Politik ihre spezifischen Ziele, die sich nur in einem gewissen Maß in feststellbare Ergebnisse umsetzen lassen. Wenn man dies dennoch versucht, behält man nur ein verkürztes und ausgedünntes Aufgabenpaket übrig. Wenn im Gesundheitswesen die Pflege auf konkrete, in Zeiteinheiten berechenbare Handlungen (Nahrung und Medikamente herumreichen, waschen, Strümpfe anziehen usw.) reduziert wird, wird der Personaleinsatz aus Managementgesichtspunkten zwar gut planbar, aber auf diese Weise droht die persönliche Seite der Pflege Einbußen zu erleiden. Es ist bekannt, dass für den Gesundungsprozess persönliche Aufmerksamkeit von Ärzten und Krankenpfleger*innen für den Patienten, ein offenes Ohr für seine oder ihre Beschwerden, Ängste, Gefühle der Einsamkeit usw. sehr wichtig sind. Dafür muss man, um qualitativ gute Pflege zu bieten, Zeit haben. Anscheinend wird das jedoch oft als ein Effizienzverlust wahrgenommen. Forschungen haben gezeigt, dass, wenn ein Chirurg oder Anästhesist sich die Mühe macht, am Tag vor einer schweren Operation sich beim besorgten und nervösen Patienten hinzusetzen, ihn oder sie nochmals über den Vorgang aufzuklären und en passant die persönliche Beziehung zu vertiefen, dies den Aufenthalt im Krankenhaus um einen Tag verkürzt, weniger Schmerzmittel erfordert und die Chance zusätzlicher Infektionen verringert. Aufmerksamkeit für die „sanfte“ Seite der Gesundheitsfürsorge zahlt sich aus, könnte man meinen, aber anscheinend passt das nicht zum Effizienzdenken. Managerialisierung und instrumentalistisches Denken haben auch das Recht nicht unberührt gelassen. Ein solches Denken in Bezug auf das Recht ist der Auffassung, dass das Recht ein neutrales Instrument in den Händen politischer Machthaber ist. Selbstverständlich ist das Recht auch ein wichtiges Mittel zur Ordnung der Gesellschaft. Aber es ist dabei keineswegs neutral im normativen und weltanschaulichen Sinn. Diese Auffassung zu vertreten, d. h. Recht und Moralität als getrennte Sachen zu betrachten, ist bekanntlich die Position des Rechtspositivismus. Dieser führt das Recht auf eine faktische Angelegenheit von z.  B. psychologischer Anerkennung (so Ernst Rudolf Bierling) oder Machtausübung durch einen Souverän (so Felix Somló) zurück. Das läuft dem Tenor nach etwa auf dasselbe hinaus wie die These Hans Kelsens, dass die Normen des Rechts nicht wie die der Moral kraft ihres Inhalts gelten, sondern kraft der Methode, wie sie 63

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

zustande gekommen sind, d.  h. indem sie durch eine dazu legitimierte Instanz „gesetzt“ worden sind. Dann kann aber jeder beliebige Inhalt, wenn er von der dazu ermächtigten Person oder Instanz erlassen worden ist, Recht sein: „Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein, es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehaltes, ausgeschlossen wäre, zum Inhalt einer Rechtsnorm zu werden.“38

Meines Erachtens ist diese Position, die zu den größten Scheußlichkeiten und Absurditäten führen kann und auch tatsächlich geführt hat, unhaltbar. Man denke z.  B. an die Nürnberger Rassengesetze, die durch das Hitler-Regime 1935 eingeführt wurden. Sie verboten Deutschen, Juden zu heiraten und nahmen deutschen Juden ihre Bürgerrechte. Diese Rassengesetze können als Vorstadium des Holocausts betrachtet werden. Formal gesehen sind diese Gesetze auf legale Weise zustande gekommen, weil sie von der dazu befugten Regierung erlassen worden sind. Sie erfüllen also das von Kelsen formulierte Erfordernis, Recht zu sein. Inhaltlich stehen sie jedoch in diametralem Gegensatz zum Prinzip der Gerechtigkeit, dem alles Recht, das diesen Namen verdient, zu genügen hat. Kurz gesagt: Das Recht hat einen (inhaltlichen) eigenen Wert und eine eigene Logik, die bei einer instrumentalistischen Auffassung des Rechts vernachlässigt werden. Es steht im Zeichen der Idee der Gerechtigkeit („suum cuique tribuere“), die ihrerseits von der Humanitätsidee her bestimmt wird. Auf diese Weise, indem das Recht nach europäischer Auffassung von der Idee der Menschlichkeit normiert wird, sind im europäischen geistigen und sozialen Raum z. B. inhumane Strafformen „nicht möglich“. Nicht umsonst haben wir deshalb Strafen wie kreuzigen, aufspießen, steinigen, abhacken von Gliedmaßen, vierteilen, lebendig enthäuten, verbrennen, begraben oder ertränken abgeschafft. Es stimmt, dass diese Konsequenzen der europäischen Humanitätsidee für das Strafrecht sich nur langsam durchgesetzt haben. Noch im England der jungen Victoria wurde Hochverrat mit Erhängung und Aufschneiden des Sträflings bei lebendigem Leib bestraft. Heutzutage wäre das kaum noch vorstellbar. Obwohl wir nicht in den Fehler ver-

38

Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Scientia, Aalen 1985 (Neudruck der Erstausgabe von 1934), 63. 64

Instrumentalisierung und Bürokratisierung des europäischen Projekts

fallen sollten zu denken, dies sei eine endgültige Errungenschaft. Auch in dieser Hinsicht wird kulturelle Bildung geübt werden müssen. Zuletzt noch ein Wort zur Politik. Auch sie ist nach und nach immer mehr in ein instrumentalistisches Fahrwasser geraten. Sie ist immer mehr auf ihre „technische“, problemlösende Dimension reduziert worden. Oder, so kann man es auch sagen: Die Politik hat den Blick für das Politische als ihren Kompass verloren. Darunter wird eine zukunftsgerichtete Sicht der Gesellschaft verstanden, eine Gesellschaft, in der wir leben wollen und die sich an Werten orientiert, nach denen wir uns bei grundsätzlichen Entscheidungen hinsichtlich des Zusammenlebens richten. Demgegenüber hat die Politik immer mehr die Form des „Deichselns“ von Lösungen für konkrete Probleme von Politikern angenommen, die die Haltung und Arbeitsweise von Managern übernommen haben. Bei einer solchen „Regelungspolitik“, wie sie auch genannt wird, werden die moralischen Aspekte der Politik, die fast immer mit im Spiel sind, verneint oder den Blicken entzogen. In diesem reduzierten Universum politischer Technokraten wird Politik dann zu einer wertneutralen oder ideologiefreien Angelegenheit. Es geht dann darum, Problemlösungen zu finden, die durch die sogenannte Logik der Fakten geboten werden. Aber dieses „Abschütteln der ideologischen Federn“ unterschlägt, wie gesagt, den Werteaspekt politischer Entscheidungen, der sich jedoch nicht dauernd ignorieren lässt.

Instrumentalisierung und Bürokratisierung des europäischen Projekts Auch das Projekt Europa, und darum geht es mir selbstverständlich, steht in hohem Maß in der Gefahr der Instrumentalisierung. Schon die treffende Bezeichnung, die Luuk van Middelaar, Jahre lang der Mitarbeiter Herman van Rompuys, des ersten „Präsidenten“ der EU, für diesen Aspekt Europas formulierte, ist vielsagend: das „Europa der Büros“39. Er verweist damit auf ein in hohem Maß technokratisch verwaltetes Europa. Ich zitiere: 39

Luuk van Middelaar, De Passage naar Europa. Geschiedenis van een begin (Übergang nach Europa. Geschichte eines Anfangs), Historische Uitgeverij, 20155, 17f. 65

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

„Das Europa der Büros spricht über die Übertragung konkreter staatlicher Funktionen an eine europäische Bürokratie. Ziele und Richtlinien würden im voraus von den Staaten zu Papier gebracht werden, aber innerhalb dieses Rahmens würde die Bürokratie unabhängig funktionieren. Der Bürodiskurs erachtet das politische Leben für ein überschätztes und oberflächliches Phänomen. Grundsätzlicher als das Spiel zwischen Regierungen, Parlamenten und Bevölkerungen sind die diffusen ökonomischen und sozialen Kräfte, die dem alltäglichen Leben Form verleihen. Eine europäische Einheit kann aus der langsamen Agglomeration individueller Interessen und Gewohnheiten entstehen. Dieser Prozess kann gut von einer rationalen Bürokratie gesteuert werden. Ein visionäres Endziel, außer der Erhaltung der Büros, erachten Funktionalisten für überflüssig.“

Es ist klar, dass dies genau das Europa als ökonomische, juristische und technische Unternehmung bzw. ein bürokratisches Projekt ohne Seele ist, zu dem Schuman und Delors der Meinung waren, dabei könne es nicht bleiben, wenn das Projekt Europa eine lebenskräftige und zukunftsbeständige Wirklichkeit sein soll. Denn das Europa der Büros, der Beamten, Diplomaten und Juristen steht in zu großer Distanz zum Bürger und seiner Erfahrungswelt, um aus dem Projekt Europa eine lebendige Wirklichkeit zu machen, an der er sich beteiligt fühlen kann und für das er bereit ist zu investieren. Das Projekt hat, anders gesagt, nur eine Zukunft, wenn die europäischen Bürger es als ihre Sache betrachten und erfahren, und nicht als eine Angelegenheit einer bürokratischen Elite. Die Parallele zum Recht fällt hier sofort auf. Denn auch das Recht kann es sich nicht erlauben, eine geschlossene Welt von juristischen Sachverständigen zu sein und sich dabei souverän nicht beirren zu lassen. Wie „technisch“ das moderne Recht auch geworden sein mag, so dass sich nur noch Experten in den verschiedenen Teilgebieten des Rechts zurechtfinden, es wird, was seine Grundprinzipien und seine allgemeine Ausrichtung betrifft, sich an das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung anschließen müssen, wenn es nicht seine soziale Basis verlieren will – und zwar mit fatalen Folgen. Das Recht ist, wie manchmal gesagt wird, ebenso wenig eine Angelegenheit ausschließlich der Juristen wie ein Krieg nur Sache der Generäle ist. In beiden Fällen sind sie Sachwalter der Gemeinschaft als Ganzer. Und um das Europa der Büros ist es nicht anders bestellt. 66

Instrumentalisierung und Bürokratisierung des europäischen Projekts

Das „Europa der Büros“ ist aus der Sicht Van Middelaars einer der drei Grunddiskurse, die seiner Meinung nach „im Wortschwall über europäische Politik“ unterschieden werden können. Daneben stellt er das „Europa der Staaten“ und das „Europa der Bürger“. Ersteres lässt die Länder Europas ihre Souveränität behalten und setzt alles auf die Karte zusammenarbeitender nationaler Regierungen. Dies ist jedoch, wie schon gesagt wurde, in der heutigen Welt nicht mehr realistisch und zukunftsfähig. Denn die einzelnen europäischen Länder, sogar Deutschland als deren kräftigstes, sind zu klein geworden, sich aus eigener Kraft im rauen Wind einander Konkurrenz machender politischer und ökonomischer Blöcke (Vereinigte Staaten, China, große aufsteigende Ökonomien wie Indien u. a.) zu behaupten. Und die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat gelehrt, dass eine gemeinschaftliche Beschlussfassung von 27 Ländern mit divergierenden Interessen wenig bewirkt, und dass mühsam erreichte Kompromisse von den teilnehmenden Staaten regelmäßig nicht befolgt werden. Dann bleibt als einzige seriöse Möglichkeit nur das Europa der Bürger übrig, das in der Tat in Begriffen einer europäischen Föderation denkt, also eine Reihe von Befugnissen der nationalen gesetzgebenden, ausführenden und richterlichen Gewalt in eine europäische Regierung, ein europäisches Parlament und einen europäischen Gerichtshof überführen will. „Ähnlich dem Beispiel der amerikanischen Republik“, so schreibt Van Middelaar, „üben diese zentralen Einrichtungen ihre Macht auch direkt über die Bürgerschaft aus, mit Übergehung der nationalen Staaten. Ihre Legitimität beruht auf einer europäischen Wählerschaft. Der Bürgerdiskurs erwartet also vieles von einem gemeinschaftlichen Parlament und einer europäischen öffentlichen Meinung. (…) Das Endziel der Föderalisten ist eine demokratische Gesellschaft, die sich vorzugsweise als eine kulturelle und wenigstens als eine politische Einheit weiß.“40

Wie würde nun Europa eine Angelegenheit der Bürger sein können, die sie auch wirklich als ihre Sache erfahren? Indem, wie ich denke (und hoffe), die Geschichte Europas erneut aufgefrischt wird, indem wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, wer wir zutiefst sind und sein wollen, was die Quellen sind, aus denen wir leben und

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A.a.O., 17f. 67

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

was unser Bild einer Gesellschaft ist, in der wir uns zu Hause fühlen können. Kurz: Wir müssen durch die Bäume der europäischen Einrichtungen hindurch wieder den Wald der europäischen Identität sehen. Oben habe ich „die Modernität“ als die tektonische Platte der modernen europäischen Kultur bezeichnet. Als deren Merkmal nannte ich, in Übereinstimmung mit der gängigen Auffassung: Rationalisierung bzw. Intellektualisierung, Versachlichung, Säkularisierung, Bürokratisierung, Individualisierung und Kommodifikation, oder, auf einen Nenner gebracht, „Entzauberung“ und Prosaisierung der Welt. Dem könnte noch Folgendes hinzugefügt werden: der dynamische und aktivistische Charakter der modernen Gesellschaft, das Ausgerichtetsein auf die Zukunft, auf Grenzverschiebung, Fortschritt und Wachstum, das Denken in Begriffen wie Nutzen und Effizienz, Machen, Beherrschen, Kontrollieren und Managen, und das Angehen der Dinge aus instrumentalistischer Perspektive. Noch nicht genannt, aber zu diesem ganzen Komplex gehörend und beiläufig auch schon gestreift (z. B. als von der Anwendung der Perspektive in der Malerei die Rede war), ist der Anthropozentrismus, die Tatsache, dass der moderne Mensch sich nicht mehr als in einen übergreifenden Zusammenhang eingebettet erfährt, sondern sich daraus losgelöst und sich als Zentrum der Welt eine besondere Position zugedacht hat. Was im Lauf der Zeit und kulminierend im 20. Jahrhundert dazu geführt hat, dass dieser Mensch, als er den Halt nicht mehr in sich selbst fand, dazu gekommen ist, sich als schwebend über dem Nichts bzw. als „geworfen“ in eine fremde, kalte und absurde Welt zu erfahren, als eine „displaced person“ oder als einen „Zigeuner am Rand des Universums“, um die Worte des französischen Molekularbiologen Jacques Monod zu verwenden. Dies alles liegt auf der Linie der Aufklärung, des einen Hauptstrangs der modernen europäischen Kultur (die, wie gesagt, eine gespaltene Kultur ist). Der ganze Komplex der oben genannten Züge der modernen Kultur repräsentiert die kalte Seite der europäischen Identität. Es ist die Sphäre der Distanziertheit, der äußeren (unter anderem vertraglichen) Beziehungen und eines äußerlichen Begriffs des Wohls, überhaupt der Objektivierung und Verdinglichung der Wirklichkeit, einschließlich der menschlichen. In dieser Betrachtungsweise ist alles nur äußerlich: Die Dinge und Prozesse haben keine Innenseite, sind unpersönlich und anonym, stehen in der dritten Person. Die Aufklärung kann sich einer eindrucksvollen Gewinnrechnung rühmen. Sie hat uns gelehrt, nicht einfach mit Überzeugungen und Wahrheiten vorliebzuneh68

Instrumentalisierung und Bürokratisierung des europäischen Projekts

men, weil sie das Gütezeichen einer ehrwürdigen Tradition tragen. Die Wahrheit ist, wie oben gesagt, aus moderner Perspektive keine Gegebenheit, sondern etwas, was in einem nie abgeschlossenen Entdeckungsprozess erst noch gefunden werden muss. Dazu müssen wir uns, um mit Kant zu sprechen, unseres eigenen Verstands und unserer eigenen Einsicht bedienen, kurzum mündig werden. Durch diese kritische Haltung hat die Aufklärung uns von vielen Wahnideen erlöst, wie z. B. von dem Schrecken einer ewigen Strafe, oder von einer natürlichen Überlegenheit gewisser Rassen oder Stände, von verbindlichen Ordnungen des sozialen Lebens, die, wie behauptet, mit der Schöpfung gegeben oder in der Natur verankert seien, die aber, wie sich herausstellte, einzig auf Konventionen beruhten. Im Zeichen einer solchen kritischen Einstellung steht ihrer Art nach die Philosophie, schon in einer ersten Aufklärungswelle bei den Griechen, dann von Neuem als typischer Spross der Modernität. Philosophie ist ja der Wille, nicht aus Illusionen zu leben, wie erträglich und bequem sie das Dasein auch machen würden. Sie ist deshalb die Bereitschaft, damit zu rechnen, dass sich die Dinge doch ganz anders verhalten als wir denken und insbesondere als wir wünschen. Es ist die Bereitschaft, auch die tief eingewurzelten Überzeugungen aufs Eis zu legen, um sie prüfen zu lassen. Philosophisches Wissen wird kurzum fortwährend vom Bewusstsein ihrer fundamentalen Bezweifelbarkeit begleitet. Das Gleiche gilt für die moderne Wissenschaft, ebenfalls ein eheliches Kind der Aufklärung. Auch sie wird ihrer Art nach vom Bewusstsein begleitet, dass jede Einsicht vorläufig und revisionsfähig ist. Ihre Geschichte zeugt denn auch von immer erneuten Durchbrüchen, wodurch neue Fenster auf die Wirklichkeit geöffnet werden. Durch diesen immer weiter reichenden und tiefer in die Realität eindringenden Blick verschaffte die Wissenschaft uns Mittel, die Prozesse in Natur und Gesellschaft zu beeinflussen und in die von uns gewünschte Richtung zu steuern, kurzum, uns Zugriff auf unser Dasein zu geben. Auf diese Weise sind, um nur einige Beispiele zu nennen, viele epidemische Krankheiten, die frühere Generationen heimsuchten, praktisch verbannt und viele Ursachen eines vorzeitigen Todes zurückgedrängt worden, sind große Gruppen von Menschen aus der bitteren Armut, in der sie vormals lebten, herausgeholt worden usw. Diese Aspekte der europäischen Kultur sind dann von Gesellschaften in aller Welt übernommen worden. Die Aufklärung hat sich mit ihrer kritischen Haltung nicht auf Wissenschaft und Philosophie beschränkt. Im Gegenteil, sie ist ein Ferment der modernen Le69

Kapitel II Die Modernität als die tektonische Platte der europäischen Kultur.

bens- und Denkart überhaupt geworden. Die moderne Gesellschaft und Kultur sind für alle Zeiten durch die Aufklärung gekennzeichnet und können nicht hinter sie zurück. Ernüchterung, Desillusionierung und „Entzauberung“ machen die Modernität aus. In dieser Hinsicht hat Simmel (siehe oben) ohne Weiteres Recht. Der moderne Mensch kann nicht mehr unbefangen „naiv“ sein. Moderne Errungenschaften wie die Demokratie, der Rechtsstaat, eine gut funktionierende Presse und öffentliche Meinung ruhen darauf. Hier läuft eine Wasserscheide zwischen vormoderner und moderner Kultur, die sogar für die Religion (die meistens in vormodernem Sinn verstanden wird) nicht ohne Folgen bleibt. Es ist modernem Empfinden nach nicht mehr möglich, unbefangen von der Transzendenz her zu denken und im Namen Gottes oder des Göttlichen zu sprechen. Prägnant ist das zusammengefasst im oneliner des niederländischen Theologen Kuitert: Alles Sprechen über Oben kommt von Unten (auch wieder ein Beispiel der Umkehrung der Perspektive). Was jedoch nicht heißen solll, dass das Dasein, auch das moderne, keine Dimension einer Ausrichtung auf das „Höhere“ mehr hätte, aber, dass diese Ausrichtung anders als vorher gefüllt werden müsste, bzw. dass Religion und Spiritualität unter modernen Umständen einen anderen Inhalt und ein anderes Gesicht erhalten. Die Aufklärung als die zusammenfassende Bezeichnung des ersten Hauptstrangs der modernen Kultur hat, wie man mit Recht behaupten kann, das Gesicht Europas tiefgreifend gezeichnet. Sie ist jedoch nicht als einzige prägend für unsere Kultur. Sie hatte kein Auge für einen ganzen Bereich von Erscheinungen, die ebenso sehr kennzeichnend für das menschliche Dasein (und für die Wirklichkeit überhaupt) sind. Sie rechnete nur mit dem, was in Termini von Zähl- und Messbarkeit zugänglich ist, was empirisch greifbar und (mittels eines beschränkten Rationalitätsverständnisses) rational beweisbar, machbar, vorhersagbar und beherrschbar ist. Sie rechnete kurz und gut nur mit dem Bereich der sogenannten „harten Kräfte“. Und sie hatte einzig ein Auge für das Allgemeine, Typische, Geregelte und „Gewöhnliche“.

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Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee Die „Halbierung des Weltbilds“ Obige Sicht der Dinge habe ich andernorts als die „Halbierung des Weltbilds“41 beschrieben. Es gibt eine ganze Palette von Phänomenen, die auf diese Weise entweder ganz übersehen werden oder nur verzerrt erscheinen. Es geht um den Platz, den die Intuition, die Fantasie und die Einbildungskraft im menschlichen Dasein einnehmen, um den Hang zum Schönen, Poetischen und mehr als Gewöhnlichen, und zum nicht in Regeln einfangbaren Schöpferischen. Diese Aufmerksamkeit für das Besondere, Einmalige, individuell Eigene (im Gegensatz zum Typischen und Allgemeinen), für das Spontane, Originelle, Unkonventionelle, sogar Abnormale und Extreme, von dem namentlich die Romantik das Sprachrohr geworden ist, ist nicht weniger als das Aufklärungsdenken ein fundamentales Merkmal der modernen Kultur. Man kann diese Sichtweise mit vollstem Recht das andere Gesicht der Modernität nennen. Nicht weniger als die Aufklärung zeigt sie eine Reihe von typisch modernen Merkmalen. So fängt die moderne Kunst mit der Romantik an. Wie der belgische Philosoph Antoon Braeckman schreibt: „Die romantische Kunst bricht (…) erstmals mit der traditionellen Kunstauffassung und weist damit voraus nach Entwicklungen in der modernen 41

Koo van der Wal, De halvering van het wereldbeeld. Het andere gezicht van de moderniteit (Die Halbierung des Weltbildes. Das andere Gesicht der Modernität), Rotterdamse Filosofische Studies, Rotterdam 1997. 71

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

und heutigen Kunst. So hört Kunst in der Romantik auf, Nachahmung (imitatio) der Natur zu sein. Kunst wird zum originellen Schöpfungsakt (creatio), die ihren Ursprung in der menschlichen Phantasie (imaginatio) findet. Kunst steht auch nicht länger im Dienst der Religion oder Moral als ornamentale oder erbauliche Veranschaulichung sakraler oder moralischer Vorstellungen. Kunst fordert mit der Romantik zum ersten Mal nachdrücklich ihre Selbständigkeit ein. Kunst hört vor allem auf, Können im Sinn von Handwerk zu sein. Sie betrachtet sich nicht länger als gebunden durch strenge Regeln, sondern präsentiert sich primär als spontaner, ungebundener Ausdruck des Individuums. Zudem verbinden die Romantiker erstmals mit der Kunst auch Dimensionen, die in der Entwicklung zur heutigen Kunst hin immer wichtiger werden. So schreiben sie der Kunst eine wichtige emanzipatorische Bedeutung zu. Kunst befreit, oder zeigt mindestens den Weg, auf dem Befreiung möglich ist – wie die Avantgarde später behaupten wird. Es ist ein Gedanke, der sofort auf die Position des Künstlers zurückschlägt. Er bekommt die exklusive Rolle eines Propheten, eines Sehers oder eines (erhabenen) Gesetzgebers zugedichtet. Aber entscheidender noch zeigt die romantische Kunst ihren modernen Charakter in ihrer Reflexivität. In der Romantik beugt sich die Kunst zum ersten Mal auf sich selber zurück, und zwar sowohl indem sie sich selbst innerhalb des Kunstwerks thematisiert, als durch den Ausbau einer Kunstphilosophie oder Kunsttheorie.“42

Noch ein typisch moderner Zug der Romantik muss genannt werden: Der Mensch hat nicht einfach eine Identität (z. B. als vernünftiges Wesen), sondern muss sie sich immer noch erobern. Die Romantiker sagen: Er soll versuchen, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen, ein Gedanke, der auch heute, unter anderem in der Lebenskunstphilosophie, wieder viel Anklang findet. Zu diesem anderen Gesicht der Modernität gehört auch ein Bewusstsein für Erscheinungen, die sich nicht zielgerichtet und direkt aufrufen lassen, denen aber in der Moderne ein hoher Wert beigemessen wird. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Glück, Freude, Liebe, Freundschaft, Autorität, Vertrauen, Authenti42

Antoon Braeckman, „De romantische kunsttheorie“, in: Karin de Boer & Koo van der Wal (red.), Wijsgerig Perspectief, Jg. 41 (2001), Nr. 6, 16f. 72

Die „Halbierung des Weltbilds“

zität, Intimität, persönliche Überzeugungen und eine Anzahl sozialer Phänomene. Besonders Max Scheler hat betont, dass Glück, (aber auch z. B. Freude), kein Ergebnis von Anstrengungen sein kann. Im Gegenteil: Es tritt nur vermittelt über andere Zustände auf, „auf dem Rücken“, wie Scheler sich ausdrückt, von Handlungen, die auf Inhalte ganz anderer Art gerichtet sind. Deshalb, so schreibt Josef Pieper in ähnlicher Weise, „wird uns, wann immer es uns widerfährt, glücklich zu sein, etwas Unvorhergesehenes zuteil, etwas, das nicht vorausgesehen werden konnte und also der Planung und dem Absehen entzogen blieb. Glück ist wesentlich Geschenk“43.

Seinem Wesen nach, so kann man das auch ausdrücken, lässt sich das Glück nicht erzwingen. Das tun zu wollen, betrachtet der Psychiater Viktor Frankl sogar als ein Symptom einer neurotischen Haltung44. Er zitiert in diesem Zusammenhang Kierkegaard, der mal die Bemerkung machte, die Tür zum Glück öffne sich nur nach außen hin, sie müsse also für jemanden geöffnet werden. Wer sie einzurennen versucht, wirft sie nur umso fester ins Schloss. Glück, so legt Frankl dar, ist nur möglich, wenn es dazu einen Grund gibt, und dieser kann nur in Erfahrungen von Sinn und in der liebevollen Begegnung mit anderen bestehen. Nur indirekt, über diesen Grund und als dessen Begleiterscheinung, ist Glück erreichbar, nicht indem man geradewegs darauf fixiert ist. Das Gleiche gilt für die anderen oben genannten Erscheinungen. So bemerkt Erich Fromm in Bezug auf die Freude: „Freude ist eine Begleiterscheinung produktiven Tätigseins“45. Wer ihr zielgerichtet nachstrebt, wird nur in einem Zustand forcierter aber leerer Heiterkeit landen. Ebenso wenig können Autorität und Achtung durch zielgerichtete Aktionen erworben werden. Sie eignen sich nicht zum „Scoren“, sondern können nur als Zugabe den Menschen zufallen, die von Herzen bei der Sache, womit sie sich beschäftigen, sind, ihrem wissenschaftlichen Werk, ihrer Kunst, der Pflege verletzlicher Menschen oder was auch immer. Es 43 44

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Josef Pieper, Glück und Kontemplation, Kösel Verlag, München 1957, 22. Viktor Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, Piper, München 19854, 101 u. ö. Erich Fromm, Haben oder Sein, DTV, München 19804, 115. 73

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

sind alles Zugabephänomene, wie ich sie benenne46, die uns en passant bei anders gerichteten Aktivitäten zufallen. Sie erfordern deshalb nicht sosehr eine aktivistische als vielmehr eine rezeptive Einstellung, eine Haltung des Sich-Öffnens für nicht inszenierte Erfahrungen. Hier liegt der große Unterschied zum Machbarkeitsdenken. Dort handelt es sich nämlich um Erscheinungen, die sich unter von uns bestimmten Bedingungen reproduzieren lassen. In reinster Form begegnen wir diesem Typus von Erfahrung im wissenschaftlichen Experiment, wo in der Tat Phänomene unter von uns festgestellten Bedingungen erforscht werden. Dies ist jedoch eine stark verkürzte Art von Erfahrung. Denn schon der Terminus selber deutet darauf hin: „Erfahren“ leitet sich von „Fahren“, d. h. „Reisen“, „sich Fortbewegen“ her. Er-fahren ist dann: Mittels Reisen durch die Welt Erfahrungen machen, lernen von dem, was man sieht, was einem wider-fährt. Erfahren heißt also: Mit der Wirklichkeit, oft ungebeten, konfrontiert zu werden. Es betrifft Typen von Erfahrungen, die man nicht machen kann, ohne sich persönlich ins Spiel zu bringen (dies im Gegensatz zur wissenschaftlichen Haltung, wo man dies nicht oder so wenig wie möglich macht), Typen von Erfahrungen also, die man geschehen lassen muss, ohne zuvor die Bedingungen festzulegen. Dazu muss man deshalb die experimentelle Einstellung prinzipiell verlassen. Wer sich experimentell der Treue seines Lebenspartners oder Freundes vergewissern wollte, würde das Phänomen nicht einmal ins Visier bekommen. Wer coûte que coûte Regisseur seines eigenen Lebens sein will, der kann Erfahrungen wie Vertrauen, Freundschaft und Liebe nicht machen. Das Gleiche gilt für das Sinnphänomen. Wer einseitig Sinn geben will, also von sich her Sinn organisieren will, wird nahezu sicher bei einem Sinndefizit landen, wie die moderne Philosophie in reichem Maß demonstriert. Immer geht es also um Erscheinungen, die nicht zielgerichtet bewerkstelligt werden können, sondern einem als Zugabe beim Ausüben anderer Aktivitäten zufallen: z. B. zusammen musizieren oder Sport treiben, ein gutes Gespräch führen, zusammen ein Projekt in Angriff nehmen, usw. Damit befinden wir uns im Bereich der „sanften Kräfte“, die die Prozesse im Leben und Zusammenleben in hohem Maß bestimmen, aber, weil sie sich dem Bild berechenbarer, steuerbarer

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Koo van der Wal, Die Umkehrung der Welt, a.a.O., 152ff. 74

Die europäische Humanitätsauffassung

Faktoren nicht fügen, als „soft“ abgetan werden – man denke nur an die entscheidende Rolle des Vertrauens im Bereich der Ökonomie, z. B. beim Anstieg oder Rückgang der Börsenkurse. Dieses Vertrauen ist eine nicht manipulierbare Angelegenheit. Im Gegenteil: Jeder Versuch, es zu manipulieren, wird eine entgegengesetzte Auswirkung haben. Nur durch lange dauerndes, zuverlässiges Verhalten kann es allmählich wachsen. Vertrauen kommt, wie das Sprichwort sagt, zu Fuß, aber geht (durch berechnendes, Misstrauen erweckendes Betragen) zu Pferd. Wir haben hier einen anderen Hauptstrang des vielfarbigen Gewebes der europäischen Kultur vor uns, nicht weniger charakteristisch für den „europäischen Geist“ als der der Aufklärung, Rationalität und Versachlichung. Man kann diese Kultur, wie es oft geschieht, als die Geisteshaltung der Romantik bezeichnen oder mit Kurt Hübner (siehe oben) als die mythische Denk- und Lebensform. Obwohl beide Bezeichnungen ihr gutes Recht haben, also eine Reihe zu diesem Strang gehörender Erscheinungen gut treffen, bevorzuge ich einen etwas anderen Zugang. Während die Aufklärung eine äußerliche, verdinglichende Sehweise repräsentiert, handelt es sich hier primär um etwas, das nicht organisierbar ist, sondern von innen heraus wächst und sich selbst organisiert, etwas, was von innen heraus erfahren und durchlebt wird. Sie kann als meine oder deine Erfahrung benannt werden und steht deshalb in der ersten oder zweiten Person. Ich beziehe mich folglich bei der Charakterisierung dieses zweiten Strangs auf die Idee der Person, eines „Selbst“ mit einer eigenen Sicht der Dinge, einem eigenen Gewissen bzw. einer Antenne in Bezug auf Gut und Böse, einer eigenen Welt durchlebter Gefühle von Freude, Liebe, Kummer, Einsamkeit usw., einem eigenen Willen, aber nicht weniger ausgestattet mit einem Sozialbewusstsein und einem moralischen Verantwortungsgefühl.

Die europäische Humanitätsauffassung So gesehen ist der organisierende und Einheit stiftende Faktor dieser Dimension der europäischen Identität also eine bestimmte Auffassung von Humanität, d. h. eine normative Auffassung des Menschseins. Diese Idee des Personseins oder der Humanität nährt sich aus verschiedenen Quellen, und zwar aus der jüdisch-christlichen, der griechisch-römischen und der germanisch-keltischen Tradition. 75

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

Ich fange mit letztgenannter Tradition an, weil ich mich da relativ kurz fassen kann. Es handelt sich speziell um die Art und Weise, wie die Machtverhältnisse geregelt sind. Es haben sich in diesen Gemeinschaften nie stark hierarchische Beziehungen mit einer großen Konzentration der Macht entwickelt, wie z. B. im alten Persien – ganz im Gegenteil: Die Macht ist verteilt. Der König ist, wie es im ganzen Mittelalter der Fall sein wird, primus inter pares der freien Männer, der erste Adlige des Landes. Die Macht des Königs ist gebundene Macht, die ihm von der Versammlung der freien Männer zu Diensten des bonum commune, des Wohls der Gemeinschaft, verliehen worden ist. Diese Macht wird ihm jedoch genommen, wenn er sie zum eigenen Vorteil und auf Kosten des Volks missbraucht, kurz, wenn er sich als Unterdrücker und Tyrann entpuppt. Die Beziehung von König und Volk ist also kein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis, sondern ein gegenseitiges, wobei das Volk dem Fürsten Gehorsam, oder besser: Treue verspricht, unter der Bedingung, dass der Fürst das Recht des Landes, die „Rechte und Freiheiten“ des Volks respektieren wird. Diese Konzeption von Bindung der Macht beherrscht das ganze Mittelalter. Verbreitet ist in dieser Epoche der Brauch, dass der Fürst (König, Herzog, Graf) beim Antritt seines Amts den Gesetzen des Landes Treue schwört47. Weit davon entfernt, über dem Gesetz zu stehen, wie die Absolutisten aller Zeiten es wollten, ist der König also, nicht anders als das Volk, den Gesetzen des Landes unterworfen48. Stärker noch: Seine Aufgabe besteht eben darin, Hüter jener Gesetze zu sein. Nimmt er es damit nicht so genau, wird er also zu einem Rechtsbrecher, entbindet er das Volk von seinem Treue-Eid und gibt ihm das Recht, ihn zu „verlassen“, sich gegen ihn aufzulehnen49. In dieser Tradition ist das Widerstandsrecht also ein wesentlicher Teil des Denkens über Recht und Gemeinschaft. Es ist dieser Gedanke

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Man denke z. B. an die „Joyeuse Entrée“ (den Frohen Einzug) der Herzöge von Brabant. Für andere Beispiele des gleichen Gedankenkomplexes siehe Leo Delfos, „Alte Rechtsformen des Widerstandes gegen Willkürherrschaft“, in: A. Kaufmann (Hg.), Widerstandsrecht, WBG, Darmstadt 1972, 59–86, insbes. 70ff. Bis in die Etymologie des Wortes „Rex“ hört man das durchklingen: „Rex“ wird erachtet, abgeleitet zu sein von „recte (agere)“, richtig oder gerecht zu handeln. Wer also nicht gerecht regiert, ist einfach kein König. Siehe Delfos, a.a.O., 74f. Die Abschwörung Philips II. durch die niederländischen Stände in der „Acte van Verlatinghe“ (1581) folgt noch ganz diesem Gedankenmuster. 76

Die europäische Humanitätsauffassung

der Bindung aller Herrschaft an das Recht, der eine wichtige Prämisse der Ideen des Rechtsstaats und der Menschenrechte ausmacht. Menschen sind in dieser Sichtweise also nicht nur Untertanen, sondern zugleich freie Teilnehmer am Zusammenleben mit eigenen Rechten und Freiheiten. Zugegeben, dies galt ursprünglich nur für die „freien Männer“, aber im Lauf der Zeit ist es auf alle Menschen ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer sozialen Position usw., ausgeweitet worden. Darin kommt eine Auffassung des Menschseins zum Ausdruck, die für die europäische Tradition bestimmend geworden ist. Dann zum jüdisch-christlichen Gedankengut: Sein wesentlicher Bestandteil ist die Idee, dass der Mensch zum Bild Gottes geschaffen worden ist. Damit bekam er eine besondere Position inmitten des Geschaffenen, wurde zu einem Wesen einer höheren Ordnung als die anderen Geschöpfe. In einem alttestamentlichen Psalm (Ps. 8, 6) wird er sogar fast göttlich bezeichnet. In der Tradition ist das Besondere des Menschen, dass er, wie es heißt, ein vernünftiges und sittliches Wesen ist. Ähnliche Gedanken finden sich auch bei griechischen und römischen Philosophen, z. B. bei Plato, Aristoteles und namentlich bei den Stoikern. Bei Plato ist der Mensch mit einer unsterblichen Seele ausgestattet, die eigentlich in einer höheren Welt, nämlich in der Welt der Ideen, zu Hause ist. Zwar hat sie sich durch einen Zwischenfall in die Schattenwirklichkeit der materiellen Dinge verirrt, ist in einen stofflichen Leib eingekerkert worden. Aber durch ihre Vernunft ist sie imstande, wieder in ihr Heimatland zurückzukehren. Bei den Neuplatonikern, einer Strömung, die bei Plotinos (204–270 n.  Chr.) ihren Anfang nimmt und durch die Zeit hindurch großen Einfluss gewann, z. B. auf die mittelalterliche Mystik, auf Strömungen wie den Pietismus in seinen verschiedenen Formen und auf die Literatur (z. B. Goethe), wird die Seele zu einer Ausstrahlung des göttlichen All-Einen, das der Ursprung und das Grundprinzip des Alls ist. Weil die Seele aus dem Einen ausgeströmt ist, ist sie wesensverwandt damit und kann durch Einsicht und Meditation wieder dahin aufsteigen. Das Gleiche kennt ja das Gleiche, wie Goethe Plotinos nachspricht: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnten wir das Licht erblicken? Lebt’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?“ 77

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

Auch bei Aristoteles, der viel „irdischer“ denkt als sein Lehrmeister, kommt die vernünftige Seele „von außen“, was so erklärt werden kann, dass sie eine zeitliche Individuation einer allgemeinen Seele ist, in die sie nach dem Tod auch wieder zurückkehrt. Bei den Stoikern ist der Mensch durch seine vernünftige Natur mit dem Göttlichen verwandt, das in der Form des Logos als Weltprinzip das Universum durchwaltet. Der Kaiser und Philosoph Marc Aurel sieht das so: Der andere Mensch (er kann sogar eine freche, falsche, missgünstige und unfreundliche Person sein) und ich sind durch die Natur miteinander verwandt, nicht weil wir „an demselben Blut oder Samen teilhaben, sondern an demselben Geist und an der gleichen göttlichen Abkunft“50. Wie er auch spricht „von dem Gott, der in dir wohnt“. Nebenbei bemerkt: Weil wir alle am göttlichen Logos teilhaben und so miteinander verwandt sind, sollten wir, Marc Aurel zufolge, einander wohlgesinnt und zur Zusammenarbeit bereit sein. Und weil der Kosmos oder die Natur unser gemeinschaftliches Zuhause ist, sind wir Menschen keine Fremden in der Welt. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass auch der Apostel Paulus in seiner Rede zu den Athenern auf dem Areopag den Menschen „seines (d. h. Gottes) Geschlechts“ nennt (Apostelgeschichte 17, 28).

Freiheit als konstitutives Element der europäischen Personidee. Altgriechische und moderne Freiheit Sowohl in der jüdisch-christlichen als auch in der griechisch-römischen Tradition ist der Mensch also von hoher Geburt, im Besitz eines göttlichen Funkens. Darin besteht, um vorzugreifen, seine unverlierbare, mit seiner Natur zusammenhängende Würde. Mit dieser Auffassung, was es bedeutet, ein Mensch oder eine Person zu sein, hängt unmittelbar die Idee der Freiheit zusammen: Der Mensch soll sich auf eigene Weise durch eigene Ideen und Handlungsweisen entfalten können – selbstverständlich unter der Bedingung, anderen damit nicht zu schaden. 50

Marc Aurel, Selbstbetrachtungen (übersetzt und eingeleitet von Prof.  W. Capelle), Kröner, Leipzig 1933, II,1 u. ö. 78

Freiheit als konstitutives Element der europäischen Personidee.

Dieser Gedanke der kreativen Selbstentfaltung der eigenen Veranlagung und den eigenen Überzeugungen gemäß, ist konstitutiv für die moderne Person- und Humanitätsidee. Man selbst sein zu können, sich entwickeln zu können zu demjenigen, der man zutiefst ist, die Gelegenheit zu haben, herauszufinden (wobei man eventuell Schiffbruch erleidet), wer man eigentlich zu sein wünscht, ist dann, was im Idealfall das Menschsein nach europäischer Auffassung kennzeichnet. Angedeutet war schon von der menschlichen Würde die Rede. Sich mit obengenannter Humanitätsidee zu identifizieren, beinhaltet also das Respektieren der Menschenwürde. Einer der ersten Texte, die im Zeichen der Menschenwürde stehen, ist die bekannte Oratio de hominis dignitate (Rede über die Würde des Menschen, 1486!) vom italienischen Renaissancephilosophen Giovanni Pico della Mirandola (1463– 1494). Hier wird auch sofort klar, dass die Menschenwürde mit dem Vermögen, sich selbst zu bestimmen und sogar zu schaffen, zusammenhängt. In der (nie gehaltenen) Rede kommt die berühmte Passage vom Gespräch Gottes mit Adam bei der Schöpfung vor. Nachdem Gott alle anderen Kreaturen geschaffen und ihnen allen eine wohlbestimmte Natur gegeben hat, in der ihr Wesen, ihre Gestalt, ihre Verhaltensweisen usw. festgelegt worden sind, kommt er zum Schluss zu Adam und sagt, dass sein Vorrat an Naturen erschöpft ist. Deshalb darf Adam nun sich selber erschaffen: „Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, hast und besitzest entsprechend deinem Wunsch und Entschluss. (…) Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.“51

Dieser Gedanke der Selbstkreation des Menschen durchzieht seitdem die abendländische Geistesgeschichte. Zum Beispiel wird bei Denkern wie Leibniz der Mensch aus diesem Grund ein „deus secundus“ (ein zweiter Gott) genannt. Und 51

Pico della Mirandola, Rede über die Würde des Menschen (Übersetzung von N. Baumgarten), Meiner, Hamburg 1990, 5f. 79

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

man kann an die Idee der „schöpferischen Vernunft“ bei Kant, Fichte und Hegel denken, an die Idee der Selbstsetzung beim späten Kant und bei Fichte oder an den sich selbst über die Arbeit verwirklichenden Menschen bei Marx. Die christliche Theologie und Philosophie hat, auf den Spuren namentlich des Kirchenvaters Augustin (354–430 n. Chr.), die Idee des Personseins dann so ausgearbeitet, dass der Mensch einen Personkern oder eine innerliche Sphäre besitzt, mit der er das empirische Dasein übersteigt. Personsein und Innerlichkeit hängen in dieser Sichtweise unmittelbar zusammen. Die Idee der Person hat ihre Wurzeln vor allem in der menschlichen Selbsterfahrung. Dahin sollen wir nach Augustin zu allererst den Blick wenden. Er wundert sich, dass die griechischen Philosophen immer den Blick auf die Außenwelt, die Natur, gerichtet haben, während die Innenwelt doch so viel mehr Reichtümer bietet. „Geh nicht nach außen“, so schreibt er, „kehre zu dir selber ein. Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.“52 Kein Wunder dann, dass Augustin der Verfasser der ersten Autobiografie ist, eines Berichts der eigenen Entwicklungsgeschichte vonseiten der Person selbst. Ein Hauptstrom der abendländischen Philosophie kann nun so charakterisiert werden, dass auf dieser Linie immer weitergegangen wird und immer neue Folgerungen aus jenem Ansatz gezogen werden. In dem Sinn kann von einer ego-logischen Tradition der abendländischen Philosophie gesprochen werden. Zentrale Instanz darin ist, wie das Wort schon sagt, das Ich, ob es nun das „ego cogito“ Descartes’, das „ich denke“ Kants (das, wie er sagt, „alle meine Vorstellungen muss begleiten können“), das sich selbst setzende Ich Fichtes, das Ego der transzendentalen Phänomenologie Husserls oder das Subjekt der durchlebten Erfahrung Kierkegaards und der Existenzphilosophen ist. Dazu muss sogleich bemerkt werden, dass hier nicht immer im gleichen Sinn von einem Ich die Rede ist. Bei Descartes, Kant, Fichte und Husserl wird zwar von einem Ich gesprochen, es wird jedoch nicht von sich, d. h. von der inneren Erfahrung her erklärt. Bei Kant z. B. ist die Vernunft mit eingeborenen Strukturen (Anschauungsformen, Kategorien, Ideen) ausgerüstet, die die Bauform der Erscheinungen der Erfahrung bestimmen. Diese Strukturen sind der Erfahrung abgeschaut worden, dann in die Vernunft zurückprojiziert, um von dorther zu

52

De vera religione, XXXIX, 72. 80

Freiheit als konstitutives Element der europäischen Personidee.

erklären, warum die Erscheinungen so sind, wie sie sind. Das Ich ist die Instanz, die die Einheit der Vernunft und so den Zusammenhang der Erfahrungswelt garantiert. Dann könnte es aber ebenso gut ein Es wie ein Ich sein. Es bleibt hier ja ein abstraktes und anonymes Subjekt. Es ist nicht verortet, hat keine persönliche Geschichte und individuelle Selbsterfahrung; es besitzt lediglich allgemeine Merkmale wie Rationalität und abstrakte Freiheit. Bei Augustin und wiederum bei Kierkegaard und den Existenzphilosophen wird das Ich dagegen von der konkreten Selbsterfahrung expliziert. Diese Denker sind zu der Einsicht gelangt, dass Ichsein bzw. Subjektsein keine abstrakte, anonyme und unpersönliche Angelegenheit sein kann: Ich erfahre mich selbst nämlich als unverwechselbar und notwendigerweise interessiert. Ich stehe nicht unbeteiligt, in der Haltung eines distanzierten und neutralen Zuschauers, den Dingen gegenüber, die mich zutiefst berühren: Mein Schmerz, den ich innerlich durchlebe, hat für mich eine völlig andere Bedeutung als irgendeine „objektive“ Tatsache in der Welt. Und das Gleiche gilt für meinen Kummer, meine Einsamkeit, meine Angst, meine Freude und andere tief durchfühlte Stimmungen, die keine mir nur äußerlich anhaftenden Zustände sind, sondern unlösbar verbunden sind mit wem oder was ich bin. Meine Schuld ist eine höchst persönliche Sache, auf die ich nur durch eine gleich persönliche Reue reagieren kann. Und mein bevorstehender Tod ist ebenso wenig nur so ein willkürliches Faktum in der Welt, sondern eine zukünftige Tatsache, zu der ich eine einzigartige Beziehung habe, wie kein anderer sie hat (auf unübertreffliche Weise beschrieben in Tolstois Erzählung „Der Tod von Iwan Iljitsch“). Diese Dimension der Innerlichkeit ist ein intrinsischer Teil der europäischen Idee der Person geworden. Jeder Mensch ist so gesehen ein Selbst mit einer inneren Sphäre, die zugleich in seiner äußeren Erscheinungsform, in seinem Blick, seiner Körperhaltung, seiner Gangart usw. durchscheint. Schon die Romantik hat dieser sogenannten „physiognomischen Psychologie“ ausführliche Beachtung geschenkt: der Art und Weise, wie Gestalt und Haltung des Körpers Ausdruck des bewussten und unbewussten Psychischen sind, bzw. wie die Augen und der ganze Körper Spiegel der Seele sind, oder genauer, weil dies noch eine zu äußerliche Metapher ist, wie der Leib die innere Verfassung der Person zum Ausdruck bringt. Damit ist jedoch keinesfalls gesagt worden, dass Äußeres und Inneres einfach zusammenfallen bzw. einander entsprechen. Wir sind und haben zugleich unseren Körper, wie unter anderen Helmuth Plessner mit seiner These der exzentri81

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

schen Positionalität des Menschen nachdrücklich klargemacht hat53. Wir fallen mit diesem Körper zusammen, leben wie das Tier von diesem Zentrum her, und verhalten uns zugleich dazu, können unserem Körper gegenüber von einer exzentrischen Position aus eine Distanz einnehmen, ihn objektivieren und als Mittel (z. B. beim Sport) einsetzen. Dann geht der Mensch also nicht in seiner äußeren Erscheinungsform auf, insbesondere auch nicht im Bürgersein einer politischen Gemeinschaft. Er hat, und auch das ist ein inhärenter Zug der europäischen Personsidee, eine innere Sphäre, die seine Freistätte ist, mit der er sich dem Zugriff der äußeren Mächte eines politischen und sozialen Drucks entzieht. Damit wird ein deutlicher Unterschied zwischen der griechisch-römischen Freiheitsidee und der der modernen Zeit sichtbar. Der französische Schriftsteller Benjamin Constant hat sie einander als „liberté participation“ und „liberté indépendance“ (Freiheit als Beteiligung und als Unabhängigkeit) gegenübergestellt. In der griechisch-römischen Welt ist Freiheit die Befugnis (der freien Männer), an der Beratung über Staatsgeschäfte teilzunehmen und einen Sitz in den Gerichten zu erhalten. Und der rechtschaffene Bürger macht von dieser Befugnis auch Gebrauch, wie die Aussage von Perikles in der schon genannten Rede beweist: „(…) einzig bei uns heißt einer, der daran (an den Staatsgeschäften) gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter.“ Hier geht das Menschsein also im Bürgersein auf. Aristoteles charakterisiert den Menschen denn auch als ein „zoon politikon“, ein im Polisverband lebendes Wesen. Demgegenüber besteht die moderne Freiheit vor allem darin, einen eigenen Raum zu haben, abgeschirmt gegenüber Außenstehenden, besonders gegen staatliche Einmischung – die Menschenrechte, die als Non-Interventionsrechte zu Buche stehen, bringen das zum Ausdruck. Der moderne Begriff einer Intimsphäre, das Abgrenzen eines eigenen Raums im Hinblick auf die Außenwelt, jetzt nicht nur im Hinblick auf den Staat, sondern genauso gut im Hinblick auf Mitbürger, Organisationen und Instanzen, ist eine andere Blume in diesem Strauß. Das ermöglicht die Chance, dass Freiheit auf diese Weise eine Angelegenheit vornehmlich der inneren Sphäre wird, was besonders in der deutschen Philosophie und politischen Wirklichkeit so geschah. Die politische Philosophin Hella Mandt macht in diesem Zusammenhang einen lehrreichen Vergleich zwischen

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Plessner (1928), 288ff. Siehe dazu Redeker (1993), 148ff, 193ff, 213ff. 82

Freiheit als konstitutives Element der europäischen Personidee.

der Position von Aristoteles und derjenigen Kants, eines der Begründer des modernen Liberalismus. Kant macht einen Unterschied zwischen äußerer und innerer Freiheit. Letztere besteht in einer innerlichen Übereinstimmung des wollenden und handelnden Menschen mit sich selbst. Sie bedarf weder der Anerkennung noch der Gewährung vonseiten anderer, sondern ist ein Vermögen, „welches Niemand uns rauben kann und dessen jeder dergestalt Freie für seine eigene Person, mitten unter tausend Unfreien, ungestört sich erfreuen kann“, wie der Kant-Schüler Rotteck in einem Artikel „Freiheit“ im Staatslexikon schreibt. Selbstverständlich hängt das unmittelbar damit zusammen, dass Kant Moralität zu einer Angelegenheit des guten Willens macht, anstatt guter Handlungsweisen, wie bei Aristoteles. Dann kann, wie Mandt schreibt, die Vervollkommnung des Menschen losgelöst werden von der Praxis, „die der menschlichen Gemeinschaft bedarf und ganz in das innere Dasein verlegt wird.“ Also: „‚Mitten unter tausend Unfreien‘ kann der Bürger in vollem Umfang Mensch sein, denn anders als in der politischen Ethik der aristotelischen Tradition hat in der politischen Philosophie Kants das Menschsein keinen öffentlichen Status mehr. Die politische Existenz ist für die Selbstverwirklichung des Menschen ohne konstitutive Bedeutung: für die frühliberale Theorie in Deutschland ist der Mensch nicht mehr zoon politikon.“54

Diese Auffassung, wobei das Politische für die Selbstverwirklichung als Mensch irrelevant geworden ist, besser noch: er für die innerliche Selbstkultivierung gut beraten wäre, sich weit von der Politik fernzuhalten, hat unter der späteren Bezeichnung des Unpolitischseins seit dem Dreißigjährigen Krieg besonders bei den Intellektuellen in Deutschland viel Anhang gefunden. Bekannt sind in diesem Zusammenhang die Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann, von denen er sich übrigens später distanzierte. Helmuth Plessner hat in seinem Buch Die verspätete Nation55 eine Analyse der Ursachen des „Sonderwegs“ gegeben, den Deutschland im Vergleich mit westlichen Ländern wie England, Frankreich, 54

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Hella Mandt, „Historisch-politische Traditionselemente im politischen Denken Kants“, in: Zwi Batscha (Hg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1976, 301f. Kohlhammer, Stuttgart 1959. 83

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

den Niederlanden usw. ging. Während dort eine selbstbewusste Bürgerschaft in der frühmodernen Zeit den Vorreiter machte und den Staat aufgrund der Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf demokratische Weise einrichtete, wurde in Deutschland im katastrophalen Dreißigjährigen Krieg, als dieses Land der Hauptschauplatz des Kriegs war, die bürgerliche Klasse dezimiert, und damit der die Demokratie tragende Stand. Überdies war Deutschland auch das Land des Luthertums, das großen Nachdruck auf die Innerlichkeit und auf die ganz persönliche Beziehung zu Gott legt, und so den öffentlichen Bereich, also die Politik, einer immer zu gehorchenden, weil von Gott eingesetzten Obrigkeit überließ. Deutschland, so Plessner, wurde auf diese Weise von einer in Begriffen wie Macht und vormodernen Ideen wie „Volkstum“ denkenden adligen Klasse regiert. Die Erfahrungen mit dem Nazismus machten dann klar, dass ein Staat, der nicht auf Ideen wie die Achtung für die (auf europäische Weise verstandene) menschliche Person und die damit zusammenhängenden Ideen der Freiheit und der in der Folge noch zu besprechenden Gleichheit und Solidarität gegründet ist, sich nicht gegen das Abgleiten in die Barbarei verteidigen kann. Darum, obgleich die Idee der Person eine Kategorie ist, die ihre Wurzeln primär in der inneren Selbsterfahrung hat, wird sie auch für die Einrichtung der öffentlichen Sphäre richtungweisend sein müssen – wenn wenigstens das Zusammenleben nach europäischer Überzeugung im Zeichen von Prinzipien von Humanität stehen soll, d.  h. so einzurichten ist, dass damit der Selbstentfaltung der Bürger als Person optimale Chancen geboten werden.

Die Gleichheit der Menschen als Menschen. Der Primat des Menschseins. Kritik des Machtphänomens Es ging mir im Vorhergehenden darum, sichtbar zu machen, wie die Idee der Freiheit direkt aus derjenigen der Person als sich selbst bestimmenden Wesens hervorgeht. Aber nicht weniger ist das der Fall mit der Idee der Gleichheit der Menschen. Auch hier beginne ich mit den christlichen Wurzeln: Bei Paulus findet sich die Aussage, dass in Christus „kein Jude noch Grieche, kein Knecht noch Freier, 84

Freiheit als konstitutives Element der europäischen Personidee.

kein Mann noch Weib ist; denn ihr seid allzumal Einer in Christo Jesu“ (Galater 3, 28). Alle empirischen Merkmale, die Unterschiede zwischen Menschen sichtbar machen, werden zwar von Paulus nicht geleugnet, werden jedoch aus einer höheren Perspektive, „in Christo Jesu“, sekundär und irrelevant. Historisch betrachtet hat das Christentum diese Sichtweise lange Zeit nicht zur politisch-sozialen Wirklichkeit werden lassen. Es ist bei einem religiösen oder „metaphysischen“ Prinzip geblieben, namentlich in der mittelalterlichen Ständegesellschaft, die dem Namen nach eine christliche Gesellschaft („respublica christiana“) war, aber in der Praxis der paulinischen Gleichwertigkeit aller Menschen keineswegs entsprach. Ideen bedürfen nicht selten einer längeren Inkubationszeit, um sich durchzusetzen. Nicht zuletzt ist das der Fall mit der Idee, dass Macht eine problematische Sache ist, die als solche der Legitimierung bedarf. Die mittelalterlichen Philosophen betrachten Macht (des einen über den anderen Menschen) als eine Naturgegebenheit des menschlichen Zusammenlebens. Dass es Machtverhältnisse gibt, ist also ein Faktum, das nicht problematisiert wird. Eine philosophische Betrachtung des Machtphänomens richtet sich hier nur auf die Art und Weise der Machtgewinnung und -ausübung. Alle politisch-philosophischen Schriften legen den Fokus deshalb auf den Fürsten, d. h. auf die Frage, ob er ein guter oder schlechter Herrscher ist. Ist er legal auf dem Weg der Erbfolge an die Macht gekommen und regiert er im Interesse des Gemeinwohls, insbesondere indem er die Rechte und Freiheiten der Stände achtet, ist er ein guter Fürst. Hat er sich durch eine Machtergreifung die Regierung angeeignet oder missachtet er die Rechte seiner Untertanen, gilt er als ein Tyrann und darf verjagt und manchen zufolge sogar getötet werden. Kurzum, in all diesen Betrachtungen geht es nur um die Art der Erwerbung und Ausübung der Herrschaft, die als solche jedoch nicht hinterfragt wird. Meines Wissens ist der interessante Denker der Übergangszeit vom Spätmittelalter zur frühmodernen Zeit Nikolaus Cusanus (1401–1464), der Erste, der eben dies tut56. Schon eher hatte es Autoren gegeben, wie Marsilius von Padua und William von Ockham, die behauptet hatten, rechtmäßige Herrschaft müsse auf der Zustimmung der Machtunterworfenen beruhen. Sie hatten aber nicht argumentiert, warum das so sei. Diese Frage stellt Cusanus. Wenn man, wie er, davon ausgeht, dass bei der Schöpfung alle Menschen als Gleiche geschaffen worden sind 56

Siehe dazu Peter Graf Kielmansegg, Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität. Klett, Stuttgart 1977, 69, 73, u. ö. 85

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

und darum Träger gleicher, natürlicher, in der Schöpfungsordnung verankerter Rechte sind, dann kann Herrschaft keine natürliche Gegebenheit des menschlichen Zusammenlebens sein. Dann muss dafür also ein besonderer Rechtfertigungsgrund gegeben sein. Der kann dann nur in der Zustimmung der Beteiligten bestehen. Aus der natürlichen Gleichheit aller Menschen als Menschen folgt, dass Macht gebundene Macht sein soll, gebunden nämlich an die Zustimmung der Machtunterworfenen. Auch bei den Stoikern (wiederum bei ihnen) sind alle Menschen im Prinzip gleich, auch hier wieder als Menschen, nämlich als teilhabend am selbigen Weltlogos. Illustrativ ist in diesem Zusammenhang der berühmte 47. Brief von Seneca an Lucilius (beide Plantagenbesitzer und Sklavenhalter!) über den Umgang mit Sklaven: „Es macht mir Freude, von denjenigen, die dich besucht haben, zu erfahren, dass du häuslich mit deinen Sklaven verkehrst. Das ehrt dich als vernünftigen und entwickelten Mann. ‚Es sind Sklaven‘. Nein, es sind Menschen. ‚Es sind Sklaven‘. Nein, es sind Hausgenossen. ‚Es sind Sklaven‘. Nein, es sind bescheidene Freunde. (…) Du sollst bedenken, dass der Mann, den du deinen Sklaven nennst, aus den gleichen Keimen gesprossen ist und Aussicht auf den gleichen Himmel hat, dass er auf gleiche Weise atmet, lebt und stirbt. Du kannst in ihm genauso gut einen frei geborenen Menschen sehen als er in dir einen Sklaven.“

Wieder ist es der gleiche Gedanke, dass das fundamentalste Faktum des Menschseins das Menschsein selbst ist mit allen darin enthaltenen Kennzeichen, Vermögen, Erfahrungen usw. Und dass in Bezug darauf alle anderen Fakten (ob man Bürger von Rom oder Athen ist, ob man Sklave oder Freier ist usw.) von untergeordneter Bedeutung sind. Diesen Gedanken finden wir dann wieder in der Zeit der Aufklärung, zum Beispiel in Lessings Theaterstück Nathan der Weise, wo es bekanntlich um die Frage geht, welche der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam nun die wahre Religion ist. Auch hier ist der Tenor, dass unsere fundamentalste Identität die des Menschseins ist und dass wir uns als Repräsentanten der verschiedenen Religionen darin finden können. Siehe z.  B. den Ausruf Nathans: 86

Die Menschenrechte

„Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Als Mensch? Ah! Wenn ich einen mehr in Euch Gefunden hätte, dem es g’nügt, ein Mensch Zu heißen!“

Die Antwort auf die Frage, welche der drei Religionen die wahre ist, können wir dann der Geschichte anheimstellen, weil es nicht die fundamentalste Frage ist. Auf derselben Linie liegt selbstverständlich die Antwort des Oberpriesters Sarastro im zweiten Akt von Mozarts Zauberflöte, wo ein Priester ihn fragt, ob Tamino, die Hauptperson der Oper, die harten Prüfungen überstehen kann. Das Argument: „Bedenke: Er ist ein Prinz.“ Die Antwort Sarastros: „Mehr! Er ist ein Mensch!“ Auch hier ist im Hinblick auf die soziale Position das Menschsein die primäre Gegebenheit. Und in dieser Sicht ist die höchste Form der Liebe die zwischen Menschen um dieses Menschseins willen: „In diesen heil’gen Hallen, Wo Mensch den Menschen liebt“, wie der Text einer bekannten Arie aus derselben Oper lautet.

Die Menschenrechte Es ist klar, dass dieser Gedanke vom Primat des Menschseins auch den Menschenrechten zugrunde liegt. Auch sie ruhen auf der Achtung der Menschenwürde, wie der schon zitierte erste Artikel des deutschen Grundgesetzes explizit sagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Der Artikel fährt dann fort: „Das deutsche Volk bekennt sich darum (!) zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Der ganze Katalog von Grundrechten, der dann folgt, ist nichts anderes als die Operationalisierung des Grundprinzips der Achtung der Menschenwürde für eine breite Skala von Situationen. Auf diese Weise wird für Menschen der Raum geschaffen, sich als ein Selbst der eigenen Veranlagung und Lebensüberzeugung gemäß verhalten zu können – unter der Bedingung, nochmals, damit nicht in die Rechte anderer einzugreifen. 87

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

Wiederum ist es folglich eine Auffassung von Humanität, wie sie sich in der europäischen Geschichte entwickelt hat, die der Idee der Menschenrechte zugrunde liegt. Eine Auffassung von dem, was Menschsein im vollen Sinn bedeutet, und zwar dem eigenen Leben schöpferisch Gestalt geben zu können bzw. Subjekt des eigenen Daseins zu sein, sich wirklich als Person ausüben zu können. Dabei geht es um Grundprinzipien für die Einrichtung des Zusammenlebens. Die Menschenrechte sind so betrachtet zuallererst Prinzipien politischer Ethik. Vor allem betreffen sie das Verhältnis von Obrigkeit und Bürgern (die sogenannte vertikale Wirkung), weil die Obrigkeit als die Instanz gesehen wird, die die Ordnung im öffentlichen Bereich bestimmt und aufrechterhält. Das schließt jedoch eine horizontale Wirkung auf der Ebene der gegenseitigen Beziehungen der Bürger oder privater Unternehmen nicht aus, besonders wenn es sich um „große Spieler“ wie multinationale Konzerne oder andere große Korporationen handelt, die neben den Behörden großen Einfluss auf die zwischenmenschlichen Beziehungen ausüben. Dass es sich um Grundprinzipien für die Einrichtung des Zusammenlebens nach seinen unterschiedlichen Aspekten handelt, spiegelt sich dann in der Ausfächerung der Menschenrechte in eine Anzahl von Subkategorien, nämlich a) bürgerliche bzw. negative oder Abwehrrechte, auch als Non-Interventionsrechte definiert; b) politische oder Partizipationsrechte; c) soziale, ökonomische und kulturelle Rechte; und d) kollektive Rechte. Alle sind sie Auswirkungen des fundamentalen Prinzips der Achtung des Personseins, aber dann zugeschnitten auf bestimmte Typen von Situationen. Dazu eine kurze Erläuterung: Ad a) Bürgerliche Rechte bzw. negative oder Abwehrrechte werden so genannt, weil sie den Schutz der privaten Lebenssphäre der Bürger gegen Eingriffe, besonders von Regierungen, bezwecken. Es ist nicht schwierig einzusehen, wie diese Rechte mehr oder weniger direkt aus dem Grundgedanken der Menschenrechte hervorgehen. Menschen nach dem Leben zu trachten, sie als Sklaven zu missbrauchen, sie zu misshandeln (z.  B. foltern), sie willkürlich zu verhaften, zu deportieren, staatenlos und damit zum Großteil rechtlos zu machen usw., es sind ebenso viele Weisen, nach Belieben über Andere zu verfügen, sie zum Objekt oder Spielball zu erniedrigen, das Gegenteil davon, sie in ihrer Würde als Person oder Subjekt 88

Die Menschenrechte

zu belassen. Nicht weniger ist das der Fall, indem man andere daran hindert, entsprechend einer eigenen religiösen, politischen oder moralischen Überzeugung zu leben, kurzum in der bewussten Ausübung der eigenen Identität. Ad b) Ebenso wie die bürgerlichen Rechte bilden die politischen oder Partizipationsrechte eine nähere Auswirkung des Grundgedankens der Menschenrechte. Der Tenor dieser Kategorie von Rechten ist doch, dass besonders auch in politischer Hinsicht, nämlich beim Treffen der Maßnahmen, die den Kurs des Zusammenlebens als Ganzes betreffen, die Teilnehmer an diesem Zusammenleben nicht nur als Objekte jener Maßnahmen, die sie nur hinzunehmen haben, fungieren müssen. Sondern sie sollen selbst direkt oder indirekt Einfluss auf die Entscheidungen ausüben können, oder auch öffentliche Ämter bekleiden können, wenn sie dazu qualifiziert sind – kurzum, sie sollen auch Subjekt der Politik sein können. Ad c) Die dritte Kategorie der Menschenrechte, und zwar die Gruppe der sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte, betrifft Minimalbedingungen eines menschenwürdigen Lebens, deren Garantie von einem aktiven Regierungshandeln abhängig ist. Wenn Menschen an schwerer Armut zu tragen haben, so dass sie nicht wissen, wie sie auskommen sollen, wenn sie unter erbärmlichen Umständen arbeiten müssen, sogar schon als Kinder, wenn sie im Alter verkümmern, wenn sie ohne Unterricht und Ausbildung unterprivilegiert bleiben, Menschen zweiter Klasse, usw., dann fehlen elementare Bedingungen eines vollwertigen Menschseins. Eine Gesellschaft, die über die Mittel verfügt, diesen Bedingungen zu genügen, aber das versäumen würde, kann nicht als eine gute, humane Gesellschaft bezeichnet werden, weil sie nicht genügend Achtung für die Betroffenen aufbringt und ihnen nicht die minimalen Mittel verschafft, sich als Person entfalten und in der Gesellschaft mitfunktionieren zu können. Ad d) Neben den obengenannten Rechten, die individuelle Personen als Träger haben, kann noch eine vierte Kategorie genannt werden, und zwar die der kollektiven 89

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

Rechte. Diese Rechte, die namentlich vonseiten der sogenannten Dritte-Welt-Länder propagiert worden sind, haben wie die Benennung schon andeutet, Kollektive, insbesondere Nationen als Träger. Während es sich bei den Rechten von Individuen um individuell zuteilbare Güter handelt (meine Freiheit, mein Eigentum, meine Altersversorgung neben denen anderer), handelt es sich bei kollektiven Rechten um Güter, die nicht individuell zuteilbar sind, sondern nur gemeinschaftlich genossen werden können. Beispiele sind: Straßenbeleuchtung, nationale Sicherheit, ökonomische Entwicklung, eine saubere und gesunde Umwelt usw. Straßenbeleuchtung z. B. gibt es für jedermann oder für niemanden, nicht für manche Personen und andere nicht. Dennoch gilt auch für diese Güter, dass sie Bedingungen für das Wohlergehen und die Selbstentfaltung eines jeden schaffen57.

Die Brüderlichkeit als intrinsisches Merkmal der europäischen Humanitätsidee Im Vorhergehenden habe ich zu zeigen versucht, dass die Ideen der Freiheit und Gleichheit unmittelbar aus der Sicht des Menschseins, die sich im europäischen geistigen und politisch-sozialen Raum entwickelt hat, hervorgehen. Der Wahlspruch der Französischen Revolution, der oft als die kompakte zusammenfassende Formulierung der Art des modern-europäischen Staats- und Sozialsystems betrachtet wird, enthält aber noch einen dritten Terminus, und zwar die Brüderlichkeit. Sie hat jedoch in der europäischen Philosophie und Praxis eine viel schwächere Position gehabt als die beiden anderen Konzepte. Schon bei der Erstellung der Devise war es so, dass Freiheit und Gleichheit (gewöhnlich auch in dieser Folge) ihres Platzes sicher waren, die Brüderlichkeit aber mit anderem (u. a. der Einheit) konkurrieren musste. 1989 wurde bei der zweihundertjährigen Gedächtnisfeier der Revolution von mehreren Seiten festgestellt, dass über Freiheit und Gleichheit (und ihr Verhältnis zueinander) ganze Bibliotheken an Publikationen geschrieben worden sind, dass aber die Literatur über die Brüderlichkeit auf 57

Siehe meinen Artikel “Collective Human Rights: A Western View”, in: Jan Berting et al. (eds.), Human Rights in a Plural World. Individuals and Collectivities, Meckler, Westport/​London 1990, 83–98. 90

Die Brüderlichkeit als intrinsisches Merkmal der europäischen Humanitätsidee

ein schmales Schränkchen an Büchern und Artikeln beschränkt geblieben ist. Das kann z. B. an Immanuel Kant illustriert werden, der zwar die Devise der Revolution schon kannte, in seiner Formel die Brüderlichkeit aber durch „Selbstständigkeit“ ersetzte58. Dahinter verbirgt sich selbstverständlich die Frage, wie die Person der europäischen Humanitätsidee näher verstanden werden muss, als ein auf sich selbst stehendes „selbstständiges“ Wesen, eine Art sozialer Monade, oder als eine ihrer Art nach in sozialen Beziehungen stehende Person. Die Geschichte der politischen und sozialen Philosophie der (früh)modernen Zeit lehrt, dass erstere Auffassung darin dominant gewesen ist. Der Mensch wird da als ein von Haus aus präsoziales Wesen gesehen, das erst sekundär die Brücken zu seinen Mitmenschen senkt – über den Vertrag nämlich. Wenn nun, wie David Gauthier59 schreibt, der Vertrag die „Ideologie“ der modernen Gesellschaft ist, der Vertrag also das Modell ist, nach dem die Verhältnisse in jener Gesellschaft gedacht werden, so spiegelt das eine Sicht des Zusammenlebens als eines Aggregats von separaten Individuen, die lediglich äußerliche Beziehungen zueinander unterhalten, die für ihre Identität also nicht bestimmend sind. Die ursprüngliche Situation oder der „Naturzustand“, wie er angedeutet wird, kann dann keine andere als ein Zustand eines offenen oder zumindest latenten Kriegs von jedem gegen jeden sein. Was sie dann dazu führt, aus wohlverstandenem Eigeninteresse die Gesellschaft zu stiften, um diesem konfliktgeladenen Zustand ein Ende zu setzen. Friede kann hier also nur die negative Bedeutung einer Bändigung und Eindämmung von Krieg und Gewalt haben. In gewissem Sinn ist es nicht verwunderlich, dass die frühmoderne politische und soziale Philosophie sich diese Anschauung der Gesellschaft als eines Aggregats separater Individuen bildete. Die ganze Wirklichkeit, ob es nun die materiellen, die psychischen und so auch die sozialen Phänomene betraf, wurde dem 58

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I. Kant, „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, in: ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie, Reclam, Stuttgart 1974, 137, 141ff. Im gleichen Sinn John Locke: Menschen sind „by nature all free, equal and independent“, Two Treatises, a.a.O., 164. David Gauthier, ,,The social contract as ideology“, in: Philosophy and Public Affairs 6/​ 2 (1977), 130–164, dessen erster Satz lautet: ,,The conception of social relationships as contractual lies at the core of our [modern] ideology.“ 91

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

Baukastenmodell entsprechend gedacht, wobei das Ganze aus elementaren Bausteinen aufgebaut ist. Eine der zentralen Kategorien des frühmodernen Denkens ist das Konzept der Substanz, einer Entität, die, wie die gängige Definition lautet, in sich selbst besteht und aus sich selbst verstanden werden kann. Ontologisch betrachtet ruht sie ganz in sich selbst, bedarf also keiner Stütze durch etwas anderes, und auch epistemologisch ist jede Verweisung auf etwas außerhalb ihrer überflüssig. Kein Wunder, dass als Synonym des Substanzbegriffs regelmäßig der der „Selbstständigkeit“ gebraucht wird – eben der Begriff, den Kant als Ersatz für den der Brüderlichkeit verwendet. En passant meldet sich hier wieder ein besonderer Grundzug der modernen Kultur, und zwar die dort gehuldigte Individualitätsauffassung. Es ist ja fast ein Gemeinplatz, dass die moderne Kultur einen individualistischen Stempel trägt. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet das moderne Abendland sich vom Allgemeinen Menschlichen Muster. Für gewöhnlich sind Menschen da nicht als einmalige, unverwechselbare Personen mit eigenen Auffassungen, einem eigenen Gefühlsleben und Willen betrachtet worden, schon gar nicht in sogenannten archaischen Gemeinschaften, aber auch später nicht in vielen Kulturen der ganzen Welt und sogar bis heute nicht in bestimmten Kreisen unserer modernen Gesellschaft. Menschen haben da primär eine durch das Kollektiv, das Volk, den Stamm, die Sippe, den Stand oder die Zunft bestimmte Identität. Kennzeichnend für diese Situation ist zum Beispiel, dass die Moral nur Binnenmoral einer Gruppe ist: Die moralischen Regeln (nicht töten, lügen, stehlen usw.) gelten nur für die Gruppengenossen untereinander, und nicht für Außenstehende und Fremde, die man unbeschwert umbringen, täuschen, berauben usw. darf. Illustrativ ist in diesem Zusammenhang die alttestamentliche Geschichte von Davids Verhalten dem Nachbarvolk der Philister gegenüber (1. Samuel 18, 20ff). David, von Haus aus ein einfacher Hirtenknabe, hat es inzwischen zum Heerführer der Israeliten gebracht. Saul, der König, droht sogar in den Schatten Davids zu geraten, wenn das Volk singt, Saul habe seine Tausende geschlagen, David jedoch seine Zehntausende. Und nun hält er überdies um die Hand von Sauls Tochter Michal an und würde so der Schwiegersohn des Königs und Mitglied der königlichen Familie werden. Das ist für Saul des Guten zu viel. Er stellt David eine Falle: Er darf seine Tochter heiraten, unter der Bedingung, dass er eine Aussteuer von hundert Vorhäuten von Philistern mitbringt. Saul denkt selbstverständlich: Das überlebt er nicht. David nimmt jedoch die Bedingung an, geht mit einer Anzahl seiner 92

Die Brüderlichkeit als intrinsisches Merkmal der europäischen Humanitätsidee

Männer über die Grenze, tötet ohne jedes Bedenken sogar zweihundert Philister und liefert Saul einen Sack mit zweihundert Vorhäuten, die doppelte Zahl des Erforderten. Ausländern gegenüber gelten offenbar die moralischen Gebote nicht, sie sind sozusagen in moralischer Hinsicht vogelfrei. Ähnliches gilt für Fremde: Außerhalb der eigenen Gruppe und des eigenen Territoriums war man faktisch vogelfrei. Deshalb hatte unter diesen Umständen das Gastrecht große Bedeutung, nämlich die Garantie der Sicherheit, die von einem Einwohner des fremden Lands, wo man verblieb, geboten wurde. Vielsagend ist in dieser Beziehung die Geschichte von Odysseus, als er auf seinen Irrfahrten beim Land der Kyklopen landet. Er geht dann mit einigen Gefährten auf Erkundung, zu sehen „was dort für Sterbliche wohnen: ob unmenschliche Räuber und sittenlose Barbaren; oder Diener der Götter, und Freunde des heiligen Gastrechts“. (Odyssee, IX, 174ff)

Daran erkennt man also, ob man mit gesitteten Menschen zu tun hat: ob sie gottesfürchtige Wesen sind und das Gastrecht in Ehren halten. Aber dass das Gastrecht eine heikle Sache ist, geht schon daraus hervor, dass Zeus Xenios der Beschützer der Fremden ist, der höchste Gott, eine niedrigere Gottheit reicht da nicht aus. Und auch im Alten Testament gehört der Fremde zu der Kategorie derjenigen, die als Gefährdete in der Gesellschaft auf Gottes Befehl einen besonderen Schutz genießen. Das Kollektiv ist hier bestimmend für die Identität der Menschen, was zum Beispiel an der Praxis der Blutrache (einer von uns wird ermordet oder entführt, dann einer von ihnen) oder an der Kollektivstrafe deutlich wird. Was Letztere betrifft, werden in den alten Teilen des Alten Testaments ganze Familien für die Übertretungen des Familienvaters gestraft. Wenn z. B. während der Reise des Volkes Israel durch die Wüste auf dem Weg von Ägypten nach Kanaan, Korach, Dathan und Abiram sich gegen Mose auflehnen, werden ihre ganzen Familien, ihre Frauen, Kinder und sogar ihr Vieh mit dem Tod bestraft (4. Mose 16, 1–35; siehe auch Josua 7, 1–26). Man denke auch an eine Passage der Zehn Gebote, wo Gott im zweiten Gebot sagt, die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation, zu verfolgen (2. Mose 20, 5f; 5. Mose, 5, 9f). Im alten Grie93

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chenland ist es in dieser Hinsicht aber nicht anders. Bekannt ist z. B. der Fluch, der wegen der Greueltat des Stammvaters auf dem Geschlecht des Pelops und Atreus lastete, ein mehrmals in Tragödien behandeltes Thema. Die individuelle Person ist hier noch nicht entdeckt worden.

Von kollektiver zu individueller Identität. Kritik des atomaren Individuumbegriffs Die Geschichte der Entstehung des Bewusstseins, dass Menschen einmalige, selbstständige Personen sind, ist lang und komplex. Auch hier spielen wieder soziale Entwicklungen eine Rolle, z. B. erste Formen einer Verstädterung, wenn die sozialen Bande lockerer werden, wie in späteren Teilen des Alten Testaments. Dann machen Propheten wie Jeremia und Hesekiel Aussagen wie: „Zu derselben Zeit [nämlich des Bauens und Pflanzens] wird man nicht mehr sagen: Die Väter haben Heerlinge gegessen, und die Zähne der Kinder sind stumpf geworden“ (Jeremia 31, 29ff; Hesekiel 18, 1ff). Anders gesagt, die Eltern haben gefrevelt, und die Kinder müssen dafür aufkommen. Dieses Sprichwort, so beide Propheten, dürft ihr nie wieder in den Mund nehmen. Ihr werdet einen Sohn nicht schuldig halten für die Freveltaten des Vaters und umgekehrt. Jeder wird verantwortlich sein und für die Folgen der eigenen Taten einstehen. Hier beginnen sich erste Konturen einer selbstständigen Individualität abzuzeichnen. Und etwas Derartiges ist in der Antike bei Sokrates (mit seinem „Dämoniun“ oder der inneren Stimme) und anderen Philosophen und Schriftstellern der Fall. Faktoren, die bei dieser Individualisierung des Menschseins eine Rolle gespielt haben, liegen auf verschiedenen Ebenen, wie schon aus dem soeben Gesagten hervorgeht. Teils sind sie von geistiger Art, sind sie also Teil eines geistigen Entwicklungs- und Bewusstwerdungsprozesses, teils hängen sie mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen, erhält doch die Gesellschaft die Philosophie und Wissenschaft (und die Literatur und Kunst), und besonders auch die Mentalität, das geistige Klima, die sie „verdient“, d. h. die zu ihr passen. Was die erstgenannten Faktoren betrifft, kann man von einer Verinnerlichung der Selbsterfahrung sprechen, wie sie in verschiedenen Formen in Erscheinung tritt: im Schuldbewusstsein der alttestamentlichen Psalmen, in der Lyrik z. B. ei94

Von kollektiver zu individueller Identität. Kritik des atomaren Individuumbegriffs

ner Sappho, in der Selbstreflexion von Philosophen wie dem Stoiker Marc Aurel, und besonders auch in der Wende nach Innen, die, angefangen, wie schon erwähnt, mit dem einflussreichen Denken des Kirchenvaters Augustin, für die ganze Tradition des abendländischen Denkens bestimmend geworden ist. Wenn wir jetzt auf den gesellschaftlichen Kontext schauen, in der Übergangszeit vom Spätmittelalter zur frühmodernen Zeit, übernehmen, wie schon oben gesagt, die Städte mit ihrer bürgerlichen Mentalität und Denkungsart die Führung in der europäischen Gesellschaft von den Ständen des Adels und der Geistlichkeit. Diese, und auch die Bauern, denken vorwiegend von der Allgemeinheit und Tradition aus – der Adel von Familienbanden und Standeskonventionen aus, die Geistlichkeit von der Institution der Kirche aus. In der Stadt vollzieht sich dagegen eine Flexibilisierung und Dynamisierung des Daseins, die die Traditionen und Gruppenmentalitäten unterhöhlt – man denke nochmals an das Bild, das Marx und Engels in ihrem Kommunistischen Manifest von der revolutionierenden Wirkung der Bourgeoisie auf altehrwürdige Denkweisen und Gesellschaftsstrukturen wachrufen. Eins der Dinge, die auf diese Weise zerstört werden, ist das Denken vom Typischen oder von der Allgemeinheit aus, womit der Weg für das Primat des Individuellen geebnet wird. So gesehen ist es auch nicht verwunderlich, dass, wie ich oben sagte, die frühmoderne politische und soziale Philosophie, die ein Produkt bürgerlichen Denkens ist, in ihrem Gesellschaftsbild das Individuum ins Zentrum rückt und die Gesellschaft als die Sammlung separater Individuen auffasst. Der problematische Status, den die Gemeinschaft auf diese Weise bekommt60, spiegelt sich dann in der unsicheren Position der Brüderlichkeit. Gegen diese Unterbewertung oder sogar Eliminierung der sozialen Dimension des Menschseins ist seitdem von Vertretern unterschiedlicher Strömungen immer wieder Einspruch erhoben worden. Es fing schon gleich nach der Proklamation der Menschenrechte in der „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ an. Sie wurden als Ausdruck einer individualistischen Denkweise von einer Koalition (étonnés de se trouver ensemble) von Denkern konservativer, christlicher,

60

Man erinnere sich der Aussage Margaret Thatchers, die Gesellschaft gebe es nicht: „Who is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families, and no government can do anything except through people and people look to themselves first.“ Interview with Douglas Keay in Women’s Own (23. September 1987). 95

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

sozialistischer und utilitaristischer Signatur angegriffen – dem sich später kritische Stimmen aus der „dritten Welt“, insbesondere Afrika und Süd-Amerika, anschließen sollten. Um es nun bei einer Stimme aus dem „sozialistischen“‘ Lager, der von Marx, zu belassen: In seiner Schrift Zur Judenfrage61 wird die Konzeption natürlicher Rechte kritisiert, weil sie vom Menschen als solitärem Wesen, das sich in Konfrontation mit anderen verwirklicht, ausgeht. Marxens Meinung nach widerspiegeln diese Rechte nämlich antagonistische Beziehungen zwischen isolierten Individuen unter kapitalistischen gesellschaftlichen Umständen. In dieser „bürgerlichen Gesellschaft“ ist der Mensch das private eigensüchtige Individuum, das seinen eigenen materiellen Gewinn anstrebt in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem alle menschlichen Beziehungen durch Tausch von Waren in einer Marktsituation bestimmt werden. In diesem Licht gesehen „sind die sogenannten Menschenrechte“, wie er schreibt, „die droits de l’homme im Unterschied von den droits du citoyen, nichts anderes als die Rechte (…) des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen.“ Hintergrund von Marx’ Kritik ist seine Auffassung, dass der Mensch von Natur aus ein Gemeinschaftswesen ist, das seine wahre Natur in und durch seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen realisiert und bestimmt und eben nicht in der Weise „des egoistischen Menschen“. So lautet eine Aussage aus der Kritik der politischen Ökonomie: „Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zôon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.“62 Die Kritiker der Idee der Menschenrechte als eines Produkts individualistischen Denkens haben recht mit ihrer Meinung, dass das Gemeinschaftsmoment im menschlichen Dasein darin zu wenig belichtet worden ist oder sogar gänzlich fehlt. Nun könnte man noch argumentieren, dass dieses soziale Moment implizit in der Idee der Menschenrechte enthalten ist. Wenn diese Idee als ein moralisches Konzept aufgefasst wird, d. h. als ein überpolitisches und überjuristisches Prinzip, an dem politische, juristische und gesellschaftliche Arrangements auf ihren humanitären Gehalt hin geprüft werden können, so steckt darin, wie in jedem moralischen Konzept, ein „altruistisches“ Moment. Wäre das Individuum 61

62

In: Marx/​Engels, Studienausgabe in 4 Bänden, Fischer, Frankfurt a. M. 1966, Bd. I, 31– 60, besonders 47ff. Marx & Engels, Werke (MEW), Bd. 13, Dietz Verlag, Berlin 2015, 615. 96

Von kollektiver zu individueller Identität. Kritik des atomaren Individuumbegriffs

und Subjekt der Menschenrechte nur der „egoistische“, auf seinen wohlverstandenen Eigennutz eingestellte Mensch, den Marx und andere darin sehen, wären die Menschenrechte in der Tat die Ideologie einer Kampf- und Claimkultur (die hier gemeinten Rechte sind ja Claimrechte). Sie wären die Philosophie eines die ganze Gesellschaft umfassenden Gesellschaftsspiels, in dem jedermann mit der Förderung und Sicherstellung seiner Interessen beschäftigt ist. Dieses implizite Gemeinschaftsmoment wird jedoch nicht benannt, nicht in der Déclaration, nicht in den amerikanischen Bills of Rights, und gewöhnlich auch nicht in den zahlreichen Menschenrechtserklärungen und -abkommen, die ihnen gefolgt sind. Es ist dann ein glücklicher Griff der Verfasser der Devise der Französischen Revolution, dass sie der Brüderlichkeit als einem der Grundprinzipien der neuen politisch-sozialen Gesellschaftsform, die durch die Revolution eingeleitet wird, einen Platz einräumen. Ein solches Prinzip fehlt im politisch-sozialen Denken der Vereinigten Staaten. Dort bleibt es bei Freiheit und Gleichheit. Manchmal sind amerikanische oder überhaupt angelsächsische Autoren sich darüber auch im Klaren. So bemerkt John Rawls in seinem einflussreichen Buch A Theory of Justice an einer Stelle, dass „in comparison with liberty and equality, the idea of fraternity has had a lesser place in democratic theory.“63 Und Steven Lukes schreibt im Nachwort seines Buchs Individualism, dass die Analyse, die er vom Begriff Individualismus gegeben hat, „focuses on liberty and equality, but ignores the crucial (!) third term of fraternity, or community.“64 Dann müsste eigentlich das ganze Buch neu geschrieben werden, aber Lukes belässt es bei jener Bemerkung und also bei einer Analyse des Individualitätsbegriffs in Termini von Freiheit und Gleichheit. Die amerikanische Gesellschaft hat es dann auch zum Großteil bei den bürgerlichen und politischen Rechten belassen und wenig Gebrauch von den sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechten gemacht – man denke z. B. an den Widerstand gegen so etwas wie Schutz von Arbeitnehmern und gegen das Organisieren einer bezahlbaren Gesundheitspflege für jedermann, usw. In Bezug auf eine soziale und humanitäre Gesellschaft befinden sich die Vereinigten Staaten, gemessen an europäischen humanitären Standards, noch (und vielleicht für immer) auf der Stufe eines Entwicklungslands. In hohem Maß spielen sie das Gesellschaftsspiel einer Claimkultur, haben sie die Wettbewerbsmentalität auf die Spitze getrieben 63 64

John Rawls, A Theory of Justice, Harvard UP, Cambridge, Mass. 1971, 105. Steven Lukes, Individualism, OUP, Oxford 1973, 158. 97

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

und sind wie kein anderes Land ein Land des Kampf- und Raubkapitalismus geworden. Nicht zu Unrecht sind sie von mehreren Autoren als eine Pervertierung der europäischen Kultur betrachtet worden.

Rehabilitierung der sozialen Dimension des Menschseins. Die Person als Relationskategorie Wenn diese Autoren damit Recht hätten, worauf vieles hinweist, dass eine „gute“ oder „anständige“ Gesellschaft („a decent society“, wie die Engländer sagen) in den Begriffen von Freiheit und Gleichheit nicht angemessen analysiert werden kann, so kann die europäische Idee der Person nicht die des separaten Individuums der frühmodernen politischen und sozialen Philosophie sein, einer Linie des Denkens, die in bestimmten Formen (neo)liberaler Theorie bis heute weiter existiert und in der Ökonomie ihre Ausprägung in der Idee des homo economicus hat. Eine der Aufgaben der Philosophie, möglicherweise sogar die wichtigste, wird wohl das „Retten der Phänomene“ sein. Sie bekommt dann einen Blick dafür, dass bestimmte Interpretationen der Wirklichkeit die Erscheinungen auf eine verkürzte und verzeichnende Weise beschreiben. Innerhalb eines solchen Bezugsrahmens werden wichtige Dimensionen jener Erscheinungen vernachlässigt oder entstellt wiedergegeben, indem sie in Begriffen nicht geeigneter Kategorien gelesen werden. In einer solchen Situation kann es bestimmten Denkern dann gelingen, einer neuen Art des Sehens und Erfahrens zum Durchbruch zu verhelfen und für diese neue Sicht der Dinge adäquate Ausdrucksmittel zu entwickeln. Die moderne abendländische Philosophie hat lange (und manchmal immer noch) im Zeichen der kartesianischen Subjekt-Objekt-Spaltung gestanden. Die Wirklichkeit wurde auf diese Weise in zwei Bereiche aufgeteilt, einerseits in eine Sphäre materieller Dinge ohne Innenseite, ohne ein eigenes Vermögen des Denkens und Erfahrens, vollkommen passiv und ohne eigenes Streben, und anderseits in eine Sphäre „denkender Dinge“, wie Descartes sie betitelte, Wesen, die mit Bewusstsein, Denkvermögen und einer eigenen Erfahrungswelt beschenkt sind, die von sich aus aktiv sind, Zwecke verfolgen usw. – die Eigenschaften besitzen, die wir oben der Person angedichtet haben. 98

Rehabilitierung der sozialen Dimension des Menschseins. Die Person als Relationskategorie

Im vorigen Jahrhundert ist die Philosophie sich darüber klar geworden, dass auf diese Weise etwas ganz Wesentliches übersehen wurde, und zwar dass Menschen „immer schon“ in Beziehung zu anderen stehen, dass es zu kurz greift, Personen primär als Selbstständigkeiten zu betrachten, zwischen denen es nur äußere Beziehungen gibt, die für die Identität der Individuen nicht bestimmend sind. Den Denkern wurde klar, dass der Mensch alles andere als das von Haus aus präsoziale, noch nicht sozialisierte Individuum des sogenannten Naturzustands der frühmodernen politischen und sozialen Philosophie ist, sondern im Gegenteil ein durch und durch soziales Wesen, das bis in den Kern durch Beziehungen geprägt ist. Das Menschsein ist also nicht nur durch Subjektsein, sondern, mindestens so wichtig, durch Intersubjektivität gekennzeichnet. Die sogenannte dialogische Philosophie von Martin Buber, Franz Rosenzweig und anderen, die großen Einfluss auf andere Strömungen gehabt hat, hat diese Einsicht so erklärt, dass die Beziehung zwischen Personen einen ganz eigenen Phänomenbereich darstellt. In einer kartesischen Einteilung der Wirklichkeit in einen Bereich von Subjekten einerseits und Objekten anderseits ist diese „Sphäre des Zwischen“ nach Martin Buber unsichtbar und nicht adäquat thematisierbar, weil sie eine Wirklichkeitsdimension sui generis betrifft. Zur Beschreibung dieser Seinsdimension wird in der Philosophie des 20. Jahrhunderts neben der Kategorie der Subjektivität die der Intersubjektivität eingeführt. Damit bekommt der Relationsbegriff eine zentrale Position – Buber spricht demnach von der Ich-Du-Beziehung. Das heißt, dass für diese Denker der Intersubjektivität die Idee der Person vielmehr eine Relations- als eine Substanzkategorie ist. Personen können nicht adäquat außerhalb von Beziehungen zu anderen gedacht werden. In der Ich-Du-Beziehung treten nicht zwei schon fertige Subjekte zueinander in Beziehung. Im Gegenteil, so Buber, kann ich mich erst in der Begegnung (auch ein Kernbegriff dieser philosophischen Strömung) mit dem anderen zu einem Ich, einem Selbst entwickeln. Es gibt kein Ich ohne Du. Mitsein ist so ein fundamentales Merkmal der Seinsweise des Menschen. Seiner Natur nach ist er auf Zusammenleben, Begegnung, Kommunikation angelegt. Echte Kommunikation bedeutet aber ihrer Art nach Gegenseitigkeit, erfordert, dass ich mich für den Beitrag des anderen öffne, mich auch durch ihn bestimmen lasse, anstatt ihn für meine Zwecke zu gebrauchen, d. h. strategisch und manipulativ mit ihm umzugehen. Mit diesem kommunikativen Charakter des Menschseins hängt unmittelbar zusammen, dass er ein sprechendes Wesen ist. Ist doch die Sprache (verbal und 99

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

nonverbal) auf Kommunikation gerichtet; in der Sprachfähigkeit ist die Bezogenheit auf andere enthalten – die Idee einer Privatsprache wird dann auch ziemlich allgemein nicht als eine sinnvolle Idee betrachtet. Die Sprachfähigkeit bleibt aber nicht auf die Sprache beschränkt, sogar wenn sie breit aufgefasst wird, d.  h. alle Formen von nichtverbalem Sprachgebrauch umfasst. Denn die Sprache funktioniert immer in weiteren Zusammenhängen, im Kontext von Praktiken aller Art wie Gerichtsverfahren, politischen Debatten, religiösen Ritualen oder wissenschaftlichen Diskussionen. Der spätere Wittgenstein hat gezeigt, dass es eine Vielzahl von „Sprachspielen“, jedes mit seinen eigenen Regeln, gibt, die ihrerseits in „Lebensformen“ eingebettet sind. Wörter und Ausdrücke haben deshalb keine festgelegte Bedeutung, sondern bekommen und ändern diese im praktischen Gebrauch. Viele Diskussionen, in der Wissenschaft, der Politik, dem Recht usw. können auf diese Weise (nicht nur, sondern auch) als ein Verhandlungsprozess über die Bedeutung wichtiger Termini und Ausdrücke betrachtet werden. Nicht zuletzt gilt das dann für den Begriff Europa und alle Begriffe, die zu dessen Charakterisierung verwendet werden. Lebensformen sind ihrerseits wiederum Teil von umfassenderen Verbänden, und zwar Kulturen mit ihrem eigenen Denk- und Lebensstil. Der Mensch ist so seiner Natur nach ein Kulturwesen, nur innerhalb eines kulturellen Kontextes erhält er die Gelegenheit, sein menschliches Potenzial zu entwickeln. In diesem Sinn ist er ein zoon politikon, ein in einem Gemeinschaftsverband lebendes Wesen, wenn er auch, anders als es im griechisch-römischen Denken der Fall war, eine eigene Privatsphäre hat, mit der er seine soziale Bestimmtheit überschreitet. Dass all unser Denken, Sprechen und Handeln‚ „immer schon“ durch Intersubjektivität gekennzeichnet ist, ist ebenfalls eine Grundthese der sogenannten hermeneutischen Philosophie. Bei ihr wird das dann so formuliert, dass wir „immer schon“ in einer Welt von Bedeutungen leben, die jedoch, ich streifte das schon, nie definitiv festliegen, aber die Gemeinschaft schreibt daran in einem fortwährenden Überlieferungsprozess immerfort weiter. Das ganze Zusammenleben ist aus dieser Perspektive ein kooperatives Unternehmen, an dem alle Betroffenen (der eine etwas mehr, der andere etwas weniger) kreativ partizipieren. Weit davon entfernt also, dass Menschen separate, für sich selbst lebende Individuen sind, gehört der Gemeinschaftscharakter des Menschseins wesentlich zu 100

Rehabilitierung der sozialen Dimension des Menschseins. Die Person als Relationskategorie

seiner Seinsweise. Beziehungen sind auf diese Weise nicht nur äußerlicher Art, außerhalb seines eigentlichen Wesenskerns bleibend, sondern bestimmen bis tief in sein Wesen hinein seine menschliche Persönlichkeit. Oder noch stärker: Wie schon gesagt wurde, wecken, evozieren Menschen einander zum Personsein. Sie sind aufeinander angewiesen, fühlen sich dann auch am Dasein des anderen beteiligt. Eine interessante Idee in diesem Zusammenhang ist der stoische Begriff oikeiosis (vom griechischen oikeios, zum Haus, oikos, gehörig). Auf Deutsch könnte man wohl von ‚„Einhausung“ sprechen: Man fühlt sich in einer Wirklichkeitssphäre geradezu zu Hause. In der Entwicklung als Mensch fängt das bei der Familie an. Aber nach und nach verbreitert sich diese Sphäre in konzentrischen Kreisen zu der weiteren Umgebung, dem Stadtteil, der Stadt, der Region, dem Land und schließlich der ganzen bewohnten Welt. Diese Einhausung würde also letztlich darin resultieren, alle Menschen als Mitbürger zu betrachten: „Alle Menschen werden Brüder“. Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, dass die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 auf dieser Linie von „allen Mitgliedern der menschlichen Familie“ spricht. Ich sagte oben schon, dass in den Erklärungen und Verträgen der Menschenrechte im Allgemeinen der Brüderlichkeitsaspekt nicht explizit benannt wird, aber dass er als implizites Moment darin mitschwingt, wenn immerhin die Menschenrechte als moralische Norm fungieren wollen. Nun, in diesem Satzteil der Allgemeinen Erklärung taucht dieses Moment einen Augenblick deutlich sichtbar auf. Das Obenstehende diente zur Unterstützung der These, dass Freiheit und Gleichheit (oder Selbstständigkeit) allein eine unzureichende Auslegung der europäischen Idee der Person bieten, sondern durch die Brüderlichkeit bzw. Solidarität ergänzt werden müssen. In dem Selbst nach europäischer Auffassung ist die Verbundenheit mit dem Mitmenschen inbegriffen. Die moderne westliche Gesellschaft ist oft eine individualistische Gesellschaft genannt worden. Diese als Vorwurf gemeinte Typisierung kam sowohl von außen wie von innen. In dem Passus über die Menschenrechte erwähnte ich schon, dass vonseiten der sogenannten dritten Welt die Forderung nach kollektiven Rechten wie das Recht auf nationale Selbstbestimmung und auf ökonomische Entwicklung erhoben wurde. Dies als Reaktion auf die 1948 proklamierte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die ihrer Auffassung zufolge eine individualistische Sicht des Menschen widerspiegelt. So schreibt z. B. Eddison Zvobgo in einem Ar101

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

tikel unter dem Titel „Eine Dritte-Welt-Sicht“ (der Menschenrechte)65, für Afrikaner und Asiaten sei solch eine individualistische Auffassung des Menschen unverständlich. „Für die meisten von ihnen ist die Vorstellung des Menschen als eines autonomen, selbständigen und selbstbestimmenden Wesens genauso irreal wie absurd. So eine Person – die ganz allein einen selbst vorgezeichneten Weg zum Glück und zur Selbsterfüllung verfolgt – wäre für sie etwas ganz Merkwürdiges.“

Kurzum, afrikanischem und asiatischem Empfinden nach ist die menschliche Person „nicht der Lockeanische ‚Mensch‘ und liegt in diesem Menschenbild die Essenz des Unterschieds zwischen dritter und erster Welt.“ In ähnlichem Sinn schreibt ein anderer Schriftsteller, Asmaron Legesse: „Wenn die Afrikaner die einzigen Verfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gewesen wären, hätten sie vielleicht die Rechte von Gemeinschaften über die von individuellen Personen gestellt und ein kulturelles Idiom gehandhabt, das sich grundsätzlich von der Sprache, in der die Ideen nun formuliert worden sind, unterscheidet.“66

Aber nicht nur von außen her, auch aus der europäischen Geisteswelt selbst heraus ist wiederholt an dem individualistischen Menschenbild, das das moderne politisch-soziale Denken kennzeichne und namentlich auch der Idee der Menschenrechte zugrunde liege, Kritik geübt worden. Ich habe oben schon die Kritik von Marx an den Menschenrechten erwähnt, die seiner Ansicht nach im Zeichen des nur seinem persönlichen Gewinn nachstrebenden egoistischen Menschen stehen. Auch bei Marx geht es hier darum, dass der Mensch „als isolierte (…) auf sich zurückgezogene (…) Monade“ gedacht wird, d. h., dass der Gemeinschafts-

65

66

In: Donald P. Kommers & Gilbert D. Loescher (eds.), Human Rights and American Foreign Policy, 1979, 93f. Asmaron Legesse, „Human Rights in African Political Culture“, in: Kenneth W. Thompson (ed.), The Moral Imperatives of Human Rights: A World Survey, Lanham, NewYork/​London 1980, 124. 102

Rehabilitierung der sozialen Dimension des Menschseins. Die Person als Relationskategorie

aspekt des Menschseins verneint wird. Auch seitens konservativer Denker wie De Maistre und De Bonald wird analoge Kritik an der Idee der Menschenrechte geübt. Und zwar, dass eine Gesellschaft hier als ein Aggregat separater Individuen aufgefasst wird – in dieser Polemik ist der Terminus Individualismus sogar entstanden67. Auch die christlichen Kirchen haben etwa bis zum Zweiten Weltkrieg überwiegend eine ablehnende Haltung den Menschenrechten gegenüber eingenommen68. Erstens ist in einem theozentrischen Weltbild, in dem ein souveräner Gott dem Menschen Gebote auferlegt, kaum Raum für die Idee, dass dem Menschsein inhärente Rechte innewohnen – ähnliche Stimmen sind übrigens aus dem islamischen Lager vernehmlich. Aber daneben ist auch von christlicher Seite als Bedenken gegen die Menschenrechte eingebracht worden, dass sie ein separat-individualistisches Menschenbild widerspiegeln, der Mitmensch hier also nicht als Nächster gesehen wird. Diese Kritik ist stichhaltig, wenn die abendländische Personidee wirklich die des atomaren Individuums der frühmodernen politischen und sozialen Philosophie wäre. Diese spiegelt tatsächlich, wie Marx mit Recht meint, die Situation des heraufkommenden Kapitalismus der vielen kleinen Unternehmer wider. Aber wenn unsere Beschreibung der abendländischen Idee der Person, die wesentlich immer in Beziehung zu anderen steht, richtig ist, trifft darauf der Terminus Individualismus im Sinn von Marx und den anderen genannten Opponenten nicht zu. Gewiss ist es so, dass die moderne Idee der Person die eines Wesens ist, das sich aus dem Eingebundensein in ein Kollektiv, das ihm keinen eigenen Freiraum und keine eigene Entscheidungsbefugnis ließ, losgelöst hat. Personen sind moderner Auffassung nach, wie gesagt, selbstständige Aktionszentren mit eigenen Überzeugungen, einem eigenen Gefühlsleben und Willen, die deshalb auch eine eigene Verantwortung für ihre Taten haben. In dem Sinn ist die moderne Sicht des Menschen „individualistisch“. Aber die Person wird moderner Ansicht nach zugleich als Person-in-Gemeinschaft gedacht, auf andere bezogen und auf den Umgang mit ihnen angelegt. Personalisten und Dialogiker unterschiedlicher Prägung 67

68

Siehe Koenraad W. Swart, „‚Individualism‘ in the Mid-nineteenth Century“, in: Journal of the History of Ideas 23 (1962), 78. Siehe dazu z. B. Wolfgang Huber & Heinz Eduard Tödt, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, Kreuz Verlag, Stuttgart/​Berlin 1977, Kap. 2, 37ff. 103

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

haben im vergangenen und in diesem Jahrhundert immer wieder betont, dass Menschen erst durch und für einander zur Person werden, dass Ich-sein unlösbar von der Beziehung zum Du ist. In dem Sinn ist der hier vorgelegte Gedanke ein „dritter Weg“ zwischen den Extremen eines Kollektivismus, in dem das Individuum gänzlich dem Kollektiv untergeordnet ist und eines nach der anderen Seite hin ausschlagenden radikalen Individualismus. Man könnte ihn einen sozialen oder sozial gefärbten Individualismus nennen.

Implikationen der Intersubjektivitätsidee Dass nach europäischer Auffassung das Personsein nicht beiläufig, sondern seiner Art nach durch Mitsein gekennzeichnet ist, hat eine Reihe von Konsequenzen. Zu allererst für das gegenseitige Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Diese drei Elemente der Devise der französischen Revolution stehen in dieser Sichtweise nicht getrennt nebeneinander, sondern färben sich gegenseitig. Zum Beispiel die Freiheit: Sie kann dann nicht die rein individuelle Freiheit, sowohl in ihrer negativen als auch positiven Bedeutung, sein. In negativem Sinn würde die individuelle Freiheit die Abwesenheit von Hindernissen für mein Handeln bedeuten, ohne mit den Folgen für andere zu rechnen. Dies ist wohl der Typus von Freiheit, den Hobbes und andere bei ihrer Auffassung des „Naturzustands“ des Menschseins vor Augen hatten. Als positive Freiheit dagegen wäre sie mein Vermögen als „Meister meiner selbst“, bewusst bestimmte Beschlüsse zu fassen und bestimmte Ziele zu realisieren. In beiden Fällen wäre es meine Freiheit, unabhängig von derjenigen anderer. Dies ist eine geschlossene Freiheit69 (man könnte es auch eine narzisstische Freiheit nennen), die zu einem monadischen Menschenbild und zu einer Auffassung der Gesellschaft als Summe separater, selbstbezogener Individuen gehört. Das würde einen Antagonismus der Freiheiten der verschiedenen Personen ergeben. Oder, Freiheit ist hier ein Nullsummenspiel: Was bei dem einen hinzukommt, verringert sich beim anderen. Dann ist in der Tat jeder des anderen Konkurrent (oder „Feind“, um mit Hobbes zu sprechen). Dann

69

Siehe dazu meine Studie (2004), 41–72. 104

Implikationen der Intersubjektivitätsidee

landet man konsequenterweise bei der Aussage aus Sartres Theaterstück Huis clos (mit geschlossenen[!] Türen): „L’enfer, c’est les autres“, die Hölle, das sind die anderen. Aber wenn das Mitsein ein inhärentes Merkmal des Personseins nach europäischem Verständnis ist, wenn Menschen einander zum Personsein und damit zur Freiheit evozieren, ergibt das eine Win-win-Situation an Freiheit. Freiheit wird dann durch Kooperation gefördert, anstatt dass sie der Konkurrenz abgerungen werden muss. Das heißt gewiss nicht, dass alle Freiheiten schön miteinander harmonieren, aber das ist nicht bestimmend für das ganze Bild. Zusammen Dinge zu unternehmen, zu musizieren, Teamsport zu treiben, auf Expedition zu gehen oder was auch immer, es hebt Menschen weit über das hinaus, was sie allein und auf eigene Kraft erreichen könnten. Es sind Stimulanzen zur Selbstentfaltung, sie vergrößern und bereichern die Freiheit, die dann eine offene Freiheit ist, den anderen nicht aus-, sondern einschließt, und wodurch Menschen durch positive Zuwendung zueinander gegenseitig in ihrem Dasein bestätigt werden. Aber nicht weniger als die Freiheit wird die Gleichheit durch das Mitsein gefärbt. Gleichheit (als Person) bedeutet dann, dass jedermann zählt und ernst genommen wird. Bzw. dass alle auf der grundsätzlichen Ebene des Menschseins gleichwertig sind. Und dass, daran gemessen, alle Unterschiede (an Begabung, sozialem Status usw.) von untergeordneter Bedeutung sind. Das ist eine Sicht des Menschen, in der die Person viel mehr eine Relations- als eine Substanzkategorie ist; in der die Beziehungen der Identität der Beteiligten nicht äußerlich bleiben wie das bei vertraglichen Beziehungen der Fall ist, sondern bis tief in das Wesen hineinreichen; so eine Sicht entspricht einem Gesellschaftskonzept, das im Zeichen von Kooperation und Teilen steht. Dieses Teilen kann übrigens sowohl die schlechte als auch die gute Seite des Daseins betreffen. All unser Handeln wird von Strukturen und Arrangements getragen, die eine Kette von Generationen uns zurückgelassen hat. Sie bestimmen weitgehend unsere Möglichkeiten (und selbstverständlich genauso unsere Unmöglichkeiten). Wer das Glück hat, in einem leidlich ruhigen und wohlhabenden Land mit guten Einrichtungen auf den Gebieten von Unterricht, Gesundheitspflege, sozialer Gesetzgebung, Rechtspflege usw. aufzuwachsen, hat ohne jeden Verdienst seinerseits einen großen Vorteil einem anderen gegenüber, der in einem armen, korrupten und durch Krieg oder ernsthafte Streitigkeiten zerrissenen Land seinen Weg zu suchen hat. So gesehen ist z. B. unser Einkommen in einem Land wie den Nie105

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

derlanden nur sehr relativ die Frucht unserer eigenen Anstrengungen, sondern in einem hohen Maß dem von anderen (den vorigen Generationen) zusammengetragenen sozialen Kapital zu verdanken.

Solidarität als Form eines geteilten Daseins Dieses Bewusstsein, dass unser Dasein in Bezug auf seine positiven Aspekte ein geteiltes Dasein ist, macht uns auch sensibel dafür, dass das auch für die weniger sonnigen Seiten des Lebens zu gelten hat. Damit ist das Thema der Solidarität, ein Aspekt der Brüderlichkeit oder des Mitseins, angesprochen. Solidarität verweist der Natur der Sache nach auf eine asymmetrische Beziehung, und zwar des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren. Sie bedeutet die Bereitschaft, für den in Schwierigkeiten geratenen anderen einzustehen („in solidum“ zu sein). Es gibt verschiedene Formen der Solidarität. Das hängt mit den Gründen von Menschen zusammen, sich miteinander zu solidarisieren. Erstens kann das der Fall sein wegen parallel laufender Interessen. Beispiele sind Gewerkschaften oder Krankenversicherungen. Menschen schließen sich zusammen, um gemeinschaftlich eine stärkere Stellung zu beziehen oder durch Verteilung der Risiken auf eine größere Gruppe das eigene Risiko zu minimieren. In diesem Fall handelt es sich also um eine Solidarität der Interessen. Daneben können Menschen sich gedrängt fühlen oder einfach den Wunsch haben, anderen Hilfe zu bieten, z. B. wegen der Zugehörigkeit zur gleichen Gemeinschaft, wohl besonders aber, weil die Gemeinschaft als Trägerin eines bestimmten Lebensstils prägend für die Identität ihrer Mitglieder ist – man denke an Gruppierungen wie den Adel oder das Patriziat, an religiöse Bewegungen, an Völker mit einem ausgesprochenen Nationalbewusstsein und dergleichen. Dann kann man von Gruppensolidarität sprechen. Von diesen beiden Solidaritätsformen, um sie geht es mir im Kontext unseres Europathemas, möchte ich eine dritte Form unterscheiden, und zwar die humanitäre Solidarität. Es handelt sich dann um die Art und Weise, wie Menschen als Menschen miteinander umgehen sollen. Solidarität hängt in diesem Fall mit einer Auffassung von Humanität zusammen, dass zwischenmenschliche Beziehungen das Prädikat nur verdienen, wenn sie durch Solidarität in diesem Sinn gekennzeichnet sind. 106

Solidarität als Form eines geteilten Daseins

Um das zu veranschaulichen, verwende ich einen Begriff des deutschen Rechtswissenschaftlers Joachim Hellmer: das „existentielle Risiko“. Darunter versteht er die Tatsache, dass in der Natur alles auf eigene Rechnung lebt. Das ist die negative Seite des Drangs zur Selbsterhaltung. Wie sehr es in der Natur auch gegenseitige Hilfe und Sorge gibt, letztendlich agiert alles und jeder für sich selbst und ist auf Selbstsorge angewiesen. In Hellmers eigenen Worten: „Im Bereich der Natur gilt das Gesetz des existentiellen Risikos, d.  h. die Welt muß so ertragen werden, wie sie ist. Baum und Tier und Berg und Pflanze müssen Sonne und Regen, Blitz und Trockenheit, Sturm und Erdbeben so hinnehmen, wie sie kommen, und wenn sie stark genug sind oder günstig stehen, kommen sie voran, sonst nicht. Auch der Mensch gehört zur Natur. Deshalb gilt auch für ihn zunächst das Gesetz des existentiellen Risikos, und das heißt hier: jeder muß für das einstehen, was er ist. Wer krank auf die Welt kommt, kann sich nicht bewegen wie ein Gesunder, und wer mindere geistige Gaben hat, kann nicht Hammer sein, sondern nur Amboss. Von dieser harten Wirklichkeit gibt es nur eine Erlösung: die soziale Gemeinschaft. Der menschliche Geist hat ein Reich aufgebaut, in dem die Naturgesetzlichkeit nur noch bedingt gilt. Sie kann nicht ganz beseitigt werden, denn der Mensch ist und bleibt ja selber ein Stück Natur, aber ihre Geltung kann abgeschwächt und abgewandelt werden. Es kann also z. B. die Krankheit nicht ganz beseitigt werden. Wer krank ist, hat nun einmal die Folgen davon zu tragen. Aber diese Folgen können gegenüber der vollen Last, die die Natur dem Kranken aufbürden würde, gemildert werden, die Existenzfähigkeit des Kranken kann gehoben, die Gefahr, dass der geistig nicht so regsame als Amboss zerschlagen wird, herabgesetzt werden. Dieser Bereich der ‚abgeschwächten Naturgesetzlichkeit‘ ist der soziale Bereich, der Bereich des bewussten Zusammenlebens von Menschen nach geistigen, d. h. für dieses Zusammenleben sinnvollen Gesetzen.“70

Humanitäre Solidarität, so ist dann die These, ist die Bereitschaft, einen Teil des existenziellen Risikos von Mitmenschen, die es im Leben weniger gut getroffen 70

Joachim Hellmer, Lemma „Schuld und Haftung“, in: ders., Fischer Lexikon: Recht, Fischer, Frankfurt a. M. 1959, 265f. 107

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

haben, zu übernehmen. Die europäische Art und Weise, dem Hände und Füße zu verleihen, ist, neben den bürgerlichen und politischen Rechten den sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechten ihren rechtmäßigen Anteil einzuräumen, und so den Rechtsstaat zum sozialen Rechtsstaat bzw. Sozialstaat auszubauen. Es mag sein, dass diese Entwicklung in eine falsche Spur geraten ist und unerwünschte Folgen bewirkt hat, indem sie die Bürger anstatt zu beteiligten Teilnehmern am Sozialleben zu passiven Abnehmern von Gütern und Diensten des als Betrieb aufgefassten Staats gemacht hat. Aber dass die Gesellschaft nach europäischer Auffassung ein gemeinschaftliches kooperatives Unternehmen, gekennzeichnet durch humanitäre Solidarität, ist, ist eine nicht aufzugebende Sache. Mit anderen Worten: Europa soll sozial sein, oder es wird nicht länger Europa sein.

Das Rheinländische Unternehmensmodell als Ausdruck des sozialen Gesichts Europas Es kann dann nicht anders sein, als dass dieses soziale Gesicht Europas sich nicht nur auf öffentlicher Ebene, im Sozialstaat also, sondern auch in den gesellschaftlichen Beziehungen zum Ausdruck bringen wird. In der Ökonomie spiegelt sich der soziale Charakter des europäischen Menschenbilds im sogenannten Rheinländischen Unternehmensmodell, auch als „coordinated market economy“ bezeichnet. Es ist also eine Form der freien Wirtschaftsökonomie bzw. des „Kapitalismus“. Oben, bei der Erörterung des WTÖ-Komplexes, sagte ich schon, dass die moderne Ökonomie sowieso eine kapitalistische, ob Markt- oder Staatsökonomie ist. In seiner marktökonomischen Variante kommt ein Zug der europäischen Auffassung vom Menschen zum Tragen, nämlich dass die Person ein aktives Wesen ist, das von sich her kreativ und unternehmerisch das eigene Dasein gestaltet, also auch in ökonomischer Hinsicht. Das ist jedoch auf verschiedene Weise möglich. Das Rheinländische Modell ist die Form des Kapitalismus, die die meisten kontinental-europäischen Länder kennzeichnet (interessanterweise gilt das auch für Japan). Oft wird dem das sogenannte angelsächsische Modell gegenübergestellt, auch „liberal market economy“ genannt, das das ökonomische Leben in den USA, Kanada, dem UK, Australien und Neuseeland prägt. Dieser Unterschied zweier 108

Das Rheinländische Unternehmensmodell als Ausdruck des sozialen Gesichts Europas

Grundformen marktökonomischer Ordnung wurde von Michel Albert in seinem Buch Capitalisme contre capitalisme (1991) vorgestellt71. Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Varianten des Kapitalismus ist, dass das angelsächsische Modell vor allem im Zeichen von Konkurrenz und Konfrontation steht. Dazu kommen dann noch die Konflikte in den Arbeitsbeziehungen. Demgegenüber verkörpert das Rheinländische Modell Kooperation, Beratung und Teamarbeit, entsprechend der europäischen Auffassung von Menschsein und zwischenmenschlichen Beziehungen. Das ökonomische System im Rheinländischen Sinn wird deshalb auch mit Begriffen wie Beratungsökonomie, soziale Marktwirtschaft oder Netzwerkökonomie belegt. Wichtig ist da, dass auf die Interessen aller beteiligten Parteien („stakeholders“), die der Kunden, Aktionäre („shareholders“), Arbeitnehmer wie auch der Gesellschaft im Allgemeinen Rücksicht genommen wird. Deshalb spielen in diesem Modell die Gewerkschaften eine wichtige Rolle, ebenso wie die Betriebsräte, Mitbestimmungsorgane und dergleichen. Der Nachdruck liegt, kurzum, auf Zusammen-arbeit und gegenseitigem Vertrauen. Dies wiederum im Gegensatz zum angelsächsischen Modell, wo ein Klima des Misstrauens vorherrscht, deshalb auch viel Nachdruck auf der top-down Steuerung der Organisation und auf Kontrolle und Aufsicht liegt – dies zur Frustration kreativ eingestellter Personen. Kein Wunder dann, dass in den Ländern, die überwiegend das angelsächsische Modell verwenden, die Manager einen relativ großen Anteil der Berufsbevölkerung bilden, diese Länder also durch eine substanziell breitere bürokratische Managerschicht gekennzeichnet werden. Es ist nicht meine Absicht, hier einen ausführlichen Vergleich der beiden Unternehmensmodelle anzustellen. Worum es mir geht, ist verständlich zu machen, dass das Rheinländische Modell auf der ökonomischen Ebene die europäische Auffassung von Menschsein und Zusammenleben widerspiegelt. Durch den Kontrast mit dem alternativen kapitalistischen System bekommt es schärfere Konturen. Darum noch einige ergänzende Bemerkungen. Im Gegensatz zum Rheinländischen Modell, wo den Interessen aller stakeholders Rechnung getragen wird, sind es im angelsächsischen Modell zuallererst die Interessen der Aktionäre, auf die Gewicht gelegt wird. Deshalb ist der Fokus hier

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Siehe auch P.A. Hall & D. Soskice, Varieties of Capitalism, OUP, Oxford 2001. 109

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

primär auf die kurzfristigen Betriebsergebnisse gerichtet, bei dem rheinländischen Modell dagegen auch auf die langfristigen Aussichten. Die Aktionäre haben für gewöhnlich keine direkte Affinität zum Unternehmen als Unternehmen, nur zu den Betriebsergebnissen, wie diese auch immer erzielt werden. Die Arbeitnehmer haben hier also nur die Funktion, Gewinne zu schaffen, sie sind mit anderen Worten nur Zubehörteile („Bolzen und Muttern“ bzw. „human resources“) einer Maschine, die brauchbar sind, solange die Maschine gut arbeitet, aber ersetzt oder vor die Tür gesetzt werden, wenn das nicht länger der Fall ist. Daher wird in diesem Modell der Einfluss der Gewerkschaften und anderer Mitbestimmungsorgane möglichst zurückgedrängt, wird man leicht in Dienst genommen, aber ebenso leicht wieder entlassen, ist im Vergleich mit dem Rheinländischen Modell die Dauer einer Arbeitsstelle kürzer, die Personalfluktuation also größer, sind die Unterstützungen niedriger, werden die Lohnverhandlungen mehr dezentral geführt und zeigt die Einkommensverteilung eine größere Ungleichheit. Eine wichtige Folge ist, dass, auch wieder im Vergleich mit dem Rheinländischen Modell, die Loyalität der Arbeitnehmer dem Unternehmen gegenüber und die Verbundenheit mit ihm relativ niedrig sein wird, eine Verbundenheit, die z. B. in der Bereitschaft zum Ausdruck kommt, Zeit und Energie in den Erwerb von für den Betrieb spezifischer Kenntnis zu stecken. Was selbstverständlich Einfluss auf das Lernvermögen der Organisation nimmt. Das Rheinländische Modell verfolgt in diesem allen einen anderen Kurs, indem es seine Motivation aus der zugrunde liegenden Auffassung in Bezug auf Personsein und zwischenmenschliche Beziehungen schöpft. Im Gegensatz zum angelsächsischen mechanistischen und distanzierten Verwaltungsstil, der vornehmlich in Termini der Betriebsstruktur, der „harten“ Aspekte der Unternehmung, denkt, herrscht hier (idealiter) ein mehr auf den Menschen gerichteter Führungsstil vor, mit Aufmerksamkeit für die Betriebskultur bzw. für die „sanfte“ Seite des Betriebslebens, wie die Motivation der Mitarbeiter und ihre persönlichen Umstände. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Meinung Donald Kalffs in seinem Buch An Unamerican Business. The Rise of the New European Enterprise72. Seine These ist, dass das harte amerikanische Modell immer höhere soziale Kosten mit sich bringt (die zwar eine Zeit lang ziemlich unsichtbar bleiben können), wie die

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Kogan Page, London 2006. 110

Wirkung auf die Eigentumsverhältnisse

Spannungen zwischen Betriebsbranchen (z. B. Unternehmen und Banken), zwischen den verschiedenen Managementabteilungen innerhalb desselben Unternehmens, usw. Aber vor allem, dass das amerikanische Modell, wegen der Tatsache, dass es von allerhand sozialen Ressourcen schmarotzt, sie aber zugleich aufweicht, die sozialen Grundlagen von Zusammenarbeit, Vertrauen und Einsatz unterminiert. Anders gesagt bildet das Modell einen Anschlag auf entscheidende Bedingungen für ein erfolgreiches und nachhaltiges Funktionieren von Unternehmen. Kalffs Auffassung zufolge, und ich meine, er hat Recht, hat das europäische oder Rheinländische Modell mehr als das raue amerikanische einen Blick für diese sozialen Ressourcen bzw. für den menschlichen und personalen Aspekt der Betriebswelt. Und es hat deshalb bessere Aussichten, jedenfalls auf lange Sicht. Ein aus meiner Sicht triftiger Grund, das Rheinländische Modell zu bewahren und zu fördern und der schleichenden Amerikanisierung unseres ökonomischen Systems entgegenzutreten.

Wirkung auf die Eigentumsverhältnisse Dass europäischen Vorstellungen zufolge Humanität ein soziales Gesicht hat, muss sich auch auf die Eigentumsverhältnisse auswirken. Eine Zeit lang hat sich dieses soziale Gesicht verdüstert, in der frühliberalen Phase nämlich. Wie oben schon gesagt, denkt man sich da die menschliche Person als in sich gerundete Selbstständigkeit, die nur äußerliche vertragliche Beziehungen zu seinen Mitmenschen hat. Die Gesellschaft wird demnach als die Summe dieser separaten Individuen aufgefasst. In dieser Gesellschaft dreht sich alles um das Eigentum. Es ist der Vermittler der äußeren Freiheit bzw. der Selbstausübung der Bürger nach außen hin. In dem Sinn schreibt Locke: „The great and chief end (…) of men uniting into commonwealths, and putting themselves under government, is the preservation of their property (…)“73. Und bei Kant ist in ähnlichem Sinn das Recht das Ganze der die Eigentumsverhältnisse („das Mein und Dein“) regelnden Bestimmungen, das seinerseits vom Staat garantiert wird. Alle Rechtsbeziehungen stehen auf die-

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John Locke, Two Treatises, a.a.O., 180. 111

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

se Weise im Zeichen der Sicherung des Besitzes jedes Mitbürgers, eine Idee, die sich nicht nur auf Sachen bezieht und so auf das Sachenrecht beschränkt bliebe, sondern im Personenrecht zu den persönlichen Beziehungen fortgeführt wird. Zu welchen Absurditäten das führt, geht aus Kants Definition der Ehe als der „Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz [!] ihrer Geschlechtseigenschaften“ hervor74. Aus dieser Perspektive ist das Eigentum strikte Privatsache, es ist „heilig und unantastbar“ (sacré et inviolable), wie die französische Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789 behauptet. Und es beherrscht alle sozialen Verhältnisse. Wer keinen Besitz hat, d. h. nicht finanziell selbstständig ist und für sein eigenes Einkommen sorgen muss (also kein Unternehmer ist), spielt keine Rolle als vollwertiger Bürger, hat z. B. kein Wahlrecht. Kein Wunder dann, dass wegen dieses „heiligen“ Charakters des Eigentums Diebstahl wohl das ernsthafteste Verbrechen war. Am Anfang des 19. Jahrhunderts kannte Frankreich etwa 120 mit dem Tod bestrafte Delikte gegen das Eigentum und England sogar um die 200 herum, es genügte z. B. schon der Diebstahl eines silbernen Löffels oder Kerzenhalters. Und nicht zuletzt war das Eigentum absolut in dem Sinn, dass jedermann außer dem Besitzer vom Gebrauch ausgeschlossen war und es die Zuständigkeit des Eigentümers beinhaltete, „auf die absoluteste Weise“ darüber zu verfügen, sogar die fragliche Sache (ein wertvolles Gemälde z. B.) ins Feuer zu werfen oder es auf andere Weise zu vernichten oder zu beschädigen. Diese Eigentumsidee, die im Code Napoléon (1804) niedergelegt worden war und durch die bürgerlichen Gesetzbücher verschiedener Länder wie der Niederlande oder Belgien übernommen wurde, ist also völlig individualistisch und ohne jeden sozialen Aspekt. Das war nicht immer so und bildet in der Geschichte des Eigentumsbegriffs eine absolute Ausnahme. Eigentum hatte die Zeiten hindurch immer, wenn auch in verschiedenem Maß und auf verschiedene Weise, eine soziale Dimension, ob es sich um die altjüdische Gesellschaft handelt oder um die der Antike, des Mittelalters, der indonesischen Adat-Tradition oder wie auch immer. Stets schwingt im Eigentum ein Gemeinschaftsaspekt mit, der soziale Pflichten anderen oder der Gesellschaft als Ganzer gegenüber in sich schließt.

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I. Kant, Metaphysik der Sitten, Felix Meiner Verlag, Hamburg 19224, 91. 112

Wirkung auf die Eigentumsverhältnisse

Ein Beispiel aus der altisraelitischen Gesellschaft ist folgende Stelle aus dem Bibelbuch Leviticus (3. Mose). Es findet sich da das Gebot: „Und wenn ihr die Ernte eures Landes erntet, darfst du den Rand deines Feldes nicht vollständig abernten und darfst keine Nachlese deiner Ernte halten. Und in deinem Weinberg sollst du nicht nachlesen, und die abgefallenen Beeren deines Weinbergs sollst du nicht auflesen; für den Elenden und Fremden sollst du sie lassen.“ (Leviticus 19, 9–10)

Ein Landbesitzer sollte also Arme und Fremde vom Ertrag seines Landes mitprofitieren lassen. Tat er das nicht, verübte er eine Art Diebstahl an seinen bedürftigen Volksgenossen und sogar an Fremden. Eigentum verpflichtete in sozialer Hinsicht. Und wenn in späterer Zeit auch in Israel eine Klasse neuer Reicher, d. h. eine Schicht von Händlern und Großgrundbesitzern entsteht, die die alte Tugend des Teilens nicht länger praktizieren, sondern die Armen ausbeuten oder sie mindestens im Regen stehen lassen, dann wettern die Propheten dagegen: Eigentum hat eine soziale Funktion und soll sie behalten. Wenn klar ist, dass wir nie rein aus uns selbst ausgewachsene Personen sind, sondern dazu andere und die gemeinschaftlichen Einrichtungen wie Unterricht, das Recht und sogar die Sprache benötigen, also dass in unsere Identität schon die Investition vieler bekannter und unbekannter anderer einbezogen ist, so folgt daraus die Einsicht, dass auch unser Besitz auf der kumulierten Anstrengung vieler beruht. Ich platzte mal in ein Radiointerview über die Frage hinein, ob die niederländische Entwicklungshilfe an arme Länder erhöht werden sollte. Einer derjenigen, denen diese Frage vorgelegt wurde, war bald fertig: „Meinetwegen, aber nicht von meinem Geld.“ Sein Geld, aber er hatte das Glück gehabt, in einem wohlhabenden Land mit einem blühenden Betriebsleben, einer guten Infrastruktur, einem gut funktionierenden Rechtssystem, einem guten Unterrichts- und Sozialwesen usw. heranzuwachsen. Hätte er das Pech gehabt, in einem unterentwickelten Land zur Welt gekommen zu sein, wo er schon als Kind täglich zwölf Stunden oder länger unter erbärmlichen Umständen hätte Steine klopfen oder in den Minen arbeiten müssen und auf diese Weise schon früh alt und abgenutzt gewesen wäre, hätte er mit ein paar schäbigen Hellern auskommen müssen. 113

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

Die Umstände bestimmen folglich in hohem Maß, wer wir sein werden. Wer weiß denn, wie viel Talent durch die Zeit hindurch verloren gegangen ist, weil es nicht die Chance bekam, sich zu entfalten. Und diejenigen, die die Chance bekamen, sind sich dessen auch oft deutlich bewusst. Große Künstler wie Bach und Goethe wissen ganz gut, dass sie auf den Schultern vieler anderer stehen, dass ihr Werk nur in gewissem Maß ihre authentische Schöpfung ist und sie der Vorarbeit ihrer Vorgänger viel zu verdanken haben. Kurzum, unser Besitz und die Früchte unserer Arbeit ruhen auf Bedingungen, die wir nicht selbst zustande gebracht, sondern geerbt haben. Unser Besitz und die Ergebnisse unserer Arbeit sind also viel weniger Privatsache als Locke, Kant und viele andere mit ihnen glauben. Locke hatte, wie bekannt, diesen reinen Privatcharakter des Eigentums der Arbeit, die man auf eine Sache verwendet hat, zugeschrieben. Und, so fährt er fort, weil jemand Besitzer seiner selbst und niemandes anderen ist, ist er somit auch Besitzer seiner Arbeit und der Sache, in die diese Arbeit investiert worden ist. Es ist seiner Meinung nach offenkundig, „that though the things of Nature are given in common, man (by being master of himself, and proprietor of his own person, and the actions of labour of it) had still in himself the great foundation of property; and that which made up the great part of what he applied to the support or comfort of his being, when invention and arts had improved the conveniences of life, was perfectly his own, and did not belong in common to others.“75

Und Kant hatte behauptet, dass jemandes Fleiß, sein Talent und sein Glück ohne Weiteres ihm gehören. Diese Ideen liegen ganz klar dem oben erwähnten absoluten und exklusiven Eigentumsbegriff zugrunde. Jedes soziale oder Solidaritätsmoment fehlt hier. Es kann da keine Rede von einem Übernehmen des existenziellen Risikos sein, das Joachim Hellmer zufolge (mit Recht) für das menschliche Zusammenleben kennzeichnend ist. Hier sind die Menschen wieder den Launen des Schicksals ausgeliefert. Sind sie alt, krank, getroffen durch unglückliche gesellschaftliche Entwicklungen? Pech gehabt, leider, leider!

75

Locke, a.a.O., 138. 114

Formen gemeinschaftlichen Eigentums

Aber weshalb gehört jemandes Glück nur ihm, von dem auch nur er profitieren kann? Er hat nichts dafür getan, es ist ihm nur so in den Schoß gefallen. Es ist nichts Berechtigtes daran. Das gilt auch für sein Talent. Es ist, offenbar aus diesem Grund, bemerkenswert, dass John Rawls in seiner einflussreichen Studie A Theory of Justice (1971) die Talente, die Menschen von der Natur mitbekommen haben, als „collective assets“ bzw. „common property“ betrachtet, als kollektive Aktiva oder gemeinschaftlichen Besitz also76. Das schafft Raum für ein Solidaritätsmoment des Eigentums, wie das auch konkret ausgeführt wird. Inzwischen denken wir – wir können schwerlich anders – auch weiterhin in Termini von Privatbesitz und schreiben den Künstlern ihre Werke zu, wie sehr wir uns dessen bewusst sind, dass ihre Autorschaft nur eine relative ist. Aber dieser relative Charakter des Eigentums bietet Formen von Umverteilung Raum, wobei schwerere Lasten auf stärkere Schultern gelegt werden, kurzum das Eigentum eine Vergesellschaftung erfährt, die dem sozialen Charakter der europäischen Person- und Gesellschaftsidee entspricht.

Formen gemeinschaftlichen Eigentums In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass im Anschluss an die Vergesellschaftung des Eigentums allerlei neue Bürgerinitiativen entstehen, die auf gemeinschaftlichen Besitz und Gebrauch von Sachen wie Boden, Transportmittel u. d. gerichtet sind, dies als Reaktion auf die zu weit gediehene Individualisierung der Eigentumsverhältnisse. Diese Initiativen erinnern an Formen gemeinschaftlichen Gebrauchs von Böden, die sich im Mittelalter in vielen Ländern Europas entwickelt haben und unter dem Namen von Gemeindefluren in Deutschland, von „commons“ in England und „meenten“‘ in den Niederlanden bekannt waren. Diese Gemeindefluren waren Stücke Land um Dörfer herum, auf die insbesondere ärmere Mitglieder der Gemeinschaft ein Gebrauchsrecht hatten, z.  B. um das Vieh weiden zu lassen, Soden oder Plaggen zu stechen oder Unterholz aus den Wäldern zu holen. Der Gebrauch dieser gemeinschaftlichen Flurstücke durfte

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Rawls, a.a.O., 101, 179. 115

Kapitel III Das andere Gesicht der Modernität. Die europäische Personidee

ausschließlich für den eigenen Lebensunterhalt genutzt werden, nicht um damit Geld zu verdienen. Und das Gebrauchsrecht beinhaltete unter dem Namen des „aktiven Rechts“ die Pflicht, diese Flurstücke auch gemeinschaftlich zu versorgen durch die Pflege der Gräben, Wege, Hecken usw. An vielen Orten sehen wir nun, dass Gruppen von Bürgern Initiativen entfalten, die auf der Linie jener gemeinschaftlichen Eigentumsformen liegen und darauf auch regelmäßig zurückgreifen. Ein Beispiel in den Niederlanden ist der landwirtschaftliche Kleinbetrieb Hof von Twello in der Nähe von Deventer, der vom Initiator Gert Jan Jansen in seinem Buch Kleinschaligheid als initiatief. Nieuwe meenten in een nieuwe economie [Kleiner Umfang als Initiative. Neue Gemeindefluren in einer neuen Ökonomie]77 beschrieben worden ist. In diesem Hof bekam eine Anzahl Personen das Gebrauchsrecht an einem Grundstück, um ihre eigenen Gewächse anzubauen. Dabei galt – es musste durch Fallen und wieder Aufstehen neu entdeckt werden – nach dem Vorbild der traditionellen Gemeinschaftsflur das aktive Recht: Man erlangt die Verfügung über ein Grundstück unter der Bedingung, an der Versorgung des ganzen Hofs, von Gräben, Hecken, Wegen usw., mitzuarbeiten. Es stellte sich heraus, dass ohne diese Form von Verbundenheit das Projekt nicht funktionierte. Es bildet also zugleich eine Übung in Gemeinschaftssinn. Jansen schreibt: „Man züchtet nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gemeinschaft. Daneben gibt es im Hof allerhand Kleinigkeiten, die nicht strikt an den eigenen Garten gekoppelt sind, wie z.  B. das Sauberhalten der gemeinschaftlichen Pfade oder das Bauen einer Schutzhütte, das Eingraben eines Elektrizitätskabels oder das Anbringen einer Bewässerungsanlage“.

Dies ist nur ein Beispiel der vielen kollektiven Bürgerinitiativen, die man nennen könnte, neben neuen von unten her zustande gebrachten Körperschaften auf dem Gebiet der Gesundheits- oder Altersfürsorge, von Gemeinde- und Dorfzentren mit einer breiten Skala von Aktivitäten zugunsten der ganzen Gemeinschaft u. a. Es sind alles Reaktionen, die aus Unzufriedenheit mit den üblen Folgen eines zu weit getriebenen individualistischen Eigentumsbegriffs geboren sind. Was Letz-

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Uitgeverij Van Arkel, Utrecht 2014. 116

Formen gemeinschaftlichen Eigentums

teres anbetrifft, kann man selbstverständlich an die Art und Weise denken, wie der Finanzsektor mit seinen kommerziell eingestellten Banken und seinem Börsensystem organisiert ist. Die fatalen Folgen der finanziellen und ökonomischen Krise von 2008 für breite Schichten der Bevölkerung sind noch lebhaft im Gedächtnis. Aber schon die großangelegte, top-down organisierte Betriebsstruktur fast aller Sektoren der Gesellschaft nährt das Gefühl vieler Bürger, die Kontrolle über das eigene Leben verloren zu haben. Die genannten Bürgerinitiativen sind ein Versuch, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Historisch gesehen ist das öfter geschehen, z. B. mit den Gilden im Mittelalter, als Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen, wobei Geld der bestimmende Faktor in der Gesellschaft war und alles dadurch zur Handelsware zu werden drohte, mit verhängnisvollen Folgen für das soziale Klima. Die heutigen Bürgerinitiativen passen ganz gut zu diesem Bild. Sie passen auch viel besser als die Kommerzialisierung und Privatisierung von Eigentum und Diensten zu der Sicht der Gesellschaft als eines kooperativen Unternehmens zugunsten aller, wie sie kennzeichnend ist für das europäische Narrativ. Demgegenüber unterminiert die heutige dominante ökonomische Ordnung mit ihren fundamentalen Kennzeichen eines hohen Grads von Privatisierung und überhaupt von Ökonomisierung der Gesellschaft die soziale Stabilität und den Zusammenhalt – man denke an den gesellschaftlichen Sprengstoff, der der noch immer wachsenden Kluft zwischen reich und arm innewohnt. Die genannten Bürgerinitiativen zeigen in die Richtung einer anderen, solidarischeren ökonomischen Ordnung, die ein getreuerer Ausdruck des europäischen Gesellschaftsideals ist. Überdies, um dies noch zu nennen, atmen sie den Geist einer wahrhaftigen Partizipationsgesellschaft aktiver, verbundener Bürger.

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Kapitel IV Demokratie und Rechtsstaat als institutionelle Übertragungen der europäischen Personidee Die zentrale These dieses Buchs ist, dass Europa auf dem grundlegenden Niveau (der tektonischen Platte des Kontinents) eine eigene große Geschichte hat, die um eine besondere Sicht des Menschseins und eine zugehörige Gesellschaftsauffassung kreist. Bestimmend für beide ist die Idee der Person, verstanden als ein selbstständiges Zentrum von Denken, Fühlen, Wollen und Handeln. Deshalb ist aus dieser Sicht die Freiheit ein innewohnendes und unverlierbares Kennzeichen der so gedeuteten Person- und Humanitätsidee. Rousseau sagt dazu: „Verzichten auf seine Freiheit ist Verzichten auf seine Qualität als Mensch“78 – etwas Undenkbares also. Die menschliche Person ist in dieser Hinsicht ein Wesen, das aus der Natur der Sache das eigene Dasein der eigenen Einsicht und Überzeugung gemäß gestaltet. Darum verdient eine humane Gesellschaft es, so eingerichtet zu sein, dass die Bürger sich frei als Person entfalten können. Ebenso, so war die These, ist die Gleichheit der Menschen als Menschen mit der europäischen Humanitätsidee als solcher gegeben. Ist doch das grundlegendste Kennzeichen der Menschen ihr Mensch- bzw. Personsein, alle anderen Kennzeichen stehen erst an zweiter Stelle. Schließlich, so war die Behauptung, ist die Person nicht sosehr eine Substanz- als vielmehr eine Relationskategorie. Menschen sind aufeinander angewiesen, um Person im vollen Sinn zu werden, und fördern einander dabei. Deswegen ist Menschsein außer dem sozialen und kulturellen Milieu so etwas wie der Zustand eines Fischs auf dem Trockenen. Das führte im europäischen Raum zu der Auffassung der Gemeinschaft als einem Zu78

„Renoncer à sa liberté, c’est renoncer à sa qualité d’homme“. Du Contrat Social, Garnier, Paris 1962, I, 4, 239. 118

Konsultation und Partizipation der Bürger

sammen-leben, eines kooperativen Unternehmens zum Vorteil aller – unter der Bedingung, ich komme noch darauf zurück, dass jeder dazu seinen Teil beiträgt. Das beinhaltet jedenfalls eine solche Einrichtung der Gesellschaft, dass jede und jeder zählt, dass deshalb auch keiner, was die minimale Existenzsicherheit betrifft, das Nachsehen haben darf. Es muss ein soziales Auffangnetz geben, das einem jeden ein „anständiges“ Existenzminimum garantiert. Stets ist es folglich so, dass basale Kennzeichen der Person- und Humanitätsidee auf grundlegende Gesellschaftsstrukturen übertragen werden. Ein Beispiel bilden die Menschenrechte. Sie sind eine direkte Folge und nähere Auswirkung der europäischen Auffassung des Menschseins. Wenn fast alle abendländischen Verfassungen mit einem Katalog von Menschen- oder Grundrechten eröffnet werden, wird damit angedeutet, auf welchen Grundlagen die soziale, politische und juristische Ordnung dieser Gesellschaften beruht.

Praktische Probleme mit der Demokratie. Die Notwendigkeit neuer Formen der Konsultation und Partizipation der Bürger Die wichtigsten Institutionen, die der europäischen Humanitätsidee entsprechen, sind, wie schon oben gesagt, die Demokratie und der Rechtsstaat. Von der Demokratie war schon einige Male die Rede. Dabei wurde festgestellt, dass sie „a by-product of the entire development of Western civilisation“ (ein Nebenprodukt der ganzen Entwicklung der abendländischen Zivilisation) ist, bzw. dass sie als politische Struktur das zugrunde liegende Menschenbild, das sich in der abendländischen Kultur herauskristallisiert hat, widerspiegelt.Das bedeutet, dass die Demokratie im abendländischen Sinn missverstanden wird, wenn sie nur in formalem Sinn aufgefasst wird als ein System von Spielregeln für den politischen Beschlussfassungsprozess, das eine neutrale Position in Bezug auf welche Gesellschaftsauffassung auch immer einnimmt. Mit anderen Worten: Einzig eine materielle Auffassung der Demokratie als Übertragung einer normativen Konzeption des Menschseins auf das politische Niveau wird ihr gerecht. 119

Kapitel IV Demokratie und Rechtsstaat als institutionelle Übertragungen der europäischen Personidee

Wenn es in der heutigen Situation also Probleme mit der Demokratie gibt, und wer wird das leugnen wollen, dann kann das nicht die Idee der Demokratie als solche betreffen, sondern deren Funktionieren in der Praxis. Das wurde wieder durch den „World Values Survey“ bestätigt, ein großangelegtes internationales Forschungsprojekt, bei dem vor einigen Jahren 73 000 Personen aus 57 Ländern befragt wurden. Auf die Frage, ob die Demokratie eine gute Verwaltungsform sei, antwortete 91,6 (!) Prozent der Befragten in positivem Sinn. Das allgemeine Urteil über die Demokratie ist also fast ungeteilt günstig, was gewiss auch für Europa gilt. Wenn es deshalb zugleich eine weit verbreitete Skepsis hinsichtlich der Demokratie gibt, kann sie nicht die Idee betreffen, sondern, wie gesagt, die Art und Weise, wie sie in der Praxis funktioniert. Der wichtigste Grund dieser Unzufriedenheit ist wohl der Abstand zwischen Regierenden und Regierten. Wenn in der repräsentativen Demokratie – die eine Alternative für in den modernen Massengesellschaften nicht mehr praktikablen Formen direkter Demokratie bildet – die Bürger zwar einmal in so und so viel Jahren ihre Stimme abgeben dürfen, danach aber auf die Beschlussfassung kaum noch Einfluss ausüben können, hat das zu einer zunehmenden Entfremdung und Frustration der Wählerschaft geführt. Das hat schon Rousseau so beurteilt: „Das englische Volk dünkt sich, frei zu sein, aber irrt sich enorm; es ist nur frei während der Wahl der Mitglieder des Parlaments; sobald sie gewählt worden sind, ist es Sklave, ist es nichts.“79 Symptome der Entfremdung der Bürger angesichts der demokratischen Praxis sind ein zunehmendes Wegbleiben der Wähler (immer mehr besonders junge Wahlberechtigte bleiben der Wahlurne fern, die Beteiligung an den Wahlen geht zurück), eine zunehmende Fluktuation der Wähler (die Zahl der Wechselwähler nimmt zu) und eine abnehmende Mitgliedschaft in den politischen Parteien (diese gehören zu den am stärksten misstrauten Institutionen Europas). Die Parteiendemokratie ist offenbar eine (und vielleicht die) Achillesferse der demokratischen Praxis. Um aus der Demokratie wieder eine blühende Verwaltungsform zu machen, wird sie deshalb in praktischer Hinsicht neu eingerichtet werden müssen. Oder, um mit dem belgischen Schriftsteller David van Reybrouck zu sprechen, wir wer79

Zitiert bei David van Reybrouck, Tegen verkiezingen (Gegen Wahlen), De Bezige Bij, Amsterdam/​Antwerpen 2016, 5. 120

Konsultation und Partizipation der Bürger

den den „elektoralen Fundamentalismus“, der Wahlen als die einzige Strategie, den Volkswillen zu sondieren, betrachtet, aufgeben müssen. Es werden also andere Formen von Mitsprache und Beteiligung von Bürgern gefunden und entwickelt werden müssen, um die Kluft zwischen Wählern und Gewählten zu schließen oder zumindest zu verkleinern. Das braucht nicht die Abschaffung der Wahlen zu bedeuten – man soll alte Schuhe nicht wegwerfen, bevor man neue hat. Aber es werden ihnen neue Möglichkeiten, die Bürger an der politischen Beschlussfassung zu beteiligen, hinzugefügt werden müssen, um aus der Demokratie auch tatsächlich eine Verwaltung des Volks, für das Volk und namentlich durch das Volk zu machen. Ein Weg dazu könnte sein, durch Losen zusammengesetzte Gremien Gesetzesvorlagen oder Volksentscheide vorbereiten zu lassen – es hat schon eine Reihe von Experimenten in dieser Hinsicht stattgefunden. So arbeiteten im kanadischen British Columbia 2004, in den Niederlanden 2006 und im kanadischen Ontario 2006–2007 durch Losen zustande gekommene Bürgerforen an Vorschlägen zur Reform des Wahlsystems, bekam 2013 in Irland ein Ausschuss durch Losen ausgesuchter Bürger (neben einer Anzahl abgeordneter Politiker) den Auftrag einer Revision von acht Verfassungsartikeln. Und das weitestgehende Beispiel: 2010 bekam in Island nach dem Bankrott des Landes ein derartiges Gremium den Auftrag, eine Vorlage einer neuen Verfassung zu verfertigen. Die Mitglieder dieser Foren wurden für ihre Teilnahme finanziell kompensiert und durften alle Expertise von Sachverständigen, die sie für ihre Arbeit als notwendig erachteten, engagieren. Der Vorteil eines solchen Vorgehens ist, dass Bürger direkt an bestimmten Sachen beteiligt werden, auf diese Weise eine größere Tragfläche für die Ergebnisse der Beratungen entsteht und zusätzliche Expertise und Erfahrung aus der Gesellschaft erschlossen wird (Bürger besitzen, wie sich herausstellt, in der Praxis viel mehr Einsicht und Kompetenz als Berufspolitiker oft denken). Nicht unwichtig ist schließlich, dass die beteiligten Bürger ihre Arbeit unabhängig machen können, weil sie nicht mit den Interessen politischer Parteien zu rechnen haben. Auch brauchen sie sich bei ihrer Meinungsbildung nicht um eine eventuelle Wiederwahl zu kümmern, weil sie ja nur für das fragliche Projekt ausgesucht worden sind. Sie werden aus diesem Grund weniger anfällig für die Tagespolitik sein und vielmehr ein Auge für die langfristige Perspektive haben. Ein Mittel, das in der vergangenen Zeit regelmäßig eingesetzt worden ist, die Meinung der Bevölkerung in einer bestimmten Angelegenheit zu sondieren, ist 121

Kapitel IV Demokratie und Rechtsstaat als institutionelle Übertragungen der europäischen Personidee

der Volksentscheid. Man denke an die Plebiszite über die europäische Verfassung, über den Assoziationsvertrag mit der Ukraine und nicht zuletzt über den Brexit. Das Problem mit diesen Volksentscheiden ist, dass sie komplizierte Dossiers betreffen und nur eine Wahl zwischen einer Ja- oder einer Neinstimme in Betreff einer bestimmten Sache zulassen, wobei, wie sich herausgestellt hat, die Wähler sich durch ganz verschiedene Erwägungen oder Gefühle leiten lassen, es oft gar nicht mehr um die fragliche Sache, sondern um andere, damit in Verbindung stehende Sachen, geht. Es ist dann schwer zu ermitteln, warum das Ergebnis des Volksentscheids so ausgefallen ist, wie es der Fall ist, bzw. was das Urteil der Wählerschaft nun genauer bedeutet. In dieser groben Form ist der Volksentscheid deshalb nicht die Antwort auf das Empfinden vieler in der Gesellschaft, dass ohne sie über sie entschieden wird. Auch in diesem Fall könnten Bürgerforen wie oben beschrieben eine nützliche Funktion haben. Eine solche durch Losen zusammengesetzte Gruppe würde dann, wieder unter Verwendung der benötigten Expertise, in einer fortgesetzten Beratung von z. B. einer Anzahl von Monaten, eine verschärfte und differenzierte Fragestellung ausarbeiten können. Z. B., indem eine Liste von zehn Punkten, die Aspekte des fraglichen Problems betreffen, erstellt wird und die Wähler dann die Gelegenheit bekommen, drei davon anzukreuzen80. Auf diese Weise würde viel transparenter werden, was die Motive hinter den Standpunkten sind. Und die undurchsichtigen Ergebnisse der Volksentscheide in ihrer heutigen Form würden durch eine verfeinerte Sondierung der Meinungen ersetzt werden. Losen von Personen für politische Zwecke mag vielen merkwürdig erscheinen, konditioniert wie wir in den letzten Jahrhunderten sind, die Demokratie mit Wahlen zu identifizieren. Letzteres scheint sich historisch gesehen jedoch erst seit den amerikanischen und französischen Revolutionen so entwickelt zu haben, als die politische Elite anfing, das Volk als inkompetent zu betrachten, in öffentlichen Angelegenheiten mitzusprechen und mitzubestimmen. Wählen und gewählt zu werden, war seitdem einer Aristokratie von Besitzern vorbehalten, eine Entwicklung, die als die Oligarchisierung der Demokratie bezeichnet worden ist. Die Geschichte zeigt aber, dass in früheren Demokratien Losen oft das Mittel gewesen ist, Verwaltungsfunktionen zu besetzen. Par excellence war das der Fall 80

Ich entlehne diesen Gedanken einer von Van Reybrouck in einer Fernsehsendung gemachten Aussage. 122

Konsultation und Partizipation der Bürger

in der athenischen Demokratie, dem ersten großen Beispiel einer Demokratie in europäischem Sinn. Die wichtigsten Organe des athenischen Stadtstaats waren die Volksversammlung (die über Gesetze abstimmte und die Spitzenbeamten erwählte), der Rat der Fünfhundert (der die Gesetze entwarf, die Volksversammlung vorbereitete, die Ausführung der Gesetze beaufsichtigte und die Diplomatie betrieb), das Volksgericht (das Recht sprach und die Legalität der Gesetze prüfte) und die Verwaltung (eine Art ausführender Gewalt). Alle diese Einrichtungen wurden durch Losen zusammengestellt. Die Volksversammlung bestand aus etwa 6000 durch Losen angewiesene Bürger, aus einer Bevölkerung von zwischen 30 000 und 60 000 erwachsenen freien Männern. Der Rat war aus 500 auf ein Jahr gelosten Bürgern zusammengesetzt. Die Mitglieder des Volksgerichts wurden jeden Morgen für die Rechtsangelegenheiten jenes Tages durch Losen angewiesen (Richter war man also nur für einen Tag), und die Mehrheit der Verwaltungsbeamten bestand aus durch Losen angewiesenen Bürgern. Nur Funktionen, für die eine besondere Kompetenz, z. B. als Heerführer, erforderlich war, wurden von der Volksversammlung durch Wahlen bestimmt. Diese Organisation der athenischen Demokratie bewirkte ein hohes Maß an Partizipation vonseiten der Bürger. Ein beträchtlicher Teil der Bürgerschaft Athens ist Mitglied eines Verwaltungsorgans oder sogar mehrerer Verwaltungsorgane gewesen. Und äußerst wichtig: An einem Tag gehörte man zur Verwaltung, am anderen war man Verwalteter. Von einer Kluft zwischen Verwaltern und Verwalteten oder von einer Kaste von Berufsverwaltern konnte auf diese Weise keine Rede sein. Aristoteles sieht darin ein Merkmal der Freiheit: „Grundprinzip eines demokratischen Staatssystems ist Freiheit. (…) Eines der Merkmale der Freiheit ist, dass man abwechselnd regiert wird und selber regiert.“81 Benjamin Constant nannte diese altgriechische Auffassung der Freiheit deshalb „liberté-participation“ (Freiheit als Beteiligung). Und ich erinnere nochmal an die hiermit völlig übereinstimmende Aussage von Perikles: „(…) bei uns heißt einer, der daran [an den Staatsgeschäften] gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter“, ein politischer Nichtsnutz sozusagen. Obwohl als Idee immer noch lebendig, wird die Zukunft der Demokratie davon abhängen, ob Strategien gefunden und entwickelt werden können, sie in praktischer

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Aristoteles, Politica, 1294b33, 1294b33, 1317b1–4. 123

Kapitel IV Demokratie und Rechtsstaat als institutionelle Übertragungen der europäischen Personidee

Hinsicht zu einer Sache zu machen, woran die Bürger sich aktiv beteiligen können und die sie so als ihre Sache erfahren. Eine Demokratie also als Angelegenheit nicht nur des Volkes und für das Volk, sondern vor allem auch durch das Volk. Der Gedanke durch Losen zusammengesetzter Bürgerforen, die die Gelegenheit bekommen, über wichtige Angelegenheiten zu beratschlagen und Vorschläge zu machen, könnte so eine Strategie sein, die Bürgerpartizipation zu vergrößern. Die Demokratie ist ihrer Art nach ja eine „bottom-up“-Verwaltungsform. Anders gesagt, sie ist der politische Ausdruck einer Partizipationsgesellschaft, einer Gesellschaft aktiver Bürger (auf allen Ebenen also), die miteinander viele Angelegenheiten regeln – z. B. die Einrichtung und Sicherheit ihres Viertels durch gemeinschaftliche Überwachung. Das bedeutet, dass viel mehr als es jetzt geschieht, der Initiative der Bürger überlassen werden soll, dass viel mehr die „couleur locale“ und das dort herrschende Maß für die Art und Weise, wie die Dinge geregelt werden, bestimmend sein soll. Es soll also möglichst wenig durch top-down-Regeln geregelt werden, z. B. wie schnell auf bestimmten Straßen gefahren werden darf, anstatt dies, angepasst an die Situation, den Verkehrsteilnehmern zu überlassen. Die sind nämlich im Allgemeinen ganz gut imstande, durch Selbstorganisation spontan eine Form von Ordnung zu schaffen. Das würde bedeuten, dass das beklemmende Regelpaket, durch das sich der Bürger in der modernen Gesellschaft eingeschnürt fühlt, stark ausgedünnt werden müsste. Das würde neue kreative Entwicklungen des Zusammenlebens ermöglichen. Indem man den Bürgern den Raum (zurück)gibt, allerlei Dinge in der eigenen Umgebung der eigenen Einsicht nach miteinander zu regeln, anstatt von oben herab allerlei Verordnungen (`Ukasse') über sie auszuschütten, werden sie wieder das Gefühl bekommen, die Verfügungsgewalt über ihr Dasein zu haben, was den Kern der Demokratie-Idee und der zugrundeliegenden Sicht des Menschseins ausmacht. Das bedeutet auch eine Rehabilitierung des sogenannten gesellschaftlichen Mittelfelds. Die politische Philosophie der modernen Zeit ist in hohem Maß durch ein Zwei-Schichten-Modell der Gesellschaft bestimmt gewesen. Das basale Niveau ist in dieser Sicht das Niveau der vielen individuellen Bürger, das durch das Niveau des Staats oder der Gesellschaft als Ganzer überwölbt wird. Dies ist das Modell, das sowohl vom Liberalismus als auch vom Sozialismus praktiziert wird. Beide kennen kein gesellschaftliches Mittelfeld als eigenständige soziale Wirklichkeit. Unter dem gesellschaftlichen Mittelfeld versteht man das Ganze der nichtstaatlichen Verbände, in denen sich die Bürger hinsichtlich unterschiedlicher Interessen vereinigen. Zu denken ist an Familien, Berufsvereine und Gewerkschaften, 124

Konsultation und Partizipation der Bürger

Schulen und Universitäten, Kirchen und andere religiöse und weltanschauliche Organisationen, Sport- und Musikvereine, Korporationen und Ladenketten, usw., kurzum alle jene privaten Verbindungen, in denen Menschen sich zur Realisierung bestimmter Ziele zusammenschließen. Diese intermediären Einrichtungen, wie sie auch genannt werden, zwischen dem Staat und den Bürgern repräsentieren die Mehrheit des gesellschaftlichen Reichtums einer differenzierten Gesellschaft wie der unseren. Hier finden Bürger sich für diverse Formen von Kooperation, hier wird das soziale und geistige Kapital der modernen Gesellschaft erzeugt. Wenn die Partizipationsgesellschaft eine Lebensform ist, in der aktive und beteiligte Bürger nach Vermögen dem Zusammenleben einen Beitrag liefern, dann ist für eine solche Gesellschaft ein vitales und blühendes Mittelfeld entscheidend wichtig. Und wenn, wie oben gesagt, eine lebendige Demokratie als politische Struktur nur dauerhaft ist, wenn sie der Ausdruck einer Lebens- und Denkweise ist, in der Menschen aufeinander hören und sich zusammen beraten, dann ist für die so verstandene Demokratie eine gut funktionierende Partizipationsgesellschaft und ebenso das Mittelfeld eine Voraussetzung und zugleich eine natürliche Schule. Damit liegt die Latte hoch, und von den Bürgern wird einiges verlangt. Die Demokratie und die Partizipationsgesellschaft sind dann auch keine leichten Lebensformen. Aber wenn es gelingt, sei es auch nur bis zu einem gewissen Grad, dem Ideal jener Lebensformen zu entsprechen, ist der Ertrag an menschlichem Wohlergehen hoch. Aber nochmals: Das erfordert gewisse Kompetenzen vonseiten der Bürger. Der niederländische Philosoph Lolle Nauta82 hat einmal vier Kompetenzen unterschieden, die für ein vollwertiges Bürgersein erforderlich sind. Zwei benennt er als Alter-Kompetenzen und die anderen zwei als Ego-Kompetenzen. Was erstere zwei betrifft, die davon handeln, wie jemand sich zum Anderssein des anderen (alter) verhält, sind dies das Vermögen zur Identifikation, sich in die Situation des anderen versetzen zu können, und das Vermögen zur Repräsentation, sich auf bestimmte Weise in Hinsicht auf den anderen zu positionieren und dabei einzuschätzen, was in diesem Zusammenhang von Belang ist oder eben nicht. Die beiden anderen Kompetenzen sind für Nauta Ego-Kompetenzen, weil sie sich auf die 82

Lolle Nauta, „Competente burgers“ (Kompetente Bürger), in: Ders., Onbehagen in de filosofie. Essays, Van Gennep, Amsterdam 2000, 106–113. 125

Kapitel IV Demokratie und Rechtsstaat als institutionelle Übertragungen der europäischen Personidee

Kapazitäten, als Ego ein Subjekt in Hinsicht auf andere zu sein, beziehen. Es handelt sich dann um das Vermögen der Ansprechbarkeit, nämlich auf das, was man gesagt oder getan hat, angesprochen werden zu können. Und daneben das Vermögen zur Wehrhaftigkeit, für sich selbst und seine Rechte eintreten zu können. Diese Kompetenzen sind Menschen nicht von Haus aus eigen. Sie müssen erlernt und eingeübt werden, und indem man sie praktiziert, werden sie weiterentwickelt. Diese Einsicht, dass Bürgersein nicht ohne einen Lernprozess möglich ist, war schon den Athenern klar bewusst. Daher ihr Nachdruck auf paideia, Erziehung und Bildung. Auch in unserer Zeit ist man wieder deutlich davon überzeugt, wie wesentlich gesellschaftliche Schulung und Bildung für eine gut funktionierende Demokratie und Gesellschaft im Allgemeinen ist. Das bedeutet zu erkennen, wie wichtig einerseits das Erlernen von Einsichten in die Funktionsweisen des gesellschaftlichen und politischen Systems und anderseits das Anerziehen der dazu erforderlichen Haltung und Kompetenzen ist. Es ist deswegen von größtem Interesse, in den Curricula der Schulen Zeit für Fächer wie Gesellschaftslehre, Staatsbürgerkunde, Geschichte und Philosophie einzuräumen. Es ist nämlich eine bedenkliche Entwicklung, davon war oben schon die Rede, dass fortwährend an den Geisteswissenschaften gespart wird. Dabei sind sie hervorragend geeignet, das Einfühlungsvermögen und die Fantasie, die für einen guten Umgang mit Mitbürgern, die einer anderen Lebensanschauung und Lebensweise anhängen, erforderlich sind, einzuüben. Neben Schulen sind gesellschaftliche, sportliche und kulturelle Organisationen als Übungsplätze für die Bildung zu Bürgern ins Auge zu fassen. Die Lernerfahrungen, die da in Bezug auf Zusammenarbeiten, Umgehen mit Andersdenkenden, mit Fairness, Regeln und Regelwahrung gemacht werden, kommen direkt aus der Praxis und haben auf diese Weise eine größere Chance, haften zu bleiben, als wenn es bei distanzierter Kenntnis bleibt.

Die Demokratie aus europäischer Perspektive. Gestaffelte Identität. Subsidiarität Eine gut funktionierende Demokratie, es sei nochmals gesagt, steht und fällt mit beteiligten und aktiven Bürgern, die sie als ihre Sache empfinden und sich mit ihr identifizieren. Das gilt auch für das europäische Projekt. Oft wird als Bedenken 126

Die Demokratie aus europäischer Perspektive. Gestaffelte Identität. Subsidiarität

gegen dieses Projekt angeführt, dass es den Bewohnern des Kontinents zu fern steht, sich damit identifizieren und sich auch wirklich als Europäer fühlen zu können. Eine solche Identifikation und Beteiligung, so ist der Gedanke, gibt es ganz klar mit der Region, wo Menschen leben und mit dem Land, wo sie wohnen. Aber Europa ist in dieser Sicht „zu weit weg“, um dazu eine wirkliche Beziehung zu haben. Es hat den Anschein, als ob man nur die Wahl hat, entweder Bürger einer Region oder eines Landes, oder Europäer zu sein. Die Loyalität dem einen gegenüber könnte nicht mit der Loyalität dem anderen gegenüber zusammengehen. Aber warum eigentlich nicht? Wir kennen viele Fälle einer gestaffelten Bürgeridentität. In den Niederlanden fühlt man sich als Einwohner von Friesland, Zeeland, Limburg usw. mit ihrer spezifischen Lokalfarbe, und doch ebenso sehr als Niederländer. In Deutschland ist man Bürger eines der verschiedenen Bundesländer (Bayern, Baden Württemberg, Niedersachsen usw.) und zugleich deutscher Staatsbürger. Eine vergleichbare Situation gibt es in der Schweiz, Belgien, Frankreich, Spanien, dem Vereinten Königreich und den Vereinigten Staaten, um nur diese zu nennen. Eine Loyalität schließt die andere nicht aus. Warum sollte ein dreifach gestaffeltes Bürgersein mit der dazugehörigen gestaffelten Identität dann nicht denkbar sein, besonders wo wir als Europäer eine gemeinsame Geschichte haben? In dem Sinn sind wir alle Europäer und genauso gut Bürger unserer eigenen Regionen und Nationalstaaten. Das Gefühl der Verbundenheit mit dem einen braucht also das mit dem anderen nicht auszuschließen. Wir dürfen wegen der regionalen und nationalen Unterschiede nicht übersehen, was uns miteinander verbindet, dürfen uns wegen der Bäume die Aussicht auf den Wald nicht nehmen lassen. Aber das verbindende Element muss dann klar ins Licht gerückt, die europäische Geschichte wieder mit Nachdruck erzählt werden. Soeben war von einer dreifach gestaffelten Bürgeridentität die Rede, nämlich der eigenen Region, des Landes, wo man wohnt und Europas, mit den dazugehörigen Loyalitäten. Man ist, das wird damit gesagt, nicht auf die gleiche Weise an jenen verschiedenen Zuordnungen beteiligt. Jede davon ist für bestimmte Dinge zuständig: die Gemeinde oder Region für die Angelegenheiten, die für diesen Bereich spezifisch sind und in dem Maßstab behandelt werden können, daneben das Land für die Sachen, die eine Behandlung auf kommunaler oder regionaler Ebene überschreiten und eine gemeinschaftliche nationale Regelung erfordern. Das übernationale europäische Niveau wäre dann der Ort, wo die Nationalgrenzen überschreitende Angelegenheiten geregelt werden, wie die gemeinschaftliche 127

Kapitel IV Demokratie und Rechtsstaat als institutionelle Übertragungen der europäischen Personidee

Sicherheit und Verteidigung des Kontinents, Umwelt- und Klimaprobleme, Vereinbarungen in Bezug auf grenzüberschreitende Steuerhinterziehung und Kriminalität, Terrorismusbekämpfung, eine gemeinschaftliche Außenpolitik und dergleichen. Hier geht es um das sogenannte Subsidiaritätsprinzip. Dieses Prinzip sagt aus, dass die Dinge auf möglichst niedrigem Niveau geregelt werden sollen, möglichst nah am Bürger und erst auf eine höhere Verwaltungsebene gehoben werden sollen, wenn die Problematik die Kapazitäten und Möglichkeiten des niederen Niveaus überschreitet. Allerdings verwende ich das Prinzip in einer anderen Bedeutung als die katholische Soziallehre, woher es ursprünglich stammt. Im Anschluss an den Begriff „subsidium“, hilfreichen Beistand, wovon der Terminus ‚„Subsidiarität“ hergeleitet ist, wird es in der katholischen Soziallehre als eine hilfreiche Unterstützung der niederen Ebene durch die höhere (für gewöhnlich den Staat) verstanden, wenn erstere ihre Ziele nicht aus eigener Kraft realisieren kann83. Diese Hilfeleistung ist also von oben herab ausgerichtet. In meiner Optik ist die Blickrichtung demgegenüber entgegengesetzt von unten nach oben. So betrachtet steht das Subsidiaritätsprinzip in einem inneren Zusammenhang mit der Idee der Demokratie. Denn diese stellt gleichfalls eine „bottom-up“ arbeitende politische Struktur dar. Ihre Kernidee ist, wie gesagt, die Gesellschaft so einzurichten, dass die Bürger soviel wie möglich die Gelegenheit haben, ihr eigenes Dasein nach eigener Einsicht und Überzeugung zu gestalten. Was also „nah am Haus“, in der eigenen direkten Umgebung, geregelt werden kann, soll dort geschehen und nicht von übergreifenden Institutionen her gesteuert werden. Diese werden erst bei Fragen, die auf dem niederen Niveau nicht ausreichend behandelt werden können, aktiv. Nun, die Geschichte Europas ist die der Demokratie (nach europäischer Auffassung). Dann werden in einem wirklich demokratischen Europa, einem Europa, das seiner Geschichte treu bleibt, die Angelegenheiten dem Subsidiaritätsprinzip gemäß geregelt werden müssen. Wenn Europa sich zu einem föderativen Staat entwickelt – und nochmals, dafür gibt es anscheinend keine lebensfähige Alternative –, dann kann das kein zentralisierter Einheitsstaat sein, in dem alles von einem Machtzentrum her bestimmt wird. Aber sowohl die 83

Siehe dazu z. B. Stephan H. Pfürtner & Werner Heierle, Einführung in die katholische Soziallehre, WBG, Darmstadt 1980, 141f. 128

Der Rechtsstaat

Regionen als auch die heutigen Staaten, die dann Gliedstaaten der „Vereinigten Staaten von Europa“ werden, behalten in der hier vorgestellten Struktur ein beträchtliches Maß an Autonomie und Selbstverwaltung, die Dinge nach eigener Einsicht und im Anschluss an das an Ort und Stelle herrschende soziale Klima einzurichten. Eine europäische Regierung wird sich deshalb zurückhaltend aufstellen und sich auf die Sachen, die eine koordinierte Aktion der ganzen europäischen Gemeinschaft erfordern, beschränken. Das wird (hoffentlich) die in vielen Teilen des Kontinents bestehende Furcht vor dem Verlust der eigenen Lebensweise und Mentalität im großen Ganzen Europas wegnehmen und den zentrifugalen Kräften, die sich in die eigenen Landesgrenzen zurückziehen wollen, den Wind aus den Segeln nehmen können. Und ist, von der positiven Seite her betrachtet, die kulturelle Vielfalt Europas nicht eins der großen Reichtümer unseres Weltteils?

Der Rechtsstaat Bisher handelte es sich um die Demokratie und die Art und Weise, wie sie konkreter in einem vereinigten Europa Gestalt annehmen könnte. Mit der Demokratie wird für gewöhnlich in einem Atem der Rechtsstaat genannt; oft wird sogar über den demokratischen Rechtsstaat als ein zusammenhängendes Ganzes gesprochen. In der Tat habe ich oben behauptet, dass Demokratie und Rechtsstaat Institutionen sind, die beide in direktem Zusammenhang mit der europäischen Auffassung von Humanität stehen. Beide beabsichtigen, dem Bürger einen maximalen Zugriff auf sein Leben zu geben. Der Rechtsstaat macht das, indem er alles Regierungshandeln an das Recht bindet und die Bürger so gegen willkürliche Machtausübung schützt. Dazu dient die bekannte Teilung der Gewalten, d. h. ein System von „checks and balances“, das verhüten muss, dass alle Macht in der Gesellschaft bei einer einzigen Person oder Gruppe liegt, sondern durch Gegenmacht im Zaum gehalten wird. Besonders eine unabhängige richterliche Macht spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Deshalb ist es für eine freiheitsliebende Gesellschaft sehr bedrohlich, wenn vonseiten der Machthaber an einer unabhängigen Gerichtsbarkeit gerüttelt wird, indem versucht wird, diese politischen Zielen unterzu129

Kapitel IV Demokratie und Rechtsstaat als institutionelle Übertragungen der europäischen Personidee

ordnen, wase in vielen Teilen der Welt, auch der sogenannten freien Welt, leider geschieht. Schon Ausdrücke wie „sogenannte Richter“ vonseiten der Politiker, denen im Moment richterliche Urteile nicht passen, sind für das Funktionieren eines Rechtsstaats schlichtweg schädlich, weil sie die Grenzen zwischen den Mächten diffus machen und die Achtung vor dem unabhängigen richterlichen Urteil untergraben. Aber der Rechtsstaat stellt nicht nur Anforderungen an die Regierenden, loyal die Beschränkungen ihrer Macht durch das Recht anzuerkennen und in dieser Geisteshaltung der Förderung des Gemeinwohls zu dienen. Auch von den Richtern und den Bürgern wird das Ihre gefordert. Was die Richter betrifft, ist es ihre Aufgabe, so gut wie möglich die eigenen Wertorientierungen des Rechts zu überwachen und nicht mit dem juristischen Instrumentalismus, der das Recht als ein in sich neutrales Instrumentarium zu politischen Zwecken verwendet, das Recht zu beugen. Dazu soll, mit den Worten des Löwener Rechtsphilosophen René Foqué, „der Richter vermeiden, sich hinter juristischen Formalismen zu verstecken. Deshalb das (…) Plädoyer für einen verletzlichen Richter, der – laut seiner Motivierung von Urteilen – argumentierend, reflektierend und dialogisierend in der Gesellschaft steht, der aber wohl die eigenen Wertorientierungen des Rechtsstaats immerfort zum Ausdruck bringt und dem entstehenden juristischen Instrumentalismus nicht nachgibt. Dies alles beinhaltet, dass die Politik, die Medien und die öffentliche Meinung dem Richter diese Verletzlichkeit auch gönnen müssen. Kritik am Funktionieren der richterlichen Gewalt wird immer zurückhaltend, sorgfältig und mit vielem Gefühl für die Gleichgewichte des demokratischen Rechtsstaats geäußert werden müssen. Das ist etwas Anderes als von der Seitenlinie her freie populistische Schießübungen zu halten, wenn der Richter ein Urteil fällt, das nicht sofort auf allgemeine Zustimmung rechnen kann. Es geht darum, Achtung für das Funktionieren des Richters zu haben, als ein Institut, dessen Aufgabe es ist, den wertvollen Abstraktionen des Rechts ein menschliches Gesicht zu geben.“84

84

Foqué, a.a.O., 63f. 130

Der Rechtsstaat

Zum Anteil der Bürger an einem blühenden Rechtsstaat: Dieser besteht in einem gut entwickelten Rechtsbewusstsein. Es geht darum, was wir oben hinsichtlich der Demokratie bemerkten, und zwar, dass sie eine auf allen Ebenen der Gesellschaft bestehende Gesinnung von Offenheit, Bereitschaft zum Überlegen und Hinhören voraussetzt, um auch auf der politischen Ebene gut zu funktionieren. In Analogie dazu ist ein rechtsstaatlicher Zustand kaum denkbar in einem sozialen Klima, das in hohem Maß durch Korruption und Schummeln gekennzeichnet ist. Auch hier gilt wieder das Wort des niederländischen Dichters Jacques Perk, dass „die wahre Freiheit auf die Gesetze hört“. Gesetzlosigkeit oder einfach, es mit den Gesetzen nicht so genau zu nehmen, kann zwar auf den ersten Blick eine Form von Freiheit suggerieren. Aber dass sie bei näherer Betrachtung genau umgekehrt einen Zustand von Rechtsunsicherheit und Mangel an Schutz gegen Willkür und gegen das Recht des Stärksten beinhaltet, genau das, vor dem Recht und Rechtsstaat den Bürger schützen wollen. Recht und Rechtsstaat können jedoch nur funktionieren, wenn sie von einem gut entwickelten Rechtsbewusstsein der Bürger getragen werden. Es ist also von größtem Belang, dass ein solches Rechtsbewusstsein, ein geschärftes Gefühl für Fairness, auf allen Ebenen der Gesellschaft, in Familien, Schulen, Vereinen, Betrieben usw. ausgeübt und praktiziert wird. Entscheidende Bedingung dazu sind die Integrität und Unbestechlichkeit der Verwalter, wieder auf allen Ebenen der Gesellschaft, aber im Besonderen auf derjenigen der Politik und der richterlichen Macht. Den Nachdruck auf das Recht und das Rechtsbewusstsein in der Gesellschaft zu legen, ist ein Grundzug der europäischen Kultur. Sehr deutlich ist er schon in ihrer altjüdischen Quelle, der alttestamentlichen Gesellschaft, nachweisbar. Immer wieder mahnen die Propheten die Führer des Volks zur Achtung des Rechts und wenden sich gegen Rechtsmissbrauch, Klassenjustiz, Bestechung, Einschüchterung usw., Praktiken, die es offenbar in allen Zeiten gibt, und wogegen man immer wieder auf die Barrikaden gehen muss. Dabei geht es namentlich um den Schutz der Schwächeren in der Gesellschaft, der Armen, Witwen und Waisen, zu denen manchmal auch die Fremden gerechnet werden müssen, denen ja in der Fremde der Schutz ihres Heimatlands abgeht. So schreibt z. B. der Prophet Jesaia: „Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft dem Unterdrückten, schafft dem Waisen Recht, führt der Witwe Sache“ (Jesaia 1, 16). Eine Randbemerkung: Im Epilog des Kodex Hammurabi (um 1700 v. Chr. und also noch viel älter als die alttestamentliche Prophetie) nennt König Hammurabi 131

Kapitel IV Demokratie und Rechtsstaat als institutionelle Übertragungen der europäischen Personidee

als Absicht seines Gesetzbuchs, „den Schwächeren nicht vom Stärkeren seines Rechtes berauben zu lassen und der Witwe und dem Waisen Recht zu verschaffen (…)“85 Der Richter ist in der Optik der Propheten derjenige, der, indem er Recht spricht, namentlich dem Schwachen hilft, und, indem er Konflikte auf friedliche Weise schlichtet, Gemeinschaft stiftet. Kurzum, für Propheten wie Jesaia, Amos, Hosea, Micha und andere bildet das Recht die Grundlage des Zusammenlebens. „Recht tun“ ist dann auch die wichtigste Aufgabe der Führer des Volks. Beim Propheten Micha lesen wir: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, und in Dien-Mut wandern mit deinem Gott“ (Micha 6, 8). Als Programm seiner Präsidentschaft zitierte Jimmy Carter diese Worte in seiner Einsetzungsrede als amerikanischer Präsident. In seiner schönen Festrede „Die hebräische Rechtsgemeinde“, gehalten als Rektor der Universität Zürich am 29. April 1931 und noch immer sehr lesenswert, fasst der Alttestamentler Ludwig Köhler seine Darlegung wie folgt zusammen: „Der Hebräer denkt in den Formen des Rechts. Sein Ideal ist der Gerechte. (…) Die hebräische Rechtsgemeinde hat für Israel, sie hat für die Menschheit das geleistet, dass sie Israel begabte, die Offenbarung zu vernehmen, dass Gott ein Gott des Friedens, der Gemeinschaft, der Gerechtigkeit ist, welcher Gehorsam und andauernde Bewährung in einem Verhalten fordert, das eigenes Wollen und Wünschen mit den Anliegen und Anrechten des anderen ausgleicht. Da wir alle für die Gerechtigkeit geboren, da es nichts Stolzeres für den Menschen gibt, als nur seine Rechte zu wollen und keines anderen Recht zu mindern, da alles Leben kleinster und größter Gruppen von der Familie an bis zur Völkergemeinschaft hin auf keiner anderen Grundlage beruhen kann als auf dieser des Rechtes, hat die hebräische Rechtsgemeinde eine Bedeutung, die über die kulturgeschichtliche hinausgeht, eine Bedeutung, die uns alle anlangt.“86

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86

H. A. Brongers, Oud-oosters en Bijbels recht (Alt-östliches und biblisches Recht), Callenbach, Nijkerk 1960, 38f. Ludwig Köhler, „Die hebräische Rechtsgemeinde“, in: Ders., Der hebräische Mensch, WBG, Darmstadt 1980, 170f. 132

Der Rechtsstaat

Auch in jener anderen Tradition, die der europäischen Kultur zugrunde liegt, der griechisch-römischen, hat das Recht immer hoch im Kurs gestanden. Wenn wir das griechische moralische Empfinden in einem Begriff zusammenfassen wollten, wäre das der Begriff dike, Gerechtigkeit. Sie beherrscht in der griechischen Sicht der Dinge nicht nur die menschlichen, sondern sogar die kosmischen Verhältnisse. So ist von Heraklit, einem der ältesten Philosophen Griechenlands (um 500 v. Chr.), die Aussage überliefert worden: „Helios wird seine Maße nicht überschreiten; sonst werden ihn die Erinnyen, der Dike [der Göttin der Gerechtigkeit] Schergen, ausfindig machen.“87 Maßhalten galt bei den Griechen überhaupt als eine Grundtugend, auch im Recht also. Und die Idee der Gerechtigkeit steht auch wiederum im Zentrum des Werks von Aischylos, dem ältesten der drei großen Tragödiendichter. Als Kämpfer bei Marathon, Salamis und Plataeae, wo das kleine griechische Volk das mächtige persische Heer besiegte, sah er darin das Werk der Götter, die die Hybris von Xerxes bestraften. „Aus diesem Grunderlebnis seines Glaubens“, so schreibt der Altphilologe Wilhelm Nestle88, „erwächst ihm seine Dichtung als das Hohelied von der Gerechtigkeit der Gottheit, deren Träger und Hüter Zeus [niemand anderer als der Hauptgott also, vdW] ist.“ Und trotz der Blicke, die er in die furchtbaren Tiefen des Lebens getan hat, „bleibt ihm sein Glaube an die Weisheit und Gerechtigkeit der das Gute schließlich doch zum Siege führenden Gottheit unerschüttert.“ Diese letztendliche Harmonie in den Spannungen zwischen den entgegengesetzten Kräften im Leben, ist für den Menschen Aischylos’ Urteil zufolge nur in der Polis erreichbar. „Erst in der staatlich organisierten Volksgemeinschaft findet der Einzelne den sicheren Grund und Hort seines Daseins, und dafür, dass sie ihm Schutz gewährt, ist er auch zu ihrem Schutz verpflichtet bis zum Einsatz seines Lebens. Sie verbürgt ihm seine Erhaltung (soteria), sie erzieht ihn durch ihre Rechtsordnung und ihre Religion zur rechten Gesinnung (kaloos fronein), zur Gerechtigkeit und Selbstzucht.“

87

88

Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Rowohlt, Hamburg 1957, 29 (Fragment 94). Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Scientia Verlag, Aalen 1966 (1942), 171f. 133

Kapitel IV Demokratie und Rechtsstaat als institutionelle Übertragungen der europäischen Personidee

Dieser Anschauungsweise schließt sich die schon oben erwähnte Charakterisierung der athenischen Staatseinrichtung durch Perikles direkt an. Auch darin steht das Recht im Zentrum, in der Form der Gerichtsbarkeit für und durch die Bürger, aber vor allem in der Form der Gesetze, die sie sich selbst geben und an die sie sich dann auch halten. Denn, ich zitiere nochmals, „bei so viel Nachsicht im Umgang von Mensch zu Mensch erlauben wir uns doch im Staat, schon aus Furcht, keine Rechtsverletzung, im Gehorsam gegen die jährlichen Beamten und gegen die Gesetze, vornehmlich die, welche zu Nutz und Frommen derjenigen, die Unrecht leiden, bestehen, wie auch gegen die sei es auch ungeschriebenen Gebräuche, deren Verletzung durch die öffentliche Meinung mit Schande gebrandmarkt wird.“

Im Hinblick auf dies alles kann es auch kein Zufall sein, dass Plato seinen zweiten groß angelegten Entwurf einer guten Gesellschaft mit dem Titel Die Gesetze schmückt. Soweit eine kleine Auswahl, die zeigt, wie hoch geachtet Recht und Gesetz bei den Griechen waren. Die Römer standen dem gewiss nicht nach. Sie sind berühmt wegen des soliden juristischen Baus, den Generationen von großen Juristen aufgeführt haben hat und der bis heute das europäische Recht prägt. Diese Linie ist auch im Mittelalter weitergeführt worden, allerdings nicht ohne Rückschläge. In seiner meisterhaften Studie Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen89 hat Aaron Gurjewitsch dem Recht in der mittelalterlichen Gesellschaft unter dem Titel „Auf dem Recht baut das Land auf …“90 ein ausführliches Kapitel gewidmet. Der Titel dieses Kapitels ist eine Anspielung auf ein germanisches Sprichwort, das die Kraft einer Rechtsmaxime hat: „Ein Land baut auf dem Recht auf und geht durch das Fehlen des Rechts unter.“ Auch bei den Germanen, dem dritten Pfeiler unserer Zivilisation, stand das Recht also in hohem Ansehen; auch da ist es die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens. Gurjewitschs Auffassung nach ist der germanische Spruch typisch für die mittelalterliche Einstellung zum Recht. „Alle Formen der menschlichen Tätigkeit“, so schreibt er,

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Beck Verlag, München 1982. A.a.O., 188ff. 134

Der Rechtsstaat

„waren in der Feudalgesellschaft Regeln untergeordnet, und jedes Abweichen von ihnen war untersagt und wurde getadelt. Der Traditionalismus der gesellschaftlichen Praxis des Mittelalters und ihre Abhängigkeit von der Religion bewirkten eine allgemeine Normierung des sozialen Verhaltens des Menschen. Infolge dieser Bindung an die Norm erlangte das Recht die Bedeutung eines universellen und allumfassenden Regulators der sozialen Beziehungen.“

Nun ist das mittelalterliche Europa mit seinen Kennzeichen von Traditionalismus, Normgebundenheit und Dominanz der Religion als solches keine Ausnahme in der kulturellen Landschaft. Es hat diese Züge z.  B. mit den mittelalterlichen islamischen und chinesischen Gesellschaften gemein. Dennoch geht Europa bezüglich der hohen Achtung des Rechts seinen eigenen Weg, wie auch mit der historischen Entwicklung, dass im Schoß des Feudalismus die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem durch das Recht garantierten Schutz des Privateigentums und der freien Persönlichkeit heraufkam. Auch was die Position des Rechts betrifft, ist es also lehrreich, die europäische Situation mit der der beiden anderen genannten Kulturen zu konfrontieren. Ich zitiere dazu zwei längere Passagen aus Gurjewitschs Darlegungen. „Tatsächlich besaß die mittelalterliche islamische Gesellschaft eine Reihe von Merkmalen, die sie dem europäischen Feudalismus nahebrachte. Doch in einer Zeit, als in Europa ungeachtet der Vorherrschaft der Kirche das Recht eine relativ selbständige Kraft darstellte (wir erinnern an die Lehre von den ‚zwei Schwertern‘, dem kirchlichen und dem weltlichen, an die Rivalität und den Kampf zwischen dem Papsttum, welches Anspruch auf die theokratische Herrschaft erhob, und der Staatsmacht), bildete in der arabischen Welt das Recht einen untrennbaren Bestandteil der Religion. Das mohammedanische Recht kennt keinen Unterschied zwischen kirchlichem und weltlichem Recht; jegliches Recht ist hier das Recht der Kirche und der Glaubensgemeinschaft. Daher wird ein Verbrecher in der mohammedanischen Welt wie ein Sünder behandelt, dem neben der irdischen Strafe die Höllenqualen nach dem Tode drohen. Da bei den Arabern kein rein weltliches Recht geschaffen wurde, war das Recht infolge seiner sakralen Natur wenig flexibel und daher nur mit großen Schwierigkeiten auf die neuen 135

Kapitel IV Demokratie und Rechtsstaat als institutionelle Übertragungen der europäischen Personidee

sozialen Bedingungen anwendbar. Das Recht erweist sich somit als eine bedeutende konservative Kraft. Seine Entwicklung endet in den mohammedanischen Ländern bereits im 10. Jahrhundert, das heißt zu jener Zeit, als die Entwicklung des mittelalterlichen Rechts gerade erst begonnen hatte.“91

Schon im Mittelalter begannen sich in Europa die Konturen eines selbstständigen säkularen Rechts abzuzeichnen, eine Entwicklung, die dann im modernen Europa weitergeführt wird. Nicht weniger illustrativ ist, was Gurjewitsch in Bezug auf China schreibt: „Anders [als in der islamischen Welt, vdW] wird das Recht im mittelalterlichen China gedeutet. Hier besteht keine solche Verbindung zwischen Recht und Religion wie bei den Muselmanen. Gleichwohl ist die Betrachtung des Rechts, wie sie in China dominierte, ebenfalls ganz anders als in Europa und enthüllt wesentliche Seiten der Denkweise der Chinesen. Das Recht wird nicht als Grundlage des sozialen Baus betrachtet [wie in Europa, siehe den Titel des Kapitels], es regelt nicht das Verhalten der Individuen, denn dafür gibt es besondere Vorschriften, die die menschlichen Handlungen in allen Lebenslagen bestimmen. ‚Das konfuzianische Asien zieht der Gleichheit das Ideal der Sohnesbeziehungen vor, welche von aufmerksamer Begünstigung und achtender Unterwerfung gekennzeichnet sind.‘ Nach der in China üblichen Auffassung ist das Gesetz durch seine Abstraktheit nicht in der Lage, die Vielgestaltigkeit der zahllosen konkreten Situationen zu berücksichtigen, und stellt daher nicht das Gute, sondern das Böse dar. ‚Subjektive Rechte‘, die unvermeidlich aus Gesetzen entstehen, sind nach chinesischen Vorstellungen gegen die natürliche Ordnung: Etwas ist faul in der Gesellschaftsordnung, wenn ein Individuum sich einfallen lässt, von seinen ‚Rechten‘ zu sprechen. Es kann nur von Pflichten gegen die Gesellschaft und gegen seinen Nächsten die Rede sein. ‚Das Geschuldete unverzüglich zu verlangen, stellt ein unsoziales Verhalten dar, das zum guten Verhalten im Gegensatz steht.‘ Die Rechtsnormen sichern in China nicht das Funktionieren der Gesellschaft und der staatlichen Lenkung. Das Gedeihen der

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A.a.O., 189. 136

Der Rechtsstaat

Gesellschaft hängt nach Überzeugung der chinesischen Denker von dem Verhalten der Menschen und in erster Linie von den Persönlichkeiten ab, die den Staat leiten. Daher hat das Prinzip der Gesetzlichkeit – das Ideal des Rechtsstaates – keine Wurzel in der chinesischen Zivilisation.“92

Kurzum, auch bei diesem Vergleich der europäischen Auffassung von Recht, Rechtsstaat und zugehörigen Ideen mit denen außereuropäischer Kulturen wird wieder das ganz Eigene Europas sichtbar. Diese kulturphilosophische Suche nach der Seele Europas, nach dem, was Europa in der Landschaft der Kulturen sein ganz eigenes Gesicht gibt, ist, wie oben gesagt, ein Versuch, die Tiefenstruktur der europäischen Kultur zu rekonstruieren bzw. die Idee unseres Kontinents, wie sie sich in einer langen Entwicklungsgeschichte unter Aufnahme von Elementen aus verschiedenen Traditionen herauskristallisiert hat, zu ermitteln. Auf diese Weise formuliert, ist es eine Weise des Lebens und Denkens, die in einem historischen Prozess, der in objektivem Sinn unsere Seinsweise bestimmt, zustande gekommen ist. Zugleich ist es eine Art des Menschseins, die wir nicht einfach nur sind, sondern die wir auch sein wollen, in der wir uns selbst in positivem Sinn erkennen und mit der wir uns innerlich identifizieren. In dem Sinn ist das europäische Narrativ also nicht nur eine faktische Geschichte, sondern hat es einen normativen Tenor, funktioniert es als Kompass bei Entscheidungen über die Art und Entwicklungsrichtung der Gesellschaft auf politischem und gesellschaftlichem Niveau.

92

A.a.O., 189f. 137

Kapitel V Das europäische Ideal in einer widerständigen Wirklichkeit Zugleich erkennen wir immer von Neuem, dass es sich hier um ein Ideal des Zusammenlebens handelt, das keineswegs mit der Praxis zusammenfällt, sondern fortwährend Gegenkräften abgerungen werden muss, nämlich Machtverhältnissen, Interessenkonflikten, sozialen Mechanismen, persönlichen Ambitionen und Unterschieden in historisch entstandenen und eingebürgerten Mentalitäten und Lebensweisen. Die europäische Idee existiert sozusagen im Medium einer widerständigen Wirklichkeit, die der Fortwirkung der Idee oft, vielleicht sogar strukturell im Weg steht, sie verzeichnet, manchmal auf karikaturistische Weise verzerrt oder sogar kaum noch erkennbar sein lässt. Nicht zuletzt sind diese starken, widerständigen Kräfte gegenüber der verletzlichen europäischen Idee wohl die Ursache vieler Skepsis in Bezug auf Europa. Dennoch, wie verzerrt das Gesicht der europäischen Idee durch die widerständige Realität auch sein mag, sie ist trotzdem auf allen Ebenen der europäischen Gesellschaft wirksam und steuert die dortigen Prozesse. Anders gesagt: das europäische Gesellschaftsideal scheint ständig durch unsere Denk- und Handlungsweisen hindurch. Wir bekräftigen es immerfort performativ oder mindestens implizit. Eine Geschichte muss immer von Neuem erzählt werden, auch in neuen Formulierungen und angepasst an veränderte Umstände, ansonsten verschwindet sie und verliert ihren Zugriff auf die Menschen. Würde Letzteres geschehen, würden auch die dazugehörigen Lebensweisen, Institutionen und Praktiken ihre Orientierung und ihr Profil verlieren. Sie wären dann einer Erosion preisgegeben, die sie immer weiter forttreiben lässt vom Typus der Wirklichkeit, der sie waren, als sie noch ein mehr oder weniger klarer Ausdruck vom ursprünglichen sozialen und kulturellen Ideal waren – „mehr oder weniger“, weil jenes Ideal, wie gesagt, immer im Medium widerständiger Kräfte funktioniert. Erzählung und Praxis müssen Tuchfühlung behalten, weil sie aufeinander angewiesen sind. Wir können dafür z. B. auf 138

Die düstere Seite Europas

die Einsichten der Religionswissenschaften verweisen. Dort gibt es die allgemein akzeptierte Überzeugung, dass Mythos und Ritus, die religiöse Geschichte und die religiöse Praxis, die zwei Seiten derselben Medaille sind. Ein Mythos, der nicht mehr in einem lebendigen Ritual praktisch realisierbar ist, wird zu einer frommen, aber wirklichkeitsfremden Geschichte bzw. einem Mythos im modernen Sinn des Wortes. Umgekehrt erstarrt ein Ritus ohne inspirierende Geschichte zu einer Gewohnheit, die vielleicht durch eine Art sozialer Trägheit noch eine Zeit lang lebt, aber auf Dauer keine Überlebenschance hat und abstirbt. Besonders für eine vitale Praxis ist es also von großem Interesse, die motivierende Geschichte lebendig zu erhalten. Und wir haben, wie mir scheint, in Europa eine starke Geschichte, von einer Gesellschaft und Kultur nämlich, die um ein Persönlichkeitsideal herum gebaut ist, in dem jeder sich selbst sein darf, das eigene Dasein gestalten darf, eigene Auffassungen vertreten und eine eigene Lebensweise führen darf; in dem jeder einen eigenen Wert hat, ernst genommen wird und in gleichem Maß Schutz genießt. Dies alles spiegelt sich in Institutionen wie Demokratie und Rechtsstaat, in einer kooperativen Auffassung des Zusammenlebens, die in einer auf das Solidaritätsprinzip gegründeten Ökonomie und Betriebsstruktur zum Ausdruck kommt, usw. – es braucht hier nicht alles Gesagte nochmals wiederholt zu werden. Es ist jedoch die Geschichte von mit viel Mühe und Gegenwind zustande gekommenen Errungenschaften, die es wert sind, mit Überzeugung verteidigt zu werden, in einer Welt, in der Diskriminierung und Unterdrückung von Bevölkerungsgruppen, Rassismus und andere Formen von Wir-Sie-Denken, ökonomische Ungleichheit und Rechtsungleichheit Urständ feiern, und sich auch im europäischen Raum immer wieder melden. Soweit es darum gelingt, das europäische Ideal von Menschsein und Zusammenleben in gehörigem Maß in der Praxis zu realisieren, dürfen wir uns als Europäer glücklich preisen, in diesem Teil der Welt zu leben.

Die düstere Seite Europas Jedoch, Europa ist alles andere als nur eine Erfolgsgeschichte, etwas, worauf man bloß stolz sein kann. Im Gegenteil, ihre Geschichte hat eine ausgesprochene Nachtseite. Ich zitiere den Anthropologen und Philosophen Ton Lemaire, der beschreibt, warum er sich lange Zeit davor geschämt hat, ein Europäer zu sein: 139

Kapitel V Das europäische Ideal in einer widerständigen Wirklichkeit

„Europa war für mich verantwortlich für die Sklaverei von Millionen Afrikaner, die Abschlachtung von Millionen Indianer, die Dezimierung der australischen Aborigines und so vieler anderen Völker. Es war, kurzum, verantwortlich für Genozid und Ethnozid, für Ausbeutung und Unterdrückung, für Kolonialismus und Imperialismus. Aber Europa bedeutete auch Hexenverfolgung und Judenverfolgung, Ausrottung der Katharen, Inquisition und Religionskriege und einen wahnsinnigen Nationalismus, der in zwei Weltkriegen fast zu unserem Selbstmord führte. Europa bedeutete also eine Spur von Gewalt und Unterdrückung durch die Geschichte hindurch – Gewalt nach innen und nach außen hin –, die nur noch vor einigen Jahrzehnten ihren barbarischen Höhepunkt in den Konzentrationslagern und Gaskammern des Nazismus und den Greueln des Stalinismus fand. Europa schließlich bedeutete für mich Hypokrisie: eine peinliche und beschämende Diskrepanz zwischen einerseits ihren hochgestimmten Werten und Idealen, ihrer christlichen Ethik der Nächstenliebe und ihrem Humanismus, und anderseits ihren Praktiken von Krieg, Unterdrückung und Imperialismus. Ich war erschüttert, dass ein Kontinent, der so sehr von seinem Eigenwert überzeugt war, dass er seine Zivilisation und Religion anderen auferlegen wollte, selber so barbarisch sein konnte. Dadurch war für mich die andere Seite Europas: der Reichtum ihrer Kunstäußerungen, die ganze sublime Geschichte seines Denkens, seiner Philosophie und Wissenschaften, und die ursprüngliche Inspiration des Christentums, verdächtig: überschattet durch die düstere Geschichte. Wie konnte ich an Europa glauben, während ich aufwuchs mit den noch frischen Erinnerungen an Nazismus, Stalinismus und Kolonialismus? Ich hasste Europa auf Grund dessen, was es der Menschheit angetan hatte; ich wünschte, die Geschichte des modernen Europas hätte nie angefangen. Ich hatte eine Abneigung gegen einen Teil von mir selber: meine Identität als Europäer war geteilt und verdächtig.“93

93

Ton Lemaire, Twijfel aan Europa. Zijn de intellectuelen de vijanden van de Europese cultuur? (Zweifel an Europa. Sind die Intellektuellen die Feinde der europäischen Kultur?) Ambo, Baarn 1990, 9f. 140

Offenheit als Grundzug des Menschseins

Im gleichen Sinn schreibt der französische Intellektuelle Edgar Morin in der „Prologue: souvenirs d’un anti-européen“ seines Buchs Penser l’Europe (1987): „Longtemps, je fus anti-européen“ (Lange war ich ein Antieuropäer). Und viele haben sich in der gleichen unbequemen Situation wie Lemaire und Morin gefühlt, sich, wenn sie denn schon Europäer waren, mit großer Reserviertheit als solche zu betrachten, oder sich mit Abscheu davon abzuwenden. Mit anderen Worten: Kann man, wenn man nachdenkt, eigentlich etwas anderes als ein reservierter, innerlich zerrissener Europäer sein, der das europäische Narrativ nur halbherzig und von andauerndem Zweifel begleitet unterschreiben kann? Das betrachten dann Verteidiger der abendländischen Zivilisation wie Raymond Aron, Julien Freund, Julien Benda und Alain Finkielkraut als Verrat an Europa. Es ist klar: Hier geht es um sehr grundsätzliche Fragen philosophisch-anthropologischer und metaphysischer Art. Kann es denn wahr sein, dass die menschliche Zivilisation nur ein Firnisschichtchen auf einer Unterlage irrationaler und destruktiver Triebkräfte ist? Haben die auf Harmonie, Frieden, Freundschaft, Kooperation und Beratung, kurzum auf positive zwischenmenschliche Beziehungen gerichteten „apollinischen“ Kräfte als unentrinnbares Gegenteil die im Zeichen von Kampf, Unterwerfung, Rausch und Vernichtung stehenden „dionysischen“ Triebe? An einem Punkt wie diesem stehen wir vor dem tiefen Rätsel des Menschseins, nicht zuletzt vor dem Problem des Bösen. Es kann im Zusammenhang unseres Themas Europa selbstverständlich nicht ausführlich auf diese äußerst schwierige und komplexe Thematik eingegangen werden. Aber wenn wir jetzt mit den beiden Gesichtern Europas konfrontiert werden, können wir es nicht vermeiden, einen Blick darauf zu werfen.

Offenheit als Grundzug des Menschseins Ich mache das, indem ich Offenheit als Grundzug der menschlichen Natur betrachte. Genauer gesagt: Es handelt sich hier um eine andere Offenheit als die der Horizonterweiterung beim Übergang vom Spätmittelalter zur frühmodernen Zeit. Dort betraf es eine neue Sicht der Wirklichkeit mit dazugehörigen Verhaltensweisen. Hier geht es jedoch um ein grundlegendes Merkmal der menschlichen Seinsweise als solcher. Oben habe ich als organisierende Kategorie der europäischen Humanitätsauffassung die Idee der Person beschrieben, die sich dann 141

Kapitel V Das europäische Ideal in einer widerständigen Wirklichkeit

in den Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ausdrückt. Hier füge ich dem als grundsätzliches Merkmal dieses Personseins die Offenheit hinzu. Schelling hat mal gesagt, dass im Menschen die Natur ihre Augen aufschlägt und zum Bewusstsein ihrer selbst gelangt. Das Bewusstsein erscheint aber nicht erst mit dem Eintreffen des Menschen. Es ist unverkennbar schon bei den höheren Tierarten da, und unter Ethnologen wird diskutiert, wie weit ins Tierreich (und möglicherweise sogar ins Pflanzenreich) hinunter es reicht. Ob z. B. die fein abgestimmte Kommunikation innerhalb von Tierpopulationen wie denen der Bienen durch Bewusstsein begleitet wird, oder ob tierische Kommunikation eher unbewusst verläuft. Aber wie dem auch sei, es ist unbezweifelbar, dass das Phänomen des Bewusstseins mit dem Erscheinen des Menschen einen Mutationssprung gemacht und eine neue Qualität angenommen hat – ich komme gleich darauf zurück. Einen Augenblick lang bleibe ich noch beim Thema des Bewusstseins. Es ist ein Merkmal des Subjektseins: der Seinsweise eines Wesens, das sich auf sich selber stellt, sich der Außenwelt gegenüber abgrenzt, eine Innenseite oder Innerlichkeit besitzt und von daher aktiv auf die Umgebung einwirkt, kurzum, sich als ein „Selbst“ zeigt. Ich gehe hier also davon aus, dass Subjektsein und Bewusstsein zusammenhängen, dass alles Leben durch eine Form von Subjekt- oder Selbstsein gekennzeichnet wird, dass Bewusstsein deswegen auf allen Ebenen des Lebens anwesend ist, wenn auch in verschiedenen Abstufungen: von ganz diffus und unklar bei den noch wenig differenzierten Lebensformen bis immer klarer und prononcierter bei den komplexeren Tierarten. Bewusstsein ist der Einsicht der philosophischen Phänomenologie zufolge seinem Wesen nach durch Intentionalität gekennzeichnet: durch ein Ausgerichtetsein auf Dinge außerhalb seiner, durch eine zentrifugale Ausrichtung also. Das Bewusstsein bleibt nicht bei sich selbst, nicht in sich selbst eingeschlossen, wie es bei Dingen der Fall ist, sondern schafft Offenheit, einen offenen Raum, wo die Dinge erscheinen können. Es besteht also in der Selbstüberschreitung. Diese nach außen gerichtete Einstellung des Bewusstseins ist außerdem immer „interessiert“. Lebendige Wesen sind ihrer Natur nach interessierte Wesen, für die die Dinge eine Bedeutung und einen Wert haben. Dieses Interessiertsein hat in der Tierwelt überwiegend eigennützige Gründe, es muss den eigenen Bedürfnissen und Neigungen dienen. Auch im menschlichen Bereich spielt diese Form des Interessiertseins eine wichtige Rolle. In der modernen Zeit ist darauf ein großer, wohl allzu großer Nachdruck gelegt worden, z.  B. in der Figur des homo economicus in der 142

Offenheit als Grundzug des Menschseins

Ökonomie. Aber dieser Eigennutz ist im Hinblick auf den Menschen nicht die ganze Geschichte. Die alles Leben kennzeichnende Offenheit und Ausrichtung auf das andere hat beim Menschen, wie gesagt, einen Mutationssprung gemacht. Er kann sich, freilich nur in einem gewissen Maße, dem Drang seiner Bedürfnisse und Neigungen entziehen, kann ihnen die Befriedigung entsagen, ist, um mit Max Scheler zu sprechen, der „Neinsagenkönner“ bzw. der „Asket des Lebens“94. Das schafft die Möglichkeit einer uneigennützigen Ausrichtung und Offenheit, ein Interessiertsein an dem Anderen (Person oder Sache) um dieser Person oder Sache willen. Altruismus, selbstlose Sorge für den Anderen oder das Andere, ist eine wirkliche Option für den Menschen und, so möchte ich behaupten, eben auch das, was das Menschliche am Menschen ausmacht. Er schließt sich dann nicht in sein eigenes Universum ein, liest nicht alles durch die Brille dessen, was es ihm an Nutzen einbringen kann, sondern öffnet sich für den Anderen und das Andere, um dem anderen zu ermöglichen, sich von sich aus zu erkennen zu geben, sich zu zeigen z. B. in seinem Bedürfnis an Hilfe, Sorge, Anerkennung und Bestätigung. Die Ethik, die zu dieser Form von Offenheit als Grundzug von Humanität gehört, ist also primär nicht eine Ethik der Konfliktbeherrschung (obwohl es eine solche Ethik auch braucht), sondern eine Ethik der Verbundenheit. Und das Interessante daran ist, wie schon gesagt, dass die Freiheit des Einen nicht mit dem Verlust der Freiheit des Anderen bezahlt wird, was bei dem liberalen Menschen- und Gesellschaftsbild mit seiner Auffassung, dass Menschen von Grund auf Konkurrenten sind, der Fall ist. Dann ist die Interaktion zwischen „freien“ Individuen notwendigerweise ein Nullsummenspiel: Der Gewinn des Einen wird mit dem Verlust des Anderen bezahlt. Wenn das unsere Lebensüberzeugung ist, wird in der Tat der Konflikt zum Basismodus des „Zusammenlebens“, und werden wir blind für all jene Phänomene, die für positive zwischenmenschliche Beziehungen charakteristisch sind, für allerhand Formen von Kooperation, für konstruktive Gespräche, gegenseitige Stimulierung, gegenseitiges Vertrauen, Freundschaftsbande, usw., Stück für Stück „Win-win“-Situationen. Aber wir müssen uns dem dann auch öffnen. Unsere Sicht der Dinge steuert ja in hohem Maß unser Handeln: Sie erschließt Handlungsmöglichkeiten und Handlungsweisen, Weisen des Menschseins. Kurzum: Aufmerksam werden für diese „uneigennützigen“ Formen von Offenheit hilft, sie zu verwirklichen. 94

Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Nymphenburger Verlagshandlung, München 1949, 56. 143

Kapitel V Das europäische Ideal in einer widerständigen Wirklichkeit

Dass die Offenheit des Bewusstseins beim Menschen eine neue Qualität erhält, kann z. B. anhand eines Gedankens von Hans Jonas illustriert werden. In seiner höchst interessanten philosophischen Biologie und Anthropologie, in der die Evolution des Lebens als ein Wachstum zu immer ausgeprägteren Formen von Subjektivität, Selbstsein oder Freiheit betrachtet wird, zeigt er, dass die menschliche Freiheit sich qualitativ von der des Tiers unterscheidet. Er demonstriert den „transanimalischen“ Charakter des Menschseins im Besonderen an drei Phänomenen: dem Werkzeug, dem Bild und dem Grab95. Schon das menschliche Werkzeug, ein zielbewusst gemachtes Ding, das ein Verlängerungsstück des Körpers ist und zwischen diesem Körper und der Außenwelt vermittelt, unterscheidet sich in seiner Verfeinerung von den tierischen Werkzeugen, vor allem wenn es sich um Werkzeuge zweiter Ordnung handelt: Werkzeuge, um Werkzeuge herzustellen. Während hier die Beziehung zum Objekt schon ziemlich indirekt geworden ist, ist das mit dem Bild noch in viel stärkerem Maß der Fall: Es ist biologisch gesehen nutzlos. Noch einen Schritt weiter geht die Situation mit dem Grab: Nur beim Menschen kommt die aus biologischem Gesichtspunkt völlig nutzlose Praxis des Begrabens der Toten vor. Es zeugt davon, dass der Mensch sich solche Fragen stellt wie: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wohin gehe ich? Was ist mein Platz im Schema der Dinge? Fragen, mit denen er über das eigene Dasein, die eigene Situation und Möglichkeiten reflektiert, z. B. um andere Lebensformen zu verstehen. Wie die Frage, die der Ethnologe Frans de Waal im Titel seines Buchs stellt: Are We Smart Enough to Know How Smart Animals Are? Eine typisch menschliche Frage, die Tiere sich in Richtung des Menschen, wie ich meine, nicht stellen werden.

Die problematische Identität des Menschen Die Frage war, wie es um die zwei Gesichter Europas bestellt ist, einerseits das prächtige Humanitätsideal und demgegenüber die pechschwarzen Seiten seiner Geschichte. Die Antwort auf die Frage, wenn es überhaupt eine gibt, wird im 95

Hans Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Insel, Frankfurt a. M. 1992, 34f. 144

Die problematische Identität des Menschen

spezifischen Charakter der menschlichen Offenheit gesucht werden müssen, in der Tatsache also, dass der Mensch das mehrdeutige Wesen ist, das neben seiner zentrischen Seinsform durch seine exzentrische Positionalität charakterisiert ist, um mit Helmuth Plessner zu sprechen. Einerseits teilt er mit allem Leben die Seinsweise, sich als Zentrum seiner Umgebung zu verhalten, diese Umgebung zu seiner Umwelt zu machen und innerhalb derselben sich die Dinge zunutze zu machen, sie für eigene Zwecke wie Nest- oder Dammbau zu verwenden oder sie sich im buchstäblichen Sinn einzuverleiben. Kurzum, sich die Dinge zu seinem Fortleben und Gedeihen anzueignen. Aber während das nichtmenschliche Leben problemlos und unreflektiert in sich selbst ruht und von sich als Zentrum seiner Umwelt her in die Welt hinein lebt, ist die menschliche Seinsweise dadurch charakterisiert, sich immer auch außerhalb dieses Zentrums zu befinden – wahrscheinlich sind solche Spuren auch bei „höheren“ Tierarten anzutreffen. Aber nochmals: Dann hat die Exzentrizität beim Menschen einen qualitativen Sprung gemacht. Der Mensch fällt, anders gesagt, nicht auf selbstverständliche Weise mit sich selber zusammen, sondern ist immer schon über sich selber hinaus, bzw. transzendiert sich selbst. Deshalb besitzt er nicht einfach eine bestimmte Identität, sondern muss diese immer noch stiften. Er ist „das nicht festgestellte Tier“, wie Nietzsche es ausdrückte. Wie findet er dann aber Grund unter den Füßen, einen Platz zum Stehen? Wie schon angedeutet, hat der Mensch diesen Grund nicht einfach in sich selber. Er hat ihn dann auch außer von sich selbst gesucht, in einer höheren Wirklichkeit wie Platos Ideenhimmel, in Gott als dem allervollkommensten Wesen in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, in einer von höherer Stelle (von Göttern, Ahnen usw.) festgestellten Ordnung der Dinge, usw. Die Transzendenz wird dann auf eine bestimmte Weise ausgefüllt. Im Lauf einer langen Tradition abendländischen Denkens, in der sich jede inhaltliche Auslegung der Transzendenz als problematisch herausstellte und verlassen werden musste, sind wir misstrauisch und skeptisch geworden jedem Anspruch gegenüber, die richtige Sicht der Dinge und namentlich der menschlichen Wirklichkeit gefunden zu haben. Das hat in breiten Kreisen zur Aufgabe jeder Form von Metaphysik geführt, die ihrer Art nach dem Transzendenzbewusstsein Ausdruck zu geben versucht. Aus dieser metaphysikfreien Perspektive sind die Dinge, den Menschen eingeschlossen, dann, was sie sind, reine Faktizität. Der Mensch wird dann z. B. als ein Wesen betrachtet, das durch komplexe Gehirnpro145

Kapitel V Das europäische Ideal in einer widerständigen Wirklichkeit

zesse bestimmt wird („wir sind unser Gehirn“96), dies seinerseits als Ergebnis eines faktischen evolutionären Prozesses des Lebens auf der Erde. Dann verdampft jedoch jede Form von Idealität, die Geltung von Idealen wie Wahrheit, Güte und Schönheit, die ja die Faktizität an einer nicht in die Faktizität aufgehenden, sondern sie beurteilenden Norm messen.

Negativer Platonismus Dass wir die Ideale des Wahren, Guten und Schönen nicht konkret auslegen können, bedeutet nicht, dass sie nicht fortwährend in der menschlichen Wirklichkeit funktionieren. Ohne das würden wir völlig unverständlich und unakzeptabel für uns selber, reduziert zu geistlosen Automaten, für die alles von gleichem Wert oder besser ohne jedweden Wert ist. Ein solcher Relativismus (aber es schimmert da schon eine Wertdimension hindurch) ist für den Menschen unlebbar. Implizit und performativ bestätigen wir, es war schon die Rede davon, fortwährend den in der Exzentrizität verankerten normativen Aspekt des Menschseins. Wenn z. B. Nietzsche sagt, dass „Wahrheit die Art von Irrtum (ist), ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte“97, ist eine solche Aussage ohne Berufung auf ein nichtrelativistisches Wahrheitsideal nicht möglich. Schon der Begriff „Irrtum“ verweist auf eine Norm Wahrheit, eine Norm also, die durch die Aussage implizit vorausgesetzt wird, wenn sie denn keine sinnlose Aussage, die sich selber sprengt, sein soll. Und auf analoge Weise kann man hinsichtlich des Ideals des Guten in Bezug z. B. auf Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichwertigkeit, Solidarität u. a. argumentieren. Dass die Ideale von Wahrheit, Güte und Schönheit nie konkret ausgefüllt werden können, aber immer als implizites Kriterium funktionieren, von woher jede konkrete Ausformung immer erneut wieder revidiert werden kann und sogar muss, ist vom tschechischen Philosophen und Begründer der Charta 77 Jan Patočka als negativer Platonismus angedeutet worden. 96 97

Dick Swaab (1910). Fr. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, Carl Hanser Verlag, München 1954, Bd. 3 (Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, Nr. 844). 146

Negativer Platonismus

„Negativer Platonismus gibt Menschen die Möglichkeit, sich einer Wahrheit anzuvertrauen, die nicht relativ ist, wenn sie auch nicht positiv in inhaltlichen Termini formuliert werden kann. Er zeigt, wie viel Wahrheit im ewigen metaphysischen Streben zum Ewigen und Überzeitlichen steckt. Wenn der negative Platonismus seinen Ausgangspunkt auch in der intrinsischen geschichtlichen Bestimmtheit des Menschen nimmt, er streitet fortwährend gegen einen Relativismus von Werten und Normen.“98

Mag es uns Menschen denn schon nicht gegeben sein, in der unverhüllten Wahrheit und Güte zu leben, das menschliche Dasein erhält durch den Versuch dazu doch erst seine Farbe und Spannkraft, wie Patočka und in seinen Spuren Vaclav Havel es machten. Erst von dieser Haltung aus bekommt das Dasein Substanz, sind Werte wie Wahrhaftigkeit, Integrität und Authentizität Phänomene, um dazu zu stehen, und findet man die innere Kraft, gegen Lüge und Einschüchterung Rückgrat zu zeigen, auch wenn man dabei den Verlust des Lebens riskiert, wie es bei Patočka der Fall war, oder den der (äußeren) Freiheit, wie bei Havel. Diese Ausrichtung auf Transzendenz, wenn sie auch nie zureichend inhaltlich ausgefüllt werden kann, ist unlöslich mit der europäischen Idee der Person verbunden, gekennzeichnet durch Offenheit. Menschen können sich entscheiden, ein Dasein zu führen, das durch das Streben nach Macht, Geld, Genuss oder was auch immer gekennzeichnet ist, einer Seinsweise, die ganz im Zeichen faktischer Sachen steht. Auch das ist eine Möglichkeit, die in der Offenheit des Menschseins angelegt ist. So wird die Offenheit auf ein wohnen in einer geschlossenen und immanenten Wirklichkeit reduziert. Man schmarotzt dann auf dem grundlegendsten Merkmal des Menschseins, indem man es de facto preisgibt. Wie man zum Schmarotzer der Wahrheit wird, indem man die Lüge wählt. Dass es eine Form von Schmarotzen ist, geht z. B. daraus hervor, dass man die Lüge als Wahrheit präsentiert. Wahrheit und Unwahrheit, Gut und Böse, Freiheit und Unfreiheit, Offenheit oder Wohnhaftsein in einer immanenten Sphäre von Faktizität, sie stehen alle in einer asymmetrischen Beziehung zueinander. Erstgenannter Terminus der Begriffspaare ist stets die Bedingung des anderen. Das soll gewiss nicht so verstan-

98

Zitiert bei Vanheeswijck, a.a.O., 249. 147

Kapitel V Das europäische Ideal in einer widerständigen Wirklichkeit

den werden, dass die an zweiter Stelle genannten Begriffe zu einem schattenhaften Dasein verwässern, wie es in der abendländischen Philosophie oft geschehen ist, wenn z. B. das Böse zu einem Mangel an Sein verharmlost wurde. Das wäre unglaublich dreist, angesichts der grässlichen Realität von Mord und Vernichtung, Sadismus und Folter, Unterdrückung und Erniedrigung, die Menschen einander, auch in der Geschichte Europas, zugefügt haben. Aber wie es im physischen Universum ein Übergewicht von Materie über Antimaterie gibt, es auf diese Weise ein Positivum an Sein gibt, das unsere Wirklichkeit erst möglich gemacht hat, gibt es im geistigen Bereich in dem Sinn eine Asymmetrie von Gut und Böse, dass das Böse die Pervertierung des Guten ist, die Geschlossenheit die Offenheit zur Bedingung hat und ebenso der Zweifel, die Skepsis und der Zynismus auf den impliziten Maßstab der Wahrheit verweisen. Deshalb blicken wir in Europa, zwar mit einer Verzögerung von Jahrhunderten, mit Missbilligung und Abscheu auf die Gewalt und Unterdrückung zurück, die wir Europäer anderen Völkern und auch Minderheiten auf dem eigenen Kontinent zugefügt haben. Viele europäische Europa-Kritiker sind sich daher dessen bewusst geworden, dass ihre Kritik noch immer in der Geschichte Europas, d.  h. in seiner Humanitätsidee wurzelt. Wie Morin schrieb: „Dennoch erwies ich Europa unbewusst Ehre, indem ich es verleugnete“, eine Aussage, die ich deshalb als ein Motto über diese Abhandlung gestellt habe. Ein Mittel, mit den Unvollkommenheiten der Menschenwelt umzugehen, sind Ironie, Humor und Selbstspott. Denn wer muss nicht lachen, wenn er den Menschen betrachtet, sich selbst eingeschlossen? Die Instrumente von Ironie, Humor und Selbstspott sind in der abendländischen Geistesgeschichte immer wieder gegen Torheit, Borniertheit, schiefgegangene gesellschaftliche Zustände, gegen die Arroganz von Machthabern usw. eingesetzt worden, ab Sokrates und Diogenes von Sinope über Erasmus, Rabelais, Montaigne, Swift and vielen anderen bis hin zu Shaw, Kästner und Havel. Der belgische Philosoph Guido Vanheeswijck hat in seiner meisterhaften, schon genannten Monografie unter dem Titel De draad van Penelope. Europa tussen ironie en waarheid (Der Faden der Penelope. Europa zwischen Ironie und Wahrheit) gezeigt, dass das ironisierende, Distanz bewirkende Lachen ein Wesenszug der europäischen Geisteshaltung ist, der das Vermögen zum Zweifel, zur Offenheit und Selbstkritik zum Ausdruck bringt. Dennoch hatten dieser Zweifel und diese Selbstkritik in den meisten Fällen nicht das letzte 148

Negativer Platonismus

Wort, sondern standen im Dienst einer Suche nach der Wahrheit, einer Wahrheit jedoch, die definitiv nie erreicht wird. Darum finden wir bei Sokrates Vanheeswijck zufolge neben einem Lachen um die Wahrheit, das die bequeme Selbstverständlichkeit herrschender Werte und Wahrheiten betrifft, ein Lachen von einer Wahrheit aus, „die nie konkret ausgefüllt werden kann, sondern immer das Kriterium bleibt, das jede konkrete Ausfüllung immer von Neuem aufs Korn nehmen muss. Beide Formen des Lachens sind unlöslich miteinander verbunden, als der doppelte Ausdruck der sokratischen Ironie.“99

Diesem doppelten Lachen des Sokrates steht das singuläre Lachen des Diogenes gegenüber, der nur um die Wahrheit lacht, diese faktisch weglacht, indem er alles und jeden ironisiert. Einen gleichen Gegensatz eines Lachens um die Wahrheit und eines Lachens von der Wahrheit aus sieht Vanheeswijck (wohl mit Recht) bei Kundera und bei Havel. Auch bei Kundera wird faktisch alles weggelacht. Das ganze Dasein stellt sich aus seiner Sicht ja als grundlos und dadurch als unerträglich leicht heraus. Aber wenn alles nicht mehr als ein Spaß ist, der sich letztendlich zu einer hoffnungslosen Komödie à la Ionesco entpuppt, bekommt dieses Lachen einen sehr bitteren Geschmack und endet schließlich in trauriger Verzweiflung. Bei Havel, demgegenüber, steht das Lachen im Dienst eines Versuchs, in der Wahrheit zu leben100. Er macht darum einen Unterschied zwischen zwei Formen von Torheit (selbstverständlich eine Anspielung auf Erasmus’ Lob der Torheit), und zwar der destruktiven Torheit eines zu weit getriebenen Fortschrittsglaubens und der „besseren Torheit“: „der Torheit unseres Idealbildes einer friedliebenden totaleuropäischen Gemeinschaft, der Torheit unseres europäischen Bewusstseins“. Ich zitiere Vanheeswijck, besser kann es nicht gesagt werden: „Insbesondere in Briefe an Olga unterstreicht er [Havel], dass dieses Lachen, die ‚Torheit‘, dem Bewusstsein einer nicht definierbaren, aber deshalb nicht weniger anwesenden Wahrheit entspringt. Mehr als was auch, 99 100

A.a.O., 46 Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Rowohlt, Hamburg 1980. 149

Kapitel V Das europäische Ideal in einer widerständigen Wirklichkeit

so meint er, trägt absurde Kunst, mit ihrem verzweifelten Protest gegen den Verlust des Sinnes der Dinge, den Glauben in sich. Der ‚absurde‘ Künstler lacht von der Wahrheit aus: ‚Hinter dem sich ständig und immer ändernden konkreten Horizont des Pilgers bleibt immer ein ‚Horizont als solcher‘ bzw. ‚Horizont an sich‘ anwesend. Die Horizontlinie bleibt verborgen, wird sichtbar, ändert sich auf jede denkbare Weise, aber der Horizont selber bleibt bestehen, unabhängig von diesem Verborgensein oder dieser Änderung: dies ist meistens ein Horizont, den man nur ganz abstrakt, verhüllt und schwer fassen kann; aber zugleich auf paradoxe Weise auch die sicherste (diese bleibt bestehen, sogar wenn alles Konkrete zusammenstürzt); dies ist der letzte und absolute Horizont (als letzter Bezugspunkt bei allem, was man im Leben macht) und es ist dieser Horizont – metaphysischer Fluchtpunkt des Lebens, der dessen Sinn bestimmt –, den viele als Gott erfahren.‘ Das Lachen wehrt jeden dogmatischen Wahrheitsanspruch. Aber das Lachen wehrt nie die Wahrheit selber; es wird im Gegenteil aus ihr geboren. Für Havel ist eine sinnvolle menschliche Existenz undenkbar ohne einen Horizont von Unvergänglichkeit, auf den sie sich als auf eine unsichtbare Quelle fortwährend richtet. Unter Verwendung von typisch phänomenologischem Jargon umschreibt er Glaube und Hoffnung als ein ‚Sichmelden‘ beim absoluten Horizont, der einzige echte Hintergrund, der uns die Garantie bietet, dass nicht alles definitiv verschwindet und dass also letztendlich nichts überflüssig ist.“101

Der Unterschied zwischen der Sicht der Dinge von Kundera und Havel und dem unterschiedlichen Ort der Ironie darin zeigt, dass ein Lachen um die Wahrheit, das nicht zugleich von einer an dem Horizont der Immanenz vorbei liegenden Wahrheit aus gesteuert wird, zu einer rückgratlosen Haltung gegenüber Lüge, Unterdrückung und Ungerechtigkeit führt – Kundera hat sich nie einen Dissidenten nennen wollen. Mir scheint, dass die Überzeugung und Lebenshaltung von Havel viel mehr als die Kunderas mit der europäischen Idee von Humanität in Übereinstimmung ist und dass er darum mit Recht als ihr Repräsentant eine ehrenvolle Stelle einnimmt.

101

A.a.O., 255f. 150

Negativer Platonismus

Die europäische Geschichte, so stellt sich heraus, ist eine prächtige, aber zugleich auch äußerst problematische Geschichte. Sie will Idealität, d. h. Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Raum für persönliche Entfaltung oder, kurz gesagt, Humanität realisieren in einer oft widerständigen Wirklichkeit. Sie hat damit zwei Gesichter, eines der Idealität, das andere der Realität zugewandt. Es verhält sich damit als mit dem Recht, das die Absicht hat, Frieden und Gerechtigkeit in einer durch Gewalt und Ungerechtigkeit zerrissenen Wirklichkeit zu stiften. Dabei muss es sich nicht selten von Mitteln aus dem Arsenal jener gegenläufigen Kräfte bedienen, z. B. wenn es, um gegen Gewalttätigkeit einen Damm zu errichten, Gegengewalt anwenden muss. Das Problem wird dann immer sein, dass das Recht, z. B. das Strafrecht, beim Gebrauch jener seiner ideellen Absicht eigentlich nicht entsprechenden Faktoren, nicht zuviel gemeinsame Sache mit den Kräften macht, die es bestreiten will. Dass das immer wieder für heikle Dilemmata sorgen wird, braucht kaum gesagt zu werden. Mit der europäischen Geschichte ist es, wie gesagt, nicht anders. Die europäische Idee der Humanität muss sich nicht allein in einem Medium von Kräften realisieren, die mit ihr auf Kriegsfuß stehen, wie Streben nach Macht und sozialem Status, ungleiche Eigentumsverhältnisse, Unterschiede in Talent, Ausbildung und gesellschaftlichen Chancen, Gruppenrivalitäten, usw. Aber sie wird nicht selten aus dem gleichen Reservoir von Kräften schöpfen müssen, sich zu behaupten und z. B. gegen antidemokratische Bewegungen zu verteidigen. Aber auch dann wird der Einsatz jener Mittel der Verwirklichung des Humanitätsideals dienen müssen. Und auch hier wird es immer wieder darum gehen, eine gute Balance von Idealismus und Realitätsbewusstsein zu finden. Die dunklen Kapitel lassen sich nicht aus der europäischen Geschichte wegstreichen. Und wir sollten das auch nicht versuchen. Dann würden wir ja genau der Heuchelei zum Opfer fallen, die wir immer wieder erleben, wenn Geschichte umgeschrieben wird, indem alle Geschehnisse, die wir hinderlich finden, zur Seite geschafft werden. Den Mut zu haben, diesen peinlichen Zeiten unserer Geschichte ins Auge zu sehen, liegt ganz auf der Linie der europäischen, im Zeichen von Offenheit stehenden Humanitätsauffassung. Eine Offenheit, die wie erwähnt, durch eine implizite, nie zureichend konkretisierbare, aber deshalb nicht weniger wirksame Norm von Wahrheit, Güte und Schönheit gekennzeichnet ist. Ohne diese kritische, offene Haltung werden wir aus der Geschichte nichts lernen, im Gegenteil: Wir werden Gefahr laufen, immer von Neuem in die gleiche oder eine ähnliche Falle zu gehen. 151

Kapitel V Das europäische Ideal in einer widerständigen Wirklichkeit

Konsequenzen aus der europäischen Geschichte für heute Zum Schluss ein Blick auf die europäische Aktualität. Diese sieht, wie jeder täglich aus den Nachrichten folgern kann, nicht gerade rosig aus. Das europäische Projekt befindet sich im Moment in einer Lage, die durch Unentschlossenheit, Stagnation und sogar durch die Drohung von Desintegration gekennzeichnet ist. Es besteht darum ein großes Bedürfnis nach einer Zukunftsperspektive und nach einem neuen Elan. Liegt es dann nicht auf der Hand, so der Ausgangsgedanke dieses Essays, durch allen Pragmatismus und Opportunismus hindurch zur großen Geschichte Europas durchzustoßen und daraus ein neues Richtungsgefühl und neue Anregungen für eine erfolgreiche Fortsetzung des europäischen Projekts zu schöpfen? Bis hierher habe ich versucht, die Idee Europas in Konturen zu skizzieren. Es wäre allerdings ein großer Irrtum, zu meinen, dass Ideen geradewegs und in Reinkultur in die Praxis umgesetzt werden können – die Geschichte zeigt eine ganze Reihe solcher Versuchen, aber auch, welche Spuren an Vernichtung und Leid sie nach sich gezogen haben. Dennoch lässt sich meiner Meinung nach eine Anzahl von Empfehlungen für eine Reform der Europäischen Union formulieren, wenn wir die europäische Geschichte als kritisches Raster über die Praxis des europäischen Projekts legen. Erstens: Wenn wir, wie oben behauptet, davon ausgehen, dass die europäische Integration fortgeführt werden muss, um dem Kontinent in der vielfältigen Welt politischer und ökonomischer Machtblöcke eine schlagkräftige Position zu sichern, dann ist das nicht anders möglich als durch die Realisierung der Vereinigten Staaten von Europa mit einer gewählten zentralen Regierung. Auf die heutige Weise mit 27 souveränen Staaten weiterzustümpern, ist auf längere Frist keine realistische Option. Wenn wir dem Subsidiaritätsprinzip folgen, wobei zentral nur die Dinge geregelt werden, die die Möglichkeiten der niedrigeren Niveaus übersteigen (gemeinschaftlicher Markt, grenzüberschreitende Probleme wie internationale Kriminalität und Terrorismus, Außenpolitik, Sicherheit, Verteidigung und Umwelt), dann bedeutet das, dass die Gliedstaaten nach deutschem oder amerikanischem Vorbild einen eigenen Entscheidungsraum behalten, und so auf nationale und regionale kulturelle Unterschiede Rücksicht genommen wird. Zugleich 152

Konsequenzen aus der europäischen Geschichte für heute

könnte das gegenseitige Verständnis füreinander und die gegenseitige Annäherung der verschiedenen Kulturen durch eine größere Mobilität von Arbeitnehmern, Studenten u. a. gefördert werden. Zweitens: Indem aus Europa eine politische Einheit gemacht wird, wird die Vorrangsstellung der Politik vor der Ökonomie wiederhergestellt, bzw. wird letztere politisch eingebunden. Zugleich wird die Europäische Zentralbank, die jetzt ein Staat im Staat mit einer eigenen Tagesordnung ist, unter die politische Aufsicht eines europäischen Finanzministeriums gestellt, einschließlich einer Europolitik. Und nicht zuletzt wird die Brüsseler Bürokratie unter die politische Leitung demokratisch gewählter Minister gestellt. Drittens ist es absolut notwendig, dass das oft beklagte demokratische Defizit der Union behoben wird. Für heute bedeutet das, dass alle Verwaltungsfunktionen der EU über demokratische Wahlen besetzt werden müssen. Weiter, dass aus dem Europaparlament ein richtiges Parlament gemacht wird, mit Kontrollbefugnissen in allen Bereichen, und der Befugnis, Initiativgesetzesentwürfe vorzulegen und dergleichen. Auch müssten auf allen Ebenen der europäischen Gesellschaft, also auch auf der europäischen Ebene, die Bürger über durch Bürgerforen vorbereitete Volksentscheide an der Beschlussfassung beteiligt werden. Viertens ist an Maßnahmen zur Förderung der Solidarität in der nationalen und europäischen Gesellschaft zu denken: Regulierung des ökonomischen Sektors zum Schutz von Menschen, Bekämpfung und Strafbarstellung von Steuerflucht durch Unternehmen und dergleichen. Sehr wichtig wäre auch die Wiederherstellung des öffentlichen Sektors und Neueinrichtung des finanziellen Sektors durch Trennung von privaten und kommerziellen Banken. Das Allerwichtigste wäre aber, dass sowohl die institutionelle Einrichtung Europas als auch das konkretere politische, ökonomische, juristische usw. Handeln die europäische Geschichte widerspiegeln würde. Letzteres führt mich zum zentralen Gedanken dieses Buchs zurück. Eine Kultur bezieht ihre Vitalität und ihren Elan aus einem beschwingenden Menschen- und Gesellschaftsbild bzw. aus einer „metaphysischen“ Anschauungsweise, um mit Huizinga zu sprechen. Das heißt: Mensch und Gesellschaft können nicht einzig von Pragmatik und Sachlichkeit gedeihen, können nicht „vom Brot allein“ leben. Das gilt dann auch nicht weniger für das europäische Projekt. Kann es sein (rhetorische Frage), dass das mühsame Funktionieren dieses Projekts dem Umstand zuzuschreiben ist, dass die Pragmatik beherrschend geworden ist, dass Europa 153

Kapitel V Das europäische Ideal in einer widerständigen Wirklichkeit

vergessen hat, seinen ideellen Kompass zu Rate zu ziehen? Wir verfügen doch über ein glänzendes Narrativ: eine ganz eigene Form der Humanität, eine Konzeption des Menschseins, die im Zeichen der freien Entfaltung der Veranlagung und Talente eines jeden steht, der zufolge weiter alle zuallererst als gleichwertige Personen respektiert werden und mitzählen, eine Auffassung von Menschsein und Zusammenleben schließlich, von denen Solidarität und Mitmenschlichkeit wesentliche Komponenten sind. Diese Auffassung der Humanität, so meine These, überträgt sich auf der Ebene des Zusammenlebens in die Institutionen und Lebensformen der Demokratie, des Rechtsstaats, der Menschenrechte, der Partizipationsgesellschaft, des Rheinländischen Unternehmensmodells, usw. Diese können jedoch nur florieren, wenn das Ferment der beschwingenden europäischen Geschichte sie nach wie vor durchzieht.

154

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Namenverzeichnis Aischylos 133

David (König) 92

Alber, Hans 59

Dante Alighieri 46, 47

Albert, Michel 109

Delors, Jacques 5, 27, 32, 66

Amos 132

Descartes 43, 57, 80, 98

Anselmus von Canterbury 46

Diogenes von Sinope 148, 149

Aristoteles 77, 83, 123

Dijksterhuis, E.J. 42

Aron, Raymond 141 Atreus 99

Engels, Friedrich 48, 49, 95

Augustinus, Aurelius 46, 80, 81, 95

Erasmus, Desiderius 148, 149

Bach, Johann Sebastian 114

Fichte, Johann Gottlieb 57, 80

Bacon, Francis 55, 57

Finkielkraut, Alain 141

Bauer, Raoul 51

Flora, Francesco 38

Benda, Julien 38, 141

Foqué, René 130

Berger, Peter 51, 58

Frankl, Viktor 73

Berlin, Isaiah 43

Freund, Julien 141

Bernanos, Georges 38

Fromm, Erich 73

Bierling, Ernst Rudolf 63 Bonald, Louis de 103

Gauthier, David 91

Braeckman, Antoon 71

Goethe, Johann Wolfgang 77, 114

Braudel, Fernand 39

Guéhenno, Jean 38

Buber, Martin 44, 99

Guérot, Ulrike 15 Gurjewitsch, Aaron 134, 135, 136

Carter, Jimmy 132 Ceaucescu, Nicolae 32

Hammurabi (König) 131

Constant, Benjamin 82, 123

Havel, Vaclav 147, 148, 150

Croce, Benedetto 38

Hegel, Georg W.F. 57, 58, 80

Cusanus, Nikolaus 57, 85

Hellmer, Joachim 107, 114 158

Namensverzeichnis

Hemmerechts, Kristien 34

Kuhn, Thomas 17

Heraklit 133

Kundera, Milan 19, 150

Hesekiel 94 Hobbes, Thomas 57, 58, 104

Leibniz, Gottfried Wilhelm 79

Hollande, François 15

Legesse, Asmaron 102

Homer 47, 93

Lemaire, Ton 53, 54, 139

Hosea 132

Lessing, Theodor 86

Hübner, Kurt 39, 75

Lincoln, Abraham 22

Hugo, Victor 37

Locke, John 43, 111, 114

Huizinga, Johan 38, 153

Löwith, Karl 57

Hume, David 43, 58

Lukács, Georg 38

Husserl, Edmund 43, 80

Lukes, Steven 97

Ionesco, Eugène 149

Maistre, Joseph Maria de 103 Mak, Geert 16

Jansen, Gert Jan 116

Mandt, Hella 82

Jaspers, Karl 38, 44

Mann, Thomas, 83

Jeremia 94

Marcel, Gabriel 44

Jesaia 132

Marcus Aurelius 78

Jonas, Hans 144

Marsilius von Padua 85

Juncker, Jean-Claude 15

Marx, Karl 48, 49, 57, 80, 95, 96, 97, 102, 103

Kalf, Donald 110

Masaryk, Thomáš 38

Kant, Immanuel 43, 45, 56, 57, 69, 80, 91, 92, 111, 112, 114

Merkel, Angela 15 Micha 132

Karl der Große 33

Middelaar, Luuk van 65

Kästner, Erich 148

Montaigne, Michel de 148

Kelen, Hans 28, 30, 63, 64

Morin, Edgar 5, 141, 148

Keyserling, Hermann 38

Mozart, Wolfgang Amadeus 87

Kierkegaard, Sören 73, 81

Mounier, Emmanuel 44

King, Martin Luther 22

Mose 93

Köhler, Ludwig 132

Namenverzeichnis

Nauta, Lolle 125

Saul (König) 92

Nesle, Wilhelm 133

Schaff, Adam 44

Nietzsche, Friedrich 37, 145, 146

Scheler, Max 38, 73, 143 Schelling, Friedrich Wilhelm 142

Ockham, William von 85

Schulz, Martin 13

Odysseus 46, 93

Schuman, Robert 26, 27, 66 Seneca, Lucius Aenaeus 86

Patočka, Jan 146, 147 Paulus (Apostel) 78, 84 Pelops 94 Perikles 20, 82, 123, 134 Perk, Jacques 131 Pico della Mirandola 79 Pieper, Josef 73 Plato 77, 134 Plessner, Helmuth 81, 83, 145 Plotinos 77 Rabelais, François 148 Radbruch, Gustav 28, 29 Rawls, John 97, 115 Renzi, Matteo 15 Reybrouck, David van 120 Romein, Jan 36

Shaw, George Bernard 148 Shelley, Percy B. 5 Simmel, Georg 38, 45, 70 Sluiter, Ineke 62 Sokrates 94, 148, 149 Somló, Felix 63 Spender, Stephen 38 Swift, Jonathan 148 Tolstoi, Lev 81 Thukydides 20 Valéry, Paul 38 Vanheeswijck, Guido 148, 149 Vermeersch, Etienne 59 Victoria (Königin) 64

Roosevelt, Franklin Delano 23 Rosenzweig, Franz 44, 99

Waal, Frans de 144

Rougement, Denis de 38, 44

Weber, Max 35, 42, 55, 59

Rousseau, Jean Jacques 118, 120

Wittgenstein, Ludwig 100

Rutte, Mark 13 Zvobgo, Eddison 101 Salis, Jean de 38

Zweig, Stefan 38

Sartre, Jean-Paul 105 160

Koo van der Wal studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Germanistik in Amsterdam und Göttingen. Professor em. für Philosophie, Erasmus Universität Rotterdam. Publikationen u.a. auf dem Gebiet der politischen, Sozial- und Kulturphilosophie und der Natur- und Umweltphilosophie.

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www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40444-5

Europa – Idee eines Kontinents Koo van der Wal

Europa ist eine starke Marke. Dennoch stockt der europäische Integrationsprozess immer wieder. Das Problem: Die Bürgerinnen und Bürger haben das Gefühl, Europa werde von Bürokraten gelenkt und sie selbst seien vergessen worden. Daher plädiert Koo van der Wal dafür, auf die der europäischen Lebens- und Denkweise zugrunde liegende Geschichte und deren Form von Humanität zurückzugreifen. Diese steht im Zeichen der Entfaltung der Persönlichkeit, wobei alle Menschen ernst genommen werden und Solidarität eine wesentliche Komponente ist. Die Institutionen der Demokratie und des Rechtsstaates fußen auf dieser Humanitätsauffassung.

Koo van der Wal

Europa – Idee eines Kontinents Eine kulturphilosophische Erkundung