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German Pages 378 Year 2015
Anina Engelhardt, Laura Kajetzke (Hg.) Handbuch Wissensgesellschaft
Anina Engelhardt, Laura Kajetzke (Hg.)
Handbuch Wissensgesellschaft Theorien, Themen und Probleme
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© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Lektorat & Satz: Laura Kajetzke, Anina Engelhardt, Jonas Barth, Wiebke Peters Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1324-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
I N H AL T
Einleitung: Die Wissensgesellschaft beobachten (LAURA KAJETZKE/ANINA ENGELHARDT) .............................................. 7 1 Von der Industrie- zur Wissensgesellschaft: Frühe Diagnosen 1.1 Peter F. Drucker: Wissensgesellschaft, wissensbasierte Organisation und Wissensarbeiter (JOCHEN STEINBICKER) .......... 21 1.2 Daniel Bell: Die post-industrielle Gesellschaft als Wissensgesellschaft (JOCHEN STEINBICKER)........................... 27 1.3 Ulrich Beck: Die Risikogesellschaft als Wegbereiter der Wissensgesellschaft? (JESSICA WILDE)................................... 35 1.4 Manuel Castells: Informationalisierung der Arbeit (REINHART KÖSSLER) .................................................................... 43 2
Theorien der Wissensgesellschaft
2.1 Nico Stehr: Konzeption der Wissensgesellschaft (MARIAN ADOLF)........................................................................... 53 2.2 Helmut Willke: Systemtheorie der Wissensgesellschaft (TORSTEN STRULIK)....................................................................... 65 2.3 André Gorz: Vom Wissenskapitalismus zur Wissensgesellschaft (NICKLAS BASCHEK) .............................. 77 2.4 Karin Knorr Cetina: Postsozialität (SABINE MAASEN/MARIO KAISER)................................................ 87 3
Thematisierung des Wandels durch die Wissensgesellschaft
3.1 Wirtschaft: Die wissensbasierte Ökonomie (STEFFEN DÖRHÖFER).................................................................. 101 3.2 Politik: Demokratisierung von Expertise (RENATE MARTINSEN) ................................................................. 113 3.3 Religion: Säkularisierung oder Transformation? (GERT PICKEL/ANJA GLADKICH)................................................. 127
3.4 Bildung und Erziehung: Transformationsprozesse sozialer Ungleichheiten? (HEIKE KAHLERT) ............................... 141 3.5 Wissenschaft: Epistemisches Niemandsland? (STEFAN BÖSCHEN)...................................................................... 159 3.6 Medien: Faktor, Reflexion und Archiv gesellschaftlichen Wandels (HANS-DIETER KÜBLER)............................................... 171 3.7 Kunst: Objekt und Motor der Wissensgesellschaft (GERHARD PANZER)..................................................................... 183 3.8 Gesundheit: Innovationen für Lebensqualität und zur sozialen Emanzipation (RAINER FRETSCHNER/JOSEF HILBERT) ............... 195 4
Themenfelder der Wissensgesellschaft
4.1 Arbeit, Beschäftigungsverhältnisse, Sozialstaat (STEPHAN LESSENICH)................................................................. 207 4.2 Technik (ROGER HÄUSSLING/KIRSTIN LENZEN) ......................... 219 4.3 Professionen (MICHAELA PFADENHAUER/ ALEXA MARIA KUNZ).................................................................. 235 4.4 Beratung (JÜRGEN HOWALDT)..................................................... 247 4.5 Nichtwissen: Entstehungskontexte, Pluralisierung und Politisierung (PETER WEHLING) ........................................... 259 4.6 Ökologie (FRANZ LEHNER).......................................................... 271 4.7 Raum und Wissen (MARKUS SCHROER)...................................... 281 4.8 Körperwissen (THOMAS ALKEMEYER)........................................ 293 5 Kritik der Wissensgesellschaft 5.1 Geschlechterverhältnisse: Postpatriarchale Wissensgesellschaft? (MARIA FUNDER) ........... 311 5.2 Deutungsmacht: »Wissensgesellschaft« als self fulfilling prophecy? (RAINER SCHÜTZEICHEL) ..................... 325 5.3 Legitimation: Wissensgesellschaft als Mantel des Neoliberalismus? (ANDREA D. BÜHRMANN) ........................ 335 5.4 Die Wissensgesellschaft – Eine folgenschwere Fehldiagnose? (UWE BITTLINGMAYER/HIDAYET TUNCER) ................................ 347 Resümee: Für eine Wissenssoziologie der Wissensgesellschaft (ANINA ENGELHARDT/LAURA KAJETZKE) .......................................... 361 Autorinnen und Autoren .................................................................. 371
Einleitung: Die Wisse ns gese llsc haft beobachten LAURA KAJETZKE/ANINA ENGELHARDT
Wissen begegnet uns in vielfältigen Formen: als lebensweltliches Routinewissen bei alltäglichen Verrichtungen, als theoretisches Wissen verschiedener Wissenschaften, als so genanntes Allgemeinwissen, das in Quizshows in bare Münze umgesetzt wird. Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch andere gesellschaftliche Teilsysteme – etwa Wirtschaft, Politik und Kunst – sind mit der Erzeugung, Speicherung und Nutzung von Wissen beschäftigt. In Organisationen entsteht unter anderem technisches und bürokratisches Wissen, die »lernende Organisation« wird zum Erfordernis erhoben, um global konkurrenzfähig zu bleiben. Das Potential des »Web 2.0« wird wahlweise überhöht (als egalisierender Wissensmultiplikator) oder abqualifiziert (als Verdummungsmedium). Weiterhin erleben wir mit, wie bestimmtes Wissen als »wissenswert« bezeichnet und über einen Bildungskanon gestritten wird. Neben dem Spezialwissen, das uns die Berufswelt abfordert, ist Wissen zu jeder Sekunde des intersubjektiv geteilten Alltags wichtig: Menschen verarbeiten tagtäglich die Eindrücke ihrer Umwelt im Medium Sinn, die eigenen Handlungen und die Deutung der Handlungen unserer Mitmenschen beruhen auf Annahmen, die Teil eines gesellschaftlichen Wissensvorrates sind (Berger/Luckmann 2004). Kurz: Wissen ist ubiquitär auf Makro-, Meso-, Mikroebene. Es ist nahezu trivial zu sagen, Wissen sei bedeutend für soziale Strukturen – es liegt auf der Hand. Leben wir in einer Wissensgesellschaft? Angesichts der Vielfalt kollektiven und individuellen Wissens, die sich uns in diesem kurz umher7
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schweifenden vorwissenschaftlichen Blick auf die Gegenwart bietet, spricht einiges dafür. Dagegen spricht, dass Wissen anscheinend schon immer ein elementarer Bestandteil der conditio humana gewesen ist, bedeutsam für das Denken und Handeln der Menschen zu allen möglichen Zeiten und an allen möglichen Orten.1 Als skeptische Soziologinnen nehmen wir eine für unsere Disziplin typische Denkbewegung vor: Wir hinterfragen zunächst die Frage selbst. Dabei sticht hervor, dass • die Frage nach der wirklichen Existenz einer Wissensgesellschaft uns in epistemologische Schwierigkeiten verwickelt.2 Welche Definition von ›Wissen‹ legen wir an und woher beziehen wir sie? Meinen alle dasselbe, wenn sie von ›Wissensgesellschaft‹ sprechen? Ferner setzt eine solche Frage voraus, dass eine Checkliste objektiver Kriterien erstellt werden könnte, mit der wir die Phänomene der gegenwärtigen Welt abgleichen, um dann zu dem Schluss zu kommen, dass wir es zweifelsohne mit einer Wissensgesellschaft zu tun haben müssen – oder eben nicht. die zeitdiagnostische Rede von einer Wissensgesellschaft nur dann • Sinn ergibt, wenn sich ein Wandel vollzogen hat. Wissen war schon immer bedeutsam, aber wenn eine Gegenwartsbeschreibung wie ›Wissensgesellschaft‹ an Plausibilität gewinnt, hat sich an der Wahrnehmung des Verhältnisses von Wissen und sozialen Strukturen etwas verändert. Wie kam es zu dieser gesteigerten Aufmerksamkeit im Hinblick auf das Wissen?3 Hat das Wissen nun Eigenschaften, 1
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Dies mag einer der Gründe sein, warum die Wissenssoziologie sich so lange gegen eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaftsbeschreibung »Wissensgesellschaft« gesträubt hat. Hubert Knoblauch führt dafür drei mögliche Gründe an: Die Diagnose sei erstens nicht in der Wissenssoziologie selbst entstanden, zweitens beruhe sie auf einem wenig reflektierten Wissensbegriff, drittens sei der Begriff zuvor zu wenig in eine wissenschaftliche und zu sehr in eine politisch-normative Debatte eingebunden gewesen (Knoblauch 2005: 255). So fragen auch Uwe H. Bittlingmayer und Ullrich Bauer (2006) nach »Mythos, Ideologie oder Realität« der sogenannten Wissensgesellschaft und markieren damit mehrere Wirklichkeitsebenen, auf denen man die Zeitdiagnose ansiedeln und diskutieren kann. Sie heben vor allem darauf ab, dass es sich bei der »Wissensgesellschaft« nie um einen rein deskriptiven Begriff ohne normative Implikationen handeln kann (ebd.: 12). Empirisch ist seit den letzten Jahrzehnten eine Differenzierung des Wissensbegriffs zu verzeichnen. Beispiele gibt u.a. Gerhard Gamm (2010: 123): »Wir lernten deklaratives von prozeduralem Wissen, begriffliches von intuitivem, implizites von explizitem sowie normatives und deskriptives von evaluativem und propositionales von nichtpropositionalem Wissen zu unterscheiden. Domainspezifisches Wissen und Weltwissen waren uns bald aus Lehre und Forschung ebenso vertraut wie Fakten-, Orientie-
EINLEITUNG
die es zuvor noch nicht aufwies und die es plausibel erscheinen lassen, nun von einer Wissensgesellschaft zu sprechen? Wie kam es zu der Prominenz einer Diagnose, die andere Deutungsangebote wie die (ebenfalls lange Zeit erfolgreiche) Risikogesellschaft, die Multioptionsgesellschaft, die Erlebnisgesellschaft und andere populäre Zeitdiagnosen ausstechen konnte? Sind Prozesse zu beobachten, die auf einer veränderten oder gesteigerten Bedeutung bestimmter Wissensformen basieren? Warum Wissens-Gesellschaft? Woher rührt die Durchschlagskraft dieser Semantik? Die in diesem Band eingenommene wissenssoziologische Perspektive auf die Zeitdiagnose Wissensgesellschaft kann folglich wenig zu der Beantwortung der oben gestellten Frage beitragen – zumindest in dem Sinne, dass die Leserinnen und Leser nach der Lektüre der Beiträge wissen, ob sie in einer Wissensgesellschaft beheimatet sind. Sie kann aber, indem sie die Fragestellung durch eine gesellschaftliche Rückbindung historisiert und kontextualisiert, die Frage nach der objektiven Existenz der Wissensgesellschaft neu stellen. Wirklich ist die Wissensgesellschaft für uns insofern, als dass sie als theoretisch-begriffliches Konstrukt existiert und in verschiedene Bereiche der Gesellschaft als Deutungsmuster Eingang gefunden hat, wo sie erkennbare Auswirkungen zeigt. Auch gibt es wirkliche Akteure, die ihre Welt als eine Wissensgesellschaft erleben und beschreiben; dies gilt für wissenschaftliche wie für nichtwissenschaftliche Akteure gleichermaßen. In ähnlicher Weise verfahren wir mit dem Wissen: Wir stellen nicht selbst eine als gültig behauptete Definition des Wissens auf, sondern beobachten die verschiedenen Argumentationsgänge der nichtwissenschaftlichen (politischen, ökonomischen, religiösen, künstlerischen etc.) und wissenschaftlichen (hier vor allem: sozialwissenschaftlichen) Diskurse. Uns soll es in diesem Band erstens darum gehen, was mit der Diagnose Wissensgesellschaft erklärt werden kann. Hierzu beobachten4 die
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rungs- und Begründungswissen, regel- und fallbasiertes Wissen, Hintergrund- und Schemawissen. Strategisches Wissen sollte gegen ein verständigungsorientiertes, sprachspezifisches gegen ein evidenzbasiertes Wissen abgegrenzt werden.« Auch die steigende Bedeutung von Nichtwissen im Diskurs um die Wissensgesellschaft weist auf diesen Trend hin, vergleiche dazu z.B. Wehling (in diesem Band) sowie ders. 2006, Böschen/Wehling 2004; für eine früher formulierte Variante vgl. Beck 1996. Nichts anderes bedeutet theorein: schauen bzw. sichtbar zu machen. Bourdieu formuliert dies als Anspruch und Aufgabe: »Soll Sozialwissenschaft mehr sein als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, […] dann muß der Wissenschaftler – nicht zuletzt, um es abzuweisen – jenes Verlangen nach schöpferischer Weltanschauung aufdecken, diese Art intuitus origi9
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Autorinnen und Autoren der Beiträge gesellschaftliche Prozesse in Politik, Wirtschaft, Bildung, Religion, Kunst etc., nehmen gegenwärtig relevante Themenfelder wie z.B. Ökologie, Raum und Technik unter die Lupe und testen die Analysefähigkeit der theoretischen Perspektive Wissensgesellschaft auf Herz und Nieren. Im Sinne der doppelten Hermeneutik nach Anthony Giddens (1997: 429f.) haben sozialwissenschaftliche Konzepte die Angewohnheit zur Verselbstständigung – es ist nicht kontrollierbar, ob sie als terminus technicus im Wissenschaftssystem verbleiben oder in die Gesellschaft diffundieren, um dort als Deutungsmuster verwendet und womöglich sogar verändert zu werden.5 Neben der Beschreibung der gesellschaftlichen Sektoren und der Themenfelder der Wissensgesellschaft steht in diesem Buch auch die Beobachtung jener Kontexte im Vordergrund, in denen das Konzept bereits Wirkungen entfaltet. Beschreiben Wirtschafts-, Politik- und Medienakteure Veränderungen in ihrem Sektor in Rekurs auf die Wissensgesellschaft? Warum ist diese Diagnose für sie evident? Gibt es auch ablehnende Stimmen gegen eine solche Deutung? Verfügt der jeweils untersuchte Bereich auch über ein politisch-normatives Programm der Wissensgesellschaft, z.B. im Sinne einer neoliberalen Deregulierung oder eines erhofften Wissenskommunismus? Was für sichtbare und spürbare Folgen ergeben sich aus der Annahme einer Wissensgesellschaft (vgl. Bittlingmayer 2005)? Zusammengefasst ist es also eine doppelte Frageperspektive, derer sich die Autorinnen und Autoren des Handbuchs Wissensgesellschaft annehmen:
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narius, der die Dinge seiner Sicht gemäß erzeugen möchte […].« (Bourdieu 1985: 29, Herv. im Original) Dies weist darauf hin, dass theorein auch eine von den Akteuren selbst vorgenommene Durchsetzung der Weltsicht im Sinne der Anwendung symbolischer Macht meinen kann. So ist neben der Produktion eigener Theorien über die Welt auch die Beobachtung der Theorien in der sozialen Welt ein Forschungsziel der Soziologie. Vergleiche dazu auch die Konzepte »Denkstil« und »Weltanschauungen« bei Karl Mannheim (1964, 1980). Die doppelte Hermeneutik hat die Form eines Zirkels, denn auch Begrifflichkeiten aus dem sozialen Leben selbst können von Soziologinnen und Soziologen aufgegriffen werden und Eingang in das wissenschaftliche Sprechen über Gesellschaft finden – und von dort aus wieder Einfluss auf die Alltagswelt nehmen.
EINLEITUNG
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›Wissensgesellschaft‹ als Beobachtungsperspektive: Welche Ver-
änderungen werden in gesellschaftlichen Teilbereichen und Themenfeldern diagnostiziert? Wie treffend können sie durch die Rede von einer Wissensgesellschaft gedeutet werden? Stellt die Diagnose und Prognose ›Wissensgesellschaft‹ eine realistische und wissenschaftlich weiterführende Perspektive zur Verfügung?
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Beobachtung der Perspektive ›Wissensgesellschaft‹: In welchen Zusammenhängen wird von den beteiligten Akteuren (in gesellschaftlichen Teilbereichen wie z.B. Wirtschaft, Medien, Wissenschaft) dieser Terminus aufgegriffen? Wie erfolgreich bzw. wie wirkmächtig ist das Konzept der Wissensgesellschaft?
Dieser Band verschafft Studierenden sowie Absolventinnen und Absolventen geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer einen orientierenden Überblick über die wichtigsten Themenfelder der aktuell populärsten Zeitdiagnose. Die Wissensgesellschaft ist in aller Munde – daher ist es umso wichtiger, ein differenziertes und wissenschaftlich reflektiertes Verständnis dieser Gesellschaftsbeschreibung und ihres Einflusses zu erlangen. Sie wird als Deutungsangebot verstanden, das gegenwärtige Transformationen zu beschreiben versucht. In den Beiträgen soll es weder darum gehen, theoretischen und empirischen Apologeten dieser Zeitdiagnose affirmativ das Wort zu reden, noch darum, per se eine ablehnend-widerständige Haltung einzunehmen. Dass die Wissensgesellschaft als Konzept erfolgreich ist und Eingang in politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und massenmediale Diskurse findet, ist soziologisch untersuchenswert – und die Frage, warum dies der Fall ist, ist ebenso für Forschende aus dem Bereich der Pädagogik, den Kulturwissenschaften, der Politikwissenschaft, der Philosophie sowie für andere Interessierte und Neugierige relevant und spannend.
Z u m Au f b a u d e s B a n d e s Diese Einführung soll für die unterschiedlichsten Disziplinen ein Nachschlagewerk darstellen: zu den frühen (1) und zentralen (2) Theorien der Wissensgesellschaft, zur Erklärungskraft und Wirkung dieser Diagnose in gesellschaftlichen Teilbereichen (3) sowie ihrer Verbindung zu gesellschaftlich relevanten Themen (4). Ferner wird auch ein kritischer Blick auf jene Inhalte geworfen, die in der Diskussion um die so genannte 11
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Wissensgesellschaft womöglich ausgeblendet werden (5). Abschließend sollen in einem Resümee die Argumentationslinien der einzelnen Beiträge diskutiert und Überlegungen angestellt werden, wie eine wissenssoziologische Analyse der Diagnose Wissensgesellschaft zu mehr wissenschaftlicher Transparenz und Durchdachtheit verhelfen könnte (6). Im ersten Kapitel Von der Industrie- zur Wissensgesellschaft versammeln sich unter dem Label »frühe Diagnosen«6 Vorreiter der Wissensgesellschaft (Peter Drucker, Daniel Bell) (1.1;1.2), aber auch Ideengeber, die mit semantisch ähnlich gelagerten Diagnosen wie der »Netzwerkgesellschaft im Informationszeitalter« (Manuel Castells) (1.3) und der »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck) (1.4) auf die veränderte Rolle des Wissens in einer »postindustriellen« Gesellschaft hinweisen. Diese Theorien stehen im Zeichen einer voll entwickelten Moderne und sind geeint durch die Frage: Was folgt auf die Industriegesellschaft? Gemein sind den Ansätzen der Blick auf den Wandel der Arbeitsverhältnisse, die Auseinandersetzung mit einer möglichen Veränderung des Kapitalismus, die Untersuchung der Auswirkungen technischer Entwicklungen auf das Soziale sowie die angenommene gesteigerte Bedeutung wissenschaftlich-theoretischen Wissens. Bei aller Ähnlichkeit der behandelten Phänomene kommen die vorgestellten Diagnostiker jedoch zu ganz unterschiedlichen Schlüssen. Im zweiten Kapitel steht eine Auswahl von zentralen Theorien der Wissensgesellschaft im Vordergrund, also jenen Ansätzen, die der Diagnose zu ihrer aktuellen und anhaltenden Popularität verholfen haben. Sie alle verbindet, dass sie eine theoretische Fundierung aufweisen, die bei den Vorgängerdiagnosen in dieser Ausführlichkeit noch nicht zu finden war – anders gesagt: Während die »frühen« Diagnosen vor allem Zeitdiagnose und nicht Gesellschaftstheorie sein wollten, sind die hier vertretenen Ansätze jeweils gesellschaftstheoretisch eingebettet: Nico Stehrs Ansatz (2.1) fußt auf handlungs- und modernisierungstheoretischen Annahmen, Helmut Willke (2.2) verortet sich in einem von Luhmann inspirierten systemtheoretischen Kontext, André Gorz (2.3) hat den Marxismus als Gewährstheorie im Hintergrund, auch der Existenzialismus Sartre’scher Prägung scheint durch seine Ausführungen hindurch, und Karin Knorr Cetinas Annahmen über die Postsozialität von Wis-
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Das »Frühe« der in diesem Kapitel vertretenen Gegenwartsbeschreibungen ist weniger als zeitliche Einordnung zu verstehen, sondern vielmehr als Versuch, auf die Vorgänger-, Wegbereiter- und Unterstützerrolle dieser Beschreibungen hinzuweisen.
EINLEITUNG
sensgesellschaften (2.4) sind vom Laborkonstruktivismus der Science Studies geprägt, den sie maßgeblich mitgestaltet. Im dritten Kapitel wird die Thematisierung des Wandels durch die Wissensgesellschaft in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen behandelt. In der Wirtschaft (3.1) hat sich die Selbstbeschreibung als »Wissensökonomie« weitgehend durchgesetzt. Diskutiert wird, welche Auswirkungen diese Sichtweise auf ökonomische Prozesse hat, aber ebenso, inwieweit der Wandel in diesem Teilbereich durch die Entstehung einer wissensbasierten Ökonomie angemessen beschrieben werden kann. Der Einfluss der Wissensgesellschaft als politisches Leitbild mit bestimmten Implikationen wird im Aufsatz zum Teilsystem Politik (3.2) abgewogen. Dabei wird vor allem hinterfragt, welche Funktion diese Diagnose in den Kämpfen des politischen Feldes einnimmt und welche Rolle dabei das Verhältnis von Wissenschaft und Politik spielt. Die Sphäre der Religion (3.3) und des Glaubens wird häufig in einem konfliktären Verhältnis zum (in der Tendenz rationalen) Wissen der Wissensgesellschaft gesehen. Im hier vertretenen Aufsatz wird der These entgegengetreten, dass mit steigendem Einfluss des wissenschaftlichen Wissens das Religiöse automatisch an Bedeutung verliert; verschiedene Theorien der Religionssoziologie zur Entwicklung des Religiösen werden dabei in Beziehung zur Diagnose Wissensgesellschaft gesetzt. Wer von der »Wissensgesellschaft« spricht, kann über Bildung und Erziehung (3.4) nicht schweigen. Prozesse im Bildungs- und Erziehungssystem als Ganzes, in und zwischen den Bildungsinstitutionen sowie die Sozialisation der (lernenden) Subjekte werden vor allem im Hinblick auf soziale Ungleichheit und Lebenschancen in den Blick genommen. Auch die Wissenschaft (3.5) spielt nachvollziehbar eine exponierte Rolle im Konzept der Wissensgesellschaft – mit teilweise überraschenden Folgen: Der Bedeutungsgewinn wissenschaftlichen Wissens und die damit einhergehende Diffusion in andere Teilbereiche führt zu einer Verschärfung von Grenzkonflikten mit benachbarten gesellschaftlichen Sektoren wie z.B. der Politik, der Ökonomie und den Medien. Welches Wissen in welcher Weise in den (Massen-)Medien vermittelt, durch die Medien erzeugt wird und was für ein Wissen Akteure über die Medien eigentlich haben, wird daran anschließend unter die Lupe genommen (3.6). Der Bereich der Kunst blieb lange Zeit ein unbeachtetes Stiefkind der Theorien der Wissensgesellschaft (3.7). Bei genauerer Betrachtung der Wissensformen, die die Kunst hervorbringt, sowie der Wissensmodi, die mit der Kunst verbunden sind, wie z.B. »Kreativität«, wird jedoch schnell deutlich, dass dieser Bereich das Potential hat, zu einem »Objekt und Motor der Wissensgesellschaft« (Panzer in diesem 13
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Band) zu avancieren. Als prosperierender Wirtschaftsbereich und durch technische Innovationen erlangt der Bereich der Gesundheitsversorgung ebenfalls zunehmende Bedeutung in der Wissensgesellschaft (3.8). Welches Wissen ist hier besonders gefragt und welchen Beitrag leistet es im Hinblick auf die Betreuung und Heilung von Menschen? Das vierte Kapitel trägt dem Umstand Rechung, dass die Diagnose Wissensgesellschaft nicht nur bestimmte Teilsysteme geentert hat, in denen mit ihr Veränderungen untersucht werden können oder sie als Deutungsangebot von den Akteuren selbst weitergetrieben wird – sie dockt auch an bestimmte Themenfelder an und verändert diese. Im Aufsatz Sozialstaat, Beschäftigungsverhältnisse, Arbeit (4.1) wird diese Wirkung der Wissensgesellschaft mit den Implikationen der Vorgängerdiagnose Industriegesellschaft kontrastiert. Die Wissenspolitik, die in und mit dem Diskurs der Wissensgesellschaft betrieben wird und bestimmte Lebensund Organisationsweisen als alternativlos darstellt, wird in dieser Darstellung näher beleuchtet und als eine Strategie zur Durchsetzung des »aktivierenden« Sozialstaates sowie der Implementierung bestimmter Identitätsangebote wie der des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) enthüllt. Was passiert mit dem Wissen in der Wissensgesellschaft im Rahmen von Technisierungsprozessen? Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen für die beteiligten Akteure? Wie ist die Verteilung von Wissen auf Technik und Mensch angemessen zu beschreiben? Diesen anspruchsvollen Fragen widmet sich der Aufsatz zum Thema Technik (4.2). Wie es durch die Wissensgesellschaft zu einer Abwertung von Professionen kommt – ein auf den ersten Blick widersprüchlicher Befund, geht man verbunden mit dieser Diagnose zunächst doch von einer Aufwertung des Expertentums aus – klärt der Aufsatz zur Professionalisierung (4.3). Haben die Professionen unter Deprofessionalisierung in der Wissensgesellschaft zu leiden, gilt für den Bereich der Beratung das Gegenteil. Die veränderte Funktion der Beratung in Zeiten ungesichterten Wissens steht daher im Zentrum des anschließenden Aufsatzes (4.4). Das Nichtwissen als »Schattenseite« (Wehling in diesem Band) der Wissensgesellschaft stellt sich einem unreflektierten und fortschrittsgläubigen Verständnis dieser Diagnose entgegen. In diesem Aufsatz wird die Entstehung und differenzierte Definition des Konzeptes Nichtwissen, die damit verbundene veränderte Sicht auf den Bereich der Wissenschaft sowie die zunehmende Politisierung des Nichtwissens thematisiert (4.5). Für den Bereich der Ökologie eine wissensgesellschaftliche Forschungsperspektive anzulegen, stellt zurzeit noch ein Novum dar 14
EINLEITUNG
(4.6). Dies liegt vor allem darin begründet, dass die Logik der Industriegesellschaft hier nach wie vor dominant ist. In diesem Aufsatz wird daher die Perspektive der Wissensgesellschaft als zukünftiges Szenario mit möglichen Wirkungen auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem Ökosystem diskutiert. Wird in einigen Theorien der Wissensgesellschaft – so z.B. in der atopischen Konzeption Helmut Willkes (2001) – von einer wachsenden Unabhängigkeit vom Raum zugunsten der Zeit ausgegangen, vertritt der Aufsatz zum Raum die gegenläufige These, dass auch eine Wissensgesellschaft ohne räumliche Bezüge nicht denkbar ist (4.7). Daran anknüpfend wird exemplarisch beobachtet, wie Bildungsinstitutionen sich in einem »Kampf um Aufmerksamkeit« als »distinkte Orte des Wissens« (Schroer in diesem Band) inszenieren. Wie der Raum erfuhr auch der Körper als Wissensobjekt und Wissensträger eine Vernachlässigung in der Moderne, indem er als uninteressanter Gegenbegriff zum rationalen Bewusstsein aus dem Sichtfeld geriet. Doch aufgrund des durch die Forschungsperspektive »Wissensgesellschaft« gestiegenen Gespürs für unterschiedliche Wissensformen neben dem wissenschaftlichen Wissen, ist, wie im letzten Aufsatz dieses Kapitels, eine differenzierte Betrachtung der Eigenheiten des Körperwissens denkbar (4.8). Im fünften Kapitel wird ein dezidiert kritischer Blick auf das Konzept der Wissensgesellschaft eingenommen und damit der Annahme gefolgt, dass diese Diagnose nicht nur im wissenschaftlichen Sinne einen IstZustand beschreibt, sondern auch normative Implikationen aufweisen oder gar den Zweck einer Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse bedienen kann. Der Reigen zur Kritik der Wissensgesellschaft wird eröffnet durch die von der Wissensgesellschaft vernachlässigte Thematik der Geschlechterverhältnisse (5.1). Die Forschungsperspektive Wissensgesellschaft erzeugt, so die hier vertretene These, einen »Egalitätsmythos« (Funder in diesem Band), der eine »post-patriarchale (Wissens-)gesellschaft« noch immer utopisch erscheinen lässt. Gefolgt wird diese erste kritische Auseinandersetzung von der Frage nach der Deutungsmacht des Konzeptes der Wissensgesellschaft (5.2). Wenn verschiedene gesellschaftliche Funktionsbereiche wie Politik, die Ökonomie und das Bildungssystem ein solches Deutungsmuster akzeptieren und auf Grundlage dessen Handlungsentscheidungen treffen, ist zu untersuchen, ob die Zeitdiagnose zu einer self-fulfilling prophecy werden kann. Als neoliberale illusio (Bourdieu) entfaltet die Wissensgesellschaft eine kontraintuitiv anmutende Wirkung: Anstatt, wie es der Anspruch wissenschaftlicher Zeitdiagnosen ist, zur (Er-)Klärung gesellschaftlicher Verhältnisse beizutragen, kann sie von verschiedenen Akteursgruppen in 15
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einer Weise definitorisch und legitimatorisch eingesetzt werden, in der die eigentlichen Machtstrukturen verborgen bleiben, wie im Aufsatz zur Legitimation der Wissensgesellschaft (5.3) argumentiert wird. Ein letzter Aufsatz dieses Kapitels diskutiert die provokative Frage, ob es sich bei der Wissensgesellschaft nicht schlicht um eine Fehldiagnose handelt (5.4), die durch unklare Indikatoren und vor allem normative politische Ziele bestimmt ist. Der Anspruch dieses Handbuches ist kein geringer: Es soll ein Nachschlagewerk für all jene sein, die im akademischen Kontext mit dem Begriff der »Wissensgesellschaft« zu tun bekommen und daraufhin genauer hinschauen wollen. Ehrgeizig gesprochen handelt es sich zudem um den Versuch, die »Objektivierungen zu objektivieren« (Bourdieu 1985: 29), d.h. die Facetten der Wissensgesellschaft aufs genaueste zu durchleuchten, die mit ihr verbundenen Assoziationen, Begriffe und Konzepte ans Licht zu holen und bislang noch blinde Flecken sichtbar zu machen (freilich mit dem Wissen, dass die Erzeugung neuer Blindheiten nicht zu umgehen ist). Die Planung eines umfangreichen Bandes wie dem Vorliegenden erfordert immer eine Selektion. Alain Touraine, Jean-François Lyotard, Peter Weingart und andere werden einige Leserinnen und Leser zu Recht unter den relevanten Denkern der Wissensgesellschaft vermissen. Die Strahlkraft der Diagnose Wissensgesellschaft reicht selbstverständlich auch über die genannten Teilbereiche hinaus und wirkt auf weitaus mehr Themen ein, als wir auswählen konnten; ein zweiter Band oder eine weitere Auflage würde beispielsweise neben Politik und Wirtschaft auch das Rechtssystem der Wissensgesellschaft berücksichtigen, Themen wie Intimbeziehungen, Zeit, Natur und – als kritische Analyseperspektive, die nicht nur implizit zur Anwendung kommt – die Exklusion in der und durch die Wissensgesellschaft aufnehmen. Die Liste kann nicht geschlossen werden, solange die Diagnose erfolgreich bleibt. Durch die gemeinsamen Anstrengungen der Autorinnen und Autoren liegt nun ein dickes und informatives Buch vor Ihnen – ein aktuelles Kompendium zentraler Theorien, relevanter Themen und drängender Probleme der Wissensgesellschaft. Für die engagierte Unterstützung in diesem Entstehungsprozess bedanken wir uns bei allen Beiträgerinnen und Beiträgern. Die Betreuung der Artikel haben die studentischen Hilfskräfte Wiebke Peters und Jonas Barth konstruktiv begleitet, für ihre Begeisterung und ihren Einsatz danken wir auch ihnen. Ebenso gilt Gero Wierichs, unserem Ansprechpartner vom transcript Verlag, unser herzlichster Dank für sein Vertrauen und für die gemeinsame Zusammenarbeit. 16
EINLEITUNG
Literatur Beck, Ulrich (1996): »Wissen oder Nicht-Wissen? Zwei Perspektiven ›reflexiver Modernisierung‹«. In: Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/ Lash, Scott (Hg.): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 289-315. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (2004): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Fischer. Bittlingmayer, Uwe (2005): »Wissensgesellschaft« als Wille und Vorstellung, Konstanz: UVK. Böschen, Stefan/Wehling, Peter (2004): Wissenschaft zwischen Folgenverantwortung und Nichtwissen. Aktuelle Perspektiven der Wissenschaftsforschung, Wiesbaden: VS Verlag. Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gamm, Gerhard (2010): »Der kluge Kopf. Unwissenheit, Ignoranz, Urteilskraft – Tabus der Wissensgesellschaft«. In: Lettre International, 89, S. 123-127. Giddens, Anthony (1997): Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York: Campus. Knoblauch, Hubert (2005): Wissenssoziologie, Konstanz: UVK. Mannheim, Karl (1964): Das Problem einer Soziologie des Wissens. In: ders.: Wissenssoziologie, Berlin/Neuwied: Luchterhand, S. 308-387. Mannheim, Karl (1980): Strukturen des Denkens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wehling, Peter (2006): Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissen, Konstanz: UVK. Willke, Helmut (2001): Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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DER I NDUSTRIE - ZUR
W ISSENSGESELLSCHAFT : F RÜHE D IAG NOSEN
1.1 Pe ter F. Drucke r: Wissensgese llschaft, w isse ns ba sierte Orga nisation und Wisse ns arbeite r JOCHEN STEINBICKER
Peter F. Drucker, 1909 bei Wien geboren und 2005 in Claremont, Kalifornien, gestorben, zählt zu den wichtigsten Management-Theoretikern des 20. Jahrhunderts und war ein Wegbereiter der modernen Managementlehre.1 Drucker arbeitete zunächst als Journalist in Frankfurt, wo er 1931 auch promovierte, um dann 1933 nach London und bald darauf in die USA auszuwandern. 1942 wurde er Professor für Politik und Philosophie am Bennington College in Vermont, 1950 wechselte er an die New York University und folgte 1971 schließlich einem Ruf an die Claremont Graduate University bei Los Angeles. Die frühen Schriften Druckers waren gesellschaftspolitisch orientiert: The End of Economic Man (1939) suchte den Aufstieg des Faschismus zu erklären und The Future of Industrial Man (1942) widmete sich der Entwicklung der Industriegesellschaft im 20. Jahrhundert. In letzterer ist jedoch das Interesse für das Management von Organisationen bereits angelegt, denn die moderne Gesellschaft, so Drucker (1942, vgl. auch 1949), sei ganz wesentlich eine Gesellschaft der großen Organisationen. Ganz in diesem Sinne begann er im folgenden Jahr eine zweijährige Feldstudie der Managementstrukturen von General Motors, seinerzeit das größte Unternehmen der Welt. Das Resultat, The Concept of the Corporation (1946) war eine Studie des Großunternehmens als einer 1
Zu Leben und Werk Druckers vgl. etwa Beatty (1998); Flaherty (1999); sowie die Dokumentation von Brem unter http://www.peterdrucker.at; zu seinem Konzept der Wissensgesellschaft ausführlicher Steinbicker 2001. 21
JOCHEN STEINBICKER
Basisinstitution der modernen Industriegesellschaft. In seinem weiteren gesellschaftsdiagnostischen Werk sollten die These von der »society of organizations« und die durch seine Tätigkeit als Unternehmensberater gewonnene intime Kenntnis der bedeutendsten Unternehmen und gemeinwohlorientierten Organisationen leitend bleiben. Ein bedeutendes Strukturproblem der großen, modernen Organisation sah Drucker schon frühzeitig darin, dass mit wachsender technischer Entwicklung, steigender Bildung und einer insgesamt komplexeren und vielschichtigeren Umwelt die Mitarbeiter einer Organisation ihren Vorgesetzten und der Unternehmensführung an Wissen und Fachkenntnis immer deutlicher überlegen wurden. Wie er 1958 in Landmarks of Tomorrow feststellt, sei das noch kaum verstandene Phänomen des massenhaften Auftretens von »knowledge workers« oder Wissensarbeitern einerseits die zentrale Herausforderung für Management, Struktur und Autoritätsbeziehungen der Organisationen, andererseits aber ein zentrales Merkmal der neuen »Gesellschaft der Organisationen«, die er hier nun auch als »educated society« charakterisiert. Die in den frühen Arbeiten entworfenen Thesen entwickelte Drucker dann 1969 mit The Age of Discontinuities folgerichtig weiter zur Diagnose der Wissensgesellschaft. Diese Diagnose sollte Drucker später wieder aufgreifen, zunächst, um sie in den Kontext der Globalisierung zu stellen – The New Realities (1989) –, dann, um sie unter dem Zeichen einer Post-capitalist Society (1993) zu aktualisieren. Druckers Konzept der Wissensgesellschaft gründet in der zentralen These, dass »Wissen zur eigentlichen Grundlage der modernen Wirtschaft und Gesellschaft und zum eigentlichen Prinzip des gesellschaftlichen Wirkens geworden ist« (Drucker 1969: 326). Im Zentrum seiner Überlegungen stehen vier Entwicklungen: (1) Zunächst zeigt sich Drucker zufolge die Entwicklung zur Wissensgesellschaft in der Entstehung neuer Technologien, neuer Produkte und neuer Industriezweige auf der Grundlage wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts – so etwa in den Bereichen der Werkstoff- oder der Informationstechnologie. Damit wird eine neue Phase »kreativer Zerstörung« und wirtschaftlicher Wachstumsdynamik eingeleitet, die jedoch nicht auf Wissenschaft und Forschung allein beruht. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Umsetzung neuer Erkenntnisse in neue Technologien und marktfähige Produkte. Um die Chancen dieser Wachstumsdynamik wahrzunehmen, ist ein im Schumpeter’schen Sinne unternehmerisches Management als Träger der »kreativen Zerstörung« gefordert. Die Aufgabe dieses unternehmerischen Managements ist die grundlegende Veränderung der Organisationsstrukturen mit dem Ziel, 22
PETER F. DRUCKER: W ISSENSGESELLSCHAFT
Innovation zu ihrem tragenden Prinzip zu machen. Das Management muss in diesem Verständnis die Belegschaft – in zunehmendem Maße Wissensarbeiter – in einer Weise führen, die sie befähigt, das Neue zu erahnen und umzusetzen, es muss eine wissens- und informationsbasierte Organisation schaffen. Schon hier wird das Zusammenspiel der drei zentralen Aspekte in Druckers Konzeption der Wissensgesellschaft deutlich: die spezialisierte Organisation, Wissensarbeiter und das Management. (2) Im eigentlichen Sinne ist die Wissensgesellschaft für Drucker jedoch als das Ergebnis einer grundlegenderen Entwicklung zu sehen: der Veränderung im gesellschaftlichen Charakter des Wissens. Traditionell, so Drucker, ist Wissen auf ›Sein‹ angewendet worden, etwa als Erlösungswissen. Mit der Moderne hingegen kommt es stufenweise zur Anwendung von Wissen auf Handeln; als symptomatisch für die Industriegesellschaft können dann zunächst Ingenieursschulen gelten, dann die Anwendung von Wissen auf Arbeit im ›scientific management‹ taylorscher Prägung, was nach Drucker den entscheidenden Beitrag zur Lösung der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts und zum Aufstieg der Arbeiter in die Mittelklasse geleistet hat. Die letzte Stufe dieser Evolution des Wissens ist dann für die Wissensgesellschaft charakteristisch: die Anwendung von Wissen auf Wissen, d.h. der Einsatz von Wissen, um relevantes Wissen auszumachen, zu generieren und um die mit der Bildungsrevolution massenhaft auftretenden »Wissensarbeiter« produktiv einzusetzen. Das Management als professionelle Führung in privaten oder staatlichen, profitorientierten oder gemeinnützigen Organisationen und Unternehmen ist der Träger dieser Anwendung von Wissen auf Wissen – es ist das »generic organ of the knowledge society« (Drucker 1993: 39). (3) Die Herausbildung der Wissensgesellschaft wird bei Drucker im Kontext eines fundamentalen Wandels der gesellschaftlichen und politischen Grundstrukturen betrachtet: In modernen Gesellschaften werden Funktionen, die traditionell etwa von der Familie, lokalen Gemeinschaften oder dem Staat ausgeübt wurden, in zunehmendem Maße von spezialisierten Organisationen übernommen (Krankenhäuser, Gewerkschaften, Schulen, Universitäten etc.). Die moderne Gesellschaft ist deshalb als eine Gesellschaft der Organisationen zu verstehen. In der Ausübung ihrer je speziellen Funktionen sind die verschiedenen Organisationen einerseits auf einen hohen Grad an Autonomie angewiesen, andererseits in zunehmendem Maße voneinander abhängig, was einen grundsätzlich pluralistischen Charakter der Gesellschaft der Organisationen und ihre zunehmende Verflechtung impliziert. An die Stelle der monistischen,
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JOCHEN STEINBICKER
auf den Staat zentrierten Gesellschaft tritt somit eine pluralistische Gesellschaft der Organisationen. (4) Schließlich steht die Herausbildung der Wissensgesellschaft im Kontext der zunehmenden globalen Integration der Wirtschaft. Bereits in The Age of Discontinuities betrachtet Drucker (1969) das Floating des Dollar, die globale Annäherung der Konsummuster durch Massenmedien und Massentourismus, transnationale Unternehmen und erste Institutionenbildungen wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds als deutliche Anzeichen einer wachsenden Internationalisierungs- und Transnationalisierungsdynamik. Dieser Aspekt steht dann im Mittelpunkt von The New Realities (1989). Deutlich wird zunächst, dass Drucker keine strikte Differenz zwischen Industrie- und Wissensgesellschaft ausmacht, sondern eher von einem allmählichen Übergang ausgeht. Es ist die Entfaltung von Tendenzen, die in der modernen Gesellschaft angelegt sind, die den Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft antreibt. Den entscheidenden Unterschied zwischen beiden sieht Drucker darin, dass Wissen nunmehr die wichtigste Ressource auch gegenüber Kapital und Arbeit sei. In The Age of Discontinuities (1969) liegt das Augenmerk in weiten Teilen auf dem Verhältnis von Wissensarbeitern und Organisation, einerseits auf der Frage, wie sich Wissensarbeit organisieren lässt, welche Anreize und Weisungsformen der Wissensarbeit angemessen sind und welche Organisationsformen Innovation befördern und nicht behindern. Andererseits diskutiert Drucker die gesellschaftliche Integration der Wissensarbeiter als grundlegendes soziales Problem, denn Wissensarbeit, so Drucker, beruht auf intrinsischer Motivation, die nur bedingt durch eine berufliche Karriere erfüllt werden kann; sein Lösungsvorschlag richtet sich auf gesellschaftliches Engagement im Dritten Sektor. In Post-capitalist Society (1993) spricht er diese Themen zwar auch an, sieht das dringlichste soziale Problem allerdings in der Klassenstruktur der Wissensgesellschaft und genauer in der Lage der Dienstleistungsklasse. Nach Drucker macht sie zwei Drittel der Gesellschaft aus, zeichnet sich im Gegensatz zur Klasse der Wissensarbeiter aber durch geringe Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen, kaum existente Aufstiegschancen und stagnierende Produktivität aus. Bestand die wichtigste Aufgabe des Managements zuvor noch darin, die Wissensarbeit produktiv zu machen, so sieht Drucker diese Aufgabe nun darin, die Dienstleistungsarbeit produktiv zu machen, um so diese soziale Frage des 21. Jahrhunderts zu lösen. Die Zentralität von Wissen in der und für die Gesellschaft hat nach Drucker jedoch nicht nur sozio-ökonomische Auswirkungen – die ver24
PETER F. DRUCKER: W ISSENSGESELLSCHAFT
änderte Stellung des Wissens bedeutet für ihn auch eine Veränderung des Wissens selbst. Inbegriff und Voraussetzung dieser neuen Zentralität ist der Bedeutungswandel »vom Selbstzweck zum Hilfsmittel, d.h. zu einem Mittel zum Zweck. [...] Wissen als die zentrale Kraft der modernen Gesellschaft liegt ganz in der Anwendung und ist dort, wo es in der Arbeit zum Einsatz kommt« (ebd.: 432). Vor allem in der Organisation der Wissensinstitutionen, den Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen, erwartet Drucker weitreichende Veränderungen, etwa die Umstrukturierung von fachorientierten Disziplinen zu anwendungsbezogenen Leistungsgebieten, die Umkehrung des Verhältnisses von reiner und angewandter Forschung oder auch eine zunehmende Verflechtung der Universitäten mit anderen Organisationen, vor allem Wirtschaftsunternehmen. Wenn Wissen zur wichtigsten Ressource wird, kann es nicht mehr die Privatangelegenheit akademischer Eliten und das Privileg einer Minderheit bleiben. Und wenn Wissenschaftler nicht selbst die Verantwortung für die Ergebnisse und Praktiken in der Forschung wie in der Lehre übernehmen, so prognostiziert Drucker, würden sie sich kaum der Einmischung von Laien erwehren können. Dass Wissen die wichtigste Ressource sei, ist heute, vierzig Jahre nach Druckers Thesen, zum Gemeinplatz geworden. Das Problem ist nach wie vor, dass diese These bei aller Plausibilität in einer solch allgemeinen Form nicht belegt werden kann. Drucker sucht sie im Sinne der Evolution von Wissen als ›Anwendung von Wissen auf Wissen‹ zu spezifizieren, eine Funktion, die bei ihm dem Management zukommt und den Blick auf die Gesellschaft der Organisationen und die Konsequenzen des Bedeutungswandels von Wissen lenkt. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Wissen und Organisation in seiner Konzeption keineswegs arbiträr, sondern intrinsisch: Die Organisation bringt Wissensarbeiter in Kooperation, das Management als ihr wichtigster Bestandteil verkörpert die Anwendung von Wissen auf Wissen und Arbeit, und insgesamt ist die Organisation für Drucker immer auch eine Organisation des Wissens. Dies ist eine Linie, die sich unschwer etwa in den Arbeiten von Helmut Willke wiederfinden lässt (siehe Strulik in diesem Band). Eine andere Linie, die heute nach wie vor von großer Bedeutung ist, verweist auf den Bedeutungswandel von Wissen im Zeichen seiner Nutzung, Anwendung und der Verflechtung seiner Institutionen mit der Welt (siehe Böschen, Wehling in diesem Band). Dabei sollte man jedoch berücksichtigen, dass Drucker seine Arbeiten nicht primär an ein akademisches Publikum gerichtet hat. Es ist insofern überraschungsfrei, auf mangelnde Belege seiner Thesen, anekdotische Argumentationen oder gar die weitgehende Ausblendung der soziologischen Fachdiskussionen hinzuwei25
JOCHEN STEINBICKER
sen. Ihm selbst geht es tatsächlich nicht darum, seine Thesen zu belegen, sondern darum, sie zuzuspitzen und so in ihrer Konsequenz greifbar zu machen. Dabei zeichnet ihn aus, dass er es zugleich versteht, die gesellschaftliche Dimension im Auge zu behalten.
Literatur Beatty, Jack (1998): The World According to Peter Drucker, New York: Free Press. Drucker, Peter F. (1939): The End of Economic Man, New York: Dax Compana. Drucker, Peter F. (1942): The Future of Industrial Man, New York: New American Library. Drucker, Peter F. (1949): The New Society, New York: Harper & Row. Drucker, Peter F. (1958): Landmarks of Tomorrow, New York: Harper & Brothers. Drucker, Peter F. (1969): The Age of Discontinuities, Heinemann: London. (Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Die Zukunft bewältigen, Düsseldorf, Wien: Econ, 1969.) Drucker, Peter F. (1993): Post-Capitalist Society, Oxford: ButterworthHeinemann. Flaherty, John E. (1999): Peter Drucker: Shaping the Managerial Mind, San Francisco: Jossey-Bass. Steinbicker, Jochen (2001): Zur Theorie der Informationsgesellschaft, Opladen: Leske + Budrich.
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1 .2 Da niel Bell: Die post-industrielle Gese lls c haft als Wiss e ns gese llsc haft JOCHEN STEINBICKER
Nur wenige Werke haben die Diskussion um die Zukunft der Industriegesellschaft derart nachhaltig geprägt wie Daniel Bells The Coming of Post-industrial Society (1976a; siehe auch schon 1964; 1967). Bell, 1919 in New York City geboren, gehört zu den wichtigsten Intellektuellen und bekanntesten US-amerikanischen Soziologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.1 Nach einem sozialwissenschaftlichen Studium am City College of New York arbeitete Bell zunächst als Journalist und promovierte dann 1960 an der Columbia University. Hier sollte er bis Ende der 1960er Jahre lehren, um dann einem Ruf nach Harvard zu folgen. Das bestimmende Motiv in Bells Arbeiten ist die Zukunft der modernen Gesellschaft. Seine drei bekanntesten Veröffentlichungen behandeln Veränderungen in Politik, Sozialstruktur und Kultur: The End of Ideology (1960) ist der Transformation und den neuen Konflikten der politischen Sphäre gewidmet, The Cultural Contradictions of Capitalism (1976b) hat desintegrative Tendenzen der kulturellen Sphäre zum Thema und The Coming of Post-industrial Society (1976a) schließlich betrachtet den grundlegenden Wandel in der sozio-ökonomischen Sphäre hin zu einer post-industriellen Wissensgesellschaft, der sich für Bell seit den 1960er Jahren vor allem in der Expansion des Dienstleistungssektors und in der zunehmenden Bedeutung theoretischen Wissens in Wirt1
Zu Leben und Werk Bells vgl. Waters 1996; zu seinem Konzept der postindustriellen Wissens- und Informationsgesellschaft vgl. Steinbicker 2001: 49ff. 27
JOCHEN STEINBICKER
schaft, Technologie und Politik abzeichnet. In späteren Arbeiten ab Ende der 1970er Jahre sollte sich Bell (1980; 1989; 1998) stärker der technischen Entwicklung zuwenden und in diesem Sinne sein Konzept der post-industriellen Gesellschaft als technisch bestimmte Informationsgesellschaft reformulieren. Das Bemerkenswerte der Herangehensweise an das Konzept der post-industriellen oder eben Wissensgesellschaft besteht in zwei Dingen: Bell versucht erstens, die sich abzeichnenden Veränderungen anhand eines »logischen Konstrukts« zu erfassen – als ob sich die am Beispiel der USA beobachteten Tendenzen und Entwicklungen einer inhärenten Logik gemäß vollendeten. Zweitens entwickelt er ein Deutungsmuster, das sich als paradigmatisch erweisen sollte. Wie schon angedeutet, geht Bell von einer analytischen Differenzierung zwischen den Sphären der Politik, der Kultur und der Sozialstruktur aus – letztere umfasst Beschäftigungsstruktur, Wirtschaft und Technologie. Diese Sphären betrachtet er als autonom und durch je eigene Leit- oder Axialprinzipien charakterisiert. Innerhalb der Sozialstruktur differenziert er zwischen den beiden unabhängigen Achsen der Produktionsverhältnisse (Eigentumsverhältnisse) und der Entwicklung der Produktivkräfte (Technologie). Aus dieser Perspektive kann eine Gesellschaft etwa ihren Produktivkräften nach als industriell gelten, ohne dass dadurch schon feststehen würde, ob sie ihren Eigentumsverhältnissen nach etwa sozialistisch oder kapitalistisch ist. Auf dieser Basis stellt Bell dem Marx’schen Entwicklungsschema von feudal über kapitalistisch zu sozialistisch einen Entwicklungspfad gegenüber, welcher der Entwicklung der Produktivkräfte von traditionell (prä-industriell) über industriell zu post-industriell folgt. Bell (1976a: 14ff.) beschreibt die post-industrielle Gesellschaft anhand von fünf Dimensionen: • Wirtschaftssektor: ein sozioökonomischer Wandel von Güterproduktion zu Dienstleistungen als vorherrschender wirtschaftlicher Aktivität; • Beschäftigungsstruktur: ein Rückgang der Industriearbeiterschaft und die wachsende Bedeutung von Berufen, die tertiäre Bildung erfordern, mithin die Kategorie der technischen, professionellen und administrativen Berufe; • Axialprinzip: die zentrale Stellung theoretischen Wissens, das zur Grundlage von technischer Entwicklung, wirtschaftlichem Wachstum, Politikberatung und sozialer Schichtung avanciere; • Zeitperspektive: eine bewusstere Zukunftsorientierung in der Projektion und Planung der technologischen Entwicklung, welche zentrale Bedeutung für das Wirtschaftswachstum habe, aber auch ungewollte Konsequenzen, Externalitäten und soziale Kosten produziere; 28
DANIEL BELL: POST-INDUSTRIELLE GESELLSCHAFT ALS W ISSENSGESELLSCHAFT
•
Technologie: die Heraufkunft einer »intellektuellen Technologie«, die an die Seite der Maschinentechnologie trete und auf der Basis von Algorithmen und Modellen arbeite. Sie diene beispielsweise zur rationalen Entscheidungsfindung bei komplexen Problemen, sei die Grundlage von Software (z.B. Expertensysteme) und nutze als wichtigstes Hilfsmittel den Computer.
Ein Großteil von The Coming of Post-industrial Society ist der eingehenden, weithin auch empirischen Analyse dieser Dimensionen und ihrer Implikationen gewidmet – um nur ein Beispiel zu nennen etwa auch die Auswirkungen der sozialstrukturellen Veränderungen auf die Rolle der Gewerkschaften. In synthetischer Absicht sucht Bell (1976a: 112ff.) die Bedeutung dieser Veränderungen durch eine schematische Gegenüberstellung mit traditionellen und industriellen Gesellschaften zu verdeutlichen. Gleicht die traditionelle Gesellschaft einem »Spiel gegen die Natur«, bei dem die Menschen ihr Leben in Auseinandersetzung mit der Natur und auf der Basis von Tradition und Überlieferung fristen, so lässt sich die industrielle Gesellschaft nach Bell als »Spiel gegen die technisierte Natur« charakterisieren, das durch die Koordination von Menschen und Maschinen zur Produktion von Gütern bestimmt ist. Im Mittelpunkt der postindustriellen Gesellschaft stehen theoretisches Wissen und Beziehungen zwischen Menschen, sie ist ein »Spiel zwischen Personen«: Das Wirtschaftswachstum werde zunehmend durch Forschung, Wissenschaft und technologische Entwicklung bestimmt; Büro, Schule, oder Sprechzimmer treten an die Stelle der Fabrik als typische Stätte der Arbeit; und der Wissenschaftler tritt an die Stelle des kapitalistischen Unternehmers als ihrer charakteristischen Figur. Lebensqualität werde nicht länger an der schieren Quantität konsumierter Güter gemessen, sondern an den Annehmlichkeiten und immateriellen Werten von Bildung, Gesundheit oder Kultur. Doch will Bell diese Gegenüberstellung nicht so verstanden wissen, dass die post-industrielle Gesellschaft die industrielle Gesellschaft einfach ablöse; gleich einem Palimpsest, so Bell, lagern sich die verschiedenen Schichten übereinander. Der Begriff post-industrielle Gesellschaft ist rein negativ bestimmt, eben durch das Präfix »post«, das die Differenz und die Ablösung der industriellen Gesellschaft markiert. Im Sinne einer positiven Bestimmung verwendet Bell verschiedene Begriffe, vor allem Dienstleistungs-, Wissens-, Informationsgesellschaft und kommunale Gesellschaft. Ausgehend vom maßgeblichen Wirtschaftssektor erscheint die post-industrielle Gesellschaft als eine Dienstleistungsgesellschaft. Von ihrem Axialprinzip und damit von der differentia specifica gegenüber der Industrie29
JOCHEN STEINBICKER
gesellschaft her betrachtet, stellt sich die postindustrielle Gesellschaft für Bell als Wissensgesellschaft dar, in der theoretisches Wissen die zentrale Stellung einnimmt und Universitäten und Forschungsinstitute als axiale Institutionen gelten können. Entscheidend ist dabei weniger, dass die Gesellschaft auf Wissen basiert, ein Umstand, der ebenso für andere Gesellschaftstypen gilt, sondern die zentrale Stellung theoretischen Wissens, das Vorherrschen von Theorie über Praxis und die Kodifizierung theoretischen Wissens in abstrakten Symbolsystemen (vgl. Bell 1976a: 17ff., 165ff.). Solchermaßen kodifiziertes theoretisches Wissen würde zu einer strategischen Ressource, zur Basis wirtschaftlicher Wertschöpfung (Technologie, Forschung und Entwicklung) wie politischer Entscheidungsprozesse (etwa makroökonomische Wirtschaftssteuerung). Im Verbund mit der neuen »intellektuellen Technologie« erwachsen Bell zufolge hier Möglichkeiten des Managements organisierter Komplexität. In der Beschäftigungsstruktur spiegelt sich diese Entwicklung in der zunehmenden Bedeutung administrativer, professioneller und technischer Berufe und das klassische, auf Besitz gründende Unternehmertum weicht zunehmend einem professionellen Management. Die zentrale Stellung theoretischen Wissens in Wirtschaft, Politik und Beschäftigungsstruktur führt schließlich auch zu einem Wandel von Schichtung und Macht, hin zu einem meritokratischen Schichtungssystem und einer Machtstruktur, in der die »Wissensklasse« zwar die wichtigste Statusgruppe, aber aufgrund funktionaler und struktureller interner Differenzierung etwa in verschiedene Tätigkeits- und Funktionsbereiche (»situs«) nicht die Position einer herrschenden Klasse einnimmt. Der Bedeutungsgehalt der Wissensgesellschaft geht bei Bell schon an diesem Punkt deutlich über die techno-ökonomische Sphäre bzw. die Achse der Produktivkräfte hinaus und betrifft ebenso die Produktionsverhältnisse und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Darüber hinaus steht für Bell die post-industrielle Wissensgesellschaft im Zeichen grundlegender Veränderungen in der politischen und kulturellen Sphäre, dies vor allem im Hinblick auf drei Faktoren: auf der normativen Ebene, erstens, ein Wertwandel mit einem begleitenden Wandel der Konsummuster hin zu einer stärkeren Betonung der Lebensqualität und einer wachsenden Nachfrage nach den »post-industriellen Dienstleistungen« des Non-Profit-Sektors (Bildung, Gesundheit, Freizeitgestaltung); auf der Ebene der gesellschaftlichen Problemlagen, zweitens, Externalitäten und soziale Kosten der technischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung einerseits, die Abhängigkeit des Wirtschaftswachstums von Innovation, Forschung und Entwicklung, aber vor allem Grundlagenforschung andererseits; und auf der Ebene staatlichen Handelns, drittens, politische Entscheidungsfindung und die Gestaltung von Politik auf der 30
DANIEL BELL: POST-INDUSTRIELLE GESELLSCHAFT ALS W ISSENSGESELLSCHAFT
Grundlage kodifizierten theoretischen Wissens und mit Hilfe der neuen »intellektuellen Technologie« (vgl. Bell 1976a: 127f., 246ff., 302ff., passim) . Die ungewollten Folgen technischen Fortschritts, die ausgeprägte Abhängigkeit der Wirtschaft von der technologischen Entwicklung wie auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Externalitäten und sozialen Kosten macht laut Bell die Regulation, Planung und Projektion der technischen Entwicklung zu einer unumgehbaren Aufgabe. Die Sicht auf das kapitalistische Unternehmen habe sich gewandelt, es werde zunehmend nicht nur Profitabilität erwartet, sondern auch die Inklusion und die Stärkung der Rechte von Minderheiten, Frauen und marginalisierten Gruppen sowie soziales Engagement. Der Non-Profit-Sektor im Bereich der »post-industriellen Dienstleistungen« von Gesundheit, Bildung und Forschung expandiert und in vielen, etwa forschungsintensiven Bereichen entstehen unterschiedlichste Formen öffentlich-privatwirtschaftlicher Kooperationen. Zugleich vermutet Bell, dass in zunehmendem Maße die individuelle Zurechnung von Nutzen und Kosten im Sinne des economizing mode der Industriegesellschaft den gesellschaftlichen Problemen und Aufgaben nicht mehr gerecht würden und im Sinne Durkheim (1973) der industriellen Wirtschaft ein Mittel der Regulation fehle. Aus diesen Überlegungen heraus erwartet er eine tendenzielle Unterordnung des Unternehmens – als dem Sitz des Kontrollsystems in der industriellen Gesellschaft und als ihre Axialstruktur – unter gesellschaftliche Belange, unter kollektive Konzeptionen des Gemeinwohls und unter das öffentliche Interesse. Das Kontrollsystem, so Bell, gehe langsam, aber stetig von der wirtschaftlichen Sphäre auf die politische Sphäre über. Damit impliziert Bell jedoch alles andere als eine harmonisch ausbalancierte neue Ordnung oder eine Herrschaft der Technokratie. Denn für Bell ist ausgemacht, dass die Substitution politischer Entscheidungsfindung durch technokratisches Kalkül unmöglich ist; vielmehr werde in der post-industriellen Gesellschaft der politische Charakter, die Wertgebundenheit von Entscheidungen offenkundig. Hier wie in den internen Spaltungslinien der »Wissensklasse«, Konflikten um neue Ungleichheiten und die Infragestellung der Legitimität der Meritokratie zeigt sich die post-industrielle Wissensgesellschaft mit Bell wiederum als »Spiel zwischen Personen«, das sich nicht in wissenschaftlicher Erkenntnis oder technischer Beherrschbarkeit gründen lässt. Aus heutiger Sicht ist Bells Analyse und Konzeptualisierung der post-industriellen Wissensgesellschaft wegweisend und voller bemerkenswerter Einsichten. Das zeigt sich etwa an ihrer Anschlussfähigkeit an die Thematik der Risikogesellschaft (siehe Wilde in diesem Band und das Vorwort in Bell 1985) oder im Werk von Nico Stehr (siehe Adolf in 31
JOCHEN STEINBICKER
diesem Band), der immer wieder Überlegungen von Bell aufgreift. Zugleich ist sie – trotz oder wegen der entsprechenden Arriviertheit – von begrifflichen und konzeptuellen Unschärfen, Ambivalenzen und Widersprüchen gezeichnet, die in der umfangreichen kritischen und Sekundärliteratur immer wieder hervorgehoben wurden (vgl. Steinbicker 2001: 69ff.). Konzeptuell lassen sich drei entscheidende Kritikpunkte nennen: erstens, eine mangelnde Differenzierung von Idealtyp und Realtyp, denn der Status des Konzepts der post-industriellen Gesellschaft changiert zwischen dem eines forecast, der Analyse eines empirischen Wandels und der als ob-Konstruktion eines Idealtyps; zweitens, das ungeklärte Verhältnis zwischen den drei Sphären Politik, Kultur und Sozialstruktur, die als analytisch distinkt präsentiert werden, in der Analyse jedoch fließend ineinander übergehen; und drittens, das Verhältnis zwischen postindustrieller Gesellschaft und kapitalistischer Gesellschaft, denn letztlich scheint sich Bells post-industrielle Wissensgesellschaft vom Kapitalismus zu verabschieden (vgl. Steinbicker 2001: 75ff.). Die abschließende Einschätzung muss insofern ambivalent bleiben, denn trotz der starken und wohlbegründeten Kritik besticht Bells Arbeit eben auch durch die Vielschichtigkeit der Analyse und die Reflektiertheit der grundlegenden analytischen und konzeptuellen Entscheidungen.
Literatur Bell, Daniel (1960): The End of Ideology, Glencoe/IL: Free Press. Bell, Daniel (1964): »The Post-Industrial Society«. In: Ginzberg, E. (Hg.), Technology and Social Change, New York: Columbia University Press, S. 44–59. Bell, Daniel (1967): »Notes on the Post-industrial Society«. The Public Interest 7: 24-35; S. 102–118. Bell, Daniel (1976a): The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting, 2. Auflage mit neuem Vorwort, New York: Basic Books. Bell, Daniel (1976b): The Cultural Contradictions of Capitalism, New York: Basic Books. Bell, Daniel (1980): »The Social Framework of the Information Society«. In: Tom Forester (Hg.), The Microelectronics Revolution, Oxford: Basil Blackwell, S. 500–549. Bell, Daniel (1985): Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York: Campus. Bell, Daniel (1989): »The Third Technological Revolution and Its Possible Socioeconomic Consequences«. Dissent 36, S. 164–176. 32
DANIEL BELL: POST-INDUSTRIELLE GESELLSCHAFT ALS W ISSENSGESELLSCHAFT
Bell, Daniel (1998): »The Internet and the Trajectory of Technologies«. The Tocqueville Review 19, S. 111–125. Durkheim, Emile (1973): Der Selbstmord. Neuwied/Berlin: Luchterhand. Steinbicker, Jochen (2001): Zur Theorie der Informationsgesellschaft, Opladen: Leske + Budrich. Waters, Malcolm (1996): Daniel Bell, London: Routledge.
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1 .3 Ulric h Beck : Die Risik oge sellsc haft a ls We gbereite r de r Wiss e ns gese lls c haft? JESSICA WILDE
Hinter dem Stichwort ›Risikogesellschaft‹ verbirgt sich die Mitte der 80er Jahre zur Prominenz gelangte Zeitdiagnose des deutschen Soziologen Ulrich Beck (1986). ›Risiko‹ – und nicht ›Wissen‹ – ist der zentrale Begriff, an dem Beck seine Gegenwartsbeschreibung festmacht, indem er die westlichen Industrienationen als Gesellschaften analysiert, die sich über die mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt mitproduzierten Nebenfolgen zunehmend selbst gefährden. Auch wenn es sich bei Beck also nicht um einen direkten oder gar initialen Stichwortgeber für die Vertreter des Konzepts der ›Wissensgesellschaft‹ handelt, lassen sich gleichwohl klare Verbindungslinien zwischen beiden Zeitdiagnosen ziehen. Ein kurzer Blick in sein Werk ergibt, dass Wissen und Wissenschaft auch bei Beck zu zentralen Kategorien der Gesellschaftsanalyse avancieren und mit seiner Theorie der reflexiven Modernisierung eine gesellschaftstheoretische Rahmung erfahren (vgl. Schroer 2009). Im folgenden Beitrag soll daher rekonstruiert werden, inwiefern bereits in der ›Risikogesellschaft‹ aktuelle Trends anhand der Kategorie des Wissens aufgeschlüsselt werden, so dass von Beck als einem der frühen Vertreter der Zeitdiagnose »Wissensgesellschaft« gesprochen werden kann.
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JESSICA W ILDE
Von der Industriegesellschaft auf dem Weg in e i n e a n d e r e M od e r n e Das zeitdiagnostische Werk von Ulrich Beck ist von dem Anspruch durchdrungen, durch begriffliche und kategoriale Neubildungen »gegen die noch vorherrschende Vergangenheit die sich heute schon abzeichnende Zukunft ins Blickfeld zu heben« (Beck 1986: 12, Hervorh. i. O.). Becks Zielsetzung ist es, gegen die herkömmlichen Denkgewohnheiten der klassischen Soziologie überhaupt erst durchzusetzen, was von Theoretikern der Wissensgesellschaft fast schon als selbstverständlich vorausgesetzt wird: die Idee eines gesellschaftlichen Gestaltwandels innerhalb der Moderne, der das soziologische Modell der Industriegesellschaft als hoffnungslos veraltet erscheinen lässt. Gegen den Mythos, die Industriegesellschaft mit ihren Institutionen, ihrem Wissenschafts- und Technikverständnis und ihrer Fortschrittsgläubigkeit sei der »Gipfelpunkt der Moderne« (ebd.: 15), gelte es die Einsicht durchzusetzen, dass sich die westlichen Wohlstandsgesellschaften seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert grundlegend transformieren und sich auf dem Weg in eine »andere« (ebd.: 7), eine »zweite Moderne« (ders. 1996a: 27) befinden, die Gestalt der industriellen »ersten« Moderne hinter sich lassend. Die theoretische Leitidee, mit der er diesen Wandel zu beschreiben sucht, ist die der »reflexiven Modernisierung« (Beck 1996a; 1997: 57ff). Als allgemeine Sozialtheorie, zu der Beck seine zeitdiagnostischen Aussagen sukzessive ausgebaut hat, stellt die Theorie der reflexiven Modernisierung einen Rahmen zu Verfügung, in den sich die Thesen des Wissensgesellschaftstheorems in expliziter Anknüpfung an Beck einbetten lassen (vgl. Böschen/Schulz-Schaeffer 2003). Ihr zu Grunde liegt die Argumentationsfigur, dass sich die Auflösung der Industriemoderne nicht etwa in Folge eines Versagens moderner Institutionen ereignet, sondern in der Kontinuität von Modernisierung begründet liegt. Die Moderne wird aus den Konturen der klassischen Industriegesellschaft herausgelöst, weil diese ihre eigenen Grundlagen durchmodernisiert: Modernisierung geht in die Selbstanwendung, »trifft nun auf sich selbst in ihren industriegesellschaftlichen Prämissen und Funktionsprinzipien« (Beck 1986: 14, Hervorh. i.O.) und wird in diesem Sinne »reflexiv«. Dieser selbstlaufende Prozess der »Veränderung des industriegesellschaftlichen Rahmens von Modernisierung durch Modernisierung« (ders. 1997: 63, Hervorh. i.O.) führt dabei zu einem umfassenden Strukturwandel: klassenspezifische Lebenslagen, industriegesellschaftliche Formen der Arbeit und die Struktur der bürgerlichen Kleinfamilie werden individualisiert, entstandardisiert und enttraditionalisiert (ders. 1986: 121ff). 36
ULRICH BECK: RISIKOGESELLSCHAFT ALS W EGBEREITER
Mit der Selbstanwendung von Modernisierung geht darüber hinaus eine veränderte Reflexionsform moderner Gesellschaften einher. Ging es der ersten Moderne noch um die Entzauberung der Natur, die Säkularisierung religiöser Weltbilder und die Abschaffung ständischer Privilegien, werden im Stadium der zweiten Moderne die »Fixsterne« (ebd.: 14) industriegesellschaftlicher Modernisierung zum Thema und Problem. Entzaubert und kritisch hinterfragt werden nicht nur der Technikund Fortschrittsoptimismus der Moderne und das Rationalitäts- und Wahrheitsmonopol moderner Wissenschaften, sondern auch das bisher allen Zweifeln enthobene Strukturprinzip moderner Gesellschaften schlechthin: das Prinzip der funktionalen Differenzierung in autonome Teilsysteme, die über die arbeitsteilige Steigerung systemspezifischer Zweckrationalität die Anpassungs- und Leistungsfähigkeit der Gesellschaft gewährleisten sollen (ders. 1997: 73; 1996a: 40f, 1986: 14f). Die Theorie der reflexiven Modernisierung zielt demnach auf zweierlei: auf den reflexartig, weil ungewollt und verselbstständigt ablaufenden Modernisierungsprozess auf der einen und auf die Selbstreflexion der Modernisierung auf der anderen Seite. Beide Aspekte finden sich erstmals in der 1986 erschienen »Risikogesellschaft« als Analysekonzept ausgearbeitet und es gilt zu prüfen, inwiefern bereits diese mittlerweile »›in die Jahre gekommene‹ Zeitdiagnose« (Hitzler 2005: 268f) mit Wissen als Analysekategorie den Blick für die Gegenwart zu schärfen versucht.
Die Risikogesellschaft: Reflexivität und Reflexion der wissenschaftlich-technischen Industrialisierung Die »Risikogesellschaft« ist ein erster inhaltlicher Bestimmungsversuch der neuartigen Gesellschaftsformation, die die Industriegesellschaft abzulösen beginnt. Was ist und wie entsteht nun die Risikogesellschaft? Die industrielle Moderne hat ein Niveau wissenschaftlich-technischer Produktivkräfte hervorgebracht, die gesellschaftlich produzierte Risiken und Selbstbedrohungspotentiale in bisher unbekanntem Maß freisetzen. Unter diesen Bedingungen vollzieht sich Modernisierung nicht mehr auf der Grundlage des Anspruchs, die wissenschaftlich-technische Entwicklung als Quelle gesellschaftlichen Reichtums nutzbar zu machen, sondern es sind die Folgeprobleme industrieller Modernisierung, also die mit der technisch-ökonomischen Entwicklung systematisch mitproduzierten Nebenfolgen, die die moderne Gesellschaft mit ihren eigenen Grundlagen konfrontieren. Reflexivität von Modernisierung tritt hier als der verselbstständigte, folgenblinde Selbstlauf der industriellen Neue37
JESSICA W ILDE
rungsdynamik in Erscheinung, dessen Folgen »über die Hintertreppe der Nebenfolge« (Beck 1986: 15, Hervorh. i. O.) auf die moderne Gesellschaft zurückwirken. Über die öffentliche Thematisierung von Modernisierungsrisiken ziehen Nebenfolgen Konsequenzen für das Selbstverständnis der modernen Gesellschaft nach sich: Werden die Ursachen der Selbstgefährdung als den Strukturen der Industriegesellschaft inhärent erkannt und anerkannt, schlagen Risiken nach Art eines »Bumerang-Effekts« (ebd.: 48) auf die Funktionssysteme zurück und unterhöhlen deren Legitimität. Die ehemals noch als Forschrittsinstanzen gefeierten »Modernisierungsagenten« (Wirtschaft, Wissenschaft, Technik) werden nun in den »unbequemen Zustand eines leugnenden Angeklagten« versetzt (ebd.: 68). In der Konsequenz entsteht eine Gesellschaft, die sich als »Risikogesellschaft« beschreibt und reflektiert. Die altbekannten Instrumente der wissenschaftlich-technischen Entwicklung – also die Bearbeitung von Problemen mit mehr Wissen und mehr Technik – werden auf ihre Tauglichkeit hin befragt, mit den Modernisierungsrisiken angemessen umzugehen. Die Institutionen der modernen Industriegesellschaft öffnen sich in der Folge der politischen Entscheidung, werden als kontingent und der Umgestaltung zugänglich erfahren (ders. 1996a: 42ff). Damit sieht Beck den Weg offen für die Herausbildung einer anderen Moderne, die die »Politik des industriellen Weiter-So« (ebd.: 38) durch das Auswechseln des Operationsmodus hinter sich lässt und somit »Selbstbegrenzung« zu üben weiß (ders. 1986: 313). Jenseits der zeitdiagnostischen Aussagen zur Risikogesellschaft bleibt die zweite Moderne zu diesem frühen Zeitpunkt jedoch noch relativ unbestimmt. Beck selbst formuliert den Anspruch seiner Zeitdiagnose im Vorwort zur »Risikogesellschaft« entsprechend vorsichtig: Als ein »Stück empirisch orientierter, projektiver Gesellschaftstheorie« (ebd.: 13) will er einen Blick »auf die Spitzen der Zukunft« werfen, die zwar schon »von allen Seiten in den Horizont der Gegenwart hineinragen« (ebd.), deren genaue Konturen es aber erst noch begrifflich und kategorial zu erfassen gilt. Eine dieser Spitzen nimmt er jedoch schon relativ klar und deutlich vorweg: Ohne die zweite Moderne als eine Wissensgesellschaft zu benennen, rückt Wissen in der »Risikogesellschaft« als Analysekategorie an vorderste Stelle und übernimmt mehrere Hauptrollen bei der Reorganisation moderner Gesellschaften.
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ULRICH BECK: RISIKOGESELLSCHAFT ALS W EGBEREITER
Zur politischen Bedeutung des Wissens in der Risikogesellschaft Wissen erfährt in der reflexiven Moderne in vielerlei Hinsicht einen Bedeutungszuwachs und hat bei der Gegenüberstellung von Betroffenheitslagen in Industrie- und Risikomoderne seinen ersten Auftritt: Während die Gefahren der Industriegesellschaft noch persönlich erfahrbar waren (wie zum Beispiel ein Unfall am Arbeitsplatz), ist die zentrale Eigenschaft von Zivilisationsrisiken ihre »Ungreifbarkeit« (Beck 1986: 68): Risikogesellschaftliche Gefährdungslagen sind in der Regel nicht sinnlich wahrnehmbar (wie zum Beispiel der Giftgehalt in Nahrungsmitteln) und stellen sich erst im Wissen um Modernisierungsfolgen in Form von chemischen Formeln, Messverfahren und statistischen Erhebungen her (ebd.: 29f, 68ff). Kennzeichen der Risikogesellschaft ist also nicht nur ihre »Wissensabhängigkeit« (ebd.: 35), sondern auch eine enorme »Wissenschaftsexpansion« (ebd.: 255, Hervorh. i. O.), da die Wissenschaft sowohl Mitverursacher als auch Lösungsquelle und Definitionsmedium von Risiken ist. Reflexive Modernisierung geht also mit einer umfassenden »reflexiven Verwissenschaftlichung« (ebd.: 254f) der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung einher. Damit zusammen hängt der zweite Auftritt von Wissen als neue gesellschaftliche Strukturkategorie: Die Wissensabhängigkeit von Betroffenheit konstituiert nach Beck einen zentralen Unterschied zum Paradigma sozialer Ungleichheit in der Industriegesellschaft, das noch von materiellen Notlagen im Sinne von Klassenlagen ausging: »In Klassenlagen bestimmt das Sein das Bewußtsein, in Risikolagen umgekehrt das Bewußtsein (Wissen) das Sein« (1986: 70). Wissen avanciert somit zur neuen Schlüsselkategorie für eine risikogesellschaftliche Sozialstrukturanalyse, da durch die Ungleichverteilung von Wissen um Risiken neue Ungleichheits- bzw. Betroffenheitslagen konstituiert werden. Die politische Bedeutung von Wissen in der Risikomoderne ist jedoch nicht nur dieser Verschränkung von Lebenslagen und Wissensproduktion geschuldet. Vielmehr steht und fällt die kritische Reflexion des Industrialisierungsprozesses mit der Konstruktion von »NebenfolgenWissen« (1996b: 310), das die modernen Institutionen in einen sozialen Verantwortungszusammenhang stellt, weshalb Beck auch von einer »politischen Wissenstheorie der Risikogesellschaft« spricht (1986: 67; Hervorh. J.W.), die eine Analyse der »Wissensamalgame und Wissensakteure in ihrem konfliktvollen Ineinander und Gegeneinander« (ebd.: 72) zu leisten hat. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Risiken erst in ihrer »sozial anerkannten« Form (ebd.: 31), d.h. durch Wissen konstituiert, öffentlich thematisiert und ursächlich dem Industrialisierungspro39
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zess zugerechnet, Rückwirkungen in der Gesellschaft nach sich ziehen, hängt die Dynamik der Reflexivität von Modernisierung wesentlich von dem Wissen um Risiken ab: Wissen wird somit zum Motor, zum »›Medium‹ reflexiver Modernisierung« (1996b: 298) und hat als dynamisierender Faktor gesellschaftlicher Entwicklung seinen dritten Auftritt.
Eine »(Nicht-)Wissenstheorie der Nebenfolge« Beck grenzt sich mit der Bestimmung der politischen Bedeutung von Nebenfolgenwissen von Konzepten der Informations-, Wissenschafts-, und Expertengesellschaft ab, die seiner Meinung nach in naiver Weise einem linearen Rationalisierungsmodell und somit dem Fortschrittsoptimismus huldigen (Beck 1996b: 289ff). Das Modell einer »linearen Wissens-Rationalisierung« (ebd.: 290), das auf den Einsatz von Technik und die expertenvermittelte Restrukturierung sozialer Strukturen und Institutionen als Lösungsrezept für Modernisierungsprobleme setzt, kritisiert er mit dem Hinweis, dass auch diese Wissenschafts- und Expertengesellschaft eine »Größer-, Schneller-, Mehr-Moderne« ist, die »durch und durch infarktgefährdet« ist (ebd.: 313). Dem entgegen stellt Beck daher seine »Wissenstheorie der Nebenfolge« (ebd.: 298ff), die zu einer anderen Einschätzung der Rolle von Wissen und Wissenschaft in der Gegenwartsgesellschaft kommt. Nicht nur wird auf Grund des politischen Stellenwerts von Risiken die Wissenschaft ihrer Monopolstellung bezüglich der Produktion von Nebenfolgenwissen beraubt und muss mit anderen Akteuren (Politik, Wirtschaft, soziale Bewegungen) um Definitionsmacht konkurrieren – ein Phänomen der Entgrenzung von Wissenschaft, das als zentrales Definitionsmerkmal der Wissensgesellschaft aufgegriffen werden wird. Vielmehr verändert das Wissen auch seine Qualität: Bei Nebenfolgenwissen handelt es sich im Grunde um ungesichertes, stets Anfechtungen ausgeliefertes »Nicht-Wissen« (Beck 1996b: 300ff). Risikowissen ist keine Frage des Noch-nicht-Wissens, das durch weitere Forschung innerhalb des Wissenschaftsbetriebes bearbeitet werden kann, wie es die lineare Modernisierungstheorie suggeriert (ebd.: 306f). Stattdessen betont Beck den Aspekt des »Nicht-Wissen-Könnens« und »Nicht-Wissen-Wollens« (ebd.: 302) im Zusammenhang mit Zivilisationsrisiken, die mit Ungewissheiten, Verdrängung und Leugnung verbunden sind. Beck nimmt hier einen zentralen Hinweis des Wissensgesellschaftstheorems vorweg, nämlich dass Verwissenschaftlichung immer auch Nicht-Wissen als die andere Seite derselben Medaille mitproduziert (vgl. Wehling 2003 und den Beitrag von Wehling in diesem Band). Becks zweite Moderne ist in 40
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dieser Perspektive nicht eine durch das Wissen von Experten gesteuerte Gesellschaft, sondern ein die Wissenschaft übergreifendes Konfliktfeld, in dem eine Vielzahl von Rationalitätsansprüchen unterschiedlichster Akteure aufeinander treffen und Wissenskonflikte um Risikodefinitionen austragen (ebd.: 298f). Die Konsequenz dieser Entwicklung: Nicht mehr Wissen und dadurch mehr Sicherheit, sondern Unsicherheit auf Grund der Pluralisierung von (wissenschaftlichen) Deutungsangeboten. Was auch immer Wissensmodernisierung verspricht – Beck rät hier zur Vorsicht mit dem Hinweis, dass es zunehmend unmöglich sein wird, Entscheidungen auf der Basis von gesichertem Wissen zu treffen. Die reflexiv-moderne Gesellschaft ist demnach weniger eine Wissens-, als vielmehr eine »Nichtwissens-Gesellschaft« (Lau/Böschen 2003: 227).
Die Risikogesellschaft als Wegbereiter der Wissensgesellschaft? Auch wenn Beck nicht explizit die zweite Moderne als Wissensgesellschaft konzipierte, so lässt sich doch Folgendes festhalten: Beck eröffnet mit seinem Frühwerk eine Vielzahl von Forschungsperspektiven, deren Fäden durch die Zeitdiagnose Wissensgesellschaft wieder aufgegriffen werden. So findet man bereits bei Beck die Diagnose eines sich in sämtlichen gesellschaftlichen Sphären bemerkbar machenden Strukturwandels, der andere als die herkömmlichen Analysekategorien erfordert. Wissen als eine solche Analysekategorie rückt dabei in den Vordergrund: Von der (kritischen) Reflexion der technokratischen Version einer Informationsoder Expertengesellschaft, über politische Konflikte um wissenschaftliches erzeugtes (Nebenfolgen-)Wissen, das zu einem dynamisierenden Faktor gesellschaftlicher Entwicklung wird, bis hin zu Hinweisen auf eine durch Ungleichverteilung von Wissen bedingte neue soziale Ungleichheit – bereits bei Beck scheint somit gegeben, was als zentrale Eigenschaft der Zeitdiagnose Wissensgesellschaft angesehen werden kann: Wissen wird in der zweiten Moderne zum Kern der Gesellschaftsstruktur und des sozialen Wandels. Die »Risikogesellschaft« kann daher durchaus als eine Frühform – wenn nicht sogar als eine Geburtshelferin – der Zeitdiagnose »Wissensgesellschaft« betrachtet werden.
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Literatur Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich (1996a): »Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne«. In: Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (Hg.): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 19-112. Beck, Ulrich (1996b): »Wissen oder Nicht-Wissen? Zwei Perspektiven ›reflexiver Modernisierung‹«. In: Beck, Ulrich et al. (Hg.): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 289-315. Beck, Ulrich (1997): Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Böschen, Stefan/Schulz-Schaeffer, Ingo (Hg.) (2003): Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Hitzler, Ronald (2005): »Ulrich Beck«. In: Kaesler, Dirk (Hg.): Aktuelle Theorien der Soziologie. Von Shmuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne. München: C.H. Beck, S. 267-285. Lau, Christoph/Böschen, Stefan (2003): »Wissensgesellschaft und reflexive Modernisierung«. In: Böschen, Stefan/Schulz-Schaeffer, Ingo (Hg.): Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 220-235. Schroer, Markus (2009): »Theorie Reflexiver Modernisierung«. In: Kneer, Georg/Schroer, Markus (Hg.): Handbuch Soziologische Theorien. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft, S. 491-515. Wehling, Peter (2003): »Die Schattenseite der Verwissenschaftlichung. Wissenschaftliches Nichtwissen in der Wissensgesellschaft«. In: Böschen, Stefan/Schulz-Schaeffer, Ingo (Hg.): Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 119-142.
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1 .4 Ma nue l Cas tells : Informa tiona lis ierung de r Arbe it REINHART KÖSSLER
Kaum verkennbar markieren die zu Beginn der 1970er Jahre eintretenden, miteinander verschränkten Krisen des Weltwährungssystems und der Erdölversorgung der industriekapitalistisch entwickelten Regionen Nordamerikas, Westeuropas und Nordost-Asiens aus heutiger Sicht einen Epochenbruch. Unter den Versuchen, die zunächst so vielfältig wie widersprüchlich erscheinenden Veränderungen zu verstehen, kommt dem Beitrag von Manuel Castells schon durch seine Breite und seine empirische Sättigung eine besondere Bedeutung zu. Castells ist sicher einer der bedeutenden Soziologen unserer Tage. Vom Franco-Regime ins Exil getrieben, studierte er u.a. bei Alain Touraine in den 1960er Jahren in Paris und wurde nach dem Mai 1968 ausgewiesen. Nach einigen Jahren der Tätigkeit in Chile kam er nach dem Putsch vom 11. September 1973 in die USA. Seit Jahrzehnten lehrt er an der University of California in Berkeley. Sein ursprünglicher Schwerpunkt Stadtsoziologie ist auch in den Arbeiten zur informationellen Revolution noch deutlich in der Βetonung von Transformationsprozessen des Raumes erkennbar. Nur auf den ersten Blick lassen sich die Arbeiten von Manuel Castells zum Informationszeitalter (2001, 2002, 2003, 2005) ohne große Schwierigkeiten in die Ahnenreihe der Debatte zur »Wissensgesellschaft« einordnen. Genauere Lektüre fördert eine andere Interpretation der Veränderungen zutage, die u.a. eben auch mit der Heraufkunft einer »Wissensgesellschaft« beschrieben werden. In seinem monumentalen Hauptwerk beschreibt Castells diesen Bruch als »informationelle Revo43
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lution«; (2001: Kap. 1) deren Auswirkungen verfolgt er in eine Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche. Diese reichen von unterschiedlichen Aspekten des Alltagslebens, zumal Raum und Zeit, über Identitätskonstrukte zu Staat und Politik sowie endlich zur globalisierten Kriminalität. Im Zentrum der Analyse aber steht die grundlegende Transformation des Arbeitslebens und der Wirtschaftsweise. Für Castells wird Arbeit durch die informationelle Revolution nicht eliminiert oder auch nur reduziert: »Der Arbeitsprozess steht [nach wie vor, R.K.] im Zentrum der Sozialstruktur« (2001: 229). Arbeit wird jedoch durch technologische Veränderungen, zumal durch das Eindringen der Mikroelektronik und der Informationsverarbeitung, in so gut wie sämtliche Lebensbereiche und die damit ermöglichten sowie einhergehenden Veränderungen in der Unternehmens- und Betriebsorganisation tiefgreifend umgewälzt. Vor diesem Hintergrund steht auch Castells’ Grundthese, unter den durch die informationelle Revolution geschaffenen Bedingungen sei das Netzwerk an die Stelle der Hierarchie als bestimmendes Vergesellschaftungsprinzip getreten.
Die informationelle Revolution Diese grundlegenden Veränderungen haben freilich die fundamentalen Prinzipien kapitalistischen Wirtschaftens nicht angetastet, sondern vielmehr radikalisiert. Castells fasst dies in der kreativ an Karl Marx anknüpfenden begrifflichen Unterscheidung zwischen Entwicklungsweise und Produktionsweise. Während die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise weiter fortbestehen, hat sich die Entwicklungsweise vom Industrialismus zum Informationalismus verändert, der informationelle hat den industriellen Kapitalismus ersetzt. Castells rekonstruiert den Prozess, wie es zur informationellen Revolution gekommen ist, aufschlussreich in einem Wechselspiel zwischen Strukturzwängen und kontingenten, also nicht vorhersehbaren und in ihren Folgen auch nicht absehbaren Konstellationen. Zu letzteren gehören so unterschiedliche Komponenten wie (vgl. zum Folgenden Castells 2001: Kap. 1): • die langfristige Tendenz zur Miniaturisierung und Beschleunigung der Computer-Hardware; • das im Gefolge der 1968er Bewegung in der Region um San Francisco entstandene permissive und kreative Milieu – es trug wesentlich dazu bei, Silicon Valley zur Ideenschmiede der Informationstechnologie zu machen;
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MANUEL CASTELLS: INFORMATIONALISIERUNG DER ARBEIT
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die Bestrebungen des US-Verteidigungsministeriums, ein Informationsnetz zu schaffen, das einen Atomschlag überstehen könnte; aus informellen Milieus rekrutierte und vom Pentagon bezahlte Experten schufen das ARPANET, die Vorstufe des Internet; die Deregulierungspolitik der um 1980 an die Macht gelangten Regierungen Thatcher in Großbritannien und Reagan in den USA (vgl. Castells 2001: 144ff).
Die Mikroelektronik ermöglichte nicht allein den Umbau der Arbeitswelt durch computergestützte Verfahren, sondern mit der Entstehung des Internet auch die tiefgreifende Veränderung der Unternehmensorganisation und des außerbetrieblichen Alltags. Ausgehend von Regionen wie Norditalien entstanden neue, am Organisationsprinzip des Netzwerkes orientierte Unternehmensformen. Durch effektivere Transporttechnologien ließ sich das Prinzip des »Just in Time« verwirklichen und es entstanden weitere Voraussetzungen für »Netzwerkunternehmen«: auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpfte Firmen und Betriebe, die zumindest in Teilen die großen, räumlich konzentrierten und hierarchisch in Großkonzernen organisierten Unternehmen verdrängen. Ferner regte die Informationstechnologie (IT) die Entstehung und Entwicklung einer Reihe neuer Branchen an. Einige zunächst kleine start up-Unternehmen wurden zu Weltkonzernen wie Microsoft. Doch führte dies keineswegs zu einem höheren Maß an Kontrolle und Verfügungsmöglichkeiten der Menschen über ihre eigenen Lebensumstände. Die globale Kommunikation in Echtzeit verlieh den durch die Deregulierungspolitik, aber auch die Defizitpolitik der Reagan-Regierung begünstigten Spekulationsgeschäften unterschiedlichster Art eine nie gekannte Dynamik, die durch neue Finanzprodukte weiter befeuert wurde. Castells unterstreicht nachdrücklich, dass auch diejenigen, die sich hier selbst noch als Akteure verstehen mögen, letztlich der Anonymität der übermächtigen Kräfte allenfalls rudimentär geregelter Märkte unterliegen (vgl. Castells 2001: Schluss).
D i e U mw ä l z u n g d e s Ar b e i t s p r o z e s s e s Bleibt Arbeit ein zentrales Gesellschaft strukturierendes Moment, so schließt ihre Veränderung und Neuorganisation die Reorganisation und Neubewertung von Wissen ein. Dies war unvermeidlich schon im Verlauf früherer Umbrüche der Fall. Am bekanntesten dürfte die mit dem Taylorismus verbundene Enteignung des Wissens der Arbeitenden und dessen Konzentration in eigenen Leitungsabteilungen sein. Freilich rela45
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tiviert auch die Analyse von Castells die vor allem an dieser nun 100 Jahre zurückliegenden Erfahrung ansetzende Konzeption einer säkularen und unumkehrbaren Sinnentleerung, Vereinfachung und Banalisierung (industrieller) Arbeit (s. bes. Braverman 1974). Wie Castells zeigt, ist es in den alten industriekapitalistisch entwickelten Ländern, auf denen hier der Schwerpunkt seiner Analyse liegt, nicht zu dem oftmals unterstellten Rückgang der Beschäftigung gekommen. Die Veränderungen beziehen sich vielmehr auf Tätigkeiten, Qualifikationen, Zeit- und Raumstrukturen sowie Geschlechterverhältnisse. Hier ebenso wie in der Entwicklung der Arbeitslosigkeit bestehen große länderspezifische Unterschiede. Die zentrale Diagnose bezeichnet auf der einen Seite eine Polarisierung der Qualifikationsprofile und Verfügungsmöglichkeiten der Arbeitenden. Es kam zur Aufwertung von Tätigkeiten, durch die Anreicherung mit Funktionen und Entscheidungskompetenzen, aber auch durch neue Organisationsformen wie Gruppenarbeit; freilich ist hier zugleich die Neuverteilung der Risiken und Verantwortlichkeiten etwa für die Produktqualität mit zu berücksichtigen. Solchen professionals oder Experten steht die große Zahl derer gegenüber, die unter prekären Verhältnissen in niedrig entlohnte Tätigkeiten (McJobs), nicht zuletzt im Dienstleistungsbereich abgedrängt werden. An beiden Polen des Spektrums nehmen die Anforderungen an die zeitliche Flexibilität der Arbeitenden zu. Bisher weniger ausgeprägt ist die räumliche Auflösung kooperativer Arbeitszusammenhänge durch computergestützte Heim- und Fernarbeit. Das Zusammenwirken von Flexibilitätsanforderungen, aber auch -chancen mit neuen, auf IT bezogenen Qualifikationen hat zu einer deutlichen »Verweiblichung« der Erwerbstätigkeit, aber auch zu einer Verlagerung weiblicher Erwerbs- und Arbeitsmerkmale geführt. Hier gehen Aufstiegschancen gerade für Frauen mit verstärkten Zwängen zur Flexibilisierung, zur immer erneuten Anpassung an wechselnde Anforderungen, positiv gewendet zu lebenslangem Lernen einher. Diese Veränderungen in der Arbeitswelt verknüpft Castells mit dramatischen Transformationsprozessen in Familie und Sexualität, die er freilich auch der feministischen Bewegung zuschreibt. Die »Untergrabung der patriarchalischen Familie« (2002: 257) hat zur Entmachtung der Väter und Ehemänner geführt, freilich nicht notwendig ein für allemal, da die Geschichte grundsätzlich offen und unabgeschlossen ist. Zugleich sieht Castells in der durch die aktuellen Umbrüche hervorgerufenen existentiellen Krise, in der sich Individuen, aber auch Kollektive sehen, einen der Hauptbeweggründe eines religiösen – islamischen wie christlichen – Fundamentalismus als innovative, keineswegs traditionsbestimmte Reaktionsform auf die aktuellen Herausforderungen der Moderne.
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MANUEL CASTELLS: INFORMATIONALISIERUNG DER ARBEIT
Eine globale Perspektive des Umbruchs und der Ungleichheit Auch wenn Castells seine statistischen Daten vorwiegend aus Nordamerika, Westeuropa, Japan und den asiatischen Tigerstaaten bezieht, ist seine Perspektive global. Er geht den Folgen der informationellen Revolution in ihren verschiedenen regionalen Ausprägungen nach. Dabei behandelt er ein breites thematisches Spektrum, das nicht nur unterschiedliche Formen von Netzwerkunternehmen oder unterschiedliche Dynamiken des Arbeitsmarktes umfasst, sondern etwa auch die Folgen der damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen für Identitätspolitik. In seiner Analyse der Weltgesellschaft zur Jahrtausendwende betont Castells ferner, dass die von ihm untersuchten Umbrüche keineswegs in einem Weiterschreiten zur informationellen Gesellschaft aufgehen. Er betrachtet eingehend die so oft vernachlässigten »schwarzen Löcher« der Globalisierung in großen Teilen Afrikas ebenso wie in den Inner Cities Nordamerikas (vgl. Castells 2003; Kap. 2). Diese Verhältnisse lassen sich aus einer solchen Sicht nicht rückständigen Regionen zuordnen oder als Abnormitäten aus dem Gesamtbild ausklammern; sie sind vielmehr integrale Bestandteile der aktuellen Transformationsprozesse. Fortschreitende Exklusion ist eine der zentralen Erscheinungsformen der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung. Ebenfalls als integralen Bestandteil der Globalisierung versteht Castells die »globale kriminelle Ökonomie« (2003: Kap. 3). Sie beruht auf intensiver Nutzung der neuen Möglichkeiten der Kommunikation und Vernetzung; zugleich beeinflusst sie tiefgreifend die Alltagskultur. Ein wichtiges Ergebnis dieser Betrachtungen besteht gerade darin, dass Anomie sich nicht regional eingrenzen lässt, sondern zum Prozess der Globalisierung dazugehört. Eine weitere Dimension der Vielfalt der Folgen der informationellen Revolution besteht in der in Globalisierungsanalysen allzu leicht vernachlässigten Tatsache, dass viele, möglicherweise noch immer die Mehrzahl der lebenden Menschen an IT gar nicht teilhaben, auch wenn diese ihr Leben durchaus mit bestimmen. Castells macht dies anhand der Digital Divide deutlich (vgl. Castells 2005: Kap. 9), die wiederum nicht regional festzumachen ist, sondern in einem komplizierten Muster von Unterschieden nach Klassen- und Schichtzugehörigkeit, Bildungsstand, Generation, dann aber auch nach Ländern und Weltregionen frappierende Ungleichheiten markiert. Diese Ungleichheiten beziehen sich nicht allein auf den Zugang zum Internet, sondern auch auf seine Gestaltung: die Verfügung über backbones ebenso wie die Produktion von Inhalten. 47
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B ew e r t u n g u n d K r i t i k Castells Arbeiten zur Globalisierung und Informationalisierung stechen neben der breiten empirischen Grundlage durch die kritische Überprüfung einer Reihe gängiger Annahmen über die seit Mitte der 1970er Jahre einsetzenden gesellschaftlichen Transformationen hervor. Dazu gehört neben der These vom Ende der »Arbeitsgesellschaft« auch die vom Anbrechen einer »Dienstleistungsgesellschaft«. Der Versuch, Globalisierung wahrhaftig global zu sehen und zu verstehen, erlaubt zudem eine Perspektive, die stärker als andere Analysen des Prozesses seine Widersprüchlichkeit und die von ihm hervorgerufenen enormen sozialen Spannungen ebenso in den Blick rückt wie die unbestreitbare Faszination völlig neuer Kommunikationsmöglichkeiten. Dies allein kann bereits als wesentlicher, auch theoretisch relevanter Beitrag zur Debatte über Globalisierung ebenso wie zur damit verschränkten Diskussion über die Entstehung einer »Wissensgesellschaft« verstanden werden. Ihr gegenüber verweist Castells – wenn auch eher implizit – auf die nicht hintergehbaren materiellen Grundlagen menschlicher Existenz und die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Reproduktion, deren aktuelle Veränderungen im Mittelpunkt seines Interesses stehen. Demgegenüber ist unverkennbar, dass Castells bestenfalls sehr zurückhaltend ist, wenn es um theoretische Schlussfolgerungen aus seiner Analyse geht. Ein wesentlicher, seinen Arbeiten immanenter Grund für die Schwierigkeiten, solche Schlussfolgerungen konsistent zu ziehen, dürfte in dem wenig ausgearbeiteten, doch für ihn zentralen Begriff des Netzwerkes liegen, das bei ihm geradezu »jede(r) beliebige(n) Organisationsform« entsprechen könnte (Hauck 2002: 234). Gerade Castells’ Verweis auf die Bedeutung des Netzwerkes als Gegenmodell zur hierarchischen Grundformen von Gesellschaft könnte hier als fortbestehende Herausforderung verstanden werden.
Literatur Braverman, Harry (1974): Labor and Monopoly Capital. The Degradation of Work in the Twentieth Century. New York/London: Monthly Review Press. Castells, Manuel (2001): Das Informationszeitalter Band I: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Opladen: Leske + Budrich (The Information Age. The Rise of the Network Society 1996, 2000).
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Castells, Manuel (2002): Das Informationszeitalter Band II: Die Macht der Identität. Opladen: Leske + Budrich (The Information Age. The Power of Identity 1996). Castells, Manuel (2003): Das Informationszeitalter Band III: Jahrtausendwende. Opladen: Leske + Budrich (The Information Age. End of Millenium 1996). Castells, Manuel (2005): Die Internet-Galaxie. Internet, Wirtschaft und Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag (The Internet Galaxis). Hauck, Gerhard (2002): »Netzwerkgesellschaft?« In: Peripherie 85/86, S. 223-235.
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2 T HEORIEN
DER
W ISSENSGESELLSCHAFT
2.1 Nico Stehr: Konzeption der Wissensgese llschaft MARIAN ADOLF »Wissen ist Entstehen« (Stehr 2001a: 8)
Nico Stehrs Soziologie des Wissens Im Werk Nico Stehrs treffen die Traditionslinien einer Theorie der modernen Gesellschaft als Wissensgesellschaft in vielfältiger Weise zusammen. Als Auswanderer im US-amerikanischen und kanadischen Wissenschaftssystem, als diplomierter Volkswirt und Soziologe mit gesellschaftstheoretischem Fokus, interessiert sich Stehr nicht nur für Werk und Biographie mittlerweile als Klassiker geltender Theoretiker (Mannheim, Lazarsfeld, Merton, etc.) und deren Bemühungen um eine umfassende Theorie der modernen Gesellschaft. Darüber hinaus bieten seine Schwerpunkte Wissenssoziologie und Wissenschaftsforschung ungewohnte Zugänge zu makrosoziologischen Fragestellungen. So widmet er sich früh den Ursprünge und Auswirkungen der (sozial-)wissenschaftlichen Arbeit auf jene Gesellschaft, aus der sie selbst hervorgeht. An der Kreuzung von Materialismus und Idealismus, von Ökonomie und Kultur, nimmt Stehrs Theoriearbeit sodann auch ihren Ausgangspunkt. An die Stelle reflektionistischer Basis-Überbau-Modelle tritt, nicht zuletzt in Zusammenarbeit mit dem Philosophen Gernot Böhme, ein wissenssoziologisch sensitives Modell der Modernisierung, in dem sich materielle Grundlagen und kulturelle Kontingenz gegenseitig informieren und beeinflussen. Diese starke kulturelle Verankerung seiner nur auf den ersten Blick materialistischen Soziologie der industrialisierten Moderne rückt im Laufe seiner Arbeiten immer stärker in den Vordergrund. Dabei sind 53
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seine Arbeiten bis heute maßgeblich von der Suche nach dem Niederschlag wissenschaftlichen Wissens auf gesellschaftlichen Wandel gekennzeichnet. Neben der zusammen mit Gernot Böhme herausgegebenen Knowledge Society (1986) zählen Praktische Erkenntnis (1991), Arbeit, Eigentum und Wissen (1994), Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften (2000), sowie Wissen und Wirtschaften (2001b) und Wissenspolitik (2003) zu Stehrs einschlägigen Beiträgen zu einer Theorie der Wissensgesellschaft. Die Beschäftigung mit der Ökonomie, insbesondere der Veränderung der Märkte in der Wissensgesellschaft, führt Stehr in den letzten Jahren hin zu wirtschaftssoziologischen Themen, wobei die Rolle des Konsumenten, ganz im Einklang mit seiner handlungstheoretischen Ausrichtung, neues Gewicht erfährt (Stehr 2007).
Der Wissensbegriff: Wissen ist Entstehen Wissen in all seinen Erscheinungsformen und Derivaten bildet den Kern des Stehr’schen Schaffens. Ein Verständnis von Wissen als soziale Größe bedingt zunächst eine Erweiterung des Wissensbegriffs als Basis sozialer Interaktion und Ordnung. So ist Wissen in dieser Hinsicht eine anthropologische Konstante; doch rechtfertigt sich die Rede von einer zeitgenössischen Wissensgesellschaft angesichts der umfassenden Durchdringung von Sozialstruktur und Kultur durch Wissen und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf Individuum und soziale Institutionen. Wissen ist ein sozialer Prozess, der gesellschaftliche Machtverhältnisse bedingt und reproduziert, jedoch selbst wiederum Bestandteil der kulturellen Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen ist. Nico Stehrs Wissensbegriff ist somit weder ein technischer noch ein philosophischer, verweist jedoch je nach Kontext auf diese Wissensbereiche. Grundsätzlich bedient er sich eines eigens für seine Beobachtungen zurechtgelegten, handlungstheoretischen Ansatzes. In Anlehnung an das Lateinische scientia est potentia definiert er Wissen – in der, wie er gerne betont, korrekten Übersetzung von Francis Bacons berühmter Formulierung – als Handlungsvermögen. Um die Wichtigkeit von Wissen für die moderne Gesellschaft zu verstehen, müsse man sich, so Stehr, von der traditionellen Auffassung vom Wissen als Werkzeug der fortgesetzten, linearen Entschlüsselung von Natur und Gesellschaft verabschieden. Vielmehr als auf die Entdeckung der Welt bezieht sich Wissen auf die Entstehung einer Welt. Wissen ist das, was Menschen dazu befähigt, etwas in Bewegung zu setzen, den steten Fluss der Routine zu durchbrechen, Neues zu kreieren, Beziehungen ebenso wie Artefakte. 54
NICO STEHR: KONZEPTION DER W ISSENSGESELLSCAHFT
Wissen, als soziales Phänomen, ist Rohstoff der Hervorbringung einer Welt. Wissen ist die Kapazität etwas zu tun (capacity for action); es ist in diesem Verständnis ein stets veränderliches, situationsadäquates Modell für Wirklichkeit. Technisches und wissenschaftliches Wissen gewinnen genau auf dieser Grundlage immer mehr an gesellschaftlicher Bedeutung. Dabei sind es nicht deren Realitätstüchtigkeit oder durch soziales Kapital unterfütterte Glaubwürdigkeit, sondern die Tatsache, dass sie – mehr als andere Wissensformen – andauernd neue Möglichkeiten des Handelns mit sich bringen. Wissen transformiert und kreiert Realität. Die Bedingung dafür, dass Wissen eine aktive Rolle für soziales Handeln zufällt, liegt – ganz im Sinne Mannheims (1929/1936) – allerdings darin, dass es sich dabei nicht um rein routinisierte, stereotype Handlungsmuster oder streng regulierte, ritualisierte Handlungsabläufe handeln darf. »Wissen als Handlungsvermögen zu konzipieren, scheint mir schon deshalb vorteilhaft, weil dadurch nicht nur ein Aspekt der Wissenseinwirkung auf das Handeln hervorgehoben werden kann, sondern eine Vielzahl von verschiedenen Konsequenzen. Das Konzept ermöglicht insbesondere das Erkennen der ›Dualität von Wissen‹, d.h. die Tatsache, dass Wissen im Handlungsprozess sowohl Mittel als auch Ergebnis sein kann. […] Wissen als Handlungsvermögen präjudiziert seine Umsetzung und die Art seiner Verwendung nicht« (Stehr 1991: 16f).
Solches Handlungswissen ist ergebnisoffen, da es nur Teil des gesellschaftlich eingebetteten Handlungsprozesses ist: Wer was in welchem regulatorischen Rahmen zur Erreichung welcher Zwecke wissend tut, ist nicht nur eine Frage des dazu eingesetzten Wissens.
Wissen als soziales Handeln Entgegen der flüchtigen Interpretation, bei der Wissensgesellschaft Stehrs handle es sich um eine in der Tradition der Modernisierungstheorien stehende Zeitdiagnose, folgt er keineswegs einem geradlinigen Modernisierungsmodell. Es ist vielmehr die Beobachtung struktureller und kultureller Makroverschiebungen, die die Theorie anleitet, es ist die eigene Nähe zur Techniksoziologie und die wissenssoziologische Beschäftigung mit der Wissenschaft als gesellschaftlichem Feld, die Stehr auf die Fährte der Wissensgesellschaft bringt. So heißt es in einem frühen Text: »Although scientific knowledge is the motor of social change, 55
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it is invariably treated as a kind of natural force beyond the control of all« (Böhme/Stehr 1986: 3). Der Umstand, dass sich die Wissenschaftssoziologe zwar mit der sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnisse, kaum aber mit den Auswirkungen der immer ressourcenreicheren, immer umfassenderen wissenschaftlichen Forschung auf die Gesellschaft beschäftigt, leitet das Projekt an. Der Glaube an die Mächtigkeit und Selbstgenügsamkeit wissenschaftlichen Wissens als technologische Problemlösungsinstanz in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist bis heute weit verbreitet und führt dazu, dass Wissen erst gar nicht systematisch beleuchtet wird. Da alle zu wissen glauben, wovon die Rede ist, so Stehrs Beobachtung, entfällt eine nähere Bestimmung des sozialen Charakters von Wissen. Demgegenüber geht es ihm darum, das Verständnis von Wissen zu erweitern, es als soziale Größe zu definieren und nach den Akteuren und Märkten (vgl. Stehr 2007), den Transfermodi und den Effekten des Wissens auf soziale Beziehungen zu fragen (vgl. Stehr 2000; 2003). So darf Wissen im Kontext einer Gesellschaftstheorie nicht allein abstrakt als wissenschaftliches Wissen, als Wissensinhalt, verstanden werden; sondern es bedarf der Berücksichtigung seiner inhärent sozialen Beschaffenheit als Handlungswissen. Erst vor diesem Hintergrund, und unter der Bedingung der neuen Zentralität des Wissens in der Gegenwartsgesellschaft, kann eine soziologische Theorie der Wissensgesellschaft fundiert werden.
D yn a m i k e n d e r W i s s e n s g e s e l l s c h a f t Die Evolution des Wissens Am Anfang der Stehr’schen Beschreibung moderner Gesellschaften als Wissensgesellschaften steht die klassische, sozialwissenschaftliche Frage nach den materiellen Grundlagen. Auf der Suche nach den sich verändernden Quellen des ökonomischen Wachstums in zeitgenössischen Gesellschaften folgt er der Traditionslinie von Robert E. Lane (The Decline of Politics and Ideology in a Knowledgeable Society, 1966), Peter Drucker (The Age of Discontinuity, 1969), und Daniel Bell (The Coming of the Post-Industrial Society, 1973), mit und gegen deren Entwürfe er sein gesellschaftstheoretisches Werk entwickelt. Dabei geht er jedoch zugleich über Fragen der gesellschaftlichen Produktion hinaus: »Wenn Wissen in steigendem Maße nicht nur als konstitutives Merkmal für die moderne Ökonomie und deren Produktionsprozesse und -beziehungen sondern insgesamt zum Organisationsprinzip und zur Problemquelle der
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NICO STEHR: KONZEPTION DER W ISSENSGESELLSCAHFT
modernen Gesellschaft wird, ist es angebracht, diese Lebensform als Wissensgesellschaft zu bezeichnen.« (Stehr 2001a: 10) Dabei stellt sich die Wissensgesellschaft als eigentümliche Lebensweise dar: Angeleitet von den Kriterien des wissenschaftlichen Wissens, aber nicht auf dieses beschränkt, wenden die Akteure der Wissensgesellschaft Wissen immer häufiger auf Wissen selbst an, was zu einer Reflexivierung gesellschaftlicher Wissens- und Lebensweisen führt. Im Sinne einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen laufen solche Entwicklungen aber weder universell noch synchron ab, präsentieren sich vielmehr gebrochen und geschichtet. So treten globale Ungleichheiten und lokale Unterschiede in der Wissensgesellschaft noch deutlicher hervor, während generell mit der Wissenszunahme immer auch das Unwissen wächst. Denn zusätzliches Wissen transformiert Ignoranz in Unwissenheit und lässt dadurch die Kontingenz und Unplanbarkeit der modernen Gesellschaft deutlich werden. So führt die Zunahme an Wissen in dieser paradoxalen Bewegung zu einer Zunahme des Nichtwissens und der Ungewissheit, eine Befindlichkeit, mit der sich die Menschen der Wissensgesellschaft anfreunden müssen. Diese ist also kein Modell der linearen und unproblematischen Entfaltung eines bestimmten Wissenstypus und seiner spezifisch wissenschaftlichen Produktion. »The focus is not merely science but the relationships between scientific knowledge and everyday knowledge, declarative and procedural knowledge, knowledge and non-knowledge. It is only after one acquires a sense of the societal significance of such opposites and oppositions that the full sociological significance of knowledge begins to emerge.« (Böhme/Stehr 1986: 8)
Es ist diese Ausweitung der Beobachtung jenseits der Grenzen des Wissenschaftssystems (»Wissenschaftsgesellschaft«) oder der Ökonomie (»knowledge economy«), die eine Betrachtung des modernen Wissens zu einer Betrachtung des Wissens der Moderne werden lassen. Diese wissenssoziologisch fundierte Bedeutung von Wissen in und für die moderne Gesellschaft lässt dessen gewaltiges gesellschaftsveränderndes Potential erkennen und drängt sich einer gesellschaftstheoretischen Aufarbeitung förmlich auf. Wissen ist nun das konstitutive Merkmal der modernen Ökonomie, ihrer Produktionsprozesse und -beziehungen. Darüber hinaus wird es zum Organisations- und Integrationsprinzip, und zugleich zur vornehmlichen Problemquelle der modernen Gesellschaft. In Stehrs Entwurf bedeutet dies nichts geringeres, als dass wir uns unsere Wirklichkeit durchweg aufgrund unseres Wissens einrichten.
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»Menschliche Naturerkenntnis ist demzufolge Ursachenwissen, aber auch gleichzeitig Kenntnis der Handlungsregeln und damit das Vermögen, den fraglichen Prozess in Gang zu setzen oder etwas erzeugen zu können. Der Erfolg menschlichen Handelns lässt sich demnach an der Veränderung der Realität ablesen. Das soziale Handeln einzelner variiert mit ihrem Wissen« (Stehr 1991: 15).
Wissensgesellschaften zeichnen sich also nicht durch das Vorhandensein von Wissen aus, noch lassen sich Gesellschaftsformationen allein über die Quantität des für ihre Organisation und Reproduktion maßgeblichen Wissens unterscheiden. Wichtig ist, wie Wissen gewonnen wird und von welcher Beschaffenheit es ist (systematisch-methodisch und fallibel). Neben dem »Wissen, dass« (know that) wird das »Wissen, wie« (know how) immer wichtiger, während die Reflexivierung des Wissens (»Wissen über Wissen und Unwissen«) die zeitgenössische Gesellschaft eigentlich auszeichnet. Wissenschaft wird zur wichtigsten Quelle neuen, zusätzlichen, stark ausdifferenzierten Wissens und ermöglicht immer neue Handlungsoptionen. Wissen verfeinert sich, wird immer voraussetzungsvoller, bedarf der arbeitsteiligen Expertise. Die Wissensbasis der modernen Gesellschaft transzendiert zusehends tradierte disziplinäre und soziale Grenzen.
Die Wissensökonomie So ergänzt die wissenschaftsbasierte Innovation qua Technologie die Dominanz der klassischen Produktionsfaktoren und konkurriert mit diesen als Strukturierungsmechanismus der modernen Gesellschaft. Wissen wird nicht nur zur Basis einer neuen und wachsenden Schicht der Wissensberufe, es dringt auch in bestehende Wirtschaftssektoren ein und verändert diese sukzessive. Es geht hier also nicht allein um die Verdrängung bestehender Strukturen, sondern um deren prozessualen Umbau, so z.B. in der Produktion (diese besteht als zentraler Bereich der modernen Ökonomie fort, weshalb Stehr auch gegen die Benennung als »post-industrielle Gesellschaft« argumentiert; vgl. Stehr 1994). Die Quelle zusätzlichen Wachstums liegt im Faktor Wissen. Forschung und Entwicklung rücken zusehends ins Zentrum der Wertschöpfung. Solche ökonomischen Beobachtungen führen nicht zuletzt dazu, dass die Auseinandersetzung mit der wirtschaftlichen Dimension der Wissensgesellschaft (siehe zuletzt Stehr/Moldaschl 2009) bei Stehr nach wie vor die zentrale Stellung einnimmt. Auch hier ist eine Überlagerung von Entwicklungen und das Verwischen von ehemals deutlichen Systemgrenzen zu beobachten: Der historisch einmalige Anstieg des Wohlstan58
NICO STEHR: KONZEPTION DER W ISSENSGESELLSCAHFT
des in den westlichen Gesellschaften geht einher mit einer Bildungsexplosion, das Bildungssystem expandiert. Neue, gut ausgebildete und spezialisierte Wissensarbeiter verändern das Wirtschaftssystem qua Angebot, in beinahe allen Bereichen wird die formale Qualifikation zu einem neuen Schlüsselkriterium für soziale Mobilität ebenso wie für neue Formen der Ungleichheit.
Die neue Zerbrechlichkeit der Gesellschaft Die neue »knowledgeability« der Menschen bleibt aber nicht auf professionell-ökonomische Kontexte beschränkt. Gegenüber früheren Entwürfen einer Wissensgesellschaft, welche den Aufstieg der Wissenschaft im Sinne eines linearen Voranschreitens technologischer Innovation konzipierten, streicht Stehr die Fragilität der solchermaßen gewandelten Gemeinwesen heraus. Die allgemeine Zunahme an Wissen führt zu Orientierungs-, Ordnungs- und Steuerungsverlusten, vor allem auf Seiten ehemals mächtiger sozialer Institutionen. Niemals zuvor hatte der Einzelne so mannigfaltige Initiativ- und Verhinderungsmöglichkeiten wie heute. Die Stehrsche Analyse konzentriert daher »vor allem auf die außergewöhnliche Funktion, die das Wissen in modernen sozialen und ökonomischen Beziehungen einnimmt und natürlich auf die Rolle der Wissensproduktion, der Wissensträger und Wissensvermittler sowie insbesondere auf die Folgen dieser Entwicklung für die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die Quellen sozialer Konflikte« (Stehr 2001a: 119).
Die neue Zerbrechlichkeit zeigt sich am deutlichsten am Beispiel des Staates. Dieser »[…] sieht sich Klienten, Bürgern, Wählern usw. gegenüber, deren Handlungsmöglichkeiten unverhältnismäßig angewachsen sind, und damit ändert sich nicht nur die Kapazität der Regierbarkeit der zu Regierenden und des politisch Machbaren, es ändern sich auch Inhalt, Grenzen und Zerbrechlichkeit der modernen Politik. Der Staat verliert seine bisherigen monolithischen Qualitäten« (Stehr 2000: 188).
So werden paradoxerweise Wissenschaft und Technik zu den neuen Quellen von Kontingenz und Unbestimmtheit in der modernen Wissensgesellschaft. Neues wissenschaftliches Wissen und immer neue technische Artefakte dringen stetig tiefer in die Lebenswelt der Menschen vor. Im Rahmen der Entwicklung seiner Theorie der Wissensgesellschaft berührt Nico Stehr sowohl Veränderungen der Mikroebene (neue Wich59
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tigkeit des kulturellen und sozialen Kapitals, neue Wissenheit des Individuums), der Ebene der Institutionen (neue Wichtigkeit qua Lern- und Organisationsfähigkeit), als auch der staatlichen Makroebene (Herrschaftsverlust kraft Wissen). Die Explikation seiner Thesen bezüglich einzelner sozialer Felder wiederum lässt sich an den zahlreichen, monothematischen Studien nachvollziehen. Die paradoxe Konsequenz, dass es in Wissensgesellschaften ironischerweise zu einem Herrschaftsverlust kraft Wissen und zugleich zu einem Gewinn der Selbstherrschaft kommt, untersucht er in der Studie zur Zerbrechlichkeit der modernen Gesellschaft (2000). Die 2003 erschienene Monographie zum neuen Politikfeld Wissenspolitik widmet sich der Frage der Regulierung und Anwendung neuen Wissens, die Studie zur Moralisierung der Märkte (2007) wiederum den Auswirkungen sozialstruktureller Metaprozesse und soziokulturellen Wandels auf Produktion und Konsum.
Rezeption und Kritik In der Rezeption sieht sich Nico Stehrs Variante der Wissensgesellschaft mit denselben Einwänden konfrontiert, die allgemein gegen umfassende gesellschaftstheoretische Ansätze und spezifisch gegen die Theorie der Wissensgesellschaft vorgebracht werden. So konkurriert auf dem gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Deutungsmarkt eine bald unüberschaubare Anzahl an griffigen Gesellschaftsdiagnosen, die sich allesamt dem Verdacht der »grand narratives« ausgesetzt sehen. Spezifische Kritik kommt von Seiten derjenigen, die das Moment des Wissens als überbetont und den Abschied von früheren, industriellen Modellen als verfrüht erachten. Die These der Wissensgesellschaft gerät nicht zuletzt wegen der Fortsetzung der Traditionslinie von Bell u.a. in die Kritik: Eine rein »mengentheoretische« Fassung der neuen Wichtigkeit von Wissen greift in der Tat zu kurz. Die Wissensgesellschaft wird hier am Anteil der Beschäftigten und der Wertschöpfung des Wissenssektors im Rahmen der gesellschaftlichen Produktion festgemacht. Die bringt recht schnell zwei Widersprüche mit sich: Denn erstens bleibt es bis heute strittig, welche Berufe und Tätigkeiten zu den wissensbasierten Berufen gehören. Zweitens sind die Zentralität neuen Wissens, die Beschleunigung der Innovationszyklen und die Zentralität der Research & Development-Aktivitäten nur graduelle Entwicklungen, nicht aber kategorisch unterschieden von den technologischen Umbrüchen vergangener Epochen. Die Kritik lautet daher – und richtet sich nicht nur gegen die Stehr’schen Schriften – dass die menschliche Gesellschaft immer schon eine Wissensgesellschaft 60
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war, spätestens aber das Zeitalter der Moderne als eine solche Formation zu verstehen sei. Die Fokussierung des Wissensbegriffes als Handlungsvermögen und Handlung zielt zwar auf die Etablierung von Wissen als grundständig soziale Kategorie, verneint dabei aber weder die Kontinuität anderer prägender moderner Institutionen und Phänomene, noch die parallele Existenz vor- und post-rationaler Lebensweisen. Wissen ist sozial situiert, akteurs- und kontextgebunden, und erst seine heutige gesellschaftsverändernde Wirkung lässt es zur zentralen Variable werden. Diese konsequente Soziologisierung des Wissens erschließt der Theorie der Wissensgesellschaft eine neue handlungstheoretische Zugangsweise, die, anders als z.B. systemtheoretische Ansätze, sowohl mikro- als auch makro-perspektivische Zugänge erlaubt, und Wissen endgültig aus einseitig technizistischen, szientistischen oder psychologistischen Modellen herauslöst. Dass dabei die kognitive Dimension des Wissens bisweilen aus dem Blick zu geraten droht, auch darauf verweisen Kritiker beizeiten. Die Fokussierung auf Wissen als Handlung vernachlässigt potenziell jene Prozesskomponenten, die, im Wechselspiel mit der Umwelt, vor allem im Individuum situiert sind und seinem Handeln vorausgehen. Der Stehrsche Wissensbegriff ist von einer grundlegenden Ambiguität begleitet. Wissen wird einerseits zum Organisations- und Integrationsprinzip, andererseits zugleich zur steten Problemquelle der modernen Gesellschaft. Wissen kommt längst keinem szientistischen Heilsversprechen mehr gleich; die Wissensgesellschaft ist keine Formation, in der meritokratisch jene mit Macht ausgestattet sind, die den Weg vorwärts weisen. Die Durchsetzung von neuem technischem und (natur-) wissenschaftlichem Wissen ist kein Automatismus. Regulation, in Form der Institutionen und des Staates, ist stets präsent in Stehrs Texten – jedoch nimmt die Auseinandersetzung mit handlungsrestringierenden Strukturen nur eine Nebenrolle ein. Vielmehr scheinen seine Arbeiten von einem unterschwellig emanzipatorisch-widerständigen Ethos getragen, dessen wissenssoziologisch-konstruktivistischer Protagonist vorsichtig optimistisch in die Zukunft blickt. Beachtlich ist auch die Aufnahme der Stehr’schen Arbeiten außerhalb der scientific community. So wurde die Wissensgesellschaft seit den 1990er Jahren zu einem geflügelten Wort im öffentlichen Diskurs, in Regierungserklärungen und Parteiprogrammen. Ebenso beachtlich ist Nico Stehrs fortwährendes Bestreben, neue sozialwissenschaftliche Forschungsfelder für und durch seine theoretischen Arbeiten zu erschließen. Seine Arbeit an der Wissensgesellschaft als Projekt der Bestandsaufnahme einer Gesellschaft im Umbruch, als phänomenologische wie explika-
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tive Annäherungen an jene Verfasstheit, die an anderer Stelle als »reflexive Moderne« bezeichnet wurde, dauert weiter an. Insofern sich sein Entwurf auf die neue Bedeutung des Umganges mit einem rasant wachsenden Korpus an Information (d.h. nicht angeeignetes Wissen) und ihrer Technologien, die Möglichkeiten zur Selbstorganisation und Selbstbehauptung des modernen Individuums (Handlungsmöglichkeiten) sowie die präzedenzlose Wichtigkeit neuen Wissens in der Wertschöpfung der modernen Gesellschaft bezieht, bietet die Stehrsche Wissensgesellschaft eine breite theoretische Basis für eine Zeitdiagnose und eine makrotheoretische Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft. Wissen ist hier Entstehen, ist eine Kurzformel für ein bislang unerreichtes Maß an menschlicher Selbstbestimmtheit bei gleichzeitigem Ansteigen umfassender Kontingenz und Ungewissheit. Mit dem Mehr an Wissen geht ein Mehr an Unwissen einher, mit einem Mehr an politischer Selbstbestimmung ein Mehr an zu tolerierender Ignoranz. Wissen, das ist bei Stehr das Werden einer Welt, der Kern einer Zeitdiagnose, die in vieler Hinsicht das Produkt einer aufgeklärten Moderne darstellt. Vieles hat sie erreicht, vieles nehmen wir als selbstverständlich. Nur aus einem kann sie uns nicht entlassen: der Verantwortlichkeit für den Zustand unserer Welt, von einem vernünftigen Einsatz unseres Wissens für die Gestaltung dieser Welt.
Literatur Böhme, Gernot/Stehr, Nico (1986): The Knowledge Society: The Growing Impact of Scientific Knowledge on Social Relations. Dordrecht: D. Reidel Publishing. Stehr, Nico (1991): Praktische Erkenntnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Stehr, Nico (1994): Arbeit, Eigentum und Wissen: Zur Theorie von Wissensgesellschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Stehr, Nico (2000): Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften. Weilerswist: Velbrück. Stehr, Nico (2001a): »Moderne Wissensgesellschaften«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 36/2001, S. 7-14. Stehr, Nico (2001b): Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Stehr, Nico (2003): Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Stehr, Nico (2007): Die Moralisierung der Märkte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Stehr, Nico/Moldaschl, Manfred (Hg.) (2009): Knowledge Economy Beiträge zur Ökonomie der Wissensgesellschaft. Marburg: Metropolis Verlag.
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2.2 Helmut Willke: S ystemtheorie de r Wissensgese llschaft TORSTEN STRULIK
Einleitung In seinen »Grundzügen einer Theorie der Steuerung komplexer Sozialsysteme« (1995) argumentiert Helmut Willke, dass moderne Gesellschaften in der Frage der Organisation und Wirkung von Wissen ein neues Kapitel aufschlagen müssen (ebd.: 231f.). Dies nicht so sehr bedingt durch interne Entwicklungen des Wissenschaftssystems, dessen gesellschaftliche Relevanz aus seiner Sicht eher abnimmt, sondern vielmehr aufgrund neuer Probleme und Chancen, die sich aus den intensiver werdenden Verbindungen des Wissenschaftssystems mit anderen gesellschaftlichen Bereichen ergeben (ebd.: 232). Willke lenkt die Aufmerksamkeit auf die dynamischen Wechselwirkungen der Funktionssysteme und sucht aus dieser Annäherung heraus nach Möglichkeiten einer Ordnung, die den Problemen und Optionen einer Wissensgesellschaft angemessen ist. Hervorzuheben ist daher zunächst, dass Willkes Systemtheorie der Wissensgesellschaft deutlich ausgeprägte steuerungstheoretische Bezüge aufweist. Verknüpft Willke seine Diagnosen zur Wissensgesellschaft zunächst mit der Frage nach einer adäquaten und legitimen Staatsaufgabe (ders. 1995; 1997), so konzentriert er sich in jüngerer Zeit auf sich entwickelnde Formen von Global Governance (ders. 2006; 2007), deren qualitativ neues Problem seiner Auffassung nach aus der sich verdichtenden Konvergenz von Weltgesellschaft und Wissensgesellschaft resultiert.
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Die Idee der Wissensgesellschaft »Die Wissensgesellschaft existiert noch nicht, aber sie wirft ihre Schatten voraus« (Willke 2001: 289). Der Begriff Wissensgesellschaft verweist insofern zunächst auf die Idee einer Gesellschaft, die sich selbst in veränderter Form abhängig von Wissen erlebt und sich in einer historisch spezifischen Form beobachtet. »Von einer Wissensgesellschaft oder einer wissensbasierten Gesellschaft läßt sich sprechen, wenn die Strukturen und Prozesse der materiellen und symbolischen Reproduktion einer Gesellschaft so von wissensabhängigen Operationen durchdrungen sind, daß Informationsverarbeitung, symbolische Analyse und Expertensysteme gegenüber anderen Faktoren der Reproduktion vorrangig werden« (Willke 1997, 12).
Vor allem mit Blick auf die Wirtschaft sieht Willke erste Anzeichen für eine »embryonic knowledge society« (ders. 2007: 191). Drei sich wechselseitig verstärkende Prozesse sind hier von Bedeutung: die Ausbildung intelligenter Organisation, der Strukturwandel der Arbeit in Richtung Wissensarbeit und die Ubiquität intelligenter Produkte. Grundlegend für ein Verständnis dieser drei Prozesse ist die Beobachtung, »daß die klassischen betriebswirtschaftlichen Faktoren der Produktion, nämlich Arbeit, Betriebsmittel und Werkstoffe, gegenüber dem vierten Produktionsmittel – Information, Wissen, Expertise – an Bedeutung verlieren, und dies nicht mehr nur in einem graduellen quantitativen Übergang, sondern in einem die Operationsweise der Ökonomie verändernden qualitativen Sprung« (ders. 2001: 18; Herv. TS).
Letzterer zeigt sich darin, dass die Erzeugung, Anwendung und Revision von Wissenskomponenten zum integralen Bestandteil des unternehmerisch-ökonomischen Handelns werden. Ablesbar etwa an der fortschreitenden Wissensabhängigkeit neuer Produkte, Produktionsverfahren, Dienstleistungen und Finanzierungsinstrumente (ders. 1995: 268). Wenngleich Willke sich in seinen empirischen Beschreibungen auf das ökonomische Feld konzentriert, wendet er sich jedoch gegen eine Verengung der Analyse auf die Verschränkung von Wissen und Ökonomie. Zugleich sieht er eine Perspektive als verkürzt an, welche die Aufmerksamkeit der Forschung primär auf die Bedeutung der Wissenschaft lenkt. Vielmehr besteht für ihn das prägende Merkmal einer Wissensgesellschaft darin, »daß im Prinzip alle etablierten Funktionssysteme der subversiven Dynamik einer Wissensbasierung ausgesetzt sind« (ders. 1997: 37f.). Insofern ist die Wissensgesellschaft auch nicht als eine Wis66
HELMUT W ILLKE: SYSTEMTHEORIE DER W ISSENSGESELLSCHAFT
senschaftsgesellschaft oder eine vom Funktionssystem Wissenschaft dominierte Gesellschaft zu begreifen. Das Wissenschaftssystem erscheint vielmehr überfordert, was »zu einer Art Ausfransung des Wissenschaftssystems in polyzentrisch verteilte Orte der Produktion von Expertise führt« (ebd.: 33).
Die Form des Wissens Was sind die Besonderheiten des Wissens der Wissensgesellschaft? Willke weist zunächst auf den Zukunftsbezug des Wissens hin: »Die Umkehrung der Zeitorientierung von der Vergangenheit auf die Zukunft, welche die Neuzeit kennzeichnet, erfasst auch das Medium des Wissens. Sie bewirkt, dass die kollektive Wirkung des Wissens sich nicht mehr in der Tradierung einer bestehenden ›alten‹ Ordnung erschöpft, sondern sich in Richtung Steuerung transformiert, also in Richtung einer gezielten Veränderung naturwüchsiger Verläufe auf politisch gesetzte Zwecke« (ders. 2001: 290).
Das Wissen der Wissensgesellschaft nimmt mithin, da es sich auf Zukunft bezieht, eine andere Form an als das Wissen über Vergangenes. »Das relevante Wissen entfaltet sich aus den Permutationen von Komponenten vorhandenen Wissens und Komponenten des Nichtwissens und die resultierende Form des Wissens ist die Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen« (ders. 2002: 11).
Für ein brauchbares Verständnis der Form des Wissens erscheinen Willke zwei Fragen als wichtig: »Wie ist Wissen möglich und welche Bedeutung hat das mit Wissen zugleich generierte Nichtwissen« (ebd.: 13)? Betrachten wir zunächst Willkes Begriff von Wissen. »Unter Wissen möchte ich eine auf Erfahrung gegründete kommunikativ konstituierte und konfirmierte Praxis verstehen« (ebd.: 14; Herv. im Original). Diese Begriffsbestimmung, die an beobachtungs- und kommunikationstheoretische Annahmen der Theorie selbstreferentieller Systeme (Luhmann 1984; 1990) anschließt, bringt Willke in die Position, die soziale Bedeutung und Entstehung von Wissen differenziert zu beschreiben. Der Begriff des Wissens verliert zum einen »die Weihen einer besonderen oder ›höheren‹ Seinsart, denn jede konfirmierte Praxis generiert Wissen, ob es nun eine Praxis der Praxis oder eine Praxis der Theorie ist, und auch gleichgültig, ob es eine wissenschaftlich freischwebende oder eine auf Verwertbarkeit gerichtete Praxis ist« (Willke 2002: 14). 67
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Zum anderen lassen sich Unterschiede gegenüber vorausgesetzten oder ermöglichenden Komponenten der eigenen Infrastruktur des Wissens (insbesondere Daten und Informationen) sichtbar machen. Hinsichtlich der Frage nach der Möglichkeit von Wissen beschreibt Willke einen dreistufigen Selektionsprozess (ebd.: 15ff.). In einer ersten Stufe müssen Daten vorliegen, die immer auf Beobachtungen beruhen und dementsprechend immer begrenzt und abhängig von dem Möglichkeitsspektrum des jeweiligen Beobachtungsinstruments bleiben. Aus Daten werden Informationen durch Einbindung in einen ersten Kontext von Relevanzen, die für ein bestimmtes System gelten. Folglich kann jede Information nur systemrelativ sein. Unterschiedliche Relevanzen führen zu unterschiedlichen Bewertungen von Daten und mithin zu unterschiedlichen Informationen. Wissen entsteht, wenn Informationen in einen zweiten Kontext von Relevanzen eingebunden wird. Dieser zweite Kontext besteht nicht, wie der erste, aus Relevanzkriterien, sondern aus bedeutsamen Erfahrungsmustern, die das System in einem speziell dafür erforderlichen Gedächtnis speichert oder verfügbar hält. »Wissen ist in diesem Verständnis unabdingbar das Ergebnis einer Operation […] der Herstellung einer sinnhaften Ordnung aus dem Chaos verfügbarer oder anbrandender Informationen« (ebd.: 17). Neben der Frage nach der Möglichkeit von Wissen, interessiert Willke vor allem die gesellschaftliche Bedeutung von Nichtwissen. Er schließt in diesem Zusammenhang an Niklas Luhmanns (1995) Analysen zum Verhältnis von Wissen und Nichtwissen an. Letzteres wird als die unhintergehbare andere Seite des Wissens betrachtet. Wissensakkumulation kann dementsprechend »nur zu einer progressiven Reproduktion von Nichtwissen führen, nicht jedoch zu einer allmählichen Umwandlung von Nichtwissen in Wissen« (ebd.: 177). Entsprechend instruiert, versucht Willke der gestiegenen Bedeutung des Nichtwissens Rechnung zu tragen, »das bereits in der Industriegesellschaft in der Kategorie des Risikos sich bemerkbar macht, aber dadurch entschärft werden konnte, dass die Risiken, die aus bestimmten Entscheidungen unter Ungewissheit folgten, nur in seltenen Ausnahmefällen (wie Pearl Harbour, der Vietnamkrieg, Bhopal oder Tschernobyl) das Ausmaß lokal begrenzter Ereignisse übertrafen« (Willke 2002: 30).
Für die Wissensgesellschaft ist nun ein veränderter Typus von Risiken kennzeichnend, »welcher der neuen Bedeutung von Nichtwissen in komplexen, vernetzten und nicht mehr ohne weiteres dekomponierbaren Systemen entspricht: die Kategorie des Systemrisikos« (ebd.; Herv. im Original). Insbesondere mit Blick auf das Weltfinanzsystem und das 68
HELMUT W ILLKE: SYSTEMTHEORIE DER W ISSENSGESELLSCHAFT
Internet als globale vernetzte Infrastruktur zeigt sich für Willke, dass im Zuge der Herausbildung einer Wissensgesellschaft zugleich die Relevanz eines systemischen Nichtwissens und damit die Möglichkeit von Systemkrisen deutlich zunimmt. Angesichts der sich hier exemplarisch manifestierenden ambivalenten gesellschaftlichen Auswirkungen des Steigerungsverhältnisses von Wissen und Nichtwissen sieht Willke die Besonderheit des Wissens der Wissensgesellschaft darin, »Expertise im Umgang mit Nichtwissen zu generieren und verfügbar zu machen« (ders. 2002: 11). Vor dem Hintergrund der skizzierten Merkmale von Wissen und Nichtwissen stellt sich die Frage, wie Funktionssysteme, Organisationen und Personen sich auf die Herausforderungen einer Wissensgesellschaft einstellen (können). An dieser Stelle wird eine weitere Leistung von Willke sichtbar. Er bleibt nicht bei der Beschreibung wichtiger Merkmale und Herausforderugen einer Wissensgesellschaft stehen, sondern entwickelt Perspektiven für angemessene Formen der Steuerung bzw. Governance. Moderne Gesellschaften sollten seiner Auffassung nach in der Frage der Organisation und Wirkung von Wissen ein neues Kapitel aufschlagen. Auf der Grundlage der Theorie selbstreferentieller Systeme und angeregt durch Autoren wie Amitai Etzioni (1968), James Quinn (1992) und Peter Senge (1990) lenkt Willke die Aufmerksamkeit auf alternative Formen der Systemsteuerung: »Die hochgetriebene Arbeitsteilung, funktionale Differenzierung und Spezialisierung im Kontext verschachtelter Bürokratien und Konzernverwaltungen weicht einer eher ganzheitlichen und integrierten Aufgabenbewältigung durch Projektteams, temporäre Arbeitsgruppen, autonome Geschäftseinheiten oder lose gekoppelte Netze von Experten« (Willke 2001: 311).
Willke geht davon aus, dass die Veränderungen, die den Umbau der Industriegesellschaft in eine Wissensgesellschaft markieren, auch die Suprastrukturen der betroffenen Gesellschaften, d.h. »die institutionellen Verfestigungen, Regelsysteme, Steuerungsregime, kulturellen Orientierungen und kollektiven Identitäten sozialer Systeme« (ebd.) erfassen. Für ein Verständnis der Veränderungen der Suprastrukturen ist es aufschlussreich, Willkes Überlegungen zu einem systemischen Wissensmanagement, zu einer Politik des Wissens und zu intelligenten Formen der Governance zu betrachten. Fraglich ist, wie Systemsteuerung in der Wissensgesellschaft möglich ist.
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S ys t e m i s c h e s W i s s e n s m a n a g e m e n t Wenngleich der Begriff Wissensmanagement einen ökonomischen Beiklang hat, wird er von Willke in abstrakter Weise genutzt, um die »Intelligenz« systemischer Steuerung zu untersuchen und zu gestalten. Willke betrachtet Wissensmanagement »als Element eines Zusammenhangs gesellschaftlicher, organisationaler, technologischer und individueller Faktoren« (ders. 2001: 6). Die Perspektive eines systemischen Wissensmanagements lenkt den Blick daher zunächst einmal nicht nur auf Unternehmen, sondern auch auf andere Organisationen wie etwa öffentliche Behörden, Parteien, Universitäten, Schulen oder Nichtregierungsorganisationen. Zudem lässt sie innerhalb sozialer Kontexte eine Verschiebung der Gewichte von Fremdsteuerung und Selbststeuerung zugunsten einer neuen Balance erkennen, »in der Selbstverantwortung und systemische Reflexion barocke Architekturen externer Kontrollen erübrigen« (ebd.: 338). Insofern eignet sich Willkes abstrakte Fassung des Begriffs Wissensmanagement hervorragend, um die systemische Intelligenz bzw. Lernfähigkeit nicht nur von Organisationen, sondern auch von Netzwerken, Governance-Arrangements und Funktionssystemen zu untersuchen. Ein wesentliches Merkmal der Intelligenz von Organisationen sieht Willke darin, dass das Wissen der Mitglieder »symbolisch aufbereitet, organisiert und schrittweise in ein eigenständiges Wissen der Organisation transformiert werden kann« (ders. 1997a: 7). Von besonderer Bedeutung ist für ihn hierbei die Gestaltung der Übergänge zwischen implizitem und explizitem Wissen. Wichtig sind diesbezüglich dialogische und routinisierte Prozesse, »die fördern, daß individuelles Wissen artikuliert und durch Zugänglichkeit verbreitet wird« (ders. 2001: 15). Darüber hinaus plädiert Willke dafür, der Organisation als »collective mind« eine größere Aufmerksamkeit zu widmen. Entgegen der immer noch beobachtbaren Überbewertung der personalen Komponente von Wissen und Lernen setzt er auf ein emanzipiertes Verständnis der organisationalen Komponente. »Organisationales oder institutionelles Wissen steckt in den personenunabhängigen, anonymisierten Regelsystemen, welche die Operationsweise eines Sozialsystems definieren. Vor allem sind dies Standardverfahren (›standing operating procedures‹), Leitlinien, Kodifizierungen, Arbeitsprozess-Beschreibungen, etabliertes Rezeptwissen für bestimmte Situationen, Routinen, Traditionen, spezialisierte Datenbanken, kodiertes Produktions- und Projektwissen und die Merkmale der spezifischen Kultur einer Organisation« (ebd.: 16).
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Neben den Besonderheiten des ›collective mind‹ und der Problematik der Übergänge zwischen implizitem und explizitem Wissen weist Willke auf eine weitere wichtige Einsicht eines systemtheoretischen Verständnisses von Wissensmanagement hin: »dass Informationsaustausch zwischen unterschiedlichen Systemen unmöglich ist. Unmöglich!« (ebd.: 9). Für eine kurze Erläuterung dieser Sichtweise sei an die oben aufgeführte Unterscheidung von Daten, Informationen, Wissen angeschlossen. Willke argumentiert, »dass sich der ›Wert‹ einer Information nur je systemund situationsspezifisch bestimmen läßt – er hängt ab von den leitenden Differenzen eines Systems und dem anhand dieser Kriterien zu messenden Neuigkeits- oder Überraschungswert der Information« (ebd.: 10). Wichtig ist die Einsicht in die Unmöglichkeit eines Informationsaustausches, weil sie nicht zuletzt vor einer Selbstüberschätzung schützt, indem sie für die Grenzen einer Übertragung von Informations-, Wissens- oder Innovationsangeboten in autonome Systeme sensibilisiert.
Politik des Wissens Willke verknüpft seine Diagnosen zur Wissensgesellschaft eng mit steuerungstheoretischen Überlegungen. Aus dieser soziologisch-politikwissenschaftlichen Annäherung heraus, stellen sich Fragen hinsichtlich der legitimen Aufgaben und der erforderlichen Leistungen einer Politik des Wissens. Für die Formulierung entsprechender Antworten setzt Willke bei der Beobachtung an, dass die Wissensgesellschaft durch eine »Krisis des Wissens« geprägt ist, die im Wesentlichen aus einem unreflektierten Einsatz der Steuerungs- und Produktivitätsressource Wissen resultiert (Willke 2002, 18). Zudem weist Willke darauf hin, »dass unter den Bedingungen gesellschaftlicher Hyperkomplexität das Ordnungsproblem nicht mehr durch Einheit oder Konsistenz zu lösen ist, sondern nur noch mit hoher ›Inkonsistenzbewältigung‹« (ebd.: 88). Von zunehmender Relevanz sind offenbar strukturelle und prozessuale Arrangements, die nicht in traditioneller Weise auf eine Ordnung durch Einheit abzielen, sondern sich auf die Anforderungen einer Ordnung durch Heterogenität einstellen (ders. 2003). Hier geht es um die Voraussetzungen eines Aufbaus von Komplexität, über den soziale Systeme erweiterte Kontingenzlagen intelligent bearbeiten können. Im Hinblick auf die beiden verbundenen Problemstellungen ›Krisis des Wissens‹ und ›Ordnung durch Heterogenität‹ sieht Willke den Nationalstaat in einer führenden Rolle als »intellectual leader« (ders. 1997: 333). Für ein tieferes Verständnis der hier anklingenden Rolle des Nationalstaates ist das von Willke ins Spiel gebrachte Konzept der »kollekti71
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ven Intelligenz« aufschlussreich. Analytisch ist damit eine emergente Eigenschaft von Sozialsystemen angesprochen, die nicht auf der bloßen Aggregation individueller Intelligenzen gründet, sondern auf einer eigenständigen Intelligenz des Systems selbst. In den Blick geraten Strukturen, Prozesse und Regelsysteme, die kollektive Lernprozesse fördern oder behindern. Im Sinne eines Kollektivgutes der Wissensgesellschaft bezeichnet es die vorrangige Aufgabe der Politik, die Bedingungen der Möglichkeit einer Steigerung systemischer Intelligenz zu schaffen. In diesem Zusammenhang sieht Willke es als kennzeichnende Kompetenz der Politik der Wissensgesellschaft an, »systembedrohlicher Ignoranz entgegenzuarbeiten und insofern optimale Bedingungen für die Nutzung der Ressource Wissen zu schaffen« (ebd.: 181). Zur Erfüllung entsprechender Aufgaben sind zwei Komponenten von Bedeutung: Strategiefähigkeit und Kontrollwissen. Mit Blick auf die Strategiefähigkeit der Politik geht es zunächst im Innenverhältnis darum, sich selbst für eine wissensbasierte Politik kompetent zu machen, indem sie in ihre eigenen Strukturen und Prozesse Intelligenz einbaut. Verbunden ist damit »eine Entrümpelung der Politik durch Distanzierung von der ihr zugewachsenen Rolle als gesellschaftlichem Übervater« (ebd.: 190). »Im Außenverhältnis kommt mit dem Projekt des Aufbaus von globalen Gouvernanzregimes eine historisch neue Aufgabe auf die politischen Systeme der Nationalstaaten zu« (ebd.). Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten scheint dabei »innovativen Kombinationen aus dezentraler Selbststeuerung und transnationalen vertraglichen Selbstbindungen« (ebd.) eine besondere Bedeutung zuzukommen. Bezüglich des Aufbaus und der Nutzung von Kontrollwissen lenkt Willke die Aufmerksamkeit auf die Supervision der kontingenten negativen Externalitäten der gesellschaftlichen Funktionssysteme – etwa hinsichtlich des Umweltschutzes, der Aufsicht des Finanzgeschäfts oder der Evaluierung von gentechnologischen Entwicklungen. Im Kontext der Wissensgesellschaft sollte die Politik sich verstärkt in die Position bringen, »die Produktion von Wissen, Expertise und Nichtwissen der unterschiedlichen Systeme einschätzen und supervidieren zu können. Sie muss sich vor allem dazu befähigen, […] mögliche Systemrisiken rechtzeitig zu erkennen und Gegenmaßnahmen zu steuern« (ebd.: 203; Herv. im Original). Diese Herausforderung der Politik stellt sich in besonderer Schärfe im Zusammenhang mit Problemen und Risiken, die über eine globale Reichweite verfügen. Vor allem am Beispiel des globalen Finanzsystems und des Internet zeigt Willke immer wieder die Brisanz von Systemrisiken auf und verbindet seine Diagnosen mit Fragen nach der Ausgestaltung geeigneter Formen globaler Gouvernanz (ders. 2001; 2002; 2003; 2006; 2007). 72
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Im Rahmen seiner jüngsten Arbeiten zum Themenkreis ›Global Governance‹ (2006, 2007) resultieren für Willke die eigentlichen und qualitativ neuen Probleme von Steuerung und Governance aus der sich verschärfenden Konvergenz von Weltgesellschaft und Wissensgesellschaft. Die große gesellschaftliche Herausforderung ist dementsprechend nicht die Globalisierung an sich, »sondern das gleichzeitige, widersprüchliche und sich wechselseitig steigernde Zusammenspiel von Weltgesellschaft und Wissensgesellschaft« (ders. 2006: 129). Zwar sieht er beide Formen von Gesellschaft erst im Entstehen begriffen, doch geht gerade von den Dynamiken der Globalisierung und der Wissensbasierung lateraler Weltsysteme (z.B. Weltwirtschaft, Weltfinanzsystem, Weltgesundheitssystem, Weltmediensystem) ein massiver Anpassungsdruck auf bestehende Steuerungsregime und Regelungsstrukturen aus (ebd.). Aufbauend auf seinen Analysen zur Wissensgesellschaft und die von Luhmann (1991) ausgearbeitete Unterscheidung von normativen und kognitiven Erwartungen sieht Willke erhebliche Konsequenzen für die Theorie und Praxis von Governance. »Formal democracy is based on the premise of normative decision-making, i.e. on the conviction that decisions about future states of social affairs will and can be based on norms and normative considerations. In contrast, the basic premise of the knowledge society is a supremacy of cognitive decision-making that is the belief that decisions about future states of social affairs must and can be based on knowledge and cognitive considerations« (Willke 2007: 35f.; Herv. im Original).
Anregungen für die wissenschaftliche Untersuchung bestehender Ausprägungen von Governance sowie die Stärkung der ›Intelligenz der Demokratie‹ (ebd.: 166) liefert Willke mit Bezug auf die Strukturen, Prozesse und Regelsysteme entsprechender institutioneller Arrangements. Insgesamt bringt sich Willke über die Zusammenführung von Dynamiken der Globalisierung und Wissensbasierung in die Position, die Herausforderungen von Global Governance sehr differenziert herauszuarbeiten und einen analytischen Mehrwert gegenüber dem Mainstream der politikwissenschaftlichen Governanceforschung zu erzeugen.
Zusammenfassung Mit Hilfe des von Willke entfalteten systemtheoretischen Ansatzes ist es möglich, die Dynamiken und Paradoxien einer sich herausbildenden Wissensgesellschaft sehr vielschichtig herauszuarbeiten und darauf auf73
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bauend die Grenzen herkömmlicher Formen gesellschaftlicher Ordnungsbildung zu beschreiben. Fünf Aspekte sollen zusammenfassend noch einmal hervorgehoben werden. 1. Der Praxisbezug des Wissens Willke definiert Wissen »als eine auf Erfahrung gegründete kommunikativ konstituierte und konfirmierte Praxis« (ders. 2002: 14). Damit grenzt er sich zum einen von einer wissenschaftszentrierten bzw. wahrheitsorientierten Bedeutung von Wissen ab. Zum anderen liefert er die analytischen Grundlagen, um Wissen von vorausgesetzten oder ermöglichenden Komponenten der eigenen Infrastruktur (insbesondere Daten und Informationen) zu unterscheiden. 2. Nichtwissen als Gegenbegriff zum Wissen Willke verweist auf eine wissensgetriebene und prinzipiell nicht aufhebbare Ungewissheit möglicher Ereignisse (Willke 2002: 11). Damit erhält die Frage nach einem kompetenten gesellschaftlichen Umgang mit Nichtwissen und Ungewissheit eine besondere Brisanz. Willke optiert in dieser Hinsicht für Prämissen der Ordnungsbildung, die stärker auf Möglichkeiten der Steigerung von Kontingenz setzen (ebd.: 97). 3. Von ›normalen‹ Risiken zu Systemrisiken Für die Wissensgesellschaft ist ein veränderter Typus von Risiken kennzeichnend. Bei dem von Willke angesprochenen Systemrisiko geht es um die Problematik, dass sich bestimmte Einzelrisiken durch die Vernetzung ihrer Elemente zu einer systemischen Destabilisierung aufschaukeln und somit die Operationsweise eines Systems insgesamt betreffen (ebd.: 30). Die jüngste Finanzkrise bietet ein Lehrstück für die Entstehung und die Folgen von Systemrisiken. 4. Die Ermöglichung kollektiver Intelligenz Der Umgang mit den Problemen der Wissensgesellschaft erfordert kollektive Intelligenz. Diesbezüglich lenkt Willke die Aufmerksamkeit auf Strukturen, Prozesse und Regelsysteme, die systemische Lernprozesse fördern oder behindern. Konzeptionell verweist der Begriff auf eine emergente Intelligenz von sozialen Systemen, die über eine bloße Aggregation individueller Intelligenzen herausführt (ebd.: 179).
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HELMUT W ILLKE: SYSTEMTHEORIE DER W ISSENSGESELLSCHAFT
5. Kognitive Wende Die Herausbildung der Wissensgesellschaft geht mit einer Umstellung von einem primär normativen zu einem primär kognitiven, lernorientierten Erwartungsstil einher. Lernen wird zum ubiquitären Grundprozess aller gesellschaftlichen Bereiche (ebd.: 291).
Literatur Etzioni, Amitai (1968): The active society. New York: Free Press. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1991): »Die Weltgesellschaft«. In: Soziologische Aufklärung, Bd. 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, 4. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 51-71. Luhmann, Niklas 1995: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Quinn, James (1992): Intelligent enterprise. A knowledge and service based paradigm for industry. New York: Free Press. Senge, Peter (1990): The Fifth Discipline. New York: Doubleday. Wehling, Peter (2006): Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens. Konstanz: UVK. Willke, Helmut (1995): Systemtheorie III. Steuerungstheorie. Grundzüge einer Theorie der Steuerung komplexer Sozialsysteme. Stuttgart: Fischer. Willke, Helmut (1997): Supervision des Staates. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Willke, Helmut (1997a): »Wissensarbeit«. In: Organisationsentwicklung, 16. Jg. Nr. 3, 5-18. Willke, Helmut (2001): Systemisches Wissensmanagement. 2. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius. Willke, Helmut (2002): Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Willke, Helmut (2003): Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnungen moderner Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Willke, Helmut (2006): Global Governance. Bielefeld: transcript. Willke, Helmut (2007): Smart Governance. Governing the Global Knowledge Society. Frankfurt a.M./New York: Campus.
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2 .3 An dré Gorz : Vom Wis se nskapitalis mus zur Wissensges ellschaft NICKLAS BASCHEK
An d r é G o r z ’ K a p i t a l i s m u s k r i t i k Das Werk des Sozialphilosophen André Gorz zeichnet sich vor allem in den letzten Jahren seines Lebens durch eine konsequente Hinwendung zum Begriff des Wissens und der Wissensgesellschaft aus. Ausgangspunkt dieser Fokussierung ist die Einsicht, dass Wissen in jüngerer Zeit zur wichtigsten und primären Produktivkraft geworden ist. Demnach seien zentrale Begrifflichkeiten des ökonomischen Denkens wie Arbeit, Wert und Kapital nun neu zu bestimmen und in der zentralen Verschränkung mit dem Begriff des Wissens zu beleuchten. André Gorz wurde am 9. Februar 1923 in Wien geboren und kam erstmals 1946 – ein Jahr nach Abschluss seines Chemiestudiums in Lausanne – mit Jean-Paul Sartre in direkten Kontakt, freundete sich mit diesem an und schrieb später in der von Sartre, Simone de Beauvoir und Maurice Merleau-Ponty gegründeten politischen Zeitschrift Les Temps Moderne. Sartres existenzialistische Fassung des Marxismus bildete denn auch die maßgebliche Inspiration für Gorz’ Denken. Wiederholt kritisierte er den in den 60er und 70er Jahren in Frankreich besonders wirkmächtigen Strukturalismus für seine Subjektferne und die aufkommende Postmoderne für ihre Aufklärungs- und Humanismusskepsis. Vor allem Marx Frühschriften nutzte Gorz, um eine eigene humanistische, subjektorientierte und ökologische Position zu erarbeiten, die auch in seinen hier zentralen Kritik der Wissensökonomie ein klares normatives
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Ziel propagiert: eine Vollendung der allerhöchstens in Umrissen erkennbaren Wissensgesellschaft.
Die Krise des Wertbegriffs Problemleitende Erkenntnis der Gorzschen Analyse des modernen Kapitalismus ist die Einsicht, dass sich der Charakter der Arbeit in ihm grundlegend geändert hat: Simple und monotone Tätigkeiten, die der klassischen marxistische Theorie noch vorschwebten (z.B. im Rahmen der Fabrikarbeit), verlieren nach Gorz nunmehr an Bedeutung, wertschöpfend und damit besonders lukrativ sind sowohl im verarbeitenden wie auch im Dienstleistungsgewerbe demnach anspruchsvolle komplexere Tätigkeiten mit einer höheren Wissenskomponente (vgl. Gorz 2001). Diese erste entscheidende Einsicht führt demnach zu einer Transformation des Wertbegriffs: Marx übernimmt noch die seit Adam Smith dominante Werttheorie, wonach sich der Wert einer Ware aus der in ihr akkumulierten Arbeitszeit ergibt. Produkte sind demnach kristallisierte Arbeit und werden dadurch erst als Waren prinzipiell tauschbar. In der modernen Wissensökonomie jedoch zählt nach Gorz in jüngerer Zeit nicht mehr schlicht die allgemeine abstrakte menschliche Arbeit, die in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Anzahl von Produkteinheiten herstellt, sondern vielmehr das in das Produkt investierte know how, die Idee dahinter und der Gehalt an Wissen und Information, also die gemeinhin unkörperliche, »immaterielle Arbeit«. Wissen als wichtigste Produktivkraft, als maßgeblicher wertschöpfender Gehalt der Ware ist jedoch schwerlich mess- und operationalisierbar. Unterschiedlichste Qualitäten wie Intuition, Urteilsvermögen, Entscheidungsfreude, Kreativität und Lernfähigkeit fließen dabei ein. Wissen als wichtigste Komponente der modernen Arbeit führt zu einer Unbestimmbarkeit dieser, anhand der blanken Arbeits- oder Maschinenlaufzeit lässt sich die Arbeitsleistung nicht mehr bestimmen. Diese prinzipielle Unmessbarkeit der Arbeit führt dabei nach Gorz zwangsläufig in eine Unbestimmbarkeit des Wertes als solchem. Wert und Kapital müssen demnach im Wissenskapitalismus auf neue Weise verstanden werden.
P r o d u k t i vk r a f t W i s s e n Freilich hat Wissen seit jeher eine wichtige Rolle im ökonomischen Prozess gespielt. Jede Maschine ist letztlich materialisiertes Wissen. Gorz unterscheidet aus diesem Grund zwischen einem allgemeinen, alltags78
ANDRÉ GORZ: VOM W ISSENSKAPITALISMUS ZUR W ISSENSGESELLSCHAFT
weltlichen, lebendigen Wissen, welches der Mensch je individuell in Erziehung und Sozialisation erlernt und welches sich in Erfahrung und Lernfähigkeit zeigt und zielgerichtet erworbenem, formalisiertem und spezialisiertem wissenschaftlich-technischem Wissen, welches vor allem in klassischen Bildungseinrichtungen erlernt wird. Die immaterielle Arbeit geht nun nicht im bloßen wissenschaftlich-technischen Wissen auf. Ein Großteil des wertschöpfenden Potenzials entspringt im Gegenteil jenem lebendigen Wissen, das im Gegensatz zum bloßen Fachwissen vor allem »Erfahrungswissen, Urteilsvermögen, Koordinierungs-, Selbstorganisierungs- und Verständigungsfähigkeit« beinhaltet (Gorz 2004: 9). Diese Kenntnisse entspringen der gesellschaftlichen Sozialisation und werden meist im Alltag als soft skills erlernt: im Handlungsvollzug, ohne bewusste primär berufsqualifizierende Zielrichtung. Spiel, Sport, Kunst und nahezu jede Form zwischenmenschlicher Beziehung dienen dabei als »Schule des Lebens« (ebd.: 41). Die Pointe der Gorzschen Theorie besteht nun darin, dass ein Großteil dieser Fähigkeiten sich gegen eine schul- und ausbildungsförmige Formalisierung sperrt und dennoch in immaterieller Arbeit zur Notwendigkeit moderner Wertschöpfung geworden ist. Damit wird sowohl die gezielte Stupidisierung in überaus monotoner Fabrikarbeit (Marx) als auch die radikale Spezialisierung im Fachmenschentum (Weber) in der zeitgenössischen Wissensökonomie unterlaufen: »Nicht der Fachmensch, der ganze Mensch soll sich in seiner Arbeit einsetzen« (ebd.: 10). Ersterer bildet sich und wird auf dem Wege institutionalisierter Ausbildungen zum diesem Zweck gebildet. Letzterer hingegen bringt sich selbst und sein gesamtes Leben ein; seine Arbeit zeichnet sich gerade durch Selbständigkeit und Unverwechselbarkeit aus. Die individuelle Kreativität, Innovation, Spontaneität und Motivation erwirbt er dabei meistenteils in Freizeit und Freundschaft, anstatt in Schule und Betrieb. Während sich nach Gorz frühere Arbeitsverhältnisse noch durch eine strikte hierarchische Struktur auszeichneten und Maschine und Ingenieur die Einfügung des Arbeitenden in diese erzwangen, indem sie quasi einen Automaten, den verlängerten Arm der Maschine aus diesem machten, bringt er sich nun selbst mit all seinen Ideen, Fähigkeiten und Eigenheiten ein. Vordergründig erscheint eine solche Verschiebung als Aufbruch vormals gleichmachender, einengender, hierarchischer Verhältnisse: Arbeit in der Wissensökonomie lässt demnach Umrisse einer neu erlangten Autonomie erkennen. Gorz jedoch betont stets den ambivalenten Charakter des »kognitiven Kapitalismus«, indem zwar einerseits traditionale Ausbeutungsverhältnisse des Industriekapitalismus erodieren, diese jedoch durch neue subtile Machtmechanismen ersetzt wer-
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den. Drei verschiedene Ebenen der Transformation im Wissenskapitalismus sind dabei im Folgenden von zentraler Bedeutung: 1. die Verwertung des Wissens und die Akkumulation immateriellen Kapitals. 2. die Genese des Konsumenten als Mieter der Ware Wissen. 3. die Genese des Arbeitenden als Selbstunternehmer.
Wert ohne Maß Analog zur Trennung von materieller und immaterieller Arbeit unterscheidet Gorz materielles und immaterielles Kapital. Während ersteres Fixkapital in Form von Gebäuden, Maschinen, Rohstoffen und Anlagen meint, stellt zweiteres auf prinzipiell ungreifbare Kategorien wie die Reputation, den Markennamen, die Organisationsfähigkeit des Managements und die Innovation der Mitarbeiterschaft ab. Mittlerweile ziele unternehmerisches Handeln vor allem auf die Akkumulation immateriellen Kapitals: Immer größere Anteile von Konzernen mieteten Maschinen und Fabriken und investierten dafür ihre immaterielle Arbeit und ihr immaterielles Kapital. Gorz zu Folge werden Betriebe der verarbeitenden Industrie zu bloßen »Vasallen« dieser (Gorz 2004: 51); idealtypisch markiert dieser Prozess gar die sukzessive Aufgabe sachlichmateriellen Privateigentums. Einige PCs und vor allem kluge Köpfe genügten nunmehr als Blaupause neu erlangter global denkender Flexibilität. Um jedoch diese unternehmerischen soft skills ausschöpfen zu können, bedarf es ihrer Verwertung, sie müssen zu Waren werden. Besonders zu einer offenbar grenzenlosen Wertschöpfung geeignet scheint das investierte Wissen: Innovation, Originalität und Effektivität eines Produkts – ob materieller oder immaterieller Natur – sind dann die überzeugendsten Kaufargumente. Der Clou dieser neuen Ökonomie besteht nach Gorz gerade darin, dass diese Form der Wertschöpfung einer einheitlichen Grundlage entbehrt. Wie viel Innovation steckt in einem hergestellten Produkt? Und wie schlägt sich diese in den Preisen nieder? Wann ist ein Börsenkurs eines Unternehmens überbewertet, das fast keinen sachlich-materiellen Privatbesitz hat? Produkte, deren Wert zuvor schlicht über die investierte Arbeitszeit begründbar war und die gegen Äquivalente auf dem Markt getauscht wurden, zeichnen sich nunmehr über ihre Unvergleichbarkeit aus. Gerade in der werbeträchtig behaupteten Einzigartigkeit eines Produkts liegt demnach seine kapitalistische Potenz. In direkter Nähe zu Pierre Bourdieus Analyse der feinen Unterschiede heißt es bei Gorz: »Die immaterielle Dimension der Produkte 80
ANDRÉ GORZ: VOM W ISSENSKAPITALISMUS ZUR W ISSENSGESELLSCHAFT
gewinnt eine viel größere Bedeutung als ihre materielle Wirklichkeit, und ihr symbolischer, ästhetischer oder sozialer Wert übertrifft den Gebrauchswert und verwischt den Tauschwert.« (Gorz 2004: 51) Die Wissensökonomie wird zur Symbolökonomie. Firmen vermieten ihr Wissen, ihre Kompetenzen und ihren Markennamen. Ihre Artikel werden zu Marken, die gleichsam Lebensgefühl, Originalität und Individualität versprechen. In geradezu ironischer Weise werden millionenfach produzierte Turnschuhe für den Konsumenten zu Ausweisen ihrer Selbstbestimmung. Allerdings birgt diese Entkopplung der Wissensökonomie vom materiellen Kapital auch Gefahren: Markennamen müssen geschützt werden und Innovation darf nicht umsonst im Internet zu beschaffen sein. Wissen kann demnach nur dann dauerhaft verwertbar und als immaterielles Kapital nutzbar sein, wenn es monopolisiert werden kann. Den größten Kostenaufwand verspricht folglich vor allem die künstliche Verknappung und die Restriktion des Zugangs zu Idee und Erfindung: Patente, Lizenzen und Verträge protegieren nach Gorz die prinzipiell fragile Wissensökonomie. An dieser Stelle zeigt sich die doppelte Neubestimmung des modernen Unternehmens: So profitiert es einerseits von Ressourcen, die es selbst nicht geschaffen hat. Es saugt demnach jenes lebendige Wissen auf, dass im gesellschaftlichen Zusammenleben entsteht und zirkuliert, anstatt den Arbeiter in Maschine und Arbeitsroutine einzuspannen. Andererseits muss es dieses Wissen immer wieder aufs Neue unzugänglich halten und privatisieren. Das Prestige und die Reputation der Firma sowie das know how und die Kreativität des Personals sind die stets umkämpften Quellen des Profits.
Die Selbstproduktion des Konsumenten Die radikale Hinwendung zur prinzipiell unbestimmbar-immateriellen, gesamtgesellschaftlichen Alltagskultur und ihre Nutzbarmachung im Wissenskapitalismus muss nach Gorz notwendig auch eine neue Kultur des Konsums hervorbringen. Die Konsumtion in ihr hebt vor allem auf die symbolische Strahlkraft eines jeden Produkts ab und entkoppelt Waren von ihrem nüchternen Gebrauchswert – sie sollen keine bloßen Gebrauchsgegenstände mehr sein, sondern werden in den Stand von Unikaten, ja von Kunstwerken erhoben. Eine nur in ihnen materialisierte künstlerische Begabung soll sie hervorbringen, der Designer ersetzt den Handwerker, das zu kaufende Lebens- und Selbstwertgefühl die blanke Bedarfsdeckung (ebd.: 62ff.). Neben der so behaupteten Knappheit die81
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ses Wissens und seiner rechtlich-politisch gesicherten Monopolisierung produziert die Wissensökonomie sich über Werbung und Ideologie die passenden Konsumenten: Anstatt lediglich begrenzte Bedürfnisse zu decken, verspricht die Teilhabe am Wissenskapitalismus nunmehr die Befriedigung weitschweifendster Wünsche. Die Marke des Stuhls, auf dem ich sitze, bestimmt über seinen Wert und über meinen Sitz in der Welt, das Design meines Laptops verspricht womöglich distinguierende Unangepasstheit oder Sicherheitsliebe. Waren fungieren als Projektionsflächen des Individuums und Erfolgsgaranten seiner Individualisierung. Analog zur totalen Einbindung des Arbeitenden im Arbeitsprozess zielt auch die Bindung des Konsumenten auf den ganzen Menschen ab. Das Individuum im Gorzschen Wissenskapitalismus bewegt sich in scheinbarer Autonomie und wird doch von erdrückender Eigenverantwortlichkeit geknechtet: als Konsument und als Arbeitender. Die »Person als Unternehmen«, als Ich-AG oder als Arbeitskraftunternehmer hat sich etwaige Erfolge oder Misserfolge selbst zuzuschreiben. Der Einzelne hat ›etwas‹ aus sich zu machen, gleichwohl dabei schleierhaft bleibt, was das eigentlich genau meint. Sein gesamter Lebenslauf wird auf dem Arbeitsmarkt bedeutsam, denn mit der Unbestimmbarkeit des Wissens als wichtigster Produktivkraft geraten auch die Unterscheidungen von Arbeit-Freizeit und arbeitsrelevant-arbeitsirrelevant ins Wanken. Gorz argumentiert, dass selbst die Zahlung von Arbeitslosengeld letztlich als ein karger Lohn für die unsichtbare Arbeit der Arbeitssuche interpretiert werden muss (ebd.: 32). Dergestalt zeigt sich, inwiefern sich die Erosion klassischer Lohnarbeitsverhältnisse als eine Ausbeutung zweiter Ordnung verstehen lässt: Die Ausbeutung durch den Betrieb wird durch eine mittlerweile primäre Selbstausbeutung im Wissenskapitalismus verdeckt.
Ab s c h i e d vo m P r o l e t a r i a t Gorz’ Gesellschaftsanalysen geben auch in seinen letzten Veröffentlichungen, die insbesondere die Veränderungen durch den Faktor Wissen fokussieren, das Ziel einer Emanzipation aus den zuvor geschilderten latent unfreien Verhältnissen nicht auf. Dabei lässt er sich von der Erkenntnis leiten, dass der moderne Wissenskapitalismus notwendigerweise jene Widersprüche hervorbringt, die zur Transformation in eine wahre Wissensgesellschaft beitragen: »Der ›kognitive Kapitalismus‹ ist die Krise des Kapitalismus schlechthin« (ebd.: 50). Lebendiges Wissen ist ja gerade kein zielgerichtet erworbenes Fachwissen, sondern wird im lebendigen gesellschaftlichen Miteinander, der Alltagskultur geschöpft 82
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und weitergegeben und ist demnach per definitionem Allgemeingut. Es ist unbestimmbar, wo und wie es erworben ist und hat demnach keinen Tauschwert. Jedes instrumentelle (Fach-)Wissen, das auf die berufsmäßige Nutzbarkeit in menschlicher Arbeit ausgerichtet ist, sei letztlich überhaupt nur auf der Grundlage dieser unmessbaren Eigenwerte möglich. Die Basis moderner Wertschöpfung ist dergestalt die unveräußerliche, allgemeine, unmessbare Eigenleistung der Gesellschaft in Sozialisation, Erziehung und Bildung. Diese markiert nach Gorz den eigentlichen Reichtum der modernen Gesellschaft. Der moderne Wissenskapitalismus stemme sich gegen diese Einsicht, indem er das Wissen als Kapital »mit den traditionellen, finanziellen und materiellen Formen des Kapitals maskiert«. (ebd.: 72) Aber auch diese Mechanismen der Maskierung, künstlichen Verknappung, Lizensierung und Ökonomisierung werden vor immer neue Probleme gestellt: Die Ausbildung erschöpft sich nicht in der Heranzüchtung des nackten Fachmenschen und ist demnach schwerlich reproduzierbar. Vor allem jedoch sperrt sich der digitale Kapitalismus des Internets gegen die vollständige Indienstnahme und Kontrolle: der Computer erscheint Gorz als Möglichkeit der Aneignung der Produktionsmittel; enthierarchisierte, vernetzte und prinzipiell allgemeinzugängliche, kollektive Arbeit nimmt dabei den überaus größten Raum ein. Die Freie Softwarebewegung, Open Source, Hackertum und die hochqualifizierten cultural creatives taugten dabei zu den »›Dissidenten des digitalen Kapitalismus‹« (Gorz 2004: 13). Die Genese des Internets legt folglich bereits den Grundstein für eine echte Wissensgesellschaft, die Verwertungsstreben, Tausch- und Geldwirtschaft durch eine »Ökonomie der Fülle«, durch eine »Umsonst-Ökonomie« zum Wohle aller ersetzt. (Gorz 2004: 50) Eine solche Wissensgesellschaft ist nach Gorz erst dann realisiert, wenn Wissen als überhaupt erst ermöglichende Grundlage jeder zweckorientierten Instrumentalisierung bewusst gemacht wird. Oberstes Ziel der Gorzschen Wissenssoziologie ist demnach die Bewahrung der prinzipiellen Ziellosigkeit des lebensweltlichen Wissens: der Mensch als Subjekt ist sich selbst gegeben und hat sich selbst zu machen – gegen Entfremdung und gegen Beschränkung. Dieses »Sich-Selbst-Machen« offenbart in Reinform die Spuren des französischen Existenzialismus und der humanistischen Tradition der Marxexegese. In diesem radikalen Individualismus findet die Gorzsche Theorie gleichermaßen ihren Anfangs- wie Endpunkt.
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Rezeption und Kritik Wohl auch, weil der philosophische und sozialwissenschaftliche Autodidakt Gorz niemals einen Lehrstuhl besetzte, war und ist er in den Feuilletons mitunter präsenter als in den fachwissenschaftlichen Diskursen der Soziologie und der Philosophie. Die Rezeption des Gorzschen Schaffens im akademischen Feld fällt dabei sehr heterogen aus: Während er einerseits meist als dezidiert marxistischer Denker verstanden wird (vgl. exemplarisch Krämer/Leggewie 1989), erscheint sein Werk aus der Perspektive von Autoren wie Wood und Sayers als ein verkappter Liberalismus, der letztlich einem atomistischen Selbstverwirklichungsdogmatismus das Wort redet. Anthony Giddens schließlich hat Gorz’ Theorie für ihren Utopismus kritisiert und hält seine Perspektive für schlicht unrealistisch (vgl. Little 1996: 2, 193). Bezogen auf seine späteren – hier zentralen – Arbeiten zur Wissensgesellschaft beweist Gorz tatsächlich einen frappierenden Optimismus vor allem in der Bewertung des jüngsten technischen Quantensprungs, des Internets. Rein quantitativ zumindest bleibt die Trägerschaft des Gorzschen Emanzipationsstrebens, namentlich die FreieSoftware-Community in jedem Fall überschaubar. Dass Gorz’ Kritik des Wissenskapitalismus von einem mitunter naiv anmutenden Fortschrittsoptimismus zehrt, ist dabei auch der Tatsache geschuldet, dass er einige überaus prominente und wissenssoziologisch fruchtbare Ansätze weitestgehend missachtet: Insbesondere jüngere Arbeiten der Cultural Studies beispielsweise diskutieren die Rolle des Internets und der lebendigen Alltagskultur im Zusammenhang politischer Subversion und Emanzipation bereits seit längerem explizit (vgl. exemplarisch Hepp/ Krotz/Thomas 2009). Michel Foucaults Arbeiten (vgl. Foucault 2004) scheinen ebenso wie die Gedanken Adornos und Horkheimers zur Kulturindustrie (Horkheimer/Adorno 1969: 128ff.) in erstaunlicher Weise in Gorz Wissenssoziologie auf: wenn Gorz die Mechanismen der Diszplinierung des Arbeiters, die Produktion des »modernen Menschen« (als Konsument und als Produzent) und schließlich die Schöpfung seiner Bedürfnisse und Wünsche in den Blick nimmt. Zu deren ungleich pessimistischeren Aussichten stellt Gorz keinerlei Bezüge her. Gleiches gilt für Pierre Bourdieus Arbeiten. Dessen Differenzierung zwischen kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital hätte die etwas schwerfällige Unterscheidungen von formalisiertem, totem, einem lebendigen, einem allgemeinen und einem lebensweltlichen Wissen präzisieren bzw. teilweise ersetzen können. Freilich darf nicht aus den Augen verloren werden, dass Gorz’ Arbeiten zur Wissensgesellschaft lediglich den aktuellsten Ansatzpunkt 84
ANDRÉ GORZ: VOM W ISSENSKAPITALISMUS ZUR W ISSENSGESELLSCHAFT
seiner theoretischen Ambitionen darstellen. Gorz legt folglich den Grundstein für eine offen normative, politisch-ambitionierte Wissenssoziologie, die in marxistischer Tradition einen Gegenpol zu den wertneutraleren Konzepten der Systemtheorie oder des Poststrukturalismus bildet.
Literatur Foucault, Michel (2004): Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am College de France 1978-1979, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gorz, André (1980): Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus. Frankfurt a.M.: Europäische Verlags-Anstalt. Gorz, André (1989): Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft. Berlin: Rotbuch-Verlag. Gorz, André/Kallscheuer, Otto (1991): Und jetzt wohin? Zur Zukunft der Linken. Berlin: Rotbuch-Verlag. Gorz, André (2001): »Welches Wissen? Welche Gesellschaft?« In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) (2002): Gut zu Wissen. Links zur Wissensgesellschaft. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 14-35. Gorz, André (2004): Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie. Zürich: Rotpunktverlag. Hepp, Andreas/Krotz, Friedrich/Thomas, Tanja (Hg.) (2009): Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1969): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: S. Fischer. Krämer, Hans Leo/Leggewie, Claus (1989): Wege ins Reich der Freiheit. André Gorz zum 65. Geburtstag. Berlin: Rotbuch-Verlag. Little, Adrian (1996): The political thought of André Gorz. Routledge: London.
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2 .4 Karin Knorr Cetina : Posts ozialität SABINE MAASEN/MARIO KAISER
Alt, ja platonisch ist die Idee, wonach uns Theorien helfen, die Welt zu deuten, zu erklären, zu verstehen. Das gilt auch für die Theorien und Konzepte der Soziologie, mit denen wir uns einen Reim auf die Gesellschaft machen – neuerdings heißt sie: Wissensgesellschaft. Während dieses Konzept noch eine spontane Plausibilität erzeugt, erweisen sich andere Begriffe als sperriger. In diesem Fall hilft uns die Gesellschaft, die Soziologie zu verstehen. So klären uns heute Fernsehserien darüber auf, was mit Postsozialität gemeint sein könnte, etwa dank der us-amerikanischen Krimiserie CSI: Den Tätern auf der Spur (Zuiker 2000), die uns seit einer Dekade mit dem Gedanken an eine objektzentrierte Sozialität vertraut macht.
Abbildung 1: Szene aus CSI Im Gegensatz zu der deutschen Tatort-Reihe, in der Ermittler ihren Weg durch spezifische soziale Milieus von deutschen Städten erfragen müssen, sich dabei häufig von diesen Subkulturen zumindest im Sinne eines 87
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vorübergehenden going native gefangen nehmen lassen, geschieht in CSI nichts dergleichen. Im Gegenteil. Der Erfolg des Teams, das aus Chemielaboranten, Materialanalysten und Medizinern besteht, beruht gerade darauf, dass es zu den sozialen und kulturellen Umständen des Verbrechens eine fast hyperszientifische Distanz hält. Mehr noch: Die Protagonisten interagieren mit ihren potentiellen Tätern bis zum Schluss der Untersuchungen kaum je direkt, dafür umso vermittelter über Objekte, Dinge, Spuren, Einschusslöcher, DNA-Proben, kleinste Textilrückstände. Das betrifft überdies die Interaktionen im Team selbst. Denn auch diese sind im Gegensatz zu den Beziehungen zwischen den deutschen Tatortermittlern jeglicher psychologischer und sozialer Ambivalenzen entkleidet – zumindest von Ambivalenzen, die über die jeweilige Fach- oder eher: Objektkompetenz hinausgehen. CSI kommt damit einschlägigen Filmen gleich, in denen der obszöne Blick auf das Objekt ausgiebig inszeniert wird – wobei es sich hier um Objekte handelt, die unablässig befragt, untersucht, verwandelt, destilliert, filtriert und fraktioniert werden, bis sie endlich ihre Wahrheiten preisgeben (vgl. Abbildung 1). Die entscheidende Frage nun lautet: Sind diese Spuren und Objekte lediglich Derivate, Supplemente oder Fetische für das Soziale oder sind sie das Soziale selbst? Folgt man dem Konzept einer Postsozialität, wie es von Karin Knorr Cetina (1997; 2001; 2007a; 2007b) in einer Reihe von Veröffentlichungen umrissen wurde, unterhalten wir in der so genannten Wissensgesellschaft in der Tat: eine Sozialität mit Objekten. Im Klartext bedeutet dass, dass die Objekte selbst zu relevanten Bestandteilen, Mitgliedern oder gar Akteuren der Gesellschaft werden und so ihre alten soziologischen und anthropologischen Bestimmungen hinter sich lassen, denen zufolge Objekte nicht anderes sind als Instrumente oder Waren einer im weitesten Sinne ›humanistischen‹ Sozialität. Die in CSI gesammelten und untersuchten Dinge wären folglich eben nicht nur Spuren von Tätern, sondern bis zu einem gewissen Grade diese Täter selbst. Folgt man der Diagnose einer postsozialen, posthumanistischen Gesellschaft, gilt es daher, • erstens die »massive Ausbreitung von Objektwelten innerhalb des Sozialen« zur Kenntnis zu nehmen, • zweitens das soziale Umfeld neu zu bestimmen, »in dem Objekte an die Stelle von Menschen als Interaktionspartner treten und traditionelle, über Interaktion vermittelte soziale Einbettungen ersetzen« und • drittens dem Umstand Rechnung zu tragen, wonach »zwischenmenschliche Verhältnisse über Objekte vermittelt und diese in zu-
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KARIN KNORR CETINA: POSTSOZIALITÄT
nehmenden Masse auf Objekte angewiesen sind« (Knorr Cetina 2007a: 25). Heißt eine der Grundfragen der Soziologie, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zu ergründen, animieren Serien wie CSI dazu, nicht nur die Beziehung selbst, sondern mit ihr auch die entsprechenden Relationsglieder zu überdenken. Denn zwischen Individuum und Gesellschaft haben sich laut Knorr Cetina epistemisch und sozial anspruchsvolle Objekte eingestellt, die beide Seiten in ihrem Wesen nicht unberührt lassen. Vor diesem Hintergrund fordert das Konzept der Postsozialität dazu auf, zum einen die Sozialität von und mit Objekten neu zu bestimmen, zum anderen, Brücken zwischen mehreren, bislang eher isolierten Fachdiskussionen in der Soziologie zu schlagen.
Sozialität mit Objekten Karin Knorr Cetina wagt sich mit ihrer These von der »postsozialen Wissensgesellschaft« auf ein Terrain, das bereits von einigen etablierten Konzepten bestellt ist – u.a. Individualisierung, Expertisierung und neue Formen der Wissensproduktion. Sie erweitert diese Landschaft nun um den Aspekt der Technisierung der Wissensgesellschaft und verleiht ihm einen neuen Namen: Postsozialität. Die Grundidee lautet: Die Objektbeziehungen nehmen zu, objektzentrierte Umwelten vermitteln neue Beziehungen und schaffen neue Bindungen für das postsoziale Selbst. Dies geht mit der Expansion gemischter Beziehungen von Subjekte und Objekte her. Knorr Cetina spricht hier von einer »Kreolisierung« (Knorr Cetina 1997: 6) der modernen Gesellschaft. Postsozialität versteht sich in diesem Sinne als Beschreibung eines Wandlungsprozesses von »epischem Charakter« (Knorr Cetina 2007b: 295). In enger Nachbarschaft zu Diagnosen, die den Wandel vom industriellen zu post-industriellem Leben, von Nationalstaaten zu Weltgesellschaften oder von Moderne zu Postmoderne identifizieren, fokussiert dieses Konzept auf das Soziale und die Bedingungen von Gesellschaftlichkeit. Dies geschieht in dezidierter Entgegensetzung zu Arbeiten, die zwar die »konsumistische Neigung in westlichen Demokratien« (Ritzer 2010) oder das Schwinden der gegenwärtigen menschlichen, ja humanistischen Beziehungen (Bauman 1994; 2009) feststellen, zugleich aber ignorieren, dass dies Hinweise auf, wenn nicht gar Indikatoren für neue Formen von Sozialität sind. Es ist vor allem die eklatante Technisierung der modernen Wissensgesellschaft, die nicht etwa einer ›De-Sozialisierung‹ gleichkommt, son89
SABINE MAASEN/MARIO KAISER
dern mit einer Expansion von Elementen und Praktiken einhergeht, die bislang nicht als ›sozial‹ bezeichnet wurden. Gleich, ob es um technische Dinge, Konsumgüter, Tauschinstrumente (z.B. Aktien) oder Expertensysteme geht – alle diese Elemente und die mit ihnen verbundenen Praktiken weiten derzeit die sozialen Formen und damit: die soziale Welt aus. Das Konzept der Postsozialität impliziert einerseits einen spezifischen Objektbegriff, andererseits stützt es sich auf eine veränderte Struktur des Selbst. Was die postsozialen Objekte und ihre zunehmende Präsenz in der sozialen Welt betrifft, so löst Knorr Cetina sich von der Vorstellung material fixierter Dinge und charakterisiert sie demgegenüber als notorisch unbestimmt, sich wandelnd und sukzessive entfaltend. In Anlehnung an Rheinbergers Konzept des epistemischen Dinges (2006) geschieht dies, da die Objekte wie etwa Softwareprogramme in ihre Umwelt eingreifen, mit ihr interagieren, und so quasi-experimentell immer neue Ausgestaltungs- und Verwendungsweisen erfahren – oder durch eine neue Version ersetzt werden müssen. Das Ding ist dementsprechend nie ›fertig‹. Wenn Rheinberger für sein Konzept des epistemischen Dings Derridas Begriff der Différance (Derrida 2004) aufgegriffen hat, geschah dies, um zu zeigen, dass Dinge immer aufs Neue befragt, analysiert, erprobt und in neue Verwendungsmöglichkeiten eingebettet werden müssen. Im Alltag sind es etwa Computerprogramme, die diesen Status einnehmen: Sie sind nie ganz fertig, die nächsten Applikationen, das nächste update ist immer schon in Sicht. Ihre je mögliche Verwendung erschließt sich, indem sie vom Subjekt angeeignet, personalisiert, gelegentlich auch affektiv besetzt werden. Postsoziale Objekte kennzeichnet folglich eine duale Struktur: Sie dienen einerseits dem sofortigen Gebrauch und stellen andererseits für den Nutzer ein unerschöpfliches Entdeckungsprogramm dar, das ein relationales Engagement des Subjekts mit dem Objekt verlangt (Knorr Cetina 2007a: 34). Genauso wie postsoziale Objekte immer vor ihrer Realisierung stehen, so steht auch das postsoziale Subjekt stets vor seiner Subjektwerdung. Was das Konzept des postsozialen Selbst betrifft, so löst es sich vom »I-you-me«-Modell (Peirce, Mead, Freud), das ein Realität schaffendes ›I‹ sowie ein kritisches, die Standards der Gesellschaft repräsentierendes ›me‹ (Mead) oder ›you‹ (Peirce) in ein regulatives Verhältnis setzt. Stattdessen orientiert sich der der Begriff eines postsozialen Subjekts an Lacan und fasst »es als eine Struktur von Wünschen zu einem kontinuierlich erzeugten Mangel auf« (Knorr Cetina 2007a: 29f.). Das You repräsentiert nun das idealisierte Selbst im Spiegel oder den perfekten Anderen. Es konstituiert den steten Mangel im Subjekt und damit sein Begehren, das Gewünschte zu erreichen. In technisierten Wissens90
KARIN KNORR CETINA: POSTSOZIALITÄT
gesellschaften wird dieser Spiegel indes stets erneuert und modifiziert – er institutionalisiert sich in den Medien, in der Werbung, aber auch in Konsumtempeln (Ritzer 1999). Das Subjekt, das ein relationales Engagement mit einem Objekt entwickelt hat, wird durch deren Weiterentwicklung zur Ausbildung immer weiterer Bedürfnisse verlockt (Knorr 2007: 34). An der Schnittstelle von wünschendem Selbst und veränderbaren Objekten stellen sich postsoziale Relationen ein. Sie bauen auf einer strukturellen Affinität auf, die Subjekte und Objekte – hier per Wunschstruktur, dort per permanenter Re-Definition – in ein wechselseitig konstitutives Verhältnis setzt: Immer neue Begehrensketten provozieren die Herstellung von Objektvariationen (Autos, Computer, Mode) – und vice versa. Postsoziale, insbesondere kommunikationstechnologisch hergestellte Relationen sind signalarm, und erfordern eben deshalb verstärktes interpretatives Engagement. Eben dies sorgt für eine »neue Lässigkeit« gegenüber Computern (Turkle 1998), zu denen Subjekte in vielerlei Beziehungen treten (z.B. informative, beratende, unterhaltende), und wofür das Internet reichhaltiges Anschauungsmaterial liefert. Hiermit wird eine interobjektive Sozialität beschrieben, die zuweilen auch durch eine Solidarität mit den Objekten hergestellt wird. Die moralische Dimension dieser Sozialität (»Every time I walk on grass I feel sorry because I know the grass is screaming at me«, Mc Clintock) entsteht jedoch nicht aus Höflichkeit oder Sentimentalität, sondern ebenfalls aus Wissen – und zwar (hier:) aus dem Wissen über Pflanzen und ihren Mechanismen der Reaktion auf ihre Umwelt (Knorr Cetina 2007b: 281). Daraus ergibt sich mit dem Konzept der Postsozialität ein wichtiger Aspekt für das Konzept der Wissensgesellschaft: »Wissensgesellschaften sind nicht einfach Gesellschaften mit mehr Experten, mehr technologischen Infra- und Informationsstrukturen. […] [Es geht darum,] dass Wissenskulturen ihre Fäden in soziale Prozesse einschießen, den gesamten Komplex der Erfahrungen und Beziehungen, die sich mit der Artikulation von Wissen entfalten und etablieren« (Knorr Cetina 1998: 93). Auch wenn Knorr Cetina der postsozialen Gesellschaft eine ›liminale Sozialität‹ bescheinigt, so geht es ihr keineswegs um eine Verlustanzeige im Sinne eines Schwindens des Sozialen, sondern um die Charakterisierung einer bisher wenig beachteten Dimension der Wissensgesellschaft – um die Transformation des Sozialen. »Die postsozialen Formen sind nicht reich an Sozialität im alten Sinn, aber sie können in anderer Hinsicht reich sein, und die soziologische Herausforderung
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besteht dann darin, diese neuen Konstellationen sowohl theoretisch als auch empirisch zu analysieren« (Knorr Cetina 2007a: 38).
In diesem Sinne ist Postsozialität als ein Suchbegriff zu verstehen, der rezente Veränderungen des Sozialen, die mit der Entwicklung zur Wissensgesellschaft einhergehen, aufgreift, bündelt und in einen, wenn auch vorläufigen, konzeptionellen Zusammenhang eines »Umrisses« (Knorr Cetina 2007a) stellt: postsoziale Selbste, postsoziale Objekte, postsoziale Beziehungen. Dies geschieht in enger Nachbarschaft zu Entwürfen etwa des »Neosozialen« (Lessenich) oder des »Technosozialen« (ActorNetwork-Theory), Formen der »Hybridisierung« (Latour) und das Selbst als »Cyborg« (Haraway). Sie alle gehen der Beobachtung nach, dass Objekte, also Wissen, Technik und Artefakte, konstitutiver Teil des Gesellschaftlichen sind. In diesem Zusammenhang interessieren sie sich vor allem für die Formen und Folgen von zunehmender Individualisierung und Objektualisierung in der technisierten Wissensgesellschaft
Individualisierung und Objektualisierung Objekte im Allgemeinen, wissenschaftliche Gegenstände im Besonderen, bevölkern die Soziologie schon seit geraumer Zeit. Zumeist aber wurde ihnen höchstens ein defizienter oder supplementärer, gleichsam ein Ersatzstatus für das eigentlich Soziale zuerkannt. Mit Ausnahme der jüngeren Wissenschaftssoziologie (Science and Technology Studies) bekam es die Soziologie folglich nur selten mit things as such, vielmehr mit Objekten als Instrumenten oder mit Dingen als Produkten eines sozialen Umwandlungsprozesses zu tun. So geht das neomarxistische Theorem der Reifizierung oder Verdinglichung (Lukács 1986[1923]) im Anschluss an Marx’ Warenfetisch gerade davon aus, dass der moderne Kapitalismus ehemals soziale Beziehungen und Tatsachen wie Arbeitsverhältnisse in immer stärkerem Ausmaße in Dinge, d.h. Waren verwandelt, die auf diese Weise eine Objektivität oder Naturalität erlangen. »Verdinglichung bedeutet«, so schreiben noch Berger und Luckmann in den 1960er Jahren, »menschliche Phänomene aufzufassen, als ob sie Dinge wären, das heißt als außeroder gar übermenschlich. […] Verdinglichung ist die Auffassung von menschlichen Produkten, als wären sie etwas anderes als menschliche Produkte« (Berger/Luckmann 1980[1966]: 94f.). Entsprechend der Verdinglichungsthese werden wir zwar in einem gigantischem Ausmaß von Dingen bzw. Waren heimgesucht, doch diese sind eigentlich nicht sie selbst – sie sind immer schon die zweitrangigen Als-Ob-Produkte eines 92
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kapitalistischen Transformationsprozesses, in dem ursprünglich menschliche und soziale Phänomene zu Dingen gemacht werden. Ebenfalls auf zweite Plätze verwiesen werden Dinge, wenn sie als Mittel oder Instrumente im Rahmen einer technischen oder »instrumentellen Vernunft« (Horkheimer und Adorno 1981; Habermas 1969) konzipiert werden. Im Vergleich zu der sozialtheoretisch bevorzugten Thematisierung von Zwecken und Zielen verschwinden die ›mittelbaren‹ Dinge hinter diesem Horizont fast ganz. Sie machen sich gegenüber dem Handeln, das sie als ›Zeug‹ im Sinne Heideggers (2001[1927]: §16) benutzt, nahezu unsichtbar – »aufdringlich« (ebd.) werden sie nur dann, wenn sie den Fluss des instrumentellen Handelns stören und unterbrechen. Kurz: Während das Konzept der Reifikation Objekte stets als etwas anderes, etwa als verdinglichte Arbeit in Blick nimmt, lässt die vernunftkritische Diagnose einer zunehmenden Technisierung und Instrumentalisierung die Objekte qua Instrumente zugunsten der Fokussierung auf Zwecke und Ziele nahezu unbeachtet. Irritation löst höchstens noch die Frage aus, was heutzutage (z.B. menschliche Embryonen) der Instrumentalisierung unterworfen wird. Die soziologische Deklassierung der Objekte zugunsten des Sozialen erfuhr erst in der jüngeren Wissenschaftssoziologie eine Korrektur. Im Anschluss an die mikrosoziologischen Laborstudien (Knorr Cetina 1981; Latour/Woolgar 1979) erregten zunächst die Widerstände Aufmerksamkeit, die Untersuchungsobjekte der sozialen Praxis auferlegen und diese zu einem ›Darumherumarbeiten‹ zwingen (Pickering 1995). Einsichten wie diese animierten die Wissenschaftssoziologie wie auch die Wissenschaftsgeschichte zu einer produktiven Aneignung philosophischer Konzepte, unter ihnen etwa Bachelards Erkenntnishindernisse (1978) oder Derridas Konzeption einer Materialität von Zeichen (1994a; 1994b). Jenseits einer einseitigen soziologischen Vereinnahmung als bloße Waren oder Instrumente erschlossen sich damit für die Soziologie theoretische Optionen, wissenschaftliche und technische Dinge auf eine Weise zu thematisieren, dass an ihnen ihr semiotisches oder soziales Eigenleben durchscheinen konnte (Rheinberger 2006; Latour 1999). Knorr Cetinas Begriff einer Sozialität mit Objekten nimmt diesen Faden auf, trägt sie jedoch aus dem Labor in die Wissensgesellschaft – charakteristisch für sie ist, dass sie zunehmend mit epistemisch anspruchsvollen Objekten Wissenkulturen angereichert wird: »society […] is now more inside knowledge processes than outside« (Knorr Cetina 1997: 8). Und da diese Wissenskulturen sich in erster Linie um Objektwelten formieren, ereignet sich in dieser Gesellschaft eine nie dagewesene Orientierung an Objekten: als Quellen des Selbst, als Quellen von
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Intimität und geteilter Subjektivität sowie als Quellen sozialer Integration (ebd.: 9). Mit diesem Befund steht Knorr Cetina nicht allein. Auch Bruno Latour hat in seinem Versuch zu einer symmetrischen Anthropologie (2008) wissenschaftliche Objekte und technische Artefakte gleichsam aus dem Labor befreit und über die ganze Gesellschaft verteilt. Ähnlich wie Knorr Cetina, doch radikaler noch räumt auch er den Dingen einen akteursähnlichen Status ein. In Form von Handlungsprogrammen tragen sie in sich eine Handlungsfähigkeit [agency], denen die menschlichen Akteure notgedrungen Folge zu leisten haben – etwa, wenn sie vermeiden wollen, beim Überfahren einer Bodenschwelle zur Tempodrosselung, d.h. eines ›schlafenden Gendarmen‹, ihr Auto zu beschädigen. Dementsprechend sind es so mundane Objekte wie Sitzgurte oder automatische Türschließer, die laut Latour unsere Gesellschaft in einem Maße härten, wie es die Sprache bisher noch nicht vermochte: »technology is society made durable« (Latour 2000). Während Latour allerdings sein Augenmerk gänzlich auf den Aufstieg von Dingen zu so genannten Aktanten richtet und sie als soziologische Phänomene sui generis zu etablieren sucht, blendet er die subjektivitätstheoretischen Implikationen dieser Entwicklung aus. Es ist genau diese Leerstelle, auf die die Diagnose einer Postsozialität eine Antwort zu geben versucht. Denn laut Knorr Cetina ist die zunehmende Objektualisierung, die nicht zu verwechseln ist mit der neomarxistischen Verdinglichung, das unmittelbare Korrelat zum bekannten Befund der Individualisierung. Wenn im Rahmen von Postsozialität die Rede von Individualisierung ist, betrifft diese nicht so sehr deren erste Welle, wie sie bereits Max Weber oder Emile Durkheim ins Auge fassten, sondern die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die etwa durch Ulrich Beck (1986) oder Anthony Giddens (1997) diagnostiziert wurden. Nicht selten wird dieser Prozess in Zusammenhang mit einem Rückzug des Sozialen in Verbindung gebracht, der die Subjekte einerseits aus einer Solidargemeinschaft freisetzt oder – in den Worten von Giddens – entbettet, andererseits sie dazu bringt, riskante Freiheiten (Beck und Beck-Gernsheim 1994) in Kauf zu nehmen. Die zunehmende Betonung der Selbstverantwortung und die damit einher gehenden Risiken sind überdies Thema der gouvermentality studies, die sich im Anschluss an Foucault der Frage angenommen haben, wie die von Subjekten praktizierte Selbststeuerung und -regierung sich mit übergeordneten Regierungstechnologien verzahnen. Und von dieser Seite stammt auch der Vorschlag, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in der neoliberalen Gouvernementalität als neosozial (Lessenich 2003) zu bezeichnen. »Die Gesell94
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schaft konstitutiert sich als Subjekt, das gemeinwohlkompatibles Handeln der Subjekte einklagt – und das sich gegen jene Individuen schützen und verteidigen muss, deren Verhalten der Gesellschaft Risiken auferlegt. Die Gesellschaft wird zum Bezugspunkt des Sozialen« (Lessenich 2003: 89). Dies geschieht heute vermehrt in wissensbasierten, technosozialen Arrangements präventiver Risikoabwehr (z.B. genetisches Screening, Navigationssysteme). Dass die gegenwärtige Wissensgesellschaft von einer Veränderung des Sozialen in Gestalt einer Postsozialität geprägt ist, unterschlägt keineswegs, dass der Begriff der Gesellschaft, der noch stark an der Idee des Sozial- und Nationalstaates partizipierte, im Zeitalter der Globalisierung viel von seiner Bedeutung verloren hat (Knorr Cetina 2007a: 28). Doch die im Zuge der Individualisierung vollzogene Entbettung aus einer emphatischen Sozialität, aus als ›ursprünglich‹ gedachten sozialen Beziehungen, wird durch eine verstärkte Objektualisierung beantwortet – eine affektive Bindung von Subjekten an Objekte: »Was postsoziale Theorie anstatt des schlichten Szenarios einer ›De-Sozialisierung‹ anbietet ist eine Analyse neuer, alternativer Formen der Selbst- und Fremdbindung« (ebd. 5). Programmatisch formuliert hätten Analysen dieser Art zur Aufgabe, beides in ihrem Wechselspiel zu berücksichtigen: Eine zunehmende Individualisierung als auch eine komplementäre, möglicherweise auch kompensatorisch operierende Objektualisierung.
Schluss Das Konzept der Postsozialität gehört zwar noch nicht zum Standardvokabular in Medien und Wissenschaftspolitik, hat jedoch durch seine Vernetzung mit verwandten Konzepten und Theorien gegenwärtig an Plausibilität gewonnen. Neben Wissenschafts- und Technikforschung interessiert es vor allem in theoretischen und zeitdiagnostischen Debatten. Ein wichtiges gesellschaftstheoretisches Thema kreist um die Beobachtung, dass der heutigen Gesellschaft der Gesellschaftsbegriff abhanden zu kommen scheint, zumindest »nicht mehr der fraglose Horizont der Gegenwartsdiagnose« (Bude 2002) ist. Auch Karin Knorr Cetina geht mit ihrem Konzept der Postsozialität davon aus, dass nicht mehr die Gesellschaft, sondern das Leben der eigentliche Gegenstand des Räsonnements und der Regulierung sei. Indikativ dafür ist die Weise, in der in der Folge biowissenschaftlicher Innovationen der lebendige Körper heute weniger als organisches Substrat denn als molekulare Software begriffen wird, die ›gelesen‹ und ›umgeschrieben‹ werden kann. Biopolitisch stellt sich nun die Frage nach der Bedeutung von modulierbarem 95
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Leben innerhalb dieser politisch-technischen Konstellation (z.B. Giorgio Agamben 2007): Die Behauptung ist, dass Leben das zentrale Scharnier der Gestaltung, Veränderung von Individuen und Gesellschaften sei. Individuelles life enhancement, Biopolitik, die Vorrangstellung der life sciences, etc. – all dies indiziert, nicht nur für Knorr Cetina, dass wir gegenwärtig einen Übergang von einer »Kultur des Sozialen« zu einer »naturzentrierten Kultur« beobachten (Knorr Cetina 2007a: 36). Leben avanciert zugleich zur zentralen gesellschaftstheoretischen Kategorie. Gerade jetzt erscheint es vielen soziologischen Beobachtern wichtig, »eine Soziologie zu erfinden, die das Soziale nicht als Ausgangspunkt, sondern als Resultat einer Koproduktion von Gesellschaft und Natur begreift« (Lemke 2007: 254). Das Konzept der Postsozialität bietet hierfür eine bedenkenswerte Perspektive, die vielversprechende Analysen auslösen kann. Klar ist noch nicht, ob es sich um eine ›Übergangssemantik‹, einen Epochenbegriff handelt – Nick Stokes vom CSI-Team ist sich überdies nicht sicher, ob es immer die effektivere Form von Sozialität ist: Hodges: Nick Stokes: Hodges: Nick Stokes: Hodges: Nick Stokes:
I didn’t page you. No. I just figured I’d come by. You’re checking up on me again. No, I’m checking up on my evidence. Do you think if you hover the FTIR will work faster? Yes, Hodges, that’s what I think.
Literatur Agamben, Giorgio (2007): Homo sacer: die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bachelard, Gaston (1978): Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bauman, Zygmunt (1994): Alone again: ethics after certainty. London: Demos. Bauman, Zygmunt (2009): Postmoderne Ethik. Hamburg: Hamburger Edition. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.) (1994): Riskante Freiheiten: Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 96
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3 T HEM ATISIERUNG DURCH DIE
DES
W ANDELS
W ISSENSGESELLSCHAFT
3.1 Wirtschaft: Die w issensbasierte Ökonomie STEFFEN DÖRHÖFER
Nachdem die wichtigsten theoretischen Konzepte und Zeitdiagnosen einer Wissensgesellschaft die Transformation ökonomischer Verhältnisse in den Mittelpunkt ihrer Argumentationen rücken, erscheint die Beschreibung wissensorientierter Strukturmerkmale als einfaches Unterfangen. In den öffentlichen Diskursen ist von einer Wissensökonomie die Rede, die neuen Informations- und Telekommunikationstechnologien scheinen den Zugang zu Wissen zu revolutionieren und in den Unternehmen hat sich die Bedeutung der Produktivkraft Wissen durchgesetzt. Trotzdem stellt sich die Frage, warum sich diese Selbstbeschreibung innerhalb des Wirtschaftssystems etabliert hat und was die Zeitdiagnose »Wissensökonomie« besser erklärt als andere, konkurrierende Beschreibungen wie die Netzwerkgesellschaft, der Finanzkapitalismus oder die Informationsgesellschaft. Der hegemoniale Charakter des Wissensökonomiediskurses lässt sich darauf zurückführen, dass auf der einen Seite wesentliche Akteure in- und außerhalb des Funktionssystems zur Diffusion des Selbstverständnisses beitragen. Natürlich reicht eine rein diskursive Verbreitung der Leitbilder nicht aus, so dass – auf der anderen Seite – die Selbstbeschreibung auch mit einer wahrnehmbaren Veränderung der systemischen Strukturmerkmale korrespondiert. Etwas komplexer wird die Beschreibung des Transformationsprozesses noch dadurch, dass die omnipräsenten Deutungsmuster eines Wissensökonomie-Diskurses die Wahrnehmung ökonomischer Prozesse seitens der unterschiedlichen ökono101
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mischen Akteure – Unternehmen, Verbände, Individuen – beeinflussen und dadurch soziale Praktiken beziehungsweise ökonomische Beziehungen verändern. Es ist nicht nur das Verhältnis zwischen der Rhetorik einer Wissensökonomie und den realen Veränderungen des ökonomischen Systems zu untersuchen, sondern ebenso der Einfluss dieses Diskurses auf ökonomische Handlungsweisen. Dementsprechend soll im Folgenden die Nachhaltigkeit des Konzeptes einer »wissensbasierten Ökonomie« unter diesen Aspekten untersucht werden: Im ersten Abschnitt geht es um die Grundintentionen des hegemonialen Diskurses einer wissensbasierten Ökonomie. Hierbei ist im Anschluss an das Konzept einer »reflexiven« Ökonomie von Nigel Thrift (2005) von einer reflexiven (Re-)Strukturierung der Ökonomie die Rede. Das diskursive Konzept ist nur dann von einer dauerhaften Relevanz, wenn »materielle« Veränderungen des Wirtschaftssystems einen Bedeutungswandel der Produktivkraft Wissen einleiten. Folglich thematisiert der zweite Abschnitt die Strukturmerkmale einer wissensbasierten Ökonomie. Inwieweit die Reflexion auf Wissen und die Strukturveränderungen auf der Makroebene die ökonomischen Organisationsformen – Netzwerke, Cluster und Unternehmen – transformieren, beschreibt der nächsten Abschnitt. Abschließend wird die Reichweite der wissensorientierten Selbstbeschreibung diskutiert und einige Erweiterungen für ein analytisches Konzept vorgeschlagen.
Reflexive (Re-)Strukturierung der Ökonomie In den 1990er Jahren hat sich die »wissensbasierte Ökonomie« als hegemoniales Deutungsmuster für die Restrukturierung einer globalisierten Wirtschaft etabliert. Obwohl die dominanten ökonomischen Veränderungsprozesse hauptsächlich in der Herausbildung globaler Märkte, einer Verschärfung der Wettbewerbsverhältnisse und einem Bedeutungszuwachs der Finanzmärkte bestanden, intendierten – globale, nationale und regionale – politische Akteure eine Mitgestaltung und Regulation dieser dynamischen Prozesse. Infolgedessen kann die wissensbasierte Ökonomie als »Grundprinzip und strategische Orientierung für eine wirtschaftliche, politische und soziale Neuordnung« (Jessop 2003: 95) verstanden werden, die auf die allgegenwärtige Legitimationskrise der (neoliberalen) kapitalistischen Entwicklung antwortet. Demnach beabsichtigen die ProtagonistInnen des Wissensökonomie-Diskurses, einen neuen »Geist des Kapitalismus« zu formieren und die dysfunktionalen Entwicklungen des bisherigen ökonomischen Systems zu überwinden (vgl. Boltanski/Chiapello 2003). Das Konzept einer wissensbasier102
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ten Ökonomie beschreibt die reflexive Gestaltung des gegenwärtigen Kapitalismus – Nigel Thrift (2005) spricht in diesem Zusammenhang von einem »reflexiven Kapitalismus« – und ist an viele unterschiedliche Interessen gekoppelt. Dabei spielen vor allem die politischen Gestaltungsinitiativen zur ökonomischen Neustrukturierung eine entscheidende Rolle, so dass Leitkonzepte wie die knowledge-based economy (OECD 1996), die »wissensbasierte Wirtschaft« (Lissabon-Strategie) und die »Informationsgesellschaft Deutschland« (Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2010)1 omnipräsent sind. Interessanterweise können die politischen Konzepte die Transformation der Industrieökonomie in eine Wissensökonomie nicht überzeugend nachweisen und sind eher als ein »rhetorisches Konzept« (Godin 2006: 24) anzusehen. Besonders deutlich wird dies anhand der Analysen der OECD, wonach sich die wissensbasierte Ökonomie als eine Reaktion auf die zunehmende Rolle von Technologie und Wissen als Produktions- und Wachstumsfaktoren (OECD 1996: 9) herausbildet. Die Wissensintensität der Ökonomie zeigt sich – so die OECD (2003) – anhand quantitativer Indikatoren, wie der Änderung der Zusammensetzung von Forschungs- und Entwicklungsausgaben, der Zunahme an Patentanmeldungen, der expandierenden und zunehmend mobilen »Humankapitalbasis« sowie der Verbreitung und effizienteren Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien. Auf der Basis dieser quantitativen Indikatoren fungiert das Konzept der knowledge-based economy lediglich als »umbrella concept« (Godin 2006: 23) für verschiedene Veränderungsprozesse in den Bereichen Wissenschaft und Technik, wobei in der Regel keine qualitative Veränderung der gesellschaftlichen Wissensbasierung begründet werden kann. Aus diesem Grund besitzen die politischen Maßnahmen hauptsächlich einen performativen Charakter, wenngleich die Schaffung politischer Rahmenbedingungen, die Wissenschaftsförderung und die Wirtschaftspolitik die wünschenswerte zukünftige Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie weiter voranbringen. Jedoch kann die Zielsetzung der reflexiven ökonomischen Neuorientierung, die vielschichtigen und teilweise unübersichtlichen Strukturveränderungen innerhalb eines Konzepts beziehungsweise einer systemischen Selbstbeschreibung zu vereinigen, nur dann gelingen, wenn sich der Bedeutungswandel von Wissen in der Wirtschaft nachweisen lässt. Das Deutungsmuster einer »wissensbasierten Ökonomie« ist somit das vorläufige Ergebnis komplexer 1
In dem politischen Konzept einer Informationsgesellschaft stehen die Informations- und Telekommunikationstechnologien im Mittelpunkt, die als Schlüsseltechnologie einer wissensbasierten Wirtschaft verstanden werden. 103
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Wechselbeziehungen zwischen dem weitverbreiteten Diskurs und den materiellen ökonomischen Veränderungen. Letztere beziehen sich auf eine veränderte Kopplung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft sowie den ökonomischen Strukturwandel anhand der neuen Informations- und Telekommunikationstechnologien (siehe Abbildung 1).
Strategische Neuorientierung der globalisierten Ökonomie
Reflexion auf Nebenfolgen von Deregulierungsund Ökonomisierungsprozessen
wissensbasierte Ökonomie
Wissen als Produktivkraft und Heterogenisierung von Wissensformen
Neue Formen der Wissensproduktion
Informations- und Kommunikationstechnologien
Abbildung 1: Die wissensbasierte Ökonomie
Strukturmerkmale wissensbasierter Ökonomien Im Kontext mannigfaltiger ökonomischer Restrukturierungsprozesse – Bedeutungswandel der Finanzmärkte, Veränderungen der Arbeitsmärkte und neue Formen der Unternehmensorganisation (Dörre 2009) – zeigen sich die wissensorientierten Strukturveränderungen in der wachsenden Bedeutung der Wissens- und Informationsbasis einer globalen Wirtschaft. Aufgrund der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sind Informationen global erhältlich und austauschbar, wobei die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in der produktiven Anwendung von Informationen (also Wissen) besteht (vgl. Castells 1996: 83). Zugespitzt formuliert beziehen sich die Reflexion auf Wissen und der Bedeutungszuwachs von Wissen als Produktivkraft auf die Dialektik von Globalisierung und Lokalisierung ökonomischer Prozesse, d.h. dass Informationen zwar global diffundiert werden, die Umwand104
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lung dieser Informationen zu Wissen und Innovation jedoch nur in lokalen Räumen möglich ist. Dementsprechend handelt es sich bei der Umwandlung von Informationen zu Wissen um einen komplexen interaktiven Wissensaustausch- und Lernprozess, der örtliche Nähe und Face-to-face-Kontakte der WissensträgerInnen erfordert. Wissen lässt sich infolgedessen nicht mehr nur als »theoretisches Wissen« wie im Konzept der postindustriellen Gesellschaft von Daniel Bell (1985) betrachten, sondern Innovations- und Wissensprozesse implizieren die Versammlung einer Heterogenität von Wissensformen. Besonders deutlich lassen sich diese komplexen Transformationsprozesse in Richtung einer wissensbasierten Ökonomie anhand der veränderten Kopplung von Wissenschaft und Ökonomie sowie dem Einsatz der neuen Informationsund Kommunikationstechnologien fassen. In ihrer Studie The New Production of Knowledge gehen Gibbons et al. (1994) davon aus, dass – sowohl nachfrage- als auch angebotsinduziert2 – die Produktion von Wissen in die Gesellschaft diffundiert und die Universitäten sowie die Forschungseinrichtungen ihre »epistemologische Sonderrolle« (Hack 2004) verlieren. Obwohl die Universitäten wichtige Produzenten von wissenschaftlichem Wissen und zentraler Ausbilder hochqualifizierter Arbeitskräfte bleiben (Wissensproduktion nach Mode 1), wird die Wissensproduktion in anwendungsbezogenen Kontexten entscheidend. Die Wissensproduktion nach Mode 2 (knowledge) basiert – im Gegensatz zu Wissenschaftsproduktion nach Mode 1 (science) – auf einer Entgrenzung der Wissensproduktion und einem erweiterten Verständnis von Wissen (vgl. Gibbons et al. 1994). In Unternehmen hat sich die Generierung von Wissen verändert, da marktfähiges Wissen anwendungsbezogen – in einem ökonomischen Praxiskontext – generiert wird, so dass unterschiedliche Wissensformen (einschließlich des wissenschaftlichen Wissens) kooperativ zur Lösung eines bestimmten Problems kombiniert und interaktiv weiterentwickelt werden. Demnach ist für lokale Wissensgenerierungsprozesse die Heterogenität von
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Den entscheidenden Impuls für den Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft sehen Nico Stehr und Peter F. Drucker in der durch die Bildungsexpansion gestiegenen »Qualität des Arbeitsangebots« (Stehr 2001: 297), das zu einer »angebotsinduzierten Transformation des Arbeitsmarktes« (ebd.: 276) führt. Gibbons et al. (1994) erweitern diese Sichtweise um nachfrageinduzierte Faktoren: »The core of our thesis is that the parallel expansion in the number of potential knowledge producers on the supply side and the expansion of the requirement of specialist knowledge on the demand side are creating the conditions for the emergence of a new mode of knowledge production« (ebd.: 13). 105
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Wissensformen und damit die Anerkennung nicht-wissenschaftlichen, impliziten Wissens3 gerade für den unternehmerischen Erfolg zentral. Im Wechselspiel mit den neuen Formen der Wissensproduktion sind die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien grundlegend dafür, dass sowohl die Erweiterung der ökonomischen Wissensbasis als auch die Heterogenisierung von Wissensformen den ökonomischen Strukturwandel bestimmen. Infolgedessen gehen Foray/David (2002) davon aus, dass die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien eine Erweiterung der gesellschaftlichen (kodifizierten) Wissensbasis ermöglichen und auch eine wichtige Rolle bei der Übertragung informatisierbarer Wissensbestände spielen. In erster Linie verweist der Aspekt der Wissensübertragung – im Grunde wäre der Begriff »Informationsübertragung« richtig –auf verschiedene Wissensformen im Allgemeinen und auf das Wechselspiel zwischen übertragbarem (kodifiziertem) und nichtübertragbarem (implizitem) Wissen. Es zeigt sich eindeutig, dass der Informatisierungsprozess eben nur in Interaktion mit der lokalen Anwendung von Informationen und deren kontextgebundener Kombination mit anderen Wissensbeständen konzipiert werden kann. Kurt Hübner (2004) fasst den Sachverhalt wie folgt zusammen: »Entgegen weit verbreiteter Auffassungen brachten die IuKT (Informationsund Telekommunikationstechnologien) keineswegs den ›Tod der Distanz‹. Das Gegenteil ist wahr: IuKT sind wissensgetriebene Innovationen, die die räumliche Nähe von Innovationsakteuren geradezu erfordern. Richtig ist: IuKT transportieren Informationen schneller und billiger denn je über den Globus. Wissen, anders als Information, aber ist nach wie vor in starkem Masse menschengebunden und deshalb räumlich fixiert« (ebd.: 14).
Inwieweit die Lokalisierung von Wissensprozessen durch die neuen Formen der Wissensproduktion und die neuen IuK-Technologien einen grundlegenden ökonomischen Wandel einleiten beziehungsweise eingeleitet haben, zeigt sich erst auf den Ebenen von Netzwerken, Clustern und Unternehmen.
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Aufbauend auf der Erfahrung, »dass wir mehr wissen als wir zu sagen wissen« (Polanyi 1985: 14), formuliert Michael Polanyi seine Konzeption des impliziten Wissens oder tacit knowledge, das die personengebundenen, erfahrungsbezogenen, nicht-formalisierbaren und körperlichen Wissensformen umfasst. Implizites Wissen ist die Grundlage allen – auch des kodifizierten – Wissens.
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Lokales Wissen – Netzwerke, Cluster und Organisationen Die Einbettung von Unternehmen in eine wissensbasierte globale Ökonomie hat die Unternehmensstrategien, die Bedeutung regionaler Vernetzungen und den Arbeitsprozess maßgeblich verändert. Dabei erweist sich auf diesen unterschiedlichen Handlungsebenen die Reflexivität auf Wissen als grundlegendes Charakteristikum von Organisationsprozessen, welches auf der Grundlage von wissensbasierten Managementkonzepten, der veränderten Managerausbildung in Business Schools und durch Beratungskonzepte diverser Consultants die sozialen Praktiken in Unternehmen verändert (vgl. Thrift 2005). Entsprechend der widersprüchlichen Konstitution wissensbasierter Ökonomien – zwischen Vermarktlichung und Wissensbasierung – versuchen Unternehmen jene paradoxen Handlungsimperative erfolgreich zu vermitteln. Unternehmen sind der wissensgetriebenen Intensivierung des globalen Wettbewerbs und dem zunehmenden Marktdruck auf den internen Arbeitsprozess ausgesetzt. Das bedeutet, dass die globale Konkurrenz Unternehmen dazu verleitet, alle möglichen Rationalisierungspotentiale, unterstützt durch die IuK-Technologien, zu nutzen. Beispiele hierfür wären die Verlagerung von Tätigkeiten in so genannte »Billiglohnländer« oder das Outsourcing von Tätigkeiten, die nicht als Kernkompetenzen angesehen werden. Im Gegensatz dazu erfordert der reflexive Umgang mit dem Produktionsfaktor Wissen das Management und die Organisation von Wissensprozessen, das sich aufgrund des sozialen Charakters der Wissensproduktion einer reinen Marktlogik entzieht. Denn die Kombination und der Transfer verteilten Wissens sind auf lokale Orte angewiesen, an denen sich die entsprechenden sozialen Relationen zwischen den WissensträgerInnen als Voraussetzung für Lern- und Wissensprozesse herausbilden können. Damit ist die Frage nach der »Rückbettung« und Weiterverarbeitung globaler Informationsströme gestellt. Die Strukturmerkmale einer wissensbasierten Ökonomie bedingen seitens der Unternehmen einen Umgang mit den unterschiedlichen räumlichen Handlungsebenen, die durch den Bedeutungswandel von Wissensprozessen neu ausgerichtet werden. Die Produktion veränderter raumzeitlicher Verhältnisse umfasst drei – idealtypisch getrennte – räumliche Handlungsebenen: Unternehmensnetzwerke, Wissenscluster und das Management von Wissensarbeit. Auf der Basis neuer Informations- und Telekommunikationstechnologien hat sich nicht nur die weltweite Vernetzung von Unternehmen erheblich erleichtert, sondern es entsteht der Anschein, dass der Flexibili107
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tät von Kooperationsbeziehungen keine Grenze gesetzt ist. Oftmals ist von einer footlose company die Rede, die sich auf ihre Kernkompetenzen konzentriert, global aufgestellt ist und nicht an bestimmte Lokalitäten gebunden ist; zusätzliche Produktbestandteile sowie unterstützende Dienstleistungen werden von Zulieferern oder Partnerunternehmen bezogen. Entsprechend ihrer Machtposition innerhalb der Wertschöpfungskette kontrollieren die fokalen Unternehmen ihre Netzwerkbeziehungen, wobei sie den Überblick über Wissens- und Innovationsprozesse behalten müssen. Nach dem Konzept der »modularen Produktionsnetzwerke« bedienen sich die fokalen Unternehmen der »externen Ökonomie«, indem sie ihre Kernkompetenzen um die Beiträge der Netzwerkpartner ergänzen und die »Passung« der externen Module (materielle und immaterielle Produktbestandteile) im Sinne einer problemlosen Zusammenführung mit den internen Prozessen gewährleisten. Damit besteht der Transfer von Wissen – das in die Module inkorporiert ist – aus kodifizierten Wissensbestandteilen, deren Übertragung dementsprechend auf den ersten Blick nicht an lokale Orte gebunden ist. Trotzdem benötigen Unternehmen lokale Kontexte, an denen die verteilten Wissensformen zusammenlaufen. Lokales Wissen ist räumlich gebunden und entsteht entweder in regionalen oder in organisationalen Kontexten. Solche regionalen Kontexte befinden sich auch in unmittelbarer Konkurrenz zu anderen »Wettbewerbsregionen«. Aus diesem Grund versuchen die zentralen Akteure der Regionen, den Unternehmen ein förderliches Umfeld prospektiv zu gestalten, was insbesondere die Reflexion auf unternehmensübergreifende Wissens- und Lernprozesse zwischen regionalen Unternehmen, Wissenschaftsinstitutionen und politischen Initiativen beinhaltet. Die Clusterdefinition von Michael Porter beschreibt dies sehr prägnant: »Ein Cluster ist eine geographische Konzentration von miteinander verbundenen Unternehmen und Institutionen in einem bestimmten Wirtschaftszweig. Er umfasst eine Reihe vernetzter Branchen und weitere relevante Organisationseinheiten. Dazu gehören etwa die Lieferanten spezieller Einsatzgüter wie Komponenten, Maschinen und Serviceleistungen sowie Anbieter spezieller Infrastruktur. Cluster erstrecken sich oft die Vertriebskanäle abwärts bis zu den Kunden sowie seitlich zu den Herstellern komplementärer Produkte und zu Unternehmen in Branchen, die ähnliche Fertigkeiten und Techniken oder gemeinsame Inputs haben. Schließlich umfassen viele Agglomerationen auch Behörden und andere Organisationen – etwa Universitäten, normsetzende Instanzen, Denkfabriken, Berufsausbildungsstätten und Unternehmerverbände, die besondere Aus- und Fortbildung, Informationen, Forschung und technische Unterstützung zur Verfügung stellen« (Porter 1999: 3).
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In den Wissensclustern werden zunehmend die Bedingungen für den lokalen Wissenstransfer verbessert, so dass sowohl innerhalb von Unternehmen als auch zwischen den Unternehmen unterschiedliche Wissensbestände weiterentwickelt werden können. Dies kann anhand formeller oder informeller sozialer Netzwerke geschehen, die den Zugang zu wettbewerbsrelevanten Informationen und den regelmäßigen Wissensaustausch gewährleisten. Zwischen den regionalen Unternehmen kann es durch gegenseitige Vergleiche und den informellen Informationsaustausch zu so genannten knowledge spillovers kommen. Zudem können Innovationen durch die Interaktionen zwischen verschiedenen Akteuren der Wertschöpfungskette entstehen. Mittlerweile kann davon ausgegangen werden, dass die Herausbildung von Wissensclustern ein basales Merkmal der wissensbasierten Ökonomie ist. Schließlich befassen sich aus dem gleichen Grund – »Dispersed knowledge must be reassembled to be useful« (Malmberg/Maskell 2002: 440) – die Unternehmen damit, Wissensarbeit zu managen und zu organisieren. Vielleicht zeigt sich auf dieser Ebene der ökonomischen Transformationsprozess am deutlichsten. Das Management von Unternehmen sieht sich mit den beschriebenen paradoxen Anforderungen konfrontiert: Auf der einen Seite muss es die Wissensprozesse kontrollierbar halten und unterschiedliche Wissensbestandteile zusammenführen, während Unternehmen andererseits verteilte Wissenssysteme sind, d.h. Wissen ist entweder an Personen oder an lokale Kontexte gebunden und kann nicht von einer hierarchisch höher stehenden Position direkt kontrolliert werden. Dementsprechend haben sich in wissensintensiven Unternehmen posttayloristische Formen der Arbeitsorganisation etabliert, die von einer Dezentralisierung von Wissensprozessen und von einer indirekten Steuerung von Wissensarbeit ausgehen. Indem Wissensarbeit grundsätzlich auf die Selbstorganisation und die Motivation von Beschäftigten angewiesen ist, versuchen Unternehmen zunehmend entsprechende organisationale Kontexte wie beispielsweise Projektgruppen, Förderung von sozialen Netzwerken oder Praxisgemeinschaften zu unterstützen. Inwieweit die Strukturveränderungen in Unternehmen auch auf der Mikroebene die Herausbildung einer wissensbasierten Ökonomie rechtfertigen ist noch eine offene Frage. Gleichwohl sind wissensorientierte Strukturveränderungen in Unternehmen allgegenwärtig (Dörhöfer 2010). Insgesamt leitet die reflexive Gestaltung von Wissensprozessen auf der Netzwerk-, Cluster und der Unternehmensebene eine wahrnehmbare Transformation von ökonomischen Beziehungen und Organisationsformen ein.
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Fazit Der Diskurs einer wissensbasierten Ökonomie ist mittlerweile die dominante Selbstbeschreibung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Mit diesem Leitkonzept wurde ein Prozess der reflexiven Strukturierung eingeleitet, dem immense normative Grundannahmen innewohnen. Darin besteht sowohl die Stärke als auch die Schwäche des vorgestellten Konzepts: Mit dem skizzierten Ansatz einer wissensbasierten Ökonomie, der den rekursiven Entwicklungsprozess zwischen dem WissensökonomieDiskurs und den materiellen Transformationen fokussiert, kann der komplexe Transformationsprozess beschrieben werden. Es zeigt sich außerdem, dass es sich nicht um einen Wandlungsprozess »hinter dem Rücken der Akteure« handelt, sondern dass manifeste Interessen die Ausgestaltung einer wissensbasierten Wirtschaft beeinflussen. Während sich die Wissensökonomie problemlos als Selbstbeschreibung des ökonomischen Systems etabliert hat, gelingt es ihr bisher noch nicht, ein analytisches Modell anzubieten, das die umfassenden, teilweise widersprüchlichen Strukturmerkmale der gegenwärtigen Wirtschaft erfassen kann. Dennoch erweist sich das Konzept einer wissensbasierten Ökonomie als äußerst hilfreich für die weitere Ausarbeitung eines analytischen Modells. Vor allem die diskursive Komponente des ökonomischen Transformationsprozesses ist in ein umfassendes Theoriemodell mit einzubeziehen, so dass eine Bestimmung des Wirtschaftssystems auf das Wechselspiel zwischen Diskurs und materiellen Wandlungsprozessen rekurriert. In diesem Zusammenhang hat die Analyse der verschiedenen raumzeitlichen Handlungsebenen – Netzwerke, Cluster und Unternehmen – auf die die Bedeutung der voranschreitenden raumzeitlichen Neustrukturierung verwiesen. Mit der Herausbildung einer wissensbasierten Ökonomie geht also eine grundlegende raumzeitliche Neuausrichtung des sozialen Systems »Wirtschaft« einher, die sozialtheoretisch weiter ausgearbeitet werden müsste. Obgleich die unterschiedlichen Beschreibungen wissensorientierter Strukturmerkmalen und der veränderten raumzeitlichen Strukturierung des ökonomischen Systems den Bedeutungswandel der Produktivkraft Wissen auf allen Handlungsebenen herausarbeiten, enthält diese Selbstbeschreibung einen »blinden Fleck«. Zum Verständnis der gegenwärtigen Transformationsprozesse gehören ebenso die »Schattenseiten«, des Wandels, die vor allem in der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und der zunehmenden Exklusion ganzer ökonomischer Räume bestehen. Die Wissensökonomie beschreibt lediglich eine hegemoniale Dimension des Wirtschaftssystems, 110
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wobei gerade die Zusammenhänge mit anderen, nicht-wissensorientierten Strukturmerkmalen zu integrieren wären. Erst dann wäre eine »wissensbasierte Ökonomie« umfassend beschrieben, da die Orte der Wissensproduktion immer nur eine Seite des Produktionsprozesses darstellen.
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3 .2 Politik : Demok ratisierung von Ex pertise RENATE MARTINSEN
Der politische Diskurs von der Wissensgesellschaft Das Konzept der »Wissensgesellschaft« stellt die derzeit populärste Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft dar. Moderne Wirklichkeit ist einem systemtheoretischen Begriffsverständnis zufolge charakterisiert durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in funktionale Teilsysteme (Politik, Wissenschaft, Wirtschaft etc.), deren Operationen an jeweils spezifischen Relevanzkriterien (Macht, Wahrheit, Geld usw.) ausgerichtet sind. Dadurch entfällt der gemeinsame Standpunkt, von dem aus sich die (moderne) Welt einheitlich beschreiben lässt – sie ist nur noch als Horizont zu erfassen, der auf verschiedene Weise beobachtet werden kann. »Wissensgesellschaft« ist eine Weise der Selbstbeschreibung, welche die moderne Gesellschaft von sich selbst hervorgebracht hat und die in Konkurrenz mit anderen gesellschaftlichen Selbstbildern gegenwärtig äußerst erfolgreich ist. Wie in anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen hat sich die Rede von der Wissensgesellschaft auch im Teilsystem Politik ausgebreitet und kann hier ebenfalls als Indiz für die gegenwärtig wahrgenommene Zentralität des Wissens und die dadurch hervorgerufenen Herausforderungen gewertet werden. Als politisches Leitbild ist die Wissensgesellschaft wirkungsmächtig – denn sie hat nicht nur in zahlreiche Politikerstatements, sondern auch in die politische Programmatik Eingang gefunden. Die Suche nach einer politischen Neuorientierung in der Wissensgesellschaft kam in den letzten Jahren auf nationaler Ebene bei113
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spielsweise in der BMBF-Förderinitiative »Politik, Wissen und Gesellschaft« oder in der Gutachtenvergabe des Deutschen Bundestages zum Thema »Neue Formen des Dialogs zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit« zum Ausdruck. Aber auch auf europäischer Ebene bezeichnet die Wissensgesellschaft seit dem Lissabonner Sondergipfel im Jahre 2000 ein zentrales politisches Projekt. Die Regierungschefs Europas hatten sich zum Ziel gesetzt bis zum Jahre 2010 die »weltbeste Wissensgesellschaft« zu schaffen. Im 6. Rahmenprogramm der EU (20032006) zur Förderung von Forschung und Entwicklung wurde entsprechend »Bürger und Staat in der Wissensgesellschaft« als eine thematische Priorität verankert. Auch wenn sich das optimistische Entwicklungsszenario der Europäischen Union zu Beginn des neuen Jahrtausends in der erhofften Form nicht realisiert hat, so stellt sich die Frage nach der politischen Funktion des Diskurses von der Wissensgesellschaft. Mit anderen Worten: Geht man davon aus, dass der Wissenschaft die Aufgabe der Bereitstellung und Erzeugung von Wissen für die Gesellschaft zukommt, dann ist näher zu beleuchten, welche Veränderungen (in der Beziehung) von Wissenschaft und Politik dazu geführt haben, das Phänomen des »Wissens« auf die politische Agenda zu setzen.
Wandel der Wissensordnung: Zum neuen V e r h ä l t n i s vo n W i s s e n s c h a f t u n d P o l i t i k Die Leistung des wissenschaftlichen Systems für die Gesellschaft besteht in der Zurverfügungstellung neuen Wissens, speziell – mit Blick auf die Anwendungsorientierung von Wissenschaft – in der Hervorbringung neuer Technik/Technologie. Der wachsende Stellenwert von Wissen und Wissenschaft in hochmodernen Gesellschaften – der auch als »Verwissenschaftlichung der Gesellschaft« bezeichnet wird – lässt sich anhand empirischer Trends verdeutlichen: so ist in diesem Zusammenhang exemplarisch zu verweisen auf die immense Beschleunigung der Wissensproduktion, die zunehmende Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche mit wissenschaftlich-technischen Erkenntnissen, die enorme Verbreiterung des Personenkreises mit wissenschaftlichem Abschluss, die steigenden Ausgaben für Bildung und Forschung im staatlichen und privatwirtschaftlichen Sektor sowie die wachsende Bedeutung von stark wissens- und wissenschaftsbasierten Spitzentechnologien für die Wettbewerbsfähigkeit einer Nation. Die gestiegene Bedeutsamkeit von Wissen(schaft) für das politische System, die »Verwissenschaftlichung der Politik«, verdeutlicht sich ins114
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besondere auch in der fortschreitenden Abhängigkeit der politischen Akteure vom Expertenwissen professioneller Berater. Die Leistung der Wissenschaft für die Politik in Beratungskontexten ist dabei eine doppelte: Erstens wird instrumentelles Wissen zur Problemlösung bereitgestellt, zweitens werden politische Entscheidungen durch Expertise legitimiert (vgl. Weingart 2001: 27f.). Durch die Legitimationsfunktion kann wissenschaftliche Politikberatung zu einer Entschärfung bzw. DePolitisierung von möglichen Konflikten beitragen. Die wissenschaftlich-technologische Entwicklungsdynamik hat die Grenzen des Machbaren in der modernen Gesellschaft enorm erweitert und die Hoffnung befördert, die Abhängigkeit von der Natur durch wachsende Beherrschung »natürlicher Risiken« zu verringern. Die Wissenschaft stellt insofern zentrale gesellschaftliche Ressourcen bereit. Die Steigerung der Wissensproduktion hat allerdings – neben dieser positiven Seite – auch problematische Folgen zu verzeichnen, da sie zugleich erhöhte »Risiken der Technik« für die Gesellschaft mit sich bringt. Diese Problemlage wird verschärft durch die Einschätzung der Rolle des wissenschaftlichen Nicht-Wissens, wie sie mittlerweile in die sozialwissenschaftliche Debatte Eingang gefunden hat (vgl. Luhmann 2006). So wächst zunehmend die Einsicht, dass Nicht-Wissen keineswegs nur ein vorläufiger mangelhafter Modus der Wissensgewinnung ist, der durch mehr Forschung überwunden werden kann, sondern einen grundlegenden Bestandteil im Wissenshaushalt moderner Gesellschaften darstellt. Die veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts als unaufhebbar zwiegesichtig (Ressource und Risiko) führte zu einem grundlegend neuen Verständnis von Wissenschaft. Spinner (1994) beschreibt die damit einhergehenden Transformationsprozesse als Wandel von der klassischen zu einer post-klassischen Wissensordnung. Das klassische Leitbild einer auf Distanz zur Gesellschaft bedachten Wissenschaft im »Elfenbeinturm« hatte im 19. Jahrhundert die Funktion einer Abgrenzung gegenüber religiösen und moralischen Beeinflussungsversuchen. Akademische Erkenntnisproduktion wurde befördert durch die Entlastung des Wissenschaftssektors von kontextgebundenen Rücksichtnahmen gegenüber »wirklichem« Handeln. Diese überlieferte Wissensordnung, in der die Allgemeingültigkeit des gewonnenen Wissens garantiert schien, gerät im ausgehenden 20. Jahrhundert unter gesellschaftlichen Druck. Das tradierte gesellschaftsenthobene Ideal einer kontextlosen, wertfreien und universell gültigen Forschung wird nun zunehmend unhaltbar. Die Herauskristallisierung einer neuen post-klassischen Wissensordnung bedingt eine tiefgreifende Veränderung der Rahmenbedingungen 115
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für Erkenntnisgewinnung. Der klassische Anspruch einer universalisierbaren Wissenserzeugung im Zeichen von Wertfreiheit und Objektivität wird konfrontiert mit der Forderung nach praktischer Nutzung des Wissens. Der gesellschaftliche Kontext, in dem Wissen (und Nicht-Wissen) erzeugt und in den es eingebracht wird, erhält eine entscheidende Bedeutung. Wissenschaftliche Forschung avanciert zum Gegenstand wirtschaftlicher Forderungen und politischer Zielsetzungen – politischer Druck resultiert dabei insbesondere auch aus Mitgestaltungsansprüchen von Bürger(gruppen) und sozialen Bewegungen. In der einschlägigen Literatur dominiert die Einschätzung, dass die veränderten Legitimationsbedingungen in der post-klassischen Wissensordnung zu neuen Formen der Wissenserzeugung geführt haben (so beispielweise Gibbons et al. 1994): Wissensproduktion finde nun primär in sozial heterogenen und disziplinär verteilten Kontexten (Forschungsnetzwerken) statt, sei vorrangig anwendungs- und nutzenbezogen, unterliege in der Beurteilung vermehrt wissenschaftsexternen (z.B. politischen) Gesichtspunkten und sei gesellschaftlich rechenschaftspflichtig geworden. Wissenschaft erfährt somit in der Wissensgesellschaft einen wachsenden Gesellschaftsbezug, der häufig als »Vergesellschaftung der Wissenschaft« etikettiert wird. Die These eines Näherrückens des Wissenschaftsbetriebs an andere gesellschaftliche Teilsysteme, lässt sich insbesondere auch hinsichtlich der Politik plausibilisieren. Stellt man die veränderte Wahrnehmung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts als grundlegend ambivalent und die basale Rolle des Nicht-Wissens im Prozess der Wissenserzeugung in Rechnung, so wird das Dilemma politischen Entscheidens einsichtig: In modernen Gesellschaften muss zwischen verschiedenen Optionen gewählt werden – auch wenn die Nichtabsehbarkeit der Handlungsfolgen unhintergehbar ist. Die Veränderungen im Wissenschaftssystem führen somit zu einer »Politisierung der Wissenschaft«, die Erzeugung und Verteilung des Wissens wird zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Beide Entwicklungstrends »Verwissenschaftlichung der Politik« sowie »Politisierung der Wissenschaft« legen nahe, von einer enger werdenden strukturellen Kopplung zwischen Wissenschaft und Politik auszugehen. Über solche Formen von Kopplungen können Funktionssysteme, die sich an jeweils eigenwilligen Rationalitätskriterien orientieren, dennoch Bezüge zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt herstellen. Das politische System kann beispielsweise durch die strukturelle Kopplung mit dem Wissenschaftssystem, welche seine Erkenntnisprozesse nicht zu determinieren, wohl aber zu irritieren vermag, das Antwortverhalten gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt optimieren (Erhöhung der »Responsivität«). Solche zwischensystemischen Kopplungen können 116
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sich in Handlungssystemen (z.B. Organisationen, Runde Tische etc.) institutionalisieren.
Wandel der Staatlichkeit Grundlegende Veränderungsprozesse kennzeichnen gegenwärtig nicht nur das Wissenschaftssystem, sondern auch das politische System und werden hier unter dem Etikett »Wandel der Staatlichkeit« rubriziert. Der Staatsbegriff liefert die Beschreibung der Funktionsmatrix des politischen Systems, das für die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen zuständig ist. Der Staat kann in diesem Sinne als regulative Idee der Politik verstanden werden. Transformationen der Staatlichkeit sind das Megathema der Politikwissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die klassische Vorstellung über die Konstituierung sozialer Ordnung in der Moderne ging davon aus, dass der Staat an der Spitze einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft thront. Diese Vorstellung eines souveränen Leviathans gerät indes zunehmend ins Wanken. Denn verschiedene Krisensymptome (Martinsen 2006: 21-24) offenbaren derzeit die Grenzen der Handlungsfähigkeit des hierarchischen Nationalstaates und befördern die Suche nach neuen staatlichen Leitideen. Die Wahrnehmung einer veränderten Gestaltungsmacht des Staates ist insbesondere zurückzuführen auf krisenhafte Entwicklungen in drei Bereichen: Erstens wurden in den hochkomplexen westlichen Gegenwartsgesellschaften in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts Anzeichen einer drohenden politischen Steuerungskrise registriert: Hierarchische Topdown-Steuerungsmodelle, wie sie in der sozialreformerischen Planungsära Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre populär waren, basierten auf der Vorstellung eines externen zielgerichteten Eingreifens der Politik in gesellschaftliche Regelungsfelder. Solche hoheitlich konzipierte Regulierung hat sich als nicht zielführend erwiesen. Stattdessen wird nun ein neuer Steuerungsmodus für moderne – und das heißt funktional ausdifferenzierte – Gesellschaften favorisiert, der die unterschiedlichen gesellschaftlichen Steuerungsbereiche (Kontexte) mit ihren jeweiligen Eigenlogiken in Rechnung stellt. Bei der so genannten »Kontextsteuerung« wird dementsprechend die staatliche Stimulierung von gesellschaftlichen selbststeuernden Prozessen ins Zentrum gestellt (Willke 1987, S. 303ff.). Der Staat erscheint auf dem Hintergrund eines solchen Steuerungsmodells eher als »primus inter pares«, der sich mit zahlreichen gesellschaftlichen Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen verflochten sieht, denn als an der Spitze der Gesellschaft thronender Souverän.
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Zweitens wird unter dem Stichwort »Effektivitätskrise« ein weiterer Ursachenkomplex diskutiert, der eine Herausforderung für die überlieferte hierarchische Staatskonzeption mit sich führt. Der Begriff »Innovation« hatte in den letzten Jahrzehnten einen hervorgehobenen Platz in der politisch-öffentlichen Diskussion. Innovationsfähigkeit gilt nämlich als Schlüsselkriterium für die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit einer Nation, um sich in zunehmend globalisierenden Arenen behaupten zu können. Insofern die Akzeptanz politischer Systeme in westlichen Demokratien wesentlich auch vom erreichten Wohlstandsniveau in der Gesellschaft abhängt, sind Symptome nachlassender Innovationstätigkeit, wie sie für die BRD ausgangs des letzten Jahrhunderts festgestellt wurden, Anlass für die Politik hier regulierend tätig zu werden. In der Innovationsforschung wird inzwischen übereinstimmend die immense Bedeutung von explizitem und implizitem Wissen (d.h. von Bildung, Information, Kooperation, Kultur etc.) für den Innovationsprozess hervorgehoben. Indes ist Wissen ein besonderer Stoff und seine Vermittlung ist aufgrund seines häufig nur begrenzt formalisierbaren Charakters voraussetzungsreich. Es stellt sich in diesem Zusammenhang für die Politik also die Frage, wie die Förderung von Lernprozessen zwischen unterschiedlichen Wissensarten, -institutionen und -regionen stimuliert werden kann. In der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung wird eine zukunftsträchtige Perspektive in der Kooperation in »Netzwerken« erblickt. Mit dem Begriff des Netzwerks wird ein spezifisches – hauptsächlich auf der horizontalen Ebene angesiedeltes – Muster der Sozialintegration bezeichnet, das unterschiedliche private (wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche) sowie öffentliche Akteure integriert und in dem Informalität eine wesentliche Rolle spielt (Martinsen 2006: 25). Drittens finden sich in den westlichen Industrienationen Anzeichen einer politischen Legitimationskrise, deren Anfänge bereits auf Mitte der 60er/Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zu datieren sind. Diese Problematik verweist auf die zunehmende Sensibilisierung von Teilen der Bevölkerung für wissenschaftlich-technisch geprägte Gefährdungen für Gesundheit und Umwelt. Mit dem Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen sowie der Bürgerinitiativen wurde das bisherige stillschweigende Einverständnis mit der fortschrittsoptimistischen staatlichen Regulierung von Wissenschaft und Technik aufgekündigt. Die Forderungen der zivilen Protestbewegungen bezogen sich insbesondere auch auf die Frage der politischen Gestaltung des Willensbildungsprozesses bei wissenschafts- und technikbasierten Politikfeldern. Mit diesem politischen Anliegen wird das »überlegene« Wissen der Experten angezweifelt: der wissenschaftliche Experte fungiert nicht mehr als Garant für gesichertes Wissen. 118
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Als gemeinsamer Nenner dieser drei krisenhaften Entwicklungen lässt sich ausmachen, dass sich offensichtlich Erscheinungsformen des Hierarchieprinzips im politischen System mit dezentralistischen Gegenbewegungen konfrontiert finden (vgl. Mayntz 2001). Strukturprinzipien und Operationslogik des politischen Systems werden durch das Ausbreiten vernetzungsartiger Sozialstrukturen verändert. Mit anderen Worten: Wandel der Staatlichkeit wird insbesondere in der Herausbildung von Politiknetzwerken manifest, welche inzwischen die Realität politischer Entscheidungsstrukturen prägen. Denn der Staat sieht sich zur Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben verstärkt auf gesellschaftliche Ressourcen angewiesen und beteiligt »außerkonstitutionelle« politisch relevante Akteure zunehmend an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungs(findungs-)prozessen. Bei diesem politischen Zugeständnis zum »Mitreden« von Akteuren, die nicht zum politischen Personal zählen, handelt es sich um die paradoxe staatliche Strategie einer (freiwilligen) Machtbegrenzung zur Machtentfaltung. Die veränderte politikwissenschaftliche Wahrnehmung der Staatsformation spiegelt sich wider im neueren Staatsdiskurs, der den ehemals souveränen Leviathan mit einer neuen Metaphorik umkleidet. Insbesondere der Begriff des »kooperativen Staates« (vgl. bereits Ritter 1979) hat in der sozialwissenschaftlichen Debatte eine beachtliche Verbreitung gefunden. Über die Stimulierung von Netzwerkbildung versucht der Staat demnach Leistungssteigerungen zu erzielen sowie Legitimationsproblemen wirkungsvoll zu begegnen. Die Voraussetzungen und Erscheinungsformen politischer Machtausübung in wissens- und wissenschaftsbasierten Gesellschaften sind offensichtlich vielschichtiger geworden.
Wissenspolitik und die Forderung nach Demokratisierung von Expertise Die beiden Entwicklungstrends »Verwissenschaftlichung der Politik« sowie »Politisierung der Wissenschaft« verweisen darauf, dass die gegenseitige Irritierbarkeit zwischen den beiden gesellschaftlichen Teilsystemen Wissenschaft und Politik gestiegen ist. Je mehr der vielschichtige Charakter von Wissen ins öffentliche Bewusstsein dringt, desto stärker drängt sich die Frage auf, wie der soziale Umgang mit Wissen in demokratischen Gesellschaften angemessen geregelt werden kann. Die eingehendere sozialwissenschaftliche Befassung mit dieser Problematik hat zur Entstehung eines neuartigen Diskurs- und Politikfeldes geführt, der so genannten »Wissenspolitik« (Stehr 2001). In der entsprechenden Literatur wird der Bedarf an neuen Formen der politischen Gestaltung 119
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von Wissen hervorgehoben und die Herausbildung von Ansätzen eines gewandelten sozialen Umgangs mit Wissen konstatiert. Mit Konzeptionen von Wissenspolitik in unterschiedlichen Akzentuierungen verbinden sich eine Reihe von Erwartungen und Forderungen, welche an die veränderten Rahmenbedingungen von Wissenschaft und Politik anknüpfen: Wissenspolitik soll erstens durch verteilte Wissensproduktion zur Überwindung von Innovationsblockaden beitragen; zweitens durch eine vorbeugende Überwachung und Kontrolle des rasch anwachsenden Wissens problematischen Nebenfolgen vorbeugen oder diese zumindest eindämmen; und schließlich drittens durch eine Infragestellung der strikten Trennung von Experten und Laien die tradierten Grundlagen moderner Wissensordnungen einer kritischen Überprüfung aussetzen. Kontrovers diskutiert wird dabei zunehmend die Frage, wessen Wissen bedeutsam ist und welche Möglichkeiten sich für eine Demokratisierung von Expertise eröffnen (vgl. Liberatore/Funtowicz 2003). Die von zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen angestoßene Kritik am Status der wissenschaftlichen Experten ist mittlerweile auch Gegenstand öffentlicher und sozialwissenschaftlicher Debatten. Experten in der Politikberatung kennzeichnet nämlich nicht nur ihr (meist akademisches) Spezialwissen, sondern auch der Anspruch, zur politischen Problemlösung beizutragen. Die Forderung nach einer Demokratisierung des Expertenwissens mag zunächst irritieren – wenn man sich indes die wachsende Erkenntnis der Bedeutsamkeit von Kontexten des Wissens in Erinnerung ruft, dann lässt sich plausibel machen, dass auch Nicht-Wissenschaftlern in bestimmten Situationen ein Expertenstatus zuerkannt werden kann. Der regelmäßig in der Öffentlichkeit ausgetragene Streit der Experten verdeutlicht schlaglichtartig, dass wissenschaftliches Sonderwissen nicht zur Identifizierung und Bewältigung von konkreten politischen Problemen ausreicht. Erst das mit Wertungen versehene Sachwissen verleiht der Expertise für die Politik Bedeutsamkeit. Doch das »Wertewissen« ist weder eine Spezialkompetenz der akademischen Experten noch abstrakt ohne genaue Kenntnisse der Situation vor Ort in angemessener Weise bereitzustellen. Experten überschreiten somit regelmäßig ihren Zuständigkeitsbereich, indem sie politische Handlungsempfehlungen abgeben, denen normative Beurteilungskriterien zu Grunde liegen, deren Wertigkeit jenseits ihrer fachwissenschaftlichen Kompetenzen liegen. Stellt man außerdem das steigende Bewusstsein von der grundsätzlichen Doppelgesichtigkeit des technischen Fortschritts und der grundlegenden Rolle des Nicht-Wissens in Rechnung, so wird die Forderung nachvollziehbar, in umstrittenen stark wissenschafts- und 120
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technikbasierten Politikfeldern den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess auf mehr Personen und Gruppen auszuweiten. Dieser externe gesellschaftliche Druck, wie er im Zuge der Politisierung der wissenschaftlichen Expertenrolle erzeugt wird, stößt im kooperativen Staat auf eine interne Reformbereitschaft: Durch den Einbezug von mehr Akteuren in die politischen Beratungsprozesse sollen mögliche Akzeptanzprobleme in kontroversen Politikfeldern entschärft werden. Nicht zufällig verweist der zu Beginn dieses Beitrags angesprochene politische Diskurs der Wissensgesellschaft ausdrücklich auf die zu stärkende Rolle des Bürgers. In der politischen Programmatik geht es solchermaßen auch um die Neukonfiguration des Dreiecks Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Auf dem Hintergrund der Forderung nach einer Demokratisierung von Expertise, kommt es in modernen Gegenwartsgesellschaften zur Entwicklung und Etablierung von neuen kommunikativen bzw. deliberativen Politikformen (»Diskursen«) – solche Gesprächsforen stellen eine Institutionalisierungsform von struktureller Kopplung zwischen Wissenschaft und Politik dar.
N e u e k o m m u n i k a t i ve P o l i t i k m o d e l l e Politische Deliberation beinhaltet zunächst ganz allgemein die argumentative Auseinandersetzung über Probleme, Zielvorstellungen und Handlungsperspektiven konkreter Politiken, um gemeinsam Lösungsoptionen zwischen unterschiedlichen Positionen auszuloten. Deliberationsprozesse vollziehen sich mittels der zwei analytisch unterscheidbaren Kommunikationsmodi »Argumentieren« und »Verhandeln«. Je nach Schwerpunktsetzung der Diskurse steht entsprechend die gemeinwohlorientierte Förderung von argumentativen Verständigungsprozessen oder das auf Ressourcenmacht aufbauende Aushandeln einer verbindlichen Einigung im Vordergrund. Etymologisch verweist der Begriff der »Deliberation« auf die Sinngehalte »Abwägen« und »Beratschlagen«. Diese Form von Entscheidungsfindung unterscheidet sich damit grundsätzlich vom gängigen politischen Modus der Dezision, bei dem der (mit Willkürcharakter behaftete) Akt der Entscheidungssetzung im Vordergrund steht. Im Regelfall finden die kollektiven Erörterungen von politischen Sachfragen zwischen gewählten politischen Mandatsträgern statt. Gegenwärtig überschreiten Prozesse politischer Deliberation indes verstärkt den Raum des politisch-administrativen Systems, da zunehmend (zivil-) gesellschaftliche Akteure in Kommunikationsforen zu politischen Streitfragen einbezogen werden. Diskurse stellen somit organisierte Kommu-
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nikationsprozesse dar,1 in denen der Gedanke einer alternativen (d.h. nicht gerichtlich ausgetragenen) Konfliktregulierung eine wesentliche Rolle spielt. Kollektive Entscheidungen insbesondere in wissens- und technikbasierten Policyfeldern sollen dadurch auf eine breitere soziale sowie erkenntnismäßige Basis gestellt werden. Es geht darum, nicht nur Wissenschaftler und etablierte Vertreter organisierter Interessen, sondern auch Akteure von sozialen Bewegungen, Bürgerinitiativen und Personen in der Bürgerrolle an gemeinsamen Erörterungsprozessen zur Erarbeitung von politischen Handlungsvorschlägen für (konkrete) gesellschaftliche Probleme zu beteiligen. Diskurse stellen somit einen Spezialfall politischer Deliberation dar. Die kommunikativen Foren zur breiteren Fundierung des Willensbildungsprozesses bei prekären Streitfragen werden zumeist von politischer Seite angestoßen und sollen für das politische Entscheiden bedeutsame kontextbezogene Informationen bereitstellen (vgl. ausführlich Martinsen 2006: 29-45). Im Laufe der Zeit kam es zur Entwicklung vielfältiger experimenteller Verfahrensvorschläge für Bürgerbeteiligung mit unterschiedlichen Designs (Mediationen, Konsensuskonferenzen, diskursive Technikfolgenabschätzungsverfahren, Planungszellen, Zukunftswerkstätten etc.), die inzwischen in der BRD, aber auch in zahlreichen anderen (insbesondere) westlichen Industrienationen Anwendung gefunden haben. Das Neue an dieser Form kommunikativen Politikstils ist, dass sie sich nicht mehr an dem tradierten Modell einer konfrontativen Gegenüberstellung von Bürger(bewegung) und Staat orientiert (wie etwa das Politikinstrument der »öffentlichen Anhörung«), sondern eine stärker horizontal angelegte Grundstruktur aufweist, bei der kommunikative Aspekte ins Zentrum politischer Mitwirkungsverfahren gestellt werden. Diskurse lassen sich somit auch als zeitweilige, auf bestimmte Sachaspekte (»Issues«) in Politikfeldern bezogene Formen von Netzwerken konzeptualisieren. Diese Deliberationsverfahren werden in der Literatur zumeist aus einer handlungstheoretischen Warte diskutiert. Dabei erfolgt in Anlehnung an das Diskurskonzept von Jürgen Habermas die Unterstellung, dass zur Erzielung von Verständigungsleistungen Aussagen mit verall-
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Der Begriff »Diskurse« wird hier in einem weiten Sinne verwandt und zwar gleichbedeutend mit neuen kommunikativen oder deliberativen Politikformen bzw. Runden Tische, d.h. als Oberbegriff für organisierte Kommunikationsprozesse. Diese Begriffskonvention unterscheidet sich vom engeren normativ akzentuierten Gebrauch des Terminus »Diskurs« bei Jürgen Habermas, bei dem auf die Ausrichtung von Argumentationsprozessen am Leitbild herrschaftsfreier Kommunikation abgestellt wird (vgl. hierzu Martinsen 2006: 54ff.)
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gemeinerungsfähigen Gründen gerechtfertigt werden müssen. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein auf diese Weise erzielter inhaltlicher Konsens in modernen pluralistischen Gesellschaften die Ausnahme darstellt. Aus differenzierungstheoretischer Sicht genügt in Deliberationsverfahren hingegen die zeitweilige Verständigung auf ein Konsenskonstrukt, das die Anschlussfähigkeit verschiedener Perspektiven ermöglicht. Unterschiedliche Rationalitäten in gegenwärtigen Gesellschaften werden dabei nicht auf Interessenkonflikte verkürzt, sondern auch auf unterschiedliche Logiken funktional ausdifferenzierter Teilsysteme bezogen. Kommunikative Politikmodelle haben demnach ihre spezifische Wertigkeit als Koordinations- und Konfliktregulierungsinstrumente in prekären Politikfeldern, da sie auf kreative Weise Wege aus Handlungsblockaden aufzuzeigen vermögen.
F a z i t u n d Au s b l i c k Die neuen kommunikativen Politikmodelle wurden im Beitrag als Optionen zur Bewältigung von Krisenerscheinungen der Politik in der Wissensgesellschaft vorgestellt – sie führen unverkennbar zu einer Vervielfältigung von Expertise in umkämpften wissensbasierten Politikfeldern. Demokratie ist in der Wissensgesellschaft nicht nur normatives Postulat, sondern auch funktionales Erfordernis: es besteht offensichtlich ein Zusammenhang zwischen Verwissenschaftlichungs- und Demokratisierungstendenzen. Es gibt indes keine zwingende Verbindung zwischen neuen kommunikativen Politikmodellen und Demokratiequalität. Vielmehr ist in Rechnung zu stellen, dass das Label »Demokratie« in modernen Gesellschaften ein mehrdimensionales Phänomen (Input-Aspekt der Beteiligung und Output-Aspekt der Wohlfahrt) kennzeichnet. So ist einerseits zu berücksichtigen, dass Partizipation (wie sie beispielsweise bei der Planungszelle zum Tragen kommt) nicht mit Demokratie gleichzusetzen ist. Denn neben dem Aspekt der authentischen Beteiligung gilt auch der Gesichtspunkt der wohlfahrtsoptimierenden Effizienz als bedeutsam für das demokratische Gemeinwohl. Auf der anderen Seite wird deliberativen Verhandlungssystemen (typisch hierfür ist das Mediationsverfahren) häufig eine Steigerung der Effizienz attestiert – jedoch kollidiert die stark informelle Note der politischen Entscheidungsfindung bei dieser Form von Runden Tischen mit gewissen normativen Anforderungen an eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit (Berechenbarkeit, Gleichheit, Transparenz). Deshalb besteht hier die Gefahr einer Auslagerung von Kosten zu Lasten von »Dritten«, die nicht in die kooperativen Beratungen einbezogen waren. 123
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Die verschiedenen Typen von neuen kommunikativen Politikmodellen beziehen sich auf unterschiedliche Leitorientierungen (Gemeinwohlpostulat bzw. Positionsverfolgung), Konflikttypen (lokale Standortkonflikte, konkrete Planungsvorhaben, gesellschaftliche Fundamentalkonflikte sowie Zukunftsprobleme) und Beteiligungsansätze (Stakeholderbzw. Bürgerbeteiligungsmodelle) – gleichzeitig gibt es mittlerweile auch zahlreiche unterschiedliche Diskursdesigns, die nicht ohne Einfluss auf die Qualität der Beteiligung und das diskursive Ergebnis sind. Eine demokratietheoretische Evaluierung kann deshalb letztlich nur differenziert in Bezug auf konkrete Verfahren erfolgen (siehe hierzu Martinsen 2006: 67-87). Abschließend soll noch auf zwei zentrale Herausforderungen bzw. Streitfragen hingewiesen werden, welche die Debatte um die neuen kommunikativen Politikmodelle grundieren: • Welche Verbindlichkeit ist den gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen im Hinblick auf die politisch-rechtliche Entscheidungsfindung zuzuerkennen? Die Akteure der Runden Tische besitzen kein demokratisches Mandat, um legitimerweise politische Entscheidungen zu fällen, für die dann kollektive Geltung beansprucht wird. Indes würde ein lediglich unverbindlicher Status der kommunikativ erzielten Ergebnisse auf Seiten der beteiligten Akteure (insbesondere bei den Laien-Experten) zur Frustration führen und den Verdacht nähren, es handele sich bloß um eine Form symbolischer Politik. Zielführend erscheinen hier abgestufte Konzepte der Vermittlung zwischen Diskurs und Politikentscheidung, bei denen beispielsweise eine Verwaltungsbehörde vorab eine schriftliche Selbstverpflichtung eingeht, dass im Falle einer Nichtbeachtung der kommunikativen Voten die Entscheidung öffentlich zu begründen ist. • Welche globalen Entwicklungstrends kennzeichnen Wissensgesellschaften? Verschiedentlich wird davon ausgegangen, das Ausbreiten vernetzungsartiger Strukturen sei als Zeichen einer »Vermischung« (Entdifferenzierung) unterschiedlicher Sphären und als Einebnung des positionellen Gefälles sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik zu deuten. Demgegenüber ist diese Entwicklung jedoch als Steigerung von Komplexität (d.h. als gleichzeitige Intensivierung gegenläufiger Trends) in hochmodernen Gesellschaften zu begreifen. Denn eine Vernetzung von Politik und Wissenschaft findet statt auf der Basis einer erfolgten Ausdifferenzierung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen mit je eigensinnigen Bedeutsamkeitskriterien. Die Trennung zwischen Experten- und Laienwissen wird nicht aufgehoben – es geht vielmehr um die Frage des politischen Umgangs mit dieser Differenz und der Pluralisierung von Ex124
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pertise. Desgleichen bleibt der bevorzugte Status der professionellen Politik im ausdifferenzierten Politikbetrieb weiter bestehen. Denn im Bedarfsfalle kann der Staat auch ohne kommunikativ erzielte Einigung, nämlich hoheitlich entscheiden. Das Wissen um diese politische Hintergrundoption wirkt in gesellschaftlichen Deliberationsprozessen nachgerade als motivierender Faktor. Die enger werdende strukturelle Kopplung zwischen Wissenschafts- und Politiksystem sowie die Vervielfältigung von Wissens- und Politikformen eröffnen die Option auf einen gesellschaftlichen Zuwachs an Reflexivität. Angesichts der Risikobehaftetheit des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist ein Bedarf an Rückkoppelungsmechanismen zwischen gesellschaftlichen Bereichen, die nach spezialisierten Regeln funktionieren, offensichtlich. Es ist davon auszugehen, dass die Suche nach einer Steigerung reflexiver Mechanismen nicht nur das wissenschaftliche und politische System kennzeichnet, sondern dass sie vielmehr einen allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungstrend darstellt: Die Spätmoderne ist charakterisiert durch die Herausbildung einer (neuen) komplexen sozialen Ordnungsform, in welcher die in der Frühmoderne vorherrschende Entwicklungsrichtung der funktionalen Ausdifferenzierung überlagert wird durch eine verstärkte Vernetzung von fragmentierten Bereichen. Entsprechend lassen sich gesellschaftsweit – neben Verwissenschaftlichungseffekten – auch Tendenzen einer Medialisierung, Ökonomisierung oder Verrechtlichung ausmachen. In modernen Gesellschaften, in denen basal unterschiedliche und konfligierende Weisen der Selbstbeschreibung existieren, beansprucht bis dato das Deutungsangebot »Wissensgesellschaft« eine Vorrangstellung in der öffentlichen und sozialwissenschaftlichen Debatte. Als stärkster Konkurrent im Kampf um die wirkungsmächtigste Selbstbeschreibung der Gesellschaft erscheint derzeit die »Mediengesellschaft«, die nicht zuletzt auch zu einer immensen Beschleunigung der Ausbreitung von Wissen beiträgt.
Literatur Gibbons, Michael/Limoges, Camille/Nowotny, Helga/Schwartzman, Simon/Scott, Peter/Trow, Martin (1994): The New Production of Knowledge: The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London: Sage.
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RENATE MARTINSEN
Liberatore, Angela/Funtowicz, Silvio (2003): »›Democratising expertise‹, ›expertising democracy‹: what does this mean, and why bother?«. In: Science and Public Policy 30, S. 146-150. Luhmann, Niklas (2006): »Ökologie des Nicht-Wissens«. In: ders., Beobachtungen der Moderne, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag, S. 149220. Martinsen, Renate (2006): Demokratie und Diskurs. Organisierte Kommunikationsprozesse in der Wissensgesellschaft, Baden-Baden: Nomos. Mayntz, Renate (2001): »Triebkräfte der Technikentwicklung und die Rolle des Staates«. In: Simonis, Georg/Martinsen, Renate/Saretzki, Thomas (Hg.) Politik und Technik. Analysen zum Verhältnis von technologischem, politischem und staatlichem Wandel am Anfang des 21. Jahrhunderts, PVS-Sonderheft 31, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 3-18. Ritter, Ernst-Hasso (1979): »Der kooperative Staat«. In: Archiv des öffentlichen Rechts 104, S. 389-413. Spinner, Helmut F. (1994): Die Wissensordnung, Opladen: Leske + Budrich. Stehr, Nico (2003): Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Weingart, Peter (2001): Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist: Velbrück. Willke, Helmut (1987): »Entzauberung des Staates. Grundlinien einer systemtheoretischen Argumentation«. In: Ellwein, Thomas/Hesse, Joachim Jens/Mayntz, Renate/Scharpf, Fritz W. (Hg.) Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaften, Bd. 1, Baden-Baden: Nomos, S. 285-308.
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3 .3 Re ligion: Sä kularisierung ode r Transformation? GERT PICKEL/ANJA GLADKICH
Einleitung: Religion, Wissen und Wissensgesellschaft Will man sich mit dem Verhältnis von Religion und Wissensgesellschaft beschäftigen, so muss dem eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Religion und Wissen vorausgehen. Gerade die Sphäre des Religiösen und der Religionen ist sicherlich eine von jenen, die im letzten Jahrhundert den meisten Veränderungen unterworfen waren – zumindest wenn man seinen Blick auf Europa richtet. Hier kam es zu einer scharfen Diskrepanz zwischen moderner Wissensentwicklung und der eigenen gesellschaftlichen Relevanz. Dies ging so weit, dass der Religion aufgrund der scheinbar unaufhaltsamen Prozesse der Säkularisierung sogar ihr langfristiges Verschwinden prognostiziert wurde. Als Grund hierfür wurde und wird auch in Teilen noch heute die Unverträglichkeit von Moderne (oder besser Modernisierung) und Religion angeführt. Sie manifestiert sich in modernen Gesellschaften in einem sozialen Bedeutungsverlust der Religion (Wilson 1982; Bruce 2002). Ein schwerwiegendes Argument für die Annahme eines weiteren Voranschreitens dieses Prozesses ist die Unvereinbarkeit einer rationalen und damit auch wissenschaftlichen Weltdeutung mit religiösen Vorstellungen (Wilson 1982). Mit der zunehmenden Dominanz von Wissenschaft und der Ausbreitung rationaler Erklärungen würden folglich Glaube und religiöse Weltdeutungen immer weniger wichtig für die alltägliche Lebens-
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führung des Individuums – und verlören damit auch an Relevanz auf der gesellschaftlichen Ebene. Entscheidend dabei sei, dass immer mehr Bereiche der Welt rational erklärt werden können und immer weniger Unerklärliches übrig bleibt, für das Religion dann zuständig ist. Dieses lange vorherrschende Paradigma einer Säkularisierung als Folge zunehmender Rationalisierung wurde in den letzten Jahren durch das Aufkommen der Deutung einer »Rückkehr des Religiösen und der Religionen« (Graf 2004; Riesebrodt 2001) und dem Verweis auf eine in diesem Punkt historische Sonderstellung Europas in Frage gestellt (Casanova 1994). Die außereuropäische Entwicklung des Religiösen sprach aus dieser Sicht gegen die zu einseitige und unumkehrbare Annahme einer Säkularisierung. Vertreter dieser Deutungsrichtung weisen darauf hin, dass eine hohe Vielfalt religiöser Entwicklungen zu beobachten sei, die offenbar an unterschiedliche Entwicklungspfade gebunden sind (Norris/Inglehart 2004; Pickel/Müller 2009). Der in Europa beobachtbare Pfad der Säkularisierung müsse so nicht zwangsläufig für andere Regionen und Kulturen (z.B. muslimische oder hinduistische Kulturen) Gültigkeit besitzen. Die für die Säkularisierung zentralen Prozesse der Modernisierung sind somit nicht eingleisig zu verstehen und können unterschiedliche Formen annehmen. Insbesondere der von Eisenstadt (2000) aufgebrachte Gedanke der »multiple modernities« ist hier zu erwähnen. Vor dem Hintergrund seiner Beobachtungen erscheint es sogar möglich, dass sich auch moderne Wissensgesellschaften mit Religion arrangieren. Deutet nicht zum Beispiel die konsistent hohe Religiosität im zweifelsohne hoch modernisierten Nordamerika auf die Möglichkeit eines solchen Arrangements hin? Es ist möglich, dass dieses Arrangement dann vielleicht durch neue und individualisierte Formen des Religiösen geschieht. Diese Prozesse münden dann in einer größeren religiösen Pluralität und werden eher von einer Transformation der Religion geprägt als von einem einfachen Verschwinden, wie es die Säkularisierungstheorie suggeriert. Auch weisen Debatten, wie sie in Deutschland zur Relevanz (säkular übersetzter) religiöser Argumente (Habermas 2001) im öffentlichen Diskurs oder in den USA zur unveränderten Öffentlichkeitswirksamkeit von Religion (Casanova 1994) stattfinden, darauf hin, dass Religion gerade in der Wissensgesellschaft eine neue Rolle übernehmen kann, allerdings in gewandelter Form. Ihre Position ist dann nicht mehr die einer »Quasiherrschaftsinstitution« sondern die eines eigenständigen Akteurs in der Zivilgesellschaft. Um diesen möglichen Transformationsbewegungen in der Wissensgesellschaft nachzugehen ist es zuallererst sinnvoll, die derzeitige Lage des Religiösen etwas näher in den Blick zu nehmen. Hier bietet es sich als Ausgangspunkt an, kurz die derzeitig dominierenden religionssoziologischen Erklärungsmodelle zu skizzieren. 128
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Ak t u e l l e Z u g ä n g e d e r R e l i g i o n s s o z i o l o g i e Kaum mehr kontrovers diskutiert wird ein in Europa stattfindender Traditionsverlust des Religiösen. Immer weniger Menschen besuchen die (in Europa vorwiegend) christlichen Kirchen und auch individuelle Formen religiösen Handelns (Beten oder Meditieren) sind immer seltener zu beobachten. Auch scheint es, wie der sinkende Einfluss der institutionalisierten Religionen im Bildungswesen und auf anderen Gebieten zeigt, einen kontinuierlichen Verlust der gesellschaftlichen Bedeutung der etablierten christlichen Religionen in Europa zu geben. Diese relativ breit geteilte Beobachtung wird in den letzten Jahren aus zwei Richtungen in Frage gestellt, die sich auch ganz spezifischen theoretischen Richtungen der Religionssoziologie zuordnen lassen. In der Regel kann man derzeit drei Ansätze der Religionssoziologie unterscheiden (siehe Abb. 1): die Säkularisierungstheorie (1), die Individualisierungsthese des Religiösen (2) und das religiöse Marktmodell (3) (vgl. Pickel 2010).
Vertreter
Grundannahme
Bezugstheorie
Haupthypothese
Prognose
Säkularisierungstheorie Bryan Wilson Steve Bruce Peter L. Berger Detlef Pollack
Individualisierungsthese
Religiöses Marktmodell Rodney Starke Thomas Luckmann Roger Finke Grace Davie Laurence IannacDanièle Hervieu-Léger cone Individuelle religiöse Konstantes Spannungsverhältnis Grundorientierung als Bedürfnis des Indizwischen Moderne und anthropologische Kon- viduums nach ReliReligion stante gion Angebotsorientierte »klassische Markttheorie und IndividualisierungsModernisierungstheotheorie Pluralisierungstherie« se Angebot d. religiöKontinuierlicher Bedeutungsverlust sen Marktes beBedeutungsverlust von institutionalisierter Restimmt gesellschaftReligion als sinnstifligion; Weiterbestehen liches Ausmaß an tender und sozialer In- privater Formen von Religiosität und stanz Religion Kirchlichkeit Entwicklung der Kontinuierlicher Religiosität in AbAbwärtstrend aller Weiterbestehen privahängigkeit von relireligiösen Formen und ter religiöser Praktiken giösem Angebot Kirchlichkeit mit zubei Rückgang der und Pluralisienehmender ModerniZuwendung zu Kirchen rungsgrad in der sierung Gesellschaft
Abb. 1: Die aktuellen theoretischen Zugänge der Religionssoziologie Quelle: Eigene Zusammenstellung Prognostiziert erstere – wie bereits eingangs ausgeführt – bei weiter voranschreitender Modernisierung einen weiteren Bedeutungsverlust des 129
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Religiösen, sieht die Individualisierungsthese einen Formenwandel des Religiösen voraus.1 So wird auf die Differenz zwischen der Bindung an die Großreligionen (Kirchlichkeit) und subjektiver Religiosität verwiesen. Thomas Luckmann (1991) stellt hier nicht das Verschwinden, sondern die Veränderung des Religiösen heraus, das sich sowohl in neuen (sichtbaren) Formen der Religiosität aber auch in unsichtbaren Formen der Bastelreligiosität äußert. Folglich liegen übergreifende Annahmen zum Bedeutungsverlust des Religiösen dahingehend falsch, als dass sie von einem Traditionsverlust spezifischer Formen des Religiösen in der Gegenwart ungerechtfertigterweise auf den Niedergang von Religiosität als konstitutives Merkmal der Lebensbewältigung des Individuums schließen. Dies sei aber, so Luckmann (1991), nicht möglich, stelle doch das Transzendieren ein anthropologisches Merkmal der menschlichen Natur dar. Des Weiteren wird aus Kritikersicht auf die nur begrenzte räumliche Gültigkeit der Säkularisierungs-Beobachtungen verwiesen. So bezweifeln viele Forscher (Davie 1994; Casanova 1994), dass die auf der Basis europäischer Entwicklungen gezogene Schlüsse für die Entwicklung des Religiösen zu verallgemeinern und – wie im Fall der Säkularisierungstheorie geschehen – als einen quasi universalen Tatbestand aufzufassen sind. Europa ist aus dieser Perspektive ein kulturhistorischer Entwicklungssonderfall, der auch (aber nicht nur) durch die christliche Prägung seinen spezifischen Weg – den der Säkularisierung – einschlägt. Im Weltvergleich sieht dies zum Teil deutlich anders aus. Diese räumliche Kritik an der Säkularisierungstheorie wird seitens des Marktmodells des Religiösen aufgenommen. Insbesondere die aus dem europäischen Beispiel abgeleitete Kontinuität des Traditionsverlustes wird dabei in Frage gestellt. Kurz gesagt seien es die religiösen Angebote und deren Attraktivität für die suchenden Individuen (die eine konsistente Nachfrage nach religiösen Angeboten besitzen – also latent religiös sind), welche die gesellschaftliche Verbreitung religiöser Vitalität bedingen. Damit ist es aber die spezifische Situation in Europa (mit seiner Beschränkung des religiösen Marktes und des Mangels an der zu religiöser Vitalität notwendigen Konkurrenz zwischen religiösen Anbietern) und nicht die uni-
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Hier ist es wichtig hervorzuheben, dass sich Individualisierungsthese und Säkularisierungstheorie hinsichtlich ihrer Bewertung der ungünstigen Entwicklung der Institutionen des Christentums nicht widersprechen. Zudem muss angemerkt werden, dass sich die Aussage der Säkularisierungstheorie hauptsächlich auf die Gesellschaftsebene und den Verlust der sozialen Bedeutung von Religion konzentriert und eine Weiterführung hin zu einem Rückgang subjektiver Religiosität nur eine logische Weiterführung, aber nicht Kernbestandteil der Theorie ist.
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verselle Gültigkeit des Spannungsverhältnisses zwischen Religion und Moderne, welche für die derzeitigen empirischen Beobachtungen verantwortlich gemacht werden muss.
Religion und Wissen(schaft) Für das Verhältnis von Religion und sich ausdehnender Wissensgesellschaft wirft der skizzierte Zwist zwischen den drei Ansätzen verschiedene Fragen auf. Zum einen kann man – wie lange Zeit die Säkularisierungstheorie – davon ausgehen, dass eine enge Verflechtung von Modernisierung, Rationalisierung und Wissenszuwachs besteht. In einem traditionalen Verständnis würde sich Religion in einer sich ausdehnenden Wissensgesellschaft immer weniger verordnen können. Sie verlöre wieter an sozialer Bedeutung. Gleichzeitig ist in der Wissensgesellschaft jedoch auch ein neuer, reflexiverer Umgang mit Wissen angelegt, der den Menschen – sowie die Gesellschaft als Ganzes – auch stärker mit den Grenzen des Wissens und damit wieder mit mehr Unsicherheit konfrontiert (Heidenreich 2002; Stehr 2000). Begreift man Religion von ihrer Funktion der Kontingenzbewältigung her, so könnte der scheinbar »stählerne« Zusammenhang von Moderne und einer abnehmenden Bedeutung von Religion an diesem Moment zerbrechen, denn fällt Wissen als vermeintlich sicherer Ratgeber zur Deutung der Welt aus, dann kann Religion wieder an diese Stelle treten. Gerade hier würde wieder eine Spaltung zwischen den Anhängern der Säkularisierungstheorie und der Individualisierungsthese erfolgen – bei ersteren wäre eine Revitalisierung der kulturell verankerten Religionen die wahrscheinlichste Option, während im zweiten Ansatz neue, individualisierte Formen des Religiösen nun ihre Chancen erhöhen. Hubert Knoblauch (2009: 278-282) sieht insbesondere die Ausbreitung neuer Spiritualität in den vielfältigen Formen populärer Religion als Kennzeichen der Wissensgesellschaft und mittelbare Folge der Bildungsexpansion und der mit ihr verbunden Erweiterung der Kommunikationskultur an. Zum anderen stellt sich die Frage, inwieweit die behauptete Unvereinbarkeit von Rationalisierung und Religion – und damit von Modernisierung und Religion – überhaupt empirische Gültigkeit besitzt. Dies müsste sich im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion ausdrücken – und damit auch die Beziehung zwischen der Wissensgesellschaft und Religion nachhaltig beeinflussen. Diese Annahme einer Konkurrenz von Religion und Wissenschaft reicht dabei in der Soziologie weit zurück. Bereits Auguste Comte skizzierte im 19. Jahrhundert einen 131
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evolutionären Ablaufprozess, in welchem die Gesellschaft vom »theologischen« Stadium über das »metaphysische« Stadium den Weg zum »wissenschaftlichen« Stadium beschreitet. Hier wird explizit die Denkweise des aufgeklärten Rationalismus aufgegriffen, in der Religion maximal als eine Vorform der Moderne und als »überholter« Vorgänger der Rationalität wahrgenommen wird. Dieser Gegensatz zwischen Rationalität und Religion stellte dann in der Folge auch eine Basis säkularisierungstheoretischen Denkens dar, wie nicht zuletzt die Überlegungen Wilsons (1982) zeigen. Neben der Ausweitung rationalen Wissens, welches konstitutiv für die Entstehung der Wissensgesellschaft ist, ist der Prozess der Säkularisierung gut mit der zunehmenden funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften und damit ihrer Aufteilung in verschiedene autarke Teilbereiche zu verbinden. Diese Entwicklung ist mit einem Funktionsverlust sowie einem Zurückdrängen des Religiösen in den Privatbereich verbunden. Ausgehend von den Entwicklungsphasen der entstehenden Industriegesellschaft, der folgenden Dienstleistungsgesellschaft bis hin zur heutigen Wissensgesellschaft hat sich die Reichweite religiöser Deutungsmacht verringert. Hier ist zu fragen, ob nicht umgekehrt Wissen mehr und mehr in diese die Grenzen der Subsysteme überschreitende Position rückt. Doch auch in diesem Punkt gehen Säkularisierungstheorie und Individualisierungsthese unterschiedliche Wege, sehen doch die einen Privatisierung als Beginn einer weitergehenden Zurückdrängung von Religion an, während die anderen dies als Formenwandel deklarieren.
Die Entwicklung des Religiösen in der Moderne Wie verhält es sich nun wirklich mit der religiösen Entwicklung in Europa? Fasst man diese kurz zusammen, so ist ein kontinuierlicher Rückgang der Beteiligung der Bürger an den religiösen Riten des immer noch dominanten Christentums verzeichnen. Kurz gesagt, die Menschen werden immer unkirchlicher. Befragungsergebnisse zeigen aber auch einen Rückgang der Zahl derer, welche sich selbst als religiös einstufen. Mithin scheint es sich für Europa eher um Säkularisierung als um Individualisierung zu handeln. Dies bedeutet nicht, dass man es mit »säkularen« Gesellschaften zu tun hat. Die Verbreitung christlicher Wertvorstellungen und konfessioneller Bindungen ist immer noch bedeutend und integriert zumeist deutliche Mehrheiten in den europäischen Gesellschaften. Dies widerspricht aber nicht dem Befund einer Säkularisierung, die als Prozess verstanden wird – und die, wie empirische Befunde ebenfalls 132
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bezeugen, meist dort weiter vorangeschritten ist, wo Modernisierung weiter fortgeschritten ist. In anderen Gebieten der Welt sind die Entwicklungen uneinheitlicher (vgl. Pickel/Müller 2009). In Afrika und Asien, zum Teil aber auch in Lateinamerika, kann man derzeit sowohl starke Christianisierungsbewegungen (vor allem durch evangelikale Gruppen) als auch Zugewinne für den Islam beobachten. Für Australien und den Nordamerikanischen Kontinent hingegen ist die Lage eher umstritten. Während einige Forscher auch hier Säkularisierungstendenzen finden, gehen andere von einer unverminderten Vitalität (christlicher) Religiosität aus. Insgesamt kann man mit Norris/Inglehart (2004), unter Berücksichtigung der unterschiedlichen demographischen Entwicklungen in armen und religiösen sowie reichen und eher säkularen Ländern, festhalten, dass Europa säkularer, die Welt aber religiöser wird. Dieses klärt nun auch zu einem bestimmten Teil die eingangs skizzierten widersprüchlichen Ausgangsbefunde. Ein weiterer zentraler Entwicklungstrend moderner Gesellschaften ist die zunehmende religiöse Pluralisierung. Sie resultiert in Deutschland hauptsächlich aus der Zuwanderung nichtchristlicher oder christlich-orthodoxer Gruppen. Gemeinhin scheint der Prozess der Pluralisierung für die Entwicklung moderner Gesellschaften konstitutiv, umfasst er doch neben der Differenzierung der Glaubensgemeinschaften die Ausprägung einer steigenden Zahl an säkularen bzw. nichtreligiösen Menschen. Auch innerhalb des Wissens- und Werthorizontes des Einzelnen kann eine Pluralisierung angenommen werden, wenn zunehmend rationale, wissenschaftliche Überzeugungen neben religiöse Überlieferungen treten und zum Teil in Konkurrenz mit ihnen geraten. Überlegungen des Individualisierungsmodells betonen zusätzlich die Pluralisierung von religiösen Überzeugungsmustern und Verhaltensformen in modernen Gesellschaften, die ja gerade Ausdruck der »Bastelreligiosität« sind. Bereits angesprochen wurde die Frage, ob der propagierte Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion überhaupt besteht. Wird Wissenschaft und Religion in der Bevölkerung wirklich als so gegensätzlich wahrgenommen? Ergebnisse aus Befragungen bestätigen überwiegend den Wunsch der Bürger nach einer funktionalen Differenzierung zwischen Wissenschaft und Religion. So wird mehrheitlich ein Eindringen religiöser Elemente oder Bevormundung in den Bereich der Wissenschaft abgelehnt (siehe auch Abbildung 2). Nun bedeutet allerdings diese Differenzierung nicht, dass die Religion notwendigerweise zuungunsten der wissenschaftlichen Deutung verschwinden muss, wie es Comte vorausgesagt hat. 133
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Wissenschaft sollte nicht durch religiöse Normen begrenzt werden Sehe keinen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion
stimme stark zu stimme zu stimme stark zu stimme zu
DeW2
DeO
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Abb. 2: Religion und Wissenschaft Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis »Church and Religion in Europe« 2006. Vielmehr zeigt das in Abbildung 2 dargestellte Ergebnis, dass genauso wie man mehrheitlich religiöse Normen aus der Wissenschaft herausgehalten sehen möchte, man mehrheitlich keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen den Grundinteressen von Wissenschaft und Religion erkennen kann. Sowohl Wissenschaft als auch Religion werden von den meisten europäischen Bürgern als voneinander unabhängige Bereiche identifiziert, die sich wechselseitig nur begrenzt bedingen und bedingen sollten. Fasst man die empirischen Belege zusammen, so deuten diese faktisch auf eine Säkularisierung auf der gesellschaftlichen Ebene hin, die vornehmlich durch Prozesse funktionaler Differenzierung geprägt wird. Inwieweit diese auch auf der Ebene der Individuen greifen, kann allerdings nur begrenzt erfasst werden. Allerdings zeigen sozialstrukturelle Analysen seit Jahrzehnten, dass Personen mit einem formal höheren Bildungsgrad auch weniger religiös sind als Personen mit einem formal niedrigeren Bildungsgrad. Rationalisierung und Wissen scheinen mit Religiosität zumindest in einem gewissen Zwiespalt zu stehen, was die Hinweise der Säkularisierungstheorie zumindest nicht als völlig überholt erscheinen lässt.
Religion in der Wissensgesellschaft Vor dem Hintergrund dieses Verhältnisses von Religion und Wissen wie auch Wissenschaft sind nun auch die neuen Debatten um die Biopolitik zu sehen. Sie stellen den Kern einer Rückkehr religiöser Argumentation in die sich säkularisierende Gesellschaft dar. Nicht umsonst beschäftigen 2
Werte in Prozent; DeW = alte Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland, DeO = neue Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland, Fin = Finnland, Por = Portugal, Hu = Ungarn, Pl = Polen.
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sich fast alle Beiträge zum Themenblock »Wissen um den Menschen« in einem unlängst erschienenen Sammelband zur »Verfasstheit der Wissensgesellschaft« (Heinrich Böll Stiftung 2006) mit dem Thema Religion. Es zeigt sich, dass es auf rationale Weise schwierig ist der Wissenschaft Grenzen zu setzen. An dieser Stelle helfen allem Anschein nach nun nur normative Positionen und damit Moral weiter. Nach Heidenreich (2002) schlägt sich die Wissensgesellschaft aber gerade in der Überwindung von Normen im Sinne von unhinterfragbaren Größen nieder. Wissen – und somit auch wissenschaftliche Erkenntnisse – bleiben immer vorläufig und hinterfragbar und der konstanten empirischen Überprüfung ausgesetzt. Sie selbst kann solche Normen also nicht liefern. Religion leistet genau das: die Bereitstellung von Normen, die auf einer breiten und von vielen Bürgern zumindest kulturell geteilten Legitimität beruhen. Damit bietet zum Beispiel der Rückgriff auf die christlichen Kulturtraditionen die Chance, Menschenwürde als etwas Unverfügbares festzusetzen und vor dem Zugriff der säkularen Gesellschaft zu schützen. So verweist Tine Stein (2006: 356) nicht ohne Grund darauf, dass der im Grundgesetz verankerte Gedanke der Unverfügbarkeit nicht ohne den Resonanzboden der christlich-jüdischen Überlieferung zu verstehen ist. In diesem Moment wird Religion zum Schutzfaktor des Menschen gegen ihn selbst, gegenüber der Gesellschaft, aber in ganz besonderem Ausmaß gegenüber dem Staat. Dieses Denken knüpft an Gedanken der Debatte um Zivilreligion an, welche darauf verweist, dass der Staat auf Grundlagen für seine Legitimität zurückgreift, die er gar nicht geschaffen hat.3 Daraus ist nicht zu schließen, dass es einen fixen Schwellenwert des Erlaubten gibt, der seitens der Religion und deren Moral einmal festgelegt wurde und für immer so besteht. Vielmehr handelt es sich um einen Schwellenwert, der vielfältigen Aushandlungsprozessen unterliegt. Diese stehen aber in Abhängigkeit von der Zusammensetzung der Gesellschaft und der betroffenen Menschen, ein Grundlage, die gerade in sich religiös pluralisierenden Gesellschaften Veränderungen unterliegt. Es ist bedeutsam, dass die Aushandlungsprozesse auf einer rationalen und gleichberechtigten Basis stattfinden, aber bestimmte Unverfügbarkeiten (wie eben die Menschenrechte) bestehen bleiben. An dieser Stelle setzen viele Diskussionen der Biopolitik an. Jürgen Habermas (2001) fordert ein, dass religiöse Argumente in die säkulare 3
Hierbei handelt es sich um das sogenannte »Böckenförde-Paradoxon« (Böckenförde 1991), welches die Legitimitätsgrundlagen des Staates als für ihn unverfügbaren Hintergrund auf die religiös-christlichen Werte zurückführt. 135
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Öffentlichkeit gleichberechtigt zu anderen (»säkularen«) Diskussionsbeiträgen eingehen können. Sie dürfen keiner grundsätzlichen Diskriminierung unterliegen. Dafür benötigen sie allerdings oftmals Übersetzungen, um von den säkularen Debattenteilhabern verstanden zu werden. Zudem müssen sich die religiösen Argumente dem Primärprinzip der Vernunft unterordnen. Nur vernünftige religiöse Argumente können in dem öffentlichen Diskurs Bedeutung erlangen.4 Entscheidend ist, dass es hier zu einer Aussöhnung zwischen Wissensgesellschaft mit ihren reflexiven Diskursprozessen und Religion kommen könnte. Offen bleibt die Frage, was für eine Art von Religion (traditionale Religion, individualisierte Bastelreligiosität, Zivilreligion) dies dann ist. Ebenfalls ersichtlich wird aber auch, dass die Bedeutung der Rede über die Wissensgesellschaft für den Sektor des Religiösen vornehmlich vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion geprägt wird. Gerade dort, wo Wissenschaft in das Leben einschneidet, werden religiöse Begründungen, die sich auf den Erhalt und Schutz der Natur, des Lebens und insbesondere der Menschenwürde beziehen, bedeutsam. So hat man es mit der Gleichzeitigkeit einer wirklich bestehenden Diskrepanz zwischen traditioneller, institutionalisierter Religion und Wissenschaft sowie einer zunehmenden, legitimen Diskursfähigkeit religiöser Argumente im öffentlichen Raum zu tun. Ein wesentlicher Prozess, der sich in Wissensgesellschaften beobachten lässt, liegt in der Frage nach der Belastbarkeit und Nachhaltigkeit des Wissens überhaupt. Verstärkt wird deutlich, dass die vermeintliche Sicherheit wissenschaftlicher Ergebnisse mit neuem Wissen immer stärker in Frage gestellt wird. Zusammen mit der Neigung im öffentlichen Diskurs der Risikogesellschaft Expertenmeinungen durch andere Expertenmeinungen widerlegen zu lassen (Beck 1984) und dem steigenden Abstraktionsgrad des verfügbaren Wissens (welches dieses immer weniger für den Laien zugänglich macht), werden so neue Unsicherheiten bei den Menschen produziert. Neben die Frage »Was ist erlaubt?« tritt die Frage »Was ist wirklich wahr?«. Diese Schaffung neuer Kontingenzen impliziert die Folgefrage nach deren Lösung, für die Religionen verantwortlich zeichnen.
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Dies ist gerade aus Sicht des Christentums, und dort insbesondere des Protestantismus, aufgrund seiner stark an Vernunft orientierten Ausrichtung, anschlussfähig.
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Al t b e k a n n t e s u n d N e u e s : D i e R ü c k k e h r d e r Religion in die Wissensgesellschaft Fasst man die Entwicklung der Religion in der Wissensgesellschaft zusammen, dann scheint sich das seitens der Säkularisierungstheorie behauptete antagonistische Verhältnis zwischen Religion und Wissen nicht vollständig aufgelöst zu haben. Immer noch wird die Ausbreitung von Wissen in den modernen Gesellschaften von Prozessen der Säkularisierung und des sozialen Bedeutungsverlustes von Religion begleitet. Zunehmende Rationalisierung untergräbt zumindest die Deutungsbreite von traditionalen Religionen. Allerdings muss der Antagonismus zwischen Wissenschaft und Religiosität in seiner Pauschalität in Frage gestellt werden. Die Prozesse der funktionalen Differenzierung mit ihrem Bedeutungsgewinn von Wissenschaft führen nicht zu einem zwangsläufigen Rückgang von Religiosität. Vielmehr scheint – zumindest in einem gewissen Umfang – eine Individualisierung und Pluralisierung von Religiosität Raum zu greifen. Dieser Pluralisierungsprozess schließt aber neben einer allgemeineren, institutionenunabhängigen Spiritualität auch rationale Formen des Umgangs mit der Kontingenz des Lebens ein, die dann dazu führen, dass viele Menschen nach klassischen Maßstäben unreligiös sind und Lebensentscheidungen rein innerweltlich treffen. Inwieweit der Terminus Wissensgesellschaft für die Beschreibung der Veränderung und Transformation des Religiösen in modernen Gesellschaften hilfreich ist, denn für andere Gesellschaften scheint die Begriffsverwendung sowieso nicht statthaft, scheint hinterfragbar. Als reine Zustandsbeschreibung stellt er in diesem Bereich keine analytische Kategorie dar und erweitert auch die Möglichkeiten der religionssoziologischen Analyse nur in Grenzen. So benötigen wissenssoziologische Zugänge, wie der Luckmanns, den Terminus genauso wenig wie die beiden alternativen derzeit diskutierten Ansätze der Religionssoziologie. Eher scheint es, als wenn sich die Debatten über die Reichweiten von Wissenschaft und religiös gestifteter Moral neu entzündet haben – und hierfür ist insbesondere die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Leben verantwortlich. Auch aus Begleitentwicklungen der Wissensgesellschaft resultierende Transformationsprozesse des Religiösen (religiöse Individualisierung, Pluralisierung, Spiritualisierung) benötigen nicht unbedingt den Verweis auf die Wissensgesellschaft. Sie sind als Prozesse für sich zu beobachten und zu prüfen. Zukünftig von Interesse könnte die – neue Unsicherheiten bei den Bürgern erzeugende – Reflexion über die Belastbarkeit des in der Moderne produzierten Wissens sein. Diese neuen Unsicherheiten wurden aber auch schon unter dem Terminus des Risikos (Beck 1984) zu frühe137
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ren Zeiten thematisiert. Nichtsdestoweniger ist Unsicherheit neben Deprivation immer noch einer der wichtigsten Auslöser individueller Religiosität. Dahingehend kann die Wissensgesellschaft mit seiner Infragestellung bislang anscheinend sicheren Wissens sowie aufgrund der Ausbreitung fragiler technischer Innovationen neue Unsicherheiten auslösen, die den traditionalen Gegensatz Rationalisierung-Religion in seiner auf die Entwicklung des Religiösen beeinflussen können.
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RELIGION
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3 .4 Bildung und Erz ie hung: Tra ns forma tions prozess e s oz iale r Ungleic hhe iten? HEIKE KAHLERT
G e g e n s t a n d s b e r e i c h u n d w e s en t l i c h e Begrifflichkeiten Die Vertreter der These eines gesellschaftlichen Strukturwandels von der »Industrie-« zur »Wissensgesellschaft« sehen drei Trends in fortgeschrittenen Gesellschaften als zentral für die Entstehung einer neuen Gesellschaftsformation an: erstens, die durchschnittliche Erhöhung der Bildungsbeteiligung und -dauer und das damit verbundene steigende Angebot an gebildeten Arbeitskräften, zweitens, die Verschiebung der Wirtschaftssektoren in Richtung einer Dominanz der Wissensökonomie und drittens – gewissermaßen als Instrument zur Steigerung der Produktivität im Bildungs- und Wirtschaftssystem – die Diffusion und Weiterentwicklung der Informations- und Kommunikationsmedien (Rohrbach 2008: 38). Zusammengenommen bilden diese drei Trends die Grundlage für die produktive Wertschöpfung von Wissen, das neben Arbeit und Eigentum selbst als Produktivkraft der »Wissensgesellschaft« gilt. Die Produktion, Bereitstellung, Verteilung, Auswahl und Verarbeitung von Wissen rückt so verstärkt in das Zentrum gesellschaftlicher und gesellschaftsanalytischer Aufmerksamkeit. In diesem Strukturwandel nehmen Bildung und Erziehung gerade in rohstoffarmen Gesellschaften eine wichtige Rolle für Produktivitätssteigerungen durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt, aber auch bei 141
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der Zuweisung gesellschaftlicher Chancen und der Verteilung sozialer und beruflicher Positionen ein. Bildung und Ausbildung gewinnen an Bedeutung für die langfristigen Lebenschancen von Menschen, denn Bildungslaufbahnen und -abschlüsse bestimmen maßgeblich über die weiteren Karrierewege und Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt und damit über Optionen zur gesellschaftlichen Teilhabe und über Lebensqualität, und qualifizierte Arbeitskräfte gelten als eine wesentliche Grundlage für prosperierende Volkswirtschaften. Bildungs- und Erziehungsprozesse stellen das Nadelöhr dar, in dem gesellschaftliches Wissen von den Subjekten angeeignet wird und tragen zugleich dazu bei, dass Subjekte neues Wissen produzieren und verbreiten können. Die Bildungs- und Erziehungsinstitutionen haben dabei die Aufgaben, den Erwerb, die Vermittlung und die Verbreitung von Wissen zu organisieren. Dieser Beitrag zielt auf die Analyse des Wandels von Bildung und Erziehung in der entstehenden »Wissensgesellschaft«. Die Unterscheidung von Bildung und Erziehung ist ein der deutschen Sprache und (Geistes-)Geschichte eigenes Spezifikum, dessen Wurzeln in das 18. Jahrhundert zurückreichen. Im hier eingenommenen Verständnis bezeichnet Bildung die Entwicklung von Individuen jeglichen Alters zu individueller Handlungsfähigkeit und zu sozialer, geistig-sittlicher wie handlungspraktischer Kompetenz durch Lern- und Sozialisationsprozesse. Abhängig von den Bildungsorten können verschiedene Bildungsformen unterschieden werden (vgl. Harring u.a. 2007): Formelle Bildung erfolgt in explizit diesem Zweck gewidmeten Institutionen wie Schule, Ausbildung im dualen System und Hochschule und mündet in formelle Qualifizierungen und Zertifizierungen. Nicht-formelle Bildung ist zwar ebenfalls klar strukturiert und rechtlich geregelt, doch basiert sie auf einer offenen Angebotslage und einer freiwilligen Nutzung und Inanspruchnahme. Bildungsorte sind Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Institutionen der vorschulischen Bildung. Im Mittelpunkt steht hier die Vermittlung von sozialen und personalen Kompetenzen sowie die Förderung und Bekräftigung von Beteiligungen an politischen und gesellschaftlichen Prozessen. Bei der informellen Bildung schließlich handelt es sich um situative Lernprozesse, die indirekt, ungeplant und beiläufig an Orten wie Familie, Peer Groups und in Medienwelten stattfinden. Erziehung wird hier verstanden als geplante, also bewusste und absichtsvolle, Einflussnahme auf Bildungsprozesse, die in der Regel in eigens dafür geschaffenen Institutionen erfolgt. Erziehung kann Bestandteil von Bildungsprozessen sein. Sozialisation schließlich ist ein lebenslanger Prozess, durch den ein Individuum sozial eingegliedert wird und sich sozial eingliedert und dabei die in dieser Gruppe bzw. Gesell142
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schaft geltenden sozialen Normen, Rollenerwartungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten usw. erlernt, in sich aufnimmt und ggf. internalisiert.
Die Bildungsexpansion – ein zentrales Moment für die Entwicklung zur »Wissensgesellschaft« Im Folgenden wird die in den 1950er Jahren beginnende Bildungsexpansion in mehrebenenanalytischer Perspektive in struktureller, organisationaler und individueller Hinsicht als ein zentrales Moment des Strukturwandels gedeutet, der wiederum den Bereich Bildung und Erziehung selbst unter anhaltenden Wandlungsdruck setzt. Anhängerinnen und Anhänger der Gegenwartsbeschreibung »Wissensgesellschaft« halten diesen Strukturwandel für so fundamental, dass sie darauf ihre These vom Wandel von der »Industrie-« zur »Wissensgesellschaft« und damit vom Entstehen einer neuen Gesellschaftsformation aufbauen.
Die Bildungsexpansion im Spannungsfeld von Ökonomie, Sozialpolitik und Demographie Die Bildungsexpansion und die mit ihr einhergehenden Bildungsreformen lassen sich wesentlich auf inzwischen drei miteinander verknüpfte und politisch begründete Sachverhalte zurückführen: Erstens: Der so genannte Sputnik-Schock (1957) förderte ökonomische und wirtschaftspolitische Befürchtungen, dass die westlichen Industrienationen durch mangelnde Bildung der Bevölkerung und ungenügende Qualifizierung von Arbeitskräften im Wettlauf mit östlichen Industrienationen um wirtschaftlichen und technischen Fortschritt ins Hintertreffen geraten könnten, denn die wirtschaftliche Entwicklung und der Bildungsstand der Bevölkerung wurden weitgehend gleich gesetzt. Diese Gleichsetzung beansprucht bis heute Gültigkeit. Angesichts von Globalisierungsprozessen hat die Ost-West-Konkurrenz allerdings an Bedeutung verloren: Die Konkurrenz begründende Linie verläuft nunmehr zwischen den Nationen, die als heraufziehende Wissensgesellschaften angesehen werden, und den so genannten Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien. Zweitens: Zu der ökonomischen Perspektive kam eine gesellschaftspolitische Perspektive hinzu, die die – und hier wird nun eine spezifisch auf Deutschland gerichtete Perspektive eingenommen – empirisch belegten ungleich verteilten Bildungschancen zwischen Sozialschichten, Geschlechtern, Religionen und Regionen problematisierte. So wurde Bildung in der alten Bundesrepublik öffentlichkeitswirksam als ein Bür143
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gerrecht proklamiert (1965) und als Voraussetzung und Garant für eine Demokratie und Gesellschaft aufgeklärter Bürgerinnen und Bürger angesehen. In der DDR hingegen sollte Bildung seit den 1950er Jahren als staatspolitisches Instrument zur Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung, zum Abbau von Chancenungleichheit, zur Schaffung staatlicher und gesellschaftlicher Identität und zur Sicherung politischer Loyalität auf der Basis des Marxismus-Leninismus dienen. Bis in die Gegenwart steht im vereinten Deutschland die Herstellung von Chancengleichheit in und durch Bildung und Erziehung auf der gesellschaftspolitischen Agenda. Dabei haben Geschlecht und Region im Hinblick auf ungleich verteilte Chancen in Bildung und Erziehung an Bedeutung verloren, die soziale Herkunft ist weiterhin hoch bedeutsam, und Religion gewinnt, vor allem in Verbindung mit ethnischer Zugehörigkeit, an Bedeutung. Angesichts von Globalisierungsprozessen werden die Anstrengungen zur Herstellung von Chancengleichheit allerdings weniger durch normative Begründungen angeleitet, sondern vor allem durch ökonomische. Drittens: Diese Verschiebung in der politischen Legitimation ist eng verknüpft mit einer bevölkerungspolitischen Perspektive, denn der demographische Wandel, der sich in weiten Teilen der Industrienationen in Gestalt eines zumeist seit den 1960er Jahren anhaltenden Geburtenrückgangs, der Verlängerung der Lebenserwartung und Migrationsbewegungen ausdrückt, könnte künftig gesellschaftliche Schrumpfungsprozesse zur Folge haben. Die prognostizierte demographische Entwicklung fördert ökonomische Bedenken in Bezug auf die sich vermeintlich im Zuge dessen vermindernde Wettbewerbsfähigkeit der wissensbasierten Volkswirtschaften. Folglich soll einem möglichen Weniger an Menschen – in der zeitgenössischen Sprache der Bildungsökonomie: an Humankapital –, gewissermaßen kompensatorisch, mit einem Mehr an Bildung und Qualifikation der Bevölkerung entgegen gewirkt werden. Damit sollen auch bestehende Chancenungleichheiten abgebaut werden. Im Zuge des demographischen Wandels werden in Deutschland nämlich vergleichsweise mehr Kinder in weniger gebildeten Elternhäusern geboren als in höher gebildeten Elternhäusern, und weniger gebildete Eltern haben zumeist auch weniger gebildete Kinder, da das Elternhaus vorhandene Chancenungleichheiten nicht kompensieren kann, sondern soziale Ungleichheit »vererbt«. Diese Entwicklung zu durchbrechen wird als Aufgabe formeller und nicht-formeller Bildung angesehen, wobei hier die ersten Lebensjahre als die entscheidenden gelten und also eine institutionalisierte Förderung von Kindern bereits spätestens im Kleinkindalter beginnen soll.
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Grundlegende Ziele der Bildungsexpansion und der mit dieser verknüpften Bildungsreformen bestanden und bestehen in der Steigerung und Verlängerung der Bildungsbeteiligung der Bevölkerung und im Abbau von Bildungsungleichheiten. Dabei sind die ökonomische, die demographische und die gesellschaftspolitische Perspektive eng miteinander verknüpft, wobei die drei Perspektiven nicht gleichgewichtig sind: Im Zuge der um sich greifenden Globalisierung nach dem Fall der Berliner Mauer und der damit verbundenen Auflösung der Ost-WestSystemkonkurrenz verstärkt sich die im Strukturwandel enthaltene Ausdehnung der Ökonomie und ökonomischer Prinzipien auch auf andere gesellschaftliche Teilbereiche wie Staat, Politik und Gesellschaft. Ökonomisierung meint im Hinblick auf Bildung und Erziehung die Ausrichtung und Führung der Organisationen formeller und nicht-formeller Bildung unter ökonomischen Gesichtspunkten, Schwerpunktsetzungen auf ökonomischen Lehrinhalten und Erwerb ökonomischer bzw. ökonomisch verwertbarer Kompetenzen, die Entwertung pädagogisch-emanzipatorischer Kriterien in der Bildung und die Ausrichtung von Bildung auf die Hervorbringung von Kompetenzen, Haltungen und Bereitschaften, alles Lernen, Leben und Arbeiten auf das »unternehmerische Selbst« zu fokussieren (Rößer 2006: 263). Insbesondere in der Ausrichtung auf die Kompetenzförderung erfasst die Ökonomisierung auch die nicht-formelle Bildung. Die Ökonomisierung von Bildung und Erziehung erfolgt im Einklang mit Zielen und Werten der »Wissensgesellschaft«. Die Kritik daran lautet, dass Bildung und Erziehung keine Waren seien, die wie industriell produzierte Güter nach marktwirtschaftlichen Kriterien produziert, bewertet und vermarktet werden könnten. Unabhängig davon beginnt sich gegenwärtig eine wenn auch spannungsvolle Verknüpfung zwischen Ökonomisierung, Demographisierung und Demokratisierung der Bildung abzuzeichnen, die sich im bildungspolitischen Diktum, dass jedes Talent zähle und bestmöglich gefördert werden müsse, ausdrückt. Gerade die bevölkerungspolitisch begründete Aufmerksamkeit für von Bildung und Erziehung könnte also paradoxerweise zum Abbau von Bildungsungleichheiten beitragen, freilich unter ökonomischen und nicht unter normativen Vorzeichen.
Wandlungen auf der Makroebene: Ausbau des Bildungsund Erziehungssystems und strukturelle Veränderungen Wesentliches Ziel der Bildungsexpansion war eine verstärkte Bildungsund Wissensbasierung der Bevölkerung in Folge der Verlängerung und Steigerung ihrer Partizipation an institutioneller Bildung und Erziehung. 145
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Dieses Ziel soll erreicht werden durch einen massiven Ausbau des Bildungs- und Erziehungssystems, einhergehend mit strukturellen Veränderungen der zugehörigen Institutionen, und eine deutliche Steigerung der Bildungsbeteiligung in allen Bevölkerungsteilen. Eine Voraussetzung dafür ist die Steigerung der öffentlichen Investitionen in Bildung und Erziehung. Seit den 1950er Jahren wurden folglich zahlreiche Reformmaßnahmen eingeleitet, darunter in Deutschland im schulischen Bereich beispielsweise die Verlängerung der Vollzeitschulpflicht, die Verstärkung der Durchlässigkeit zwischen Bildungsgängen und Schulformen, die organisatorische Trennung von Grund- und Hauptschule, die Einführung von Gesamtschulen sowie Reformen der gymnasialen Oberstufe im schulischen Bereich. Im Hochschulbereich umfasst(e) die Bildungsexpansion den Ausbau der Universitäten und die Einrichtung von Fachhochschulen, die Integration der Lehrerbildung in die Universitäten und eine stärkere Demokratisierung im Hochschulbereich. Hinzu kommt eine andauernde Ausweitung der Verwissenschaftlichung von Bildung und Ausbildung: Einstmals in Fachschulen oder im dualen System erworbene Qualifikationen werden nunmehr in eigens dafür eingerichteten hochschulischen Studiengängen vermittelt, beispielsweise Physiotherapie und frühkindliche Erziehung. Schülerinnen- und Schülerströme wurden und werden vermehrt auf weiterführende Schulen, Fachhochschulen und Universitäten gelenkt. Dies ging mit einer Öffnung der höheren Bildung einher für bisher eher bildungsfernere Bevölkerungsgruppen, z.B. durch die Ermöglichung des Zweiten Bildungswegs einschließlich der Einrichtung von extra diesem gewidmeten Bildungsinstitutionen (Abendgymnasien, Hochschulen des Zweiten Bildungswegs). Ergänzend wird seit den 1990er Jahren die Teilnahme vor allem an berufsbezogener Weiterbildung ausgedehnt. Die mit der Bildungsexpansion angestrebte Höherbildung und Verlängerung der Bildungsbeteiligung der Bevölkerung ist durchweg gelungen. Im Zuge dessen weiten sich auch die so genannten Wissensberufe aus, denn gemäß dem in Theorien der »Wissensgesellschaft« entwickelten »Produktivitätsparadox« (Stehr 2003) treibt Bildung den Arbeitsmarkt an. Die Dynamik des Wissens ist demnach nicht nachfrage-, sondern angebotsorientiert: Angenommen wird, dass sich die Gewichte von manueller und geistiger Arbeit zu einer neuen Arbeitsteilung verschieben. Obwohl formelle Bildungszertifikate immer wichtiger werden, erfährt die formelle Bildung durch ihre Ausweitung durchschnittlich einen Bedeutungsverlust, der aber mit Einkommensgewinnen von Hochqualifizierten einhergeht (Rohrbach 2008). Der Entwertung von Bil-
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dungszertifikaten wird wiederum durch eine Zertifizierung der Zertifikate entgegenzuwirken versucht. Ein Ende der Bildungsexpansion ist nicht absehbar. In Deutschland steht derzeit einerseits insbesondere der Ausbau der nicht-formellen Bildung in Gestalt von Kinderbetreuungseinrichtungen auch für unter Dreijährige und vorschulischen Bildungsangeboten aber auch der Ganztagsschulen im Fokus politischer Anstrengungen. Damit soll die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen, aber auch für Männer institutionell erleichtert und die Erwerbsbeteiligung von Frauen, insbesondere als Müttern, gesteigert werden, denn Frauen gelten angesichts der prognostizierten Abnahme von Arbeitskräften im demographischen Wandel als notwendig für die ökonomische Prosperität der entstehenden »Wissensgesellschaft«. Zugleich soll mit einem Ausbau der institutionellen Kinderbetreuung auch im Kleinkindalter der im konservativen deutschen Wohlfahrtsstaat besonders hartnäckigen »Vererbung sozialer Ungleichheit« durch das Elternhaus frühzeitig entgegen gewirkt werden. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Ganztagsschule als neue Schulform an Bedeutung, denn sie verknüpft die formelle, nicht-formelle und informelle Bildung. Andererseits werden gegenwärtig der Übergang von der Schule zur Hochschule und die akademische Weiterqualifizierung in Form einer Promotion verstärkt gefördert. Als besonders förderungswürdig und ausbaubedürftig gelten die so genannten MINT-Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, denn diesen Fächern wird in der entstehenden »Wissensgesellschaft« eine hohe Bedeutung für die gesellschaftliche und vor allem ökonomische und technologische Entwicklung beigemessen. Besonders adressierte Zielgruppen für diese Fächer und für akademische Weiterqualifikationen sind Mädchen und junge Frauen, denn in ihren Potenzialen werden besonders für diese Bereiche noch immer unausgeschöpfte Begabungsreserven gesehen. Der Ausbau formeller und nicht-formeller Bildung geht mit einer Ausdifferenzierung der einzelnen Bereiche und Institutionen einher, die eigene Profile entwickeln (müssen). Im Zuge dessen werden staatliche Einrichtungen durch private Einrichtungen (etwa Schulen und Hochschulen) ergänzt. Mehr noch: Die als relevant für Bildung und Erziehung erkannten Orte pluralisieren und entgrenzen sich. Neben formellen und nicht-formellen Bildungsorten rückt besonders die Familie als informeller Bildungsort vermehrt ins öffentliche Interesse. Umgekehrt werden nunmehr auch traditionell als privat angesehene Aufgaben wie Elternschaft der formellen Bildung übertragen: Bereits werdende Mütter und Väter, aber auch Eltern, können sich inzwischen zum Teil für die
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Elternschaft institutionell weiterqualifizieren und ihre Qualifikation zertifizieren lassen. Unterstützt wird die Bildungsexpansion durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, die eine Informatisierung, Digitalisierung und Entgrenzung von Bildung und Erziehung mit sich bringen und zu strukturellen Veränderungen der Lehr- und Lernformen beitragen: Computergestützte Lehr-Lernarrangements dienen nunmehr in der formellen und nicht-formellen Bildung als Ergänzung herkömmlicher Unterrichtsformen, Kinder lernen möglichst bereits vor der Schule, spätestens aber in der Schule und in der Freizeit den Umgang mit den neuen Technologien, und auch Seniorinnen und Senioren sollen im Umgang mit den neuen Medien qualifiziert werden. Der flächendeckende Ausbau des Internets soll möglichst allen Bevölkerungsschichten und Altersgruppen die Nutzung dieses Kommunikations- und Bildungsmediums ermöglichen und so neue Teilhabechancen an Bildung und eine Steigerung der Bildungsbeteiligung fördern. Die neuen Medien verändern aber auch informelle Bildungs- und Erziehungsprozesse im privaten Binnenraum der Familie. Zugleich liegt im Zugang zu den und in der Verteilung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien eine neue Quelle von bildungsbedingten Ungleichheiten: Der insbesondere im globalen Vergleich in seinen sozialstrukturell differenzierten Ausprägungen belegte digital divide spiegelt die nunmehr auch medial gestützte (Re-)Produktion von Ungleichheiten durch Bildung und Erziehung wider. Ungleichheitsgenerierende Kategorien sind dabei u.a. soziale Herkunft, Geschlecht, Alter, Generation und Territorialität (Stadt/ Land, Nord/Süd bzw. Ost/West).
Wandlungen auf der Mesoebene: Organisationsreformen und lernende Organisationen im Bildungs- und Erziehungssystem In der entstehenden »Wissensgesellschaft« sind auch die gesellschaftlichen Organisationen unter Wandlungsdruck geraten. Dabei lässt sich grob zwischen intendierten und unintendierten Wandlungen differenzieren. Intendierte Wandlungen im öffentlichen Sektor werden vor allem durch eine staatlich verordnete Ökonomisierung erzwungen, denn das marktwirtschaftliche Prinzip und neue Steuerungsinstrumente in Gestalt von New Public Management sollen auch Anwendung auf öffentliche Güter und Leistungen finden. Die neue Steuerung umfasst einen Wandel von der Input- zur Outputförderung, der sich in Ziel- und Leistungsvereinbarungen zwischen Staat und nachgeordneten Organisationen, aber 148
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auch innerhalb der Organisationen niederschlägt. Begleitet wird dieser Organisationsreformprozess von der Einführung betriebswirtschaftlicher Instrumente wie Kontraktmanagement, Evaluation, Controlling, Monitoring und Benchmarking, die sämtlich wissensbasiert sind. Nur vermeintlich geht damit eine Verstärkung der institutionellen und individuellen Autonomie einher: Es handelt sich lediglich um eine veränderte Form des Regierens und Regiertwerdens, in der die organisierte Steuerung andere Formen annimmt, nicht aber generell nachlässt. Dieses veränderte Steuerungs- und Organisationsverständnis macht auch vor den Institutionen und Organisationen von Bildung und Erziehung nicht halt: Der Erfolg von organisierten Bildungs- und Erziehungsprozessen soll durch die Einführung von Qualitäts- bzw. Bildungsstandards gewährleistet und durch vor allem quantifizierende Indikatoren messbar nachgewiesen werden; große internationale Bildungsvergleichsstudien wie PISA, TIMMS und IGLU demonstrieren im Schulsystem, wie Bildung und Erziehung, nunmehr vor allem als Kompetenz von Lehrenden und Lernenden begriffen, messbar gemacht werden. Lehrund Lerninhalte sollen vor allem ökonomisch verwertbar sein, das heißt adäquate Verwendung auf dem sich globalisierenden Arbeitsmarkt der entstehenden »Wissensgesellschaft« finden, und Lehre hat einen erweiterten Aufgabenbereich: Neben das Ziel der im engeren Sinne fachlichen Wissensvermittlung treten »postkanonische Ziele« (Gill 2005: 288) wie die Förderung des individuellen Lernmanagements und der individuellen Kompetenzentwicklung. Grundlegend dafür sind veränderte Mechanismen der organisationalen und individuellen (Selbst-)Steuerung, die in Ziel- und Leistungsvereinbarungen fixiert werden, z.B. in Form von Lernverträgen zwischen Lehrenden und Lernenden – ein Beispiel sind Promotionsverträge, die wechselseitige Erwartungen und Leistungen von Promovierenden und Betreuungspersonen regeln. Zu den durch die Bildungsexpansion unintendierten Wandlungen gehört eine sich ausweitende Verwissenschaftlichung der Institutionen und Organisationen von Bildung und Erziehung, aber auch darüber hinaus. Der sich in der entstehenden »Wissensgesellschaft« ausweitende Organisationstyp der Expertenorganisation, auch Organisation der Professionals genannt, zu dem die Bildungs- und Erziehungsorganisationen zählen, wird vor allem durch das Wissen der in ihm tätigen, zu einem hohen Anteil hoch qualifizierten Organisationsmitglieder gebildet. Als Professionals verfügen diese in der Regel über akademische Bildung und über eine hohe Autonomie in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich. Ihre Bildung und ihr Wissen aber fließen nur zu einem geringen Anteil in die Entwicklung der eigenen Organisation ein, sodass diese trotz der Intelligenz der darin tätigen Professionals »dumm« ist: Ihr organisatio149
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nales Wissen bleibt hinter dem Wissen der einzelnen Mitglieder zurück (vgl. Willke 1997). Die entstehende »Wissensgesellschaft« hingegen fordert von Organisationen einen effizienten Umgang mit ihrem Wissen und eine hohe Bereitschaft zur organisationalen Flexibilität und zum organisationalen Lernen, wobei Lernen hier systemisch und entpersonalisiert verstanden wird, wenngleich auch von den einzelnen Organisationsmitgliedern selbstverständlich ebenfalls Lernbereitschaft und -fähigkeit erwartet werden. Die lernende Organisation ist ein wesentlicher Bestandteil des Leitbilds der »Wissensgesellschaft«. Bildungseinrichtungen wie Schulen und besonders Universitäten zeigen sich den Reform-, ja, den Lernanforderungen der entstehenden »Wissensgesellschaft« von außen wie von innen gegenüber als sehr schwerfällig, widerständig und auch wenig wandlungsbereit. Gill (2005: 132) etwa beschreibt in diesem Zusammenhang, »warum das konservative deutsche Bildungssystem in der postindustriellen Wissensgesellschaft dysfunktional wird«: In seiner anhaltend traditionellen Orientierung an der mengenmäßigen Beschränkung von Bildung und Ausbildung auf Kinder der Oberschicht und seiner Fixierung auf lebenslange Beschäftigung auf der Grundlage von einmal erworbenen Qualifikationen sei es nämlich »kaum in der Lage, den gestiegenen und flexibilisierten Qualifikationsanforderungen Rechnung zu tragen« (ebd.). Die Bildungs- und Erziehungsorganisationen müssen sich, so die Schlussfolgerung, also wandeln und umlernen. Insbesondere Schulen und Hochschulen tun sich damit allerdings vor allem in curricularer und in methodisch-didaktischer Hinsicht noch schwer. Die damit angesprochene Frage der (Re-)Produktion von Ungleichheiten in und durch Bildungs- und Erziehungsinstitutionen (vgl. z.B. Berger/Kahlert 2005) ist ökonomisch, demographisch und gesellschaftspolitisch relevant. Anstöße zum diesbezüglichen organisationalen Umlernen betreffen die Organisationsstrukturen, -prozesse und -kulturen. Chancengleichheitspolitische Strategien wie Gender Mainstreaming als Konzept der Organisationsentwicklung im Public-Profit-Bereich in Bezug auf die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit, aber auch Managing Diversity als Strategie der Anerkennung von Vielfalt setzen explizit am Umlernen der Organisationen und ihrer Mitglieder hinsichtlich ihres Umgangs mit (Human-)Ressourcen an. Sie sind zudem passfähig zu den neuen Steuerungsinstrumenten und fügen sich damit in wissensbasierte Prozesse des Strukturwandels ein. Während im Gender Mainstreaming die Gerechtigkeitsorientierung mit der Orientierung an organisationaler Effizienzsteigerung einhergeht, ist dies in Bezug auf Managing Diversity umstritten. Diese chancengleichheitspolitische Strategie wird bisher vor allem im Profit-Bereich umgesetzt, wo die Effizienz150
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und Profitsteigerung im Vordergrund steht und die Herstellung von Gerechtigkeit allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt. Wie beispielsweise eine an Diversity orientierte Schulentwicklung aussehen könnte, ist bisher nur annähernd konzeptionell entfaltet und praktisch erprobt.
Wandlungen auf der Mikroebene: Selbstgesteuertes und lebenslanges Lernen des »unternehmerischen Selbst« Im Mittelpunkt der Analyse zu Wandlungen auf der Mikroebene steht eine bisher in Studien zur Bildungsexpansion eher unterbelichtete Dimension der Ausweitung von Bildung und Erziehung in der entstehenden »Wissensgesellschaft«, nämlich der Aufstieg des Konzepts des lebenslangen Lernens und dessen Voraussetzung durch selbstgesteuertes, selbstorganisiertes Lernen. Nicht zuletzt unterstützt durch wissensökonomische Befürchtungen in Bezug auf zu gering gebildete Arbeitskräfte und die demographische Entwicklung zu alternden und schrumpfenden Gesellschaften will und soll »wissensgesellschaftliche« Pädagogik nunmehr den gesamten Lebenslauf von Individuen umfassen. Das ist nicht gänzlich neu und im Übrigen auch tautologisch, denn Bildungsprozesse erstrecken sich eigentlich immer über den gesamten Lebenslauf hinweg. Neu aber ist, dass die inflationär und vor allem in der Pädagogik weitgehend unreflektierte Bildungsphilosophie des lebenslangen Lernens die unter »industriegesellschaftlichen« Bedingungen als geschlossen aufgefasste Lernphase Kindheit/Jugend/junges Erwachsenenalter obsolet werden lässt. »Wissensgesellschaften« als alternde und schrumpfende Gesellschaften sind angesichts ihrer Orientierung an der immer bestmöglichen Nutzung des Humankapitals besonders am lebenslangen Lernen interessiert. Bildungsprozesse erstrecken sich nun auf die gesamte Biographie, beginnend mit pädagogischer Frühförderung, einer Ausweitung der Beschulung in Form von vorschulischen Bildungsangeboten und Ganztagsschulen bis hin zu vielfältigen Lernangeboten für Seniorinnen und Senioren. Die biographische und organisatorische Entgrenzung geht mit einer Flexibilisierung institutioneller Bildungsphasen einher, beispielsweise in Form gestufter und modularisierter Studiengänge im Zuge des Bologna-Prozesses, die Erwerbstätigen eine spätere Rückkehr an die Hochschule erleichtern sollen. Neu an der »wissensgesellschaftlichen« Pädagogik ist auch eine konzeptionelle Grundlegung des lebenslangen, auf individueller Selbststeuerung basierenden Bildungsverständnisses in einem ökonomischen Kontext. Die derart erneuerte Bildungsphilosophie verabschiedet die Tradition moderner Pädagogik mit ihrer Rede von Wissen, Erkenntnis und Kritik, von Reflexivität, von Fähigkeiten, die es zu entwickeln und 151
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– im Hinblick auf den Erwartungshorizont einer Kultur – zu fördern und zu formen gilt, von Emanzipation, Mitbestimmung und der Idee eines mündigen Handlungssubjekts als idealer Bezugspunkt pädagogischer Reflexion. Leitbegriffe »wissensgesellschaftlicher« Pädagogik sind z.B. »Information«, »Kompetenz«, »Erfolg« und »Effizienz«. Bereits vorausgesetzt – und nicht mehr als erst formell und nicht-formell zu bildend und zu erziehend angesehen – wird ein starkes Subjekt, das schon über die Kompetenz verfügt, das aktive und eigenverantwortliche Zentrum der eigenen Lebensplanung und damit auch der individuellen Bildungsbiographie zu sein. Die informelle Bildung und Erziehung in der Familie gewinnt so erheblich an Bedeutung für die individuelle Kompetenzentwicklung: Das Individuum muss bereits in der und durch die Familie mit den notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen ausgestattet werden. Die Kompetenzorientierung verstärkt folglich bestehende Ungleichheiten. Das einem verkürzten Verständnis von Individualisierung verhaftete Diktum lautet: »Jede/r ist ihres/seines Glückes Schmied«. Das Individuum wird demnach nicht nur gebildet, erzogen und sozialisiert, sondern steuert und organisiert selbst seine Bildung, Erziehung und Sozialisation im gleichen Maß wie seine Umwelt. Die Handlungs- und Entscheidungsmacht der/des Einzelnen scheint in der »Wissensgesellschaft« allenfalls an individuelle Grenzen stoßen zu können. Bildungsentscheidungen des »unternehmerischen Selbst« werden in die Kompetenz der/ des Einzelnen verlagert, denn die Auswahl und didaktische Umsetzung des Lernstoffs soll nunmehr eigenverantwortlich erfolgen, und zwar lebenslang. Bildung, weitgehend verengt auf berufsbezogene Aus- und Weiterbildung, zielt dabei auf die Aufrechterhaltung, Verbesserung und Erweiterung des Humankapitals, auf messbare Leistung und auf unmittelbare berufliche Verwertung der erworbenen »Kompetenzen«, auch »Schlüsselqualifikationen« genannt, im Zuge von Beschäftigungsfähigkeit (employability). Die individuelle Lernstrategie gilt also nur dann als erfolgreich, wenn das so gebildete Humankapital adäquat auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt wird. Dieses individualisierte Bildungsverständnis ist gesellschaftlich eingebettet in einen sukzessiven Abschied vom Normalerwerbsverhältnis und von dem mit diesem verbundenen Normallebenslauf; dieser war bisher sozial ungleich verteilt, denn er konnte vor allem für Männer Gültigkeit beanspruchen. In der entstehenden »Wissensgesellschaft« wächst mit den Entscheidungsoptionen auch die biographische Unsicherheit – und zwar sozial selektiv. Der Markt für professionelle Beratungsangebote boomt folglich: Berufsbezogene Beratungsformen wie Supervision und Coaching, aber auch personenbezogene Beratungsformen in Gestalt verschiedener 152
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Therapien bieten vor allem den besser gebildeten (und damit zumeist auch besser ökonomisch ausgestatteten) »Arbeitskraftunternehmern« und »Arbeitskraftunternehmerinnen« Unterstützung in der Bewältigung der Herausforderungen der »Wissensgesellschaft«. Das selbstgesteuerte und selbstorganisierte lebenslange Lernen ist folglich als ein wesentlicher Bestandteil des Leitbilds der neuen Gesellschaftsformation in sozialstruktureller Hinsicht ausgesprochen voraussetzungsreich, denn es entkoppelt systematisch und für den Bildungserfolg bedeutsame Formen der milieuspezifischen Wissensaneignung von sozialen Strukturen. Kompetenz gehört als condition sine qua non zum individuellen Humankapital, und denjenigen, die über zu wenig oder die vermeintliche falsche Kompetenz verfügen, wird suggeriert, sie seien daran selbst Schuld: Mangelnder Bildungserfolg oder gar Bildungsversagen gelten als Kumulation individueller Fehlentscheidungen statt als Ausdrucksformen strukturierter Bildungsungleichheiten. Bildung, Erziehung und Sozialisation erscheinen also in der »wissensgesellschaftlichen« Pädagogik der sozialen Verhältnisse entledigt, und die kritische Reflexion der sozial ungleichen Voraussetzungen von Individuen entfällt.
Erkenntnispotenziale und -lücken der Gegenwartsbeschreibung »Wissensgesellschaft« Abschließend sollen nun die Erkenntnispotenziale und -lücken der Gegenwartsbeschreibung »Wissensgesellschaft« im Hinblick auf de Analyse der Bildungsexpansion ausgelotet und diagnostische Kompetenzen dieses Labels aufgezeigt werden. Thomas Höhne (2003: 11) unterscheidet mindestens drei wissenschaftliche Verwendungsweisen des Begriffs »Wissensgesellschaft«: • Wissensgesellschaft als Faktum: Wissensgesellschaft und die damit einhergehenden sozialen Veränderungen werden als soziale Tatsache vorausgesetzt und nicht weiter problematisiert. • Wissensgesellschaft als Beschreibungskategorie: Dem Begriff kommt die Funktion einer Beobachtungskategorie unter anderen wie Risikogesellschaft oder Dienstleistungsgesellschaft zu. • Wissensgesellschaft als Transformationsprozess: Der Begriff dient als Beschreibung von sozialstrukturellen Transformationen, an erster Stelle für die Verschiebung von Kapital und Arbeit zu Wissen als wesentlicher Produktivkraft. Der zuletzt genannte Stellenwert steht in diesem Beitrag im Mittelpunkt. Dabei erscheint der Begriff der »Wissensgesellschaft« in diagnostischer 153
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Absicht als Platzhalter für sozialen Wandel, in dem Wissen und dessen Erwerb, Zertifizierung und Anwendung durch Bildung, Erziehung und Lernen von wachsender Bedeutung für die Einzelnen wie für die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt sind und in dem sich zugleich Bildung und Erziehung selbst wandeln. Dass ein Zusammenhang zwischen Wissen, Bildung und Erziehung und Lebenschancen, der Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten und Lebenslagen im Lebensverlauf besteht, wird seit den 1960er Jahren breit vor allem in der soziologischen, aber auch in der erziehungswissenschaftlichen Bildungsforschung diskutiert und gehört inzwischen zum Alltagswissen. Die Positionierung von Vertreterinnen und Vertretern der soziologischen und der erziehungswissenschaftlichen Bildungsforschung in Bezug auf die Gegenwartsbeschreibung »Wissensgesellschaft« ist allerdings uneinheitlich. So zeigen sich viele Vertreterinnen und Vertreter der insbesondere an der Analyse von Bildungsungleichheiten interessierten Soziologie der Bildung und Erziehung skeptisch in Bezug auf die These des Strukturwandels von der »Industrie-« zur »Wissensgesellschaft«, vereinzelt findet sich hier aber auch die Rede von der »Bildungsgesellschaft« oder der »learning society«. Nach wie vor weit verbreitet im deutschen Kontext ist in dieser Speziellen Soziologie die Bezugnahme auf das gesellschaftspolitische Diktum der 1960er Jahre von Bildung als Bürgerrecht und vor allem eine macht- und herrschaftskritische analytische Perspektive (vgl. z.B. Vester 2006), die unvereinbar scheint mit einer »wissensgesellschaftlichen« Orientierung an Kompetenz, die Bildungsprozesse und -entscheidungen jenseits von gesellschaftlichen Strukturierungsprozessen konzipiert. Zugespitzt: Die aktuelle bildungs- und ungleichheitssoziologische Literatur bietet nur wenige Anknüpfungspunkte, um die Bedeutung von Bildungsungleichheiten gesellschaftsanalytisch im Übergang von der »Industrie-« zur »Wissensgesellschaft« zu erfassen. In der Erziehungswissenschaft hingegen findet die Gegenwartsbeschreibung »Wissensgesellschaft« seit Beginn der 1990er Jahre vergleichsweise große – und vor allem affirmative – Verbreitung, die mit einem Wechsel in der pädagogischen Terminologie einhergeht und an »wissensgesellschaftliche« Leitideen wie Ökonomisierung, neue Steuerung und Kompetenz anschließt. Damit ist auch eine Neuakzentuierung des eigenen disziplinären Gegenstandsbereichs impliziert, die durch wissenschafts- und bildungspolitische Programme, aber auch Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt eine vermeintlich notwendige Adaption an den gesellschaftlichen Strukturwandel nahe zu legen scheint (vgl. kritisch dazu z.B. Höhne 2003; Rößer 2006). Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht scheint die »Wissensgesellschaft« längst eine Tatsache zu 154
BILDUNG UND ERZIEHUNG
sein und wird als Gesellschaftsbeschreibung kaum mehr kritisch hinterfragt. Das hier behauptete gesellschaftsreflektorische Desiderat in der soziologischen und der erziehungswissenschaftlichen Bildungsforschung könnte jeweils disziplinenpolitische Gründe haben, aber auch in der Zeitdiagnose »Wissensgesellschaft« selbst begründet sein. Diese Überlegung soll abschließend etwas näher ausbuchstabiert werden. Die vor allem wirtschaftswissenschaftlichen und soziologischen Debatten über die entstehende »Wissensgesellschaft« und über die Bildungsexpansion fokussieren wesentlich auf die Makroebene gesellschaftlicher Strukturen, zum Teil auch noch auf die Mesoebene der Bildungs- und Erziehungsinstitutionen und -organisationen. Sie vernachlässigen dabei die für Gesellschaftsanalysen des vermeintlichen Strukturwandels von der »Industrie-« zur »Wissensgesellschaft« gleichermaßen bedeutsame Mikroebene der Individuen. Diese steht im Mittelpunkt erziehungswissenschaftlicher Studien, die wiederum zumeist eine Rückbindung ihrer Ergebnisse an sozialstrukturelle und organisationsbezogene Entwicklungen auf der Makro- und Mesoebene vermissen lassen. Erst in der Zusammenschau der drei Ebenen in ihren Wechselwirkungen und Verknüpfungen wird aber das gesamte Ausmaß der Bildungsexpansion und der durch diese geförderte gesellschaftliche Strukturwandel, mit dem einige ihre Diagnose von der (entstehenden) »Wissensgesellschaft« begründen, aber auch die in der Bildungsexpansion nahezu stabil bleibende Strukturierung von Bildungsungleichheiten deutlich. Auf der Makroebene bleiben trotz Verlängerung der Bildungsbeteiligung und Höherbildung der Bevölkerung im Zuge der Bildungsexpansion soziale Ungleichheiten nahezu unverändert. Allenfalls in Bezug auf die ungleichheitsgenerierenden Kategorien zeigen sich Bedeutungsverschiebungen zwischen den einzelnen Kategorien, ohne dass jedoch die generelle soziale Strukturierung von Ungleichheiten in und durch Bildung und Erziehung aufgehoben werden konnte (vgl. z.B. Becker/Lauterbach 2004; Hadjar/Becker 2006). Gleichzeitig erfolgt auf der Mikroebene eine Individualisierung gesellschaftlicher Chancen in und durch Bildung und Erziehung, gefördert durch Leitideen, Konzepte und Strategien der sich herausbildenden »wissensgesellschaftlichen« Pädagogik. Auf der Mesoebene der Bildungs- und Erziehungsinstitutionen und -organisationen schließlich zeigt sich, welche Bedeutung diesen bei der Herstellung und beim Abbau von Bildungsungleichheiten zukommt. Ihr Einfluss auf die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Wandel von Bildungsungleichheiten ist jedoch bisher nur rudimentär erforscht. Gill (2005: 28f.) betont, dass weiterführende Fragen nach dem Zusammenhang von Bildung, Erziehung und Gesellschaft seltener gestellt 155
HEIKE KAHLERT
und noch seltener bearbeitet würden: Die eigentlich nahe liegende Frage nach der Veränderung des gesellschaftlichen Lebens durch die Bildungsexpansion habe bislang vor allem zu vagen Spekulationen geführt, sei aber niemals systematischer untersucht worden. Die soziologische Bildungs- und Ungleichheitsforschung ist sich allerdings darin einig, dass Ungleichheiten in Bildung und Erziehung an Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung gewonnen haben und zur sozialen Frage des 21. Jahrhunderts avanciert sind (vgl. z.B. Becker/Lauterbach 2004). Die Feststellung vom Bedeutungsgewinn ist im Einklang zumindest mit den (wenigen) Theorien der »Wissensgesellschaft«, die durch Bildung und Wissen eine Polarisierung in der entstehenden neuen Gesellschaftsformation behaupten. Diese Theorien unterscheiden beispielsweise zwischen verschiedenen Wissensklassen und verweisen auf den digital divide, wenngleich selbst hier der Bezug zur sozialen Frage lediglich implizit hergestellt wird. Das Auseinanderklaffen der Makro- und Mikroebene aber wird allenfalls in der zeitdiagnostischen Beschreibung der »Risikogesellschaft« (Beck 1986) und ansatzweise auch der »Netzwerkgesellschaft« (Castells 2003) problematisiert, wenn auch jeweils mangels einer theoretischen Fundierung der beiden Diagnosen nicht erklärt. Eine systematisch auf Bildung und Erziehung Bezug nehmende systematische Mehrebenenanalyse aber liefert keine der bisher vorliegenden Theorien der »Wissensgesellschaft«. Vor dem Hintergrund der Ausführungen in diesem Beitrag ist abschließend festzuhalten, dass das Label »Wissensgesellschaft« für den Bereich Bildung und Erziehung diagnostische Kompetenzen aufweist. Der diagnostische Gehalt aber konnte hier allenfalls angedeutet und nicht im erforderlichen Maß ausgelotet werden. Diese Aufgabe bleibt weiteren Forschungen vorbehalten.
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BILDUNG UND ERZIEHUNG
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3 .5 Wiss e nsc ha ft: Epistemisc hes Niema ndsla nd? STEFAN BÖSCHEN
Seit gut 30 Jahren lässt sich eine Auseinandersetzung um die wachsende Bedeutung wissenschaftlichen Wissens für ökonomische wie politische Prozesse und die damit verbundenen Konsequenzen für die Wissenschaft bzw. Ökonomie und Politik beobachten (vgl. stilbildend: Bell 1973 und Beck 1986). Zwei wesentliche Diagnosen, die der Wissensgesellschaft wie der Risikogesellschaft, beruhen im Kern auf der Einsicht, dass mit der wachsenden Relevanz wissenschaftlichen Wissens sich ebenso die Bedingungen der Erzeugung und Verteilung von Wissen in modernen Gesellschaften wandeln. Die damit verbundenen Veränderungsprozesse betreffen nicht allein die innere Struktur des Wissens oder die gesellschaftliche Bedeutung unterschiedlicher Wissensformen, sondern wirken sich ebenso auf die Inklusion bzw. Exklusion der verschiedenen Wissensproduzenten aus und manifestieren sich schließlich im Umbau institutioneller Strukturen. Die heterogene Struktur dieser Entwicklung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass über ihre Beobachtung große Uneinigkeit besteht (vgl. z.B. Böschen/Schulz-Schaeffer 2003). Einigkeit besteht zumindest darüber, dass es sich hierbei um praktisch wie theoretisch wesentliche und damit herausfordernde Entwicklungen handelt. Umstritten sind hingegen das Ausmaß, die Tiefe und auch die Reichweite der damit verbundenen Wandlungsprozesse moderner Gesellschaften. Als Frage formuliert: Wie lassen sich Wissensordnung und soziale Ordnung in ihrer gegenseitigen (Un-)Abhängigkeit und (Nicht-)
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Verschränkung erfassen (vgl. Jasanoff 2004; zum Überblick: Weingart et al. 2007)? Vereinfacht finden sich drei unterschiedliche Perspektiven: • Analysen, welche von einer Ent-Differenzierung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ausgehen und damit die moderne Wissensordnung in Frage gestellt sehen. Im Extremfall geht die wechselseitige Verschränkung sogar so weit, dass der epistemische Kern von Wissenschaft betroffen wird (vgl. Nowotny et al. 2001). Jedoch fehlt bisher ein empirischer Nachweis der postulierten Entwicklungen; • Differenzierungstheoretisch angeleitete Positionen (vgl. Weingart 2001; Weingart et al. 2007) gehen zumeist von der weithin ungebrochenen Gültigkeit moderner Wissensordnungen aus, die insbesondere die hierarchische Sonderpositionierung von Wissenschaft meint (ebd. 2007: 13). Auf diese Weise wird die oben angesprochene Frage gleichsam konzeptionell beantwortet; • Schließlich formulieren Ansätze einer Ko-Produktion (vgl. Jasanoff 2004) eine Art Zwischenposition als sie zwar vielfach die Wirksamkeit hierarchischer Wissensordnungen aufzeigen, sie aber nicht als ein gegebenes Phänomen ansehen, sondern die Prozesse ihrer Konstitution erhellen wollen. Ein wichtiges dynamisches Moment und Anlass für die Befragung etablierter Wissensordnungen verdankt sich der Pluralisierung von Wissen. Um Konsequenzen dieser Entwicklung zu erhellen, soll deshalb im Folgenden zunächst das Phänomen der Pluralisierung von Wissen in der Entwicklung von Wissensgesellschaften thematisiert werden (Kap. 1). In einem zweiten Schritt werden ausgewählte Grenzkonflikte zwischen Wissenschaft und anderen institutionellen Feldern in den Blick genommen (Kap. 2), um dann auf einen besonderen Grenzort, die Universität, einzugehen (Kap. 3) und schließlich ein knappes Resümee zu ziehen (Kap. 4).
Wissensgesellschaft(en) in der Entwicklung Wissensgesellschaft ist kein an sich neues Phänomen, aber es lassen sich Wandlungen ausmachen. Historisch wie systematisch lässt sich der Beginn der Wissensgesellschaft auf die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts datieren (vgl. Szöllösi-Janze 2004). Nach der Deutung von Peter Burke ist Wissensgesellschaft sogar ein Phänomen der frühen Neuzeit (Burke 2001). Diese Deutung gewinnt ihre Plausibilität durch das Aufkommen des Buchdrucks und damit der Entwicklung der »Gutenberg-Galaxie«. 160
WISSENSCHAFT
Die Revolutionierung von Verbreitungsmedien und auch Erzeugungsweisen von Wissen (im Experiment) sind die notwendige aber nicht hinreichende Voraussetzung für einen grundlegenden Wandel. Erst in dem Moment, in dem »Wissen [zur] unmittelbaren Produktivkraft« (SzöllösiJanze 2004: 286) für ökonomische (aber auch andere gesellschaftliche) Prozesse wird, kann von einer Durchsetzung des Programms gesprochen werden – und das ist im ausgehenden 19. Jahrhundert. Vielleicht sollte man deshalb zwei Konstellationen unterscheiden, wobei die eine Ausdruck der Formierung und die andere Ausdruck der institutionellen Durchsetzung des Programms neuzeitlicher Wissenschaft ist. Insofern sollte man hier von Wissensgesellschaft (WG) 1a (Frühe Neuzeit, Wissenschaft als modernes Programm, aber traditionale Herrschaftsordnung) und WG 1b (Wissenschaft als modernes Programm und Institution sowie moderne Herrschaftsordnung) sprechen. Der spezifisch zeitdiagnostische Diskurs »Wissensgesellschaft« ist dann als WG 2 im ausgehenden 20. Jahrhundert angesiedelt und es stellt sich die Frage, warum gerade zu diesem Zeitpunkt Bewegung in die etablierten Wissensordnungen kam und verstärkte Aktivitäten auf der Seite von Reflexionsdiskursen freigesetzt wurden.1 Angespornt durch die Erfolge der Wissenschaft und situiert in der Konkurrenzsituation des Kalten Krieges wurden in den ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahren groß angelegte Programme zur Durchsetzung einer umfassenden nationalstaatlichen Daseinsvorsorge durchgesetzt. Die soziale und naturbezogene Ordnung von Gesellschaft sollte wissenschaftlich exakt geplant und zudem durch das Anheizen der Innovationstätigkeit wirtschaftliche Prosperität gesichert werden. Im Zeichen wachsender Computerisierung scheute man sich auch nicht, globale Systeme zu modellieren und dem menschlichen Zugriff zu vergewissern.2 Zugleich wurde eine ambitionierte Umweltpolitik vorangetrieben. Bei alldem spielte die Wissenschaft eine Hauptrolle. Zugleich wurden immer mehr Fälle von im Nachhinein erkannten Risiken bekannt, welche die Legitimität ausschließlich wissenschaftlich-technologischer Problembearbeitung unterhöhlten. Eine Debatte um die Folgen wissenschaftlichen Nichtwissens entstand (zentral: Wehling 2006).
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Die Diagnosen über den Kern der Wissensgesellschaft fallen relativ heterogen aus. Behaupten die einen eine gesteigerte Verteilung von Wissen, so die anderen eine Verteilung der Orte der Wissensproduktion oder schließlich weitere die Verteilung wissenschaftlicher Verfahren zur Erzeugung von Wissen (vgl. dazu die Arbeiten in Böschen/Schulz-Schaeffer 2003). So basierte die Studie »Grenzen des Wachstums« auf einem noch relativ einfachen Weltmodell, das jedoch die Berechnung von Ressourcenströmen erlaubte. 161
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Chancen und Risiken sollten umfassend in Wissensregimen gestaltet werden. Eine Steigerung von Anspruchsoptionen an das Wissen bei gleichzeitiger Erhöhung der Diffusionschancen von Wissen sowie der gezielten Überschreitung institutioneller Grenzziehungen manifestierten sich letztlich in einer Pluralisierung von Wissen (vgl. Lyotard 1979/ 1999). Diese Pluralisierung von Wissen geht mit Umstrukturierungen des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft bzw. von Wissenschaft selbst einher. Neue Grenzziehungsregime entstehen und verändern die diskursiven, institutionellen und pragmatischen Ordnungen von Wissen. Dabei überlasten die kognitiven und institutionellen Grenzziehungsfragen Wissenschaft wie Gesellschaft. Zugleich sind sie aber konstitutiv für die Wissensgesellschaft. Letztlich entstehen, so die These, »epistemische Niemandsländer«, welche den Zusammenhang von Wissen und Macht neu ins Bewusstsein heben.3 Es ist also im Einzelnen nach den konkreten Wissenskonflikten und ihren institutionellen Lösungsmechanismen sowie der Ausgestaltung der sozialen Rolle von Wissenschaft zu fragen. Grundsätzlich überschreiten dabei die Thematisierungsformen von Wissen und Nichtwissen, Wissen und anderem Wissen, Wissen und Werte, Wissen und Eigentum die bis dato etablierten Routinen gesellschaftlicher Problemlösung und fordern institutionelle Phantasie ein. Nun erhalten die Wissenskonflikte je nach institutioneller Entgrenzung einen je unterschiedlichen Charakter (vgl. Beck/Lau 2004). Grenzziehungskonflikte betreffen insbesondere das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, Wissenschaft und Ökonomie, Wissenschaft und Medien (Kap. 2; vgl. auch: Weingart 2001). Irritierend an dieser Dynamik ist die Tatsache, dass gerade der Erfolg von Wissenschaft diese Entgrenzungsprozesse und die damit einher gehenden Grenzziehungskonflikte provoziert. Denn der Erfolg und die damit verbundene Dezentrierung wissenschaftlicher Forschung als akademischer Forschung führt zum Eindringen anderer Ordnungsmuster in den Bereich der Wissenschaft, zur Hinterfragung nicht-reflektierter wissenskultureller Voraussetzungen bei der Produktion von Wissen. Die wechselseitigen Leistungsbezüge zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zeigen jetzt ihr doppeltes Gesicht. Die Abhängigkeit anderer institutioneller Felder von Wissenschaft muss dann problematisch werden, wenn die Leistungserbringung an spezifische, gleichwohl kontingente 3
Vor diesem Hintergrund überrascht auch nicht die Vielfalt an Konzepten, die in der jüngsten Zeit zur Analyse veränderter institutioneller Ordnungen an der Grenze zwischen Wissenschaft und Gesellschaft entwickelt wurden; etwa das Konzept der Wissensregime, der Wissenspolitik oder der Wissensordnungen (vgl. hierzu die Beiträge in: Schützeichel 2007).
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Formen wissenschaftlicher Wissensgenese gebunden ist. Die durch institutionelle Separierung zumindest im Prinzip nach gelösten Problemlagen kehren in die Gesellschaft zurück. Die »Zonen der Uneindeutigkeit« (Agamben) stellen sich deshalb als verdichtete Orte gesellschaftlicher Transformation bzw. Beharrung dar. In ihnen müssen nicht nur Wissenskonflikte konkret bewältigt, sondern darüber hinaus und zugleich die Regeln der Konfliktlösung von neuem ausgehandelt werden. Solche Zonen der Uneindeutigkeit eröffnen, aufgrund ihrer Struktur unklarer Erwartungszuschreibungen, Räume einer Herrschaft durch Nichtwissen.
Grenzkonflikte Grenzkonflikte sind anspruchsvolle Prozesse der wechselseitigen Durchdringung zwischen Wissenschaft und spezifischen institutionellen Feldern. Vor diesem Hintergrund können im Folgenden nur ganz holzschnittartig einige Prozesse beschrieben werden, die solche Grenzkonflikte umfassen. Dabei geht es um Brüche und Tektoniken zwischen den verschiedenen Ebenen, meint: Diskursen, Institutionen und Praktiken. Die Politisierung von Wissen, d.h. Entgrenzungen zwischen Wissenschaft und Politik etwa im Zuge von risikopolitischen Konflikten, zeigt sich zugespitzt in Nichtwissenskonflikten. Dabei werden die etablierten kognitiven und sozialen Routinen zur Feststellung von Evidenzen unterlaufen. So stellt sich die Frage, ob bisherige Arbeitsteilungen zwischen verschiedenen Wissenskulturen weiterhin Gültigkeit für sich beanspruchen dürfen oder durch eine neue Konstellation ersetzt werden müssen. Diese Wissenskonflikte haben zwei Seiten, eine epistemische und eine politische. Die epistemische Seite von Wissenskonflikten verdankt sich den verschiedenen Strukturierungsangeboten von Wissen durch die beteiligten Wissenskulturen (vgl. Knorr-Cetina 2002). Durch solche Konflikte treten Vorstellungen einer für alle Wissenschaften gültigen Rationalität in den Hintergrund und rücken Erfahrungen der Heterogenität von Wissen in den Vordergrund (vgl. für Einheitsperspektive: Mittelstrass 2001; für Heterogenitäts-Perspektive: Galison/Stump 1996). Nun zeigen sich zwar einzelne epistemische Lösungsstrategien, welche die Pluralität von Perspektiven etwa durch die Forcierung transdisziplinärer Forschungsprozesse oder die Entwicklung übergeordneter Wissensmodelle aufzufangen versuchen. Jedoch ist es offen, welchen Stellenwert solche Lösungen für Wissens-Konflikte einnehmen werden. Vereinzelte Angebote sind zu finden, aber noch keine übergreifende Strategie. Die politische Seite der Pluralisierung von Wissenskulturen und Reflexion von Nichtwissen führte in der Zwischenzeit zu neuen Strategien der In163
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stitutionalisierung von Risikopolitik (Chemiepolitik, BSE, Grüne Gentechnik). Dabei manifestiert sich die politische Anerkennung von Nichtwissen insbesondere in der vielschichtigen Debatte um die Ausgestaltung und Institutionalisierung des Vorsorgeprinzips. In den verschiedenen risikopolitischen Feldern hat dies zu je eigenen, institutionalisierten Formen der Wahrnehmung und Verarbeitung von Nichtwissen geführt, sei es durch rechtliche Prozeduren (vgl. Appel 2005), sei es durch partizipative Verfahren (vgl. Fischer 2009). Trotz solcher Öffnungsprozesse von Folgenreflexion sind institutionell Eindeutigkeitserwartungen von Wissen hoch wirksam. Dies manifestiert sich in sehr engen Evidenzanforderungen an wissenschaftliche Aussagen.4 Die Ökonomisierung von Wissen, d.h. die wissensökonomische Inanspruchnahme von Wissen, die durch die gesteigerte Erwartung an wissensgetriebene Innovationen und eine forcierte Innovationspolitik erheblich ausgeweitet wurde (Mirowski/Sent 2008), zeigt ebenfalls eine Pluralisierung relevanter Wissenskulturen. Vor diesem Hintergrund verändern sich Aneignungskonflikte um Wissen, bei denen neben der Grenze zwischen Wissen/Nichtwissen die Grenze zwischen öffentlich/privat (Entdeckung/Erfindung; nicht eigentumsfähig/eigentumsfähig) explizit zum Gegenstand von Auseinandersetzungen gemacht wird. Von der politischen Seite lässt sich weltweit die Entfaltung eines homogenen globalen Patentregimes beobachten (zum Überblick: Godt 2007). Bei diesen Bemühungen eines transnationalen und homogenen Regimes geistiger Eigentumsrechte wird aber eine Eindeutigkeit der Aneignungschancen unterstellt, die jedoch vielfach nicht gegeben ist. Deshalb lassen sich gegenwärtig verstärkt Diskussionen um eine stärker an den jeweiligen kulturellen Besonderheiten von Innovationskontexten ausgerichtete Strukturierung von Innovationsprozessen und Geistigen Eigentumsrechten beobachten. Diese verweisen etwa auf die wachsende Komplexität der Bezüge zwischen Grundlagen- und Industrieforschung. So stellt sich die Frage, inwieweit in bestimmten Kontexten durch Privatisierung von Forschung die Entstehung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse gehemmt wird (vgl. Gläser 2006). Der Warencharakter von Wissen erzeugt im Verein mit der Komplexität von Aneignungsarchitekturen Kon4
Sprechende Beispiele sind hier die restriktive Auslegung von Risk Assessments durch die WTO, wonach nur der nachgewiesene Schaden (also konkret: Tote oder Verluste) als Schranke für Handelsbarrieren akzeptiert wird; oder die Rolle der EFSA (European Food Safety Authority), die u.a. auch für die Organisation von Expertise im Feld der Agrobiotechnologie zuständig ist. Qua Statut ist sie aufgefordert, allen verfügbaren Hinweisen auf Risiken nachzugehen. Jedoch lassen sich im Gegenteil gerade Tendenzen einer sehr engen Auslegung von Evidenz im Sinne theoretisch wie empirisch bewiesener Tatsachenaussagen beobachten.
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fliktlagen ganz eigenen Zuschnitts, welche Erwartungssicherheiten der Akteure im Innovationsfeld systematisch unterlaufen. Schließlich verändern sich mit wachsendem Einfluss der Medien auch die Grenzziehungen zwischen Wissenschaft und Medien. Dieser Prozess dürfte u.U. die gravierendsten, weil untergründigsten Veränderungen von Wissenschaft provozieren. In Folge massenmedialer Beobachtung von Wissenschaft scheint das »Aufmerksamkeitsmonpol der Medien« (Weingart 2005: 31) das Wahrheitsmonopol der Wissenschaft zu verdrängen. Hierbei handelt es sich um einen generellen Trend in einer durch Massenmedien geprägten Gesellschaft, da hier Aufmerksamkeit radikal verknappt wird. Inwieweit kann sich Wissenschaft diesem Sog entziehen? Dies dürfte umso schwieriger sein als einerseits Wissenschaftler strategisch mit Medien umgehen, um unter Bedingungen knapper werdender Forschungsmittel Ressourcen einzuwerben; andererseits greifen Medien strategisch auf Wissenschaft zurück, um etwa Katastrophendiskurse zu untermauern. Unter solchen Bedingungen gehen »Selbstverständlichkeiten wie die des gesellschaftlichen Primats wissenschaftlichen Wissens verloren« und dieser Prozess kann »nicht ohne Selbstschädigung des Arrangements beliebig weiter gesteigert werden« (Weingart 2001: 282). Richtet sich die wissenschaftliche Kommunikation stärker nach den Regeln einer Aufmerksamkeitsökonomie (vgl. Franck 2005), dann verändern sich Evidenzzuweisungen und damit Geltungskriterien wissenschaftlichen Wissens. Sie werden unscharf. Fälschung und Original können u.U. kaum mehr auseinander gehalten werden. Diese Situation läuft nicht nur dem Mertonschen Ideal der »Uneigennützigkeit« wissenschaftlicher Kommunikation entgegen (Merton 1985: 96-98), schlimmer noch: Sie unterminiert das Projekt neuzeitlicher Wissenschaft an seiner empfindlichsten Stelle, dem Basisprinzip methodischer Kontrolle und Reflexion des Wissens.
U n i ve r s i t ä t a l s G r e n z o r t Solche Grenzkonflikte spiegeln sich gleichsam wie in einem Brennglas an einem bestimmten Ort der Wissenserzeugung: der Universität. Die aufgeregte Diskussion zur Gestaltung exzellenter Räume von Wissenschaft geht mit einem überraschenden Planungsoptimismus einher. Woher kommen die Gleichzeitigkeit einer Rhetorik radikaler Innovativität auf der einen und die Annahme, dass solche Innovationen durch maßgeschneiderte organisatorische und institutionelle Mittel hergestellt werden können, auf der anderen Seite? »Leuchttürme der Wissenschaft« sollen
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entstehen.5 Verliert sich der Absolutheitsanspruch der Universität als Institution? Universität ist eine absolute Institution insofern sie immer zugleich alles, inklusive der eigenen Grundlagen, einem Reflexionsprozess aussetzt. Interessanterweise scheint sich dies im Zuge der Ökonomisierung und Taylorisierung von Hochschulen zu verlieren. Hochschulen erscheinen immer weniger in ihrer Ideengestalt denn als Prozedurenkörper. Vor dem Hintergrund internationaler Rangskalen, der Ausweitung nationaler Vergleichsstiftung (Rankings, Ratings oder Exzellenzinitiativen) sowie der Positionierung von Universitäten in nationalen Innovationsstrategien wächst der Druck auf die einzelnen Hochschulen, sich als Unternehmen in einem (globalen) Wettbewerb zu verstehen.6 Dies zeigt sich zunächst im Wandel der Hochschullandschaft. In den letzten Jahren ist nicht nur eine wachsende Bedeutung von Privaten Hochschulen mit einem spezialisierten Angebot zu beobachten (Erzeugung einer horizontalen Heterogenität), sondern auch eine Ausweitung von Verfahren zur symbolischen Ungleichstellung von Universitäten (Erzeugung von hierarchischer Heterogenität). In Deutschland war hierbei die Exzellenzinitiative bahnbrechend, weil die zumindest formal angenommene Gleichstellung aller Universitäten im Hochschulraum aufgebrochen und sie in einen Wettbewerb um die aussichtsreichsten Positionen gezwungen wurden. Und dieser Wettbewerb bricht mit institutionellen Grundsätzen (vgl. Münch 2008), welcher noch durch die abnehmende Ressourcenausstattung forciert wird (Schneidewind 2009: 65). Darüber hinaus steigen die Anforderungen hinsichtlich der Steigerung des wissensökonomisch verwertbaren Wissens. Universitäten haben jedoch im Gegensatz zu anderen Organisationen keine Kontrolle über den Leistungsprozess der Forschung. Denn diese liegt bei den Wissenschaftlern und ihren Fachgemeinschaften (vgl. Gläser 2006). Deswegen ebnen diese Prozesse zwar einer intensiven Selbst-Taylorisierung
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Diese Metaphorik ist aus zweierlei Gründen bemerkenswert: Zum einen sind Leuchttürme doch eigentlich Hinweisgeber nicht jedoch Innovateure; zum anderen signalisiert sie eine programmatische Ungleichstellung zwischen den Lichtspendern und dem Dunkel umher, was einer Aufkündigung des sozialdemokratischen Modells der Gleichheit von Ungleichen entspricht (vgl. Münch 2008). Entscheidend für die Dynamik ist das Zusammenspiel von staatlichen (z.B. Wissenschaftsrat), akademischen (z.B. DFG) und privatwirtschaftlichen Akteuren (z.B. CHE), die eine Konstellation der gesteigerten Wettbewerblichkeit in der Hochschullandschaft formieren, durch die die Herstellung wissenschaftlichen Wissens mit zusätzlichen Kriterien aufgeladen und in der Zuordnung undeutlich wird.
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von Hochschulen den Weg (Slaughter/Rhoades 2004: 76f.), ohne jedoch die gewünschten Renditen garantieren zu können – oder zu wollen.
R i s k a n t e Au t o n o m i e d e r W i s s e n s c h a f t ? Trotz aller Grenzkonflikte verfügt die Wissenschaft auch in der Wissensgesellschaft über eine außerordentliche Autonomiebefähigung. Diese liegt vor allem im Prozess der Forschung selbst begründet. »Wissenschaftliche Produktionsgemeinschaften« (Gläser 2006) bilden das Rückgrat der Wissenschaft. Wissen wird durch Verwendung legitimiert. Von daher stellt sich die Frage ganz eindringlich, ob überhaupt die Möglichkeit zu einem Verlust von Autonomie im Raum steht, inwieweit Wissenschaft durch institutionelle Fremdzugriffe in ihrer Autonomie derart korrumpiert werden könnte, dass sie ihre Autonomie aufs Spiel setzt (vgl. Grimm 2002). Der kognitiv unabgeschlossene Prozess der Wissenserzeugung eröffnet prinzipiell die Chance auf Korrekturen. Jedoch bildet die institutionell garantierte Forschungsfreiheit den grundsätzlichen Rahmen, welcher alles andere als selbstverständlich ist. So kann man mit Gläser (2006) die offenen Enden des Erzeugungsprozesses von Wissen in gewissem Sinn als »Entwarnung« vor allzu schneller Entgrenzungsrhetorik verstehen. Zugleich sollte man nicht unterschätzen, dass unter der Hand die institutionellen Legitimationsgrundlagen entfallen können, weil die Fremdzugriffe den »Rationalitätsglauben« in das Wissen erschüttern. Offensiv sollten deshalb die folgenden Fragen gestellt werden: Welche Strukturmuster zeigen sich bei der Entstehung »epistemischer Niemandsländer«? Welche soziale Rolle kommt der Wissenschaft zu? Inwiefern ermöglicht kollaborative Demokratie der Wissenserzeugung eine Stützung der Legitimation von Forschung? Pointiert: Gilt für die Wissenschaft in der Wissensgesellschaft die Aufforderung: »Mehr Demokratie wagen«? Bisher gibt es auf diese verwickelten Fragen noch keine stimmigen Antworten – vielleicht müssen sie auch eher als bleibende Herausforderung gehandelt werden (vgl. auch: EC 2007). Diese Einsicht erscheint wohl deshalb als so herausfordernd, weil Wissenschaft ihrem eigenen Selbstverständnis nach selbst ein urdemokratisches, nämlich: republikanisches Modell darstellt. Jedoch haben sich in der Entwicklungsgeschichte von Wissenschaft in der Wissensgesellschaft autoritäre Elemente einschleichen und verfestigen können. So gilt für manche die »Galileo-Welt« noch immer als zentrale Perspektive. Die Herstellung von Eindeutigkeit und die Konstruktion von Kausalität stellen unter dieser Perspektive immer noch die entscheidende Ressource bei der Lösung von Wissenskonflikten dar. So müssen wir kon167
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statieren: Pluralität ist als epistemische Lebensform noch nicht erschlossen – und damit sind die Chancen für autoritäre Wege der Lösung von Wissenskonflikten auch weiterhin hoch.
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3 .6 Me die n: Faktor, Re flex ion und Arc hi v ges ellsc haftlic he n Wa ndels HANS-DIETER KÜBLER
Kein anderes gesellschaftliches (Sub-)System ist so eng verzahnt mit der Entwicklung und kollektiven Wahrnehmung der Wissensgesellschaft wie die Medien, wie immer man ihre Definition und Beschreibung auch auslegt. Denn symbolisches Handeln und Kommunikation sind Basis wie Ziel menschlicher Existenz und Sozialität, Medien sind ihre technischen Hilfsmittel, Produkte, Organisationsformen, mittlerweile Systeme. Ihre Innovation, Expansion und Diffusion, beginnend mit der Erfindung des Drucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts, dann breit durchgesetzt mit den klassischen Massenmedien seit Ende des 19. Jahrhunderts und endlich beschleunigt und forciert durch den Siegeszug von Mikroelektronik, Computer und Vernetzung seit den 1980er Jahren, haben subjektives wie kollektives Handeln, Strukturen, Organisation und Reproduktion von Gesellschaft wie auch das jeweilige Selbstkonzept – auch als generelle »Mediatisierung« (Krotz 2007) bezeichnet – immer wieder transformiert und neu konstituiert; zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind sie längst noch nicht abgeschlossen. Erst mit der Digitalisierung und weltweiten Vernetzung durch das Web sind Speicherung, Transport und Zugänglichkeit von derzeit noch unbegrenzten Mengen von Daten potentiell für alle auf dem Globus möglich, erhöht sich ihre Verbreitungsgeschwindigkeit gewissermaßen auf Echtzeit, sinken die Kosten und materiellen Aufwendungen auf Bruchteile, sind extreme Extrapolationen an Datenwachstum zu verzeichnen. Daher rekurrieren sämtliche Entwürfe und Theorien zur Informationsgesellschaft, die seit 171
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den 1970er Jahren in Japan, den USA und auch in Europa konzipiert werden, auf die tief greifenden Evolutionen und rasante Verbreitung der Informations- und Kommunikationstechniken bzw. Medien und den damit bewirkten epochalen Wandel (Bittlingmayer/Bauer 2006; Raabe et al. 2007; Kübler 2009). Statistisch gemessen werden diese Veränderungen etwa an den Umsätzen bzw. wachsenden Anteilen am Bruttoinlandsprodukt, die Medienunternehmen und die Informationswirtschaft generieren, an der Zahl der Beschäftigen, die in und für sie arbeiten, und an den Aufwendungen, die als Investitionen in Infrastruktur und Inhalte (content) getätigt oder für ihren Konsum und ihre Nutzung aufgebracht werden. Ihre anhaltenden Steigerungen führten in volkswirtschaftlichen Bilanzen dazu, aus den angestammten drei Sektoren der kollektiven Wertschöpfung, nämlich der Landwirtschaft, dem Handwerk und der Industrie sowie der Dienstleistung einen vierten Sektor, den der Informations-, Kommunikationsund Medienwirtschaft, auszugliedern. So definieren sich Informationsbzw. Wissensgesellschaften nicht zuletzt danach, ob sie einen solchen Sektor in nennenswerter Größe haben und wie er sich im Verhältnis zu den anderen proportioniert.
M e d i e n u n d M en s c h h e i t s g e s c h i c h t e Allerdings: seit es bewusste Menschheitsgeschichte gibt, haben Menschen ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Ideen, ihre Regeln und Verträge in Medien artikuliert, mit ihnen dokumentiert und überliefert: in Bild und später in Schrift, also zunächst in manuellen Medien, woraus die nachfolgenden Generationen jeweils Wissen generierten und symbolische Tradition und literale Kultur entstanden sind. Kultur lässt sich mithin als »Wissensvorrat [verstehen], aus dem die Interaktionsteilnehmer ihre Interpretationen beziehen« (Habermas 1981, I: 123); insofern ist jede menschliche Gesellung bis zu gewissen Graden ›Wissensgesellschaft‹. Mit der Erfindung des Drucks erfahren die originären, oralen und manuellen Artikulations-, Speicher- und Verbreitungsformen ihre erste Mechanisierung, ihre tendenziell unbegrenzbare »technische Reproduzierbarkeit« (W. Benjamin), die bald neue, nämlich periodische Medien wie Zeitung und Zeitschrift zeitigt; wie umgekehrt diese technischen Vervielfältigungsmöglichkeiten, die die Originalität und Einmaligkeit menschlicher Werke überwinden, dem wachsenden Bedarf nach symbolisch-textlicher Dokumentation entspringen, der sich aus den Anfängen der Wissenschaften, der Expansion von Handel und Verkehr, den recht172
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lichen Regelungen, aber der Popularisierung der Religion (Martin Luther) ergibt. Neuzeitliche Aufklärung, wirtschaftliche Prosperität bis hin zur Industrialisierung, Entfaltung von Wissenschaften und Künsten, bürgerliche Emanzipation durch Menschenrechte, einschließlich Meinungs- und Pressefreiheit, bis hin zur Durchsetzung demokratischer Verfassungen wären ohne simultane mediale Evolutionen nicht möglich gewesen, wie umgekehrt die Akteure und Inhalte der Medien diese Errungenschaften nachhaltig beeinflusst und unaufhaltsam forciert haben. Emphatisch werden die Medien als Reservoirs wie Multiplikatoren sämtlichen menschlichen Wissens apostrophiert, obwohl sie allenfalls Träger bzw. Formationen und Speicher für Daten sind, die erst mit der produktiven Kreation und Modellierung einerseits, mit der Wahrnehmung, Aneignung und Verarbeitung durch Menschen, auch als Rezeption bezeichnet, andererseits Informationen und erst mit deren je subjektiven Behalten und kognitiven Adaption zu Wissen werden. Kollektives Wissen firmiert mithin als abstrakte Metapher für all diese sedimentierten Informations- und Kommunikationsoptionen. Ergänzt werden die Emissions- und Programmmedien seit der Erfindung von Telegraf und Telefon durch technische, interpersonale Kommunikationsmedien, die zeitlich und räumlich getrennte Dialoge zwischen Individuen ermöglichen; gegenwärtig dominiert die mobile Telefonie, wie überhaupt sämtliche Übertragungen und Vermittlungen künftig mobiler werden. Mit globaler Digitalisierung und Vernetzung münden sie alle in interaktive, multimediale Hybridformen (Konvergenz) ein, die pragmatisch als Medien- und Kommunikationssystem einer Gesellschaft oder von Welt apostrophiert werden und als Parameter für ihren Entwicklungsstand, nicht zuletzt für ihre wachsende Informatisierung und Mediatisierung, betrachtet werden.
Mediale Multifunktionalität Erkennbar dürfte inzwischen die eingangs postulierte, überaus enge, wenn nicht dialektisch untrennbare Verzahnung zwischen Medien (in abstrakter Verkürzung) und gesellschaftlichem Wandel geworden sein: Denn Medien sind • antreibende, wenn nicht verursachende Faktoren des gesellschaftlichen Wandels wie sie auch seine jeweils adäquate Produkte sind, die sich mit dem steigenden Einsatz von Kapital, Ressourcen und Techniken in Strukturen, Organisationen und Institutionen niederschlagen; • Reflexe und Zeugnisse, Abbilder und Symbolwelten, Interpretationen und Artikulationen des gesellschaftlichen Wandels in vielfälti173
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gen sinnlichen, ästhetischen und dokumentarischen Formen, Formaten, Genres und Inhalten; Dokumentationen und Archive, Bewahrer und Speicher des gesellschaftlichen Wandels; sie erzeugen so kollektive Gedächtnisse, Traditionen und Kulturen und stimulieren dadurch Vorstellungen, Ideen und Konzepte von gesellschaftlichem Fortschritt.
Insofern reicht es nicht aus, Medien in einem Modell von Gesellschaft auf einer Ebene, etwa als »Beobachtungen erster oder zweiter Ordnung« (Luhmann 1990: 86), anzusiedeln; vielmehr durchwirken sie sämtliche Segmente und Strukturen von Gesellschaft, sind von ihnen produziert und bestückt, wie sie diese auch selbst konturieren und ausdifferenzieren. Moderne Gesellschaften zeichnen sich nicht zuletzt durch solch integrierte Kommunikations- und Reflexionssysteme in vielfältiger Modellierung und Taxonomie aus, wodurch Grad und Umfang ihrer kollektiven, kognitiven Reproduktion und Reflexivität unaufhörlich wachsen und sich verknoten.
W i s s e n u n d M ed i e n »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien«, behauptete 1996 N. Luhmann gleich eingangs seiner Reflexionen über die »Realität der Massenmedien« (ebd., 9). Vielfach wurde diese Aussage zustimmend rekapituliert, zumal die Systemtheorie Luhmanns in den Sozial- und Kommunikationswissenschaften wenigstens zeitweise als breit rezipierte Grundlagentheorie fungierte und als adäquates Zeugnis für die wachsende Mediatisierung von Wissen erachtet wurde. In dieser Pauschalität kann sie allerdings nur gelten, wenn weder von Wissen noch von ›Welt‹ noch von den Medien konzise Definitionen vorliegen bzw. nur solche, die in einem bestimmten Argumentationssystem verortet und determiniert sind. Wissen ist sowohl eine alltägliche als auch eine wissenschaftlichanalytische Kategorie, die in diversen Disziplinen unterschiedlich betrachtet und definiert wird. Entsprechend sind diese und auch benachbarte Begriffe nicht eindeutig und anerkannt zu fassen bzw. erfahren in diversen Sinnkontexten verschiedene Nuancierungen: So betont Erkenntnis eher den aktiven Prozess des Aneignens und Durchdringens, Wissen kennzeichnet hingegen eher den Status des verfügbaren Kompetenz- und Fähigkeitsrepertoires, das man durch Erwerb (eher aktiv) oder durch Vermittlung (eher passiv) erlangt (Knoblauch 2005: 13). 174
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Für die Wissenssoziologie sind Wissen und Erkenntnis nicht nur individuelle Fähigkeiten, sondern soziale Ereignisse (Maasen 2009). Die Sozialität von Wissen und Erkenntnis ist die zentrale Prämisse und das Kernthema der Wissenssoziologie (Knoblauch 2005: 14f.). In den Termini der konstruktivistischen Wissenssoziologie (Berger/Luckmann 1970, XIV) bedeutet Wissen »die Gewissheit, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare Elemente haben«. Damit wird der Wissensbegriff vornehmlich als Alltagskategorie gesehen, mindestens der Wissenschaft ein privilegierter oder gar exklusiver Anspruch auf Wissen bestritten. Zudem sind Wissen und Handeln keine getrennte Komponenten, sondern aufeinander bezogen. Denn wenn Wissen sich erst in der sozialen Anerkennung bildet, vor allem in Sprache externalisiert, dann generiert und festigt sich sozial anerkanntes Wissen in den Interaktionen – in den sozialen wie in den symbolischen – zwischen den Subjekten. In jedem Fall lässt sich die soziale Konstruktion und Diffusion von Wissen – genauer: von Informationen – ohne Medien (in weitem Sinn) nicht vorstellen. Weniger abstrakt und ambitiös sind die unzähligen, meist binären Unterscheidungen von Wissenstypen bzw. -formen, die vorzugsweise auf phänomenlogischer Ebene getroffen werden. Mittlerweile wird etwa unterschieden zwischen • Erfahrungswissen und vermitteltem Wissen; ersteres erwirbt man quasi nebenbei bei jeglichem Handeln, in der Entwicklung und der Sozialisation; es wird auch als intuitives oder implizites Wissen mit je verschiedenen Akzenten bezeichnet, und es ist gemeinhin konkret, d.h. auf die Sache, die Erfahrung, das Tun bezogen, kaum reflektiert und verallgemeinert. Das vermittelte Wissen durchläuft Instanzen, Explizierungen oder gar Evaluationen, vielfach wird es objektiviert und (medial) dokumentiert, es wird von der konkreten Erfahrung abstrahiert und verallgemeinert, dadurch zur Regel, Maxime, Lehrweisheit oder zum Rezept, in der Wissenschaft womöglich zum Paradigma oder zur Theorie; zu seiner Speicherung und Tradierung bedarf es der Medien; • praktischem und theoretischem, populärem bzw. alltäglichem und wissenschaftlichem Wissen, wobei im alltäglichen Umgang für die abstrakteren Formen jeweils die Konnotation des Unnötigen, Unbrauchbaren und Zwecklosen (»Grau ist alle Theorie«) mitschwingt. Das Alltagswissen hingegen gilt als gebräuchlich und nützlich, ist vielfach routinisiert, sogar ritualisiert und kanonisiert, aber auch implizit oder intuitiv, mitunter sogar abgeschottet gegenüber Neuerungen und Zweifel;
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Faktenwissen und Strukturwissen, nicht zuletzt bezogen auf die mediale Vermittlung. Nachrichten übermitteln in der Regel aktuelles Faktenwissen, während eher explikative, narrative Textformen wie Bericht, Reportage, Feature Strukturwissen transportieren, mindestens Blicke in das Wozu und Warum zulassen (Schulz 2008); Fakten- bzw. Objektwissen und Prozesswissen, zwischen »know what« und »know how«. Angesichts der anhaltenden, vielfach thematisierten Explosion von Wissen, genauer: von Erkenntnissen, Daten, Informationen, die vielfach durch Medien motiviert, verbreitet und formatiert werden, haben sich die Prädikate zugunsten des »Gewusst wie« verschoben, das vielfach mit Fähigkeiten des (lebenslangen) Lernens und Problemlösens zusammen gesehen wird; wahrem und falschem Wissen, jeweils bezogen auf mehr oder weniger gesicherte normative Maßstäbe. Die Frage nach Vorurteilen, Trugbildern, oder auch Ideologien beschäftigt die Philosophie mindestens seit Platons Höhlengleichnis, von Francis Bacons »Novum Organum« (1620) über unzählige Ideologiekonzepte bis zur Begründung der modernen Wissenssoziologie (Knoblauch 2005: 23). Als notwendig falsches Bewusstsein pointierten K. Marx und F. Engels sie zur klassenkämpferischen Parole, die Kritische Theorie zur These von der »Aufklärung als Massenbetrug« (Horkheimer/Adorno 1969: 128ff). J. Habermas hat mit seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« (1981) die letztlich nicht lösbare Aporie zu einer Triade von Geltungsansprüchen pragmatisiert und sie damit in Sprachhandlungen eingebunden.
Medienwissen All diese Wissens- – genauer – Informationsformen finden sich in den Medien wieder. Sie sind aber dort nicht alle und vollständig vorhanden, vielmehr partiell und modelliert – nach der Logik und den Konditionen der jeweiligen Medien. Außerdem werden sie nicht nur als pure Faktizität und Abbildhaftigkeit verbreitet, sondern auch – quasi auf der MetaEbene – als Reflexion und Diskurs darüber, so dass sich mediale Informationen unentwegt reproduzieren, modifizieren, zitieren, simulieren und transformieren. Trotz dieser medialen Omnipräsenz vermittelt sich vieles an praktischem Wissen (noch) unmittelbar, nicht durch technische Medien und digitale Informationstechniken, vielmehr im Kontakt von Menschen untereinander. Daher dürfte mediatisiertes Wissen längst noch nicht dominant sein, zumal nicht in allen Alltags- und Tätigkeitssegmenten, aber Poportionen dafür sind nicht messbar. Heuristisch lässt es sich – auch als ›Medienwissen‹ summiert – in drei Dimensionen 176
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unterteilen, die verschiedene disziplinäre Analyse- und Zugangsweisen evozieren:
›Wissen‹ in Medien Wenn über »Informationsexplosion« oder »Wissensillusion« räsoniert wird, dann wird gemeinhin nicht genau zwischen dem Zuwachs von Medien, Information und Wissen unterschieden. Formal gemessen werden kann allenfalls der Anstieg von Daten in Bits und Bytes, aber über Zunahme oder gar Qualität des kollektiven Wissens sagen solche spektakulären Extrapolationen nichts aus. Der nahezu universelle Informationskosmos, den die Medien offerieren oder – via Datenbanken und Suchmaschinen – vermitteln, lässt sich nicht total erfassen. Bestimmte Wissens- bzw. Informationsressorts stehen weniger unter analytischer Beobachtung oder werden – wie etwa Kunst, Literatur und Musik – vornehmlich nach Maßgabe professioneller, aber subjektiver Kritik beachtet. Dabei gehen die Studien sozialwissenschaftlicher Provenienz eher quantitativ, mit dem Ziel der Beschreibung längerfristiger, generalisierbarer Trends und struktureller Merkmale vor, wohingegen medienwissenschaftlichen Ansätze geisteswissenschaftlicher Herkunft eher die Singularität und Qualität der Objekte hervorheben und vornehmlich an der historischen Rekonstruktion von Genres, Formen und Szenarien interessiert sind. Seit das Mediensystem expandiert und seine Komponenten sich wechselseitig durchdringen, haben Inhaltsanalysen zugenommen, um Tendenzen und Besonderheiten der jeweiligen Produkte und Programme herauszuarbeiten. So werden hier zu Lande für die öffentlich-rechtlichen und privatkommerziellen Fernsehprogramme regelmäßig die Anteile der vier Programmdimensionen, nämlich von Information, Unterhaltung, Bildung und Beratung/Service, vermessen, um die gesetzlichen Vorgaben eines Vollprogramms und damit der Programmvielfalt zu überprüfen. Standen Inhaltsstudien früher eher unter der geforderten Prämisse von Objektivität und Neutralität, werden inzwischen unter der Vorgabe konstruktivistischer Ansätze eher der Eigenlogik der Medien bzw. der so genannten »Medienrealität« Rechnung getragen und intramediale Gewichtungen bzw. Modellierungen beachtet. Sie werden inzwischen auch als Frames, d.h. medienspezifisches Rahmungen, sowie als Schemata und Skripts, d.h. als medienspezifische Muster, bezeichnet. Prominent und traditionsreich ist beispielsweise die Nachrichtenforschung, da die Nachricht nach wie vor als die publizistische Topform von Information gilt und sie damit die Essenz politischer Kommunikation ausmacht (Schulz 2008: 87ff.). Auch an fiktionalen bzw. Unterhal177
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tungsinhalten – etwa an Serien (daily soaps) in Radio und Fernsehen – sind vielfach Fragen nach Verzerrungen der Realität, nach Klischees und ideologischen Gehalte herangetragen worden; unterschieden werden etwa Reflexions- oder Kontrollfunktionen von Medien, um damit ihren möglichen Anteil an der Formierung von falschem Bewusstsein zu bewerten. Als besonders problematisch wird die Gewalthaltigkeit von Medieninhalten erachtet, die sowohl in dokumentarischen bzw. Informationsprodukten wie in fiktionalen Inhalten häufig untersucht und nicht zuletzt für die Zunahme von Gewaltneigungen bzw. für die Abstumpfung des Publikums verantwortlich gemacht werden (Kunczik/Zipfel 2006). Die steigende Interdependenz der Medien registriert man auch durch so genannte Resonanzanalysen; sie fördern einerseits Erkenntnisse, wie sehr Medien inzwischen miteinander korrespondieren, öffentliche Themen generieren und vorantreiben. Andererseits ermöglichen sie auch Belege darüber, wie Medien inzwischen durch Marketing, public relations und durch Werbung gesteuert und beeinflusst werden. Als neuerer komplexer Ansatz zur Erforschung von Medienwirkungen hat sich beispielsweise die Agendaforschung etabliert, bei der inhaltsanalytisch ermittelte Medien-Agenden mit den Themen der öffentlichen Meinung, den Publikums-Agenden, verglichen werden, um so Strategien und Grade der Beeinflussung zu ermessen (Schenk 2007: 433ff). Aus kulturkritischer Perspektive wird vielfach angemahnt, dass die populären Medien entsprechend den eigenen Logiken und Vermarktungsstrategien strukturelle und komplexe Informationen vereinfachen, verflachen, trivialisieren. Mit ihrer wachsenden Zahl und der sich verschärfenden Konkurrenz eskaliert unter den Medien der permanente Kampf, die »globalisierte Ökonomie der Aufmerksamkeit« (Franck 2005: 19). Inflationär sind schon Strategien der Personalisierung und Visualisierung, d.h. Zuspitzungen auf autoritative Figuren und Verbildlichungen um jeden Preis. Denn auch die Fotos und Figuren müssen ständig greller, dramatischer, wenn nicht obszöner werden, und die verfügbaren, heute digitalen Techniken ermöglichen solche Aufmachung und Skandalisierung. Die Inhalte werden portioniert, einer Convenient-Mentalität angepasst, so dass auch schon von McDonaldisierung nicht nur hinsichtlich ihrer globalen Standardisierung, sondern auch hinsichtlich ihrer Aufbereitung gesprochen wurde (Ritzer 1998).
Wissen durch Medien Eher in das Ressort der Medienwirkungsforschung fällt Wissen durch Medien, auch als mediatisiertes Wissen bezeichnet. Es ist praktisch unbegrenzbar, je mehr die Medien einerseits ubiquitäre, generelle Abbilder bzw. Re178
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konstruktionen realer, empirisch vorfindlicher Welten werden, andererseits immer mehr fiktive bzw. virtuelle Realitäten produzieren und verbreiten. Zur medialen Informationssuche und -verarbeitung (»information seeking«) hat sich ein spezieller Forschungszweig herausgebildet, der zunächst an den überkommenen Lerntheorien der kognitiven Psychologie anknüpft, inzwischen aber auch transaktionale und konstruktivistische Konzepte aufnimmt (Schenk 2007: 245ff). Untersucht werden Prädispositionen, Prozesse und (selektive) Behaltenspotenziale einschlägiger Informationen, zumal empirisch immer wieder konstatiert werden musste, dass die Informationsverarbeitung der Individuen hoch selektiv verläuft, die Bereitschaft, neues Wissen aufzunehmen, im Vergleich zu immensen Informationsfülle recht gering und keineswegs systematisch ausfällt und damit eine so genannte dauerhafte Alltagsrationalität ziemlich beherrschend ist oder auch gegen Innovationen resistent macht. Verantwortlich dafür werden Heuristiken oder Schemata gemacht, also kognitive Muster, die in der Sozialisation herausgebildet und im Alltag immer wieder bekräftigt werden. Sie organisieren subjektive Wissensstrukturen, steuern die Wahrnehmung neuer Informationen, überprüfen sie auf ihre Kompatibilität bzw. Assimilationsfähigkeit hin und übermitteln die für integrierbar erachtete Wissenssegmente in den Langzeitspeicher. Wohl nur in seltenen, allerdings noch zu wenig bestimmbaren Fällen kommt es zu Modifikationen und Reorganisationen (Akkommo-dationen) der mentalen Strukturen, am ehesten bei jüngeren Menschen und neuen Sachverhalten (ebd.: 276ff). Wie nachhaltig Medien umgekehrt die empirische Wirklichkeit beeinflussen oder gar verändern wird in kulturkritischen Debatten vehement diskutiert, ist aber empirisch schwer zu verifizieren und dürfte auch von der jeweils subjektiven Perspektive abhängen. Unterscheiden lässt sich wirkliche und mediale Realität nur bei den Bereichen, die (noch) unmittelbar erfahrbar sind. Je ›entfernter‹ und abstrakter die Segmente sind, umso mehr oder letztlich ausschließlich ist man auf mediatisierte Rekonstruktion und Vermittlung angewiesen. Zusätzlich drängen sich Medien, zumal die jüngsten digitalen (mit ungeheuren technischen Potentialen und aus ökonomischen Motiven), in noch eigentlich unmittelbar erfahrbare Lebensbereiche hinein und mediatisieren sie; dies lässt sich sowohl bei alltäglichen Besorgungen (Einkauf, Auskunft Freundeskreis, etc.) als auch in Bildung (e-learning) und Beruf (Telearbeit) beobachten. Im so genannten Web 2.0 und seinen social networks werden ganze virtuelle Ersatzwirklichkeiten aufgebaut und verführen zum viel beklagten ›Leben aus zweiter Hand‹. Kinder müssen von klein auf lernen, die beiden Wirklichkeitsaggregate zu erkennen, zu unterscheiden und zu bewerten, sie tun es in infor179
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meller Sozialisation ebenso wie beim expliziten Lernen und können es gemeinhin recht bald versiert. Die frühere Entwicklungspsychologie hat dieses Unterscheidungsvermögen Kindern erst ab acht, neun Jahren zugebilligt, inzwischen lassen sich mindestens partielle Kompetenzen schon in jüngeren Jahren beobachten. Seit den 70er Jahren kümmert sich die Medienforschung um die unterschiedlich verteilten und soziokulturellen Fähigkeiten zur Aneignung und Verarbeitung medialer Informationen, die mit dem Schlagwort der »wachsenden Wissenskluft« (increasing knowledge gap) belegt werden. Erneut stellte sich heraus, dass Rezipienten mit höherem Bildungsniveau und soziokulturellem Status aus medialen Informationen höheren Gewinn und zielgerichtetere Orientierung beziehen können als gegenteilig zu kennzeichnende Populationen. Bestätigt wurden damit für den Mediensektor ungleiche Lern- und Qualifizierungschancen. Allerdings sind sie für die Medienrezeption bislang vorwiegend in kurzfristigen (Wahl-)Kampagnen untersucht worden, so dass für dieses eigentlich sozialisationsspezifisch zu behandelnde Thema erforderliche Langzeitstudien fehlen (Bonfadelli 2007).
Wissen über Medien Das Wissen über Medien, auch als medienkundliches Wissen bezeichnet, lässt sich wiederum unterteilen in medientechnisches, medienbezogenes soziales, medieninhaltliches und -programmliches sowie endlich in medieninstitutionelles und -strukturelles Wissen. Alle Wissenskomponenten zusammen machen das Repertoire aus, das allenthalben Medienkompetenz (Schell u.a. 1999; Groeben/Hurrelmann 2002) oder auch Medienbildung genannt wird, aber vielfach nach sozialisatorischer Entwicklung und kognitivem Stadium differenziert werden muss. Vieles davon lernen Kinder und Jugendliche durch den täglichen Mediengebrauch, intuitiv, nebenbei durch alltägliche Hinweise und das Vorbildverhalten von Eltern und älteren Geschwistern, in der peer group und allein mittels learning by doing. Allerdings hängen Niveau und Differenzierung von den soziokulturellen Kontexten ab, in denen Kinder aufwachsen: Je anspruchsvoller, soziokulturell und kommunikativ kompetenter diese jeweils ausfallen, umso elaborierter gestaltet sich auch der individuelle Medienumgang. Zunächst ist für kleine Kinder besonders wichtig, sich die Handhabung der Geräte anzueignen, um sie eigenständig nutzen zu können. Mit der Wahrnehmung von Programmen und Inhalten werden allmählich genretypische Strukturen, Figurenkonstellationen und Stimulierungsmechanismen erlernt, die zudem emotionale Bindungen, Identifikationen 180
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mit Favoriten und Stars, Steuerungen von Gratifikationen und Stimmungen evozieren. Das Medienangebot wird nach persönlichen Vorlieben und jugendkulturellen Trends individualisiert – was die Medien ihrerseits durch zielgruppenspezifische Diversifizierung massiv unterstützen. Mediennutzung und soziokulturelle Identitätsbildung verschmelzen miteinander und potenzieren sich wechselseitig, so dass der Sozialcharakter von Jugendlichen heute markant von Medien geprägt erscheint (Vollbrecht/Wegener 2010). Dabei avancieren Medienbesitz (etwa von markenspezifischen Handys und symptomatischen Klingeltönen) und damit finanzielle Ausgaben für Medien neben anderen Outfit-Accessoires mehr und mehr zu identitätsperformativen Statussymbolen. In den formalen Sozialisationsinstanzen wie Kindergarten und Schule erlernen Kinder und Jugendliche explizit, aber auch informell die elementaren Kommunikations- und Rezeptionstätigkeiten wie primär das Lesen, aber auch – mit sich verbreitenden medienpädagogischen Unterrichtsangeboten – das qualifizierte Hören und Sehen sowie die produktiven Umgangsformen mit den Medien. Zunehmend erfahren sie etwas über Institutionen und Strukturen der Medien, so dass die eher intuitiv erworbene Medienkompetenz rationalisiert, strukturiert und elaboriert wird, freilich je entsprechend den verfügbaren Lernoptionen und ihren Aneignungen. Zugänglichkeit und qualifizierter Umgang mit Medien haben zwischenzeitlich eine Debatte über deren territorial wie soziokulturell ungleiche Verbreitung und Nutzungskompetenz hervorgerufen, die unter dem Schlagwort der »digital divide« firmiert (Zillian 2006). Dahinter steckt die Annahme, dass Chancengleichheit in Bildung und Beruf in den von Medien geprägten Gesellschaftsformationen die kompetente Nutzung dieser Medien voraussetzt. Mit den sozialen Netzwerken lernen Kinder und Jugendliche nicht nur, sich in virtuellen, medial formierten Ausschnitten von Erwachsenwelten zurechtzufinden, sie modellieren auch ihre eigenen sozialen Welten in virtueller Figuration.
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3 .7 Kunst: Objekt und Motor der Wissensgese llschaft GERHARD PANZER
Die These der Wissensgesellschaft schreibt dem Wissen eine prägende Rolle in der Gesellschaft zu. Aber die Position von Kunst in der Wissensgesellschaft ist mehrdeutig. Hat Kunst nur die Möglichkeit, sich von der entstandenen Wissensgesellschaft und damit indirekt von dem enthaltenen Wissen bestimmen zu lassen? Oder kann sie, weil sie selbst Wissen ist, auf die Gesellschaft einwirken? Folgt man den Theorien der Wissensgesellschaft, dann spricht für eine mitbestimmende Rolle der Kunst in der Wissensgesellschaft wenig. Insbesondere die frühen Theorien erwähnen Kunst wenn überhaupt nur marginal oder weisen ihr sogar eine störende Sonderrolle zu (Bell 1975/1973). Erst die Innovationsforschung und der Aufstieg des Themas der Kreativität in verschiedenen Wissenschaften haben das Bild vom Wissen so grundlegend erweitert, dass es dem in den Künsten entwickelten Selbstbild vom künstlerischen Wissen produktiv begegnen kann. Beides macht erst verständlich, warum Kunst, die zunächst am Rand der Wissensgesellschaft stand, nun zu einem ihrer dynamischen Zentren erklärt wird. Dafür ist »Kunst« im Verhältnis zum Wissen genauer zu fassen (1) und die Sonderstellung von Kunst in den Konzeptionen der Wissensgesellschaft zu berücksichtigen (2). Anhand der bildenden Kunst werden dann ihre Wissensfunktionen (3) und ihr Umgang mit Wissen (4) sowie exemplarisch Veränderungen einzelner künstlerischen Praktiken erörtert (5). Abschließend geht der Beitrag auf aktuelle Probleme von Kunst in der Wissensgesellschaft ein (6) 183
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Künste und Wissen Vom gewählten Begriff der Kunst hängt ab, welches Verhältnis zwischen Kunst und Wissensgesellschaft in den Blick gerät. Kunst bezeichnet verschiedene Künste, die weder als gleichrangig galten, noch gleichartig sind. Während Rhetorik und Musik als Künste bereits früh anerkannt waren, hatte die bildende Kunst, lange als Handwerk eingeordnet sich erst nach den Kriterien der arte liberales zur Kunst zu emanzipieren. Überdies unterscheiden sich Kunstaktivitäten auch danach, ob sie sich in Sprache, Tönen, szenischen Aufführungen oder Bildern realisieren. Die Künste waren dem Anspruch und dem Wertmaßstab der Philosophie ausgesetzt, einziger Träger des an Vernunft und Moral normativ ausgerichteten Wissens zu sein, der auch für künstlerische Formen verbindlich war. Demgegenüber hatte Kunst die Schwierigkeit, die unterschiedlichen Wissensformen aus ihrer Praxis geltend zu machen, zu denen außer der handwerklichen Seite speziell der bildenden Künste auch die Kreativität oder die Phantasie als imaginatives Wissen aller Künste gehören. Aber neben dieser allgemeinen Problematik zeigt sich besonders an der visuell operierenden bildenden Kunst, die als Leitmedium Literatur und Musik überflügelte, der exponierte Stellenwert des Visuellen. Dem liegt die These zugrunde, dass in den mit Bildern überfluteten Gesellschaften das Visuelle zum angemessenen Ausdruck gegenwärtiger globalen Wissensverhältnisse wird. Eingeräumt sei, dass hier die visuelle Dimension des Wissens nicht vor die Wissensgesellschaft zurückverfolgt werden kann, obgleich dies ihr Verständnis differenzieren könnte, etwa an dem Propagandacharakter von Kunst bis in die Reformation/Gegenreformation oder den ästhetischen Innovationen von bildstatistischen Verfahren (zu Neurath vgl. Hartmann/Bauer 2002).
Kunst in Theorien der Wissensgesellschaft Vor dem Hintergrund der behaupteten gesellschaftlichen Bedeutung von Kunst wirkt die lange währende und noch andauernde Geringschätzung von Kunst und Kultur bei der Thematisierung von Wissensprozessen anachronistisch und erklärungsbedürftig. Sie kann auf zeitbedingte Interessenlagen des Wissensdiskurses zurückgeführt werden, hat Ursachen aber auch in der Kunst selbst. Wer die expansive Entwicklung des wissenschaftlichen Wissens analysierte, ihre Rationalität bewunderte und die erweiterte staatliche Förderung durch gesteigerte Forschungs- und Entwicklungsausgaben befürwortete, für den stand Kunst nicht im Fo184
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kus. Vielmehr geriet die Expansion des Wissens in der Wirtschaft in den Blick, wo Wissen zum Motor eines wachsenden Dienstleistungssektors und neuer Wirtschaftszweige mit der dazugehörigen Veränderung von Ausbildungen, Professionen und ganzer Berufsfelder avancierte. Aber diese Aufmerksamkeit diente primär dem Ziel, immaterielle Ressourcen materiell nutzbar zu machen. Kunst und Kultur galten dafür noch nicht als geeignet. Sie lagen für diese Zielsetzung bestenfalls am Rand oder schienen sich der Wissensgesellschaft sogar zu widersetzen, wie es exemplarisch am klassischen Konzept »nachindustrieller Gesellschaft« (Bell 1975/1973) zu beobachten ist. Sie ist Wissensgesellschaft »einmal, weil Neuerungen mehr und mehr von Forschung und Entwicklung getragen werden, [...] zum anderen, weil die Gesellschaft [...] immer mehr Gewicht auf das Gebiet des Wissens legt« (Bell 1975: 219). Nur als »Wissen« könnte Kultur also beitragen, aber dies wird verhindert, weil sie grundsätzlich einer eigenen Sphäre zugewiesen wird, deren axiales Prinzip gegen die Wissensdynamik in Politik und Wirtschaft wirkt. Diese Kultur steht unter dem Einfluss von internationalisierten Prozessen, ist gegen die Institutionen kritisch eingestellt, was sich zu einem Antiinstitutionalismus verfestigt hat (Bell 1975: 53, 114) und nimmt eine oppositionelle Stellung in der Sozialstruktur ein (Bell 1975: 311). Das Wissen der Kunst wird eher als Objekt von Beschleunigung und neuer technologischer Möglichkeiten begriffen, die sich auf die Sensibilität der Maler auswirkt, ohne selbst Einfluss zu nehmen (Bell 1975: 195). So sehr man Bell zugute halten muss, dass er ausdrücklich auf die Bedeutung von Kultur und Bewusstsein eingeht (Bell 1975: 361-367), so sehr verstellt seine kritische Sicht der Kultur deren Wissenscharakter. Sie motiviert ihn, die Kultur zu einem Faktor des Widerspruchs im Kapitalismus auszuarbeiten (Bell 1976). Alternativen zu diesem antagonistischen Modell der Beziehung von Kunst und Kultur in der rational, fortschrittsbetonten Wissensgesellschaft lagen vor. Der Wissenschaftssoziologe Thomas S. Kuhn wies darauf hin, dass seine Erkenntnisse über wissenschaftliche Revolutionen ein spätes Ergebnis der Entdeckung der durchgängigen Parallelen zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Entwicklung seien (Kuhn 1977/1969: 446). Aber weder dieser grundsätzlich anders verfahrende Ansatz, noch die wachsende Bedeutung von Kunst und Kultur in der gesellschaftlichen Entwicklung haben zu Korrekturen geführt. Obwohl der expansive Konsum von Kultur als »Kulturexplosion« thematisiert (Toffler 1964) und die ökonomische Bedeutung von Kunst ihren Status als ein Gut begründeten, das konsumiert werden kann, war und wird sie als Wissensform nicht anerkannt.
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Es bedurfte erst der Erfahrung mit Problemen der Wissensgesellschaft, um den Begriff des Wissens um das Nichtwissen und andere nicht rationale Einflüsse zu erweitern. In aktuellen Theorien wird Wissensgesellschaft mit einem sehr viel heterogeneren und flexibleren Begriff des Wissens verbunden. Dadurch wird das Konzept der Wissensgesellschaft zwar nicht explizit für die Kunst, aber doch für heterogene Arten des Wissens geöffnet, kann dem prozessualen Charakter des Wissens insbesondere beim Lernen gerecht werden und seine übernationale Ausbreitung zu jetzt globalen Dimensionen berücksichtigen (Heidenreich 2003). Nachdem Kunst zunächst nur indirekt an dem Nutzen der Veränderungen zur Wissensgesellschaft teilhatte, trägt sie nach dieser theoretischen Umstellung eigenständig und aktiv zu ihr bei und gibt der aktuellen Wissensgesellschaft ihre Konturen. Die Künste beeinflussen das Selbstbild der Akteure, die Prozesse in Organisationen und die wissenschaftliche Entwicklung mit ihrer Fähigkeit zu Innovation und zur Kreativität. Kunst wird wahrgenommen als eine kreative Kraft, die den Motor des Wissens ebenso treibt wie die traditionellen Felder wirtschaftlicher Entwicklung. Sie wird deshalb diesen gleichgestellt, kann zunehmend ähnliches erreichen, sie überflügeln oder sogar ablösen. Unter vielfältigen Stichworten wie Kreativwirtschaft, creative cities, creative governance, Innovationssysteme wird der Einfluss der Kunst konzeptionell analysiert und in verschiedenen Disziplinen wie der Kultursoziologie, der cultural economy und der Wirtschaftssoziologie diskutiert. In den Konzepten der creative economy finden sich Hinweise, wie der spezielle Typus von Wissen in der Kunst konzeptionell richtig erfasst werden kann, um ihn seiner Unterschiedlichkeit gemäß zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang werden wichtige Parallelen zwischen verschiedenen Formen des Wissens erschlossen, aber auch auf Differenzen hingewiesen, die hilfreich sind, um genauer festzuhalten, was bei der Produktion von Kunst und deren Transaktionen anders ist. Es ist ein spezielles Wissen, das zu dem analytischen und synthetischen Wissen das symbolische Wissen beiträgt (Cook 2007).
Wissensfunktionen bildender Kunst Die Kunst erfüllt in der Wissensgesellschaft verschiedene Funktionen, deren wichtigste sicher ist, selbst Wissen in Kunstwerken zu schaffen und dabei innovativ zu sein. Daneben ist gerade bei visueller Kunst die Fähigkeit Sachverhalte zu verbildlichen bedeutend. Kunst greift für beide Aufgaben Wissen auf und vermittelt oder verändert es. Diese Operationen des symbolischen Wissens sind durchaus mit denen der sehr viel 186
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geläufigeren analytischen und synthetischen Wissenstypen vergleichbar. Dennoch verdeutlichen Versuche sie gleichzusetzen trotz einiger Plausibilität Grenzen. Die regionale Innovationsforschung unterscheidet am künstlerischen Wissen eine explorative Phase, in der die »experimentelle künstlerische Tätigkeit« stattfindet, von einer examinativen, der die »Kunstausstellung« zugeordnet ist, der dann erst die Exploitation folgt, die sie durch »Verkauf in Galerien« realisiert sieht (Cook 2007: 85f.). Dem einzigartigen Wissensprodukt Kunst, das oft nur als originales Kunstwerk verfügbar ist, wird das nicht gerecht, weil es sich zwar noch der Examination stellt, aber nur einmal zu verkaufen ist und keine weitere Exploitation ermöglicht. Es erscheint deshalb sinnvoller, weil dem Wissensprozess gemäßer, die visuelle Kunst tiefer zu gliedern in Imagination (Schöpfung), in Inkorporation (Verkörperung im Werk), in Präsentation/Rezeption sowie in Veräußerung/Kauf beispielsweise für eine Sammlung. Exploitation ist dann anders zu fassen, denn das Wissen eines Werkes wirkt vor allem während der Präsentation durch seine Rezeption. In seiner Zurschaustellung entfaltet das Werk seine vielschichtigen »Bildfunktionen«, zu denen nicht nur die ihr häufig ausschließlich zugebilligte Fähigkeit die objektive Welt abzubilden gehört. Bilder können für Menschen eine Hilfe sein, sich in der sozialen Welt zu orientieren, sich als Subjekt zu identifizieren, magische Aufgaben in der transzendentalen Welt zu erfüllen oder sich sinnlich als Persönlichkeit ansprechen zu lassen (Schuck-Wersig 1993: 115). Diese Funktionen eines Bildes werden von Künstlern durch explizite Aussagen, die sie im Werk ausgedrückt haben, zwar mitbestimmt, aber sie entstehen als vielschichtiges Wissen erst in der Rezeption. Für die Wissensgesellschaft stellt dieses Wissen eine Herausforderung dar, da die Bilder gleichzeitig etwas für den Weltbezug, das Selbstverhältnis, die Orientierung und die Sinne der mit ihnen umgehenden Menschen bedeuten (Schuck-Wersig 1993: 166). Die Gestaltungsspielräume der Kunst sind deshalb weitreichend. Aber die Annahme einer souveränen Kunst hieße zu verkennen, dass auf der Kehrseite dieses Prozesses die Kunst oft auch auf spezifisches Wissen angewiesen und von ihm in der Wissensgesellschaft sogar abhängig geworden ist. Insbesondere dort, wo Kunst nur verständlich wird, wenn sie auf Kennerschaft trifft oder mit den notwendigen Kommentaren versehen ist, hat sie ihren unmittelbaren Zugang zum Betrachter verloren. Die Unverständlichkeit der Kunst begrenzt ihre Wirksamkeit und unterminiert ihre Stellung. Wissen kann dem abhelfen, indem es die malerische Aktivität legitimiert, das Werk erklärt oder dazu beiträgt, ein Publikum für die Kunst anzusprechen (Gehlen 1960: 54f.).
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Wissen in der bildenden Kunstpraxis Anhand der Funktionen wurde nachvollziehbar, wie sperrig aber auch bereichernd die bildende Kunst in der Wissensgesellschaft zu wirken vermag. Das gezeichnete Bild lässt sich wesentlich durch Reflektionen über das Wissen in der Kunst anreichern. Das Wissen bewegt sich in der Kunst in mehreren Relationen, von denen hier auf seine Verankerung in den Erfahrungen des Künstlers (Berleant 1970), seine mehrdimensionale Beziehung zum wissenschaftlichen Wissen (Eco 1977/1973) und seine konstitutive Rolle für die gesellschaftliche Position im künstlerischen Feld eingegangen wird (Bourdieu 1999). Die pragmatistischen Theoretiker analysieren als erste Wissensrelation die Kunst als Erfahrung im Anschluss an Dewey. Dabei wird auch das Verhältnis zwischen Kunst und Wissen reflektiert. Die Kunst wird nicht mit dem Wissen identifiziert, aber es wird seine Bedeutung während verschiedener Phasen des ästhetischen Prozesses in der künstlerischen Erfahrung und der dabei kooperierenden Akteure (Künstler, Interpret und Rezipient) analysiert (Berleant 1970: 124). Künstler eignen sich ihr Wissen an, das sie für ihre künstlerischen Aktivitäten brauchen, um Kunstwerke hervorzubringen. Sie erwerben ihre »craftmanship« überwiegend im Verlauf ihrer Ausbildung, aber sie entwickeln sie weiter aus den gewonnenen Erfahrungen während sie an der Kunst arbeiten. Erst im gemeinsamen Wirken zwischen beiden Quellen des Wissens prägen die Künstler ihren eigenen Stil aus. Mit ihrer Kunst schaffen sie deshalb eigenes Wissen, das sie im ästhetischen Feld an die Vermittler, aber auch an die Rezipienten weitergeben. In der Musik benötigen die Interpreten und Zuhörer oft das gleiche Wissen wie die Künstler. Anstelle der Interpreten sind es in der bildenden Kunst die Kritiker, Galeristen und andere Vermittler, die am Wissen partizipieren müssen, damit auch Rezipienten es wahrnehmen können. Kunst, so ist zusammenzufassen, liefert ein produktives, auf Erfahrungen und Wissen beruhendes, es in Werken gestaltetes neues Wissen, das über seine Interpretation und die Wahrnehmung bei Regierenden verbreitet wird. Kunstwerke haben eine zweiten Relation zum Wissen als Wissensobjekte, deren Konzeptionen sich im Verhältnis zum wissenschaftlichen Wissen anhand der in ihnen eingeschriebenen Poetiken erschließen lassen. Die »offenen Kunstwerke«, unter denen Eco vornehmlich die informellen Kunstwerke versteht, eigenen sich deshalb, deren Wissensstatus zu diskutieren, weil sie die Besonderheit aufweisen ein »Möglichkeitsfeld« zu eröffnen (Eco 1977: 27). In diesem Typ Kunstwerk sieht Eco »epistemologische Metaphern« realisiert, die aus einem zwar »diffusen theoretischen Bewußtsein« geschaffen werden (ebd.: 160), aber nicht 188
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selbst mit Wissenschaft gleichzusetzen sind. Künstler wissen um diesen Zusammenhang und reflektieren ihn bisweilen auch in ihren theoretischen Äußerungen. An diesem Selbstverständnis wird sichtbar, dass sie an wissenschaftlichen Begriffen zwar partizipieren, aber sich in ein metaphorisches Verhältnis zu ihnen setzen, ohne unbedingt selbst wissenschaftlich zu sein. Deshalb formuliert Eco es vorsichtig, dass »Kunst als die imaginative Reaktion, die strukturelle Metaphorisierung einer bestimmten Anschauung der Dinge […] betrachtet werden kann« (ebd.: 161). Eco hebt hervor, dass Kunst keine Erkenntnisfunktion besitzt, vielmehr die Aufgabe hat, »Komplemente (der Welt) hervorzubringen« (ebd.: 46). Die so entstandenen Kunstwerke verbildlichen das oft unsichtbare Wissen. Dabei steht nicht im Vordergrund positives Wissen abzubilden, sondern die »Negation alter Begriffe« (ebd.) zu leisten. Kunstformen entsprechen deshalb eher den wissenschaftlichen Erkenntnissen als einem konventionellen, traditionalen Wissen. Von Kunst als der epistemologischen Metapher »in einer Welt, in der die Diskontinuität der Phänomene die Möglichkeit für ein einheitliches und definitives Weltbild in Frage gestellt hat« auch erwartet, ein »transzendentales Schema« zu schaffen, »das es ermöglicht, neue Aspekte der Welt zu erfassen« (ebd.: 164f.). Kunst partizipiert an der Wissenschaft, aber deutet sie auch eigenständig in einer sinnlich und bildlich verständlichen Weise in Werken aus. Als dritte Relation ist am Wissen verschiedener Kunstformen ihr Verhältnis zur Gesellschaft zu berücksichtigen. Hierfür eignet sich die Praxistheorie von Bourdieu. Er liefert mit dem »Feld« als einem gesellschaftlichen Raum eine Konzeption für die Analyse. Bourdieus kunstsoziologische Arbeiten setzen sich mit dem Wissen in der Gesellschaft mit Hilfe des Begriffs der Praxis auseinander: Das »project créateur«, die kulturelle »Konzeption« ist eine Wissensform, die als Instrument dient, um ein intellektuelles Kräftefeld zu erzeugen (Bourdieu 1970: 75f. Hervor. im Original). Diese hat er am literarischen Feld, aber auch allgemein an den Intellektuellen entwickelt (Bourdieu 1999). Im Feld realisieren sich Machtprozesse und Herrschaftskonstellationen, aber auch Wissen wird für distinktive Strategien eingesetzt. Bourdieu verankert das Wissen sozial im Habitus der Person, analysiert dessen verschiedene Kapitalien, die im durch Felder strukturierten sozialen Raum der Gesellschaft, vermittelt über das symbolische Feld gesellschaftlicher Macht, soziale Positionen der Akteure hervorbringen. Es bestätigt sich auch hier der Kern des Wissens. Bourdieus analytisches Konzept liefert einen produktiven Beitrag, um die künstlerische Praxis in den sozialen Feldern zu verstehen. Das künstlerische Wissen ist dabei im Kern als ein sozial 189
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konstituiertes und sozial wirkendes zu verstehen. Die Kunst wird über die Wissensdimensionen Teil der gesellschaftlichen Struktur und steht damit per se nicht gegen sie, wie bei Bell, sondern trägt zu ihr bei. In allen drei Perspektiven erweist sich die Kunst als eine Wissenspraxis, die schöpferisch Wissen hervorbringt, verkörpert und verbreitet. Sie ist zwar bezogen auf die übrige Wissensentwicklung, aber tritt ihr eigenständig gegenüber: durch die Verbildlichung in epistemologischen Metaphern, durch Fördern des begrifflichen Wandels und durch Überwinden von Diskontinuitäten sowie schließlich durch soziale Mitkonstruktion von Gesellschaft.
Wissensgesellschaft in bildender Kunst Moderne Künstler hatten zwar selten Hemmungen sich programmatisch und theoretisch zu äußern, aber für das Verhältnis zur Wissensgesellschaft erscheint es aussagekräftiger, anhand der künstlerischen Praxis und den künstlerischen Werken zu beobachten und zu beurteilen, wie die Möglichkeiten der Wissensgesellschaft aufgegriffen oder weiterentwickelt werden. Dabei werden affirmative wie auch skeptisch bis kritische Positionen zur Wissensgesellschaft vertreten. Sehr augenfällige Hinweise liefern die Wissenssujets in den Kunstwerken. Sie sind ein Indikator, wie die naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklungen und die daraus resultierenden Modernisierungserfahrungen in den Kunstwerken adaptiert oder künstlerisch geformt werden. Die vordergründige Ähnlichkeit dieser künstlerischen Bildmotive mit alltäglichen und maschinellen Formen des industriellen Maschinenzeitalters sowie mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen kann verdecken, dass es häufig gar nicht um schlichtes Wiedergeben geht; vielmehr zeigen die Werke die künstlerische Fähigkeit, unsichtbare Prozesse in Bildern etwa in abstrakten Formen auszugestalten (Eco 1977: 46f.). Künstler bringen mit ihren Bildern Inhalte hervor, die zuvor noch nicht verfügbar waren. Sie sind eigenständige Beiträge, die helfen das Wissen zu entwickeln und mit ihm umzugehen. Es reicht unter diesen Bedingungen nicht Werke zu kreieren, vielmehr ist es erforderlich, dass mit flankierenden Wissensstrategien auch Stile als Kontexte der Werke durch Wissen hervorgebracht werden. Im 19.Jahrhundert galt als anerkanntes Kriterium für Kunst, dass eine historische Legitimität nachgewiesen werden konnte (Jensen 1994), aber schon am Beginn des 20.Jahrhunderts war auch das grundsätzliche Bestreiten der historischen Legitimität der etablierten Kunst ein geeigneter Kontext, wie es die Avantgarden erfolgreich praktizierten. Unterschied190
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liche Gruppen konstruieren inzwischen durch Wissensstrategien ihre eigene Genealogie, beispielsweise für die New York School, die Gruppe Spur und im Fluxus. Sie verwenden Verfahren, wie sie sich auch unter den Vermittlern in den Museen verbreitet hatten, nachdem sie im Museum of Modern Art die Herkunft der abstrakten Kunst erfolgreich visualisierten (Schmidt-Burkhardt 2005). Neben der künstlerischen Selbstdefinition sind Zuschreibungen aus dem professionellen Feld der Institutionen durch Museumsdirektoren, aber auch durch freiberufliche Kuratoren, Kulturvermittler und Kulturmanager wichtig. Außer den Werken wird auch die Person des Künstlers zu einem Fokus von Wissenskonstruktionen. Aktuelle Formen können an die älteren Stilisierungen der Autorschaft der Künstler seit dem 18.Jahrhundert anknüpfen (Joachimides 2008). Sie nehmen in der Wissensgesellschaft neue Gestalt an, weil die Medien sie generalisieren und intensivieren. Im Kunstsystem führt das zu einer kommunikativen Konstruktion des Künstlerstatus (Kampmann 2006) oder, wie ein anderer Blickwinkel hervorhebt, lässt Künstler zu Marken und strategisch gemanagten Wissensobjekte werden (vgl. dazu die Beiträge in Höhne/Ziegler 2006). Künstler geraten dabei zwischen widersprüchliche Anforderungen, die sie mit paradoxen strategischen Orientierungen gelöst haben. Selbst an Künstlern, die in der Öffentlichkeit »als Inbegriff des nichtkommerziellen und spirituellen Künstlers gelten« (Zwirner 2000), ein bekanntes Beispiel stellt Joseph Beuys dar, ist nachzuvollziehen, wie sie sich strategisch auf den Markt ausrichten er agiert hat. Beuys nutzte insbesondere in den frühen Jahren existierende Öffentlichkeiten, auch solche, die durch andere Künstler geschaffen wurden, um seine Publizität zu steigern. Er erhöhte seinen ökonomischen Wert durch gezielte Aussagen über angeblich realisierte Verkaufserfolge. Er ging längere Zeit zu kommerziellen Galerien demonstrativ auf Distanz, um dann gezielt seine erste Galeriepräsentation auszuwählen, die er mit einem provokativ inszenierten Auftritt zum Spektakel machte. Seine eher esoterische Kunst ging mit den stark beachteten Pop-Künstlern auf Ausstellungstournee. Beuys siedelte manche Kunstwerke auf dem Feld des Wissens an. Er ließ 1977 die von ihm gründete Freie Internationale Universität (FIU) unter einer Honigpumpe auf der documenta tagen. Er wendete sich 1972 der politischen Sphäre mit seinem Büro für direkte Demokratie zu und initiiert 1982 ökologisch orientiert mit 7000 Eichen eine »Stadtverwaldung« in Kassel, die den Kriegsbedingten Baumverlust ausgleichen sollte (Groener/Beuys 1987).
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Das künstlerische Feld und seine Probleme mit der Wissensgesellschaft In der Kunst wird immer wieder Skepsis gegenüber der Wissenschaft laut. Es gehört zu den künstlerischen Erfahrungen, dass sich das Wissen, sobald es Theorie ist, von der Kunst loslöst. Es tritt ihr als verwissenschaftlichtes Wissens als »Scheinwissenschaftlichkeit« gegenüber, so die Kritik von Franz Roh in den sechziger Jahren, und lässt das Irrationale der Kunst nicht mehr zu. Deshalb wünscht er, künftig soll »die Relativität des Urteilens selbst aufleuchten« (Roh 1962: 11), um so den Kunstwerken mehr Raum zum Atmen zu verschaffen (vgl. ebd.). Heute liegen die Probleme anders. Kunst ist Objekt und Motor der Wissensgesellschaft, wie die künstlerischen Existenzen zeigen, die zu Modellen des heutigen Alltagslebens werden. Deren Arbeitsformen steigen zu Modellen des Arbeitslebens auf, Kreativquartiere werden zu Entwicklungslinien der Stadtentwicklung und die Kreativwirtschaft als ökonomisches Modell stützt die Wirtschafts- und Strukturpolitik. Künstler erleben das Paradox im Zentrum zu stehen und zugleich durch die generalisierte Kreativität relativiert und aufs Neue marginalisiert zu werden (Panzer 2010).
Literatur Bell, Daniel (1975/1973): Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York: Campus. Berleant, Arnold (1970): The Aesthetic Field, Springfield, Illinois: Charles C. Thomas. Bourdieu, Pierre (1970): Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1999): Die Regeln der Kunst: Zur Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Cooke, Philip (Hg.) (2007): Regional knowledge economies: markets, clusters and innovation, Cheltenham/UK: Elgar. Dewey, John (1980): Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Eco, Umberto (1977): Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Groener, Fernando/Beuys, Joseph (Hg.): 7000 Eichen, Joseph Beuys, Köln: König. Gehlen, Arnold (1960): Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a.M./Bonn: Athenäum
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Hartmann, Frank /Bauer, Erwin K. (Hg.) (2002): Bildersprache: Otto Neurath, Visualisierungen, Wien: WUV. Heidenreich, Martin (2003): »Die Debatte um die Wissensgesellschaft«. In: Böschen, Stefan/Schulz-Schaeffer, Ingo (Hg.): Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Höhne, Steffen/Ziegler, Ralph Philipp (Hg.) (2006): ›Kulturbranding?‹: Konzepte und Perspektiven der Markenbildung im Kulturbereich. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. Jensen, Robert (1994): Marketing Modernism in Fin-de-Siècle Europe, Princeton, N.J.: Princeton University Press. Joachimides, Alexis (2008): Verwandlungskünstler: Der Beginn künstlerischer Selbststilisierung, München: Deutscher Kunstverlag. Kampmann, Sabine (2006): Künstler sein: Systemtheoretische Beobachtungen von Autorschaft, München: Fink. Kuhn, Thomas S. (1977): Die Entstehung des Neuen: Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Panzer, Gerhard (2010): »Generalisierte Kreativität als Herausforderung der Kreativität des Handelns.« In: Unsichere Zeiten Verhandlungen des 34. Soziologiekongresses in Jena. Frankfurt a. M..: Campus. Roh, Franz (1962): Streit um die moderne Kunst: Auseinandersetzung mit Gegnern der neuen Malerei, München: List. Schmidt-Burkhardt, Astrit (2005): Stammbäume der Kunst: Zur Genealogie der Avantgarde, Berlin: Akademie. Schuck-Wersig, Petra (1993): Expeditionen zum Bild: Beiträge zur Analyse des kulturellen Stellenwerts von Bildern, Berlin u.a.: Lang. Toffler, Alvin (1964): The Culture Consumers: A Study of Art and Affluence in America, New York: St. Martin’s Press. Zwirner, Rudolf (2000): Joseph Beuys – der Stratege, Braunschweig: Hochschule für Bildende Künste.
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3 .8 Ges undheit: Inno va tione n für Le be ns qualität und zur sozialen Emanzipation RAINER FRETSCHNER/JOSEF HILBERT
Zu den prominentesten, aber auch umstrittensten Zeitdiagnosen der Gegenwart zählt die Beschreibung der (post-)modernen Gesellschaft als Wissensgesellschaft (vgl. Stehr 1994; siehe auch Fretschner 2009; Krüger-Charlé 2008). Mit dem ökonomischen und sozialen Strukturwandel zur Wissensgesellschaft werden weitreichende Hoffnungen auf Vollbeschäftigung, steigende Lebensqualität und soziale Emanzipation verbunden. Dabei werden nicht nur quantitative Verschiebungen zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren (statistische Tertiarisierung) und qualitative Veränderungen im ökonomischen System vorausgesetzt, sondern auch umfassende Anpassungsleistungen in nahezu allen gesell-schaftlichen Teilsystemen postuliert. Wissenschaftliches Wissen und darauf basierende Innovationen dringen in alle gesellschaftlichen Teilsysteme vor und zwingen diese zu erhöhten Reflexions- und Adaptionsleistungen. Wissensbasierte Infrastrukturen durchziehen die Gegenwartsgesellschaft wie Blutbahnen den menschlichen Körper und versorgen die gesellschaftlichen Teilsysteme mit Information und Wissen. Auch die Gesundheits- und Sozialsysteme bleiben von diesen Trends nicht unberührt (vgl. Fretschner 2009).
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Zielorientierung: Gesundheit und Lebensqualität Zentrale Argumentationsfiguren des Diskurses zur Wissensgesellschaft waren bereits in den heute klassisch zu nennenden soziologischen Texten zur Entwicklung der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft angelegt. Jean Fourastié sah in der Entwicklung zur Dienstleistungs- und Wissensökonomie »Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts« (Fourastié 1969), da mit deren Realisierung die ökonomischen Krisenphänomene des industriellen Zeitalters überwunden und ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht in der tertiären Zivilisation erreicht werden würde. Gerade die personenbezogenen und sozialen Dienstleistungen gewinnen Fourastié zufolge in der Dienstleistungsgesellschaft an (ökonomischem) Gewicht und (gesellschaftlicher) Bedeutung, da allein sie den »individuellen Hunger nach Tertiärem« zu stillen in der Lage seien. Die Meliorationstheorie Fourastiés rückt den Faktor Lebensqualität in den Mittelpunkt und beschreibt folgerichtig die Bereiche Gesundheit & Soziales als treibende Kräfte einer Modernisierung und Humanisierung von Wirtschaft und Gesellschaft Im Anschluss an die Argumentation Fourastiés zählte Daniel Bell in seiner 1973 im Original erschienenen Schrift The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting technische und akademische Professionen und wissensintensive Berufe zu den wichtigsten und prägenden Berufsgruppen der postindustriellen Gesellschaft. Zu den nunmehr dominanten wirtschaftlichen Sektoren rechnete Bell den tertiären Sektor (z. B. Verkehr und Erholung), den quartären Sektor (z. B. Banken und Versicherungen) sowie den quintären Sektor (z. B. Gesundheit & Soziales, Bildung & Erziehung, Forschung & Wissensproduktion), die zur effizienten Leistungsproduktion notwendigerweise auf fachliche Expertise und technischen Sachverstand angewiesen sind. Damit wird Bell zufolge in der postindustriellen Gesellschaft die Orientierung am Wirtschaftswachstum (in quantitativer Perspektive) durch die Orientierung an Melioration (in qualitativer Perspektive) ersetzt (vgl. Bell 1985). Das Leitmotiv bzw. der soziale Imperativ der postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft lautet seither: Steigerung der Lebensqualität. Auch wenn Daniel Bell eine andere Zielsetzung als Jean Fourastié verfolgt, er kommt zu einer vergleichbaren Zeitdiagnose und Gesellschaftsbeschreibung: Die Entwicklung zur postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft führt zwangsläufig zu einem kontinuierlichen Bedeutungszuwachs der Sektoren Gesundheit und Soziales und damit verbunden zu einer Beschäftigungsexpansion im Bereich der personenbezogenen und sozialen Dienstleitungen. 196
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Ein Blick in die Umsatz- und Beschäftigungsstatistik der vergangenen 50 Jahre bestätigt diese Annahmen: Der ökonomische Strukturwandel von der Industrie zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wurde im Wesentlichen durch die Expansion der personenbezogenen und sozialen Dienstleistungen getragen. Beschäftigungsverluste in den industriellen Kernsektoren wurden durch Beschäftigungszuwächse im Dienstleistungssektor sogar überkompensiert. Heute ist die Gesundheitsund Sozialwirtschaft mit über 5,4 Millionen Beschäftigten in Deutschland nicht nur eine äußerst personal- und beschäftigungsintensive Dienstleistungsbranche, sondern sie zählt auch zu den wissens- und technologieintensiven Wirtschaftsbereichen (vgl. Technische Universität Berlin et.al. 2009; siehe auch Evans 2008). Zahlreiche Prognosen gehen davon aus, dass personenbezogene und soziale Dienstleistungen auch zukünftig zu den expandierenden Beschäftigungssektoren und Wachstumskräften zählen werden. Der medizinisch-technische Fortschritt, sozio-technische Innovationen bei der Betreuung und Versorgung zu Hause lebender älterer Menschen (ambient assisted living) oder die telematische Vernetzung stationärer und ambulanter Versorgungseinrichtungen (eHealth) sind ohne wissenschaftliche Forschungs- und Entwicklungsleistungen und darauf basierenden Innovationen in Medizin und Gesundheitswissenschaften, in Medizintechnik und life sciences nicht denkbar.
High-Tech und moderne Organisationsformen a l s I n n o va t i o n s t r e i b e r Eine bedeutende Rolle im technologischen Innovationsgeschehen werden ohne Zweifel Medizintechnik und Biotechnologie spielen. Die Medizintechnik zählt bereits heute zu den wachstums- und exportstärksten Branchen des Verarbeitenden Gewerbes. Für die Entwicklung neuer Produkte und Verfahren spielen neben medizinischen Entwicklungen und Anwendungen die Erkenntnisse der Biologie, der Chemie, Physik und der Ingenieurwissenschaften eine Rolle. Neben biotechnologischen und gentechnischen Verfahren sind zunehmend Chiptechnologien, die Bioinformatik, die Nanotechnologie und die Mikrosystemtechnik als Querschnittstechnologien bedeutsam. Es spielen aber auch optische Technologien, Bildgebungsverfahren, Simulationstechnologien und neue Materialwissenschaften eine entscheidende Rolle. Es ist nicht zuletzt diese technologische Breite, die die Medizintechnik zu den politisch geförderten Leitbranchen der Volkswirtschaft macht. Gerade der hochtechnologische Markt für Medizinprodukte weist mit einer F&E-Quote (= 197
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Anteil der Forschungs- und Entwicklungsausgaben am Gesamtumsatz) von 8,8 Prozent im Jahr 2006 einen mehr als doppelt so hohen Wert wie der Industriedurchschnitt auf. Diese überdurchschnittliche F&EIntensität drückt sich auch in der Anzahl der Patentanmeldungen aus. Nach Angaben des Europäischen Patentamtes in München führte die Medizintechnik im Jahr 2006 die Liste der angemeldeten Patente mit 11,4% bzw. 14.700 Patenten an. Der Ökonom Leo Nefiodow sieht in Produkten und Dienstleistungen, die einen Beitrag zur psychosozialen Gesundheit und Lebensqualität leisten, die zentralen Basisinnovationen und damit die Leitorientierungen für den sechsten Kondratieff-Konjunkturzyklus. »Damit lässt sich der Leitsektor, der den sechsten Kondratieff tragen wird, eingrenzen: Gesundheit im ganzheitlichen Sinn – physisch, seelisch, geistig, ökologisch, sozial. Die neue Wertschöpfungskette, das Netz neuer Produkte, Verfahren, Dienstleistungen und Technologien, die den nächsten Langzyklus tragen wird, wird aus den Branchen Information, Umwelt (einschließlich regenerierbarer Energien), Biotechnologie und dem bisherigen Gesundheitssektor bestehen« (Nefiodow 2001: 133; vgl. auch Goldschmidt/Hilbert 2009).
Dabei wird der Biotechnologie und der psychosozialen Gesundheit die größte wissenschaftliche und ökonomische Bedeutung zukommen, denn die zentralen Innovationen werden nicht in den Kernsektoren des Gesundheits- und Sozialwesens entstehen, sondern aus den peripheren Bereichen nach und nach ins Zentrum der Gesundheits- und Sozialwirtschaft rücken: »Die meisten Innovatoren der psychosozialen Gesundheit kommen deshalb vorwiegend von außerhalb des medizinischen Establishments: Unternehmensberatungen, private Seminarveranstalter, selbständige Psychotherapeuten, neue Unternehmer, kreative Außenseiter, private Kliniken und Hotels, die Personalund Gesundheitsabteilungen der Privatwirtschaft sowie spezialisierte Universitätskliniken. Auf mittlere Sicht dürfte es zu einer Verschmelzung beider Sektoren kommen« (Nefiodow 2001: 138).
Die argumentative Nähe dieser Ausführungen zur wissenschaftstheoretischen Position der Mode 2-Forschung, die ebenfalls eine anwendungsund nachfrageorientierte, transdisziplinäre, institutionell heterogene und an den gesellschaftlichen Bedarfen ausgerichtete neue Form der Wissensproduktion propagiert, fällt ins Auge (vgl. Gibbons et al. 1994). Um psychosoziale Gesundheit und Lebensqualität im Sinne der Innovationstheorie Nefiodows als neue Basisinnovationen zu etablieren, ist die Ko198
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operation vieler und ganz unterschiedlicher Akteure und Institutionen erforderlich. Technologische Innovationen in Medizintechnik und life sciences aber auch neue Präventions- und Rehabilitationsangebote lassen sich nur in regionalen Innovationsnetzwerken realisieren und erfordern die interdisziplinäre und professionsübergreifende Zusammenarbeit der beteiligten Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Gerade in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft erweisen sich regionale Innovationsnetzwerke und politisch geförderte Clusteransätze als geeignete Instrumente, um Innovation und Kooperation sicherzustellen (vgl. Goldschmidt/Hilbert 2009).
Innovation im Netzwerk: Ambient Assisted Living Seit einiger Zeit haben ambient assisted living (AAL) und Telemedizin Konjunktur in Deutschland. Gerade mit Blick auf Gesundheitsförderung, Prävention und Salutogenese werden mit diesen Themen große Erwartungen hinsichtlich Kostenreduzierung und Effizienzsteigerung verknüpft. Den großen Erwartungen steht jedoch eine bisher ernüchternde Realität gegenüber, denn es werden überwiegend Pilotprojekte realisiert, die jedoch in der Regel eingestellt werden, sobald die projektgebundene Finanzierung und Projektförderung ausgelaufen ist. Es fehlt derzeit an tragfähigen Geschäftsmodellen, die eine dauerhafte und nachhaltige Implementation und Etablierung dieser Innovationen sicherstellen. Unter ambient assisted living werden Konzepte, Produkte und Dienstleistungen verstanden, die neue Technologien und soziales Umfeld miteinander verbinden. Das intelligent Haus oder die intelligente Wohnung versorgen, überwachen und beschützen ihre Bewohner mit Hilfe technischer Assistenzsysteme. Wichtige Komponenten häuslicher Intelligenz sind dabei Sensoren, die beispielsweise den Zustand von Herdplatten oder Fenstern überwachen sowie Aktoren, die vergessene Herdplatten abschalten und geöffnete Fenster schließen. Die Sensoren und Aktoren sind mit Computern verbunden, die die ermittelten Umgebungsinformationen auswerten und entsprechende Aktionen einleiten. Zu dieser Kategorie gehören auch in der Wohnung angebrachte Sensoren, die den Sturz einer Person registrieren und einen Notruf absenden können. Eine weitere wichtige Komponente von AAL-Angeboten sind telemedizinische Dienstleistungen wie etwa die Überwachung von HerzKreislauf-Funktionen bei Herzinsuffizienzpatienten oder auch die Fernüberwachung des Heilungsverlaufs von Wunden (Telehealth Monitoring). 199
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Ein Grund für die zögerliche Verbreitung von AAL-Techniken (und telemedizinischen Anwendungen) ist darin zu sehen, dass bis vor kurzem auf der technischen Ebene Probleme der Interoperabilität vorlagen. Diese Probleme erschweren die gleichzeitige Verwendung von Produkten unterschiedlicher Hersteller oder machen sie gänzlich unmöglich. Gerade auf dieser technischen Ebene sind momentan Fortschritte zu verzeichnen. Ähnliches gilt für die (datenschutz-)rechtlichen Rahmenbedingungen und entsprechende Finanzierungsmodelle. Einer der wichtigsten Gründe, der die Verbreitung von AAL bislang verhindert hat, war möglicherweise die ausgesprochene Technikzentrierung ihrer Entwicklung (Paulus et al. 2009). In letzter Zeit ist ein Umdenken zu beobachten. Es werden inzwischen Forschungsverbünde und -netzwerke gefördert, die interdisziplinär organisiert sind und denen neben Technikern auch Sozialwissenschaftler, Ökonomen, Ärzte und Pflegekräfte sowie Vertreter von Krankenhäusern und sozialen Professionen angehören. Zu den zentralen Erfolgsbedingungen zukünftiger Entwicklungen werden die frühzeitige Einbindung potenzieller Nutzerinnen und Nutzer sowie der professions- und sektorenübergreifende Dialog der Produktentwickler und Hersteller sein. Darüber hinaus gibt es einige Unternehmen aus der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, die in ambient assisted living ein zukunftsfähiges Gestaltungsfeld entdecken. Wenn man an die vielfältigen Aspekte von AAL und Telemedizin denkt, die derzeit praktisch erprobt werden, dann ist aus demographischen Gründen gerade das unabhängige und selbständige Wohnen im Alter ein zukunftsfähiges Feld für die Entwicklung und Erprobung von gesundheitlichen Servicefunktionen und deren Applikation und Vermarktung in der Wohnungswirtschaft. In diesem Sinne stehen die neuen Formen des ambient assisted living exemplarisch für die strukturelle Verschränkung von sozialstrukturellem Wandel und sozio-technischen Innovationen. Integrierte Angebote, die technische und soziale Innovationen zu ganzheitlichen und an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichteten sozio-technischen Systemen zusammenführen, werden auch bei älteren und beeinträchtigten Menschen auf Akzeptanz stoßen. Der demographische Wandel und die Alterung der Gesellschaft verleihen damit nicht nur dem sozialstrukturellen Wandel, sondern auch dem Strukturwandel der Wissenschaft neue Impulse.
Ak a d e m i s i e r u n g u n d P r o f e s s i o n a l i s i e r u n g Ein weiteres Indiz für die zunehmende Wissensbasierung der Gesundheits- und Sozialwirtschaft ist der kontinuierlich steigende Professionali200
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sierungs- und Akademisierungsgrad der Beschäftigten. Der Anteil akademischer Gesundheitsfachberufe nimmt im Verhältnis zum Anteil der nicht-akademischen Fachberufe kontinuierlich zu. Das prognostizierte Wachstum der Gesundheits- und Sozialwirtschaft führt zu einem kontinuierlich steigenden Qualifizierungs- und Weiterbildungsbedarf in diesen Feldern. Der enorme Qualifizierungsbedarf lässt sich nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen, er resultiert vielmehr aus der Summe zahlreicher Kontextfaktoren. Zum einen erzwingen veränderte rechtliche, sozialpolitische und ökonomische Rahmenbedingungen den Einsatz betriebswirtschaftlicher Instrumente in der Gesundheitsversorgung und der Sozialen Arbeit mit hilfebedürftigen Menschen. Grundlagenkenntnisse des Sozialmanagements werden heute von allen Fach- und Führungskräften in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft selbstverständlich erwartet. Steigende Anforderungen an die Qualität und Effizienz der Versorgung machen Kenntnisse in Qualitätssicherung, Qualitätsmanagement und Evaluation erforderlich. Ein zunehmender Wettbewerbsdruck zwischen den Trägern und Anbietern führt zur Intensivierung von Gesundheitskommunikation und Health Communication und sorgt für einen zusätzlichen Qualifizierungsschub in diesen Feldern. Diese Liste ließe sich weiter fortführen. Die Ausdifferenzierung der Berufsbilder und Einsatzfelder in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft führt jedoch in ein qualifikatorisches Dilemma, denn die zunehmende Spezialisierung und Arbeitsteilung zwischen den Berufsgruppen erfordert gleichzeitig eine sektoren- und berufsgruppenübergreifende Integration und Koordination des Leistungsgeschehens. Dies führt wiederum zur Etablierung neuer Berufsbilder und zertifizierter Abschlüsse – etwa im integrativ ausgerichteten Case Management (vgl. Gissel-Palkovich 2006). Unter den gegebenen Bedingungen ist deshalb mit einer weiteren Ausdifferenzierung der Qualifikationen und Qualifikationswege in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft zu rechnen (vgl. Evans 2008b). Alternativ werden jedoch auch etliche gut ausgebildete Kunden und Patienten mit Hilfe der Neuen Medien in der Lage sein, ihre Gesunderhaltungs- und Heilungsprozesse selbst zu planen und zu steuern. Dies wiederum wird nicht ohne strukturelle Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis bzw. auf die konkrete Dienstleistungsinteraktion zwischen Professionellen und Laien haben. Die Neuen Medien verstärken in diesem Sinne den Trend zur »Emanzipation des Publikums« (Gerhards 2001) und fördern Selbstverantwortung und aktive Partizipation der Laien in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft. Der gegenwärtige Bedeutungszuwachs der Themen Professionalisierung und Akademisierung in Deutschland stellt in internationaler Perspektive eine Art nachholende Entwicklung dar. Im angelsächsischen 201
RAINER FRETSCHNER/JOSEF HILBERT
Raum werden insbesondere die Berufszugänge zur Pflege (care work) und zur Sozialen Arbeit (social work) traditionell durch ein Hochschulstudium und einen entsprechenden akademischen Abschluss reguliert, während in Deutschland die Ausbildung in den Gesundheitsfachberufen noch überwiegend außerhalb des Hochschulsystems stattfindet. Doch auch in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren bereits zahlreiche Studiengänge an Fachhochschulen und Universitäten auf den Trend zur Akademisierung und Professionalisierung in der Gesundheitsund Sozialwirtschaft eingestellt: Dieser Trend wird aller Voraussicht nach nicht umzukehren sein, da neben rein qualifikatorischen auch berufsstrategische Aspekte ausschlaggebend sind. Gerade in der Pflege und in den therapeutischen Berufen (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie etc.) wird mit der Akademisierung und Professionalisierung eine Aufwertung dieser Tätigkeiten angestrebt. Dabei dient das akademische Studium der Sozialen Arbeit als Vorbild: »Ähnlich wie die Soziale Arbeit haben die Gesundheitsfachberufe im 20. Jahrhundert einen Professionalisierungsschub gehabt, der noch anhält. Der Trend ist klar: Immer mehr Fachberufe im Gesundheitswesen streben eine Ausbildung auf akademischen Niveau an« (Luckey 2007: 346).
Ziel aller Professionalisierungs- und Akademisierungsanstrengungen ist es, die Autonomie dieser Berufe gegenüber dem ärztlichen Berufsstand sicherzustellen und den Absolventinnen und Absolventen neue Aufstiegs- und Karrierewege zu eröffnen sowie die gesellschaftliche Akzeptanz und Wertschätzung dieser Berufe zu erhöhen (vgl. Pundt 2006).
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4 T HEMENFELDER
DER
W ISSENSGESELLSCHAFT
4 .1 Ar be it, Besc häftigungs ve rhä ltnisse, Soz ials taat STEPHAN LESSENICH
Das Wissen von der »Wissensgesellschaft« Die »Wissensgesellschaft« ist spätestens im vergangenen Jahrzehnt zu dem im öffentlichen Diskurs dominierenden (Selbst-)Deutungsangebot der spätindustriellen Gegenwartsgesellschaften geworden. In verschiedensten Versionen und unterschiedlichen Dimensionen begegnet uns alltäglich die Rede vom Wissen als Vergesellschaftungsmodus, als eine Entität, um die herum und durch die hindurch sich gegenwärtig (und zukünftig) Gesellschaftlichkeit konstituiert und reproduziert. Die Rede von der »Wissensgesellschaft« ist dabei in kürzester Zeit zu einer eigenen Wissensordnung geworden: Wir – die Bürgerinnen und Bürger der hochentwickelten, absehbar alternden und zumindest teilweise auch schrumpfenden Gesellschaften des globalen Nordens – wissen, dass unsere Ökonomien im internationalen Konkurrenzkampf langfristig nur durch Erfolg im Wettbewerb um die »besten Köpfe« werden bestehen können; wir wissen, dass wir im Grunde genommen selbst nur über eine einzige Ressource verfügen, mit der wir gegenüber den nachholend industrialisierten und im Zweifel stets billiger produzierenden Gesellschaften des Südens wirtschaftlich punkten können, nämlich unser Humankapital; und wir wissen, dass wir deswegen alle unsere gesellschaftlichen Anstrengungen darauf richten müssen, in »die Menschen« bzw. in deren Köpfe zu investieren, und dass politische Intervention in gesell-
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schaftliche Verhältnisse somit dringlich in einem solch investiven Sinne auszurichten und – wenn und wo nötig – umzuorientieren ist. Zur sich etablierenden Wissensordnung der »Wissengesellschaft« gehört auch die verbreitete Vorstellung, dass gesellschaftliche Arbeit, sowohl hinsichtlich der Mechanismen ihrer individuellen Verausgabung wie mit Blick auf die Formen ihrer sozialen Organisation, ihren Charakter hierzulande grundlegend verändern wird – soweit sie das nicht schon heute getan hat. Das wissensgesellschaftliche Credo lautet: Während einfache, handarbeitende (und auch im klassischen Sinne handwerkliche), letztlich alle als »industriell« zu bezeichnenden Tätigkeiten nach und nach absterben (werden), wird anspruchsvolle, interaktive und vernetzte »Wissensarbeit« in allen wirtschaftlichen Sektoren zum Normalfall produktiver Beschäftigung werden. Es wird – und muss, wie man weiß – zu einem allgemeinen »upgrading« abhängiger Arbeit kommen, zu einem qualifikatorischen »Fahrstuhleffekt« (Beck), der die wissensgesellschaftlich bedeutungslosen Produktionsbereiche und Arbeitsweisen (weiter) marginalisieren, die »Wissensarbeitenden« hingegen mit neuen Chancen gesellschaftlichen Aufstiegs oder jedenfalls sozialen Statuserhalts versehen wird. »Wissensarbeit« stellt allerdings – auch das weiß man – andere, und zwar erhöhte Anforderungen an die Beschäftigten: nicht nur bezüglich ihrer formalen Qualifikationen, sondern auch in Sachen Flexibilität und Mobilität, Engagement und Eigeninitiative. Gegenüber dem durchschnittlich erwartbaren Industriearbeiter verkörpert der (bzw. die) »Wissensarbeitnehmer(in)« einen gänzlich anderen Typus der Vergesellschaftung der Arbeitskraft (vgl. Voß/Pongratz 1998) – (gesamt-)wirtschaftlich wie (einzel-)betrieblich, aber auch (und nicht zuletzt) sozialpolitisch. Die gesellschaftsweite Verbreitung flexibler Wissensarbeit lässt den überkommenen, auf Einkommenstransfers und Statussicherung angelegten Sozialstaat – und auch dies wird mittlerweile allgemein gewusst – sprichwörtlich »alt« aussehen (vgl. Kaufmann 1997) und ruft einen anderen, »aktivierenden« Sozialstaat auf den Plan, der auf Dienstleistungsangebote und Passagensicherung setzt sowie Bildungspolitik, von der frühkindlichen Erziehung bis zum lebenslangen Lernen, zum funktionalen Kern seiner Interventionen macht. Der folgende Beitrag geht den genannten, »wissensgesellschaftlichen« Wissensbeständen nach, und dies in kontrastierender Gegenüberstellung mit der Wissensordnung der »Industriegesellschaft«. Er wirft somit einen wissenssoziologischen Blick auf die »Wissensgesellschaft«, indem er deren historische Konstitution als eine wissenspolitische Herausforderung begreift: Die aktuell dominante Selbstbeschreibung der Gesellschaft als eine Formation, in der das »Wissen« als ökonomische Produktivkraft und sozialer Strukturierungsmechanismus wirkt, muss 208
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empirisch Geltung erlangen gegen andere, konkurrierende Deutungsangebote – und zumal gegen das bis dato etablierte, industriegesellschaftliche Selbstverständnis der fortgeschrittenen demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften. Dieser Prozess der Transformation gesellschaftlicher Wissensbestände ist alles andere als trivial. Er ist vielmehr sozial äußerst voraussetzungsvoll – und er hat sich, so die im Weiteren zu verfolgende These, hierzulande bislang in durchaus unvollständiger, ja widersprüchlicher Weise vollzogen.
Institutionen als Wissenscontainer und Wissenstransformatoren Der soziale Wert von Institutionenbildung in modernen Gesellschaften besteht darin, verbindliche, Geltung reklamierende und gewinnende Regelwerke für die praktischen Handlungsvollzüge sozialer Akteure zu generieren. Die Beständigkeit des sozialen Handelns, die Verstetigung des sozialen Geschehens, die Stabilität und Dauerhaftigkeit der gesellschaftlichen Ordnung zu verbürgen: das ist – im Erfolgsfall – die »Leistung« von Institutionen. Der bloße Verweis auf den Stabilitätseffekt des Institutionellen ist allerdings analytisch kaum weiterführend – von eigentlichem Interesse ist vielmehr die Klärung der Frage, wie Institutionen Geltung erlangen, auf welche Weise sie die Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit sozialen Handelns sicherstellen bzw. zu gewährleisten suchen (vgl. Lessenich 2003: 29ff.). Von zentraler Bedeutung in diesem Prozess ist die symbolische Darstellung der »regulativen Idee« (Weber) des jeweiligen sozialen Handlungszusammenhangs: Besteht die Regulierungsleistung von Institutionen darin, die Akteure eines sozialen Feldes in eine bestimmte (sprich: institutionell definierte) Beziehung zueinander zu setzen, sie in ihren ansonsten je individuellen Handlungsweisen systematisch aufeinander zu beziehen, so ist es funktional von entscheidender Bedeutung, dass der soziale Sinn dieser institutionellen Relationierungspraxis effektiv vermittelt, ihre spezifische Rationalität gesellschaftlich – im Wortsinne – zur Geltung gebracht wird. Institutionen sind in diesem Sinne immer auch »symbolische Ordnungen« (vgl. Rehberg 1994) – ohne dass ihnen bzw. genauer den Formen institutionellen Handelns damit ihr ganz »handfest« materieller Charakter abzusprechen wäre. Der keineswegs konkurrierende, sondern komplementäre Verweis auf den Symbolcharakter institutioneller Ordnung(en) führt unmittelbar zur Bedeutung des Wissens – von Mechanismen der Wissensproduktion, -reproduktion und -transformation – für Prozesse der Institutionenbil209
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dung und deren sozialwissenschaftliche Analyse. In soziale Institutionen ist, teilweise über viele Generationen hinweg, gesellschaftliches Wissen über deren Eigenart, ihre Funktionsmechanismen und Geltungsansprüche, eingegangen und eingelassen. Das überindividuelle Wissen darum, wie soziale Handlungsvollzüge zu erfolgen haben und gesellschaftliche Handlungsbereiche organisiert sind, wie Gesellschaft »eingerichtet« (Polanyi) ist, ist gleichsam in den Institutionen »aufgehoben«. Sie – und, im Falle ihrer Geltung, die in ihrem Rahmen Handelnden – operieren mit Gewissheiten, Selbstverständlichkeiten und Fraglosigkeiten, die maßgeblich dazu beitragen, das individuelle Alltagshandeln zu entproblematisieren, kollektive Handlungsfähigkeit herzustellen und gesellschaftliche »Ordnung« zu wahren – auch und gerade als Wissensordnung. Dass die geltende Ordnung gesellschaftlich gewusst und damit als geltende akzeptiert wird bedeutet zugleich, dass sie sich selbst nicht (oder immer weniger) als solche öffentlich in Erinnerung rufen muss: Es gibt sie ja »offensichtlich«. Umgekehrt gilt, dass die explizite und offensive Thematisierung der Geltungsgründe einer Institution bzw. einer institutionalisierten Ordnung das untrügliche Zeichen ihrer schwindenden gesellschaftlichen Akzeptanz darstellt: das Pfeifen im Walde brüchig gewordener Legitimität eines institutionellen Arrangements. Damit aber ist der entscheidende Mechanismus der Konstitution und des Wandels von Institutionen angesprochen, der oftmals, ja in der Regel, hinter der Fassade institutioneller »Stabilität« – sozial wie analytisch – verborgen bleibt: die Wissenspolitik, der gesellschaftliche Kampf um die Wissensordnung. Wissenspolitisch stellen sich »herrschende« institutionelle Arrangements als zwangsläufig und alternativlos dar, als »reine Geltung« (Rehberg 1994: 73). Sie verleugnen nicht nur die Kontingenz ihres historisch-sozialen Entstehungszusammenhangs. Sie arbeiten zudem auch permanent und je aktuell an der symbolischen Ausgrenzung des »Anderen«, sprich an der expliziten Entwertung bzw. impliziten Ausblendung von – immer auch existierenden, aber im Erfolgsfall institutionellen Wissensmanagements eben gesellschaftlich kaum geoder bewussten – »konkurrierenden Sinnsetzungen und Ordnungsentwürfen« (ebd.: 68). Wir haben es hier also (analytisch) ganz offenkundig mit einem (empirisch) nicht immer ganz offenkundig vermachteten Terrain sozialen Handelns zu tun: Institutionen bzw. institutionelle Ordnungen konstituieren und stabilisieren sich als Ordnungen des Wissens um die institutionelle Ordnung. Diese stellt sich als solche nicht per se (also »einfach so«) her, sondern vermittelt über eine »Politik der Wahrheit« (Foucault), die immer auch eine Politik der Wirklichkeit ist: Das Wissen der Ordnung – der in Institutionen sedimentierte soziale Wissensbestand und das soziale Wissen von der Geltung der Institution 210
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– konstituiert eine spezifische Ordnung der Wirklichkeit im Sinne historisch-konkreter Modi des sozialen Handelns und der gesellschaftlichen Strukturbildung. Deren Wandel erfolgt aus dieser Perspektive gesehen wiederum vermittelt über – machtgestützte – Konflikte um die gesellschaftliche Wissensordnung (bzw., differenzierungstheoretisch gedacht, um je spezifische gesellschaftliche Teilwissensordnungen). Der Aufstieg der »Wissensgesellschaft« als intellektuell-politisches Motiv, als Moment und Instrument gesellschaftlicher Selbstbeschreibung, als Leitidee der politischen Ausrichtung und institutionellen Einrichtung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, ist insofern nur als Effekt der – offenbar erfolgreichen – Konfrontation mit alternativen, zuvor herrschenden Selbstbeschreibungen von Gesellschaft zu verstehen. Das Neue tritt wissenspolitisch gegen das Alte an, die »Wissensgesellschaft« gegen die »Industriegesellschaft«: gegen das in die »alte« gesellschaftliche Institutionenordnung eingelassene und von den sozialen Akteuren angenommene Wissen von der (bis dato) »modernen« Gesellschaft als sozialstaatlich verfasste Arbeitsgesellschaft. Ein Wissen, das gesellschaftlich vergehen soll – aber, wie es scheint, nicht ohne Weiteres vergehen will.
Die Wissensordnung der Industriegesellschaft Die Wissensordnung der Industriegesellschaft war bzw. ist – soweit sie noch bis in die institutionellen Arrangements und wissenspolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart hineinragt – um ein spezifisches gesellschaftliches Verständnis des Zusammenhangs von Arbeit, Beschäftigung und sozialer Sicherung herum zentriert. Die Konturen dieser Ordnung, deren Hochphase auf die ersten Jahrzehnte der (insbesondere westeuropäischen) Nachkriegsgeschichte zu datieren ist (vgl. DoeringManteuffel 2009), seien im Folgenden skizzenartig vergegenwärtigt. Dreh- und Angelpunkt der industriellen Wissensordnung ist die gesellschaftliche Normalität der individuellen Existenzsicherung durch Lohnarbeit: Das durchschnittlich erwartbare Subjekt der Industriegesellschaft deckt als »Arbeitsbürger« die Lebensbedarfe seiner selbst und ggf. der von ihm Unterstützungsabhängigen über den regelmäßigen, marktförmigen Tausch seiner Arbeitskraft gegen Lohneinkommen. Empirisch »normal« geworden ist dieser Modus der Vergesellschaftung über die je individuelle, nachfragevermittelte »Erwerbschance« (Weber) am Arbeitsmarkt erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, im Prozess der durchgreifenden erwerbspolitischen »Landnahme« des industriellen zu Lasten des agrarischen Wirtschaftssektors (vgl. Lutz 1984). In 211
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diesem historischen Kontext greift auch erst die effektive, gesellschaftsweite Durchsetzung des industriellen Leistungsprinzips – und damit des Werte- und Normensystems des »Industrialismus« (Kerr): Leistungsund Produktivitätslöhne koppeln das Arbeitseinkommen bzw. die Lohnsumme mikro- wie makroökonomisch an die durch zunehmend komplexe Messsysteme quantifizierte Effektivität und Effizienz des Arbeitseinsatzes. Entlang von erwerbswirtschaftlichen Kriterien normiert (und gesellschaftlich normalisiert) wird in dieser Zeit auch der Lebenslauf, der nun seine institutionell dreigeteilte Struktur – Ausbildung, Beschäftigung, Ruhestand – annimmt. Industriell formiert werden schließlich auch das Geschlechterverhältnis bzw. die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Struktur familialer Lebensformen: Die Sozialfigur des »male breadwinner« und das Sozialarrangement der Versorgerehe avancieren (wo nicht zur gesellschaftlichen Normalität, so doch) zur rechtlichen Norm arbeits- und sozialpolitischer Intervention. Dass Lohnarbeit – in nationalkulturell je spezifischen Variationen – zur Standardform materieller Reproduktion wird, bedeutet auch, dass sich Strukturen der Lohnabhängigkeit, mit allen im Begriff steckenden Implikationen, gesellschaftlich verallgemeinern. Die sozioökonomische Verortung der (lohn-)abhängig Beschäftigten ist dabei durchaus doppeldeutig: Zum einen nehmen sie, der betrieblichen Personalpolitik und dem Direktionsrecht des jeweiligen Arbeitgebers unterworfen, eine offensichtlich subalterne gesellschaftliche Position ein; zum anderen aber sind sie selbst von der Verantwortlichkeit und dem Risiko unternehmerischen Handelns befreit und erringen im Zuge zunehmender individual- und kollektivrechtlicher Regulierung der Beschäftigungsverhältnisse einen politisch garantierten, Sicherheit generierenden »Arbeitnehmer«-Status (vgl. Castel 2000). Für die Beschäftigung anbietenden Unternehmen wiederum stellen die Löhne selbst ebenso wie die genannten Statusrechte der Beschäftigten betriebliche Kostenfaktoren dar – und als solche immer auch Triebkräfte für Rationalisierungs- und Externalisierungsdynamiken, d.h. für Versuche, unter Berufung auf die Überschreitung von Belastungsgrenzen diese Kosten zu senken bzw. auf Dritte abzuwälzen. Zur Logik des Beschäftigungssystems gehört es zudem auch, dass sich unter den Beschäftigten berufsständische und/oder einkommensbezogene Statushierarchien und Distinktionsmechanismen etablieren – und dass von den unteren Beschäftigungsrängen »Grenzen der Respektabilität« (Vester) zu den Erwerbslosen bzw. erwerbsgesellschaftlich Deklassierten gezogen werden. Die Ungleichheitsordnung der Industriegesellschaft ist, so gesehen, durchaus komplex – aber durch und durch erwerbsstrukturiert.
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Der Sozialstaat der Industriegesellschaft, der rund um die Erwerbsarbeit ein (mehr oder weniger engmaschiges) Netz sozialer Sicherungsvorkehrungen spinnt, wirkt in diesem Kontext nicht nur bei der Herausbildung und Verfestigung gesellschaftlicher Respektabilitätsdifferentiale mit. Er ist vielmehr von Anbeginn an aktiv an der politischen Bearbeitung des industriegesellschaftlichen »Transformationsproblems« (Lenhardt/Offe) – der Kommodifizierung von Arbeitskraft und der Konstruktion der Sozialfigur des Lohnarbeiters – beteiligt. Er führt zeit seiner Existenz dem Arbeitsmarkt beständig neue »Wirtschaftssubjekte« zu, durch produktive (öffentliches Ausbildungssystem) ebenso wie durch repressive Interventionen (»workfare«-Programme). Er sucht Arbeitsangebot und -nachfrage miteinander in Einklang zu bringen, durch Mengensteuerung auf beiden Seiten (von der Frühverrentung bis zur Studienzeitverkürzung, durch Lohnsubventionierung und öffentliche Beschäftigung). Er schafft durch Instrumente zur Stabilisierung des Einkommensflusses – vom Arbeitslosengeld bis zur Altersrente – »neue Formen von Dauer« (Achinger) in der Marktgesellschaft, mit weitreichenden individualbiographischen (Planungssicherheit) und gesamtwirtschaftlichen (Konsumstützung) Konsequenzen. Er stützt durch seine Politik selektiver und segmentierter Anspruchsrechte aber auch – wie bereits angedeutet – das industriegesellschaftliche System der Generierung und Reproduktion (grober und) »feiner Unterschiede« (Bourdieu), und vollzieht zugleich stets eine funktionale Gratwanderung zwischen der Herstellung positiver und negativer Arbeitsanreize. Dieses industriegesellschaftliche Diagramm der Arbeit, ihrer politischen Regulierung und ihres sozialen Schutzes, bringt ein spezifisches Wissen hervor und wird – bzw. wurde über lange Zeit hinweg – durch eben dieses Wissen stabilisiert und reproduziert: das Wissen von der »Arbeitnehmergesellschaft« (Lepsius), ihren Werten und ihrer Wertigkeit. Formeln wie »Arbeit muss sich lohnen«, »Guter Lohn für gute Arbeit« oder »Alterslohn für Lebensleistung« bezeichnen typische normative Wissensbestände der industriegesellschaftlichen Konfiguration, die teilweise noch die gegenwärtige wissenspolitische Konfliktkonstellation dominieren, teilweise aber auch überlagert werden oder bereits verdrängt worden sind durch neue gesellschaftliche Wissensbestände, die zur (entstehenden) Ordnung der »Wissensgesellschaft« beitragen.
Die Wissensordnung der »Wissensgesellschaft« Mit den strukturellen Umbrüchen in der spätindustriellen Ökonomie der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften werden die im institu213
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tionellen Arrangement dieser Gesellschaften eingelagerten, industrialistischen Wissensbestände zum Teil delegitimiert, zum Teil transformiert, teilweise auch reaffirmiert. Wir befinden uns in einer Zeit der umfassenden Herausforderung des alten, industriellen Wissensregimes durch die Wissenspolitik der »Wissensgesellschaft«. Im Folgenden sei die gegenwärtig entstehende, das neue Diagramm der postindustriellen Arbeit rahmende gesellschaftliche Wissensordnung in ihren – soweit bereits erkennbar – konstitutiven Elementen skizziert. Zum Fundament der wissensgesellschaftlichen Wissensordnung zählt selbstverständlich das Einverständnis, dass die entwickelten Kapitalismen unserer Zeit – ganz gleich, ob sie nun als »Wissens«- oder aber als »Informations«-, »Kommunikations«- oder »Netzwerk«-Gesellschaften beschrieben werden – jedenfalls nicht mehr durch Produktion und Beschäftigung im industriellen Sektor bzw. durch die Formbestimmungen und Organisationsmuster der industriellen Arbeit charakterisiert werden. Arbeit ist demzufolge immer weniger Hand- und immer mehr Kopfarbeit, sie bedarf immer weniger niedriger und immer stärker hoher Qualifikationen, sie ist immer seltener den bürokratisch-hierarchischen Strukturen betrieblicher Organisation unterworfen und wird immer häufiger durch Strukturmerkmale selbstständiger bzw. gruppenförmiger Tätigkeit bestimmt. Die soziale Leitfigur dieser Ökonomie ist nicht mehr der solide Facharbeiter, sondern der flexible Kreative (vgl. Koppetsch 2006). In der sozialen Wissenswelt typischerweise beide männlichen Geschlechts, repräsentiert der »Symbolanalytiker« (Reich) – als Projektionsfigur positiver wie negativer sozialer Imaginationen – den Prototyp der neuen, innovativen und in jeder Hinsicht (geistig, räumlich, familial) mobilen Arbeitskraft, in deren Alltagswelt die ehedem getrennten Sphären »Arbeit« und »Leben« ineinander aufgehen, miteinander verschmelzen (vgl. Gottschall/Voß 2005). Der kreative Wissensarbeiter geht in dieser Vorstellung in seiner Arbeit auf, sie nimmt ihn als ganze Person ein, ergreift ihn mit Haut und Haaren, Tag und Nacht, am Wochenende und in der faktisch als Nicht-Arbeits-Zeit nicht mehr existenten »Freizeit«. Wiewohl dieses Bild für den bzw. die »normalen« Erwerbstätigen auch unmittelbar Züge eines Schreckensbildes trägt, fungiert es doch – in einer sozial typischen Mischung von Faszination und Grauen – durchaus in der Breite als Bezugspunkt der Reorganisation von Arbeitsbedingungen und Beschäftigungsverhältnissen und als Rollenmodell zeitgemäßen, sprich den wissensgesellschaftlichen Bedingungen angepassten Arbeitshandelns. In diesen wissenspolitischen Kontext mischen sich Diskurse des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007), passt das nicht nur (wirtschafts-)wissenschaftliche, sondern zunehmend auch öf214
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fentlich-politische Lob des unternehmerischen Denkens und der wirtschaftlichen Selbstständigkeit, gehören politische Programme zur Förderung des Ausstiegs aus der Arbeitslosigkeit via »Ich-AG« und zur Subventionierung kleinstbetrieblicher Formen der »Existenzgründung«. Was in der wissensgesellschaftlichen Wissensordnung jedoch keineswegs an Gehalt und Geltung verliert, ist die aus der industriegesellschaftlichen Formation bekannte Leistungsethik. Im Gegenteil: Die (vermeintlich oder tatsächlich) nachindustriellen Ökonomien radikalisieren sich eher noch in ihrer erwerbsgesellschaftlichen Selbstbeschreibung. Nach dem kurzen Sommer des wohlstandsgeprägten Postmaterialismus, in dem vorübergehend Blütenträume vom »Ende der Arbeitsgesellschaft« bzw. eines fortschreitenden lebensweltlichen und individualbiographischen Bedeutungsverlusts der Erwerbsarbeit (vgl. Matthes 1983) blühen konnten, sind mit dem Wissen um die Ökonomie der Wissensgesellschaft auch Erwerbs- und Leistungslogik in die gesellschaftliche Wissensordnung zurückgekehrt, und dies vielleicht machtvoller denn je. Im Zentrum dieser Ordnung steht das Wissen um das »Humankapital« und dessen Bedeutung (vgl. Laux 2009): Jedem Menschen je für sich gegeben und durch kluge und langfristige (»nachhaltige«) individuelle Investitionsstrategien zu mehren, ist es Dreh- und Angelpunkt nicht nur makroökonomischer Produktivität und gesamtgesellschaftlicher Prosperität, sondern auch des persönlichen Wohlergehens und der je individuellen Positionierung in der Struktur ungleicher Soziallagen. »Bildung, Bildung, Bildung!« ist die wissensgesellschaftliche Programmformel, die nicht nur den politischen Parteienwettbewerb und präsidiale Besinnungsreden strukturiert. Sie greift tief in den Wissens- und Motivationshaushalt des Einzelnen ein und lässt kollektiv die subjektive Überzeugung reifen, dass Bildung »alles« ist (oder aber jedenfalls ohne Bildung »alles nichts«), mangelnde Bildung oder gar fehlende Bildungsbereitschaft das ökonomisch-politische Kardinalproblem der Zeit darstellt und daher den »bildungsfernen« Schichten besondere gesellschaftliche Aufmerksamkeit zuzukommen hat. Bildungserfolg, so der weitgehend institutionalisierte common sense der Wissensgesellschaft, entscheidet über Lebenschancen und Lebenswege – und er ist ganz wesentlich eine abhängige Variable individueller Präferenzen und Entscheidungen. Vermittelt über die neue, wissensgesellschaftliche »Bildungseuphorie« wird biographischer (Miss-)Erfolg ebenso individualisiert und subjektiviert – den Einzelnen zur Bewältigung aufgegeben und im Ergebnis zugeschrieben – wie die entlang ungleicher Humankapitalausstattung und -verwertung sich herausbildenden Statusdifferenziale und Ungleichheitsstrukturen, in deren Zeichen sich die gesellschaftliche Herrschaft der »knowledge classes« etabliert. 215
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Begleitet und vorangetrieben wird dieser Prozess von einem Umbau des sozialstaatlichen Arrangements, der im Wesentlichen darauf zielt, dessen klassische Marktausgleichs-, Einkommensstabilisierungs- und Umverteilungsfunktionen zu schwächen und stattdessen die Arbeitsanreizeffekte sozialpolitischer Intervention zu stärken. Der Wandel vom »sorgenden« zum »gewährleistenden« (vgl. Vogel 2004) Sozialstaat folgt der leitenden Idee, Investitionen in das Arbeits- und Bildungskapital der Sozialstaatsbürger/innen zu tätigen. »Investing in people« ist die sozialpolitische Programmatik (in) der Wissensgesellschaft – mit den entsprechenden Konsequenzen: einer sozialen Struktur ungleicher Investitionschancen und -risiken, ungleichen Kapitalbesitzes und ungleicher Kapitalrenditen. Die Wissensgesellschaft folgt dem zeitgemäß angepassten Matthäus-Prinzip: wer über die gesellschaftlich gefragten Kapitalressourcen und Investitionspotenziale verfügt, dem werden soziale Lebenschancen und Statuspositionen gegeben. Und das, so das wissenspolitisch vermittelte Credo der Wissensgesellschaft, sei auch gut so.
Wissensproduktion in der »Wissensgesellschaft« Die gesellschaftliche Wissensordnung rund um die Arbeit – die Formen ihrer Vergesellschaftung, ihrer politischen Regulierung und ihres sozialen Schutzes – hat sich im Übergang von der Industrie- zur »Wissensgesellschaft« in wesentlichen Belangen verändert, und doch ist sie andererseits auch nur partiell »modernisiert« worden. In der Gegenwart scheinen sich zwei historische Zeitschichten zu überlagern, ragt die alte Wissensordnung des Industrialismus noch sicht- und spürbar in die neue hinein. Dies zeigt sich am markantesten mit Blick auf die industrielle Leistungsethik, deren – sozialhistorisch rückwärtsgwandte – normative Bezugnahme auf die gesellschaftliche wie persönliche Bedeutung »harter Arbeit« auch noch den nachindustriellen, »wissensgesellschaftlichen« Wertehorizont prägt. Sie markiert auch noch die aktuellen gesellschaftlichen Spaltungslinien, die (mehr und mehr) entlang der Bildungsinvestitions- und -kapitalverwertungskapazitäten von Individuen und Haushalten verlaufen, wissenspolitisch aber nach wie vor im Sinne vorhandener oder fehlender »Leistungsfähigkeit« oder »Leistungsbereitschaft«, im Zweifel auch im Sinne von »Arbeitsfreude« oder »Arbeitsscheu«, verhandelt werden. Diese symbolischen Momente industrialistischer Habitusformation durchdringen auch noch die gesellschaftspolitischen Debatten und Konflikte einer »neuen Zeit«, in der zugleich das Bild des kreativen und innovativen, eigeninitiativen und selbstgesteuer216
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ten, quasi-unternehmerisch handelnden Arbeitskraftbesitzers dominant wird, dessen Leistungswille und Einsatzbereitschaft als gleichsam unbegrenzt vorgestellt und insofern fraglos unterstellt wird. In dieser Uneindeutigkeit und Diskrepanz offenbaren und manifestieren sich Konflikte um die gesellschaftliche Wissensordnung bzw. Wissenswerteordnung: Kämpfe um die gesellschaftlich gewussten Werte, die der politischen Gestaltung unterschiedlicher sozialer Lebensbereiche zugrunde liegen (vgl. Lessenich 2010). Die Wissensordnung der »Wissengesellschaft« ist umkämpft. Und dies nicht nur in dem Sinne, dass »alte« Wissensbestände nach- und in sie hinein wirken – sondern auch dergestalt, dass stets auch neue Wissenselemente in die Arenen der Wissenspolitik drängen. Die wissensgesellschaftliche Formation bietet – gleichsam in potenziell selbstdestruktiver Weise – die strukturellen Voraussetzungen, um auch alternatives, konkurrierendes, gegenhegemoniales Wissen über die Ordnung der Gesellschaft zu produzieren. Die Soziologie – der Arbeit, der Beschäftigung, des Sozialstaats – ist ein (nicht unbedeutender) Teil dieses Arrangements wissensgesellschaftlicher Wissensproduktion: ob sie will oder nicht, sich dessen bewusst ist oder dies ausblendet, dieses oder jenes Wissen über ihren Gegenstand produziert. Sie würde ihrer Rolle und Position in der »Wissensgesellschaft« eher gerecht, wenn sie diese in kritisch-systematischer Weise reflektieren würde.
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STEPHAN LESSENICH
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4 .2 Te c hnik ROGER HÄUSSLING/KIRSTIN LENZEN
Die Rede von der Wissensgesellschaft ist eng an das Vorhandensein bestimmter technischer Infrastruktursysteme und Informations- und Kommunikationstechnologien (im Folgenden I&K-Technologien) geknüpft. Vor allem die Computerisierung hat das Erfordernis, reflexiv mit dem gestiegenen Ausmaß an Informationen umzugehen, dramatisch erhöht. Dabei meint Computerisierung nicht nur die flächendeckende Einführung von Computersystemen und deren Vernetzung (Intranet, Internet, Web 2.0), sondern auch der Einbau von Prozessortechnik in konventionelle Techniken. Hinzu kommt, dass die Wissensgesellschaft eine Gesellschaftsformation ablöst, die sich ebenfalls durch ein spezifisches Verhältnis zur Technik auszeichnet: die Industriegesellschaft. Maschinen und technisierte Produktionsabläufe dominierten diese Gesellschaftsform. In der Wissensgesellschaft wird der zentrale Produktionsinput nicht mehr in der Materie, sondern im Wissen bzw. in Informationen1 gesehen (Degele 2002: 166).2 In einem ersten Schritt soll die Rolle von Technik in den klassischen Konzepten der Wissensgesellschaft herausgearbeitet werden. In einem zweiten Schritt wird das Verhältnis von Technik und Wissen unter vier verschiedenen technik- und innovationssoziologischen Perspektiven be1 2
Zur techniksoziologischen Abgrenzung zwischen Daten, Informationen und Wissen siehe Abschnitt 2. Demgegenüber kann gerade von technischer Seite darauf hingewiesen werden, dass in jüngerer Zeit mit Plasmaphysik und Nanotechnologie zwei Zukunftstechnologien ihren Siegeszug angetreten haben, die wieder auf materielle Aspekte abzielen. 219
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leuchtet: Technik als Wissen, die Entstehung technischen Wissens, Technik als Nicht-Wissen sowie die Verteilung von Wissen auf Mensch und Technik. Der Artikel endet mit einem Ausblick.
Die Thematisierung der Technik in den Konzepten der Wissensgesellschaft Auch wenn der Technik eine zentrale Rolle zugesprochen wird, darf bei den Konzepten der Wissensgesellschaft nicht von einer technikdeterministischen Sicht gesprochen werden. Eine solche Sicht postuliert, dass grundlegend neue Technologien den gesellschaftlichen und sozialen Wandel vorantreiben.3 Zum einen heben die Konzepte der Wissensgesellschaft auch auf andere Entstehungsursachen als Technik ab, wie z.B. ökonomische Ursachen. Zum anderen wird Technik unter der Wissensperspektive in seiner sozialen Verfasstheit beleuchtet und folglich nicht als etwas »Außersoziales« aufgefasst. Diese Überlegungen finden sich bereits bei Daniel Bell. So hat er sowohl auf die Bedeutung wissensbasierter Technologien als Motoren des gesellschaftlichen Wandels hingewiesen als auch den Vorrang einer Klasse von Professionellen aus Technik und Wirtschaft in der postindustriellen Gesellschaft betont, die für das axiale Prinzip dieser neuen Gesellschaftsformation steht: »die Zentralität theoretischen Wissens als Quelle von Innovation und als Ausgangspunkt der gesellschaftlich-politischen Programmatik« (Bell 1985: 32). Ein Indiz für die wachsende Dominanz des Wissens bildet nach Bell die rasche Zunahme der auf wissenschaftlicher Grundlage operierenden Industriezweige wie Computer-, und überhaupt Elektronik-, aber auch High Chem- und High TechIndustrie. Diese Industriezweige haben im Bereich der Forschung und Entwicklung eine neue Form des ergänzenden Ineinandergreifens von Wissenschaft und Technologie unter Einbeziehung wirtschaftlicher Kriterien hervorgebracht. Innovationen und Neuerungen werden jetzt immer weniger dem Zufall überlassen, je ausschließlicher auch in der Technik rein wissenschaftlich-theoretische Arbeitsmethoden zur Kon3
Ropohl (1991: 193f.) unterscheidet zwei Varianten des Technikdeterminismus: (1) den »genetischen Determinismus«, wonach die Technisierung selbst in sich determiniert sei. Für diese Position steht beispielsweise Ellul (1964), der eine Selbstläufigkeit der Technik annimmt, welcher der Mensch hilflos gegenüberstehe; (2) den »konsequenziellen Determinismus«, der die determinierende Prägekraft von Techniken auf individuelles und soziales Handeln behauptet. Für Ropohl liegt diese Determinismusform mit der berühmten Sachzwangthese Schelskys (1965: 439-480) und Ogburns These vom »cultural lag« vor (Ogburn 1969).
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zeption von neuen technischen Anlagen Fuß fassen. Auf diesem Weg wird das Fortschreiten in diesem Bereich immer mehr geplant und bewusst anvisiert (Häußling 1998). Bei der Planung des Fortschreitens im Hinblick auf Form, Umfang und Tragweite gewinnt die Schlüsseltechnologie des Computers einen zentralen Stellenwert. Er bildet das Werkzeug einer »intellektuellen Technologie«, die sich mit eben jener Planung befasst und sich essentiell auf die Prozesse der Generierung, Akkumulation, Verarbeitung und Auswertung von Daten und Informationen bezieht. »Intellektuelle Technologie« ist also ein Arbeiten mit Informationen, um dadurch das Wissen derart zu formieren, dass man gezielt und mit Hilfe von Algorithmen nach gewünschtem, neuem Wissen fahnden kann. Die damit verbundene Zukunftsorientierung liegt auf der »Steuerung des technischen Fortschritts und […] Bewertung der Technologie« (Bell 1985: 32). In »The Age of Discontinuity« kommt Peter F. Drucker zu ähnlichen Einschätzungen, was die Rolle der Technik für die sich herausbildende nächste Gesellschaft anbelangt, in der Information und Wissen die zentralen Ressourcen bilden (Drucker 1969: 455f.). Neue Technologien vorzugsweise im Bereich der I&K-Technologie und der Werkstofftechnologie sowie neue Industriezweige werden nach Drucker entstehen, deren Besonderheit darin besteht, dass sie sich primär auf wissenschaftliche Erkenntnisse gründen. Derartige »Wissensindustrien« – so Drucker in Anlehnung an Machlup – produzieren anstelle von Gütern Ideen und Informationen, was zu weiteren Wachstumsspiralen von Informationen und Wissen führe. Was Bell und Drucker in den 1960er Jahren bereits weitsichtig voraussahen, erfuhr durch den Siegeszug des Personal Computer eine augenscheinliche Bestätigung. Was neu hinzutrat ist die in ihren Folgen kaum zu überschätzende technische Verknüpfung der Computer zu einer Kommunikations- und Informationsplattform, die selbst wissensförmig4 strukturiert ist. Von daher mag es kaum verwundern, dass Castells in den 1990er Jahren die Gesellschaft des Informationszeitalters als eine Netzwerkgesellschaft bezeichnet (siehe auch den Beitrag von Kößler in diesem Band). Pate dafür steht offensichtlich das Internet. Neben der Revolution der Informationstechnologie wird nach Castells der Wandel zur neuen Gesellschaftsformation von zwei weiteren Entwicklungen getrieben: der Restrukturierung des Kapitalismus hin zum globalen informationellen Kapitalismus und dem Erstarken neuer, kulturell selbst definierter Eliten. Gleichwohl kommt der Technik eine Sonderstellung zu, 4
»Wissen ist zweckorientierte Vernetzung von Information« (Rehäuser/Krcmar 1996: 5). 221
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was auch in seinem Konzept des informationellen technologischen Paradigmas zum Ausdruck kommt. Demgemäß liegt die genuine Qualität der neuen Technik, der Informationstechnik, darin, dass sie über das Medium Information einen viel höheren Durchdringungsgrad besitzt als frühere Technik; denn sämtliche Lebensbereiche des Menschen sind informationsförmig und können damit von dieser Technik erschlossen werden. Dabei nutzen die Informationstechniken den hoch flexiblen und hoch adaptionsfähigen Koordinationsmechanismus des Netzwerks, um dem gestiegenen Maß an gesellschaftlicher Komplexität und Heterogenität zu entsprechen. In der Quintessenz resultiert daraus eine Technologie der Wissensproduktion, die immer voraussetzungsreicher auf den gerade gegebenen »state of the art« in Technologie, Wissen und Management rekurriert (vgl. Castells 1996: 17). Materielles Fundament globaler Netzwerke bilden die neuen Informationstechniken. Sie sind gleichzeitig aber auch Medium der Verknüpfung extrem heterogener Bereiche, sodass völlig neue und wirkmächtige »Räume der Ströme« entstehen. Besonders augenfällig wird dies für Castells in der »realen Virtualität« des Internets mit seiner immensen gesellschaftstransformativen Wirkmacht.
Das Verhältnis von Technik und Wissen i n d e r T e c h n i k - u n d I n n o va t i o n s s o z i o l o g i e Auch wenn die Diskussion um die Wissensgesellschaft ohne die gleichzeitige Betrachtung des Einflusses von Technik kaum denkbar ist, bedeutet dies im Umkehrschluss keineswegs, dass der Zusammenhang von Wissen und Technik in der Technik- und Innovationssoziologie stets unter expliziten Bezug auf Konzepte der Wissensgesellschaft thematisiert wird. Im Folgenden werden vier Bereiche dargestellt, anhand derer sich die Vielfalt der techniksoziologischen Beschäftigung mit dem zeitgenössischen Verhältnis von Technik und Wissen einteilen lässt. Der erste Forschungsschwerpunkt gilt der Thematisierung von Technik als einer bestimmten Form des Wissens – nämlich als technisches Wissen (1). Eng damit verbunden sind zweitens Fragen nach der Entstehung technischen Wissens, wie sie insbesondere von der Innovationssoziologie aufgegriffen wurden (2). Drittens hat sich in den letzten Jahren eine Debatte um das Nicht-Wissen herausgebildet, die auch für technisches Wissen wichtige Implikationen enthält (3). Viertens werden mit der Frage nach der Verteilung von Wissen auf Mensch und Technik aktuelle Ansätze der Techniksoziologie aufgegriffen und im Hinblick auf die Entwicklung neuer Hochtechnologien in der Wissensgesellschaft diskutiert (4).
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Die Techniksoziologie unterscheidet analytisch zwischen Daten, Informationen und Wissen. Daten enthalten eine Fülle von Zeichen (z.B. »1«, »8« und »,«), die durch eine bestimmte Syntax geordnet sind (im Beispiel: »1, 8«). Zu Informationen werden Daten durch ihre Kontextualisierung (im Beispiel: 1,8 Promille Alkohol im Blut). Wissen entsteht aus der Vernetzung von Informationen (z.B. die o.g. Information in Kopplung mit der Straßenverkehrsordnung: »Nicht mehr Auto fahren!«). Auch wenn durch moderne I&K-Technologien eine Fülle von Informationen bereitgestellt wird, bedeutet dies keineswegs, dass damit automatisch eine Erweiterung der Wissensbestände einhergeht. Erst durch die subjektive, soziale und/oder technische Verarbeitungentsteht Wissen (Degele 2000: 46). Während sich das »klassische«, von Degele auch als »Wissen erster Ordnung« (ebd.: 95f.) bezeichnete Wissen primär auf Inhalte bezieht, handelt es sich bei dem technisch »informierten« Wissen (»Wissen zweiter Ordnung«, ebd.) um »technische, soziale, psychische wie auch kognitive Fähigkeiten hinsichtlich der Beschaffung, Verwendung und Produktion von Information« (ebd.: 97). Mit der exponentiellen Verbreitung sowie der permanenten Änderung der Inhalte wird – wie z.B. der Umgang mit Suchmaschinen wie Google eindrücklich zeigt – die Notwendigkeit, Metawissen herauszubilden, mit deren Hilfe die Flut an Informationen beschafft, gesichtet und selektiert werden kann, häufig wichtiger als der Inhalt des Wissens selbst.
(1) Technik als Wissen Technik dient aber nicht nur als Medium zur Produktion neuen Wissens, sondern kann selbst als eine bestimmte Form des Wissens, nämlich als technisches Wissen, verstanden werden. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang Fragen nach der Natur technischen Wissens, seiner Entstehung sowie dem Umgang mit der nicht markierten Seite des Wissens, nämlich dem Nicht-Wissen. In funktionierende Techniken sind naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Wissen über chemische, physikalische und/oder biologische Eigenschaften von Materie, sowie ein spezifisch technikwissenschaftliches Wissen eingegangen. Diese Wissensformen sind gleichsam in der jeweiligen Technik inkorporiert. Gerätetechnische Normen schreiben nach Joerges dabei dem Gerät vor, was es zu tun und zu lassen hat. Es findet demzufolge eine soziale Normierung natürlicher Geschehensabläufe statt. Normierte technische Gebilde sind als externalisierte, »in die naturale Basis eines gesellschaftlichen Prozesses eingeschriebene soziale Strukturen aufzufassen […] Wir sind unablässig in solche großen Sys-
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teme eingeklinkt, lassen sie für uns arbeiten, so wie sie uns für sich arbeiten lassen.« (Joerges 1996: 127) Von besonderer Relevanz ist hier die o.g. technikwissenschaftliche Denkweise. Sie hat sich in den letzten hundert Jahren zu einem Sammelsurium manipulativer und manipulierbarer Verfahrensweisen transformiert, die sich multifunktional einsetzen lassen. Die Technikwissenschaften erzeugen – so Freyer (1987: 124) – ein »Machenkönnen«, das sich jeweils seine Zwecksetzungen in einer spezifischen technischen Konkretion selbst sucht. Es findet ein systematisches Kombinieren technischer Verfahrensweisen statt, bei dem man sich buchstäblich überraschen lässt, für welche Zwecke die neu erfundenen Mittel eingesetzt werden können (z.B. im Bereich der chemischen Industrie). Wie Pickering herausgestellt hat, entstehen erst in der experimentellen Praxis durch das gegenseitige »Mangeln«, d.h. der Abfolge von Anpassung und Widerständigkeit sowohl theoretischer Annahmen und Erwartungshaltungen einerseits als auch materieller Gegebenheiten andererseits gelungene Verknüpfungen im Sinne technisierter Abläufe (vgl. Pickering 1993). Folglich handelt es sich bei technischem Wissen nicht um die »Repräsentation einer vorgefundenen Welt« (Wehling 2003: 128), stattdessen werden »völlig neue Wirkhorizonte« hergestellt. An dieser Stelle könnte technisches Wissen bestimmt werden als ein Wissen darüber, wie Elemente – seien es physische Dinge, Zeichen oder körperliche Bewegungen – relationiert, d.h. so gekoppelt werden müssen, dass sie einem schematischen Ablauf folgend in unterschiedlichen Kontexten zuverlässig und wiederholbar eine bestimmte Wirkung erzielen. Ein derartiges Verständnis wäre allerdings unvollständig. Denn konstitutiv ist immer ein enactment, ein In-Gang-Setzen der gefundenen Ablauffolge, sei es im Prozess der Herstellung oder aber der Nutzung (Rammert 2007: 56). Aus diesem Grund werden einerseits das in dem Technisierungsschema verkörperte Wissen der Hersteller und Entwickler und andererseits das Wissen der Nutzer als Anwenderwissen mit in die Betrachtung einbezogen. In Bezug auf die Anwender von Alltagstechniken spricht Hörning (2001) pointiert von »Experten des Alltags«. Das Wissen der Hersteller und Entwickler bleibt allerdings in der Regel für die Anwender intransparent. Damit es an soziale Prozesse anschlussfähig wird, ist die Welt des Designs notwendig. Design bildet dabei die Schnittstelle zwischen technischem und Alltagswissen. Anwenderwissen bezieht sich demgemäß vornehmlich auf ein Wissen über die Symbolund Zeichensprache des Designs (vgl. Häußling 2010). Ergänzend zum substantiell-strukturellen Verständnis technischen Wissens im Sinne naturwissenschaftlicher Fakten und physikalischer Eigenschaften der Materie (knowing that) umfasst technisches Wissen 224
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also auch das Wissen, wie Elemente technisiert, d.h. in einem schematischen Ablauf gekoppelt sein müssen, wie sich der Prozess der Technisierung vollzieht und wie dieser Ablauf von dem Nutzer erneut im Gebrauch in Gang gesetzt und auch modifiziert werden kann (knowing how).
(2) Die Entstehung technischen Wissens Wie aber entsteht technisches Wissen? Dieser Frage geht insbesondere die Innovationssoziologie nach. Als einer der Pioniere der Innovationssoziologie definiert Gilfillan Innovationen bzw. Inventionen als »new combination from the ›prior art‹, i.e. ideas known from all the above categories, (b) having varying number, and recency« (Gilfillan 1970 [1935]: 6). Schumpeter (1964 [1911]: 100) betont zudem, dass sich die neu gefundenen Kombinationen auch durchsetzen müssen, um als Innovation gelten zu können. Als Minimalkonsens lassen sich Innovationen und das in ihnen inkorporierte technische Wissen pragmatisch bezeichnen als »materielle oder symbolische Artefakte [...], welche Beobachterinnen und Beobachter als neuartig wahrnehmen und als Verbesserung gegenüber dem Bestehenden erleben« (Braun-Thürmann 2005: 6). Dabei lassen sich inkrementelle von grundlegenden Innovationen (z.B. Rad, Buchdruckpresse, Elektrizität, Computer) unterscheiden. Gehlen (1963: 323) hat die These formuliert, dass keine grundlegend neuen technischen (oder naturwissenschaftlichen) Erfindungen mehr zu erwarten sind. Demgemäß wäre die von-Neumann-Architektur – das Referenzmodell für Computer – die letzte fundamentale Innovation: nämlich eine technische Modellierung von Prozessen unseres menschlichen Geistes. Damit geht nach Gehlen eine (Organ-)Entlastung des »Mängelwesens« Mensch von ungekanntem Ausmaß einher. Damit geht auch eine zwangsläufige Neudefinition des Neuen einher: Das technisch neue Wissen entsteht weniger in inkrementellen Innovationen oder grundlegenden Innovationen denn in der innovativen Kombination bestehender Technologien. Demgemäß wäre beispielsweise das Internet genau eine solche kombinatorische Innovation: Computertechnik, Niederstrom-, Glasfaser- bzw. Stromnetzwerke und Softwareprotokolle gehen eine Liaison ein und eröffnen wiederum ein weites Feld kombinatorischer Innovationen (Häußling 1998: 126ff.). In den letzten zwei Jahrzehnten wurde zunehmend darauf hingewiesen, dass sowohl die Produktion als auch die Art des daraus resultierenden technischen Wissen sich von einer disziplinär gebundenen und im universitären Kontext erzeugten Wissensproduktion hin zu einer Wissenserzeugung in den Anwendungskontexten selbst verschiebt (Krohn 225
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2003: 111). Mit dieser Entwicklung lassen sich für Entstehung und Natur technischen Wissens maßgebliche Veränderungen verzeichnen. Rammert beschreibt diese Entwicklung als »reflexive Innovation«. In der Moderne wurden innovative Handlungen zunächst aus lokalen Traditionen entbettet und sodann in die Teilsysteme Wissenschaft und Wirtschaft wieder eingebettet. Während sich die Einbettung technischer Innovationen in die Wirtschaft anhand zunehmender industriebezogener Forschung beobachten ließ, entsprach die Einbettung in das Wissenschaftssystem dem Standardverlauf der normal science – allerdings mit der Besonderheit, dass Technik sowie das inkorporierte technische Wissen als »Dienstmagd für die Wissenschaft« (Rammert 1997: 403) herhalten musste. Dies spiegelte sich insbesondere auch in der Unterscheidung zwischen »reiner« und »angewandter« Wissenschaft wider. Sowohl die nunmehr sozial verteilte Entstehung technischer Innovationen als auch die Beschleunigung des Innovationsrhythmus an sich führen zu unbeabsichtigten Konsequenzen der Modernisierung: (a) Auf institutioneller Ebene kommt es unter anderem zur Aufweichung wissenschaftlicher Disziplinen, der Verteilung der Technikerzeugung auf viele unterschiedliche Akteure, zur Auflösung von Standardabläufen der Wissensproduktion sowie damit einhergehend zur Entdifferenzierung von Grundlagen- und angewandter Forschung. (b) Auf individueller Ebene der Technikverläufe verkürzen sich unter anderem die Abstände zwischen den Technikgenerationen. Bei der Produktion technischen Wissens muss eine Vielzahl von Kontexten berücksichtigt werden (ebd.: 406ff.). Angesichts dieser Veränderungen stellt sich die Frage, mit Hilfe welcher Mechanismen und Innovationsregimes die Erzeugung technischen Wissens in der Wissensgesellschaft koordiniert werden kann: Wurden zuvor technische Neuerungen primär durch den Markt sowie Organisationen koordiniert, so bilden sich nun Netzwerke als neue Form der Koordination heraus: »Innovation im Netz« – so Rammert – »entwickelt sich [...] als Reflex auf die selbst erzeugten Grenzen der beiden anderen Innovationstypen. Sie besteht aus einem lockeren Verbund zwischen verschiedenen Praktiken und einer verbindlichen Assoziation nach Größe und Expertise heterogener Partner« (ebd.: 411). Eindrücklich belegt wird dies, wenn man sich die Projektorganisation interdisziplinärer Forschungsprojekte ansieht, die in großen Konsortien mit einer Vielzahl von Akteuren aus Industrie, Wissenschaft und Anwendern zeitlich und räumlich verteilt durchgeführt werden. Mit der zunehmenden Verlagerung der Erzeugung technischen Wissens vom Labor in die Anwendungskontexte geht zugleich auch eine Verschiebung des innovationsrelevanten »Experten«wissens einher: 226
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Durch das Heraustreten der Wissensproduktion aus den Laboren der Universitäten verliert die wissenschaftliche Expertise als treibende Kraft zur Entstehung neuen Wissens an Gestaltungskraft. Stattdessen finden sich die »Experten« im Sinne von Akteuren, die »wissensbasierte und handlungsorientierte Dienstleistungen« (Krohn 2003: 107) erbringen, jetzt überall: In den Forschungs- und Entwicklungs-Abteilungen großer Konzerne, den kreativen Teams junger Spin-Offs und auf den Internetplattformen für sog. Open-source-Innovationen (vgl. Blutner 2010). Anwender treten zunehmend selbst als Produzenten technischen Wissens auf. Besonders deutlich wird dies an der derzeit geführten Debatte um die »Prosumenten« (vgl. Blättel-Mink/Hellmann 2010), d.h. um Konsumenten, die zugleich als Produzenten neues technisches Wissen generieren.
(3) Technik als Nicht-Wissen Das Nicht-Wissen bezogen auf konkrete Techniken – wie z.B. Kernenergie, Gentechnologie – wird in der Soziologie mittels des Risikobegriffs behandelt. Ulrich Beck (1986) konstatiert, dass die Industriegesellschaft Prosperität und Risiko zugleich produziert habe. Für ihn stellt es vor allem ein Versagen der wissenschaftlich-technischen Rationalität dar, dass die Gesellschaft mit immer größeren Risiken und Zivilisationsgefährdungen zu rechnen habe. Eine reflexive Modernisierung der Gesellschaft müsse genau an der Stelle des Umgangs mit neuem technischem und wissenschaftlichem Wissen ansetzen und eine soziale Rationalität einfordern, welche das Wissen um die Globalisierungstendenz der Gefährdungen in den Blick nimmt. Besonders dringlich wird dies bei sog. »experimentellen Implementierungen« oder Realexperimenten (vgl. Krohn/Weyer 1989). Hierbei unterscheiden Krohn und Weyer vier Typen von Implementierungen neuer Technologien in Anwendungskontexte, die wiederum zur Erzeugung neuen (Nicht-)wissens führen: Erstens Unfälle in technischen Anlagen, aus denen die Wissenschaft Erkenntnisse für ihre nachfolgende Forschung zieht, zweitens die Verbesserung von Prototypen, welche zuvor unter realistischen Bedingungen getestet wurden, drittens Langzeitund Akkumulationseffekte, wie sie beispielsweise im Rahmen des Einsatzes gesundheitsgefährdender Stoffe auftreten, sowie viertens nicht vorhersehbare Effekte, die aus Eingriffen in rekursive Systeme resultieren (ebd.: 359ff.). Gemeinsam ist dieser Form der Anwendung technischen Wissens, dass quasi im »gesellschaftlichen Feldversuch« die Risiken der Forschung zu Risiken der Gesellschaft werden (ebd.: 352).
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Daraus ergeben sich neue Herausforderungen an die Entwicklung von Bewältigungsstrategien technischen Nichtwissens und technischer Risiken. Erste Ansätze können hier partizipative Systementwicklungen, die geprägt sind durch die Koordination von Herstellern und Anwendern, damit einhergehend rekursive Lernprozesse, wie sie beispielsweise in der Softwareentwicklung bereits gängige Praxis sind, oder aber die bereits erwähnten Innovationsnetzwerke sein. Gemeinsam ist diesen Strategien, dass sie einerseits eine Vielzahl von Akteuren in die Entwicklung und Implementierung technischer Innovationen einbeziehen und andererseits bewusst mit den vorhandenen Risiken durch Wissenslücken in den Anwendungskontexten umgehen.
(4) Die Verteilung von Wissen auf Mensch und Technik Technologien, denen eine gewisse »Eigenaktivität« beispielsweise in Form künstlicher Intelligenz (KI) sind besonders unter dem Gesichtspunkt der Verteilung von Kognition, Wissen und Handlungsträgerschaft (agency) soziologisch interessant. Bei der KI-Forschung versuchte man das Wissen von Experten auf technologische Systeme zu übertragen, so dass diese über menschenähnliche Eigenschaften verfügen und antizipativ planen können. Dies scheiterte aber zum einen an der Menge des Wissens, das in diesen Systemen repräsentiert werden muss und zum anderen an der Struktur des Wissens, beispielsweise an der Repräsentation seines performativen Charakters (vgl. Wehner 1995). Aus diesem Grund bemüht man sich im Zuge der verteilten künstlichen Intelligenz (VKI), die für die Erfüllung bestimmter Aufgaben nötigen kognitiven Fähigkeiten und Wissensprozesse auf unterschiedliche menschliche und/oder nicht-menschliche Agenten zu verteilen (Weyer 2008: 252). Man denke an so genannte Multi-Agenten-Systeme im Internet, die ein individuelles Profil des Nutzers erstellen und ihm mit immer passgenaueren Informationen bzw. Werbeangeboten ›versorgen‹. Hutchins (2006) weist darauf hin, dass jegliches technische Artefakt nicht nur instrumentell zur Transformation von Problemlöseprozessen benutzt wird, sondern eingebunden ist in ein hybrides Geflecht aus Mensch und Technik. In diesem Geflecht ist das zur Bewältigung einer Aufgabe nötige Wissen auf alle »Team«mitglieder – einschließlich des Artefakts – verteilt. Die Idee verteilten Wissens, wie sie Hutchins darlegt, wurde in der Techniksoziologie aufgegriffen und auf Handlungen und Aktionen übertragen. Auch technische Entwicklungen aus anderen Bereichen verweisen auf ein zunehmend interaktives Verhältnis von Mensch und Technik und 228
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darüber hinaus eine immer autonomere Rolle der Technik. So erfassen, speichern und verarbeiten smarte Objekte im Zuge des Pervasive Computing mit Hilfe von Sensoren nicht nur unterschiedliche Daten, sondern kommunizieren auch noch untereinander und lösen unter Umständen Folgeprozesse aus, die der menschliche Anwender nicht mehr überblickt. Diese nicht umsonst auch als »Ambient Intelligence« bezeichneten, kontextsensitiven Technologien führen zu einer zunehmenden »Informatisierung des Alltags« (vgl. Mattern 2007), in welchem kaum mehr auseinander gehalten werden kann, ob Mensch oder Technik eine Entscheidung fällen. In der Medizintechnik wird derzeit an so genannten invasiven Neuroimplantaten geforscht. Hierbei handelt es sich um Brain-MachineInterfaces (BMI) in Form in das Gehirn implantierter Chips, die mit dem Nervensystem verbunden sind und mit diesem bioelektrische Signale austauschen, um es entweder – wie im Fall der Hirnschrittmacher – zu stimulieren, oder aber Signale hieraus abzuleiten und diese z.B. zur Ansteuerung intelligenter Prothesen weiter zu verarbeiten (vgl. Lebedev/Nicolelis 2006). Mit der Diskussion um Neuroimplantate erhält die Frage nach der Verteilung von Wissensbeständen und Verantwortung auf menschliche und nicht-menschliche Akteure eine besondere Brisanz. Denn zumindest theoretisch denkbar ist, dass Neuroimplantate in Zukunft nicht nur zu medizinischen Zwecken eingesetzt, sondern beispielsweise mit externen Wissensquellen gekoppelt werden und somit zur Erweiterung kognitiver Fähigkeiten und Wissensbestände in bislang ungeahntem Ausmaß führen könnten (vgl. Grunwald 2009).
Au s b l i c k Auch wenn es sich bei der letztgenannten Technologie um eine ferne Vision handelt, zeigt sich, dass Technik in der Wissensgesellschaft nicht nur eine zentrale Rolle spielt, sondern sich vor allem die Qualität der Technik in Bezug auf den Umgang mit sowie die Verteilung von Wissen zunehmend verändert. Insbesondere vor dem Hintergrund autonom agierender Technik sowie der Verteilung von Wissensbeständen auf menschliche und nicht-menschliche Akteure stellt sich die Frage, wie Wissen repräsentiert wird, aus welchen Quellen sich Wissensbestände speisen, wie sich die Interaktivität mit Technik gestaltet und welche Autonomie nicht nur die Technik, sondern vor allem auch der Mensch im Umgang mit der Technik besitzt. Auf gesellschaftlicher Ebene betrifft dies Fragen nach der Zurechnungsfähigkeit von Autonomie und Verantwortung im Falle sowohl menschlichen als auch technischen Gestaltens und Versa229
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gens. So sind einerseits bereits jetzt Fälle von Diebstahl durch Träger von Hirnschrittmachern bekannt, in denen der Patient angibt, für die Handlungen nicht selbst verantwortlich, sondern von der Technik fremd bestimmt worden zu sein (Clausen 2009: 24). Andererseits wird schon seit geraumer Zeit diskutiert, wer juristisch für das Versagen smarter Technologien verantwortlich zeichnet, die selbstgesteuert und kontextabhängig auf ihre Umwelt Einfluss nehmen. Das Problem der Dissipation von Verantwortung (Mattern 2005: 23) zeigt sich insbesondere bei vernetzten Technologien. Noch weit reichender sind sog. selbstlernende Systeme, die in der Robotik bereits experimentell eingesetzt werden, die eigenständig Entscheidungsmodelle generieren, sodass die Konstrukteure dieser Systeme nicht mehr voraussagen können, wie sie sich in konkreten Situationen verhalten werden (Häußling 2008). Diese Entwicklungen sind als erste Schritte zu werten, in denen sich die Gesellschaft mit einem technischen Korrelat des menschlichen Wissens konfrontiert sieht, das prinzipiell einen vergleichbaren »take off« nehmen kann wie das menschliche Wissen. Damit wird die fundamentale Frage zentral, was mit dem Wissen selbst passiert, wenn es durch Technisierungsprozesse entsprechend technikadäquat präpariert wird. Information und Wissen könnten plötzlich die Positionen tauschen: Information entpuppt sich zunehmend als ein »in Formation« gesetztes Wissen, das aufgrund der Selbstbezüglichkeit eine eigene Logik der Selbstreproduktion und der Erzeugung von neuen Informationen entwickelt. Das Wissen formiert sich in Gestalt der Information derart, dass der Ort der enthaltenen Daten selbst schon informationsförmig ist. Angesichts dieser technologischen Entwicklungen in der Wissensgesellschaft steht die Techniksoziologie vor neuen Herausforderungen. Inhaltlich sind beispielsweise die Verteilung von Wissensbeständen sowie die Interaktivität zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren genau zu analysieren, um sie besser verstehen und hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Folgen prospektiv bewerten zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen darüber hinaus aber auch neue methodische Zugangsweisen entwickelt werden. Der Technik kann in der Wissensgesellschaft attestiert werden, dass sie maßgeblich für die Vervielfachung, Beschleunigung und Heterogenisierung der wissensbasierten Informations- und Kommunikationsströme gesorgt hat. Um mit den damit verknüpften Folgen umzugehen, wird die Wissensgesellschaft kaum umhin kommen, wieder auf Technik zurückzugreifen.
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4 .3 Profess ione n MICHAELA PFADENHAUER/ALEXA MARIA KUNZ
Von der »professionellen Autoreinigung« bis zur »professionellen Zahnreinigung«, von »professionellen Anrufbeantworteransagen« bis zum »professionellen Zuhören« sowie vom »Profi-Kicker« bis zum »ProfiKiller«: Unsere Alltagswelt scheint von vielen Professionalismen und Professionsbemühungen geprägt zu sein. Insbesondere in Gesellschaften, die sich selbst als Wissensgesellschaften bezeichnen, scheint es von existenzieller Bedeutung, sein Wissen nicht nur irgendwie anzuwenden, sondern dies möglichst professionell zu tun, womit wir in der Regel verbinden, eine anerkennenswerte Leistung zu erbringen. Und wenn wir davon sprechen, dass sich jemand professionell verhalten hat, meinen wir damit ein Verhalten – auch in ethischer Hinsicht – nach allen Regeln der Kunst. Zumindest die klassischen professionstheoretischen Ansätze würden hier aber noch lange nicht von Professionellen oder gar von Profession sprechen. Eben solchen Fragen nach den Merkmalen von Professionen sowie nach Kennzeichen professionellen Handelns geht die Professionssoziologie nach, vor deren Hintergrund wir das Phänomen der Wissensgesellschaft betrachten wollen. Da es sich bei der Professionssoziologie um eine – zumal im deutschsprachigen Raum – neben der zum Teil mit verwandten Gegenständen befassten Arbeits- und Organisationssoziologie eher übersehene Spezielle Soziologie handelt, soll zu Beginn ihr thematischer Fokus kurz umrissen werden. In einem zweiten Teil wird dargestellt, inwiefern der Aspekt des Sonderwissensbestandes professionssoziologische Theorien mit wissensgesellschaftlichen Konzepten verbindet, um im abschließenden dritten Teil zu erörtern, welche Konsequen235
MICHAELA PFADENHAUER/ALEXA MARIA KUNZ
zen die so genannte Wissensgesellschaft für Professionen zeitigen könnte.
Der Gegenstand der Professionssoziologie Wie in vielen Speziellen Soziologien ›brechen‹ sich in der Professionssoziologie diverse theoretische, in diesem Fall unter anderem auch gesellschaftstheoretische Ansätze. Eine besonders prominente Stellung nehmen Professionen im Theoriegerüst des Strukturfunktionalismus ein: Dem von Talcott Parsons so bezeichneten »professional complex« kommt demnach ein besonderer – funktionaler – Stellenwert für die Gesellschaft zu. Daran anschließend betont Ulrich Oevermann die handlungslogische Notwendigkeit von Professionen, die auf den von diesen typischerweise zu lösenden Handlungsproblemen gründet. Aus differenzierungstheoretischer Perspektive, wie sie von Rudolf Stichweh vertreten wird, scheinen Professionen demgegenüber im Niedergang begriffen zu sein, weil keine Profession mehr eine Vorrangstellung in einem Funktionssystem einnimmt Und selbst dort, wo die im Kontext des ›power approach‹ von Eliot Freidson thematisierte »Dominanz der Experten« in die Rede von der Expertengesellschaft mündete, wird Macht und Einfluss zunehmend seltener bei professionalisierten Experten, d.h. bei Wissensträgern vermutet, deren Wissensbasis sich durch eine Kombination aus wissenschaftlichem und praktischem Handlungswissen auszeichnet. Innerhalb der Soziologie ist man sich folglich uneins über die Bedeutung der Professionen für das gesellschaftliche Ganze. Die für die Professionssoziologie typische Problemstellung setzt jedoch bereits vor jeder Theorie ein, nämlich bei der Definition des Gegenstandes und somit bei der Frage, welche soziale Gruppe bzw. welcher Beruf denn überhaupt als Profession zu bezeichnen sei. Weder ›freie Berufe‹ noch ›akademische Berufe‹ sind adäquate Entsprechungen des englischen Begriffs ›profession‹, weshalb auch in der deutschsprachigen Diskussion inzwischen einheitlich von ›Professionen‹ die Rede ist. Etymologisch lässt sich der Begriff auf das lateinische Verb ›profiteri‹ zurückführen, dem ursprünglich das subjektive Moment des Bekenntnisses im Sinne eines (Ordens-) Gelübdes innewohnt, worauf mitunter der Sonderstatus jener Berufe zurückgeführt wurde, die heute als Professionen bezeichnet werden: allen voran der Beruf des Arztes, des Geistlichen sowie die juristischen Berufe. Über die ›Berechtigung‹ anderer Berufe, wie die des Lehrers und des Sozialarbeiters, des Ingenieurs und Architekten, aber auch des Wissenschaftlers und Künstlers, eben-
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PROFESSIONEN
falls analytisch den Status einer Profession zu beanspruchen, wurde lange Zeit kontrovers debattiert. Dass es sich bei Professionen um Berufe handelt, die sich durch bestimmte Merkmale von allen anderen Berufen unterscheiden, war gewissermaßen der Konsens, auf den sich Professionsforscher einigen konnten. Hinsichtlich der Frage aber, anhand welcher Kriterien ›ihr‹ Gegenstand genau bestimmt werden könne oder solle, bestand anhaltend Uneinigkeit. Als ›kleinster gemeinsamer Nenner‹ hat sich dabei früh der Rekurs auf zumindest folgende Kennzeichen herausgebildet: Merkmale von Professionen berufsbezogenes, ›professionelles‹ Wissen als Sonderwissen
Basis ›professionellen‹ Handelns; teilweise näher bestimmt als so genanntes ›theoretisches Wissen‹ eindeutige, meist formalrechtliche Definition und
Abgrenzung und Monopolisierung
anschließende Monopolisierung eines ›professionellen‹ Tätigkeitsfeldes auf Basis dieses Wissens; oftmals in dessen institutionalisierter Form von Bildungstiteln Herausbildung von Berufsverbänden zur
Selbstverwaltung
Selbstverwaltung der Profession, ihrer typischen Wissensbestände und Praktiken der Berufsausübung Bezugnahme auf einen »gesellschaftlichen
Gemeinwohlorientierung
Zentralwert« (z.B. Gesundheit, Gerechtigkeit) und somit Selbstverpflichtung auf eine (teils altruistisch verstandene) Gemeinwohlorientierung
Abb. 1: Merkmale von Professionen Der so genannte indikatorische Ansatz zur Bestimmung von Professionen über ein Bündel von Merkmalen, anhand dessen sie sich möglichst trennscharf von anderen Berufen abgrenzen lassen, spielt heute höchstens noch in professionspolitischen Diskursen eine Rolle, die auf Professionalisierung – im Sinne einer (Status-)Höherbewertung – der je eigenen Berufsgruppe abzielen. Aus professionssoziologischer Sicht hingegen ist ein rein indikatorischer Ansatz zur Bestimmung von Professionen – ohne jegliche Rückbindung an theoretisch anspruchsvollere Professionsansätze – als überholt anzusehen. Die bereits genannten Positionen des Strukturfunktionalismus, der Strukturtheorie, der Systemtheorie sowie des Interaktionismus und – in dessen spezifisch machtkriti237
MICHAELA PFADENHAUER/ALEXA MARIA KUNZ
scher Fortführung – der so genannte ›power approach‹ sind hierzulande nach wie vor professionssoziologisch relevante Ansätze.1 Gerade aus machtkritischer Perspektive wird Professionalisierung als »professional project« (Larson 1977) einer um die Durchsetzung ihrer Eigeninteressen bemühten Akteursgruppe zur Anerkennung der eigenen Qualifikation und damit der Erhöhung sozialer Mobilität sowie zur Durchsetzung von Marktkontrolle angesehen. Professionen entstehen demnach nicht mehr oder minder naturwüchsig aus den funktionalen Anforderungen einer Gesellschaft bzw. der inneren Handlungslogik spezifischer Probleme, sondern sie werden von ihren nachmaligen Angehörigen in politischen Aushandlungsprozessen hervorgebracht und anschließend ideologisch legitimiert. Aus der Perspektive der neueren Wissenssoziologie lässt sich dieser Prozess als Lösungsweg für Probleme der Rekrutierung und Ausbildung von Trägern institutionell spezialisierten und verteilten Sonderwissens begreifen (vgl. Knoblauch 2005: 292). Professionalisierung meint demnach den Prozess der sozialen Verfestigung von Berufsrollen durch • die Systematisierung eines Wissensgebietes, • die Länge und Komplexität der (institutionell spezialisierten) Ausbildung, • die Beglaubigung beruflicher Kompetenzen in institutionellen Kategorien (Lizenzen) und • ein Geflecht von auf Sonderwissen bezogenen Selbst- und Fremdtypisierungen (wie etwa ersichtlich an der »Berufsprestige-Skala«). 2 Diejenigen Berufe, die – als Resultat eines historischen Professionalisierungsprozesses – über eine weitreichende Autonomie hinsichtlich der Gestaltung und Regelung ihrer berufseigenen Belange verfügen, bezeichnen wir als ›Professionen‹ (vgl. Pfadenhauer 2003). Auch wenn Professionen heute »eine der gängigsten Formen der Institutionalisierung gesellschaftlich gebilligten und anerkannten Wissens [darstellen]« (Knoblauch 2005: 292) ist weder das Resultat dieses Prozesses bei einzelnen Berufen ein für alle Mal gesichert (Berufe können sich vielmehr deprofessionalisieren, neue Berufe sich professionalisieren) noch ist es der Status von Professionen generell. Vor diesem Hintergrund scheint die gegenwärtige Entwicklung innerhalb der Professionssoziologie – weg von einem statischen Professionsverständnis hin zu einem dynami1
2
Für eine ausführliche Darstellung der einzelnen Theoriepositionen siehe Pfadenhauer 2003. Für einen Überblick zur Professionssoziologie vgl. auch Mieg/Pfadenhauer 2003, Schützeichel 2007 und Demsky von der Hagen/Voß 2010. Vgl. Schütz/Luckmann 1979: 387ff.; Pfadenhauer 2003: 30.
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PROFESSIONEN
schen Verständnis von Professionalisierung und Professionalismus – konsequent. Damit rücken zum einen wieder individuelle Sozialisationsprozesse, d.h. das ›Einüben‹ des einzelnen Akteurs in professionelles Handeln, sowie gerade bei neuen Professionen die Ausbildung eines professionellen Habitus in den Blick. Zum anderen wird mit einer nicht mehr auf ›höhere‹, vornehmlich akademische Berufe begrenzten Perspektive der Professionsforschung der Blick frei für gegenwärtige Entwicklungen in Unternehmen, in denen die Rhetorik des Professionalismus wirkungsvoll Einzug gehalten hat (vgl. Evetts 2003). Sie darf sich letztlich nicht verschließen vor Diskussionen um die Zukunft von Wissen, Bildung und Beruf, wie sie unter den Schlagworten ›lebenslanges Lernen‹, ›Kompetenzentwicklung‹ und nicht zuletzt dem der ›Wissensgesellschaft‹ geführt werden – eine Zukunft, in der, wenn sich die These von der Wissensgesellschaft auch nur annähernd halten lässt, die Exklusivität des Wissens von Professionellen ›existentiell‹ tangiert sein dürfte.
D i e ( s c h e i n b a r e ) Au f w e r t u n g v o n W i s s e n in der Wissensgesellschaft Die exklusive Verfügung über einen bestimmten Wissensbestand stellt ein weithin unstrittiges Merkmal von Professionen bzw. deren Mitgliedern dar. Die (erfolgreiche) Abgrenzung eines Sonderwissenbestands bzw. der Ausweis von ›esoteric knowledge‹ ist also konstitutiv dafür, dass sich unter allen möglichen berufsförmigen Gruppen überhaupt erst bestimmte Gruppen als und von Professionen herausbilden. Eben hierin lässt sich eine beachtenswerte Verbindung zu den Konzepten der Wissensgesellschaft finden: Denn auch hier ist bekanntlich die Frage der Bedeutung von Wissen zentral – zumal jene Konzepte die These von der verstärkten Bedeutung speziellen Wissens zum Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Gesellschaftsformen machen. Unter den vielen Etiketten, mit denen unsere Gegenwartsgesellschaft auf den Begriff gebracht werden soll, betonen ›wissensgesellschaftliche‹ Konzepte vor allem, dass wirtschaftliche Faktoren wie Arbeit, Betriebsmittel und Werkstoffe gegenüber Wissen, Information und Expertise an Bedeutung verlieren würden.3 Insgesamt ist festzustellen, dass viele ältere Konzepte zur Wissensgesellschaft ein eher hoffnungsvolles, teils positivistisches Bild von der Rolle des Wissens – meint dort: wissenschaftlich-theoretisches Wissen –
3
Ausführlich zu den Theorien der Wissensgesellschaft vgl. Kapitel 1 und 2 dieses Bandes. 239
MICHAELA PFADENHAUER/ALEXA MARIA KUNZ
zeichnen, was sich beispielsweise bei Robert E. Lane in der Überzeugung spiegelt, politische Entscheidungsfindungsprozesse könnten in der »knowledgeable society« durch den gesteigerten Einfluss wissenschaftlichen Wissens entideologisiert und dadurch zum Wohle aller Gesellschaftsmitglieder gestaltet werden.4 Dahingegen fokussieren Konzepte aus den 1990er Jahren – wie etwa von Nico Stehr oder Manuel Castells – durchaus anknüpfend an bereits in den 1970er Jahren entstandene Arbeiten (z.B. von Daniel Bell) stärker auf den Aspekt der ökonomischen Verwertbarkeit von (wissenschaftlichem) ›Wissen als Ware‹ und die Möglichkeiten des Wissenstransfers über die neuen Informationsund Kommunikationstechnologien. Darüber hinaus thematisieren sie – nicht zuletzt den Diskurs um die »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck) aufgreifend – Aspekte der ›Fragilität‹ (Nico Stehr) und betonen, dass Wissenschaft nicht nur in der Lage sei, Probleme zu lösen, sondern diese auch maßgeblich selbst mit hervorbringe. Ein weiterer Strang in den neueren Konzepten zur Wissensgesellschaft beschäftigt sich mit der veränderten Rolle der Wissenschaft (vgl. Weingart 2003), die zwar zumeist in ihrer Monopolstellung des ›Wissensproduzenten‹ als bedroht eingeschätzt wird (vgl. z.B. Knorr-Cetina 1999; Willke 2002; Stichweh 2004), aber dennoch als nicht zu vernachlässigender Einflussfaktor für politische Entscheidungen gewertet wird, womit sich Fragen nach dem (anzustrebenden) Verhältnis von Wissenschaft und Politik verbinden (vgl. Mayntz et al. 2008). Darüber hinaus wird vermehrt die untrennbare Kopplung von Wissen an Nicht-Wissen betont, da »Wissensgenerierung immer auch die Erweiterung des Nichtwissens einschließt« (Groß et al. 2005: 13). Einer weiteren Reflexionsstufe wird diese Betrachtung unterzogen, wenn gefragt wird nach »den Wirkungen und Reaktionen, die der Bedeutungsgewinn des Nichtwissens in Gesellschaften hervorruft, die sich zunehmend als Wissensgesellschaften begreifen« (Wehling 2006: 316): Wie wird damit umgegangen, dass man nur weiß, eben nichts sicher zu wissen? Ebenfalls neueren Datums sind Überlegungen, die auf eine Integration von ›praktischen‹, so genannten impliziten Wissensbeständen – in die vormals stark auf theoretisch-abstrakte und explizite Wissensbestände fokussierte Debatte – abzielen (vgl. Böhle et al. 2004). Besonders in der deutschsprachigen Soziologie mehren sich zwischenzeitlich aber auch kritische Stimmen: Zum einen werden die empirischen und analytischen Defizite der Diagnose aufgezeigt, um damit zu deren »Entmythologisierung« beizutragen (vgl. Kübler 2005). »Herr4
Ein ähnlich ›hoffnungsvolles‹ Bild zeichnet Peter F. Drucker, wohingegen die Arbeit zur »programmierten Gesellschaft« von Alain Touraine in elitenkritischer Perspektive die »knowledge gaps« zwischen Arbeiterklasse und Bildungselite thematisiert.
240
PROFESSIONEN
schaftskritisch« (Bittlingmayer/Bauer 2006: 21) verstehen sich zum anderen Beiträge, denen weniger daran gelegen ist, der Diagnose von der Wissensgesellschaft vollständig ihren empirischen Gehalt abzusprechen, aber die u.a. darauf hinweisen wollen, »dass die Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft kein neutraler und wertfreier Begriff ist« (ebd.: 12), sondern einen dogmatischen Kern in sich birgt. Ebenfalls auf den wirkmächtigen Charakter von Wissensgesellschaft schließlich verweisen Beiträge, die danach fragen, welche Gesellschaftsbilder unter dem ›Label‹ diskursiv entworfen (und hergestellt) werden und was Gesellschaften über sich selbst aussagen, die solche Beschreibungen für sich übernehmen (vgl. Prisching 2004). Denn prinzipiell stellen jegliche Gesellschaften Wissensgesellschaften dar, da sie alle auf einem spezifischen gesellschaftlichen Wissensvorrat beruhen, der überhaupt erst Handeln möglich macht. Dennoch bezeichneten sich Gesellschaften bisher nicht explizit als Wissensgesellschaften. Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch ein Wesen ist, das sich selbst zu seiner Umwelt (also zu Dingen, anderen Menschen etc.) sowie zu sich selbst ins Verhältnis setzt, dann »bedeutet Wissensgesellschaft die Übertragung der dem Menschen eigentümlichen Subjektivität auf ein von ihm Geschaffenes, auf die Gesellschaft als ein mit Subjektqualität ausgestattetes System« (Tänzler et al. 2006: 9).5 Die Wissensgesellschaft ist also weder als ›naturwüchsiger‹ und prinzipiell unhinterfragbarer Zustand noch als rein rhetorische Hülle zu verstehen, der man keine weitere Aufmerksamkeit widmen müsste. Wenn Menschen für sich definieren, dass mit dem Begriff der Wissensgesellschaft ihre soziale Wirklichkeit treffend beschrieben werden kann und sie ihr Handeln an dieser ›Definition‹ ausrichten, wird die Wissensgesellschaft vielmehr ungeachtet ihrer empirischen Nachweisbarkeit und theoretischen Haltbarkeit ganz im Verstande der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit Realität.
5
Konstruktionstheoretisch wird diese Frage insbesondere dadurch spannend, dass sie nach den Auswirkungen von Konstruktionen zweiter Ordnung auf die Konstruktionen erster Ordnung fragt – oder konkreter: Was passiert, wenn die aus den Sozialwissenschaften stammende »Erfindung« der Wissensgesellschaft, die ursprünglich der abstrakten Beschreibung von konkreten Verhältnissen in der sozialen Welt diente, wiederum als Selbstbeschreibung in die soziale Welt Eingang findet? Wie verändert sich die soziale Welt dadurch und welche Konsequenzen bringt dies wiederum für deren abstrakte Beschreibung mit sich? 241
MICHAELA PFADENHAUER/ALEXA MARIA KUNZ
D i e Ab w e r t u n g v o n P r o f e s s i o n e n i n d e r Wissensgesellschaft Wenn dem Paradigma der Wissensgesellschaft folgend wissenschaftlichtheoretischem Wissen sowie vor allem Spezialistenwissen ein zunehmender Stellenwert zugeschrieben wird, scheint dies die bisherigen Professionen auf den ersten Blick nicht vor besondere Herausforderungen zu stellen – im Gegenteil: handelt es sich bei diesen doch ohnehin um akademisierte Berufe, die sich von anderen Berufen dadurch abgrenzen lassen, dass sie erfolgreich die Hoheit über einen Sonderwissensbestand beanspruchen. Die langfristig erfolgreiche Sicherung der Position von Professionen hängt – wie insbesondere Andrew Abbott pointiert hervorgehoben hat – seit jeher davon ab, spezifisches Fachwissen durch dessen Abstraktion zu kontrollieren, sich einen exklusiven Zuständigkeitsbereich zu sichern und diesen gegen potentielle Kontrahenten zu verteidigen. Selbst die ›Wiederentdeckung‹ von Konzepten um das so genannte Erfahrungs- oder Praxiswissen stellt in Bezug auf Professionen kein Novum dar – gilt doch gerade die Verbindung von Theorie- und Praxiswissen seit jeher als eines der zentralen Kennzeichen von Professionen. Werden die Bemühungen um die Behauptung der eigenen Position erfolgreich vorangetrieben und gelingt es den Professionen, die eigene privilegierte Stellung in der Gesellschaft über die Kontrolle eines Sonderwissensbestandes zu legitimieren, so treiben sie nicht zuletzt ›wissensgesellschaftliche‹ Entwicklungen selbst mit an: Durch ihren Erfolg werden sie zu einer Art ›role-model‹ für andere berufsförmig verfasste Gruppen, die ihrerseits nach einer privilegierten Stellung streben. Neben derartigen Professionalisierungsbemühungen bereits existierender Berufe entstehen neue ›wissensintensive‹ Beschäftigungen, die ihrerseits eng an jeweilige Sonderwissensbestände geknüpft sind – wie etwa in der IT-Branche: »Die neuen Wissensberufe gruppieren sich ebenso wie traditionelle Professionen um mehr oder weniger eindeutig bestimmte Wissensinhalte und Wissensbestände, deren Weiterentwicklung, Auslegung und Interpretation sie für sich reklamieren und monopolisieren. Die von ihnen kontrollierte Ressource Wissen wird von den Mitgliedern der Wissensberufe strategisch genutzt« (Heisig 2005: 39). Diese häufig akademisierten oder in der Akademisierung begriffenen Berufsgruppen legen ihrerseits mittelfristig Professionalisierungsbestrebungen an den Tag. Auf diese Weise werden einerseits »heute die Professionen immer mehr zu einem gewöhnlichen Beruf« (Kurtz 2005:
242
PROFESSIONEN
251), während andererseits mit den ›neuen Professionen‹ das Etikett einen inflationären Gebrauch erfährt.6 Darüber hinaus wird durch die Ausdifferenzierung von immer neuem Sonderwissen (gebunden an immer neue Experten), die Bedeutung von Expertise massiv erschüttert. Der Stellenwert dieser Eigenschaft, die lange als eine ebenso zentrale wie nahezu exklusive Qualität von Professionsangehörigen galt,7 wird gewissermaßen nivelliert. Expertise stellt dann lediglich noch eine Bedingung für Arbeitshandeln, aber kein Unterscheidungsmerkmal von Professionen mehr dar. Ilja Srubar (2006) sieht in diesen Entwicklungen zwangsläufig sogar einen Umschlag in die Unwissensgesellschaft angelegt – insbesondere die Expertisierung des Wissens mache alle, eben auch die Experten, zu »strukturellen Idioten«. Neben diesen Entwicklungen sehen sich Professionen nicht zuletzt auch mit der prominenten Forderung nach »lebenslangem Lernen« (vgl. Bolder 2007) konfrontiert, die von der Debatte um die Wissensgesellschaft geradezu beflügelt wurde. Die bildungspolitische Aufforderung zum ›Life Long Learning‹ macht selbst vor den Toren der ihre berufseigenen Belange weitgehend autonomen regelnden Professionen nicht Halt, sondern ist zwischenzeitlich auch hier ein Dauerthema professionspolitischer Verlautbarungen. Allerorts soll gelernt, sich weitergebildet und das zur dauerhaft gelingenden Berufsausübung notwendige Wissen angeeignet bzw. erneuert werden. Auch dies stellt prinzipiell für Professionen – seit jeher um die Weiterentwicklung eines Sonderwissensbestandes bemüht – kein Novum dar. Allerdings lässt sich konstatieren, 6
7
Bereits 1964 warnte Harold L. Wilensky in seinem gleichnamigen Artikel vor dem inflationären Gebrauch des Professionalisierungsbegriffs im Zuge der (vermeintlichen) »Professionalization of Everyone«. Seither wird nicht zuletzt unter diesem Schlagwort die in der Professionssoziologie prominente Debatte um das Verhältnis von professionellem Handeln und Profession geführt (zu »Professionell handeln ohne Profession« vgl. auch Meuser 2005). Die Frage nach einer möglicherweise vollständigen Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten des Amateurs, der heutzutage den eigentlichen Professionellen darstelle, wird unter dem Begriff der »ProAm-Revolution« (Leadbeater/Miller 2004) verhandelt. Die These lautet, dass mit Hilfe des so genannten Web 2.0 insbesondere Einzelakteuren eine neue und gewichtige Rolle bei der Generierung von Wissen zukomme, welche die Professionen nachhaltig erschüttere. Während empirische Arbeiten zu der These noch ausstehen, finden sich bisher eher kulturkritische Reflexionen des »Cult of the Amateur« (Keen 2007). Selbstverständlich existieren auch außerhalb von Professionen Personen, die über Expertise auf ihrem Arbeitsgebiet verfügen – auch Handwerker oder Kaufleute könn(t)en ausgewiesene Experten für einen bestimmten Bereich sein. Für diese Kontexte hat sich jedoch zumindest im deutschsprachigen Raum der Begriff des Fachmanns/der Fachfrau herausgebildet. 243
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dass die – sozusagen in den Berufsethos ›eingeschriebene‹ – intrinsische Motivation für individuelle Kompetenzentwicklung längst nicht mehr als hinreichend erachtet wird, sondern in Form einer Nachweispflicht sozusagen extrinsisch auferlegt wird. Mit der – teils juristisch fixierten8 – ›Verschreibungspflicht‹ von Weiterbildung werden die Professionen überdies kollektiv in ihrer Autonomie und damit eines wesensmäßigen Merkmals beschnitten. Besonders bedeutsam legt die politisch installierte Verpflichtung zum ›Life Long Learning‹ schließlich nahe, dass bestehendes, heute noch gültiges Wissen spätestens morgen irrelevant sei, weil es veralte: Wenn aber neues Wissen morgen schon wieder überholt sein wird, wird jeder (Sonder-)Wissensbestand sozusagen ›folklorisiert‹. Diesem Wissen wird immer mehr lediglich ein nostalgischer Wert des Überkommenen attestiert, während ihm im gleichen Zug aber jeder Anspruch auf Brauchbarkeit, d.h. praktische Relevanz im Hier und Heute aberkannt wird. Die mit der Daueraufforderung zur ›lebensbegleitenden Bildung‹ einhergehende verstärkte Orientierung an Standardisierung und Zertifizierung von (Weiter-)Bildungsverläufen leistet also einen doppelten Beitrag zur Deprofessionalisierung: durch den Autonomieverlust der Professionen ebenso wie durch die Folkorisierung der Sonderwissensbestände. Zusammenfassend lässt sich mit der Diagnose einer aufziehenden oder gar bereits durchgesetzten Wissensgesellschaft keine Aufwertung jedenfalls von etablierten Professionen und deren Wissensbeständen prognostizieren.
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8
Die Weiterbildungspflicht von Ärzten beispielsweise ist seit dem 01.01.2004 im Strafgesetzbuch schriftlich fixiert und kann bei Nichteinhaltung mit dem Entzug der Approbation geahndet werden, vgl. dazu Pfadenhauer 2004.
244
PROFESSIONEN
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MICHAELA PFADENHAUER/ALEXA MARIA KUNZ
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246
4 .4 Beratung JÜRGEN HOWALDT
Das Thema Beratung ist in den letzten Jahren zum Gegenstand von zahlreichen Debatten in Wissenschaft und Gesellschaft geworden. Beratung hat inzwischen in vielen Bereichen der Gesellschaft Einzug gehalten und sich weit über die traditionellen Gegenstände hinaus in den meisten gesellschaftlichen Teilbereichen etabliert. Bereits ein Blick auf die Themenfelder der Beratung macht die Allgegenwärtigkeit von Beratungsangeboten deutlich. Im entsprechenden Eintrag zum Thema bei Wikipedia tauchen neben bekannten Beratungsthemen wie Arbeitsmarkt und Bildungsberatung, Coaching, Familienberatung, Unternehmens- und Politikberatung, Gesundheits- und Ernährungsberatung, Verbraucher- und Energieberatung auch eher exotische Themen wie die Feng-Shui-Beratung oder die Farb- und Stilberatung auf. Beratung wird somit zunehmend zu einem Phänomen, welches konstitutiv ist für moderne Gesellschaften. Die Gesellschaft wird zu einer »beratenen Gesellschaft«, in der »immer mehr Lebensbereiche […] als Objekt von Beratung konstituiert oder zumindest von ihnen beeinflusst« werden (Schützeichel/Brüsemeister 2004: 8). Damit entsteht gleichzeitig eine Anzahl neuer Berufsfelder. Auch die sozialwissenschaftliche Beratungsforschung hat das Thema aufgenommen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Untersucht werden bspw. die vielfältigen Beratungskonzepte und die sich daraus ergebenden Anforderungen an Beraterinnen1 (Bamberg et al.
1
Ich verwende im Folgenden die männlichen und weiblichen Formen im freien Wechsel. 247
JÜRGEN HOWALDT
2006). Es geht um einen Blick hinter die Kulissen der Beraterbranchen auf ihre konkreten Vorgehensweisen und die Bedeutung von Macht in Beratungsprozessen (vgl. Degele et al. 2001). Es geht aber auch um mögliche Potenziale der Sozialwissenschaften im Allgemeinen und der Soziologie im Besonderen, sich auf den dynamisch entwickelnden Beratungsmärkten zu etablieren (vgl. u. a. Howaldt/Kopp 2002). Dabei rückt zunehmend die übergreifende Frage nach Rolle und Funktion der Beratung in der Gesellschaft in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Eine solche »soziologische Erkundung der beratenen Gesellschaft« – wie sie Schützeichel (2004: 274) fordert – kann je nach theoretischer Perspektive unterschiedlich ausfallen. So kann der Aufschwung der Beratung als wichtiger Katalysator für Modernisierungsprozesse gedeutet werden (vgl. ebd.: 280ff.) oder aber als wichtiger Promotor der Durchsetzung neoliberaler Strukturen im Sinne des Berater-Kapitalismus (vgl. Resch 2005). Die neo-institutionalistische Theorie betrachtet Beratung in ihrer Funktion als Medium zur Institutionalisierung und Zertifizierung von Rationalitätsmythen. In dieser Perspektive ist Beratung inzwischen zu einer gesellschaftlichen Institution geworden (vgl. Birke 2007: 231). Im Folgenden soll die Perspektive der Wissensgesellschaft zur Erklärung der Entwicklungen im Verhältnis von Beratung und Gesellschaft gewählt werden. Notwendig ist angesichts der Heterogenität der Phänomene, die unter dem Stichwort Beratung zusammengefasst sind, zunächst eine Klärung des Begriffes. Der Fokus richtet sich danach auf die beraterische Expertise als zentrale Ressource und Kapital der Berater. Die allgemeinen Überlegungen werden im Anschluss daran am Beispiel der Unternehmens- und Organisationsberatung konkretisiert und diskutiert. Den Abschluss bildet ein kurzes Fazit.
Beratung als kommunikative Gattung In Anlehnung an Schützeichel soll Beratung verstanden werden als eine »thematisch bzw. sachlich auf Entscheidungsprobleme fokussierte, zeitlich limitierte Kommunikation zwischen einem Alternativen offerierenden Ratgeber und einem um Entscheidung ringenden Ratsuchenden« (Schützeichel 2004: 278). Damit lässt sich Beratung von anderen kommunikativen Gattungen – wie beispielsweise der Belehrung oder der Betreuung – analytisch abgrenzen. Grundlage von Beratung ist eine Rollenverteilung zwischen Ratgeber und Ratsuchendem. Während der Ratgeber Optionen und Alternativen beisteuert, trägt der Ratsuchende »die Last der Entscheidung« (ebd.: 277).
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Die Bedeutung der Expertise als zentrale Ressource der Ratgeber Im Mittelpunkt der Beratung steht der Austausch von Wissen. Es geht »um die Veränderung von Wissen, den (vermeintlichen) Abbau von Wissensdifferenzen oder den wechselseitigen komplementären Aufbau von Wissenspotenzialen in Entscheidungssituationen« (Schützeichel 2004: 277). Unterstellt wird eine Wissens- oder Informationsdifferenz zwischen Ratsuchendem und Ratgeber. In der Regel dürfte der Ratgeber über eine spezifische Expertise verfügen, die für den Ratsuchendem von Bedeutung ist.2 Wissensgesellschaften sind nun dadurch charakterisiert, dass »eine neue Form der Wissensbasierung und Symbolisierung alle Bereiche einer Gesellschaft durchdringt und kontextspezifische Expertise in allen Bereichen der Gesellschaft generiert wird« (Willke 1998: 164). Gleichzeitig erleidet die Wissenschaft als traditioneller Lieferant von Wissen einen Funktionsverlust. Anstatt als Quelle für gesicherte Erkenntnisse und (Handlungs-)Gewissheiten zu fungieren, wird sie zur »Quelle von Ungewissheit und gesellschaftspolitischen Problemen« (Stehr 2001: 13). Damit verlieren wissenschaftliche Erkenntnisse zunehmend einen Teil ihrer praktischen Relevanz. Genau in diese Funktionslücke stoßen nun die Experten und Ratgeber. Sie übernehmen die Aufgabe, »Reflexionen abzuschließen und wissenschaftliche Erkenntnisse ›nützlich‹ zu machen, damit in praktischen Kontexten danach gehandelt werden kann […]« (ebd.: 9). Der wachsende Bedarf an Expertise als zentrale Ressource und Kapital der Ratgeber ist die eigentliche Ursache für die Karriere der Beraterinnen in modernen Gesellschaften. Neu ist dabei nicht das Vorhandensein von Beratern und Experten, sondern vielmehr ihre zunehmende Zahl und Allgegenwart.
Ambivalenzen der Beratung Mit der Herausbildung der Wissensgesellschaft erlebt Beratung jedoch nicht nur einen beispiellosen Aufschwung. Gleichzeitig nimmt die Kritik an der »Beratungsindustrie« zu. Die Berater kochen nur mir Wasser,
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Die Bedeutung der Expertise bei Beratungen findet sich in den gängigen Definitionen einschlägiger Lexika wieder. Hier wird Beratung definiert als »i. d. R. durch Fachleute erteilter Rat, der Informationen (z.B. über Konsumgüter, Miete, Berufe, Rente) umfassen, aber auch eher zur Selbstorganisation und Selbsthilfe anregen kann (z.B. auf den Gebieten Erziehung, Familie, Sucht, Sexualität, Schwangerschaft)« (Meyers Großes Taschenlexikon 2006). 249
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sind, wie Leif formuliert, »vor allem professionelle Wissens-Recycler, geschickte Informationsbeschaffer aus dem Wissensfonds und Erfahrungsschatz ihrer Kunden sowie geniale Vereinfacher von vermeintlich komplizierten Prozessen« (Leif 2006: 396). Auch sie können dem zentralen Dilemma der Wissensgesellschaft nicht entgehen. Zwar sind alle gesellschaftlichen Teilbereiche zunehmend auf Wissen angewiesen. Das Wissen selbst wird jedoch problematisch. Das Versprechen der Objektivität und Gewissheit des Wissens, der Sicherheit von Prognosen (vgl. Weingart 2001: 26), welches weiterhin das Alltagsverständnis prägt, kann auch die beraterische Expertise heute nur noch in Ausnahmefällen einlösen. So wird das Wirken der Beraterinnen zunehmend ambivalent eingeschätzt. Einerseits sollen sie die notwendige möglichst passgenaue Expertise liefern, die ihre Klientinnen zur Entscheidungsfindung anfragen, denn Entscheidungsprobleme lassen sich in der Wissensgesellschaft immer weniger allein unter Rückgriff auf traditionelle Konventionen, moralische Maximen und bewährte Handlungspraktiken lösen. Sie benötigen zunehmend eine »Wissensbasierung«. Andererseits können die Beraterinnen die gewachsenen Erwartungen, mittels gesicherter Erkenntnisse zu »richtigen« rationaleren Entscheidungen der Ratsuchenden beizutragen, nicht erfüllen. Wissen kann heute weder Lösungen vorgeben noch vermittelt es Handlungssicherheit. Vielmehr wird Wissen Mittel zur Reflexion der eigenen Handlungspraktiken. Es ist ein wichtiges Element bei der Selbstvergewisserung bzw. Selbstveränderung in der reflexiven Moderne (Beck et al. 1996). Insbesondere die Systemtheorie hat frühzeitig die vorherrschenden Leitvorstellungen über Möglichkeiten der beratenden Einflussnahme auf komplexe Systeme durch den Transfer von Wissen kritisiert. »Nicht der Eingreifende (Intervenierende) verändert das zu verändernde System, sondern dieses kann nur sich selbst verändern. Und es ist dann eine Frage einer ganz anderen Stufe von Komplexität, welche Möglichkeiten ein Manager, Berater, Therapeut, eine Ärztin oder Lehrerin […] haben könnte, Selbstveränderungen adäquat zu induzieren« (Willke 1994: 30).
Insofern geht es beim Beratungsprozess nicht um einen einfachen Transfer von Expertenwissen vom Ratgeber auf den Ratsuchenden, sondern um einen komplexen Prozess der kontextspezifischen Neuproduktion von Wissen. Für den Berater bedeutet dies: Das Vorhandensein einer spezifischen Expertise reicht nicht aus, um erfolgreich beraten zu kön-
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nen.3 Notwendig ist vielmehr die Reflexion der Beratungskonzepte und praktiken. Wenn es darum geht, »Selbstveränderungen adäquat zu induzieren« (s.o.), dann benötigt erfolgreiche Beratung zum einen Kenntnisse über die Funktionsweise des zu beratenden Systems (Netzwerk, Organisation, Gruppe, Familie, Person). Zum zweiten setzt sie voraus, diese Einsichten und Kenntnisse in konkrete Beratungsarrangements und -architekturen umzusetzen, die die Selbstveränderung des zu beratenen Systems anregen und ermöglichen. Zum dritten sind ein methodisches Instrumentarium sowie soziale Kompetenzen des Beraters erforderlich, um diesen Veränderungsprozess zu unterstützen und aktiv zu begleiten (vgl. Howaldt 2004: 213ff.). In diesen komplexen Beratungsarrangements erhält die beraterische Expertise eine veränderte Funktion. So geht es bei Beratungen nicht unbedingt um den Ausgleich eines Wissens- und Informationsmangels. Denn Wissen ist inzwischen u. a. durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien nahezu unbegrenzt verfügbar. Zur eigentlichen Herausforderung von Beratung ist inzwischen die Unterstützung bei der Selektion des relevanten Wissens geworden sowie die Befähigung des Ratsuchenden, dieses in kontextadäquate Interpretationen und darauf basierende Handlungspraktiken umzusetzen. Dies lenkt den Blick auf die Komplexität und Vielfalt der jeweils kontext- und problemspezifischen Beratungskonstellationen. Schützeichel unterscheidet drei prototypische Konstellationen, in dessen Zentrum der unterschiedliche Umgang mit Wissen in der Kommunikation zwischen Beraterinnen und Ratsuchendem steht. In der Expertenkommunikation, welche am ehesten den Kern von Beratung in einem traditionellem Verständnis darstellt, wird ein »vorab konstituiertes, von Experten generiertes Wissen einem Laien offeriert« (Schützeichel 2004: 282). Dabei fallen der Ort der Produktion und Anwendung des Wissens auseinander. In der als »maieutischer Dialog« bezeichneten Konstellation wird davon ausgegangen, dass das geforderte Wissen schon in den zu beratenden Systemen latent vorhanden ist und durch geeignete Techniken nur evoziert werden muss (vgl. ebd.: 282). »Dabei wird der Beratung nicht die Aufgabe der Instruktion, sondern der Unterstützung von Selbstreflexionsprozessen zugedacht. Der Ort der Wissensproduktion und der Ort der Wissensanwendung bzw. der Problemlösung fallen zusammen« (ebd.). Dazwischen liegt als dritte Konstellation die Beratung 3
Wenn auch – wie im nächsten Kapitel am Beispiel der Organisations- und Unternehmensberatung gezeigt wird – bereits die Generierung und kontinuierliche Anpassung dieser Expertise angesichts der zunehmenden Selbstprofessionalisierung der Ratsuchenden ein anspruchsvolles und hoch komplexes Vorhaben geworden ist. 251
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als gemeinsame Problemlösung, bei der das Wissen in der Beratungssituation gemeinsam generiert wird.
Das Beispiel Unternehmens- und Organisationsberatung Das Feld der Unternehmens- und Organisationsberatung gehört zu den traditionsreichsten und stark beforschten Beratungsfeldern. Die ersten Beratungsgesellschaften entstanden Ende des vorletzten Jahrhunderts in den USA. Die erste Beratungsfirma, Arthur D. Little, wurde 1886 von dem gleichnamigen MIT-Professor gegründet. In der Bundesrepublik konnten sich Unternehmensberatungen erst in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchsetzen (vgl. Fink/Knoblach 2003). Der eigentliche Boom setzte aber erst in den 90er Jahren ein. Seitdem gilt die Unternehmens- und Organisationsberatung als Wachstumsbranche (BDU 2007). Allerdings hat sich inzwischen in die Euphorie über immer neue Umsatzrekorde eine zunehmende kritische Sichtweise auf die Branche gemischt (vgl. u.a. Leif 2006; Resch 2005). Dabei richtet sich die Kritik sowohl auf zweifelhafte Geschäftspraktiken und Arbeitsweisen der Beraterinnen wie auch auf uneinlösbare Erfolgsversprechungen. Insbesondere die seit Beginn der neunziger Jahre konstatierbare Produktion stetig neuer Managementkonzepte und -moden hat zum wirtschaftlichen Erfolg der Branche beigetragen und eine Mythenspirale in Gang gesetzt (vgl. Deutschmann 1997). Die Erwartungen der Kunden nach größerer Handlungssicherheit und gestärkter Wettbewerbsfähigkeit als mögliches Resultat der Umsetzung dieser neuen Managementkonzepte wurden jedoch in der Regel eher enttäuscht (vgl. Kieser 1996). Diese Enttäuschungen sind allerdings weder alleiniges Ergebnis ›skrupelloser‹ Berater noch eines zunehmend intransparenter werdenden Beratungskomplexes (Leif 2006: 401). Vielmehr beruhen sie auf dem oben geschilderten grundlegendem Dilemma der Wissensgesellschaft. Die beraterische Expertise als zentrale Ressource und Kapital der Unternehmens- und Organisationsberatungen liegt heute nicht mehr in »zeitlich stabilen, sachlich allgemeinen, sozial konsensfähigen und operativ technologisierbaren Formen vor« (Willke 1998a: 115). Vielmehr ist sie in hohem Maße kontextabhängig. Die Relevanz und Wirksamkeit der eingebrachten Expertise hängt stark von den Spezifika der jeweiligen Organisation ab, in die sie eingebracht wird. Die »Anwendung« des dort eingebrachten Wissens selbst ist dabei als kreativer Akt und kollektiver Lern- und Produktionsprozess zu denken (Howaldt 2004: 213ff.). Über 252
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die Verwendung des Wissens entscheidet nicht der Berater, sondern vielmehr das beratene System nach Maßgabe der eigenen Funktionsweise und Regelsysteme. Damit aber verändern sich die Anforderungen an eine erfolgreiche Beratung grundlegend. Willke spricht in diesem Zusammenhang von einer »Komplizierung der Beratungsarbeit« (Willke 1998a: 116). Zum einen ist eine kontinuierliche (Neu-)Produktion der beraterischen Expertise notwendig, die im Kern ein gehobenes benchmarking darstellt: »Berater und andere Forscher suchen nach Beispielen für ›best-practise‹ in der Praxis, geleitet von der trivialen Richtschnur der wirtschaftlichen Performanz der Firmen« (ebd.: 122). Insofern schöpfen Beraterinnen ihr Wissen aus der Praxis, welche sie belehren sollen. Angesichts der wachsenden Professionalisierung der Praxis und ihrer zunehmenden Fähigkeit zur Fremd- und Selbstbeobachtung steigen die Ansprüche der potenziellen Kunden. Insofern können Beraterinnen den steigenden Anforderungen nur gerecht werden, indem sie die eigene Wissensarbeit professionalisieren und sich somit kontinuierlich einen immer neuen Wissensvorsprung erarbeiten. Aber die kontinuierliche Weiterentwicklung der beraterischen Expertise reicht nicht aus, um den wachsenden Anforderungen der Praxis gerecht werden zu können. Zum anderen ist eine spezifische Kompetenz erforderlich, dieses Wissen in angemessener Form in die zu beratende Organisation einzubringen, um Prozesse der Selbstveränderung zu induzieren. Es geht also um den Aufbau und die kontinuierliche Weiterentwicklung sowohl der beraterischen Expertise als auch der kontextspezifischen Beratungskompetenz. Dabei lassen sich im Bereich der Unternehmens- und Organisationsberatung drei Grundmodelle unterscheiden, die sich im Laufe der mehr als hundertjährigen Geschichte der Unternehmens- und Organisationsberatung entwickelt haben: 1. Die den deutschen Beratungsmarkt dominierende ›klassische‹ Unternehmensberatung versteht sich weitgehend als traditionelle Expertenberatung. Der Berater hat die Aufgabe, durch das Sammeln von Daten eine richtige Problemdiagnose zu stellen und dem Klienten die geeigneten Maßnahmen zur Problemlösung vorzuschlagen. Das Ergebnis der Beratung ist dann in der Regel ein schriftlicher Bericht (Gutachten) mit einer klaren Stellungnahme und Hinweisen zur Entscheidungsvorbereitung für das Klientensystem. Das Rollenverständnis ist im Sinne der von Schützeichel beschriebenen Expertenberatung durch das Verhältnis Experte/Laie geprägt. Dieses Beratungsmodell beruht auf einem naiven Wissens-, Beratungs- und Organisationsverständnis, welches die
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Möglichkeit der externen Einflussnahme durch »Wissen« schlicht unterstellt. 2. In Kritik an dem vorherrschenden betriebswirtschaftlich ausgerichteten Organisationsverständnis hat sich seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA die Theorietradition der Organisationsentwicklung (OE) herausgebildet (vgl. French/Bell 1994). Die OE ist entstanden, aus einer Kombination »eines neuen Untersuchungsprozesses mit echten sozialen Anliegen einer Gruppe von Praktikern, die Organisationen, Gemeinschaften, den Prozess der Erziehung und Führung verbessern wollten« (Schein 1993: 411). French/Bell definieren Organisationsentwicklung als »eine langfristige Bemühung, die Problemlösungs- und Erneuerungsprozesse in einer Organisation zu verbessern, vor allem durch eine wirksamere und auf Zusammenarbeit gegründete Steuerung der Organisationskultur […] durch die Hilfe eines OE-Beraters […] und durch Anwendung der Theorie und Technologie der angewandten Sozialwissenschaft […]« (1994: 31).
Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Organisationsmitglieder gelegt. Deren Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen sind Ausgangspunkt der Veränderungsstrategien. Die Beraterin sieht sich dabei nicht als mit einem spezifischen Fachwissen ausgestatteter Fachexpertin, sondern vielmehr als Expertin für die aktive Gestaltung von Veränderungsprozessen, die ihre Wertvorstellungen aktiv in den Veränderungsprozess einbringt. 3. Mit dem systemischen Beratungsansatz spielt sich seit Mitte der 80er Jahre zunehmend ein Ansatz in den Vordergrund insbesondere der sozialwissenschaftlichen Diskussion, der ausgehend von Entwicklungen der Systemtheorie und des radikalen Konstruktivismus die Komplexität von Interventionen zum Ausgangspunkt seiner Beratungstheorie macht. Organisationen werden in Anlehnung an Luhmann als komplexe operativ geschlossene soziale Systeme begriffen. Die zentrale Botschaft lautet, dass diese Systeme aufgrund ihrer Selbstreferentialität zwar von der Umwelt zu eigenen Operationen angeregt oder angestoßen, nicht aber determiniert werden können. Die Wahrnehmungen der Umweltereignisse, zu denen auch die Interventionen der Berater gehören, werden durch die interne Operationsweise des Systems, nicht aber durch das Ereignis selbst bestimmt. Deshalb ist die Beobachtung und Beschreibung dieser Operationsweise für erfolgreiche Beratung unerlässlich. Die wichtigste Voraussetzung zur Initiierung solcher Veränderungsprozesse ist dabei die Befähigung des Systems, sich eine eigene Problemsicht zu erarbeiten. Dabei kann die Beratung Entwicklungsimpulse 254
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setzen und Prozesse der Selbstveränderung initiieren. Der Fokus liegt dabei, anders als in den OE-Ansätzen, auf den hinter den handelnden Akteuren wirkenden Kommunikationsmustern und Entscheidungsregeln. Damit leistet die systemische Beratung als soziologisch inspiriertes Beratungskonzept einen wichtigen Beitrag zur Überwindung eines wesentlichen Mankos von Beratungsprozessen. Wie sich am Beispiel der Zeitberatung aufzeigen lässt, wendet sich Beratung häufig an einzelne Personen, wo Probleme zu behandeln wären, die sich auch sozialen Konstellationen ergeben (vgl. Schützeichel/Brüsemeister 2004) und eine Veränderung von sozialen Kommunikationsmustern, Regelsystemen und Handlungspraktiken erfordern.4 Wenn auch das Verhältnis von (Fach-)Expertise und innovativer Beratungskompetenz ein ungelöstes Problem des systemischen Ansatzes geblieben ist (vgl. u. a. Königswieser et al. 2005), so tritt mit diesem Beratungsverständnis die Komplexität von Beratung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Von besonderer Bedeutung für eine erfolgreiche Beratung ist dabei die Entwicklung eines spezifischen Beratungsdesigns und angemessener Interventionstechniken sowie eines sozialkompetenten Beraters, der die einzelnen Elemente kontext- und situationsspezifisch im Sinne des angestrebten Entscheidungs- und Veränderungsprozesses zu handhaben weiß (vgl. hierzu Howaldt 2004: 213ff.).
Fazit Die zunehmende Durchdringung aller gesellschaftlichen Funktionsbereiche durch Wissen als zentrales Kennzeichen der Wissensgesellschaft geht mit einem Aufschwung der Beratung einher. Gleichzeitig wurde deutlich, dass auch die Berater dem zentralen Dilemma der Wissensgesellschaft nicht entgehen, dass zunehmend alle gesellschaftlichen Teilbe-
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Genau in der Einbringung einer soziologischen Sichtweise, die die Ratsuchenden im Hinblick auf die soziale Dimensionen ihres Verhaltens sensibilisert, kann eine wichtige gesellschaftliche Funktion soziologisch inspirierter Beratung gesehen werden. So liegt eine wichtige Kompetenz einer soziologisch geschulten Organisationsberaterin darin, einen Beitrag zu einem vertieften Verständnis der Funktionsweise der Organisation und der Rolle der betrieblichen Akteure zu leisten. Dieses vertiefte Verständnis der Funktionsweise der Organisation ist Voraussetzung und erster Schritt der Veränderung der vorherrschenden Kommunikationsmuster, Regelsysteme und Handlungspraktiken. Dabei kann die Beraterin den Prozess der Entwicklung und Umsetzung betriebsspezifischer Konzeptionen ebenso unterstützen wie die Herausbildung und Stabilisierung von angemessenen Verhaltensweisen (vgl. Howaldt 2004: 218). 255
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reiche auf Wissen angewiesen sind, das Wissen selbst jedoch problematisch wird. Als Reaktion auf die wachsende Kritik hat die Beraterbranche inzwischen damit begonnen, »ihre Geschäftsmodell und Beratungsangebote zu differenzieren, auszubauen und ihr internes Beratungsmanagement zu reformieren« (Birke 2007: 237). Dies gilt nicht nur für die Unternehmens- und Organisationsberatung, sondern auch für andere zentrale Beratungskontexte wie etwa die Politikberatung. Auch diese hat sich parallel zur gesellschaftlichen Ausbreitung von Beratungsprozessen »erweitert, pluralisiert und ihr Selbstverständnis verändert. Neue Akteure und neue Orte machen die Politikberatungslandschaft unübersichtlicher und relativieren dadurch auch die Aussagen traditioneller Forschung über wissenschaftliche Politikberatung« (Heinze 2009: 6). Dabei wird zukünftig neben Anstrengungen zur kontinuierlichen Weiterentwicklung der Fachexpertise die Reflexion der grundlegenden Beratungskonzepte und Methoden, in deren Mittelpunkt ein reflektiertes Verständnis der Funktion von Wissen und beraterischer Expertise steht, wachsende Bedeutung erlangen. Wenn es gelingt, die mit der Beratung verbundenen konzeptionellen Herausforderungen aufzunehmen, wird Beratung ein zunehmend wichtigeres Element in der sich herausbildenden Wissensgesellschaft sein. Offen bleibt, in welchen Formen sich dieser Prozess der gegenseitigen Durchdringungen vollzieht. Die Durchdringung der Gesellschaft mit Beratung und die damit verbundene Weiterentwicklung der Beratungskonzepte und Strategien werden dabei in einem engen Wechselverhältnis zur Klientenprofessionalisierung stehen. Dabei soll darunter nicht nur die wachsende Professionalisierung der Kunden im Umgang mit Beratern verstanden werden (vgl. Mohe 2003), sondern vielmehr der umfassende Aufbau von Expertise und Reflexionsfähigkeit in der gesellschaftlichen Praxis im Zuge der »Verallgemeinerung des Forschungsverhaltens für prinzipiell alle gesellschaftlichen Handlungsbereiche« sowie der »Institutionalisierung reflexiver Mechanismen in allen funktional spezifischen Teilbereichen« (Weingart 2001: 16f.). Diese Entwicklungen erfordern zunehmend eine kontinuierliche Selbstreflexion der Beratungskonzepte wie auch der Möglichkeiten und Grenzen von Beratung.
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BERATUNG
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4 .5 Nic htw isse n: Entste hungs kontexte , Pluralisierung und Politisierung PETER WEHLING
Einleitung So genannte Wissensgesellschaften scheinen von einer eigentümlichen Paradoxie geprägt zu sein: In auffälliger Weise nimmt gerade in diesen Gesellschaften in zahlreichen Handlungskontexten sowie in öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatten die Bedeutung des Nichtwissens zu. So wächst beispielsweise in Kontroversen über neue Technologien und deren Risiken (Gentechnik, Nanotechnologie etc.) die Aufmerksamkeit für das Nicht-Gewusste, bis hin zur Debatte um ein »Recht auf Nichtwissen« im Kontext der prädiktiven Gen-Diagnostik. Dem entspricht in einer steigenden Zahl von wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsfeldern eine wenngleich noch immer randständige, so doch recht lebendige Beschäftigung mit Phänomenen des Nichtwissens, ihren Hintergründen, Implikationen und Bewertungen.1 Angesichts dessen hat Wolfgang Krohn schon in den 1990er Jahren die Wissensgesellschaft treffend als eine Gesellschaft beschrieben, »die in ständig wachsendem Maß über den Umfang und die Ebenen ihres Nichtwissens lernt« (Krohn 1997: 69). 1
Vgl. aktuell z.B. für die Wissenschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft Proctor/Schiebinger (2008), für die Philosophie Rescher (2009), für die Kulturwissenschaften Geisenhanslüke/Rott (2008), für das so genannte Wissensmanagement Schneider (2006) sowie für die Soziologie Wehling (2006) mit zahlreichen weiteren Literaturbelegen. Den Versuch einer disziplinübergreifenden Thematisierung unternimmt Wehling (2009). 259
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Wie lässt sich dies erklären, und inwieweit legt die zunehmende Bedeutung des Nichtwissens es nahe, auf die Verwendung des Begriffs »Wissensgesellschaft« zu verzichten oder diesen zumindest zu relativieren und zu differenzieren? Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich zunächst in aller Kürze einige Gründe und Hintergründe für die wachsende Relevanz des Nichtwissens sowie für eine sich verändernde gesellschaftliche Wahrnehmung der Wissenschaft erläutern. Daran anknüpfend möchte ich drei wichtige Unterscheidungen des Nichtwissens vorstellen und auf eine in den letzten Jahren beobachtbare Politisierung des Nichtwissens aufmerksam machen. Zum Abschluss werde ich auf die angesprochenen Fragen zurückkommen; ich werde versuchen zu verdeutlichen, dass sich die zunehmende Dynamik des Nichtwissens nur dann mit Hilfe der Zeitdiagnose »Wissensgesellschaft« erfassen lässt, wenn diese in einem kritisch-reflexiven Sinne verstanden und die Zunahme des Nichtwissens als »Schattenseite« des wachsenden Wissens analysiert wird. Eine solche Perspektive konterkariert die normativen und technokratischen Auffassungen der Wissensgesellschaft, die in der politischen und medialen Rhetorik vorherrschen.
Das Interesse am Nichtwissen und seine Hintergründe Das Nichtwissen hat schon lange und unter wechselnden Perspektiven wissenschaftlich-philosophische, öffentliche oder politische Aufmerksamkeit gefunden. Seit gut drei Jahrzehnten lässt sich eine in wesentlichen Aspekten neuartige Beschäftigung mit dem Nichtwissen beobachten und es ist kein Zufall, dass dabei vor allem das Nichtwissen der Wissenschaft in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geraten ist. Die Wissenschaft wird nicht mehr ausschließlich als diejenige Instanz wahrgenommen, die vorgefundene »Unwissenheit« durch wahres und sicheres Wissens ersetzt, sondern erscheint zugleich als Produzentin von Risiken, Ungewissheiten oder sogar »blankem« Nichtwissen. Die wichtigsten Gründe für diesen weitreichenden Perspektivenwechsel sind in zwei zeitlich parallelen, teilweise auch thematisch miteinander verknüpften Entwicklungen zu sehen. Erstens haben die seit den 1970er Jahren virulente »ökologische Krise« sowie die damit zusammenhängenden Auseinandersetzungen um technologische Risiken einem größeren Publikum vor Augen geführt, dass die Wissenschaft bei der Bearbeitung komplexer Problemlagen und Fragestellungen (Gefährdungen durch radioaktive Strahlung oder durch gentechnisch veränderte Organismen) an Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit stößt. Zunächst wurden diese Fragestellungen 260
NICHTWISSEN
in der Begrifflichkeit des »Risikos« thematisiert, doch schon recht früh wurde in Teilen der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und der Philosophie registriert, dass man es hierbei nicht in allen Fällen mit kalkulierbaren, d.h. prinzipiell bekannten Handlungs- und Entscheidungsfolgen zu tun hatte, sondern auch mit gänzlich unbekannten, unvorhersehbaren Effekten und Phänomenen. Statt nur von Risiko zu sprechen, wurde die Aufmerksamkeit deshalb zunehmend auf das Nichtwissen und den Umgang mit dem Unbekannten gelenkt (vgl. exemplarisch Collingridge 1980; Beck 1996). Hinzu kam die Erkenntnis, dass viele der fraglichen Probleme durch Wissenschaft und verwissenschaftlichte Technik erst erzeugt worden waren, ohne dass die Wissenschaft sie hätte antizipieren oder gar verhindern können. Paradigmatisch hierfür ist nach wie vor das so genannte »Ozonloch«, also die durch Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKW) bewirkte Schädigung der Ozonschicht in der oberen Erdatmosphäre, die nach dem Einstieg in die industrielle Herstellung und Nutzung dieser Substanzen zunächst völlig außerhalb des wissenschaftlichen Wahrnehmungshorizonts blieb und erst rund 45 Jahre später entdeckt wurde. Der britische Wissenschaftstheoretiker Jerry Ravetz (1990) prägte vor diesem Hintergrund den Begriff »science-based ignorance«, um deutlich zu machen, dass Nichtwissen nicht lediglich den vorgefundenen Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung darstellt, sondern ebenso die Folge des Einsatzes wissenschaftsbasierter Technologien sein kann. Er charakterisierte »science-based ignorance« als einen Mangel an Wissen über Zusammenhänge in der natürlichen Welt, die nur aufgrund menschlicher Intervention existieren. Daher sei dieses »beklagenswerte und gefährliche« Nichtwissen ebenso menschengemacht wie die entsprechenden Wirkungszusammenhänge selbst (ebd.: 217). Der zweite Grund, weshalb das wissenschaftliche Nichtwissen seit rund drei Jahrzehnten stetig wachsende Aufmerksamkeit findet, liegt an konzeptionellen Entwicklungen in der Wissenschaftsphilosophie, -geschichtsschreibung und -soziologie begründet. Die wichtigsten Stichworte hierfür sind das Aufkommen konstruktivistischer Perspektiven in der Wissenschaftssoziologie sowie ein neues Interesse der Wissenschaftsgeschichte und -philosophie an Experimentalsystemen, Messund Beobachtungsinstrumenten. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass Wissenschaft hierbei immer weniger als sprachliche oder mathematische Repräsentation der Wirklichkeit in (wahren) Theorien und Modellen begriffen wird, sondern als materiale Forschungspraxis, die in die physische oder soziale Realität eingreift. Diese Praxis ist notwendigerweise selektiv, indem sie bestimmte Phänomene und Zusammenhänge in den Vordergrund rückt und andere ausblendet. Sie beinhaltet eine aktive 261
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Umformung der Erkenntnisgegenstände, mit dem Ziel, diese überhaupt erst beobachtbar zu machen – wobei anderes unbeobachtet bleiben muss. Unter dieser Perspektive wurde allmählich erkennbar, dass Wissenschaft, gerade indem sie Wissen produziert, zugleich Nichtwissen hervorbringt, nämlich Nichtwissen der unbeobachteten Aspekte ihrer Erkenntnisobjekte, aber auch Nichtwissen von den Grenzen des gewonnenen Wissens. Die grundlegende Einsicht hierzu hatte bereits in den 1930er Jahren Ludwik Fleck formuliert, indem er auf den unauflösbaren Zusammenhang von »Erkennen« und »Verkennen« hingewiesen hatte.2 Offensichtlich hat Flecks Beobachtung, dass durch die Praktiken der Wissenschaft gleichzeitig Wissen und Nichtwissen produziert wird, jedoch erst in den letzten Jahrzehnten unter den Bedingungen ökologischer Gefährdungen größere Resonanz finden können. Ravetz und später auch Luhmann haben diesen Zusammenhang schließlich zu der These zugespitzt, mit steigender Komplexität des Wissens nehme auch das Nichtwissen zu – und zwar schneller als das Wissen (Ravetz 1986: 423; Luhmann 1997: 1106). Daraus erwächst eine gerade für »Wissensgesellschaften« ernüchternde und beunruhigende Konsequenz: Durch weiteres Wachstum des Wissens wird Nichtwissen nicht etwa progressiv verringert, sondern, ganz im Gegenteil, reproduziert und womöglich sogar vergrößert. Im Einzelnen sind es drei Aspekte der Forschungspraxis, die für die gleichzeitige Erzeugung von wissenschaftlichem Wissen und Nichtwissen verantwortlich sind und sich unter Umständen wechselseitig verstärken: erstens die Selektivität und Perspektivität wissenschaftlicher Theorien; zweitens die experimentelle Herauslösung (»Dekontextualisierung«) der Erkenntnisgegenstände aus ihren »realen« räumlichen, zeitlichen und materialen Kontexten; drittens die Konstitution neuer, unvorhergesehener Wirkungshorizonte und Ereignisräume durch die Produkte wissenschaftlicher Tätigkeit, z.B. durch FCKWMoleküle oder gentechnisch modifizierte Pflanzen (vgl. ausführlicher Wehling 2006: 264-273). Vor diesem Hintergrund wird ein wesentlicher theoretischer Aspekt der Problematik sichtbar: Nichtwissen in den skizzierten Formen und Zu2
»[…] um eine Beziehung zu erkennen, muß man manche andere Beziehung verkennen, verleugnen, übersehen« (Fleck 1935/1993, S. 44). Knapp 60 Jahre später formulierte Niklas Luhmann in seinem Aufsatz »Ökologie des Nichtwissens« sehr ähnlich, wenngleich ohne Bezug auf Fleck: »Jede Beobachtung bewirkt, daß die eine Seite einer Unterscheidung bezeichnet wird und die andere folglich unmarkiert bleibt« (Luhmann 1992: 155). Nichtwissen erscheint somit als »die andere Seite der Form des Wissens«, als eine »Grenze« des Wissens (ebd.: 159), die durch die Beobachtung selbst notwendigerweise mitproduziert wird.
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sammenhängen darf nicht mit »Irrtum« verwechselt werden. Lange Zeit war die Unterscheidung zwischen Irrtum und Nichtwissen im philosophischen wie im alltäglichen Denken nur schwer möglich, weil Wissen von vorneherein mit wahrem Wissen gleichgesetzt wurde, so dass Irrtum und Nichtwissen gleichermaßen als Mangel an (wahrem) Wissen erscheinen mussten (vgl. Luhmann 1990: 168-172). Doch wenn Wissenschaftler nicht antizipieren können, welche Folgen in der Umwelt oder im menschlichen Körper eine neuartige chemische Substanz, ein bestimmtes Medikament, eine genetisch modifizierte Pflanze haben können, dann verfügen sie gerade nicht über falsche Hypothesen und irrige Annahmen. Sie haben schlicht kein Wissen, keine Vorstellung (oder, wie im FCKW-Fall sogar keine »Ahnung«) von den möglichen Konsequenzen und wissen daher auch nicht, in welcher Form und in welchen Zeiträumen sie eintreten könnten. Somit kann Nichtwissen als fehlendes Wissen zumindest idealtypisch vom Irrtum als falschem oder unwahrem Wissen unterschieden werden (vgl. auch Rescher 2009: 1), auch wenn es im konkreten Fall Überschneidungen geben mag, etwa wenn bestimmte Annahmen deshalb fehlerhaft sind, weil sie unvollständig sind. Dass die Unterscheidung von Irrtum und Nichtwissen keineswegs nur eine akademische Spitzfindigkeit darstellt, unterstreicht der Blick auf die unterschiedlichen Problemlagen, die damit jeweils verbunden sind: Im Fall des Irrtums hat man Kenntnis von bestimmten Phänomenen und Zusammenhängen, interpretiert diese jedoch falsch; im anderen Fall aber weiß man nichts von diesen Zusammenhängen – und weiß dann noch nicht einmal, dass man sie nicht kennt, und kann daher auch nicht gezielt danach suchen. Einen weiteren wichtigen Kontext, worin Nichtwissen gegenwärtig besondere Aufmerksamkeit findet, stellt das so genannte »Wissensmanagement« in Organisationen dar. Hier steht weniger die gleichzeitige Produktion von Wissen und Nichtwissen im Vordergrund als vielmehr die Zunahme des Nichtwissens als Folge beschleunigten quantitativen Wissenswachstums. War Wissensmanagement zunächst primär darauf angelegt, möglichst viel Wissen in der Organisation zu sammeln und zu bewahren, so gewann in den letzten Jahren die Einsicht an Boden, dass es einen immer höheren individuellen und organisationalen Aufwand erfordern würde, die rapide anschwellende Daten- und Informationsflut zur Kenntnis zu nehmen und zu verarbeiten. »Wissenswachstum steigert die Menge dessen, was nicht verarbeitet werden kann«, lautet die lapidare Schlussfolgerung im Rahmen von Überlegungen zur »Neuorientierung des Wissensmanagements« (Howaldt et al. 2004: 80). Mit der Einsicht, dass ungebremster Wissenszuwachs kontraproduktiv sein kann, verändert sich die normative Bewertung. Plädiert wird nunmehr für »intel263
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ligente Wissensabwehr und intelligentes Vergessen im Sinne eines produktiven Umgangs mit Nichtwissen« (ebd.: 115), und Nichtwissen, verstanden als »positive« und »schützende Ignoranz«, wird sogar als »Erfolgsfaktor« begriffen (Schneider 2006). Die zunehmende Relevanz des Nichtwissens gerade in selbsternannten Wissensgesellschaften stellt offensichtlich nur vordergründig eine Paradoxie dar; tatsächlich ist sie gleichsam die »Kehrseite« der Schlüsselrolle, die dem Wissen, insbesondere dem wissenschaftlichen Wissen, gegenwärtig zugewiesen wird. Dennoch besagt der Hinweis auf die nach wie vor zentrale Rolle wissenschaftlichen Wissens nicht, dieses habe alle anderen Formen des Wissens gleichsam »kolonialisiert« und marginalisiert.3 Im Gegenteil, nicht zuletzt in Reaktion auf die expansiven Tendenzen und Hegemonieansprüche der Wissenschaft gewinnen auch nicht-wissenschaftliche Wissensformen gesellschaftlich an Bedeutung, vom Alltagswissen bis zu religiösen Überzeugungen. Gleichwohl darf dies nicht übersehen lassen, dass wissenschaftliches Wissen in eine wachsende Zahl sozialer Sphären eindringt – und sie nicht nur mit Wissensansprüchen konfrontiert, sondern auch mit zunehmenden Ungewissheiten und Nichtwissen (Wehling 2003).
Die Differenzierung und Politisierung des Nichtwissens Das Bild von der Dynamik des Nichtwissens in »Wissensgesellschaften« wäre unvollständig, wenn es lediglich den quantitativen Bedeutungszuwachs des Nicht-Gewussten herausstellte. Nicht weniger bemerkenswert und folgenreich ist die in den letzten Jahren sichtbar gewordene Politisierung des Nichtwissens und seiner sozialen Deutungen. Über lange Zeit hinweg wurde Nichtwissen im Selbstverständnis moderner, westlicher Gesellschaften idealtypisch nur in zwei Formen wahrgenommen: als »noch nicht erobertes Gebiet« (Bauman 1992: 295), d.h. als nur temporäres »Noch-Nicht-Wissen« der Wissenschaft, sowie als letztlich selbstverschuldete, moralisch fragwürdige, laienhafte »Unwissenheit« all derer, die sich dem Bemühen um wahres Wissen verweigern. Man kann alles wissen (sofern man die Welt mit geeigneten, d.h. 3
Eine herausgehobene Bedeutung von (wissenschaftlichem) Wissen anzuerkennen impliziert nicht zwingend, dass Wissen das entscheidende Strukturmerkmal der Gegenwartsgesellschaften sei. Vielmehr spricht vieles dafür, dass das zeitdiagnostische Etikett »Wissensgesellschaft« die fortbestehende Dominanz der ökonomischen Strukturen kapitalistischer Gesellschaften verdeckt.
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wissenschaftlichen Methoden untersucht) und man soll alles wissen, so lässt sich dieses moderne Credo zusammenfassen. Schon die Debatte um ein »Recht auf Nichtwissen« im Kontext der Humangenetik, d.h. ein Recht, im Interesse individueller Autonomie mögliches Wissen über genetische Dispositionen für zukünftige Krankheiten nicht zur Kenntnis zu nehmen, deutet darauf hin, dass die etablierten Wahrnehmungen des Nichtwissens und die darin eingeschriebenen normativen Bewertungen heute nicht mehr unangefochten gelten. Zu beobachten ist vielmehr eine Differenzierung, Pluralisierung und Politisierung der Deutungen des Nicht-Gewussten. Diese Entwicklung lässt sich in drei Dimensionen analysieren, in denen Nichtwissen jeweils unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden kann: 1) der Dimension des Wissens über das Nicht-Gewusste; 2) der Dimension der Intentionalität des Nichtwissens; 3) der zeitlichen Dimension der Dauerhaftigkeit (oder Reduzierbarkeit) des Nichtwissens. 1) Das Wissen (oder Nichtwissen) des Nichtwissens: Häufig haben wir eine recht genaue Kenntnis davon, was wir nicht wissen, während uns in anderen Situationen jede Vorstellung davon fehlt, was uns unbekannt bleibt. Nichtwissen kann somit danach unterschieden werden, bis zu welchem Grad es von sozialen Akteuren gewusst wird oder ihnen situativ bewusst ist. Idealtypisch stehen sich ausdrücklich gewusste, exakt spezifizierbare Wissenslücken auf der einen Seite, gänzlich unerkanntes Nichtwissen im Sinne völliger »Ahnungslosigkeit« auf der anderen Seite gegenüber, in der englischsprachigen Debatte zumeist als »unknown unknowns« bezeichnet. Während man im ersteren Fall mehr oder weniger gezielt nachforschen kann, bleibt im letzteren Fall nicht nur unerkannt, was man nicht weiß, sondern auch, dass man etwas nicht weiß. Seine besondere politische Brisanz gewinnt der Rekurs auf mögliche unknown unknowns dadurch, dass auf der Grundlage der verfügbaren empirischen Erkenntnisse häufig nicht definitiv zu entscheiden ist, ob wir uns in einer Situation relativ gesicherten Wissens oder unerkannten Nichtwissens befinden (vgl. Walton 1996: 140): Wissen wir, dass eine neu eingeführte Technologie (z.B. die Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen) keine schädlichen Folgen hat, wenn hierfür auch nach mehreren Jahren keine konkreten Hinweise vorliegen? Oder bedeutet dies lediglich, dass wir (wie im FCKW-Fall) »ahnungslos« sind, wo und wann sich unerwünschte Konsequenzen zeigen – falls sie nicht sogar schon eingetreten, aber noch nicht entdeckt oder kausal zugerechnet worden sind? 2) Die Intentionalität des Nichtwissens: Nichtwissen wird in dieser Dimension danach unterschieden, inwieweit es sich begründet auf das 265
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Handeln oder Unterlassen sozialer Akteure zurechnen lässt: Hätte man in einer bestimmten Situation mehr wissen können, wenn man gewollt hätte? Unter dem Aspekt der Intentionalität kontrastiert die ausdrückliche Zurückweisung mehr oder weniger bekannter Wissensinhalte durch soziale Akteure (bewusstes »Nicht-Wissen-Wollen«) mit dem Idealtypus eines vollkommen unbeabsichtigten und insofern »unvermeidbaren« Nichtwissens. Gerade bei Kontroversen um wissenschaftlich induzierte Probleme und Gefährdungen spielen Zwischenformen wie fahrlässiges, durch mangelnde Aufmerksamkeit, geringes Erkenntnisinteresse oder unzureichende Methoden bedingtes, aber nicht bewusst gewolltes (oder gezielt erzeugtes) Nichtwissen eine wichtige Rolle: War der »Contergan-Skandal« in den 1950er Jahren »unvermeidbar« oder hätte der Hersteller des Schlafmittels mit Hilfe sorgfältigerer Tests erkennen können, dass der vermeintlich ungefährliche Wirkstoff schwere Missbildungen bei menschlichen Föten auslöst? Solche Fragen bieten Raum für Auseinandersetzungen und Konflikte darüber, was man in einer gegebenen Situation hätte wissen können oder wissen müssen. Eingewoben in diese Unterscheidungsdimension des Nichtwissens sind kontroverse normative Bewertungen: Zwar gilt bewusstes Nicht-Wissen-Wollen in westlichmodernen Gesellschaften nach wie vor als moralisch zweifelhafte Haltung, doch das schon erwähnte »Recht auf Nichtwissen« oder die Rede von der »schützenden Ignoranz« illustrieren gleichwohl , dass der ausdrückliche Verzicht auf Wissen nicht mehr unter allen Umständen diskreditiert ist. 3) Die zeitliche Dauerhaftigkeit des Nichtwissens: Unterschieden werden kann Nichtwissen auch danach, ob und in welchen Zeiträumen es (vermutlich) in Wissen verwandelt werden kann. Hier stehen sich die Idealtypen eines immer temporären nur »Noch-Nicht-Wissens« sowie eines prinzipiell unüberwindbaren »Nicht-Wissen-Könnens« gegenüber. Moderne Gesellschaften gehen, wie erwähnt, von einer grundsätzlichen Vorläufigkeit des Nicht-Gewussten aus. Allerdings ist auch diese Wahrnehmung des Nichtwissens seit einigen Jahren nicht mehr gänzlich unangefochten, auch wenn sie ihre dominante Position keineswegs eingebüßt hat. In den Auseinandersetzungen um Gentechnik oder Nanotechnologie wird beispielsweise bezweifelt, dass sich die Konsequenzen solcher Technologien angesichts der Komplexität der involvierten Wirkungszusammenhänge vollständig erfassen und antizipieren lassen. Faktisch ausgeschlossen ist es auch, jemals hinreichendes Wissen über sämtliche möglichen Nebenfolgen und Wechselwirkungen aller rund 100.000 schon in die Umwelt freigesetzter Chemikalien zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund plädieren die Umweltforscher Jochen Jaeger 266
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und Martin Scheringer für einen weitreichenden Paradigmenwechsel, dessen Kern darin bestünde, »den Anspruch aufzugeben, alles Nichtwissen prinzipiell in Wissen überführen zu können, und das Selbstverständnis der Naturwissenschaften entsprechend zu reformieren« (Jaeger/Scheringer 2009: 132). In allen drei Dimensionen lässt sich beobachten, wie sich die Wahrnehmung des Nichtwissens seit einigen Jahren gesellschaftlich zunehmend differenziert und pluralisiert, so dass bislang fest verankerte, »klassisch« moderne Deutungsmuster in Konkurrenz zu neuen Interpretationen treten. Umstritten sind das Ausmaß, die Bewertung, die Gründe und die möglichen Folgen dessen, was nicht gewusst wird: Hat man es mit bloß temporärem oder mit unüberwindbarem Nichtwissen zu tun? Können Wissensdefizite auf unzureichende Erkenntnisbemühungen bestimmter Akteure zugerechnet werden oder waren sie unvermeidbar? Sind alle relevanten Wissenslücken bekannt oder muss man mit »unknown unknowns« rechnen, die möglicherweise fatale Folgen haben? Können wir darauf vertrauen, dass unerwartete Schadensereignisse wenigstens nach ihrem Eintreten erkannt werden, oder bleiben sie, wie das »Ozonloch«, auch dann noch über längere Zeiträume unentdeckt? Kann man dann einfach »abwarten«, ob sich negative Folgen einer Technologie zeigen, um dann gegebenenfalls korrigierend einzugreifen? Oder sollte man auf die Nutzung bestimmter Technologien verzichten, weil deren Wirkungen unvorhersehbar und unkontrollierbar sein könnten? Aus einer soziologischen Perspektive geht es hierbei weniger darum, welcher dieser Nichtwissensansprüche jeweils »korrekt« ist. Wichtiger ist vielmehr, dass die bislang dominierenden und häufig als »natürlich« wahrgenommenen Deutungen des Nichtwissens als bloßes Noch-NichtWissen und als moralisch fragwürdige Unwissenheit der Laien, ihre unbedingte Geltung verlieren und damit einen Raum der Pluralisierung und Politisierung öffnen. Unterschiedliche Akteure artikulieren jeweils eigensinnige Deutungen und Bewertungen des Nichtwissens, und die Interpretation des Nicht-Gewussten wird auf diese Weise zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen (vgl. Böschen et al. 2010). Welche Deutung sich gesellschaftlich durchsetzt, kann weitreichende Konsequenzen haben, beispielsweise in der Forschungs-, Technologie- oder Umweltpolitik. Diese Politisierung des Nichtwissens ist eng verknüpft damit, dass die Wissenschaft ihre Definitionshoheit über das NichtGewusste nicht mehr unangefochten aufrechterhalten kann, sondern sich mit alternativen Deutungen konfrontiert sieht. Wenn Wissenschaftler die Freisetzung genetisch veränderter Pflanzen für risikolos und sicher erklären, wird dieser Behauptung regelmäßig mit dem Verweis auf mögli267
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che unknown unknowns, auf gegenwärtig noch unbekannte und unvorhersehbare Effekte widersprochen, ohne dass dieses Gegenargument durch empirische Tatsachen widerlegt oder als grundsätzlich irrational abgewertet werden könnte.
Fazit: Nichtwissen – die Schattenseite der Wissensgesellschaft Die Bedeutungszunahme des Nichtwissens in den gegenwärtigen Gesellschaften stellt keine vorübergehende Anomalie dar, die sich durch weiteren Wissensgewinn beheben ließe, sondern erweist sich als Folge der steigenden Nutzung und Verbreitung von Wissen. Grundsätzlich können Theorien der Wissensgesellschaft dies analytisch erfassen, sofern sie ganz allgemein in der steigenden Relevanz und intensiven Nutzung von Wissen ein Charakteristikum gegenwärtiger Gesellschaften sehen. Und wenn diese Theorien anerkennen, dass »Wissensgesellschaften« durch die Vielfalt und das Spannungsverhältnis unterschiedlicher Wissensformen und -ansprüche geprägt sind, können sie auch der beschriebenen Pluralisierung des Nichtwissens Rechnung tragen. Szientistisch und technokratisch verkürzte Interpretationen jedoch, wie etwa die so genannte »Lissabon-Strategie« der Europäischen Union, wonach Wissensgesellschaften durch die Zunahme und expansive Verbreitung nur eines Wissenstyps, nämlich (natur-)wissenschaftlich-technischen Wissens, charakterisiert werden, greifen angesichts der Relevanz und politischen Dynamik des Nichtwissens entschieden zu kurz. Zweifelhaft wird vor allem der naive Fortschrittsoptimismus, den solche Theorien in der Regel verbreiten. Denn mehr (wissenschaftliches) Wissen bedeutet keineswegs die immer exaktere Beherrschung und Steuerung natürlicher oder sozialer Prozesse, sondern bringt sowohl neues Nichtwissen hervor als auch neue soziale Konflikte um die Bewertung dessen, was gewusst und was nicht gewusst wird. Nur wenn Konzepte der Wissensgesellschaft anerkennen, dass diese Gesellschaften wesentlich durch eine wachsende Rolle und zunehmende Politisierung des Nichtwissens geprägt werden, bewegen sie sich theoretisch wie politisch auf der Höhe des Geschehens. Insofern trägt der Blick auf das Nichtwissen wesentlich zur Differenzierung und kritischen Reflexion der Zeitdiagnose »Wissensgesellschaft« bei.
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4 .6 Ök ologie FRANZ LEHNER
Ökologie als Themenfeld der Wissensgesellschaft zu diskutieren macht sozialwissenschaftlich nur dann Sinn, wenn man von der Annahme ausgeht, dass sich mit der Entwicklung der Wissensgesellschaft die strukturellen Bedingungen für die Entstehung und Lösung ökologischer Probleme beträchtlich verändern. Wenn das nicht der Fall ist, ist die Transformation der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft in ökologischer Hinsicht belanglos. Zu der damit angesprochenen Frage nach den strukturellen Bedingungen von Ökologie in der Wissensgesellschaft gibt es noch keinen Forschungsstand, den man im Sinne eines üblichen Artikels für ein Handbuch referieren kann. Das liegt vor allem daran, dass Transformation der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass sich empirisch grundlegende Veränderungen feststellen lassen. Die ökologische Realität auch in den so genannten entwickelten Ländern ist immer noch weitgehend durch die Logik der modernen Industriegesellschaft bestimmt; die Wissensgesellschaft ist dagegen zunächst ökologisch noch eine Zukunftsperspektive. Vor diesem Hintergrund werde ich im Folgenden nach einer knappen Darstellung des hier zu Grunde gelegten Verständnisses von Wissensgesellschaft die mit der Transformation der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft verbundenen ökologischen Zukunftsperspektiven anhand von zwei gegenläufigen Hypothesen untersuchen. Die erste Hypothese postuliert, dass in der Wissensgesellschaft über eine konsequente Dematerialisierung von Wirtschaft und Alltagsleben eine grundlegende Lösung ökologischer Probleme möglich ist. Dematerialisierung heißt, dass eine bestimmte Leistung (z.B. Mobilität) mit weniger natürli271
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chen Ressourcen erstellt wird. Die zweite Hypothese behauptet, dass in der Wissensgesellschaft ökologische und andere Risiken wegen der Dynamik der Wissensproduktion und der Wissensverteilung drastisch zunehmen. Wie stark der eine oder der andere der in diesen Hypothese skizzierten Wirkungszusammenhänge zum Tragen kommt, hängt vor allem von unterschiedlichen möglichen Entwicklungspfaden der Wissensgesellschaft ab, die ich abschließend unter ökologischen Gesichtspunkten diskutieren werde.
Das Konzept der Wissensgesellschaft Ich gehe in diesem Beitrag von Peter Druckers Konzept der Wissensgesellschaft aus (Drucker 1969; 1994; siehe auch den Beitrag von Steinbicker in diesem Band). Drucker definiert die Wissensgesellschaft als eine Gesellschaft, deren zentrale wirtschaftliche Ressource Wissen, deren größte Herausforderung Ungleichheit auf der Basis von Wissen und deren politisches und gesellschaftliches System durch die starke Rolle von Organisationen geprägt ist. Damit verbunden ist eine starke Spezialisierung von Wissensproduktion und Wissen. Dieses Konzept trifft den politisch-ökonomischen Kern der Wissensgesellschaft gut, vernachlässigt aber zwei wichtige gesellschaftliche Sachverhalte, die auch in ökologischer Hinsicht von Bedeutung sind. Der eine Sachverhalt ist der Zusammenhang zwischen Wissen und Handlungsmöglichkeiten, den Stehr (1994; 2000) in seinen Analysen der Wissensgesellschaft betont; der andere ist die mit einer raschen Wissensentwicklung verbundene Ungewissheit und die sich daraus ergebenden Risiken (Lehner 2006). Diese Sachverhalte kann man durch die folgende Erweiterung von Druckers Definition einbeziehen: Eine Wissensgesellschaft ist eine Gesellschaft, deren zentrale wirtschaftliche und gesellschaftliche Ressource Wissen ist, deren größte Herausforderungen Ungleichheit und Risiken auf der Basis von Wissen sind und deren politisches und gesellschaftliches System durch die starke Rolle von Organisationen geprägt ist. Ich diskutiere die hier angesprochenen Dimensionen der Wissensgesellschaft im Folgenden mit einem starken Fokus auf ihre ökologische Bedeutung. Die zentrale Rolle von Wissen als wirtschaftliche Ressource bedeutet für Drucker (1994), dass Wissen nicht mehr bloß als »Hilfsfaktor« für den Einsatz von Kapital, Arbeit und natürlichen Ressourcen genutzt wird, sondern ein eigenständiger Produktionsfaktor geworden ist. Wertschöpfung entsteht also direkt aus dem Wissen und dessen Nutzung für intelligente Problemlösungen. Ein Beispiel dafür sind Werkzeugmaschinen, deren Wert noch vor wenigen Jahrzehnten durch den Wert 272
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der in ihr enthaltenen Materie und die Kosten für deren Bearbeitung bestimmt wurde. Heute macht das nur noch etwa 20% des Wertes einer Maschine aus, während der größte Teil in Entwicklungsleistungen, Software, Design und anderen Wissensnutzungen steckt. Das bietet, wie ich weiter unten noch ausführlicher darstelle, die Chance für eine weitreichende Dematerialisierung der wirtschaftlichen Produktion und damit für eine grundlegende ökologische Neuorientierung (Lehner/SchmidtBleek 1999). Wissen als zentrale gesellschaftliche Ressource ist unter ökologischen Gesichtspunkten eine zwiespältige Angelegenheit. Wie Stehr (2000) zeigt, ist die Wissensgesellschaft durch erweiterte und neue Handlungsmöglichkeiten vieler Akteure gekennzeichnet. Das schafft zunehmend Chancen und Möglichkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen und zu gestalten. In ökologischer Hinsicht ist diese »Machbarkeit« durchaus zwiespältig. Sie eröffnet zwar auf der einen Seite Chancen für eine nachhaltige Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklung, auf der anderen Seite birgt sie die Gefahr, dass die »Machbarkeit« auch für die Durchsetzung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen genutzt wird, die einer nachhaltigen Entwicklung entgegenstehen. Viel problematischer dürfte jedoch sein, dass die »Machbarkeit« von Entwicklungen oft bloß eine vermeintliche Machbarkeit ist und der Glaube an die Machbarkeit die Entwicklung einer ökologischen Risikogesellschaft verstärken kann. Die von Drucker (1969) als zentrale Herausforderung der Wissensgesellschaft bezeichnete Ungleichheit auf der Basis von Wissen (ungleiches Wissen und ungleicher Zugang zu Wissen) ist nicht nur in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht besonders wichtig, sondern auch in ökologischer. Mit Ungleichheit auf der Basis von Wissen sind Probleme von Macht und Organisierbarkeit verbunden, etwa die Chancen, allgemeine ökologische Interessen gegen spezielle Interessengruppen und Bürokratien zu organisieren. Zudem stellt die Verteilung von Wissen eine entscheidende Weichenstellung für den Entwicklungspfad der wissensbasierten Volkswirtschaft dar. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die starke Prägung der Gesellschaft und vor allem auch der Politik durch Organisation eine große ökologische Bedeutung. Drucker zufolge ist die große Bedeutung von Organisationen die Konsequenz der Ausdifferenzierung und Spezialisierung von Wissensproduktion und Wissen. Ihr Resultat bringt Drucker (1994: 45) auf die einfache Formel »From knowledge to knowledges«. Wissen bildet also keinen integrierten Zusammenhang mehr, sondern zerfällt in unterschiedliche Bestände, deren wechselseitige Bezüge oft nicht klar sind. Die Bedeutung von Organisation liegt darin, diese 273
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unterschiedlichen Wissensbestände zielgerichtet zusammenzuführen und weiterzuentwickeln. In ökologischer Sicht wirft das die Frage auf, ob und wie stark ökologische Ziele in den gesellschaftlichen Organisationsstrukturen verankert oder verankerbar sind. Mit dieser Frage ist ein breites Spektrum von Problemen angesprochen, so das Problem der Organisations- und Konfliktfähigkeit ökologischer Interessen oder das der Möglichkeiten und Grenzen Ökologie so zu institutionalisieren, dass sie zu einem für alle Organisationen, insbesondere auch Unternehmen und Bürokratien, zwingenden Handlungskontext wird, Das sind keine neuen Probleme und auch keine spezifischen Probleme der Wissensgesellschaft. Sie könnten allerdings in der Wissensgesellschaft zu anderen Lösungen führen als in der Industriegesellschaft, wenn das von Stehr (2000) hervorgehobene emanzipatorische Potenzial des Wissens zum Tragen kommt.
Die Chancen der Dematerialisierung Ökologie ist ein breites und vielschichtiges Thema. Deshalb muss man erst einmal klären, wie man Ökologie operational definieren will, bevor man die Frage nach den ökologischen Bedingungen der Wissensgesellschaft stellt. Gegenwärtig steht in den meisten Debatten über Ökologie aus guten Gründen der Klimawechsel im Vordergrund. Dem schließe ich mich hier einfach deshalb nicht an, weil das Klima von einer Vielzahl von Faktoren abhängt und wir es deshalb mit komplexen Wirkungszusammenhängen zu tun hätten. Ich verwende hier, Friedrich SchmidtBleek folgend, einen einfachen Indikator für ökologische Probleme, nämlich den Ressourcenverbrauch. Schmidt-Bleek (1994; 1998) hat ein einfaches, aber weit reichendes Konzept für das Verständnis und die Lösung ökologischer Probleme entwickelt – das MIPS-Konzept. MIPS heißt »Material-Intensität pro Serviceeinheit« (Schmidt-Bleek 1994: 108). Mit diesem Konzept werden anstelle der von den Menschen verursachten Umweltschäden die durch die Menschen in Bewegung gesetzten Stoffströme und deren Auswirkungen auf die Ökosphäre in den Fokus der Analyse gerückt. Damit werden ökologische Probleme am Ressourcenverbrauch oder der Beeinflussung von Stoffströmen festgemacht. Bei vielen dieser Probleme ist dieser Zusammenhang direkt erkennbar. Im MIPS-Konzept wird der Ressourcenverbrauch mit dem durch ihn erzeugten Nutzen verknüpft. Das ist mit dem Begriff Materialintensität pro Serviceeinheit gemeint. Hinter dieser Verknüpfung steckt der vernünftige Gedanke, dass sich ökologische Probleme politisch und wirt274
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schaftlich nur schwer lösen lassen, wenn damit beträchtliche Wachstums- und Wohlstandseinbußen verbunden sind. Deshalb setzt diese Idee auf die Ressourcenproduktivität und darauf, einen bestimmten ökonomischen Nutzen mit einem viel geringeren Verbrauch zu erzielen. SchmidtBleek geht davon aus, dass die Ressourcenproduktivität in einem Zeitraum von wenigen Jahrzehnten um den Faktor 10 gesteigert werden kann – was heißen würde, dass der jetzige Wohlstand mit einem Zehntel des heutigen Ressourcenverbrauches produziert werden könnte (Schmidt-Bleek 1998: 17). In der Industriegesellschaft bleibt dieser Anspruch unerfüllbar. Die wirtschaftliche Produktion der Industriegesellschaft ist weitgehend gleichgesetzt mit materieller Produktion, also mit der Be- und Verarbeitung von Rohstoffen. Das gilt selbst für viele Dienstleistungen, weil ihre Produkte definitionsgemäß zwar immateriell sind, deren Herstellung aber mit großen materiellen Produktionsapparaten (z.B. EDV und logistische Strukturen) verbunden ist. Die industrielle Massenproduktion ist eine Durchsatzwirtschaft, in der mit einem möglichst geringen Einsatz von Arbeit möglichst große Mengen von Material in Güter transformiert werden. In den meisten Dienstleistungen ist das ganz ähnlich – mit einem hohen Einsatz von Material in Form von Geräten, Anlagen und Energie werden mit hoher Arbeitsproduktivität große Mengen von weitgehend standardisierten Versicherungs-, Banken-, Beratungs- oder Betreuungs- und andere Leistungen erbracht. Auf der kulturellen Seite ist das verbunden mit der Erwartung, auch mit einem bescheidenen Einkommen einen großen materiellen Konsum zu erreichen (Lehner/ Schmidt-Bleek 1999). In der Wissensgesellschaft sieht das anders aus. In dem Ausmaß, in dem Wissen tatsächlich zur zentralen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ressource wird, bieten sich Chancen und Möglichkeiten, Ressourcen durch Wissen zu substituieren. Zudem nimmt die Bedeutung von Primärgütern ab und die von symbolischen Gütern (z.B. Forschungsergebnisse, Informationen, Finanzprodukte) zu (Stehr 2001). Darüber hinaus dürfte sich der in der entwickelten Industriegesellschaft zu beobachtende Trend zu einer Ablösung von Massenproduktion durch einzelkundenorientierte Qualitätsproduktion und zur Transformation der Massenproduktion in eine kundenindividuelle Massenproduktion weiter verstärken(Piore/Sabel 1989). Damit eröffnen sich Chancen, die Wirtschaft der Wissensgesellschaft zu einer »Maßwirtschaft« (Lehner/Schmidt-Bleek 1999: 44) zu entwickeln, die Güter und Dienstleistungen liefert, welche auf die Bedürfnisse und Wünsche der Kunden zugeschnitten sind und diese mit einem möglichst geringen Ressourceneinsatz herstellt. Dabei verlagert 275
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sich mit zunehmender Wissensnutzung durch Produzenten und Konsumenten der Fokus von einzelnen Gütern und Dienstleistungen zu Problemlösungen, die spezifisch auf die konkreten Probleme der Kunden zugeschnitten sind und effizient hergestellt werden. Diese Veränderung des Fokus hin zu intelligenten Problemlösungen wird gefördert durch offene Innovationssysteme und eine interaktive Wertschöpfung von Produzenten und Kunden, in welcher Kundenwissen und Produzentenwissen systematisch miteinander verknüpft werden (Reichwald/Piller 2006). All dies ist gegenwärtig noch mehr Vision als Realität. Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass sich die Wirtschaft der Wissensgesellschaft zwangsläufig zu einer Maßwirtschaft entwickeln wird. Zwar kann man eine Reihe von Faktoren nennen, die eine solche Entwicklung fördern. Dazu gehören beispielsweise die Individualisierung und positive Effekte zunehmenden Wissens auf die Konsumentensouveränität, aber auch die Flexibilität wissensgestützter Arbeitssysteme. Zudem eröffnet Wissen auch erweiterte Handlungsmöglichkeiten, etwa bezüglich der Nutzung erneuerbarer Energien, der ökoeffizienten Gestaltung von Produktionsprozessen oder der Einführung und Gestaltung von Kreislaufwirtschaft. Die Wissensgesellschaft ist jedoch, wie Stehr (2000) zeigt, eine ebenso komplexe wie fragile Gesellschaft. Das liegt daran, dass Wissen nicht nur Handlungsmöglichkeiten eröffnet, sondern auch mit beträchtlichen Risiken verbunden ist.
D i e Ri s i k e n d e s Wi s s e ns Die Wissensgesellschaft wird von Drucker (1969) nicht als Ergebnis eines radikalen Bruchs in der gesellschaftlichen Entwicklung dargestellt, sondern als das eines evolutionären Prozesses. Diesen Prozess kann man im Kern beschreiben als eine zunehmende Durchdringung von Wirtschaft und Gesellschaft durch Wissen (Stehr 2000). Die Grundlage dieser Entwicklung ist eine sich beschleunigende Wissensproduktion (Spinner 1998), die allerdings mit einer einer hohen Spezialisierung und oft wechselhaften Strukturen der Wissenserzeugung verbunden ist (Drucker 1994; Gibbons et.al. 1994). Diese Sachverhalte markieren nicht nur wichtige Triebkräfte, sondern auch wichtige Risikofaktoren der Wissensgesellschaft, insbesondere ein hohes Maß an Unsicherheit. Zwei Punkte sind dabei besonders wichtig. Der erste Punkt ist die weiter oben schon angesprochene Ausdifferenzierung und Spezialisierung von Wissen, also die Aufteilung von Wissen in spezialisierte Wissensbestände, die jeweils nur von einer kleinen Zahl von Spezialisten verstanden werden und die oft nicht oder nur 276
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schwach miteinander verknüpft sind (Drucker, 1994). Das heißt konkret, dass mögliche Zusammenhänge zwischen Wissensbeständen oder deren Anwendungen nicht oder nur teilweise bekannt sind. In der Praxis führt das oft zu unerwünschten Konsequenzen von Lösungen, die auf bestimmten Wissensbeständen aufbauen und andere vernachlässigen, und zu unkontrollierbaren Entwicklungen. Ein Beispiel sind negative Auswirkungen von Bio-Energie-Pflanzungen auf die Nahrungsmittelproduktion. Einen weiteren wichtigen Risikofaktor bildet die oft unzureichende empirische Prüfung von Wissen vor seiner Anwendung. Das liegt nicht nur an dem hohen Erzeugungstempo selbst, sondern an der durch ein hohes Tempo begünstigten Nutzung von Wissen in interaktiven Innovationsprozessen. Auch das führt zu unsicheren Folgen und Entwicklungen. (Lehner 2004). Die mit der modernen Wissensproduktion verbundene Unsicherheit steht in einem bemerkenswerten Spannungsfeld mit den durch neues Wissen eröffneten Handlungsmöglichkeiten und der daraus resultierenden »Aneignung von Natur« und deren »allmähliche Umwandlung in ein menschliches Produkt« (Stehr, 2000: 79. Da die jeweiligen Akteure oft nur mit ganz bestimmten spezialisierten Wissensbeständen operieren, sind ihnen in vielen Situationen weder die mangelnde Vorhersagbarkeit von Entwicklungen noch die nicht absehbaren Konsequenzen ihres wissensbasierten Handelns bewusst. Ihre spezielle Wissensbasis und die Vernachlässigung übergreifender Zusammenhänge geben ihnen vielmehr scheinbar klare Handlungsmöglichkeiten vor und verbergen deren Risiken. Dies Problem ist zwar nicht neu, wird aber durch das Tempo und die Ausdifferenzierung der Wissensproduktion massiv verschärft. Die hier kurz umrissenen Zusammenhänge zeigen, dass in der Wissensgesellschaft Wissen nicht nur die zentrale Ressource, sondern auch der zentrale Risikofaktor ist. Mit der Entwicklung der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft wird das Ungewissheitsproblem zunehmend auf den Kopf gestellt. In der Industriegesellschaft war Ungewissheit zumeist die Folge mangelnden Wissens. Das Ungewissheitsproblem war deshalb durch Wissenserzeugung oder Wissensbeschaffung prinzipiell lösbar. In der Wissensgesellschaft ist Ungewissheit dagegen das Problem von zu viel Wissen und zu vielen durch Wissen eröffneten Handlungsmöglichkeiten. Es wird deshalb durch Wissenserzeugung oder Wissensbeschaffung nicht gelöst, sondern verschärft (Lehner 2004). Ob und inwieweit das Tempo und die Formen der Wissensproduktion in der Wissensgesellschaft tatsächlich Risiken, insbesondere ökologische Risiken, verstärken und zu einer Risikogesellschaft im Sinne von Beck (1997) führen, hängt von der konkreten Strukturierung der Wis277
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sensgesellschaft ab. Strukturierung heißt hier konkret die Art und Weise, in der Wissen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen aufgenommen, verteilt, organisiert, institutionell kanalisiert und in Handlungsvermögen umgesetzt wird. Wissensgesellschaften sind, wie Stehr (2000) zeigt, als reale Gesellschaften keine einheitlich konfigurierten Gesellschaften – ebenso wenig, wie es die realen Industriegesellschaften sind. Ähnlich wie die Industriegesellschaften beispielsweise unterschiedliche Formen und Ausprägungen der Einkommensverteilung, der sozialen Schichtung und unterschiedliche Machtstrukturen aufweisen, werden in den realen Wissensgesellschaften die Produktion, Teilung und Zusammenführung sowie die Verteilung von und der Zugang zu Wissen unterschiedlich strukturiert sein. Diese komplexen Zusammenhänge will ich an einem einfachen Beispiel kurz illustrieren. Die Wissensgesellschaft wird – unter anderem in der Lissabon-Strategie der Europäischen Union – ökonomisch oft gleichgesetzt mit einer Volkswirtschaft, die noch mehr als die Industriegesellschaft durch Spitzenforschung und Hochtechnologie getrieben wird. Dabei wird allerdings eine wichtige Konsequenz des hohen Tempos der modernen Wissensproduktion und des exponentiellen Wachstums des Wissens übersehen, welche Lundvall und Johnson (1994: 25) auf den einfachen Punkt »knowledge is abundant, but the ability to use it is scarce« gebracht haben. Nach der ökonomischen Logik müsste der hier konstatierte Überfluss an Wissen auf den ersten Blick zu einer Verlangsamung der Wissensproduktion führen, weil es sich zumindest für wirtschaftliche Akteure nicht mehr lohnt, knappe Mittel für die Beschaffung eines Produktionsfaktors aufzuwenden, der im Überfluss vorhanden ist. Diese Schlussfolgerung würde jedoch zu kurz greifen, weil auch ein genereller Überfluss an Wissen das Schumpetersche Gesetz, wonach Unternehmen an der Spitze von Forschung und Technologie für kürzere oder längere Zeit über ein temporäres Monopol hohe Profite erwirtschaften können, nicht aushebelt. Deshalb bleiben das Tempo der Wissensproduktion und die Bedeutung von Spitzenforschung und Hochtechnologie hoch – womit sich der Überfluss an ungenutztem Wissen tendenziell vergrößert. Dieser Überfluss eröffnet jedoch einen zweiten Weg zur ökonomischen Entwicklung der Wissensgesellschaft, nämlich den über eine rasche und breite Diffusion neuen Wissens (Lehner 2004; 2006). Je nachdem welcher Weg (oder welche Verknüpfung beider Entwicklungsdimensionen) durch die Unternehmen in einer bestimmten Volkswirtschaft und durch die Wirtschaftspolitik verfolgt wird, gestalten sich die Folgen und Risiken der Entwicklung der Wissensgesellschaft unterschiedlich. Pointiert formuliert sinken bei einem einseitig durch Spitzenforschung und Hochtechnologie geprägten Weg zur Wissensge278
ÖKOLOGIE
sellschaft die Chancen einer raschen Dematerialisierung, während die oben beschriebenen Risiken der modernen Wissensproduktion zunehmen. Eine rasche Dematerialisierung von Produktion und Konsum ist nur dann möglich, wenn viele, im Idealfall alle Wirtschaftszweige ihre Ressourcenproduktivität durch Nutzung neuen Wissens steigern. Das setzt eine rasche und breite Diffusion von Wissen voraus. Die Umsetzung der Ergebnisse von Spitzenforschung in Produkte und deren Markteinführung beanspruchen dagegen oft viel Zeit. Ihre unintendierten Konsequenzen oder Nebenwirkungen zeigen sich zum Teil erst im Rahmen der Anwendung. Neue Medikamente, die vom Markt genommen werden müssen oder neue Technologien in Autos, die ebenfalls in Rückrufaktionen münden, sind Beispiele dafür.
Fazit Die in diesem Beitrag diskutierte Frage nach den ökologischen Bedingungen der Wissensgesellschaft (im Unterschied zur Industriegesellschaft) lässt sich nicht klar und eindeutig beantworten. Die Entwicklung der Wissensgesellschaft bietet zwar Chancen, ökologische Probleme durch eine konsequente Dematerialisierung systematisch zu lösen, ist aber auch mit der Gefahr verbunden, dass sich die Wissensgesellschaft noch mehr als die Industriegesellschaft zu einer Risikogesellschaft entwickelt. Da der Transformationsprozess von der Industrie- zur Wissensgesellschaft ein komplexer Evolutionsprozess ist, der in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich abläuft und zu unterschiedlichen konfigurierten Wissensgesellschaften führt, lässt sich schwer absehen, wie sich Chancen und Risiken schließlich entfalten. Selbst für eine konditionale Abschätzung fehlt gegenwärtig noch das notwendige theoretische und empirische Wissen.
Literatur Drucker Peter F., (1969): The Age of Discontinuity: Guidelines to Our Changing Society, New York: Harper & Row. Drucker Peter F., (1994): Post-Capitalist Society, New York: Harper Business. Gibbons, Michael et al. (1994): The New Production of Knowledge: The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London: Sage. 279
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Lehner Franz (2004): »Technik und Arbeit in der wissensbasierten Volkswirtschaft. Eine theoretische Skizze zum Strukturwandel der Wirtschaft«. In: Rasch, Manfred/Bleidick, Dietmar (Hg.): Technikgeschichte im Ruhrgebiet – Technikgeschichte für das Ruhrgebiet, Essen: Klartext. Lehner Franz (2006): »Wissensnetze in der wissensbasierten Volkswirtschaft«. In: Blecker, Thorsten/Gemünden, Hans G. (Hg.): Wertschöpfungsnetzwerke, Berlin: Erich Schmidt. Lehner, Franz/Schmidt-Bleek, Friedrich (1999): Die Wachstumsmaschine. Der ökonomische Charme der Ökologie, München: Droemer. Lundvall Bengt-Åke/Johnson B. (1994): »The learning economy«. In: Journal of Industry Studies 1 (2). Piore, Michael J./Sabel, Charles (1989): Das Ende der Massenproduktion, Frankfurt: Fischer. Reichwald, Ralf/Piller, Frank (2006): Interaktive Wertschöpfung. Open Innovation, Individualisierung und neue Formen der Arbeitsteilung, Wiesbaden: Gabler. Schmidt-Bleek, Friedrich (1994): Wieviel Umwelt braucht der Mensch? MIPS – Das Maß für ökologisches Wirtschaften, Berlin u.a.: Birkhäuser. Schmidt-Bleek, Friedrich (1998): Das MIPS-Konzept. Weniger Naturverbrauch – mehr Lebensqualität durch Faktor 10, München: Droemer. Spinner, Helmut (1998): Die Architektur der Informationsgesellschaft, Bodenheim: Philo. Stehr, Nico (1994): Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Stehr, Nico (2000): Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, Weilerswist: Velbrück. Stehr, Nico (2001): Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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4 .7 Ra um und Wisse n MARKUS SCHROER
Das Verhältnis von Raum und Wissen gerät erst in jüngster Zeit verstärkt in den Blick (vgl. Meuseburger 2005; Matthiesen 2005). Das ist insofern überraschend, weil die Aneignung, Verbreitung und Bewahrung von Wissen immer schon einen räumlichen Bezug aufgewiesen hat. Archive, Bibliotheken, Labore, Schulen, Universitäten, ja selbst Salons, Clubs und Kaffeehäuser sind nachgerade klassische Orte der Generierung, des Austauschs und der Vermittlung von Wissen (vgl. Burke 2001). Die Diskussion um die gewachsene Bedeutung des Wissens für die gegenwärtige Gesellschaft ist dagegen von der These eines zunehmenden Irrelevantwerdens des Raums geprägt. Räumliche Gegebenheiten sollen in einer Gesellschaft, die sich zunehmend über Wissen definiert, keine Rolle mehr spielen. Wissen gilt in diesem Kontext vor allem aufgrund der Entwicklung der neuen Medien und der damit einhergehenden kommunikativen Verbreitung von Wissensbeständen als ubiquitär. Dieser Einschätzung nach ist die Wissensgesellschaft »atopisch« organisiert, losgelöst von jeglichen Raumbezügen (vgl. Willke 2001). Im Zuge des spatial turn, der mittlerweile die gesamten Sozial- und Kulturwissenschaften erfasst hat (vgl. Döring/Thielmann 2008), wird dieser These mit der Erforschung wissensdominierter Räume und räumlichen Wissens entgegen getreten. Statt es bei der Aussage zu belassen, Wissen verbreite sich universell und könne von überall her abgerufen werden, geht es in der wissenssoziologisch orientierten Raumsoziologie um Raum konstituierendes Wissen und wissensbasierte Raumkonfigurationen (vgl. Berking 2004). Obwohl wir schon seit der Verbreitung des Buchdrucks nicht mehr davon ausgehen können, dass sich wissenschaft281
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liches Wissen auf bestimmte Orte – etwa Klöster und Universitäten – konzentriert, wäre es doch auch für die gegenwärtige Gesellschaft illusorisch, eine flächendeckende und lückenlose Verbreitung des Wissens vorauszusetzen und anzunehmen, dass Orte sich nicht mehr danach unterscheiden, in welchem Ausmaß und in welcher Geschwindigkeit sich Wissen in ihnen ansammelt und von ihnen aus verbreitet. Hinzu kommt, dass sich etwa Städte, Universitäten und Schulen heute in sehr viel stärkerem Maße dem internationalen Vergleich und der globalen Konkurrenz ausgesetzt sehen als in der Zeit, in denen sie sich in einer Art »nationalem Schlummer»« befanden. Um die Aufmerksamkeit des wissensbasierten Milieus bzw. der »kreative Klasse« (Florida 2002) auf sich ziehen zu können, um lukrative Unternehmen, intelligente Studierende und überragende Wissenschaftler an sich binden zu können, setzen sich Standorte zunehmend entsprechend als Wissenschaftsstädte oder Wissensregionen in Szene. Der verbreiteten Vorstellung von der Raumunabhängigkeit des Wissens soll deshalb im Folgenden mit der These begegnet werden, dass Wissen sämtliche Räume durchdringt und es folglich immer weniger wissensfreie Räume gibt. Dabei ist es gerade die massive Verbreitung des Wissens, die die traditionellen Institutionen des Wissens (Universitäten, Schulen, Bibliotheken usw.) dazu motiviert, sich als distinkte Orte des Wissens zu inszenieren. Die Investitionen in die Sichtbarkeit der Bildungseinrichtungen via Homepageauftritte, Architekturen, Werbematerial, Emblemen etc., ist als Antwort auf den schleichenden Bedeutungsverlust der klassischen Bildungsinstitution zu lesen, der sich in der fragmental differenzierten Gesellschaft (vgl. Rammert 2003) vollzieht. Wie andere Akteure auch, befinden sich Universitäten und Schulen in einem Kampf um Aufmerksamkeit (vgl. Schroer 2007).
Räume, Orte, Wissen Schon die Semantik informiert über die engen Bezüge von Raum und Wissen: Wissen eröffnet neue Horizonte; innovatives Wissen wird als Bahn brechend oder Weg weisend verstanden; man unterteilt Wissen nach Wissensfeldern oder Wissensgebieten, über die man sich einen Überblick verschaffen kann; für die Teilnahme an einem Seminar wird ein bestimmter Stand des Wissens vorausgesetzt usw. Wissen und Raum sind aber auch deshalb elementar miteinander verbunden, weil Wissen nie punktuell bleibt, sondern sich fortsetzt, verknüpft und damit einen Raum aufspannt, einen Wissensraum, der sich aus Klassifikationen, einzelnen Sektionen und Regionen zusammensetzt. Auch das menschliche 282
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Instrument des Denkens und primäre Organ der Wissensverarbeitung, das Gehirn, wird bis in die neuesten Untersuchungen der Neurobiologie hinein in verschiedene Areale unterteilt, die für die Wahrnehmung und Speicherung von unterschiedlichen Wissensformen zuständig sein sollen (vgl. Roth 2003). Das Erlernen von Raumbezügen ist eines der zentralen entwicklungspsychologischen Vorgänge während der kindlichen Sozialisationen (vgl. Piaget/Inhelder 1975). Für die Soziologie schließlich ergibt sich der Zusammenhang von Raum und Wissen zunächst aus dem Befund, dass sie zu wenig Wissen über den Raum akkumuliert hat (vgl. Schroer 2006). Über weite Strecken kommt das Fach ohne eine direkte Bezugnahme auf die Kategorie des Raums aus. Die Wissenssoziologie teilt diese Vernachlässigung mit der Soziologie insgesamt. Ob bei Max Scheler, Karl Mannheim oder Peter Berger und Thomas Luckmann: Eine Auseinandersetzung mit der Kategorie des Raums findet in den klassischen Positionen allenfalls am Rande statt. Erst in jüngster Zeit scheint sich eine Wende abzuzeichnen. Bei Michel Foucault (1988) und Bruno Latour (2000) finden sich prominente Versuche, Wissen und Raum explizit miteinander zu verbinden, wobei in Foucaults Ansatz Macht als verbindende Instanz wischen Raum und Wissen fungiert, während es Latour vor allem um die Berücksichtigung räumlicher Artefakte bei der Analyse des Sozialen geht. Für den vorliegenden Zusammenhang zentral ist der Vorschlag von Werner Rammert (2003), auf die funktionale Differenzierung eine »fragmentale Differenzierung« folgen zu lassen. Um diese Differenzierungsform ergänzt er die Klassifikation Niklas Luhmanns, der lediglich die segmentäre, stratifikatorische und funktionale Differenzierungsform unterscheidet, ohne auf die räumliche Dimension der Differenzierungsformen näher einzugehen. Rammert ordnet allen vier Differenzierungsformen ein spezifisches »Regime der Wissensproduktion« (ebd., S. 484ff.) zu, die jeweils einen unterschiedlichen räumlichen Bezug aufweisen. Die segmentäre Differenzierung zeichnet sich nach Rammert durch eine »lokale und verstreute Wissensproduktion« aus. Dieser nach Familien, Clans und Stämmen gegliederte Gesellschaftstyp verfügt noch nicht über Möglichkeiten der Zentrierung und Koordination des Wissens, sondern verstreut das gleiche Wissen über viele Plätze hinweg. Die stratifikatorische Differenzierung weist dagegen eine »universelle und zentrierte Wissensproduktion« auf. Klöster, Universitäten und städtische Gilden entwickeln sich zu herausragenden und exklusiven Orten der Ansammlung und des Austauschs von relevantem Wissen. Die funktionale Differenzierung ist durch ein »Regime komplementärer und disziplinär spezialisierter Wissensproduktion« geprägt. Statt einer Verstreuung oder Zentrierung haben wir es mit einer Konzentrierung und Spezialisierung 283
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zu tun, bei der jedes Teilsystem sein eigenes Wissen erzeugt und das wissenschaftliche Wissen ein nie gekanntes Ausmaß an institutioneller Autonomie und Selbststeuerung erhält. In der fragmental differenzierten Gesellschaft schließlich herrscht eine heterogene und verteilte Wissensproduktion vor. Damit ist vor allem gemeint, dass die für die funktional differenzierte Gesellschaft typische Autonomie und Exklusivität der wissenschaftlichen Wissensproduktion zunehmend unterlaufen wird durch die wachsende Anzahl alternativer Anbieter von Wissen und wissenschaftlichen Forschungsprojekten. Die fragmentale Differenzierung unterscheidet sich von der funktionalen dadurch, dass »die gereinigte Trennung disziplinären Wissens [...] zugunsten von Heterogenität, Kohärenz und Reflexivität aufgegeben wird« (ebd.). Allerdings ist dabei nicht von einer restlosen Ablösung der funktionalen Differenzierungsform und der ihr eigenen Wissensproduktion durch die fragmentale Differenzierungsform und deren Regime der Wissensproduktion auszugehen: »Funktional spezialisierte Institutionen und gereinigte wissenschaftliche Disziplinen bleiben beide wichtige Faktoren auf der Hinterbühne der fragmentierten Gesellschaft, aber sie verlieren ihr Privileg allein auf der Hauptbühne aufzutreten, wo jetzt institutionell gemischte Netzwerkformen und epistemisch transdisziplinäre Expertenkulturen die prominenten Rollen übernehmen.« (Rammert 2003, S. 288) Der Übergang von der funktionalen zur fragmentalen Differenzierung, den Rammert in Bezug auf die Veränderung der Wissensproduktion in den Blick nimmt, lässt sich um die Veränderung der Raumarrangements erweitern, die angesichts der Auflösung der primären Rolle der funktionalen Differenzierung zu beobachten ist (vgl. Schroer 2006). Zentral für die funktional differenzierte moderne Gesellschaft ist die Zuweisung spezifischer Räume für das jeweilige Funktionssystem: Das Parlament und die Wahlkabine für das Politiksystem, die Fabrik und das Büro für das Wirtschaftssystem, die Kirche für das Religionssystem, der Gerichtssaal für das Rechtssystem, die Schule für das Erziehungssystem, Universitäten und Labore für das Wissenschaftssystem, der Konzertsaal, das Theater und das Kino für das Kunstsystem, die Krankenhäuser für das medizinische System, Stadien, Rennbahnen und Sportplätze für das Sportsystem usw. Diese räumlich-funktionale Logik setzt sich bis in die Wohnkultur fort: Die Unterteilung in Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Arbeits-, Kinder- und Badezimmer sowie Hobbyraum weist spezifischen Handlungen und Praktiken einen dafür eingerichteten Raum zu und lokalisiert die Bewohner eines Hauses in den ihnen exklusiv zuge284
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wiesenen Räumen. Diese strenge Raumaufteilung scheint sich vor dem Hintergrund der fragmentalen Differenzierung jedoch auf dem Rückzug zu befinden. Einerseits findet der Aufbau von Spezialräumen für bestimmte, eng umgrenzte Aktivitäten zwar nach wie vor statt (FitnessStudios, Schönheitssalons, »Druckräume«, Raucherzonen usw.), doch andererseits haben wir es mehr und mehr mit dem Aufbau von Räumen zu tun, die entweder unterschiedliche Aktivitäten in sich vereinigen oder aber so offen angelegt sind, dass sie nicht mehr länger für spezifische, sondern für multiple Praktiken gebaut zu sein scheinen. Shopping Malls, Fußballstadien, Tankstellen, Bahnhöfe und Flughäfen beispielsweise dienen nicht mehr allein einer einzigen Funktion, sondern führen unter einem Dach die unterschiedlichsten Funktionen zusammen, so dass Arbeit, Freizeit, Kultur und Konsum nicht mehr in streng voneinander geschiedenen Bereichen stattfinden, sondern an einem Ort zusammengeführt werden. In öffentlichen Gebäuden, Sparkassen, Banken, Ämtern und Büros werden Trennwände beseitigt, Türen entfernt, Barrieren abgebaut. Insofern haben wir es derzeit in der Tat mit einer Fragmentierung und damit einhergehenden Lockerung der sozialen Raumordnung zu tun, die mit der Abschaffung der funktionale Differenzierung und ihrer Raumordnung nicht verwechselt werden darf. Vielmehr scheinen beide Differenzierungsformen nebeneinander her zu existieren, wobei sich die fragmentale zunehmend in den Vordergrund drängt. Dass die funktionale Differenzierung sich im Hintergrund weiterhin behauptet, wird allein daran erkennbar, dass nach wie vor nicht alle Handlungen oder Praktiken an jedem Ort stattfinden können. Allerdings ist die Flexibilität, Offenheit und Beweglichkeit der Räume ein durchgehender Trend, der sich auch an zwei klassischen Wissensräumen – der Universität und der Schule – ablesen lässt. So kennzeichnend es für die moderne Gesellschaft war, dass die Vermittlung des Wissens an spezialisierte Institutionen delegiert wurde, so typisch scheint es für die gegenwärtige Gesellschaft zu sein, dass es die klassischen Institutionen mit immer mehr Konkurrenten zu tun bekommen, worauf sie zum einen mit einer stärkeren Profilierung und Konturierung ihrer ureigensten Funktion reagieren, die auch visuell sichtbar gemacht wird durch den Bau aufwendiger Prestigebauten, zum anderen aber auch mit einer Flexibilität und Mobilität der architektonischen Form, die sie für alternative Nutzungen empfiehlt.
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Die Schule als Wissensraum Für den modernen Schulraum ist der preußische Schulbau des späten 19. Jahrhunderts charakteristisch, der bereits von Zeitgenossen als »Kaserne« bezeichnet wird. Diese bis in unsere Gegenwart hinein vorzufindende Schulform ist typischerweise in Klassenzimmer für die verschiedenen Jahrgangsklassen unterteilt, in denen der Frontalunterricht die vorherrschende Unterrichtsform bildet (vgl. Göhlich 2009, S. 95). In den Klassenzimmern stößt man auf eine geregelte Tischordnung und Sitzverteilung, die Lehren und Schülern ihre entsprechenden Rollen zuteilt: »In strengeren Formen der räumlichen Klassenzimmereinteilung wird die Spezifizierung der Positionen des Körpers, seine Bewegung und Haltung, üblicherweise straff organisiert« (Giddens 1992, S. 189). Die Schule gilt Giddens deshalb als »Machtbehälter« (ebd.). Während der Zeit, die sie in der Schule verbringen, sind Lehrer und Schüler zeitlich und räumlich so abgeschirmt, dass eine Störung oder Kontrolle der Geschehnisse in der Schule von außen auf ein Mindestmaß reduziert wird. Die Wände der einzelnen Klassenzimmer und der Schule insgesamt sorgen für eine räumliche Absonderung, die einerseits die Konzentration der Interaktion auf die Vermittlung von Wissen erst ermöglicht, andererseits immer aber auch die Gefahr birgt, dass abweichendes Verhalten des Lehrpersonals kaum nach Außen dringen kann. Zwar vollzieht sich die Abkehr von dieser Art Schule und ihren Unterrichtskonzepten nur schleppend, dennoch gibt es inzwischen zahlreiche Versuche, mit Hilfe neuer Formen der Schularchitektur einen anderen Typus von Schule und schulischem Lernen zu etablieren, auch wenn diese Versuche immer noch eher eine Art Avantgarde gegenüber der Mehrheit der Schulen darstellen. Vor allem an den weiterführenden Schulen stellt die disziplinierende Schularchitektur noch immer die vorherrschende Form dar. Dabei gibt es mit der Reformpädagogik bereits seit dem späten 19. Jahrhundert eine dezidierte Kritik an den auf Kontrolle und Disziplinierung ausgerichteten Schulgebäuden (vgl. Kajetzke/Schroer 2009). Sichtet man die verschiedenen Versuche, der Disziplinararchitektur mit einer anderen Architektur zu begegnen, so geht es dabei nicht allein darum, den stets als grau, nüchtern und kalt beschriebenen Betonbauten der 1960er und 1970er Jahren mit der Verwendung von Farbe, Licht und Holz zu einem einladender wirkendem Äußeren zu verhelfen. Es geht vielmehr um eine von Grund auf andere Gestaltung des Schulraums. Dabei steht vor allem der offene Grundriss im Vordergrund, der das Einreißen trennender Wände und die selbst bestimmte Konstitution nicht vorgegebener Räumlichkeiten beinhaltet. Über die evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen heißt es beispielsweise, dass die Schule aufgebaut sei wie eine 286
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kleine Stadt. Besucher würden sagen, dass man sich dort wie in der Toskana oder in einer dänischen Feriensiedlung fühle. Der verantwortliche Architekt, Peter Hübner, ergänzt: »Es gab auch schon Leute, die über das ganze Gelände gegangen sind und am Ende gefragt haben: wo ist denn die Schule?« (vgl. Süddeutsche Zeitung Magazin) Dass die Funktion der Architektur nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, wird damit zu ihrem Gütesiegel erklärt. Statt alles dafür zu tun, keine Zweifel darüber aufkommen zu lassen, wo man sich befindet, wird die Uneindeutigkeit gewählt, die es vorübergehend erlaubt, sich anderswo zu wähnen und damit Entlastung von den Anforderungen der Institution Schule schafft. Mit dieser Flexibilisierung und Verflüssigung räumlicher Strukturen reagiert die Institution Schule auf die Herausforderung der fragmentalen Differenzierung, die zur Konfrontation mit konkurrierenden Räumen führt, in denen Wissen angeeignet werden kann: den virtuellen Räume des Internets einerseits und den privaten Räumen andererseits, die im Zuge der Home-Education-Bewegung in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Um gegenüber den Möglichkeiten, die diese Räume bieten, nicht ins Hintertreffen zu geraten, werden deren Eigenschaften in die Schularchitektur zu integrieren versucht. Die Gestaltungsmöglichkeiten im Web 2.0 werden mit der Wohnlichkeit der privaten Räume kombiniert, um eine Art offene Lernlandschaft entstehen zu lassen, die nicht mehr länger die Fixierung des Schülers an seinem Platz zum Ziele hat, sondern das nomadische Umherschweifen in einem wenig festgelegten Raum ermöglicht. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch für die Universitäten aufzeigen.
D i e U n i ve r s i t ä t a l s W i s s e n s r a u m Wissenschaft wird nicht überall ausgeübt, sondern findet an den ihr zugewiesenen Orten statt: an den Universitäten, Laboren, Hörsälen und Bibliotheken. Universitäten gliedern sich in Fachbereiche, denen unterschiedliche Gebäude, Gänge, Trakte zugewiesen werden. Diese Organisation der Wissensproduktion entspricht der funktionalen Differenzierung, die jedoch zunehmend in den Hintergrund tritt zugunsten der fragmentalen Differenzierung, die mit ihrer netzwerkartig organisierten Wissensproduktion zunehmend in den Vordergrund tritt (vgl. Rammert 2003). Die Durchdringung aller Funktionssysteme mit Wissen führt zu einer Infragestellung der Exklusivität des Wissenschaftssystems und der Universität als deren herausragender Organisation. Auf die Gefahr des Verlusts ihrer führenden Rolle als Wissensproduzentin reagiert die Universität mit einer signifikanten Erhöhung der Investitionen in ihre 287
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Selbstdarstellung. Mit dem Bau prestigeträchtiger Aufmerksamkeitsarchitektur in Form von neuen Hörsaalgebäuden oder Bibliotheken versuchen einzelne Wissenschaftsstandorte sich als besonders attraktiv auszuweisen, um sich gegen konkurrierende Institutionen durchsetzen zu können. Die vom Stararchitekten Norman Forster gebaute neue Bibliothek für die FU Berlin hat zumindest dazu beigetragen, der zuvor in Rankings weit abgeschlagenen Universität zu einem ganz neuen Renommee zu verhelfen. Dass es sich nur um ein einzelnes Gebäude handelt und nicht um die Universität zeigt, dass wir es auch in diesem Fall mit einer Diversifizierung des Raums zu tun bekommen. Ähnlich wie bei den Global Cities, in denen nicht die gesamte Stadt globalisiert ist, sondern nur einzelne Areale, ragen auch bei den Universitäten einzelne Gebäude heraus und suchen den Anschluss an die globale Wissensgesellschaft, während andere stärker im Lokalen verhaftet bleiben. Aber auch jenseits solch exponierter Versuche ist festzuhalten, dass die Universitäten seit der Einführung der neuen Studiengänge (Bachelor/Master) in einem nie gekannten Ausmaß Werbematerial erstellen, um für sich als Wissensstandort zu werben. Die Umgestaltung der Studiengänge im Zuge des Bologna-Prozesses geht mit einer verstärkten Profilbildung einher, die jeden Standort unverwechselbar machen soll. Was hier noch im Sinne eines Ringens um Aufmerksamkeit verstanden werden kann, wächst sich angesichts der Unterscheidung von »Eliteuniversitäten« auf der einen und Universitäten für die Massen auf der anderen Seite zu einem Zwei-Klassen-System aus. Bleibt es beim eingeschlagenen Weg, wird es in Zukunft wieder sehr viel mehr darauf ankommen, wo man studiert hat. Konstanz oder Kassel, Mannheim oder Mainz, München oder Marburg? Schon die bloße Nennung der Orte wird weitere Nachfragen überflüssig machen. Und damit nähern wir uns tendenziell wieder einer stratifikatorischen Differenzierung des Wissenschaftssystems an, das funktionale wie fragmentale Differenzierung überwunden geglaubt hatte. Als Folge dieser Entwicklung kann gesehen werden, dass sich der Satz von Blaise Pascal: »Wahrheit diesseits der Pyrenäen, Irrtum jenseits« (zitiert nach Burke 2001, 69) auch auf heutige Zustände übertragen lässt: Was in Bielefeld als soziologische Wahrheit gilt, gilt in Köln oder Mannheim noch lange nicht als solche. In der alltäglichen Praxis reicht der Hinweis auf einen Wissenschaftsstandort, um eine Rezeption in manchen Lagern von vornherein zu verhindern oder eine ganz bestimmte nahe zu legen. Ein bestimmter Ortsname kann insofern auch zum Malus werden. An der damit angedeuteten Überlagerung der Differenzierungsformen zeigt sich die Plausibilität einer Zeitvorstellung, die die Vergangenheit nicht als gänzlich überwunden, sondern als in die Gegenwart hinein ragend begreift (vgl. Latour 1998, S. 91ff.); ei288
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ne Verräumlichung der Zeit, die das Nacheinander in ein Nebeneinander überführt.
Wissen, wo man ist Die bisherigen Überlegungen sollten gezeigt haben, dass auch die Wissensgesellschaft nicht unabhängig von räumlichen Strukturen existiert. Die Frage kann nur sein, welche räumlichen Bezüge sich eine wissensbasierte Gesellschaft schafft. Am Beispiel der Schule und der Universität ist der Übergang vom Wissensregime der funktional differenzierten zum Wissensregime der fragmental differenzierten Gesellschaft hinsichtlich ihrer räumlichen Implikationen aufgezeigt worden. Dabei ist deutlich geworden, dass die Eindeutigkeit der architektonischen Strukturen zugunsten offenerer und flexiblerer Formen an Bedeutung verliert. Die Folge davon ist, dass im Hinblick auf die Frage, wo man sich befindet, eine neue Unsicherheit entsteht. Noch in den 1970er Jahren notiert dagegen der französische Schriftsteller George Perec: »Der Raum scheint entweder gezähmter oder harmloser zu sein als die Zeit: man begegnet überall Leuten, die Uhren haben, und sehr selten Leuten, die Kompasse haben. Man muß immer die Zeit wissen [...], aber man fragt sich nie, wo man ist. Man glaubt es zu wissen: man ist zu Hause, man ist im Büro, man ist in der Metro, man ist auf der Straße« (Perec 1990, S. 103).
Es ist diese Selbstverständlichkeit in Bezug auf den Raum, die lokale Verortung und die Ortsgebundenheit, die im Zeitalter der Computer, Handys und GPS-Systeme nicht mehr länger vorausgesetzt werden kann. Dass wir im »Zeitalter des Raumes« (Foucault 2006, S. 317) leben, wird vor allem an der mangelnden Selbstverständlichkeit räumlicher Bezüge erkennbar. Die Frage, wo man sich befindet, hat vor dem Hintergrund durchgesetzter Mobilität eine gestiegene Bedeutung erlangt. Da man etwa bei Handygesprächen nicht mehr weiß, an welchem Ort man seinen Gesprächspartner erreicht, fangen die Gespräche über Handy zumeist mit der Frage nach dem derzeitigen Aufenthalt des anderen an. Auch der von Perec noch vermisste Kompass ist heute längst in aller Hände. Nicht mehr nur im Auto greifen die Menschen auf Navigationssysteme zurück, um sich im Raum zu orientieren. Es besteht zunehmend Unsicherheit in der Frage, wo man sich aufhält, da die Räume mehr und mehr ihre Eindeutigkeit einbüßen, indem sie einander überlagern und die Möglichkeit für verschiedene, nicht näher festgelegte Aktivitäten bieten. Insofern wird die auch von Niklas Luhmann betonte Notwendigkeit der 289
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räumlichen Orientierung – »Man muss wissen können, wo man ist, in einer Universität, in einer Kneipe, in einer Straßenbahn oder wo auch immer [...], um zu wissen, wie man sich zu verhalten hat« (Luhmann 2002, S. 324) – zu einer eigenen, immer dringlicheren Aufgabe. Räumliche Arrangements, die diese Aufgabe klassischerweise übernommen und damit für Handlungssicherheit gesorgt haben, scheinen in der Gegenwartsgesellschaft mehr und mehr die Funktion zu verlieren, eindeutig anzuzeigen, wo man ist, da die Räume mehr und mehr ihre Spezifität und Ausschließlichkeit einbüßen. Ein nicht geringer Teil der technologischen Entwicklung dient deshalb keineswegs der immer schnelleren Überwindung des Raums, woraus vorschnell ein Ende des Raums abgeleitet wurde, sondern der Orientierung im Raum: Handys, Google Earth und Navigationssysteme im Auto widmen sich der (Selbst-)Verortung und Lokalisierung von Individuen. Wissen wo man ist, um zu wissen, wer man ist: Die Identitätsfrage ist auf eine erst wieder zu entdeckende Weise mit der Frage räumlicher Figurationen eng verknüpft.
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RAUM UND WISSEN
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4 .8 Körperw isse n THOMAS ALKEMEYER
Der Begriff »Körperwissen« ist in der Diskussion um die Wissensgesellschaft lange unbeachtet geblieben. Dies hat sich in den letzten Jahren auf dem Resonanzboden einer Renaissance des Körperlichen in Alltag (Sport, Mode, Schönheitsmedizin) und Wissenschaft (Proliferation kultur- und sozialwissenschaftlicher Körperdiskurse) geändert. Damit sind auch verschiedene den Körper betreffende Wissensformen und – bestände in den Blick geraten: vom persönlichen Körperwissen der Individuen über das durch wissenschaftliche Expertensysteme und massenmediale Repräsentationen erzeugte Wissen über die menschliche Körperlichkeit bis hin zu jenen körperlichen Erfahrungsformen, die von den Akteuren als ein implizites Wissen in unterschiedlichen sozialen Praktiken (Arbeiten, Spielen, Konsumieren) erworben und gezeigt werden. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Produktion eines scheinbar rein geistigen wissenschaftlichen Wissens ist seit dem Beginn der Neuzeit insbesondere das auf Erfahrungen beruhende, in körperlichen Routinen, praktischen Fähigkeiten oder Materialgespür sich zeigende vorreflexive Körperwissen der Akteure an den Rand gedrängt oder als irrational diskriminiert worden. Seine Wiederentdeckung kann als eine Folge reflexiver Modernisierung verstanden werden: In der Perspektive der Theorie einer reflexiven Zweiten Moderne erzeugt das Voranschreiten wissenschaftlich-instrumentellen Wissens überraschenderweise die Einsicht in das Angewiesensein auf ›andere‹ Wissensformen, die in der Ersten Moderne als wenig leistungsfähig marginalisiert oder gleich ganz als Nichtwissen de-thematisiert wurden. Die für die Gegenwartsgesellschaften charakteristische Unsicherheit der Handlungsbedingungen ver293
THOMAS ALKEMEYER
lange demgegenüber eine Reflexion auf nicht explizierbare Wissensformen: Wenn sich die Unsicherheitszonen einer Gesellschaft ausweiten, büßen – so die These – handlungstheoretische Ansätze, die sich am Modell eines planmäßig-rationalen Vorgehens orientieren, an Erklärungskraft ein. Während ein solches Vorgehen eventuell noch den Bedingungen berechenbarer Umwelten gerecht zu werden verspricht, erweist es sich dann als wenig tauglich, wenn sich Handlungsspielräume vergrößern und (institutionell) vorgegebene Problembewältigungsstrategien an Geltungskraft verlieren. Erfolgversprechendes Agieren in derart labilen Konstellationen setzt hingegen ein erfahrungsbasiertes Praxiswissen voraus, das sich beispielsweise als intuitives leibliches Gespür für die Situation äußert (vgl. Alkemeyer 2009). Die neue Aufmerksamkeit für Phänomene verkörperten Wissens artikuliert sich auf einem vielstimmigen Terrain wissenschaftlicher Gegenwartsdiskurse – von der pädagogisch-psychologischen Expertiseforschung über kulturwissenschaftliche Analysen von Alltagshandeln, Musizieren und Sporttreiben, phänomenologische Ansätze in der Arbeitssoziologie und wissenssoziologische Zugänge der Geschlechterforschung bis hin zur Neuentdeckung der Intuitionen in Psychologie und Hirnforschung. Mit großer Resonanz in benachbarten Disziplinen werden die lange verdrängten und damit verkannten körperlich-materiellen Dimensionen der sozialen Praxis insbesondere im Zuge des so genannten practical turn der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften thematisiert (vgl. Schatzki et al. 2001). Soziale Praktiken werden danach im Wesentlichen durch ein einverleibtes Wissen getragen, das in aller Regel zu einem reflexionsfreien Tun befähigt.1 In diesem Diskursuniversum sind die über das gemeinsame Interesse an alternativen Wissensformen hinausgehenden Unterschiede recht groß. Sie betreffen Fragestellungen, Perspektiven und Erkenntnisinteressen ebenso wie die Orte des Wissens: Während etwa die Expertise- und Lernforschung überwiegend das implizite Wissen isolierter Akteure in den Blick nimmt, verteilen die Ansätze des praxistheoretischen Paradigmas das Wissen zwischen unterschiedlichen Handlungsträgern, zu denen neben den Menschen und ihren Körpern auch Räume, Dinge, technische Artefakte und Sprache gezählt werden. Im Folgenden wird vornehmlich auf die neuere Diskussion um das Verhältnis von Körper und Wissen in der Soziologie und den Kulturwissenschaft eingegangen. Allerdings bleibt der Begriff auch auf diesem
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Vgl. die Überblicke bei Rammert (2000) und Brümmer (2009); zum Zusammenhang von »Geschlechterwissen« und sozialer Praxis Wetterer (2008).
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KÖRPERWISSEN
Feld schillernd. Eine nützliche, den vorliegenden Artikel orientierende Systematisierung hat Hirschauer (2008: 274) vorgeschlagen: »Körperwissen« bezeichnet danach ein umfassendes Wissen vom Körper, ein Wissen des Körpers sowie ein Wissen, das über Körper kommuniziert wird. Entsprechend ließen sich mit den Begriffen Diskurs, Kompetenz und Darstellung »drei Optionen einer konzeptuellen Verknüpfung des Körpers mit dem Wissen« (ebd.) unterscheiden. Vor praxistheoretischem Hintergrund scheint es darüber hinaus sinnvoll, ein Wissen zu differenzieren, das sich zwischen Körpern und anderen Handlungsträgern entfaltet. Im Rahmen der zweiten Verknüpfungsoption ist aus diesem Grund nicht vom Wissen des, sondern vom Wissen der Körper die Rede.
»Wissen vom Körper« In dieser Perspektive wird der Körper als Objekt und Gegenstand von Wissen konzeptualisiert. Dieses Wissen umfasst die durch wissenschaftliche Expertensysteme orientierten Wissensbestände ebenso, wie das in massenmedialen Repräsentationen erzeugte sprach- und bildförmige Wissen über die menschliche Körperlichkeit, schließlich das private und intime Alltagswissen der Individuen über ihre Körper. Zwischen diesen Wissensformen können unterschiedliche Beziehungen entstehen: Das Alltagswissen kann sich in Abhängigkeit vom – massenmedial aufbereiteten – Expertenwissen bilden, es kann indifferent neben diesem bestehen, und es können Spannungen oder Oppositionen zwischen den verschiedenen Wissensformen auftreten.2 Der in der Soziologie und den Kulturwissenschaften vorherrschende methodische Zugang zum Körper als Objekt und Gegenstand von Wissen ist die – eng mit dem Namen Michel Foucault verknüpfte – poststrukturalistische Diskursanalyse. Mit Diskursen sind dabei alle möglichen Zeichen-Ordnungen gemeint, also nicht nur sprachliche oder schriftliche Sinnproduktionen, sondern etwa auch visuelle Repräsentationen und architektonische Arrangements. Poststrukturalistische Diskursanalyse und Dekonstruktion haben die Aufgabe, die Denkschemata einer Kultur zutage zu befördern, unter denen ihre Akteure nicht nur ihr Wissen, sondern auch ihr Leben organisieren. In dieser Perspektive wird der Körper mithin so in den Blick genommen, wie er in verschiedenen 2
So können sich – um nur ein Beispiel zu geben – durch die mit der Autorität des Medizinsystems ausgestatte Verbreitung des Body-Mass-Index (BMI) tiefgreifende Veränderungen körperbezogener Selbstbeobachtungen, -bewertungen und -erfahrungen einstellen. 295
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(Wissens-)Diskursen verhandelt wird. Das heißt, es wird die Abhängigkeit der Wahrnehmung, Deutung und Behandlung des Körpers von einem diskursiv artikulierten und in den Massenmedien wirkmächtig visualisierten Wissen betont: Der Körper wird letztlich als eine Fläche bzw. als ein Objekt behandelt, auf die bzw. in das Wissen (ein-)geschrieben werden kann. Er erscheint als Produkt bzw. Materialisierung wie als Gegenstand der ihn thematisierenden Diskurse (Gugutzer 2004: 74ff.). In diesem theoretisch-methodischen Zugriff interessiert also nicht die ontologische oder anthropologische Frage, was der Körper ist, sondern die konstruktivistische Frage, wie er unter welchen Bedingungen gemacht wird. Der eine unwandelbare Körper wird ersetzt durch die vielen, in disparaten Wissensordnungen konstruierten Körper. Diese Leitfrage nach dem Wie diskursiver Körper-Konstruktionen impliziert ein Interesse für die mit den Diskursen verbundenen Machtwirkungen. Denn mit der Durchsetzung von Wissensordnungen sind stets Normierungen, Bewertungen, Zuweisungen und das (sozial-technologische) Bemühen um Gestaltung verbunden. Soziale Gruppen oder Institutionen, denen es gelingt, ihr besonderes Wissen, ihre partikularen Vorstellungen und Bilder des Körpers, als universal, natürlich, gesund, normal und/oder wünschenswert durchzusetzen, verfügen über eine Definitions- und Deutungsmacht, in deren Folge ›andere‹ Körper als unnatürlich, krank, anormal oder unerwünscht abgewertet oder ausgegrenzt werden. Eingespannt in ein diskursives Kraftfeld zwischen den Polen der Attraktion und der Repulsion werden die Individuen dazu aufgerufen, sich selbsttätig in einem diskursiv konstruierten Bereich der Normalität zu halten, indem sie ihre Körper entsprechend kontrollieren und modellieren. Diskurstheoretische Konzepte haben kulturwissenschaftliche und soziologische Analysen von Diskursen über den Körper sowie jener Techniken der Disziplinierung, Normalisierung, Kontrolle und Mobilisierung angeregt, die darauf hinwirken, abstrakte Wissensordnungen und visuelle Repräsentationen in den Körpern der Menschen materielle Gestalt gewinnen und diese so zu Körpern bestimmter Wissensordnungen werden zu lassen: zu Arbeitskörpern, Schulkörpern, Geschlechtskörpern, etc. Allenfalls ansatzweise treten in dieser Perspektive jedoch die Umgangsweisen konkreter Akteure mit gegebenen diskursiven Ordnungen in den Blick. Es wird weder den Spielräumen ihrer Gebrauchsmöglichkeiten und praktischen (Um-)Deutungen Aufmerksamkeit geschenkt, noch werden die – spürbaren – Widerstände thematisiert, die in der praktischen Umsetzung diskursiver »Anrufungen« (Louis Althusser) entstehen können und sich beispielsweise als Unwohlsein, Beklommenheit oder Lustlosigkeit bemerkbar machen: Die diskurstheoretische Konzep296
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tualisierung des Körpers als wandelndes, zu Fleisch gewordenes Wort lässt den Körper in einer eigentümlichen Passivität verharren und führt zur Vernachlässigung seines ›Eigensinnes‹3 (vgl. Gugutzer 2004: 81). So machen zum Beispiel (auto-)ethnographische Beschreibungen sportlichen Trainings darauf aufmerksam, dass sogar in Sozialbereichen wie dem Hochleistungssport, in denen die Körper einem außerordentlichen strengen Regime (sport-)wissenschaftlich fundierter Trainingspläne unterworfen werden, gerade durch den repetitiven übenden Vollzug dieser Pläne ein neues Wissen des Körpers entstehen kann, das sich unter anderem als leibliches Gespür für Über- und Unterforderungen oder die Angemessenheit von Trainingsumfängen bemerkbar macht. Dieses in der Trainingspraxis sich entwickelnde Erfahrungswissen des Körpers macht auf die subjektiven Grenzen naturwissenschaftlich legitimierter, technisch-instrumenteller Körpermanipulationen aufmerksam und wirkt derart als ein kritischer Ratgeber. Der ›Diskursfundamentalismus‹ zahlreicher auf Foucault sich beziehender Studien4 wird durch derartige, empirisch auf die körperliche Praxis sich einlassende Untersuchungen relativiert. Der sozialisierte Körper tritt demgegenüber als Ort und Sitz eines eigenen Praxiswissens in den Blick. Dieses Wissen kann durchaus zum Ausgangspunkt für Selbstreflexionen werden, welche die ›relative Autonomie‹ des Subjekts in dem Sinne erweitern, dass sie es ihm ermöglichen, das komplexe Wechselspiel von Fremd- und Selbstbestimmung kompetent mit zu gestalten.
»Wissen der Körper« In dieser Perspektive werden die Körper selber als Sitz und Träger von Wissen betrachtet. In den Sozial- und Kulturwissenschaften ist ein nicht sprachfähiges und damit schwerlich abfragbares Wissen der Körper vor allem in praxistheoretischen Ansätzen rehabilitiert worden.5 Zu seiner Bezeichnung wurden hier bereits zahlreiche, mitunter synonym benutzte 3
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Dieser muss keineswegs als Qualität eines im wörtlichen Sinne asozialen, den hinterlistigen Imperativen ›der Gesellschaft‹ sich entziehenden Leibes, sondern kann auch als Eigensinn eines immer schon vergesellschafteten Körpers gedacht werden. Interessanterweise hat Foucault selbst mit diesem Diskursfundamentalismus gebrochen. Unter dem Etikett »Praxistheorien« werden geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Theorien gebündelt, die soziale Ordnungen als dynamische, auf der Grundlage eines praktischen Wissens geknu pfte Verflechtungen von Menschen, Körpern, Dingen und Handlungen begreifen, vgl. den systematisierenden Überblick von Reckwitz (2003). 297
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Begriffe ausprobiert, wie Körpertechniken (Marcel Mauss), Fertigkeiten und Routinen (Alfred Schütz/Thomas Luckmann), skills (Harold Garfinkel), knowing how (Gilbert Ryle), implizites Wissen (Michael Polanyi), tacit knowledge (Stephen Turner), Disziplin (Michel Foucault) oder Habitus und praktischer Sinn (Pierre Bourdieu).6 Über alle Unterschiede hinweg ist diesen Begriffen gemeinsam, dass sie sich auf vorsprachliche Fähigkeiten beziehen, die sich subjektiv beispielsweise als Fingerspitzengefühl, Geschicklichkeit oder Orientierungssinn bemerkbar machen und sich in jenen praktischen Kniffen und Tricks äußern, mit denen Akteure in verschiedenen Handlungskontexten – vom Straßenverkehr bis hin zum Sport – oftmals unter großem Zeitdruck augenblicklich auf situative Herausforderungen reagieren. Die klassische wissenssoziologische Frage, »wer etwas weiß (welche Trägerschicht, Experten/Laien, Lehrer/Schüler)«, wird in praxistheoretischer Perspektive mithin durch die Frage ersetzt, »wie etwas überhaupt gewusst wird« (Hirschauer 2008: 87). Mit dieser Frage ist eine zweifache Verschiebung des Wissensbegriffs verbunden: Erstens wird Wissen nicht als ein subjektiver Besitz einzelner, isoliert betrachteter Akteure aufgefasst, sondern als ein kollektives Geschehen. Während es für das Wissen klassischer mentalistischer und textualistischer Wissenskonzepte mit Bewusstseinsstrukturen und Texten klar umrissene Container bzw. Speicher gab, in denen das Wissen zentriert war, verteilt es sich in praxistheoretischer Perspektive – und zwar nicht nur zwischen Personen, sondern zwischen ontologisch verschiedenen Handlungsträgern (Körper, Sprache, Dinge, Artefakte wie Stühle, Tische oder Computer, etc.). Das praktisches Handeln tragende Wissen steckt somit – die zweite Verschiebung – nicht exklusiv in den Köpfen unabhängiger Akteure, sondern in den zwischen den Handlungsträgern sich entfaltenden Praktiken. Wissen geht dem Handeln mithin auch nicht voraus, wie für gewöhnlich in Handlungstheorien angenommen wird, sondern entsteht und zirkuliert als ein dezentriertes, situiertes Wissen in konkreten Lokalitäten wie Laboratorien, Büros oder Klassenzimmern. Das Verhalten selbst wird also als ein spezifischer Wissensspeicher neben anderen aufgefasst. Die Akteure verfügen nicht einfach souverän über ihr Wissen, vielmehr hat das Wissen auch sie und lässt sie auf bestimmte Weise agieren (vgl. Hirschauer 2008: 91). Dieses Verständnis eines dezentrierten Praxiswissens trägt dem praxistheoretischen Grundgedanken einer Emergenz von Praktiken im ›Dazwischen‹ Rechnung: Im Unterschied zu Handlungen, die nach einem sinnstiftenden Zentrum verlangen, entstehen Praktiken im Wechselspiel 6
Zusammenstellung und Literaturangaben bei Hirschauer (2008: 86).
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verschiedener, gegenseitig sich konditionierender Handlungsträger. Eine Praktik übergreift alle individuellen Aktionen. Ihre Teilnehmer werden buchstäblich in sie verwickelt und dabei zu mehr oder weniger kompetenten ›Mitspielern‹ gemacht, bzw. sie machen sich im Vollzug der Praktik selbst dazu. Denn die Verwicklung in das Geschehen ist kein passives Ruhen, sondern von vornherein Tätigkeit, aktive Auseinandersetzung mit anderen Handlungsträgern, die den Verlauf der Praktik ihrerseits beeinflusst. Die in sozialen Praktiken erzeugten Ordnungen und deren Subjekte konstituieren sich gegenseitig. Die (Selbst-)Formung als kompetentes und verantwortliches Subjekt umfasst den ›ganzen‹ Menschen, seine geistigen und seine körperlichen Eigenschaften. So setzt jede Subjektwerdung (als Lehrer, Anwältin, Sportler, etc.) die Ausbildung feld- bzw. professionsspezifischer Körperbewegungen, Haltungen und Gesten voraus. Mit diesen Körper-Bildungen gehen psychische, emotionale und kognitive Veränderungen einher: Gemeinsam mit im Feld geforderten ›Auftritten‹ werden besondere Stile des Sehens, Hörens und Spürens, des Fühlens und Erkennens, des Beurteilens und Denkens eingeübt. Jede Praktik bringt so ihre eigenen »Umgangskörper«7 hervor, die sich durch auf die Erfordernisse des jeweiligen Feldes abgestimmte praktische Fähigkeiten auszeichnen. Die Bildung dieser Umgangskörper geschieht sowohl in institutionalisierten Lehr-Lern- oder Trainingsarrangements als auch in, in die Praktiken des Alltags eingefalteten, also impliziten Pädagogiken, schließlich in »Strukturübungen« (Bourdieu 1987: 138) wie Ritualen, Spielen oder sportlichen Wettkämpfen, die zwischen expliziten und impliziten Pädagogiken vermitteln. Für jede Praktik gilt, dass sich die beteiligten Personen praktikspezifische Aufmerksamkeiten entgegenbringen: Sie nehmen in ihrem Vollzug permanent praktisch aufeinander Bezug, unterscheiden dabei zwischen regelhaften und regelwidrigen, kompetenten und inkompetenten Aktionen und sanktionieren jene Handlungen, die aus dem gemeinsamen Spiel herausfallen. Sie wirken in den Verflechtungszusammenhängen der Praxis aufeinander ein und zeigen sich in ihrem Vollzug gegenseitig, was es heißt, Lehrerin oder Fußballspieler zu sein, wie es geht und wo die Grenzen dessen liegen, was als Lehrerhandeln oder Fußballspielen (gerade noch) akzeptiert wird. Es wird also in actu ein kollektiv geteiltes praktisches Wissen darüber hergestellt, was eine adäquate Ausdrucksform der Praktik ist und was nicht. Die Praktik eignet sich ihre Akteure gleichsam an: Sie bringt ihnen fortlaufend ein in der Regel hochspezifisches »praktisches kno-
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Gebauer (2009: 96f.) bezeichnet so einen in »die Gebräuche der Welt« eingepassten Körper als »Basis gegenseitiger Verständlichkeit«. 299
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wing how bei und macht sie auf diesem Weg zu kompetenten Mitspielern« (Schmidt 2008:131). Die Genese einer Praktik setzt die Bildung wissender Umgangskörper voraus: Eine Praktik kommt nur zustande und wird am Laufen gehalten, wenn die potentiellen Handlungsträger aneinander ›andocken‹, wenn sie sich gegenseitig aktivieren, abfragen und stimulieren. Sie müssen mithin einen auf die Praktik abgestimmten (Orientierungs-) Sinn füreinander haben oder entwickeln, so dass sie einander in der Praktik verständlich sind. Die Körper erwerben diese Verständlichkeit in dem Maße, wie sie in eine strukturelle Übereinstimmung mit den Regeln und Anforderungen einer Praktik gebracht werden; sie erlangen dann sprachmäßige Züge und werden für andere Handlungsträger ›lesbar‹. Im selben Prozess wird ein ebenfalls praktikspezifischer Spürsinn ausgebildet. Zentral für dieses Konzept ist die philosophische Unterscheidung zweier Perspektiven auf den menschlichen Körper als ein Objekt einerseits und als ein Handlungssubjekt eigener Art andererseits. Im Unterschied zum Körper – die erste Perspektive – ist der Leib – die zweite Perspektive – kein äußerer Gegenstand des reflektierenden Bewusstseins, sondern ein belebter und lebendiger Körper, der von innen heraus als je eigener Körper wahrgenommen wird. ›Leib‹ bezeichnet mithin keine abgrenzbare materielle Entität oder feststehende Substanz, sondern einen besonderen, vorreflexiven und vorsprachlichen Modus des Weltzugangs vom gelebten Körper aus. Die Phänomene der Wahrnehmung und eines intersubjektiven Verstehens werden damit in der Phänomenologie des Leibes verankert. Der Leib wird zum Ausgangspunkt für eine Beschreibung der menschlichen Erfahrung im Sinne eines mit Affekten verknüpften (eigen-)leiblichen Befindens oder Spürens (vgl. Gugutzer 2004: 152ff.). Das leiblich-spürende In-der-Welt-Sein gilt in dieser Sicht als eine primordiale Quelle des Wissenserwerbs. Der Leib wird als ein fundamentaler Träger von Erkenntnis vor bzw. unabhängig von Reflexion und Sprache aufgefasst. Nicht dieser, sondern dem Leib wird letztlich in genauer Umkehrung des diskurstheoretischen Fundamentalismus die größere »ontologische Tiefe« (Hirschauer 2008: 86) zuerkannt. Leibphänomenologie einerseits sowie (körper-)soziologische und diskurstheoretische Ansätze andererseits, in denen die sozialen Prägungen, kulturellen Formungen und diskursiven Konstruktionen der Körper betont werden, stehen sich scheinbar inkommensurabel gegenüber. Jedoch eröffnet insbesondere die praxistheoretische Perspektive Bourdieus eine Möglichkeit ihrer Vermittlung. Während der leibliche Spürsinn für die Welt in phänomenologischer Perspektive primär subjektivistisch begriffen wird, rückt Bourdieu die Beziehungen zwischen den subjektiven 300
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Wahrnehmungen der Spieler und den objektiven Konfigurationen des jeweiligen Spiels ins Zentrum: es geht ihm um die Analyse der Wechselwirkungen zwischen dem Gefühl des Spielers für das Spiel und dessen wirklichen Konstellationen. Die gesellschaftliche Konstruktion erkenntnis-, spür- und handlungsfähiger Körper ist in diesem Konzept die andere Seite der körperlichen Produktion sozialer Ordnungen: Der durch Übung, Training und Teilnahme gebildete Körper erfasst das Spiel deshalb gleichsam intuitiv, weil er in eben diesem Spiel sozialisiert wurde (vgl. Bourdieu 2001: 165-209).8 Bourdieu hat ein solches harmonisches Zusammenspiel als Ausdruck einer ontologischen Komplizenschaft zwischen der vom Akteur als Habitus inkorporierten Geschichte und der in der materiell-symbolischen Handlungsumgebung objektivierten Geschichte begriffen. Die Umgebung wird in diesem Fall zu einem Habitat für den auf sie abgestimmten Habitus. Ähnlich wie bei einem eingespielten Fußballteam ergibt sich dann ein Spielfluss, der alle individuellen Aktionen überspannt: Jeder Spieler folgt seinem eigenen Rhythmus, dennoch greifen die Einzelaktionen mehr oder weniger nahtlos ineinander. Insbesondere ein Handeln unter Unsicherheitsbedingungen macht darauf aufmerksam, dass ein stummes verkörpertes Wissen keineswegs nur zur Reproduktion bestehender Strukturen beiträgt, sondern im Gegenteil auch zu einem situationsgerechten Modellieren von und Improvisieren mit eingeschliffenen Körpertechniken befähigt und es ermöglicht, ohne Überlegenssicherheit von eingeschliffenen Routinen abzuweichen. Der gebildete Körper ist dann nicht nur ein intelligentes Agens in dem Sinne, das er den Verlauf der Praktik vorreflexiv erschließt und bereits in der Gegenwart das Zukünftige vorzubereiten erlaubt, sondern auch ein kreativer Produzent von Spielzügen, Kniffen und Tricks, die den Verlauf einer Praktik ebenso beeinflussen können, wie ihre Produktion durch diesen Verlauf veranlasst wird. Bourdieu zufolge ermöglicht der verkörperte praktische Sinn eine Freiheit zur Neuschöpfung, die durch die historischen und sozialen Grenzen ihrer eigenen Erzeugung bedingt ist. Diese bedingte Freiheit liegt »der unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der sim8
Ein gutes Beispiel sind Sportpraktiken. So schildert der Soziologe Loïc Wacquant (2003) in einer Ethnografie der eigenen Boxerwerdung, wie er in langjährigem Training aus jeder Körperhaltung des Gegners zu ›lesen‹ lernt: Er entwickelt nach und nach die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit auf jene unscheinbaren, für das Boxen jedoch außerordentlich bedeutsamen Bewegungen und Zuckungen des Gesichts, der Gliedmaßen und der Muskeln zu konzentrieren, die Rückschlüsse auf die Absichten des Gegners zulassen, und bereits im Ansatz jedes Schlages das darin Eingeschlossene, den zukünftigen Schlag oder die Täuschung zu erschließen. 301
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plen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen« (Bourdieu 1987: 103). Ein gelingendes, Kreativität stets einschließendes Handeln ist mithin strikt relational zu denken: Es setzt einerseits Automatisierungen und Routinen voraus und ist in diesem Sinne systematischer Natur. Es ist aber andererseits stets auch ein Ad-hoc-Produkt, insofern es durch ein situatives Zusammenstimmen der verschiedenen Handlungsträger ausgelöst wird: Sobald ein Akteur eine Situation auf der Grundlage seiner einverleibten Sensibilität als eine Aufforderung wahrnimmt, werden einzelne, in seinen körperlich-leiblichen Tiefenschichten gespeicherte Potentiale des Habitus aus ihrer Indifferenz gerissen und aktiviert. Es offenbaren sich dann ungeahnte Fähigkeiten: Überraschend agiert die Person so, wie es ihr unter anderen Umständen vollkommen unmöglich gewesen wäre – und verblüfft damit nicht nur die anderen, sondern eventuell auch sich selbst.9 Die Emergenz einer neuen Handlungsform ist somit das Ergebnis einer aus situativer Mehrdeutigkeit geborenen praktischen Problemlösung. Die verkörperte Fähigkeit, aus einer aktuellen Situation augenblicklich kommende, bereits in ihr enthaltene Konstellationen zu erschließen, kann dabei ebenso Vorteile bieten, wie das traumwandlerische Beherrschen automatisierter Bewegungen. Beides zusammen verschafft kurzfristig Entlastung vom Zeitdruck der Praxis und eröffnet die Chance, den erwirtschafteten Zeitgewinn auch zu einem blitzschnellen gedanklichen Durchspielen von Handlungsalternativen zu nutzen. Leibliches und kognitives Wissen spielen in der praktischen Problemlösung zusammen. Statt sie gegeneinander auszuspielen, wäre ihr Zusammenspiel empirisch auszuleuchten. Beide Wissensformen bilden gemeinsam eine vom rationalen Denken unterschiedene praktische Intelligenz, die sich in Lehrbüchern nicht abbilden lässt. Sie muss vielmehr als Tätigkeit erlernt werden.
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Seit einiger Zeit wird in der Soziologie, z.B. in Analysen zur Geschlechterkonstruktion (Lindemann 1993; Villa 2000), in der Körper- (Gugutzer 2004) und in der Arbeitssoziologie (Böhle/Fross 2009), auch die Neue Phänomenologie des Philosophen Herrmann Schmitz rezipiert. Dabei werden – durchaus kompatibel mit Bourdieu – die Verschränkungen von ›Körper‹ und ›Leib‹ unterstrichen. Leiberfahrungen sind danach abhängig von den Strukturen des jeweiligen sozialen Umfeldes. Im Anschluss an Arbeiten von Gesa Lindemann hat Jäger (2004) die Verschränkungen eines diskursiven Wissens über den Körper mit dem Wissen des Leibes im Konzept des »körperlichen Leibes« zusammengezogen.
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»Wissen kommunizierende Körper« In der dritten Verknüpfungsoption ist der Körper nicht Gegenstand von Kommunikation, sondern ihr Medium (vgl. Hirschauer 2008: 87). Die Aufmerksamkeit richtet sich dann, wie in der interpretativen Soziologie, auf die Zeichenhaftigkeit des Körpers, seine signifizierende Funktion als intentionaler wie nicht-intentionaler Ausdruck sozialer Zugehörigkeiten. Der Körper prozessiert in dieser Perspektive über Kleidung, Frisuren, Peircings und Tatoos, aber auch über seine Größe und Form, seine Bewegungen, Haltungen und Gesten, über Mimik und Blicke ein hochgradig visuell verfasstes Wissen (vgl. Raab/Soeffner 2005). Für die moderne Gegenwartsgesellschaft ist vor allem die intentionale Verwendung des Körpers als Zeichenträger in diversen Subkulturen und Szenen (HipHop-Szene, Skater-Szene, etc.) beschrieben worden. Die Zugehörigkeit zu einer dieser posttraditionalen Stilgemeinschaften setzt danach nicht nur den Besitz und den von Insidern als richtig anerkannten Gebrauch ritualisierter Zeichen voraus, sondern auch eine mehr oder minder bewusst vollzogene Gestaltung des eigenen Körpers: trainierte Körperformen und -bewegungen werden zu Trägern hoch distinktiver kultureller Bedeutungen. An den Äußerungsformen des Körpers zeigt sich ein überwiegend implizites (Insider-)Wissen, das die Gemeinschaft fundiert und auf eine ›sanfte‹, informelle Weise diejenigen ausschließt, die nicht über es verfügen. Körperliche Aufführungen machen ein Anderssein sichtbar; sie verleihen der Gemeinschaft sinnliche Erkennbarkeit und soziale Existenz.10 Zeichenträger ist der Körper aber auch dann, wenn er nicht intentional als Medium zur Symbolisierung von (kollektiver) Identität gestaltet wird. Darauf haben bereits George H. Mead (1969) in seinen Überlegungen zum Austausch signifikanter Gesten sowie Erving Goffman (1974) am Beispiel der sozialen Choreographien von Fußgängern aufmerksam gemacht. Goffman zeigt hier, dass Prozesse sozialer Koordination bzw. Abstimmung auf einem Zusammenspiel von leibgebundenen Kundgaben und Abtasten beruhen. Kundgabe wird dabei als gestische Vorwegnahme einer praktischen Intention verstanden. So geben sich Fußgänger »fortlaufend Hinweise« (ebd.: 42) über Gehrichtung und Geschwindigkeit: Sie machen sich durch »die Festlegung auf das (gestisch) Angedeutete zu etwas Durchschaubarem, dessen Handlungen vorhersehbar werden« (ebd.). Umgekehrt sorgt der Mechanismus des Abtastens dafür,
10 Dies gilt allerdings auch bereits für die Verkörperungen verschiedener Vorstellungen der »Nation« in Festen, Ritualen, Aufmärschen und Wettkämpfen seit dem 19. Jahrhundert. 303
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dass ein Individuum, sobald es in den – kulturell variablen – ›Abtastbereich‹ eines anderen Individuums gerät, einer »einfachen Leibeskontrolle« unterzogen wird (ebd.: 34). Kundgabe und Abtasten erfolgen simultan und überwiegend unbewusst. Interessant an den Konzeptionen Meads und Goffmans für unseren Zusammenhang ist zweierlei: Erstens wird der kommunikative Charakter einer körperlichen Äußerung danach nicht durch Adressierung hergestellt, sondern es hängt vom Interaktionspartner ab, welche der vom anderen »diffus ausgestreuten« körperlichen Manifestationen er als für sein eigenes Handeln bedeutsame Zeichen aufliest, »unabhängig davon, ob etwas und jemand damit ›gemeint‹ ist« (Hirschauer 2008: 89). Die Interaktionspartner widmen sich also gegenseitig eine der jeweiligen Praktik eigentümliche Aufmerksamkeit und nehmen ihre Körper selektiv auf der Grundlage praktikspezifischer Bedingungen in den Blick. Ihre Körper haben dabei den Status einer »Anzeigetafel« (ebd.), auf der sich »ständig zahllose Daten ablesen [lassen, T.A.]: Kollektivmitgliedschaften, Gemütszustände, Situationsdefinitionen, usw.« (ebd.: 90). Anders als die Sprache ist er als Kommunikationsmedium nicht abstellbar, sondern wird im Deutungsrahmen der jeweiligen Praktik permanent ›gelesen‹ und taxiert. Insofern gehört er nicht dem Subjekt allein, sondern auch den Interaktionspartnern (vgl. ebd: 90). Zweitens deutet Goffman mit seiner Bezeichnung der ›Lektüre‹ des anderen als »Abtasten« an, dass der Körper in der Interaktion nicht nur Zeichengeber, sondern auch Zeicheninterpret ist. Dies eröffnet eine Reflexion der Frage, welche sinnlichen Vermögen – Sehen, Hören, Tasten oder auch Riechen – vorrangig an der Deutung eines Verhaltens beteiligt sind.11 An der Konzentration auf die symbolischen Funktionen des Körpers ist – beispielsweise aus performativitätstheoretischer Perspektive – kritisiert worden, es führe zu einer Vernachlässigung der Materialität des Körpers (vgl. Meuser 2004: 209). Diese Gefahr besteht jedoch nur dann, wenn die Frage nach den Voraussetzungen seiner Zeichenhaftigkeit und ›Lesbarkeit‹ ausgespart bleibt, wenn also nicht nach den Prozessen der kulturellen und sozialen Formung gefragt wird, in deren Verlauf sprach11 Das in Interaktionen über den Körper ausgetauschte Wissen muss nicht unbedingt visuell verfasst sein. Dies zeigt sich z.B. an einer Sportart wie dem Ringen. Für das Handeln von Ringern ist unverzichtbar, im direkten Körperkontakt jede Muskelanspannung des Gegners spürend zu interpretieren. Dies ist von enormer Bedeutung. Denn anders als im Fußgängerverkehr geben die Kontrahenten ihre Absichten durch leibliche Äußerungen nicht verlässlich kund, sondern nutzen ihre ausgeprägten Fähigkeiten zum leiblichen Ausdruck von Absichten, um »vorsätzliche Fehlinterpretationen« (Goffman 1974: 33, Fn. 13) zu bewirken, das heißt zu fintieren. 304
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mäßige »Umgangskörper« (s.o.) entstehen. Begreift man den Körper als materialen Träger einer dem intentionalen Zugriff weitgehend entzogenen Bedeutung, dann ist es nicht möglich, eine materialen von einem Sinn-Körper zu unterscheiden. Der Körper ist dann nicht anders denn als kultureller und sozialer Körper gegeben (vgl. Meuser 2004: 202); seine praktikbezügliche Bedeutung steckt in seinem öffentlichen beobachtbaren Verhalten. Goffman ist der Frage, wie der Körper eine soziale und kulturelle Formung erhält, die eine auf körpergebundenen Expressionen und leiblichen Interpretationen beruhende praktische Intersubjektivität ermöglicht, nicht weiter nachgegangen. Ihn interessiert vor allem die Performanz der Körper, ihre sichtbaren Oberflächem. Bourdieu hat hingegen die Frage der Inkorporierung des Sozialen in den Mittelpunkt gerückt. Weiterführend wären die Wechselbeziehungen zwischen Habitus und Performanz zu erforschen: der Einfluss der im Körper gespeicherten Selbstund Weltverhältnisse auf die Darstellungen sowie deren transformatorische Wirkungen auf die körperlich-habituellen Tiefenstrukturen.
Schluss Mit der praxistheoretischen Konzeptualisierung eines lokal situierten körperlich-leiblichen Praxiswissens werden traditionelle Dualismen zwischen Geist und Körper, Subjekt und Objekt sowie Innen und Außen überwunden. Den (neo-)cartesianischen Entmischungen und Hierarchisierungen innerer geistiger Repräsentationen und sinnhafter Prozesse einerseits sowie äußerer geist- und sinnloser körperlicher Verhaltensakte andererseits wird mit einer Theorie begegnet, in der Geist, Bewusstsein und Sinn weder in die Köpfe als autonom konzipierter Subjekte eingeschlossen sind, noch dem Handeln als Intentionen, Motive oder Pläne vorausgehen, sondern in die kollektiven Vollzüge der Praktiken selbst eingefaltet sind. Entsprechend wird auch die begriffliche Marginalisierung des Körpers und seines Wissens aufgehoben, die mentalistische Ansätze auszeichnet: In praxistheoretischer Sicht gilt der sozial konstruierte Leib weder als ein bloßes Produkt diskursiver Einschreibungen oder Disziplinierungen, noch als ein neutrales Vollzugsorgan geistiger Planungen oder Normen, sondern als ein intelligenter Mitspieler in kollektiv sich entfaltenden Wissensordnungen: Seine erlernten praktischen Handlungs- und Verstehensfähigkeiten ermöglichen es in aller Regel, die eigenen Handlungen wie schlafwandlerisch an den materiellen Handlungsbedingungen, dem Verhalten anderer Handlungsträger sowie den aktuellen Erfordernissen einer Situation zu orientieren. Sie zeigen 305
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sich vornehmlich in der kompetenten Beherrschung praktikspezifischer Verhaltensakte, das heißt in der Hervorbringung eines Komplexes von Körperbewegungen, die von den Akteuren als praktik- und situationsgerecht (an-)erkannt werden. Damit steckt in Praktiken nicht nur ein inkorporiertes Wissen als stumme Fähigkeit zur praktischen Durchführung, vielmehr ist jedes Verhalten auch ein vorgezeigtes bzw. aufgeführtes Wissen – und zwar nicht bloß im Sinne einer bewusst-intentionalen Demonstration von Wissen, sondern auch als eine nicht-intentionale Kundgabe, über die sich Verhalten für alle mitspielkompetenten Teilnehmer selbst erklärt und anschlussfähig macht. Nicht nur Texte, Bilder oder Monumente sind damit als Formen der kulturellen Repräsentation von Selbst- und Weltbildern zu betrachten, sondern auch das in den Bewegungen des Körpers sich artikulierende menschliche Verhalten. In besonderen kulturellen Aufführungen wie Festen, Ritualen, Spielen und Wettkämpfen erlangt ein implizites kulturelles Wissen von Gesellschaften, Milieus oder Teilkulturen Gestalt und Physis, vitale Energie und affektive Wucht. Geteiltes Wissen wird so präsent gehalten und evident gemacht. Wer etwas über eine Gesellschaft wissen möchte, muss mithin das nicht nur in ihren Texten, sondern auch das in ihren kulturellen Aufführungen körperlich sich artikulierende Wissen auflesen (vgl. Hirschauer 2008: 90ff.). Forschungsmethodisch folgt daraus ein Primat der Beobachtung. Der Rekonstruktion innerer mentaler Konzepte und Intentionen durch Interviews werden ethnografische Methoden des Beobachtens und Registrierens vorgezogen, die auf das in eine Praktik eingefaltete Wissen zurück schließen lassen. Das Führen von Interviews ist damit nicht ausgeschlossen, hat allerdings nachrangige Bedeutung: Die aufgrund von Interviews vermuteten impliziten Wissensbestände müssen zu den beobachtbaren Dimensionen der Praktiken passen.
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5 .1 Gesc hlec hterve rhältnisse : pos tpatriarchale Wissensgese llschaft? MARIA FUNDER
Einleitung Zeitdiagnosen, die den sich seit einigen Jahren abzeichnenden tief greifenden Wandlungsprozess kapitalistischer Industriegesellschaften auf einen Begriff bringen wollen, gibt es mittlerweile recht viele. Die Rede ist von Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Multioptionsgesellschaft sowie von Kommunikations- und Wissensgesellschaft. Obwohl es eigentlich nicht gerechtfertigt ist, nur einen Aspekt ins Zentrum von Gesellschaftsbeschreibungen zu rücken, die oftmals auch noch mit einer gewissen Verabsolutierung der jeweils favorisierten Perspektive einhergehen, stoßen zeitdiagnostische Zuspitzungen bis heute auf großes Interesse. Ein Grund hierfür ist darin zu sehen, dass sie den nicht zu unterschätzenden Versuch unternehmen, die Richtung gesellschaftlicher Transformationsprozesse deuten zu wollen. Vor allem das Label der »Wissensgesellschaft« hat in Anbetracht der zunehmenden Verbreitung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, des Bedeutungszuwachses von Wissen und Bildung, des Aufstiegs von »Symbolanalytikern« und des Vordringens wissenschaftlich-technischen Wissens in fast alle Lebensbereiche wieder verstärkt an Aufmerksamkeit gewonnen. Wissen – so das Credo neuer Wachstumstheorien – ist zu einem Motor gesellschaftlicher Entwicklung und entscheidenden Produktionsfaktor der Wirtschaft geworden, ohne den »nachhaltige Wettbewerbsvorteile« und Konkurrenzfähigkeit im globalen Kapitalismus nicht mehr
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zu erreichen sind (vgl. u.a. Stehr 2001). Demnach spielt Wissen schon längst nicht mehr nur in der Wissenschaft eine entscheidende Rolle, vielmehr findet die Produktion gesellschaftlich relevanten Wissens an vielen Orten sowie in allen gesellschaftlichen Teilsystemen statt, angefangen von der Wirtschaft, über die Politik bis hin zum Sport. Aus all dem folgt allerdings noch längst nicht, dass die Beschreibung von Gegenwartsgesellschaften als »Wissensgesellschaften« schon auf einhellige Zustimmung gestoßen ist: Während die einen bereits mehr als nur erste Anzeichen eines epochalen Wandels erkennen, steht für andere die Annahme eines »Meta-Wandels« noch in vielerlei Hinsicht auf tönernen Füßen; demnach wirft die »Wissensgesellschaft« – so Willke (1998) – allenfalls ihren Schatten voraus. Aber gleich welcher Auffassung man auch ist – selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich bei dieser Gesellschaftsdiagnose lediglich um eine mediale Inszenierung, ja eine »kollektive (Selbst-)Suggestion« (Bauer 2006: 224) handelt – kommt man nicht umhin, die Diagnose »Wissensgesellschaft« in Anbetracht der anhaltenden Attraktivität dieser Zukunftsperspektive ernst zu nehmen und genauer zu untersuchen. Im Fokus der weiteren Ausführungen steht nicht irgendeine Analyseperspektive, sondern die in Gegenwartsdiagnosen häufig vernachlässigte Geschlechterproblematik. So wird die Kategorie Geschlecht in den Debatten über die »Wissensgesellschaft« bislang nicht berücksichtigt, obwohl sich aus den Konzepten durchaus eine Reihe von Annahmen ableiten lässt, die das Geschlechterverhältnis unmittelbar berühren, zum Teil sogar eine Neutralisierung der Geschlechterdifferenz nahe legen und daher nicht einfach ausgeklammert werden dürfen. Es stellt sich somit die Frage, ob sich in der »Wissensgesellschaft« die in vielerlei Hinsicht immer noch recht traditionelle Geschlechterordnung grundlegend verändert oder ob ihr nicht doch nur ein neues Gewand verpasst wird, das jedoch so dicht gewebt ist, dass Geschlechterungleichheiten angesichts der stets betonten Gleichheitsnorm geradezu unsichtbar gemacht werden. Haben wir es also am Ende nur mit einem »Egalitätsmythos« (Funder 2005) zu tun? Der Beitrag konzentriert sich auf drei Punkte: Zunächst wird ein Blick auf die Mainstream-Debatte zur »Wissensgesellschaft« geworfen, die Auskunft über gängige Definitionen und Sichtweisen geben soll (2). Da Genderaspekte dabei in der Regel ignoriert werden, ist zu fragen, ob diese Ausblendung der Tatsache zuzuschreiben ist, dass die »Strukturkategorie Geschlecht« tatsächlich bedeutungslos wird (und daher in den Konzepten gar nicht mehr aufgegriffen werden muss) oder ob nicht doch Zweifel im Hinblick auf die Geschlechtsneutralität der »Wissensgesellschaft« angebracht sind. Der Scheinwerfer richtet sich daher auf die Frauen- und Geschlechterforschung (3), die sich nicht erst seit heute mit 312
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der Frage der Erosion und Reproduktion geschlechtlicher Differenzierungen beschäftigt (vgl. u.a. Wetterer 2007). Das abschließende Resümee fasst die Debatte noch einmal zusammen und fragt nach den Chancen einer »post-patriarchalen Wissensgesellschaft«.
As p e k t e d e r » W i s s e n s g e s e l l s c h a f t « und offene (Gender-)Fragen Bereits ein erster flüchtiger Blick auf die einschlägige Literatur zum Thema »Wissensgesellschaft« zeigt, dass es sich nicht um eine grundlegend neue Zeitdiagnose handelt. Debatten über einen post- bzw. nachindustriellen gesellschaftlichen Formwandel, insbesondere die Zentralität von (theoretischem) Wissen als neuem »axialen Basisprinzip«, wurden schon in den 1960er und 1970er Jahren geführt (u.a. Bell, Drucker, Lane). Schon damals standen sich Befürworter und Kritiker gegenüber. Während die einen mit der »Wissensgesellschaft« in erster Linie eine Abkehr von der Industriegesellschaft mit all ihren problematischen Begleiterscheinungen (wie etwa monotone, körperlich anstrengende Arbeit; standardisierte Massenprodukte) verbanden und dabei ein hohes Maß an (technologischem) Fortschrittsoptimismus und Planungseuphorie an den Tag legten, betonten andere eher die Schattenseiten der »Wissensgesellschaft«; in den 1970er Jahren vor allem ihr Kontrollpotential, die Macht von Experten und korporativen Akteuren (insbesondere des Staates), später folgte dann die Betonung von Unsicherheit und Ungewissheit sowie neuen (ökologischen) Risiken. Seitdem hat die Diagnose der »Wissensgesellschaft« schon einige Metamorphosen erlebt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Über »Mythos, Ideologie und Realität« der »Wissensgesellschaft« (Bittlingmayer/Bauer 2006) wird folglich auch zukünftig nachgedacht. Noch handelt es sich bei der »Wissensgesellschaft« also um eine Art »black box«, die mit unterschiedlichsten Zukunftsprojektionen gefüllt ist und eine Vielzahl offener Fragen enthält. Sie beziehen sich nicht nur auf ihre faktische Verbreitung, ihre Konstruktionsprinzipien und die Relevanz theoretischen (wissenschaftlichen) Wissens, sondern auch auf die mit ihr einhergehenden ökonomischen, politischen, kulturellen und sozialstrukturellen Implikationen; z.B. die Problematik der Exklusion. Bevor wir uns jedoch näher mit den Folgen der »Wissensgesellschaft« aus einer Genderperspektive befassen können, stellt sich erst einmal die grundlegende Frage, was denn überhaupt mit dem Konstrukt der »Wissensgesellschaft« gemeint ist. Eine von allen geteilte Definition zu finden ist in Anbetracht der unterschiedlichen theoretischen Sichtweisen, die es hier313
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zu mittlerweile gibt, schwierig. Ein Vorschlag läuft darauf hinaus, dann von »Wissensgesellschaft« zu sprechen, wenn sich »alle sozialen und gesellschaftlichen Strukturen zunehmend als soziale und epistemologische Wissensformen manifestieren« (Hack 2006: 110, Hervorh. i.O.). Nicht ganz so abstrakt ist der Definitionsversuch von Willke, der dann von der Existenz einer »Wissensgesellschaft« ausgeht, wenn »die Strukturen und Prozesse der materiellen und symbolischen Reproduktion einer Gesellschaft so von wissensabhängigen Operationen durchdrungen sind, dass Informationsverarbeitung, symbolische Analyse und Expertensysteme gegenüber anderen Faktoren der Reproduktion vorrangig werden« (Willke 2001: 355). Festzuhalten ist folgendes: Wissen wird in allen Konzepten als zentral erachtet, durchdringt allmählich alle Bereiche, Strukturen und Prozesse einer Gesellschaft und ist einer permanenten Revision unterworfen. Dementsprechend steigt mit der Zunahme von Wissen auch das Nicht-Wissen, was zu einem Anstieg von Ungewissheiten, Risiken und Mehrdeutigkeiten führt. Ausgegangen wird somit von einer zunehmenden Wissensbasiertheit aller gesellschaftlichen Bereiche und einem Anstieg der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen, das, so die übereinstimmende These, in Anbetracht seiner immer wichtiger werdenden gesellschaftlichen Funktion an die Stelle der in der Industriegesellschaft als zentral erachteten »materiellen Produktionsmittel« (Arbeit, Rohstoffe, Kapital) tritt (Weingart 2001: 14); woraus mitunter sogar eine »Dematerialisierung der Ökonomie« abgeleitet wurde (vgl. Moldaschl/Stehr 2010). Mit Wissen – dies gilt es bereits an dieser Stelle hervorzuheben – ist jedoch nicht Geschlechterwissen1 gemeint, sondern 1
Der Begriff des Geschlechterwissens ist nicht neu (siehe bereits Garfinkel 1967), hat in jüngster Zeit aber wieder an Aufmerksamkeit gewonnen. So liegen verschiedene Typologien vor (vgl. u.a. Wetterer 2008). Folgt man Irene Dölling (2007), handelt es sich zum einen um das in einer Gesellschaft vorherrschende kollektiv geteilte Verständnis über die »Gegebenheit« der Zweigeschlechtlichkeit, die das Alltags- bzw. Erfahrungswissen prägt und dieses als »Selbstverständlichkeit« erscheinen lässt; z.B. wie ›richtige‹ Beziehungen und Formen der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen auszusehen haben (objektives Geschlechterwissen). Hiervon zu unterscheiden ist das subjektive Geschlechterwissen der AkteurInnen, das individuell-biografisch ist, vergleichbar einem im Laufe des Lebens angehäuften Erfahrungs- und Wissensvorrat, der aber nicht nur aus eigenen Erfahrungen besteht, sondern auch durch einen Rückgriff auf »Erfahrungsstrukturen« bzw. kollektive Wissensformen zustande gekommen ist. Wichtig ist darüber hinaus die Relevanz des Handlungskontextes, folglich kommt dem »feldspezifischen Geschlechterwissen« große Relevanz zu, da sich in ihm Unterscheidungs- und Hierarchisierungsweisen widerspiegeln, die in einem bestimmten sozialen Feld (z.B. der Wissenschaft oder Wirtschaft) als bedeutsam erachtet werden. Mit diesem Wissensbegriff haben die Konzepte zur Wissensgesellschaft nichts gemein.
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in erster Linie teilsystemspezifisch relevantes Wissen (etwa neue Trainingsmethoden im Sport, neue Lernformen in der Erziehung, neue Geschäftsmodelle und Managementkonzepte in der Wirtschaft). Erklärungskonzepte zur Entstehung von »Wissensgesellschaften« knüpfen hier an: Es wird z.B. davon ausgegangen, dass der Epochenbeginn der »Wissensgesellschaft« mit dem Wachstum von Universitäten zusammenfällt, folglich immer mehr Menschen eine Universitätsausbildung aufweisen, so dass Traditionen zunehmend auf den Prüfstand geraten und Wissen »unablässig neu produziert« werden muss; am Ende nicht mehr nur im Wissenschaftssystem (vgl. Stichweh 2005). Wissenschaftliches Wissen fand demnach – ausgehend vom Wissenschaftssystem – allmählich Eingang in alle anderen gesellschaftlichen Bereiche bzw. Teilsysteme und wirkte sich auf die alltägliche Lebenswelt und die sozialen Beziehungen aus. So hat die Wissensabhängigkeit gesellschaftlicher Teilbereiche – von der Wirtschaft, über die Politik, bis hin zum Sport – in den letzten Jahren rapide zugenommen. Während lange Zeit von einer epistemologischen Sonderrolle bzw. Einzigartigkeit wissenschaftlichen Wissens und damit einer exponierten Position des Wissenschaftssystems ausgegangen wurde (vgl. u.a. Hack 2006), kann – so Stichweh (2005) – der Wissenschaft für die Produktion gesellschaftlich relevanten Wissens heute eigentlich keine Vorrangstellung mehr zugeschrieben werden. Zu beobachten ist vielmehr eine zunehmende Eigenständigkeit der Entwicklung von Wissen in den jeweiligen gesellschaftlichen Teilbereichen. Die Rede ist schließlich nicht von Wissenschaftsgesellschaft, sondern von Wissensgesellschaft. Strittig ist aber dennoch, ob die »Wissensgesellschaft« auf eine zunehmende »Verwissenschaftlichung« der Gesellschaft hinausläuft oder ob forschungsbasiertes, wissenschaftliches Wissen nicht doch nur eine von vielen Formen der Wissensproduktion darstellt. Überhaupt stellt sich die Frage, ob Grenzziehungen zwischen wissenschaftlichem und anwendungsorientiertem Wissen nicht allmählich verschwinden werden, was sicherlich erhebliche Folgen haben dürfte, insbesondere für die Wissenschaft, die dann nicht mehr das »Sagen« über die Wissensproduktion hätte. Hier knüpft eine Reihe weiterer Überlegungen an, die nicht nur den Versuch unternehmen, die Vielfalt der neuen Wissensformen – die mittlerweile nicht mehr nur explizites, sondern auch implizites Wissen umfassen – zu systematisieren und zu typologisieren, sondern auch auf neue Orte der Wissensproduktion verwiesen (z.B. Beratungsorganisationen, Industrielaboratorien, Expertengruppen und Forschungszentren). Hervorgehoben wird dabei die neue Qualität dieser Formen der Wissensproduktion, die in der Behauptung eines Wandels der Wissensordnungen mündet. Demzufolge wird der so genannte Mode 1, demzufolge bislang nur die Wissenschaft für die Ent315
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wicklung wissenschaftlichen Wissens die Verantwortung trägt, sich auflösen und in den Mode 2 übergehen, was bedeutet, dass die Wissensproduktion zukünftig an vielen gesellschaftlichen Orten, transdisziplinär erfolgt und die Wissensordnung grundsätzlich verändern wird (vgl. Gibbons et al. 1994; siehe auch Riegraf/Zimmermann 2005). Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass in der Vergangenheit viel Mühe darauf verwandt wurde, die Konturen der »Wissensgesellschaft« zu präzisieren, Begriffe zu erklären, neue Formen der vernetzten, transdisziplinären Wissensproduktion aufzuzeigen und die zunehmende Relevanz außerwissenschaftlicher Anwendungskontexte auszumachen. Nicht auf der Agenda standen bislang die Konsequenzen, die dieser wissensinduzierte Wandel auf die Entwicklungsdynamik der Geschlechterverhältnisse haben könnte. In Anbetracht der »Geschlechtsblindheit« der meisten Konzepte liegt es nahe, Antworten dort zu suchen, wo Gesellschaftsanalysen schon von Beginn an mit der Frage der Geschlechterverhältnisse verwoben waren, also in der Frauen- und Geschlechterforschung.
W a n d e l d e r G e s c h l e c h t e r ve r h ä l t n i s s e u n d B e d e u t u n g s ve r l u s t d e r S t r u k t u r k a t e g o r i e Geschlecht? Sucht man nach Verbindungslinien zwischen den Mainstream-Debatten über die »Wissensgesellschaft« und der Geschlechterforschung, lassen sich durchaus Gemeinsamkeiten entdecken. Hierzu gehört vor allem das Nachdenken über gesellschaftliche Umbrüche und Wandlungsprozesse moderner Gesellschaften. Mit Blick auf den wissensgesellschaftlichen Diskurs gewinnt man den Eindruck, dass in vielen Ansätzen von einem Bedeutungsverlust der Strukturkategorie Geschlecht ausgegangen wird. Bereits in den frühen Konzepten zur »Wissensgesellschaft« herrschte die Annahme vor, dass (theoretisches) Wissen das »axiale Prinzip« der neuen Gesellschaftsform darstellt. Wissen wird damit quasi als der entscheidende Schlüssel angesehen, dessen Besitz – gemäß der Zauberformel »Sesam-öffne-dich« – Erwerbschancen eröffnet, gesellschaftliche Positionen ermöglicht und Anerkennung einbringt. Sucht man nach einer Antwort auf die Frage, ob die sich hier ankündigende Bedeutungslosigkeit der Kategorie Geschlecht und die damit verbundene Neutralisierung der Geschlechterdifferenz tatsächlich stattfinden wird, empfiehlt es sich, einen Bogen zum aktuellen modernisierungstheoretischen Diskurs in der Genderforschung zu spannen. Aufschlussreich sind vor allem Beiträge differenzierungstheoretisch argu316
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mentierender WissenschaftlerInnen (Weinbach/Stichweh 2001; Pasero 2003; Schwinn 2008). Sie behaupten, dass das Geschlecht im Zuge der fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung, welche die moderne Gesellschaft am Ende in eine hochkomplexe, vollständig funktional differenzierte verwandeln wird, keine Leitdifferenz mehr sein wird bzw. sein kann. Ausgegangen wird von einer De-Institutionalisierung der Geschlechterdifferenz, denn – um es mit den Worten Luhmanns auszudrücken – »wenn das Geschlecht keinen Unterschied mehr macht, darf es […] auch keinen Unterschied mehr machen« (Luhmann 1988: 57). Weinbach bringt es auf den Punkt: »Diese Annahme macht es unmöglich, in Geschlecht oder sozialer Schicht noch ein ›Strukturprinzip‹ dieser modernen Gesellschaft zu sehen« (Weinbach 2004: 9). Eine Bezugnahme auf askriptive Merkmale wie das Geschlecht verbietet sich geradezu, da alle die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Teilsystemen haben, entscheidend sind »nur noch die jeweils geltenden institutionellen Teilnahmebedingungen« (Schwinn 2008: 31). Ausschlaggebend, um Zutritt zu Organisationen zu erhalten, in bestimmte Positionen zu gelangen, befördert zu werden oder Lohnzulagen zu erhalten, sind rein funktionale Kriterien, wie spezifische fachliche Qualifikationen, Bildung und Wissen, zeitliche Flexibilität und Mobilität. Es gelten demnach primär funktionsrelevante Leistungskriterien. Das Geltendmachen von Geschlecht stellt folglich geradezu einen Rückfall in »alte Asymmetrien« der feudalen Ständegesellschaft dar und passt nicht mehr in die Moderne – und selbstverständlich auch nicht in die »Wissensgesellschaft«. Auf lange Sicht wird die Strukturkategorie Geschlecht ihre Wirkungsmacht also verlieren; denn je mehr Frauen Bildungs- und Arbeitsmarktchancen erwerben, sich in Institutionen und Organisationen eine Position sichern, desto größer sind die Chancen, »noch verbleibende Ungleichheiten zu problematisieren« (Schwinn 2008: 31) und zu Fall zu bringen. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass die moderne Gesellschaft – und dementsprechend auch die »Wissensgesellschaft« – dem Gleichheitsgrundsatz widersprechende und damit »unzulässige Zuschreibungs- und Diskriminierungsroutinen« (Pasero 2003: 121) nicht auf Dauer aufrechterhalten kann. Aber ist dieser Optimismus wirklich gerechtfertigt? Erfolgt nicht auch in der »Wissensgesellschaft« die Anerkennung von Wissen in Abhängigkeit von Macht- und Herrschaftsstrukturen sowie der vorherrschenden Geschlechterordnung? Eine eher von Skepsis geprägte Position hinsichtlich der geschlechterrevolutionären Effekte von Modernisierungsprozessen vertreten demgegenüber feministische Gesellschaftstheoretikerinnen (u.a. BeckerSchmidt; Lorber). Ihres Erachtens haben Geschlechterasymmetrien, insbesondere die hierarchische Geschlechtersegregation, bis heute und si317
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cherlich auch noch in den nächsten Jahren eine hohe Beharrungskraft. Das Geschlecht stellt demnach weiterhin eine »Basisklassifikation« in modernen Gesellschaften dar (Lorber 1999). Die soziale Hierarchisierung der Geschlechter ist – so Becker-Schmidt (2004) – immer noch stark durch die Rangordnung gesellschaftlicher Sphären geprägt, was historisch zur Privilegierung einer Genus-Gruppe beigetragen hat. Männer dominieren nach wie vor in gesellschaftlich hoch bewerteten Tätigkeitsfeldern und Spitzenpositionen, gleich ob es sich hierbei um staatliche Institutionen, politische Verbände oder Wirtschaftsorganisationen handelt. Die Beharrungskraft der vertikalen und horizontalen geschlechtlichen Segregation ist demnach groß. Zwar sind Frauen mittlerweile in zunehmendem Maße erwerbstätig, aber zumeist in weniger ertragreichen und prestigeträchtigen Berufsfeldern. Tätigkeitsbereiche mit Prestige werden nach wie vor eher von Männern wahrgenommen. Selbst in akademischen Berufsfeldern differieren die Chancen, Karriere zu machen, berufliche Erfolge und Anerkennung zu erringen mit dem Geschlecht (vgl. u.a. Krais 2008). An diesem Grundmuster hat sich bislang wenig verändert; vielmehr haben sogar ganze Berufsfelder mit ihrem »Geschlechtswechsel« entweder an Status gewonnen oder verloren, je nachdem, ob aus Frauen- Männerberufe wurden oder umgekehrt. Zudem gelten Frauen auch heute noch als hauptverantwortlich für den privaten Lebensbereich (insbesondere die Haus- und Familienarbeit), der ihnen kaum Anerkennung einbringt und sich nach wie vor als ein »Stolperstein« im Beruf erweist. Gleichwohl haben moderne Gesellschaften – wie ihre Organisationen – mit der Bevorzugung einer Genus-Gruppe ein Problem, da die Gleichstellung der Geschlechter mittlerweile gesetzlich verankert und damit auch zu einer kulturellen Leitidee bzw. zu einer universellen Norm geworden ist. Geschlechterungleichheit aufrechtzuerhalten bzw. legitimieren zu wollen, ist folglich nicht mehr ohne weiteres möglich. Allerdings entpuppt sich die Rede von der Gleichstellung der Geschlechter nur allzu oft als reine Rhetorik und symbolische Politik, die bislang noch keinen tief greifenden Einfluss auf den immer noch vielfach vorherrschenden »Gesetzescharakter« (Lorber 1999) der Geschlechtersegregation hatte. Auszumachen ist vielmehr ein »Ungleichheitstabu« (Nentwich 2004) sowie ein »Egalitätsmythos« (Funder 2005), was eine Thematisierung »androzentrischer Machtstrukturen und geschlechtsbasierter häuslicher und betrieblicher Arbeitsteilung« (BeckerSchmidt 2004: 70) schwierig macht. Wenngleich die häufig behauptete Geschlechtsneutralität auch nicht in jedem Fall nur als »Schein« anzusehen ist, besteht weiterhin ein »auffälliger Kontrast« zwischen der Hartnäckigkeit geschlechtlicher Ungleichheit und der Annahme der Gleichberechtigung (vgl. u.a. Schwinn 2008). Folglich ist davon auszugehen, 318
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dass auch in der »Wissensgesellschaft« soziale Kämpfe um Positionen und den Stellenwert und die Distinktionsmacht spezifischer Wissensformen stattfinden werden, die keineswegs abgekoppelt von der vorherrschenden, noch weitgehend asymmetrischen Geschlechterordnung erfolgen. Wer z.B. meint, allein durch die Vermittlung von Gender-Kompetenzen – also Wissen über die Entstehung und Struktur von Geschlechterverhältnissen – an inkorporierten, habitualisierten und vor allem hierarchisierenden Geschlechterklassifikationen zu rütteln, gibt sich folglich der »Illusion einer schnellen Veränderbarkeit von Geschlechterverhältnissen bzw. eines relativ unkomplizierten Abbaus bestehender Geschlechterungleichheiten« hin (Dölling/Krais 2007: 26). Die Kategorie Geschlecht wird demnach wohl noch eine ganz Weile eine Achse der Differenz bleiben; die allerdings – wie die Intersektionalitätsdebatte zeigt (u.a. Klinger/Knapp 2008; Winker/Degele 2009) – um weitere (alte und neue) Achsen bzw. Differenzkategorien (Klasse, Rasse/Ethnizität, Körper) und Analyseebenen (Identitätsbildung, Sozialstruktur, Repräsentation) zu ergänzen ist. Die Perspektive einer geschlechtergerechten Wissensgesellschaft erscheint damit als wenig realistisch. Weitaus wahrscheinlich ist hingegen, dass die geschlechtsspezifische Ungleichheit, unabhängig von kulturellen Wandlungsprozessen und rechtlicher Gleichstellung, noch relativ lange bestehen bleibt. Wenngleich die Positionen sich in ihren Grundaussagen auch voneinander unterscheiden – hier die Aussage von der Beharrungskraft der Omnirelevanz der Geschlechterdifferenz, dort die These eines Bedeutungsverlustes der Geschlechterkategorie –, lassen sich dennoch Gemeinsamkeiten erkennen. Einig sind sich die VertreterInnen beider Positionen vor allem in einem Punkt: Es ist Bewegung in die Geschlechterverhältnisse gekommen. Unstrittig ist, dass die »Modernisierung der Geschlechterverhältnisse […] gegenwärtig einen Stand erreicht (hat, M.F.), der vor allem durch Widersprüche, Brüche und Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet ist« (Wetterer 2003: 288). Ob wir es aber tatsächlich mit einem epochalen Veränderungsprozess zu tun haben, der sich nicht nur in einem Wandel der geschlechtlichen Arbeitsteilung in der Familie, sondern auch in Organisationen (etwa in den Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen, den Verdienstmöglichkeiten und Karrierepfaden) widerspiegelt, oder nicht doch nur eine Reproduktion alter Grundmuster, wenn auch in neuem Gewand, stattfindet, ist daher die Frage, die letztendlich auch eine empirische Klärung erfordert. Ein geeignetes Feld, um schon heute etwas über den Wandel und die Persistenz von Geschlechterverhältnissen in Erfahrung zu bringen, stellen moderne, wissensbasierte Organisationen dar (z.B. Softwarefirmen, Beratungsunternehmen, Pharma- und Biotech-Unternehmen oder For319
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schungsinstitute), die in vielerlei Hinsicht bereits als Vorboten der »Wissensgesellschaft« gelten. Eine erste grobe Sichtung empirischer Befunde deutet darauf hin, dass es für optimistische Zukunftsprognosen wohl noch zu früh sein dürfte. Vielmehr haben sich – gleich ob es sich um Informations- und Telekommunikationsunternehmen, Organisationsberatungen oder wissenschaftliche Forschungsinstitute handelt – die altbekannten Reproduktionsmechanismen geschlechtlicher Differenzierungen bislang noch als weitgehend stabil erwiesen (vgl. Funder/Dörhöfer/ Rauch 2006; Rudolph 2007; Krais 2008; Wetterer 2007). Eine grundlegende Auflösung der geschlechtlichen Arbeitsteilung oder geschlechtshierarchischer Organisationsstrukturen ist demnach nicht zu erkennen; wenngleich es hier und da auch erste Lichtblicke gibt. Die Aussage »Geschlecht spielt keine Rolle«, wie sie in wissensbasierten Organisationen häufig zu hören ist, entpuppt sich bei genauerer Analyse immer noch weitgehend als ein »Egalitätsmythos«, der sowohl von Frauen wie von Männern erzeugt wird und vielfach zu einer De-Thematisierung der Geschlechterdifferenz geführt hat. Vertikale und horizontale Geschlechtersegregationen werden zwar wahrgenommen, aber nicht mit der Geschlechterdifferenz, wie etwa der Existenz von Geschlechterstereotypen oder vergeschlechtlichten (Sub-)Strukturen in Verbindung gebracht; es gilt das Motto »jeder ist seines Glückes Schmied«. Gleichstellungspolitik voranzubringen erweist sich daher als ein schwieriges Unterfangen, ja verbietet sich geradezu, wenn das Geschlecht nicht mehr als ein sozialer Differenzierungsfaktor wahrgenommen wird. Nicht »gender«, sondern »knowledge matters«! Wie schwierig ein Umbau der Geschlechterverhältnisse angesichts dieser mittlerweile recht verbreiteten Vorstellung ist, zeigt eine Reihe empirischer Studien (vgl. u.a. Andresen/Dölling 2008; Funder/Dörhöfer/Rauch 2006; Nickel/Hüning/Frey 2008). So überwiegt gegenwärtig wohl eher die Skepsis, dass Modernisierungsprozesse in Organisationen in Anbetracht von »vergeschlechtlichten« Organisationsstrukturen und der vielfach unbewussten, situativen, interaktiven Herstellung von Geschlecht in den sozialen Praxen von AkteurInnen zu einem tief greifenden Wandel führen werden, wie etwa Andresen und Dölling (2008) betonen. Offenbar beißt sich der »normative Wandel zur Gleichberechtigung« immer wieder sowohl an den »institutionellen Strukturen« als auch an der Beharrungskraft des objektiven und subjektiven Geschlechterwissens die Zähne aus (vgl. Schwinn 2008; Andresen/Dölling 2008). Von einem Verschwinden der sozialen Bedeutung der bipolaren Geschlechterunterscheidung kann daher wohl noch nicht die Rede sein; vielmehr birgt so manches Diversitykonzept und Gender-Training eher noch die Gefahr, zur Reproduktion geschlechtlicher Differenzierungen beizutragen. 320
GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE
F a z i t u n d Au s b l i c k : Au f d e m W e g i n e i n e postpatriarchale Wissensgesellschaft? Wissensgesellschaftliche Zeitdiagnosen gehen davon aus, dass Wissen zum »axialen Prinzip« der Gesellschaft (Bell), zum zentralen Modus ihrer Reproduktion (Willke), sogar zur Basis von Handlungsfähigkeit (Stehr) wird. Die Bedeutung von Wissen wird – so die Annahmen – in allen gesellschaftlichen (Teil-)Bereichen ansteigen und die Gesellschaftsstrukturen radikal verändern. Wissen wird sich in zunehmendem Maße als entscheidend für die Inklusion in Teilsysteme erweisen und damit quasi auch zu einem »Einlassticket« für (wissensbasierte) Organisationen. Warum sollte – wenn »knowledge matters« – die Geschlechterdifferenz in der »Wissensgesellschaft« also noch eine Rolle spielen? Hierarchisierende Geschlechterklassifikation, wie sie noch in traditionellen Industriegesellschaften üblich und Ausdruck eines »somatisierten Herrschaftsverhältnisses« (Bourdieu) waren, wären folglich ein Anachronismus, wenn nur noch zählt, wer was weiß und wie relevant dieses Wissen im jeweiligen sozialen Feld ist. Die Strukturkategorie Geschlecht hätte damit ausgedient. In den Konzepten zur »Wissensgesellschaft« sowie der Wissensökonomie dominiert schon heute ein universalistischer Code, der besagt, dass selbstverständlich nicht die Zuschreibung zu einem Geschlecht, sondern nur Leistung, Qualifikation und natürlich Wissen den Ausschlag gibt, wenn es z.B. um die Besetzung einer Stelle, Karrierechancen und Anerkennung geht. Nimmt man jedoch eine Probe aufs Exempel vor und geht davon aus, dass moderne, wissensbasierte Organisationen Vorreiter der »Wissensgesellschaft« darstellen, zeigt sich, dass diese faktisch noch weit davon entfernt sind als Vorboten für einen tief greifenden Wandel der Geschlechterverhältnisse zu gelten. Ob im Zuge der zunehmenden Nachfrage nach Gender-Kompetenz, Gender-Expertise usw. eine neue Entwicklungsdynamik in Gang gesetzt werden kann, bleibt eine offene Frage. Viel wird davon abhängen, ob es zu einer kritischen Reflexion des vorherrschenden Geschlechter-Wissens kommt. Noch ist die post-patriarchale (Wissens-)Gesellschaft in weiter Ferne.
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5 .2 De utungs macht: » Wis se ns ges ellsc haft« a ls s elf-fulfilling prophec y? RAINER SCHÜTZEICHEL
Der Wissenshaushalt moderner Gesellschaften ist in einem beträchtlichen Wandel begriffen. Die Verfahren der Produktion und Variation, der Diffusion und Selektion wie der Retention und Stabilisierung von »Wissen« haben sich enorm geändert. Darauf weisen die frühen Pioniere der sozialwissenschaftlichen Forschung wie Machlup (1962), Lane (1966) oder Bell (1973) mit dem Terminus der »knowledgeable society« oder der »nachindustriellen Gesellschaft« hin. Sie diagnostizieren eine wachsende gesellschaftliche Relevanz von »Wissen« und betrachten es als neue primäre Ressource gesellschaftlicher Reproduktion, welche zu einem neuen axialen Prinzip der Gliederung moderner Gesellschaften führt. Kodifiziertes Wissen löst ihnen zufolge das Eigentum an Produktionsmitteln als zentralem Strukturierungsprinzip ab. Es setzt sich eine neue Schicht von »Wissensarbeitern«, Wissensberufen und Wissensexperten durch, die die Sozialstruktur moderner Gesellschaften nachhaltig prägen. Die moderne Gesellschaft ist aus dieser Perspektive eine wissensbasierte Gesellschaft, weil sie von wissensabhängigen Handlungen und Tätigkeiten durchdrungen und ihre Reproduktion von der permanenten Analyse von Informationen und der Reflexivisierung von Wissensbeständen abhängig ist. Während die Wissensbasis früherer Gesellschaften auf tradierten Regeln und beiläufigem Lernen beruhte, sind moderne Gesellschaften auf die reflexive Kontrolle und Revision des Wissens und die systematische Generierung neuen Wissens angewiesen. Die Wissensgesellschaft in diesem Verständnis macht lebenslanges Lernen, 325
RAINER SCHÜTZEICHEL
lernende Organisationen, reflexives Wissensmanagement und komplexe Wissenssysteme erforderlich. Spätere Analysen fügten neue Merkmale hinzu und präzisierten alte. Um nur einige zu nennen: Ging man zunächst noch von der wachsenden Bedeutung des Wissenschaftssystems und der Hochschulen und Universitäten als den zentralen Orten der Wissensproduktion aus, so relativierte man dies in jüngeren Jahren. Die Generierung von neuem Wissen sei viel zu vielfältig und zu schnelllebig, als dass man sich den Umweg über diese Zentren noch leisten könne. An den wichtigen sozialen Knotenpunkten und Schaltzentralen bildeten sich »multiple centers of expertise« aus, so die These von Sheila Jasanoff (1990), die unmittelbar das operativ nötige Wissen generierten und verwalteten. Ebenfalls viel diskutiert sind die Thesen von der Entwicklung einer neuen Form (»mode 2«) der Wissensproduktion, welche im Vergleich zu der älteren Form sehr stark kontextualisiert, enthierarchisiert, transdisziplinär und heterogen strukturiert ist (Nowotny et al. 2004), oder dem »triple-helixmodel« der Wissensproduktion (Etzkowitz/Leydesdorff 2000). Die Generierung neuen Wissens, so die Diagnosen, wird also ubiquitär und führt zu einer »Verwissenschaftlichung« der Gesellschaft, einer »Entakademisierung« des Wissens und einem Bedeutungszuwachs neuer Professionen als der eigentlichen Schaltstelle wissensbasierter Gesellschaften. Umgekehrt aber würde das Wissen verstärkt ökonomischen Imperativen und in Gestalt einer »Wissenspolitik« oder einer »knowledge governance« (Willke 2007) politischen Regulierungen ausgesetzt. Aber wie das »Wissen« selbst, so wanderte im Laufe der letzten Jahrzehnte auch der Terminus der »Wissensgesellschaft« aus der Wissenschaft aus und wurde zu einem öffentlichen Leitbegriff. Aus einem wissenschaftlichen Konzept wurde eine weithin benutzte Selbstbeschreibungsformel, die viele Funktionsbereichen wie der Politik, der Bildung und der Ökonomie übernahmen. Die Formel der »Wissensgesellschaft« wird selbst zu einem Akteur in diesem Geschehen, ähnlich wie solche hervorstechenden Selbstthematisierungen wie die der »Risikogesellschaft« oder das Selbstverständnis als »globalisierte Gesellschaft« oder als »Kultur«. Sie gewinnt eine überragende »Deutungsmacht«. Aus ihr schöpft die moderne Gesellschaft eine ihrer »großen Erzählungen« (Lyotard 1979), sie bildet einen »Mythos« (Kübler 2005), formt sich zu einem Produkt aus »Wille und Vorstellung« (Bittlingmayer 2005). Die »Wissensgesellschaft« ist zu einer zentralen semantischen Entität geworden. Von daher bietet sich die systemtheoretische Unterscheidung von Semantik und Sozialstruktur an (Luhmann 1997: Kap. 5; vgl. auch Bittlingmayer 2005), um die »Definitionsmacht« der »Wissensgesellschaft« zu analysieren. Aber ihre Analysemöglichkeiten sind problema326
DEUTUNGSMACHT W ISSENSGESELLSCHAFT
tisch insofern, als mit Hilfe dieser Unterscheidung meist nachträgliche Anpassungen von semantischen Figuren an vorausgegangene sozialstrukturelle Veränderungen untersucht werden, nicht die Deutungsmacht und die Auswirkungen der Semantik auf die Entwicklung von sozialstrukturellen Prozessen. Eine handlungstheoretisch motivierte Alternative lautet: »If men define situations as real, they are real in their consequences« (Thomas/Thomas 1928: 572). Das Thomas-Theorem, benannt nach Dorothy und William Thomas, bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt. Unter Berufung auf dieses wissenssoziologische Theorem hat Robert K. Merton (1936; 1968) eine Form der soziologischen Erklärung postuliert – die »self-fulfilling prophecy«. An dem nachträglich so bezeichneten »Schwarzen Mittwoch« im Jahre 1932 kam Cartwright Millingville, der Direktor der florierenden »Last National Bank«, am Morgen in sein Büro, er bemerkte zwar eine vergleichsweise rege Betriebsamkeit an den Bankschaltern, aber er vermutete, dass die Löhne überwiesen worden waren. Als er am Abend die Bank verließ, gab es diese nicht mehr. Sie war Bankrott gegangen. Es hatte sich unter den Arbeitern und Angestellten der benachbarten Stahlfabriken das Gerücht verbreitet, die Bank sei zahlungsunfähig. Viele der Kunden versuchten, ihre Einlagen und Ersparnisse zu retten, was zu massenhaften Abbuchungen und zum Bankrott der Bank führte. Dieses Ereignis stellt nach Merton eine Exemplifikation einer self-fulfilling prophecy dar. Aufgrund eines Gerüchts, ungenügenden Wissens, Irrtümer oder falscher Annahmen über einen Zustand wird gerade dieser Zustand hergestellt. Self-fulling prophecies stellen nach Merton (1936: 174ff.) ein Musterbeispiel für die nicht-antizipierten Folgen und Nebenfolgen des sozialen Handelns dar. Diese resultieren aus nicht-adäquatem Handlungswissen, welches man auf Unwissenheit, auf die Dominanz von Interessenverfolgungen, auf Werte oder eben auf Irrtümern zurückführen kann. Die von Merton diagnostizierten Mechanismen beruhen darauf, dass Situationsdefinitionen, Prophezeiungen oder Voraussagen einen integralen Bestandteil der Situation darstellen und von daher folgende Entwicklungen der Situation beeinflussen. Handelt es sich um self-fulfilling prophecies, so liegen falsche Situationsdefinitionen vor, die im Laufe dieser Entwicklung wahr werden. »The self-fulfilling prophecy is, in the beginning, a false definition of the situation evoking a new behavior which makes the originally false conception come true« (Merton 1968: 477). Den sich-selbst-erfüllenden Prophezeiungen stehen »self-defeating prophecies« oder »self-destroying prophecies« gegenüber. Diese treten ein, wenn aufgrund von Voraussagen über ein Ereignis oder einen Zustand Prozesse in Kraft gesetzt werden, die diese Voraussagen falsifizieren. 327
RAINER SCHÜTZEICHEL
Die Wirkmacht der »Wissensgesellschaft« Die Fragen, die sich in unserem Zusammenhang also stellen: Welche Auswirkungen hat die Deutungsmacht »Wissensgesellschaft«? Ist mit dieser Deutungsmacht eine self-fulfilling prophecy oder eine self-defeating prophecy oder etwas Drittes verbunden? Oder gilt gar frei nach Karl Kraus, dass die Wissensgesellschaft die Krankheit ist, für deren Heilung sie sich hält? Wenn man sich die politischen, ökonomischen oder mitunter auch leichtfertige wissenschaftliche Positionen vor Augen führt, die das Zeitalter der Wissensgesellschaft ausgerufen haben, so ist die Antwort klar: Die Wissensgesellschaft ist das Produkt einer linearen Entwicklung hin zu mehr und besserem Wissen. Sie führe zu einer Vermehrung wie zu einer verstärkten Inanspruchnahme von Wissen für die ökonomische Produktion, für die Ausbildung der Menschen, für politische Entscheidungsprozesse. Es handelt sich also weder um die eine noch um die andere der beiden Prophezeiungen, sondern um eine richtige Diagnose, die zu einer vorausgesehenen Entwicklung führt. Wie aber wirkt sich die Semantik der »Wissensgesellschaft« auf die Sozialstruktur und auf die Entscheidungsprozesse moderner Gesellschaften aus?
Wissensgesellschaft als Teil staatlicher Regulierungsformen Unter dem Eindruck eines weltweiten Wettbewerbs beruft sich seit 1998 die Europäische Union in ihren Reformanstößen auf die wissensbasierte Gesellschaft, insbesondere in den so genannten »Pisa- und BolognaProzessen«, also des Aufbaus eines europaweiten Schul- und Hochschulraums. Im Rahmen einer projektierten »knowledge economy« werden Versuche unternommen, althergebrachte Grenzlinien zwischen Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft aufzuweichen und neue staatliche Regulierungsformen zu implementieren. Es wird eine Revision traditioneller Ausbildungen angestrebt, lebenslanges Lernen wird propagiert, der Bildungskanon wird verändert und der humanistische Bildungsgedanke weitgehend aufgegeben (Schöller 2006). Auch ein zweiter Punkt wird immer wieder gefordert: Unter Berufung auf die Wissensgesellschaft soll europaweit eine größere Bildungsgerechtigkeit, eine umfassende Inklusion aller Schichten in das Bildungssystem hergestellt werden. Aber es ist gerade in der deutschen Diskussion deutlich erkennbar, dass die Berufung auf die »Wissensgesellschaft« auch zur Fortsetzung und Intensivierung von Strukturen sozialer Ungleichheit und zur Forcierung sozialer Selektionen benutzt wird. 328
DEUTUNGSMACHT W ISSENSGESELLSCHAFT
Unter Berufung auf die »Wissensgesellschaft« werden die Universitäten zu Massenuniversitäten ausgebaut, die sich immer weniger auf das Bild einer insularen, unilateralen Wissensvermittlung zurückziehen können, sondern mehr und mehr unterschiedliche lebensweltliche Relevanzen und externe Ansprüche mühsam miteinander verbinden müssen und dabei das, was als »Wissen« gilt, standardisieren, modernisieren und »entschlacken«, aber nicht begründen. Unter dem Diktat einer »Wissensgesellschaft« stehen auch politische Entscheidungsprozesse vor dem Problem, sich unter Berufung auf Wissen, insbesondere wissenschaftliches Wissen, legitimieren zu müssen. Dementsprechend wurden in den letzten Jahren in allen Bereichen Think Tanks und andere Beratungsinstitutionen aufgebaut (vgl. Schöller 2006). Empirische Forschungen zur Politikberatung zeigen jedoch, dass es nicht um die Wissensbasierung von politischen Entscheidungen geht, sondern um die Legitimation von politischen Entscheidungen und um die Möglichkeit, Beratungen strategisch in das politische Kalkül einzubeziehen (vgl. die Beiträge in Bröchler /Schützeichel 2008). Die These ist also: So, wie die Figuren der Selbstthematisierung die Funktion haben, das soziale Gedächtnis und damit das, was kollektiv erinnert werden kann, zu strukturieren, so haben sie auch die Funktion, jeweils opportunen politischen und ökonomischen Strategien eine gewisse Legitimität zu verleihen. Was aber ist mit dem »Wissen« der Wissensgesellschaft? In den Diskussionen über die Wissensgesellschaft hat man oft den Eindruck, dass man von einem unterkomplexen, nur wenig elaborierten Wissensbegriff ausgeht und von daher auch problemlos die Möglichkeit der Kommunikation von Wissen unterstellen kann. Dem möchten wir auf der Basis von epistemologischen, also im weitesten Sinne erkenntnistheoretischen Untersuchungen, einen kontextualistischen Wissensbegriff und die These entgegen stellen, dass »Wissen« nicht kommuniziert werden kann.
Kontextualistische Epistemologie In den Diskussionen über die Wissensgesellschaft bleibt der Wissensbegriff oftmals ungeklärt. Soziologisch wird man einen Wissensbegriff voraussetzen müssen, der auf das rekurriert, was Personen in spezifischen sozialen Kontexten für wahr halten. Man sollte also die Differenz von wahr-sein und für-wahr-halten voraussetzen. Ob etwas für wahr gehalten wird, hängt kontextualistischen Epistemologien zufolge von bestimmten Begründungsverfahren, Interessen oder Erwartungen in bestimmen sozialen Kontexten ab. Das bedeutet: Ob etwas (eine Information, eine Überzeugung, eine Meinung, eine Aussage, ein praktisches 329
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Können) »Wissen« darstellt, hängt von dem jeweiligen situativen und institutionellen Kontext ab. Es beruht auf kontextspezifischen Standards oder öffentlichen Kriterien, mit Hilfe derer »Wissen« zugeschrieben wird. »Wissen« ist keine Konserve, die man beliebig lange deponieren kann. Die Kontexte, in denen etwas als »Wissen« gilt, variieren historisch und kulturell. Von daher hat »Wissen« eine schnelle Verfallszeit, es muss immer wieder neu justiert und angepasst werden. Aber für alle Kontexte gilt, dass »Wissen« ein holistischer Begriff ist. Es bezieht sich auf ein »Ganzes« von kohärenten Aussagen oder Praktiken. Ob etwas ein »Wissen« ist, hängt davon ab, ob es sich in Kohärenzverhältnisse mit anderen Aussagen oder Praktiken fügt und wie etwas »verstanden« wird. Daraus ergibt sich: Wissen kann nicht kommuniziert werden. Ob etwas »Wissen« ist, ergibt sich erst in den Anwendungskontexten. Man kann nur über Wissen kommunizieren, d.h. darüber, ob ein Können, eine Überzeugung, eine Begründung etc. akzeptiert und als »Wissen« anerkannt werden können. Ob etwas »Wissen« ist, entscheidet sich darin, ob es mit der Kriterien einer epistemischen Gemeinschaft verträglich ist oder nicht. Welche Konsequenzen aber hat das für das »Wissen« der »Wissensgesellschaft«? Entlang den zentralen Achsen der Differenzierung moderner Vergesellschaftungen, so ist zu vermuten, wird es einerseits zur Ausbildung von hochspezifischen epistemischen Gemeinschaften mit jeweils hochgradig differenziertem Sonderwissen und einem eigenen »Wissensregime« (Wehling 2007) kommen. Andererseits wird ein vor allem durch die Verbreitungsmedien gewährleistetes, integratives Wissen etabliert.
Wissen und Nichtwissen Häufig wird in den Diskursen zur Wissensgesellschaft eine unilineare Entwicklungstendenz unterstellt – vom Nichtwissen hin zum Wissen. Es wird davon ausgegangen, dass die Akkumulation von Wissen das Nichtwissen zurückdrängt. Eine solche Entwicklung muss ernsthaft bezweifelt werden. »Wissen« ist nicht nur kontextsensitiv, sondern es ist auch intrinsisch mit Nicht-Wissen verbunden. »Wissen« beruht auf Rechtfertigungen und Begründungen, die ihrerseits aufgrund des holistischen Zusammenhangs wiederum mit anderen Rechtfertigungen und Begründungen gerechtfertigt und begründet werden müssen, also auch immer wieder zu epistemischen Relationen führen, die noch-nicht-gewusst sind. Aus diesem Grunde ist die Wissensgesellschaft in einem gleichen Maße auch eine »Nichtwissensgesellschaft«. Oder um dies mit Wolfgang Krohn zu formulieren: Die Wissensgesellschaft ist eine Gesell330
DEUTUNGSMACHT W ISSENSGESELLSCHAFT
schaft, »die in ständig wachsendem Maß über den Umfang und die Ebenen ihres Nichtwissens lernt« (Krohn 1997: 69). Aber auch dieses ist noch eine Form des gelernten, also gewussten Nichtwissens. Gegenüber dieser Form des gewussten Nichtwissens lassen sich noch andere Formen des Nichtwissens unterscheiden, von denen das nicht-gewusste und nicht-erwartete Nichtwissen die wohl wichtigste und sozial prekärste Form darstellt. Angesichts der vielfältigsten Informationen, die jeder Person in einer Wissensgesellschaft zur Verfügung stehen, ist eine weitere Form des Nichtwissens von erheblicher Relevanz, nämlich die des gewollten Nichtwissens oder der begründeten Ignoranz. Gerade in den Bereichen der Medizin und der Humangenetik zeichnet sich das Recht auf eigenes Nichtwissen ab, denn diese »Informationen« haben nichtignorierbare Bedeutung für den eigenen Lebenslauf und die soziale Mitwelt.
Epistemisches Vertrauen Die Wissensgesellschaft ist in ihren Grundstrukturen auf epistemisches Vertrauen zwischen den Laien und den jeweiligen Experten angewiesen. Wann kann ein Laie einem Experten vertrauen? Und vor allem: Woran erkennt ein Laie, dass ein Experte ein Experte ist? Dies ist ein zentrales Problem der »Wissensgesellschaft«, dem aber von Seiten der Soziologie bisher kaum Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Über welche Kriterien verfügt ein Laie in der Beurteilung der Expertise von Experten? Experten sind Personen, denen eine gewisse epistemische Autorität zugesprochen wird und welche mit einem Vertrauen in ihre Autorität ausgestattet sind. Expertentum ist eine triadische Relation. Sie setzt eine Person X voraus, die über epistemische Autorität verfügt, eine Person Y, die diese epistemische Autorität von Person X anerkennt, und eine theoretische oder praktische Problemstellung in einer Domäne D, in welche diese epistemische Autorität gilt (vgl. Scholz 2009). Die epistemische Autorität kann unterschiedlich begründet werden: Person X hat deshalb eine epistemische Autorität, weil sie im Vergleich mit anderen Personen über eine Vielzahl von begründeten und gerechtfertigten Überzeugungen bezüglich einer Problemstellung bzw. nur wenige unbegründete und ungerechtfertigte Überzeugungen bezüglich dieser Problemstellung verfügt (Wissens-Autorität), weil sie im Vergleich mit anderen Personen eine Problemstellung besser versteht (interpretative Autorität), oder weil sie im Vergleich mit anderen über bestimme Fähigkeiten (skills) verfügt, bestimmte Zustände realisieren zu können (performative Autorität). Demgegenüber ist ein Laie oder ein Novize jemand, der eine andere Person als eine epistemische Autorität anerkennt. 331
RAINER SCHÜTZEICHEL
Wie aber identifiziert nun ein Laie einen Experten? Unter welchen Umständen gesteht er ihm »testimony« zu? Man wird diesbezüglich sicherlich, wie schon angedeutet, an die verbürgende Kraft von Institutionen denken, an die wissenschaftliche Ausbildung, die einen Experten auszeichnet, an die durch die Anerkennung in Professionsgruppen gestiftete Legitimation, bestimmte professionale Tätigkeiten auszuüben (Ärzte, Anwälte, Ingenieure etc.) oder an die epistemische und deontische, zu Handlungen verpflichtende Autorität, die durch die Mitgliedschaft in Organisationen gestiftet wird. Aber spätestens dann, wenn Experten sich widersprechen, steht der Laie vor dem Problem, wem er vertrauen, wem er epistemische Autorität zusprechen kann. Ihm bieten sich verschiedene Möglichkeiten. Er kann versuchen, sich ein eigenes Urteil über das Wissen und Können der Experten zu bilden, aber seine Urteilsfähigkeit wird auf bestimmte popularisierende oder exotische Aussagen beschränkt bleiben; die esoterischen Aussagen des Experten wird er nicht beurteilen können. Er kann die Aussagen von Experten miteinander vergleichen oder ihre Reputation im Kreise anderer Experten zur Kenntnis nehmen. Er kann prüfen, ob der Experte bestimmten Interessen verpflichtet oder ob er unabhängig ist. Er kann auf das Urteil anderer Laien Bezug nehmen und versuchen, sich selbst zu expertisieren oder sich mit anderen Laien zusammen zu organisieren. Aber wie und welches Verfahren auch immer: Angesichts der starken Ausdifferenzierung von Expertenstrukturen wird man vermuten können, dass das Vertrauen in die Expertise dieser Experten entscheidungsabhängig wird. Man muss sich entscheiden, zu vertrauen. Damit treten gegenüber dem fungiblen, lebensweltlichen, vorreflexiven Vertrauen immer stärker evaluative, reflexive Bewertungs- und Kontrollmechanismen in den Vordergrund. Zwischen Experten und Novizen einerseits, Experten und Laien andererseits gibt es unterschiedliche Formen der Kommunikation über Wissen. Experten belehren Novizen – der Lehrer seine Schüler, der Dozent seine Studenten. Novizen haben das von den »Experten« vermittelte Wissen zu reproduzieren. Die Kommunikationsform zwischen Experten und Laien hingegen ist keine Belehrung, sondern eine Beratung. Laien wenden sich mit einem spezifischen Handlungsproblem an Experten, und Experten informieren die Laien darüber, um welches Problem es sich ihres Erachtens handelt und welche Problemlösungsmöglichkeiten es gegebenenfalls geben könnte. Die Entscheidungslast aber trägt der Laie (vgl. Schützeichel 2008). Auch hierbei dürfte das epistemische Vertrauen eine wesentliche Rolle spielen.
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DEUTUNGSMACHT W ISSENSGESELLSCHAFT
Fazit Welche Auswirkungen hat die Semantik der »Wissensgesellschaft«? Man wird sicherlich die naive These, dass mehr und besseres Wissen produziert wird, nicht unterstützen können. Es empfiehlt sich, für jeweils raffinierte Formen von »self-fulfilling und self-defeating prophecies« zu plädieren: Die Deutungsmacht der »Wissensgesellschaft« führt im Sinne einer raffinierten self-defeating prophecy zu einer stärkeren Selektivität und Reflexivität von »Wissen«, zu einer Steuerung und Überregulierung der Wissensproduktion, die gerade zu einer »Unwissensgesellschaft« führen kann, sie kann aber auch im Sinne einer raffinierten self-fulfilling prophecy zu einer gleichzeitigen Ausdifferenzierung von integrativen wie differenzierten Wissensordnungen führen, also nicht nur zu einem robusten, transkontextuellen (Nowotny et al. 2004), sondern auch gleichzeitig zu einem fragilen, kontextsensitiven Wissen.
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RAINER SCHÜTZEICHEL
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5.3 Le gitima tion: Wissensgese llschaft als Mantel des Neoliberalismus? ANDREA D. BÜHRMANN
Die Zeitdiagnose Wissensgesellschaft a l s n e o l i b e r a l e i l l u s i o ? F ü r d i e An a l ys e u n d wider die Diagnose! Seit dem Ende 1990er Jahre fokussieren Politik, Wirtschaft und Medien in der EU darauf, dass sie sich mehr und mehr zu entrepreneurial societies entwickeln. In Positionskonkurrenz vor allem zu den USA soll die EU bis 2010 laut dem so genannten Lissabon Vertrag – also in diesem Jahr – zum ›wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt‹ aufsteigen. Globalisierungs- wie Europäisierungsdebatten werden dabei durch einen neuen Wissensgesellschaftsdiskurs abgerundet. In der heterogenen Vielfalt von Zeitdiagnosen gewinnt das Label der Wissensgesellschaft schon seit längerem eine zunehmende Aufmerksamkeit. Man redet von der Wissensgesellschaft als Zeitdiagnose oder Zukunftsperspektive, aber auch als Programmatik real-politischer Zielsetzungen. Nach der Erlebnisgesellschaft Gerhard Schulzes, der Risikogesellschaft Ulrich Becks, der Netzgesellschaft Manuel Castells oder der Multioptionsgesellschaft von Peter Glotz – um nur einige andere Zeitdiagnosen zu benennen – erfährt die Wissensgesellschaft eine breite Rezeption nicht nur in sozialwissenschaftlichen Analysen, sondern vor allen Dingen auch in parteipolitischen Programmatiken sowie Selbstbeschreibungen marktwirtschaftlich orientierter Institutionen.
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Doch die populäre Proklamation der Wissensgesellschaft ist keineswegs nur Diskussionsstoff in intellektuellen Zirkeln. Mittlerweile hat sie den öffentlichen Diskurs breit durchdrungen. So ist sie z.B. in universitären Forschungsprogrammen, bildungspolitischen Offensiven oder arbeitsmarktpolitischen Forderungen nach flexibleren Arbeitsverhältnissen zu finden. Dabei verstehen die Protagonisten der Diagnose Wissensgesellschaft wie Helmut Willke (2002), Nico Stehr (2001) und auch Peter Weingart (2001) Wissen als primäre Produktivkraft, diagnostizieren eine De-Materialisierung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und prognostizieren deshalb einen sozialen Wandel hin zur Wissensgesellschaft. Diese Transformationen betreffen – so wird behauptet – unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche wie Ökonomie, Politik, Bildung oder Kultur. Dabei wird davon ausgegangen, dass Wissen als der konstitutive Mechanismus zukünftiger Gesellschaften zu gelten hat bzw. die »Identität dieser Gesellschaftsformation […] durch Wissen bestimmt seien« (Stehr 2001: 119). Im Wissensgesellschaftsdiskurs können zunächst zwei Phasen unterschieden werden (vgl. dazu auch Resch 2005). Diskutierten im ersten Diskurs über Wissensgesellschaften z.B. Peter Drucker, Daniel Bell oder Amitai Etzoni vor allen Dingen, wie immer mehr Menschen weniger arbeiten und damit ein ›gutes‹ Leben führen könnten, so geht es laut Helmut Willke oder Nico Stehr im neuen Diskurs über die Wissensgesellschaft darum, die Wirtschaft voranzubringen, damit immer mehr Menschen ein ›gutes‹ Leben ermöglicht werden könnte. Dieser neue Diskurs basiert allerdings auf einer simplifizierenden Schlussfolgerung: In modernen ausdifferenzierten Gesellschaften wird spätestens seit Beginn der 1990er Jahre immer mehr Wissen prozessiert. Wissen ermöglicht so (technische) Innovationen, regt wiederum das Wirtschaftswachstum an und steigert letztlich auch die Lebensqualität aller. Diese Folgerung scheint auf den ersten Blick zwar einleuchtend: Wer wird schon gegen ein Mehr an Wissen sein wollen? Jedoch macht ein zweiter Blick nachdenklich. Zwar besteht in sozialwissenschaftlichen Debatten weitgehende Einigkeit darüber, dass immer mehr Wissen hervorgebracht und auch prozessiert wird. Offen ist aber nicht nur, welches Wissen gemeint ist, das von Wirtschaft und Politik gefördert werden soll, sondern auch, wer mit diesem vermehrten Wissen eigentlich wie arbeiten und letztlich Wirtschaftswachstum genieren soll.
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WISSENSGESELLSCHAFT ALS MANTEL DES NEOLIBERALISMUS?
Zentrale Kritikpunkte am Diskurs der Wissensgesellschaft Die Kritik an dem Diskurs Wissensgesellschaft richtet sich insbesondere auf drei Punkte, die im Folgenden in ihren Grundlinien skizziert werden: Die Thematisierung von Wissen als vor- bzw. außerwissenschaftlichem Phänomen (1), die Ausblendung der Kontrollpotentiale des Wissens (2) sowie die Abstraktion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen (3).
1. Die Thematisierung von Wissen als vor- bzw. außergesellschaftliches Phänomen In wissenssoziologischen Studien ist kritisiert worden, dass Technik und Wissenschaft als vor- bzw. außersoziale Phänomene thematisiert werden und dabei zugleich eine gewisse Unschärfe des Wissensbegriffes zu beobachten ist. So taucht Wissen im Diskurs über die Wissensgesellschaft zwar in unterschiedlichen Formen auf: als wissenschaftliches oder alltägliches Wissen, als Experten- oder Laienwissen, als Ressource für Bildung wie Ausbildungen, als Basis von Patenten und Lizenzen, als wissensbasierte Organisationsformen bzw. -typen, als Zentrum von Managementstrategien oder Ausgangspunkt für unternehmerische Investitionsentscheidungen, als Algorithmen von Suchmaschinen sowie als verbindliche Wahrheiten oder tentative Vermutungen. Dementsprechend wird es auch unterschiedlich definiert. Die Vorschläge reichen hier von einem pragmatischen Wissensbegriff, der ausgehend von Niklas Luhmann (1994) darauf abstellt, Wissen als enttäuschungs- und veränderungsbereiten Umgang mit den eigenen Vorstellungen zu begreifen, bis hin zu der sehr allgemeinen Bestimmung, dass Wissen als ›Handlungsvermögen‹ (Stehr 2001) oder die ›Fähigkeit etwas in Gang zu setzen‹ (Willke 2002) verstanden wird. Ermöglicht Wissen zwar z.B. bei Stehr auch mehr Freiheitsgrade und birgt insoweit emanzipatorisches Potenzial, so geht man im hegemonialen Diskurs der Diagnose Wissensgesellschaft davon aus, dass Wissen nicht mehr primär der Wahrheitsfindung dient, sondern es wird zur marktförmigen Ware und degeneriert so vielfach vom emphatischen Wissen zur Ressource, um technische Innovationen anzuschieben. Für Bob Jessop (2002: 89 ff.) wird so eine neue Phase des modernen Kapitalismus erreicht, in der nicht mehr nur das ›Materielle‹ in Form von Gütern und Natur, sondern eben auch das ›Geistige‹ in die Ware Wissen verwandelt wird. In diesem Prozess wird zugleich wissenschaftliches Wissen zunehmend auf- und Erfahrungswissen entwertet. Wissen und die Arbeit mit Wissen werden zu Standortfaktoren, zu Waren, die in Unternehmen gekonnt gemanagt werden 337
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müssen. Dabei vernutzt sich dieses Wissen aber immer schneller. Deshalb auch wird die Wissensgesellschaft von ihren Protagonisten als eine sich rapide wandelnde Wissenswelt inszeniert, die den Menschen mit dem Imperativ vom lebenslangen Lernen konfrontiert. Ausgehend davon soll Bildung zur zentralen persönlichen Ressource werden. Von allen Menschen – also etwa unabhängig von Alter, Geschlecht und Klasse – wird erwartet, dass sie ihr so genanntes ›Humankapital‹ über lebenslange und selbst gesteuerte Lernprozesse erhöhen. Visionen von Selbstverwirklichung über Bildung gelten damit als passé: Stattdessen floriert die Kommmodifizierung und Monetarisierung von Bildung und Eliten. So scheint heute das eingetreten, was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schon 1947 befürchtet haben: Sorgten sie sich in ihrer »Dialektik der Aufklärung« noch um eine mögliche Aufspaltung des Wissens in instrumentelle Vernunft und emanzipative Kritik, so wird offenbar gegenwärtig gerade für diese Spaltung gesorgt. Unter neoliberalen Vorzeichen wandelt sich Bildung vom öffentlichen Gut zur ökonomisierten Ware. Es wird vermutet, dass durch eine verstärkte Ökonomisierung der Bildung es auch nicht mehr allen möglich ist, sich zu (aus-)zubilden. So spaltet sich der Bildungsmarkt in eine Elite und die anderen auf. (vgl. z.B. Bittlingmayer/Bauer 2006) In den letzten Jahren ist auf der einen Seite ein Boom neuer, so genannter wissensfundierter Berufe (Stehr 2001: 251) zu konstatieren. ExpertInnen, BeraterInnen, aber auch Coaches sollen in der ›schönen neuen Welt‹ der Wissensgesellschaft dominieren. Durch diese Gruppe von Berufen werden »Expertisen erstellt, Situationen definiert, professionelle Standards etabliert, Prioritäten festgelegt, Handlungsoptionen ausgearbeitet und Empfehlungen ausgesprochen, und zwar unter der Maßgabe, Entscheidungsunsicherheiten von Entscheidungsträgern handhabbarer zu machen« (Bittlingmayer 2005: 237).
Diese Wissensarbeiter (und -arbeiterinnen) – den Begriff prägte Peter Drucker schon 1959 – verfügen in der Regel über eine akademische Ausbildung und bilden die neue Elite in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaften. Auf der anderen Seite aber steht das Heer derer, die eben nicht dieser neuen Elite angehören, weil sie ihr Humankapital nicht angemessen ausbilden konnten oder wollten und so ihre so genannte Employability den Anforderungen des Marktes nicht genügte.
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WISSENSGESELLSCHAFT ALS MANTEL DES NEOLIBERALISMUS?
2. Die Ausblendung der Kontrollpotenziale des Wissens Zwar diagnostizieren Gilles Deleuze (1993) und im Anschluss daran etwa, Michael Hardt und Antonio Negri (2000) sowie Ulrich Bröckling (2007) eine zunehmende Relevanz von Wissen. Aber anders als in der Zeitdiagnose Wissensgesellschaft prognostizieren sie auch eine verstärkte Indienstnahme dieses Wissens für die steuernde Kontrolle der Einzelnen wie des Gesellschaftskörpers. Dabei wird davon ausgegangen, dass alte Einschließungsmilieus wie die Fabrik, das Gefängnis oder die Schulen und Hochschulen durch vielfältige und verstetigte steuernde Kontrollen ersetzt werden. Mit dieser neuen Machttechnik geht es nicht mehr darum, Menschen in speziellen Institutionen zu disziplinieren, sondern vor allen Dingen über den Einsatz von Informationstechnologien zu kontrollieren. Mit Blick auf innovative technologische Kontrollpotenziale wird z.B. ein neues betriebliches Steuerungsniveau konstatiert. Wichtige Dimensionen sind etwa: • die Transparenz von Tätigkeiten aufgrund zwangsläufiger Informationsaufzeichnung, • die Reduktion von zeitlichen und örtlichen Freiräumen infolge zentraler Interventionsmöglichkeiten und • die Steigerung des Zugriffs auf menschliche Arbeit durch die Verfügbarkeit von Arbeitsprozessdaten. Diese Intensivierung und Ausweitung der Steuerungsverfahren findet sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Sie soll die Selbstdisziplinierung der Individuen befördern und ihre Koordinationsanstrengungen untereinander forcieren. Deshalb spricht man auch vom Regieren über Freiheit bzw. Autonomie. Die Aufforderung das Humankapital zu optimieren wird aber im Kontrollgesellschaftsdiskurs weniger als Chance gesehen. Vielmehr wird immer wieder auf die Zumutungen an die Subjekte verwiesen, die permanent an der eigenen, marktförmigen Selbstoptimierung bei Strafe der gesellschaftlichen Marginalisierung arbeiten müssen. (vgl. etwa Bührmann 2005, Bröckling 2007) Es wird gefordert, dass sie sich als ein unternehmerisches Selbst betrachten und dementsprechend immer mehr unternehmerisch handeln. Michel Foucault sieht hier in seinen Vorlesungen zur Geburt der Biomacht eine Art permanentes ›ökonomisches Tribunal‹ am Werk, dem die Einzelnen sich gegenübersehen. Dabei wird die äußere Disziplinierung weitgehend durch ein inneres Re-Produktionsverhältnis ersetzt: Die Einzelnen haben ihr Wissen und ihre Kompetenzen nun fortwährend selbstständig und eigenverantwortlich zu produzieren und re-produzieren. Insofern bildet die Freiheit der Einzelnen zugleich ein notwendiges Ins339
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trument der Regierungsausübung und positiven Effekt der Regierungspraxis. Dabei werden die Anpassungsleistungen an neue ökonomische Anforderungen zunehmend individualisiert. So gerät die ›Veredelungen des Humankapitals‹ zur Privatsache. Die neue Wissensgesellschaft zielt damit auch auf neue Subjektformierungen. Kurz: Menschen sollen zu einem unternehmerischen Selbst werden, das sich selbst und andere als Unternehmen betrachtet (vgl. dazu auch Bührmann 2005). Dieses Selbst zeichnet sich dadurch aus, dass es sein Handeln, Fühlen, Denken und Wollen an ökonomischen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen ausrichtet, insofern es für sich selbst »sein eigenes Kapital, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle« (Foucault 2004: 314) ist. Für Richard Sennett zum Beispiel (1998) steht das unternehmerische Selbst ›als flexibler Mensch des Kapitalismus‹ in einer selbst-unternehmerischen Verantwortung. Sein Begehren richtet sich aber nicht nur auf den ökonomischen Erfolg. Vielmehr muss sich dieses Selbst beständig anpreisen und in der Lage sein, sich entsprechend zu präsentieren. Und dies gilt nicht nur für das Erwerbsleben, sondern im Zuge einer Verallgemeinerung des Marktes und seiner ökonomischen Kalküle auch für das Privat- und Gefühlsleben: Der Mensch versteht sich nun selbst als ein Unternehmen, dessen Betrieb er durch die Rationalisierung der gesamten Lebensführung konkurrenzfähig machen soll. Er trennt so nicht mehr zwischen Haushalt und Betrieb, sondern unterwirft nun beide Sphären einer rationalen Buchführung. Nach der Disziplin soll sich so nun die Unternehmensform im Gesellschaftskörper ausbreiten: Mit Blick darauf ist von einer Ökonomisierung des Sozialen im Allgemeinen, bezogen auf die Unternehmensorganisationen von einer Ver-Marktlichung und bezogen auf die Einzelnen von einer VerUnternehmung auszugehen. Damit aber implodiert auch die von Max Weber (1920, S. 203f) noch als Prämisse für die Ausbreitung des okzidentalen Kapitalismus unterstellte Trennung der betrieblichen einerseits und der häuslichen Wertsphäre und Lebensordnung andererseits. Das ›Berufsmenschentum‹ – so kann vermutet werden – wird in gewissem Sinne total.
3. Die Abstraktion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen Die Problematisierung von Wissen als außergesellschaftliches Phänomen sowie die Ausblendung der möglichen oder tatsächlichen Kontrollpotenziale des Wissens führt in der Konsequenz dazu, dass im Wissensgesellschaftsdiskurs oftmals von gesellschaftlichen Machtverhältnissen abstrahiert und damit Herrschaftskritik ausgeblendet wird. Es be340
WISSENSGESELLSCHAFT ALS MANTEL DES NEOLIBERALISMUS?
steht die Tendenz, die konkreten Differenzen der individuellen Ressourcenausstattung, Präferenzstrukturen und Opportunitätsräume nicht zu berücksichtigen und so formal für alle gleichermaßen gestiegene Handlungsräume bzw. -möglichkeiten zu unterstellen. (vgl. Bittlingmayer/Bauer 2006). Nicht mehr die soziale Position, sondern die angemessene Disposition des Humankapitals soll so über die Lebenschancen der Einzelnen entscheiden. Das Individuum gilt als zurechenbare Größe für biographischen (Lern-)Erfolg. Systematische Diskriminierungen spezifischer sozialer Gruppen, wie etwa Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Schichten, bleiben ausgeblendet. Die Zunahme von Bildung und der leichtere Zugriff auf Wissen für alle durch das Internet – so wird prognostiziert – stellen neue Handlungsmöglichkeiten für die Individuen bereit und ermöglichen langfristig eine Nivellierung sozialer Ungleichheit. Damit argumentiert man im Diskurs der Wissensgesellschaft ähnlich wie Helmut Schelsky am Beginn der 1950er Jahre in Bezug auf die nivellierte Mittelstandsgesellschaft. Demnach könnten immer mehr Menschen aus den Unterschichten in die Mittelschicht aufsteigen und auch aus der Oberschicht abwärts mobil sein. So würden die Mittelschichten immer umfangreicher und ihre Angehörigen verstünden sich auch selbst als zum Mittelstand gehörig. Konnte Schelsky immerhin noch einigermaßen belastbare Daten für seine These beibringen, so zeigen aktuelle Befunde (vgl. Rohrbach 2008), dass in der EU derzeit nur Hochqualifizierte Einkommensgewinne erzielen können, während die Einkommen der anderen zunehmend abgewertet werden. Diesen ›Verlierern‹ bzw. ›Verliererinnen‹ der Wissensgesellschaft wird unterstellt, sie sorgten nicht angemessen für ihren ›Betrieb‹, hätten nicht optimal ihre Kompetenzen gepflegt und ihre Potenziale befördert. Dabei geht es nicht mehr nur um die Arbeitswillligkeit, sondern um den Willen zur Arbeit an sich selbst.
Die Wissensgesellschaft als neoliberale illusio? Mit Blick auf die benannten Kritikpunkte kann im Sinne Pierre Bourdieus von einer neoliberalen illusio gesprochen werden. Denn im Rahmen der Zeitdiagnose Wissensgesellschaft werden Gelegenheiten dafür geschaffen, dass gesellschaftliche Gruppen bzw. Klassen und Individuen sich über die eigentlichen Machtstrukturen der Gesellschaft täuschen lassen (können). Sie können nämlich an die Möglichkeit ihres sozialen Aufstiegs glauben und so (un-)bewusst zur Reproduktion der je sich formierenden neoliberalen Ordnung beitragen. Dabei ist der Begriff Neoliberalismus schillernd. Gleichwohl besteht Konsens über seine basale 341
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Argumentationsstruktur: Ausgangspunkt dieser Argumentation ist der Gedanke, dass der Wohlstand der Menschen am besten gefördert werden kann, indem ihre individuellen Kompetenzen und Potenziale freigesetzt werden. Dabei soll der Staat nur einen institutionellen Rahmen bereitstellen, der den Bestand der privaten Eigentumsrechte an Produktionsmitteln sowie freie Märkte und freien Handel gewährleistet, so dass in möglichst vielen gesellschaftlichen Feldern ein privatwirtschaftlicher Unternehmenswettbewerb entstehen kann (Harvey 2007: 8). So sollen nicht nur Wettbewerbsmärkte zum dominierenden Regulationsmodus bei der Produktion von ökonomischen Gütern avancieren, sondern auch bisher politisch regulierte oder auf dem Modus von Reziprozität basierende gesellschaftliche Felder unter einer kapitalistischen Systemlogik subsumiert werden. In dieser Perspektive beschränkt der Staat sich nicht allein darauf Freiheiten zu garantieren, vielmehr organisiert er erst die Bedingungen, unter denen die Einzelnen davon Gebrauch machen können. Damit aber steht die Freiheit der Individuen nicht einer liberalen Regierung entgegen, sondern diese individuellen Freiheiten sind erst die Effekte liberaler Regierungspraxis. Mithilfe der neoliberalen illusio sollen staatliche Regulation und Bürokratie zugunsten von marktförmiger Steuerung und Privatisierung möglichst zurückgedrängt werden. Es wird unterstellt, dass jeder und jede seines oder ihres Glückes Schmied sein könnten. Verlieren oder Gewinnen wird individualisiert. Im Fokus steht also nicht Gleichheit, sondern Chancengleichheit. Politische Steuerung und gesellschaftliche Konfliktlinien sollen sich nicht mehr ausschließlich auf das Problem des Eigentums an Produktionsmitteln konzentrieren, sondern im Zentrum stehen die Verfügung und der Zugang zu Informationen und Wissen. So wird der ehemals strukturbestimmende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit im Diskurs über die Wissensgesellschaft durch den Gegensatz zwischen Wissen und Nicht-Wissen ersetzt. Die Vorstellung, wir lebten in einer postkapitalistischen Wissensgesellschaft, erweist sich in dieser Perspektive mehr als ideologische Suggestion denn als profunde sozialwissenschaftliche Diagnose eines gesellschaftlichen Strukturwandels, werden doch hier im Grunde zwei Begriffe verwechselt, wie Christine Resch (2005: 49) gezeigt hat. Mit Adorno (1968: 354ff) ist nämlich zwischen Produktivkraft und Produktionsverhältnissen zu unterscheiden. Dann spricht zwar einiges dafür, dass Wissen als Produktionsfaktor und auch die Arbeit mit Wissen wichtiger geworden sind, das bedeutet aber keinesfalls zugleich, dass sich auch die Produktionsverhältnisse verändert hätten. Genau diese Verwechslung, ist es, die es ermöglicht, von weiter bestehenden spätkapitalistischen gesellschaftlichen Widersprüchen zu abstrahieren. 342
WISSENSGESELLSCHAFT ALS MANTEL DES NEOLIBERALISMUS?
Gesellschaft wird so im Diskurs die Wissensgesellschaft zum Anhängsel einer Produktionsweise (degradiert), die als nicht weiter beeinflussbar gilt. Technologischer Wandel und Globalisierung erscheinen in dieser Perspektive als quasi naturwüchsige Prozesse. Deshalb sollte sich – so wird im Wissensgesellschaftsdiskurs argumentiert – die politische Regulierung auf die Bereitstellung von angemessenen Rahmenbedingungen zur weiteren ökonomischen und damit gesellschaftlichen Entwicklung beschränken.
Wie weiter? Allzu euphorischen Verklärungen der entweder schon existierenden oder doch bald zu erwartenden Wissensgesellschaften gilt es also mit Skepsis zu begegnen. Anstatt sich nun aber darauf zu beschränken, den Diskurs Wissensgesellschaft als neoliberale illusio – in mehr oder weniger – alarmistischer Manier zu denunzieren und die vergangenen Sicherheiten zu beklagen, gilt es m. E. einen Schritt weiter zu gehen. Deshalb plädiere ich für detaillierte soziologische Analysen über die Vermittlungen zwischen Wissensformen, Machtstrategien und Selbstpraktiken und dagegen, es bei bloßen Zeitdiagnosen zu belassen, die sich im Grunde nur auf plausibel erscheinende (Einzel-)Beobachtungen stützen, die dann ohne angemessene empirische Datengrundlage verallgemeinert und mit weit reichenden oft simplifizierenden Erklärungsansprüchen versehen werden. Erst differenzierte empirische Analysen dieser komplexen Vermittlungen können als Grundlage für die Formulierung einer kritischen und empirisch gehaltvollen Gesellschaftsanalyse fungieren. Dabei können freilich die bisher diskutierten Erkenntnisse über die Wissensgesellschaft und auch die Kritik an diesem Wissen als Ausgangspunkte dienen, indizieren sie doch – durchaus treffend – veränderte Wissensbedingungen und Handlungsgrundlagen. Was bedeutet es, dass Menschen in gegenwärtigen modernen Gesellschaften mit immer mehr wissenschaftlichem Wissen und immer mehr Arbeit mit diesem Wissen konfrontiert werden? Diese Frage gilt es neben der Frage nach den strukturellen Veränderungen dieses Mehr an Wissen auf der Makro-Ebene zu bearbeiten. Denn die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen sind wohl nur angemessen zu verstehen, wenn sowohl die objektiven gesellschaftlichen Strukturen und ihre begrenzenden Folgen als auch den subjektiven Erfahrungen der Handelnden von sich selbst und der Welt Bedeutung beigemessen wird. Die Herausforderung besteht so für eine empirisch gesättigte Forschung über mehr Arbeit mit Wissen darin, sowohl das situative Wirksamwerden so343
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zialer Makro- und Mesostrukturen auf die Subjekte als auch die strukturbildenden Praktiken der Subjekte in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne plädiere ich wider die Diagnose für die Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen.
Literatur Adorno, Theodor W. (1968): »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft«. In: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 345 – 370. Bittlingmayer, Uwe H. (2005): ›Wissensgesellschaft‹ als Wille und Vorstellung. Einige kritische Anmerkungen zu einem populären zeitdiagnostischen Label. Konstanz: UVK. Bittlingmayer, Uwe H./Ullrich Bauer (Hg.) (2006): Die ›Wissensgesellschaft‹. Mythos, Ideologie oder Realität, Wiesbaden: VS Verlag. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bührmann, Andrea D. (2005): »The Emerging of the Enterprising Self and it‘s Contemporary Hegemonic Status: Some Fundamental Observations for an Analysis of the (Trans-)Formational Process of Modern Forms of Subjectivation, [49 paragraphes]«. In: Forum: Qualitative Social Research [Online Journal], 6 (1), Art. 16. Deleuze, Gilles (1993): »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«. In: Ders.: Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 254 – 262. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am College de France 1978-1979, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2000): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/New: Campus Harvey, David (2007): Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich: Rotpunktverlag. Jessop, Bob (2002): »Postfordismus und wissensbasierte Ökonomie. Eine Reinterpretation des Regulationsansatzes«. In: Brandt, Ulrich/Raza, Werner (Hg.): Fit für den Postfordismus? Theoretischpolitische Perspektiven des Regulationsansatzes, Münster: VSA, S. 89 – 111. Luhmann, Niklas (1994): Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
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WISSENSGESELLSCHAFT ALS MANTEL DES NEOLIBERALISMUS?
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5 .4 Die Wiss e ns ges ellsc haft – Eine folge nschw ere Fe hldiagnose ? UWE H. BITTLINGMAYER/HIDAYET TUNCER
Ziel dieses Beitrags soll es sein, einige Unschärfen, Probleme und offene Fragen, die mit der Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft einhergehen, zu benennen, um auf die Schwächen und blinden Flecken der Wissensgesellschaftstheorien sowie auf die politischen Implikationen des Wissensgesellschaftsdiskurses aufmerksam zu machen. Klar ist, dass ein Globalurteil über dieses augenblicklich populärste zeitdiagnostische Label im Sinne einer Existenzialaussage dabei weder sinnvoll noch möglich ist. Zu vielfältig sind die Bezugsdisziplinen und die theoretischen Hintergrundmodelle, als dass sich eine allgemeine Aussage darüber, ob es »die Wissensgesellschaft« gibt (oder ob sie ihre Schatten voraus wirft) vernünftig treffen lässt. Dennoch lassen sich übergreifende Unklarheiten und problematische politische Implikationen benennen, die immer dann, wenn die Diagnose der Wissensgesellschaft als zeitdiagnostischer Referenzrahmen in Anschlag gebracht wird, mitbedacht werden sollten. Dabei müssen im Rahmen eines solchen kurzen Beitrages die Unterschiede in den einzelnen Ansätzen zugunsten der Skizzierung genereller Schwachstellen in der Wissensgesellschaftsdiagnose zurücktreten. Wir werden im Folgenden argumentieren, dass der Wissensgesellschaftsdiagnose unscharfe Indikatoren (1) und naturalisierende Deutungsmuster (2) zu Grunde liegen. Darüber hinaus muss ihr Ungleichheits- und Herrschaftsvergessenheit (3) attestiert werden, die die Basis dafür ist, dass die Diagnose im öffentlich-politischen Diskurs mit neoliberalen Politikkonzepten (4) verschränkt ist. 347
UWE H. BITTLINGMAYER/HIDAYET TUNCER
Der Umschlag von Quantität in Qualität Insbesondere in den neunziger Jahren des 20. und den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts wurde mit der Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft ein radikaler Wandel der Gesamtgesellschaft verbunden, der in der These eines scharfen Epochenbruchs kulminierte. Besonders stark gemacht wurde (und wird) die Beobachtung eines gesellschaftlichen Wandels in Richtung einer Wissensgesellschaft in der Managementliteratur (vgl. z.B. Drucker 1994), den Erziehungswissenschaften (vgl. Erpenbeck/ Heyse 1999) und in den (partei-)politischen Diskursen (vgl. z.B. BMBF 2008; Schavan 2010). Die Vorstellung eines solchen Epochenbruchs findet allerdings mittlerweile in der Soziologie immer weniger Anhänger und ist angesichts starker Strukturkontinuitäten zur kapitalistischen bzw. Industriegesellschaft auch nicht plausibel (vgl. hierzu auch Resch 2005; Taubert 2009). Doch selbst wenn die zu dominante These eines Epochenbruchs nicht weiter verfolgt wird, bleibt mit der Diagnose der Wissensgesellschaft die Vorstellung eines radikalen Wandels unmittelbar verknüpft. Diese soziale Metamorphose soll sich in gesellschaftstheoretischer Perspektive – je nach AutorIn – beziehen auf alle gesellschaftlichen Handlungsfelder bzw. Subsysteme (vgl. u.a. Weingart 2001; Willke 2001a) oder er soll moderne Gesellschaften vollständig lebensweltlich durchdringen (vgl. Stehr 1994). In den etwas spezialisierteren Diskussionen wird der wissensgesellschaftliche Transformationsprozesse als Restrukturierung ganzer Handlungsbereiche wie etwa der Erwachsenenbildung (vgl. Dewe/Weber 2007; differenzierter hierzu Nolda 2001), den Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in industriellen Großbetrieben (vgl. Hack 1998), der universitären Wissensproduktion (vgl. Münch 2009) oder der schulischen und akademischen Wissensvermittlung (vgl. Schöller 2006) gefasst. Die prinzipielle Schwierigkeit, der sich sowohl Skeptiker als auch Befürworter und Nutzer der Wissensgesellschaftsdiagnose an dieser Stelle gegenüber sehen, liegt darin, dass die meisten Indikatoren, mit denen der gesellschaftliche oder feldspezifische Wandel empirisch fundiert werden soll, nicht gerade jüngeren Ursprungs sind. Das wird schnell deutlich bei populären übergreifenden Thesen wie der Technisierung der Lebenswelt oder der Durchdringung der Lebenswelt mit wissenschaftlichem Wissen als markantem Signum von Wissensgesellschaften. Denn Formen einer umfassenden Technisierung von privaten Haushalten sind schon deutlich älter als die These der Wissensgesellschaft. Die Einführung und massenhafte Verbreitung des Telefons, des Radios und Fernsehens verändern bereits Kommunikationsformen und räumli348
WISSENSGESELLSCHAFT – EINE FOLGENSCHWERE FEHLDIAGNOSE?
che Erfahrungswelten seit mindestens 70 Jahren. Eine Revolutionierung in den Zeitstrukturen privater Haushalte – entlang einer stark ausgeprägten geschlechtlichen Arbeitsteilung – brachte die Einführung von Waschautomaten in den fünfziger Jahren. Wenn heute mit der fortschreitenden Technisierung von Lebenswelten als Kennzeichen von Wissensgesellschaften argumentiert wird, kann deshalb kein neues gesellschaftliches Phänomen reklamiert werden, das sich etwa seit der Verbreitung des Internets erstmals in privaten Haushalten auffinden lässt. Selbst der Hinweis, dass in Wissensgesellschaften »Wissen zur unmittelbaren Produktivkraft« avanciert, lässt sich in den Philosophischökonomischen Manuskripten von Karl Marx einhundertfünfzig Jahre zuvor finden und die Vorstellung, dass in Wissensgesellschaften »Wissen selbst zur Ware« wird, ist nichts, was Wissensgesellschaften ausschließlich für sich in Anspruch nehmen können. Nach Peter Burke (2001) ist dieser Vorgang mehrere Jahrhunderte alt. Schließlich bleibt der Hinweis auf die Akademisierung der Berufe und zunehmende Professionalisierung der Wissensproduktion. Doch die stand schon im Zentrum der Analysen von Daniel Bell aus den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. Bell 1973). Damit wird offensichtlich, dass nicht ohne Weiteres in der Wissensgesellschaft neue Qualitäten in die Geschichte eintreten. Das Argument müsste defensiver geführt werden. Die Jahrzehnte alten Tendenzen zunehmender Akademisierung und Kommodifizierung von Wissen sowie zunehmender Technisierung schlagen ab einem gewissen Punkt derart um, dass neue gesamtgesellschaftliche Strukturen etabliert werden, deren Konsequenzen für Gegenwartsgesellschaften sehr weitreichend sind. Klassischer formuliert: Quantität schlägt irgendwann um in Qualität! Bleibt die Schwierigkeit, den Übergangspunkt genauer festzulegen und zu bestimmen, welches dann die Hauptindikatoren des gesellschaftlichen Wandels sein sollen – wissenschaftliche Wissensproduktion, technologische Entwicklung, wirtschaftliche Reorganisation durch neues Managementwissen, Internet…? Auf der Grundlage dieser Überlegungen lautet unsere erste These, dass der Diagnose der Wissensgesellschaft stets ein notwendiges Moment empirischer Unschärfe anhaftet.
Naturalisierung der technischen Entwicklung und ihre Konsequenzen Es ist im Zusammenhang mit der Zeitdiagnose Wissensgesellschaft ein übliches Argument, dass die technologische Entwicklung, insbesondere die Neuerungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie 349
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(Mobiltelefone, Glasfaserkabel, Internet mit immer schnelleren und leistungsfähigeren PC’s und Servern, Telematik, »intelligente Software« etc.) mit erheblichen Konsequenzen für alle Beteiligten einher gehen. Ob Individuen, Unternehmen, Universitäten, Krankenhäuser oder selbst Nationalstaaten: an den Handlungszumutungen der technischen Entwicklung, so das Standardargument, kommt niemand vorbei. Ausgehend von einer – zum Teil weitgehend unbeleuchteten – technischen Entwicklung wird dann in vielen Studien nachgezeichnet, welche Veränderungen von jener verursacht worden sind oder in naher Zeit verursacht werden. Dabei ist das zu Grunde liegende Argumentationsmuster streng strukturfunktionalistisch geprägt. Aus (angenommenen) makrostrukturellen Veränderungen werden individuelle oder betriebliche Konsequenzen abgeleitet. Entsprechende Studien reichen von Arbeits-, Organisations- und Bildungssoziologie (vgl. Willke 2001b; Wiesner/Wolter 2007) über Wissenssoziologie und Wissenschaftsforschung (vgl. u. a. Stehr 2003; Weingart/Carrier/Krohn 2007) bis hin zur unternehmerischen Ratgeber- und Populärliteratur (vgl. u. a. Schiller 2007). Problematisch ist die strukturfunktionalistische Argumentationsstruktur im Wissensgesellschaftsdiskurs erstens dann, wenn Ursachen und Grundlagen des technischen Wandels ausgeblendet und zweitens, wenn damit zusammenhängend die aktuell sichtbaren Verschiebungen in den Verhaltensweisen sozialer Akteure bzw. von Betrieben, Verwaltungen etc. als einzig rationale Reaktion auf den dargelegten Wandel beschrieben werden. Wir haben es hier mit einer doppelten, hintereinander geschalteten und deshalb schwer zu durchdringenden Naturalisierung gesellschaftlicher Prozesse zu tun (ausführlich hierzu Bittlingmayer 2005). Die Technikentwicklung ist – gerade im High Tech-Bereich – alles andere als zufällig, sondern Resultat strategischer Entscheidungen einer Vielzahl einbezogener Akteure (Wissenschaftler, Unternehmen, politische Akteure, Hochschulen und Forschungszentren). Technologische Entwicklung fällt nicht vom Himmel oder ist Resultat eines einzigen geniehaften Wissenschaftlers, sondern unter anderem abhängig von Forschungsmittelvergabe, politischen Opportunitäten, Marktpotenzialen und öffentlichkeitsrelevanten Diskursen zu den Grenzen und Risiken wissenschaftlichen Fortschritts (am Beispiel der Stammzellenforschung ließe sich dieser Punkt recht gut exemplifizieren). Die technologische Entwicklung ist also nicht einfach da, sondern sie wird geplant hergestellt. Dass sich die technologische Entwicklung aber in der Regel als etwas darstellt, das mehr oder weniger aus dem gesellschaftlichen Nichts kommt, ist selbst etwas soziologisch Erklärungsbedürftiges. »Ob die 350
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technologische Entwicklung als ›gesellschaftlich exogener‹ Vorgang angesehen wird oder als ›sozialer Produktionsprozeß‹ […], ist demnach nicht nur eine Frage des jeweiligen Standes und der spezifischen Formen der Technikentwicklung selbst, sondern immer auch Ausdruck der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, vor allem bezüglich des Rechts, nach Maßgabe der eigenen Interessen auf den Produktionsprozeß neuer Technologien Einfluß nehmen zu können.« (Hack 1988: 33) Sobald also die sozialen Konstitutionsbedingungen technologischer Entwicklung ausgeblendet werden, wird sie als außersoziale Größe verhandelt und auf diese Weise naturalisiert. Diese Kritik an einer Technikentwicklung, die naturalistisch begriffen wird, stammt bereits aus den siebziger Jahren und wäre heute zunächst einmal wieder zu entdecken. Nun werden aber im aktuellen Diskurs über die Wissensgesellschaft häufig nicht nur die sozialen Konstitutionsbedingungen der technologischen Entwicklung unzureichend berücksichtigt. Vielmehr werden die hierdurch angeschobenen gesellschaftlichen Veränderungen gleich mit naturalisiert. Es ist beispielsweise eine vollkommen gängige und akzeptierte Argumentationskette, dass durch die technologische Entwicklung mittlerweile Arbeitsverhältnisse prekärer geworden sind. Durch die wissensgesellschaftliche Entwicklung können und müssen Unternehmen ihr unternehmerisches Wissen stärker als vorher als Ressource behandeln und pflegen, viel flexibler auf »den Markt« reagieren und schließlich ein wesentlich unmittelbareres Zeitmanagement etablieren. Dass dann auf den verstärkten Einsatz von Leiharbeitern zur Regulation von Produktionsspitzen und -senken zurückgegriffen wird, scheint eine logische Konsequenz zu sein, die nicht weiter analysiert wird. Allerdings gibt es keinen logischen Zusammenhang zwischen der Einführung von Internet und Leiharbeit (zur Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse vgl. Castel 2000 und Gemperle/Vogel/Schultheis 2010). Festzuhalten ist, dass sich hier eine behauptete technologische Entwicklung mit einem (neo-)konservativ-neoliberalen Politikwechsel, der quer durch die Parteien verläuft, verschränkt (vgl. Gerdes 2006). Es gibt eine Reihe von zentralen Homologien zwischen den ahistorisch angelegten Technikdiskursen einerseits und den ebenfalls ahistorisch angelegten politischen Diskursen andererseits. Gesellschaftliche Zustände werden in beiden Diskursen so konzeptionalisiert, dass sie mit dem Handeln sozialer Akteure nicht verbunden zu werden brauchen. Hierfür stehen die Chiffren »Globalisierung« oder eben »Wissensgesellschaft« ein. Wissensgesellschaften und die technologische Entwicklung werden nicht gemacht, sie sind einfach da. Im Folgenden wollen wir eine weitere zentrale Schwachstelle der Wissensgesellschaftsdiagnose genauer betrach-
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ten: das Verhältnis von wissensgesellschaftlichem Wandel und andauernden (bzw. zunehmenden) sozialen Ungleichheiten.
Wissensgesellschaft und soziale Ungleichheit Ein zentraler Aspekt, der in den sozialwissenschaftlichen Theorien der Wissensgesellschaft nahezu systematisch ausgeblendet wird, bezieht sich auf die Analyse sozialer Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse. Soziale Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse werden in den wichtigsten Studien häufig einfach ausgeblendet oder sie bleiben so allgemein, dass sie über die Aussage, in Wissensgesellschaften ist Bildung die neue soziale Frage, kaum hinaus gelangen (eine wichtige Ausnahme liefert Resch 2005). Das liegt zum einen daran, dass die wohl wichtigsten Vertreter der Wissensgesellschaftsthese (Stehr, Willke, Weingart) modernisierungstheoretisch argumentieren und entweder auf funktionale Differenzierung oder auf ein Sedimentierungsmodell wissenschaftlichen Wissens setzen, bei dem am Ende alle profitieren – so eine Art Fahrstuhleffekt des Wissens. Zum anderen liegt der Grund aber auch darin, dass Fragen nach dem Verhältnis von Ungleichheit, Herrschaft und Wissen sehr komplex sind und mehrere Ebenen und Prozesse berühren. Zunächst einmal ist zu klären, um welche Wissensformen es in Wissensgesellschaften eigentlich geht. Vielfach wird beklagt (u.a. Stehr 1994), dass Wissen im Grunde als eine Art black box genutzt wird, die kaum weiter spezifiziert wird. Das Wissen in Wissensgesellschaften wird in der Regel bestimmt als theoretisches oder wissenschaftliches Wissen. Allerdings geht es nicht um wissenschaftliches Wissen per se, denn Wissensformen aus dem Bereich der Ägyptologie, der vergleichenden Literaturwissenschaft oder der marxistischen Volkswirtschaftslehre werden nicht gleichermaßen wertgeschätzt wie beispielsweise betriebswirtschaftliche und managementbezogene oder empiristisch-psychologische Wissensformen. Ein wichtiges Kriterium des Wissens in Wissensgesellschaften ist die Markt- und Patentierfähigkeit. Das bedeutet zunächst, dass auch die gesellschaftliche Wertschätzung wissenschaftlicher Wissensformen umkämpft ist. Ein guter Indikator ist hier, welche Fachbereiche und Institute seit der Bologna-Reform massiven Stellenabbau an deutschen Hochschulen hinnehmen mussten (u.a. Soziologie und Kulturwissenschaften) und welche ihre Bedeutung noch steigern konnten (z.B. BWL, Erziehungswissenschaften, Public Health, Psychologie).
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Neben der Untersuchung, welche wissenschaftsdisziplinären Wissensformen aus welchem Grund aktuell populär sind, bleibt die Frage ausgeklammert, welche sozialen Gruppen mit wissensgesellschaftlichen Bedingungen ein Passungsverhältnis aufweisen. Mit Wissensgesellschaften sollen ja neue Handlungszumutungen für alle sozialen Akteure verbunden sein. Immer wieder genannt werden hier Praktiken des lebenslangen bzw. lebensbegleitenden Lernens, eine stete Orientierung am Arbeitsmarkt und die Fähigkeit zum Selbstmanagement – es gilt noch immer das Idealbild des Arbeitskraftunternehmers, das Voß und Pongratz (1998) in ihrem bekannten Aufsatz entfaltet haben. Diese Handlungszumutungen treffen bei den sozialen Akteuren auf unterschiedliche Voraussetzungen. Mit Michael Vester lässt sich die deutsche Gesellschaft als vertikal und horizontal gegliederte Klassenmilieugesellschaft beschreiben (vgl. Vester et al. 2001). Die drei Oberschichtmilieus – Kulturelles Avantgardemilieu, Liberal-Intellektuelles Milieu, Konservativ-Technokratisches Milieu – kämpfen ihm zufolge im Augenblick um die kulturelle Hegemonie, d.h. sie versuchen sich als Leitmilieus in der Wissensgesellschaft zu platzieren. Die Mittelschichtmilieus, die zum Teil von der Bildungsexpansion profitieren konnten, haben Vester zufolge im Verlauf der letzten Jahrzehnte eine beispiellose Expansion ihres kulturellen Kapitals realisiert, ohne dass sie hierdurch die (symbolischen) Klassenschranken überwinden konnten. Dadurch ist es trotz »Kompetenzrevolution« in den Mittelschichtmilieus nicht zu einer vertikalen Mobilität, sondern zu einer horizontalen Mobilität im sozialen Raum gekommen. Die unterprivilegierten Arbeitnehmermilieus hingegen sind sowohl materiell als auch symbolisch aus dem Horizont der Wissensgesellschaft ausgegrenzt. Mit den Analysen von Vester lässt sich erstens zeigen, dass nicht nur die Wertschätzung wissenschaftlicher Wissensformen umkämpft sind, sondern darüber hinaus auch, welche milieuspezifischen Alltagspraktiken symbolisch anschlussfähig gehalten werden können an die Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft. Zweitens kann verdeutlicht werden, dass spezifische soziale Milieus zur Durchsetzung der Zeitdiagnose Wissensgesellschaft beitragen, indem sie etwa die wissensgesellschaftliche Rhetorik adaptieren und bei einer Verknappung von Wissenszugängen, wie sie beispielsweise durch die Einführung von Studiengebühren erfolgt, aktiv mitwirken. Im Umkehrschluss liefert die Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft dann wieder gute Argumente zur Legitimierung des eigenen Lebensstils (z.B. Studium, finanzierte Auslandsaufenthalte, Erwerb von Entrepreneurial Skills, Promotion, Selbstständigkeit im freien Beruf als eine Typik im Konservativ-Technokratischen Milieu).
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Auf der Grundlage der Durchsetzung der Wissensgesellschaft als gesamtgesellschaftlicher Orientierungsfolie wird damit ein vergleichsweise neuer symbolischer Horizont in die (deutsche) Gesellschaft eingezogen, der unter Rückgriff auf individualistische Deutungsmuster stärker als etwa in den siebziger Jahren das meritokratische Versprechen in der Gesamtbevölkerung verankert (vgl. zur Aktualität der Meritokratie Solga 2005). Dieses steht in scharfem Kontrast zu den tatsächlich milieuspezifisch verteilten Chancen, kulturelles Kapital zu akkumulieren und geht deshalb in dem Moment mit symbolischen Herrschaftsverhältnissen einher, in denen sozial Benachteiligte sich den mangelnden Bildungserfolg auch noch selbst zuschreiben (vgl. Bourdieu/Passeron 1971; Kraemer/Bittlingmayer 2001). Die soziale Umkämpftheit der Wertschätzung von Wissensformen wird im Wissensgesellschaftsdiskurs ebenso ausgeblendet wie die Analyse symbolischer Herrschaftsverhältnisse, die sich gerade dadurch ergeben, dass sich die Wissensgesellschaft als gesamtgesellschaftliche Orientierungsfolie durchsetzt, ohne dass alle sozialen Milieus »wissensgesellschaftliche Capabilities« verfügbar hätten (vgl. Otto/Ziegler 2009). Im letzten Abschnitt möchten wir beispielhaft andeuten, auf welche Weise der Wissensgesellschaftsdiskurs im politischen Feld zu einer Legitimationsfolie avanciert ist, mit der fragwürdige politische Entscheidungen gerechtfertigt werden.
Die Wissensgesellschaft als Legitimationsfolie politischer Entscheidungen Der Diskurs der Wissensgesellschaft übt einen gravierenden Einfluss auf nahezu alle wichtigen Politikfelder von modernen Gesellschaften aus. Diese werden dazu aufgefordert, sich den Herausforderungen der Wissensgesellschaft zu stellen und adäquate Handlungsstrategien in der Bildungs-, Forschungs-, Integrations- und nicht zuletzt in der Einwanderungspolitik zu entwickeln. Um beispielsweise dem kontinuierlich steigenden Wissensbedarf der modernen wissensintensiven Ökonomie zu bedienen, beteiligt sich Deutschland seit einigen Jahren aktiv an dem internationalen »Kampf um die besten Köpfe« (vgl. Hunger 2003; Kuptsch/Eng Fong 2006; BMBF 2008). Diese Beteiligung beeinflusste unmittelbar die deutsche Migrationspolitik und hat zu einer richtungswiesenden Änderung geführt. Unter Rückgriff auf unterschiedlichste Strategien wie z.B. »human capital approach«, »labour market needs approach«, »business incentives approach« sowie »academic-gate approach« (vgl. Abella 2006) ist Deutschland bestrebt, hochqualifizierte 354
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soziale Wissensträger für die territorial ansässigen Wissensökonomien, Forschungseinrichtungen und Universitäten zu gewinnen. Auch wenn das meiste, was unter dem Namen einer »internationalen Wissensökonomie« firmiert, noch vollkommen unklar ist (vgl. Bittlingmayer 2006; Kößler 2006), hat Deutschland – ähnlich wie seine Konkurrenten (Kanada, USA, Australien, GB, Frankreich usw.) – sich längst der kompetitiven Logik des kapitalistischen Weltmarkts angepasst und seinen migrationspolitischen Gestaltungsspielraum im Namen einer globalen Wissensgesellschaft modifiziert (vgl. BMBF 2008). Das neue deutsche Zuwanderungsgesetz kann in diesem Kontext als ein Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik Deutschlands bezeichnet werden. Die Begründung des Gesetzes beruht vornehmlich auf der Regelung der Zuwanderung von Hochqualifizierten und sieht demgegenüber eine restriktivere Behandlung von anderen Migrantengruppen vor (vgl. Mohr 2005). Menschen, die ohne kulturelles Kapital nach Deutschland einreisen wollen und die sich innerhalb des neuen wissensgesellschaftlichen Paradigmas »nicht rentieren«, werden pauschal als Import von Armutsträgern und als sozialstaatliche Belastung identifiziert (Mundt 2003: 6). Dabei wird explizit die globale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft, besonders der wissensintensiven Bereiche wie Biotechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie hervorgehoben (vgl. Hunger 2003). In der Migrationspolitik führt der Bezug zur Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft zusammenfassend also einer noch intensiveren Steuerung, externen (Einreisebedingungen) und internen sozialrechtlichen Kontrollen sowie zu einer stärkeren ökonomistischen Selektion der transnationalen Migration. Folglich kann festgehalten werden, dass der neue Fokus der deutschen Migrationspolitik unter wissensgesellschaftlichen Vorzeichen geprägt ist von ökonomischen Aspekten und neoliberalen Argumentationsmustern. Unser Beitrag kann – wie oben bereits festgestellt – nicht alle Schwächen, Verkürzungen und Ideologien, die mit der Wissensgesellschaftsdiagnose verbunden sind, darstellen und analysieren (vgl. hierzu Bittlingmayer/Bauer 2006). Wir hoffen dennoch, dass er dazu beiträgt, der populären Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft nicht blind zu vertrauen.
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R ESÜMEE
Für eine Wisse ns s oziologie de r Wissensges ellschaft ANINA ENGELHARDT /LAURA KAJETZKE
In der Vielfalt der Perspektiven auf die Gegenwart ist das Konzept der Zeitdiagnose die einzige adäquate Reaktion auf die immense Komplexität gesellschaftlicher Wirklichkeit (Prisching 2005: 206ff., Reese-Schäfer 2000). Zeitdiagnosen beschreiben gesellschaftliche Wandlungsprozesse – »transintentionale Struktureffekte« (Schimank 2007: 14) und untergründige Brüche und Tendenzen werden durch sie meist erst sichtbar. Wie bei allen wirkmächtigen Zeitdiagnosen hat sich auch im Verlauf der »Begriffskarriere« von Wissensgesellschaft ein Terminus etabliert, mit dem sich Gesellschaften nach dem »eigenen Bilde« der Diagnose strukturieren – und damit bis zu einem gewissen Grad die Diagnose ex post erfüllen. In diesem Vorhaben galt es zu untersuchen, welche Ursachen, welche Akteure und welche Institutionen dem beobachteten Wandel zugerechnet werden (vgl. auch Bittlingmayer/Bauer 2006: 13). Im Folgenden möchten wir wesentliche Aussagen des Bandes noch einmal zusammenfassen.
Wissensgesellschaft als Selbstbeschreibung und soziale Realität: Chancen, Risiken, Kritik Den frühen Diagnosen der Wissensgesellschaft (Kapitel 1) ist gemeinsam, dass sie im Kern ähnliche Veränderungen ökonomischer Strukturen
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und Prozesse erfassen. Möglichkeiten, Hoffnungen und Probleme durch die institutionelle Einbindung wissenschaftlich-technischen Wissens in fast alle Lebensbereiche, Veränderungen von Arbeitsprozessen sowie eine damit einhergehende grundlegende Transformation der Sozialstruktur werden in diesen Theorien thematisiert. Einen qualitativen Wandel der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen verknüpft Drucker (1.1) ursächlich mit einem Mehr an Bildung, einer Beschleunigung technischer Entwicklung hin zu einer grundlegenden Veränderung moderner, globalisierter Wirtschaft und Gesellschaft. Die Entstehung neuer Technologien und Produkte weist darauf hin, dass mit der Anwendung von ›Wissen auf Wissen‹ nun das Wissen selbst die entscheidende Produktivkraft geworden ist. Noch stärker als Drucker bestimmt Bell (1.2) die gesellschaftliche Bedeutung des Wissens als ›strategische Ressource‹, die eine Entwicklung von technisch-theoretisch ausgerichteter Wissensproduktion prägt und durch eine Auflösung der Autorität wissenschaftlicher Erkenntnis und technischer Beherrschbarkeit einen tief greifenden Wandel in Sozialstruktur, Politik und Kultur nach sich zieht. Castells (1.4) erweitert diese Perspektive auf den Wandlungsprozess um das Konzept der »Netzwerkgesellschaft« als gegenwärtiges Vergesellschaftungsprinzip. Arbeit bleibt das zentrale strukturierende Moment von Gesellschaften, wird aber informationell in globaler, kulturell-institutioneller Dimension umgewälzt und führt zu neuen sozialstrukturellen Exklusionsprozessen. Sind mit Bell schon Vorbehalte gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnis und technischem Fortschrittsglauben formuliert, stehen bei Beck (1.3) eben jene nicht-intendierten Nebenfolgen und Risiken am Anfang seiner Überlegungen zu den Konturen der Gegenwartsgesellschaft. Mit den Gefährdungen auch durch eine uneingeschränkte Fortschrittsorientierung wird die Leerstelle des »Nicht-Wissens« sichtbar, die zum ›Reflexiv-Werden‹ der Moderne beiträgt. Die Ausrichtung auf übergreifende sozialtheoretische Konzepte zeichnet die Theorien der Wissensgesellschaft aus (Kapitel 2). Wurde vor allem an Bell die »mengentheoretische« Rechtfertigung der Entwicklung hin zur Wissensgesellschaft kritisiert, entwickelt Stehr (2.1) im Gegenzug eine qualitative, handlungstheoretisch fundierte Beschreibung der Wissensgesellschaft. Mit einem wissenssoziologischen Blick für die Wirkung von Wissen auf gesellschaftlichen Wandel entwirft er eine Wissensordnung der modernen Gesellschaft und ihrer prägenden Wissensarten. Wissen bedeutet für ihn Handlungsvermögen – es berge emanzipatorisches Potential in sich. Hier setzt ebenfalls Willke (2.2) mit seiner systemtheoretischen Analyse des Praxisbezugs in der Verschränkung von Wirtschaft und anderen sozialen Systemen an. Er fokussiert dabei auch Fragen der Steuerungsfähigkeit von Systemen mit Blick auf 362
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die Weltgesellschaft. Auswirkungen des Nicht-Wissens, von Systemrisiken und kollektiv erzeugtem Wissen führen zu einer kognitiven Wende, mit der das Augenmerk auf der Kontingenz von Wissen wie auch dessen Einbindung in Lern- und Praxisprozesse liegt. Eine ganz andere Position der Beschreibung findet sich bei Gorz (2.3), der hofft, strukturelle Probleme und Ungleichheiten auflösen und Emanzipationspotential gewinnen zu können. Wissen ist in seiner Analyse des »kognitiven Kapitalismus« die stärkste Produktivkraft, die unter dem Wertaspekt und in seiner Warenform im Produktionsprozess erklärt wird. Mit der Entkoppelung der Wertentwicklung vom materiellen Kapital beschreibt Gorz veränderte Konfliktlinien in den Strukturen einer Wissensökonomie. Aus dem Feld der science studies heraus hat Knorr Cetina (2.4) eine Perspektive auf die Gegenwartsgesellschaft gezeichnet, die infolge wissenschaftlich-technischer Entwicklungen von einer Vielzahl nebeneinander existierender postsozialer Wissenskulturen charakterisiert ist. Das Verständnis von Sozialität wird hier um die Bedeutung von Objekten für Gesellschaft erweitert: Ihren Einfluss auf Vergesellschaftungsprozesse gewinnen sie aus ihrer enormen Verbreitung, Dauerhaftigkeit und Strukturierungsfähigkeit. Wird die Perspektive auf die Erklärungskraft der Diagnose Wissensgesellschaft und die Wirkung in gesellschaftlichen Teilbereichen (Kapitel 3) gerichtet, ähneln sich die Ergebnisse aus Wirtschaft (3.1) und Politik (3.2). Im Mittelpunkt steht hier jeweils die Organisation von Macht und Herrschaft. Welche Akteure mit welcher Wirkungskraft an Entscheidungsprozessen beteiligt sind und welches Wissen sie dabei einbringen, wirft herrschaftskritische Fragenkomplexe – etwa zu Legitimationsproblemen – auf. Aus dem Feld der Religion (3.3) heraus ergeben sich kaum Veränderungen, die mit Auswirkungen der Selbstdeutung als Wissensgesellschaft in Verbindung gebracht werden können. Doch auch hier verlaufen Konfliktlinien entlang der Geltungsbedingungen und Situiertheit von – in diesem Fall – »nicht-modernen« Wissensbeständen. In Bezug auf den Bereich der Bildung (3.4) hat die Wissensgesellschaft besondere Durchschlagskraft erwiesen. Die in der Ökonomie und, daran anknüpfend, auch in der Politik erhobenen Forderungen nach »bedarfsgerechten« Bildungsverläufen geraten in Konflikt mit etablierten und institutionell eingebetteten Konzepten humanistischer Bildung. Ein weiterer Aspekt bildungspolitischer Diskussionen wird in der Erziehung noch deutlicher sichtbar. Welches »Wissen über die Welt« Heranwachsenden vermittelt werden soll, ja muss, ragt nun schon im Hinblick auf sozialstrukturell verankerte Gerechtigkeits- und Ungleichheitsaspekte und Integrationsproblematiken in einem Spannungsverhältnis von Staat, Ökonomie und Privatheit in die Kindheit hinein. Paradox scheint die 363
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Konstellation der Wissenschaft (3.5) in der Wissensgesellschaft zu sein, wird ihr doch durch die wachsende Bedeutung wissenschaftlichen Wissens eine Schlüsselstellung attestiert, ebenso aber auch sinkende Autorität und Relevanz. Die Rolle einer autonomen Wissenschaft in einer sich wandelnden Wissensordnung und ihrer institutionellen Ausgestaltung geht mit einer erhöhten Sensibilität für Grenzen und Kontingenz der Geltungsansprüche wissenschaftlicher Erkenntnisse einher. Wenn wir, frei nach Luhmann, alles, was wir wissen, aus den (Massen-)Medien wissen, gehören mediale Entwicklungen zum Kern des Wandels einer Wissensgesellschaft (3.6). Digitale Medien verändern und verstärken die Entwicklung und Folgen sozialer Veränderungen. In der Folge wird Gesellschaft als »vernetzt« denkbar, Umwälzungen in Arbeitsprozessen, Kommunikationsstrukturen und Produkten finden ihre Ursache in den Bedingungen und Möglichkeiten medialen Wandels. Innovation und Kreativität gehören zum Repertoire, das in der Kunst (3.7) aus dem Blickwinkel der Wissensgesellschaft aufgerufen wird. Hat die Bedeutsamkeit der »Weltvermittlung« durch die »Hochkultur« einen empfindlichen Abstieg erfahren, ist das Interesse an »künstlerischen« Fähigkeiten wie Kreativität und die Organisation von Innovation groß. Individuelle und kollektive Vorstellungen eines guten, gesunden Lebens treffen im Feld der Gesundheit (3.8), wie auch der sozialen Fürsorge, auf enorme Fortschritte medizinischen/psychologischen Wissens und seiner technischen Einsetzbarkeit. Hier prallen normative und ethische Grundlagen von Gesellschaft auf den Realisierungszwang technischer Entwicklungen. Nach der Analyse gesellschaftlicher Teilbereiche soll nun der Blick auf zentrale Themen gelenkt werden (Kapitel 4). Aus den enormen Umwälzungsprozessen in der Strukturierung von Produktivkräften ergibt sich ein ebenso gravierender institutioneller Umbau der sozial- und wohlfahrtstaatlichen Einbettung (4.1) und ihrer entsprechenden Wissensordnung. Verfestigt sich die Manifestation wissenschaftlich-technischen Wissens als »härtende« Technik (4.2), führt dies zu widersprüchlichen Wissensstrukturen im Verhältnis zu flexibilisierten Arbeits- und Lebenslagen. Vor diese Herausforderungen sieht sich auch professionelles Handeln (4.3) gestellt, denn auf Handlungs- wie auf organisationaler Ebene stellen Professionelle eine Akteursgruppe dar, die bereits über ein Strukturierungs- und Ordnungsrepertoire von Wissensbeständen verfügt. Im professionellen Handeln scheinen ebenfalls die Probleme de-kontextualisierten Wissens auf. Als typisch gegenwärtiges Phänomen ist die Beratung (4.4) auf Probleme ausgerichtet, die entstehen, wenn verschiedene Wissensangebote miteinander konkurrieren, aber etwas zu entscheiden ist. Sie koordinieren Ziel- und Wertvorstellungen auf strategi364
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sche und operationale Kohärenz. Mit der Ausrichtung auf Ziele und Nutzen stellt sich die Frage nach den Grenzen der Steuer- und Planbarkeit – das Nichtwissen (4.5), die Grenzen auch methodisch gesicherter Erkenntnis müssen reflexiv berücksichtigt werden. Offensichtlich tritt diese Thematik auch im Umgang mit materiellen Ressourcen zutage, die sich in dieser Perspektive in der sich verändernden Konstellation von Produktivkräften für ökologische (4.6) Folgen ergeben. Die Grenzen des Deutungsangebotes Wissensgesellschaft werden mit der kritischen Perspektive (Kapitel 5) anderer basaler theoretischer Kategorien wie Geschlecht (5.1), die die Bedingungen und Leerstellen einer »illusio« (Bourdieu) Wissensgesellschaft mit großer analytischer Schärfe fassbar machen, sichtbar. Die Analyse der Deutungsmacht (5.2) dieser Zeitdiagnose mit der Annahme, dass Wissen als axiales Prinzip von Gesellschaft zu bewerten ist, öffnet den Blick dafür, wie sich Machtverhältnisse um den gesellschaftlichen Wissensvorrat herum gruppieren. In der Diagnose selbst jedoch finden sich die Voraussetzungen, mit denen gesellschaftliche Verhältnisse kritisiert werden können, indem die Wirkmechanismen der Selbstdeutung aufgezeigt werden. Dazu gehören insbesondere wissenspolitische Legitimierungsstrategien (5.3) und ihre kritische Offenlegung einer neoliberalen »illusio«. Auch ist zu überprüfen, ob die Wissensgesellschaft ganz grundsätzlich eine »Fehldiagnose« (5.4) darstellt, die vor allem auf Ungereimtheiten basiert. Dies stellt die inhärente Zukunftsperspektive des Labels auf die Probe, die doch für die Gestaltung des Wandels einer sich noch realisierenden »Wissensgesellschaft« bürgen soll.
Wissen als Strukturkategorie: Rationalisierung, Reflexivierung, Kontextualisierung In ihren theoretischen Fassungen bewegt sich die Diagnose Wissensgesellschaft zwischen dem »black boxing« zur Legitimation politischökonomischer Notwendigkeiten und dem emanzipatorischen Potential soziologischer Aufklärung. Hierbei gilt es zwei Aspekte zu unterscheiden: zum einen die Kritik an einem ideologischen Konzept der Wissensgesellschaft und zum anderen die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen mithilfe des Konzepts. Die mit der Diagnose erfassten sozialstrukturellen Umwälzungen beziehen sich auf alle Bereiche der Gesellschaft. Die Semantik der Wissensgesellschaft jedoch versammelt auf sozialtheoretischer Ebene Veränderungen, in denen Wissen als Schlüsselkategorie auftritt – der Rahmen für den Umgang, die Definition und die Bewertung von Wissen hat 365
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sich umfassend gewandelt. Nach der Verwendung der Diagnose in Wirtschaft und Politik dringt der Begriff weiter in alle Bereiche der Gesellschaft vor und entfaltet wissenspolitische Bedeutung. Daher sollten verschiedene Wissensbegriffe aus den gesellschaftlichen Teilbereichen, die auf die Semantik der Wissensgesellschaft rekurrieren, stärker systematische Berücksichtigung finden. Die beobachteten Veränderungen bedürfen sodann wissenssoziologischer Reflektion. Mit dieser Perspektive auf die Metamorphosen der gegenwärtigen Wissensordnungen lassen sich drei große Linien in Bezug auf die Strukturierung gesellschaftlicher Wissensbestände analytisch trennen: Rationalisierung, Reflexivierung sowie Kontextualisierung. Bereits in den frühen Diagnosen eines Daniel Bell und Peter Drucker findet sich in den Konzepten der Wissensgesellschaft die Beschreibung einer ökonomisch geprägten Rationalisierung der Produktivkraft Wissen. Dabei wird schnell deutlich, dass der Wissensbegriff in der Diagnose als analytische Kategorie nicht in seiner Beschreibung als ökonomischer Faktor aufgeht. In spezifischen Zweck-Mittel-Relationen werden Wissensbestände in gesellschaftlichen Teilbereichen systematisiert. Allmählich treten jedoch auch Grenzen und Probleme dieser Rationalisierungsverläufe immer deutlicher hervor. Steuerungsproblematiken, Folgen von Nichtwissen und gesteigerte Sensibilität für Kontingenz insbesondere auch des wissenschaftlichen Wissens wirken nun in alle Gesellschaftsbereiche hinein. Dies kann mit einer rein modernisierungstheoretischen Einbettung nicht ausreichend erklärt werden. Rationalisierung als Entwicklungsprinzip gesellschaftlicher Wissensbestände übersieht weitere prägende Faktoren. Die Analyse systematisierter Wissensordnungen geht nicht in der Beschreibung als eine vernunftgeleitete Ausrichtung auf Zweck-Mittel-Relationen auf. So greifen parallel dazu wissenschaftsinterne Diskussionen um die »Postmoderne« als kulturtheoretisches Konzept hier Veränderungen einer Kulturformation auf, die Legitimationsprobleme und Globalisierungsfolgen in Bezug auf »Weltwissen« augenfällig machen. Rationalisierung ist nicht mehr gleichbedeutend mit Fortschritt – dies zieht als Folge eine Welle von »Post«-Diagnosen nach sich. Dieser Effekt ist erst nach und nach ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und kann als Ergebnis derjenigen Prozesse eingeordnet werden, die bereits im Zentrum der frühen Theorien standen. Es kristallisiert sich nun ein »Reflexiv-Werden« des Wissens in seiner kulturellen Dimension heraus. Die Frage, in welcher Form Wissen räumlich, zeitlich und sozial situiert ist, drängt sich vor allem angesichts der Risiken der Auswirkungen durch technisch geformtes Wissen (und in der Folge auch
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Nicht-Wissen) auf. Doch mit der Situiertheit des Wissens werden weitere Ordnungsformen über die Zweck-Mittel Relation hinaus sichtbar. Die Reflexivierung des Wissens ist daher begleitet von der Problematisierung im jeweils aktuellen Kontext. Wissen ist nicht neutral, sondern durch Interessen und Werte von Akteuren geprägt und verändert – hierauf hat schon Marx (Marx 1953 [1845/46]) hingewiesen. Dass selbst wissenschaftliches Wissen keinen Sonderstatus als ordnende Kraft in einer vernünftigen Gesellschaft beanspruchen kann, führt zu einer grundsätzlichen gesamtgesellschaftlichen Legitimationsproblematik. Diese ergibt sich vor allem aus sich widersprechenden Systemrationalitäten – nur schwer vereinbare Wissensbestände prallen aufeinander. Wissen wird auf bestimmte Ziele und Zwecke hin bewertet, es wird Wissenspolitik betrieben. Geltungsansprüche von Wissen erfahren eine radikale Kontextualisierung. Die Interessen und Werte ebenso wie die Grenzen, die durch Kontextualisierungseffekte von Wissen entstehen, können insbesondere mit einem wissenssoziologischen Instrumentarium greifbar gemacht werden. Probleme der Kontextualisierung, also mit der Frage, wie Wissen situativ »passend gemacht« wird, finden sich bereits bei Mannheim (1929) unter dem Gesichtspunkt von Werten und Interessen, bei Schütz (1932) im Zusammenspiel von Sinn in Handlung und Praxis sowie bei Berger/Luckmann (1969) im Zusammenhang von Wissensordnung und institutioneller Ordnung. Wiederum historisch geleitet arbeitet Foucault (1971; 1973) in einer Diskursperspektive die Ordnung von Wissen und Akteuren in ihren verflochtenen Praxen, Institutionalisierungen und Machtkonstellationen heraus. All jene können zu Gewährsmännern einer wissenssoziologischen Analyse des wissensgesellschaftlichen Wissens werden – wenn man sie nur lässt. Innerwissenschaftlich findet die Diskussion bei Gibbons et al. (1994) ihre Thematisierung in einer »Mode 2«-Wissenschaft. Theorien der Postsozialität verweisen auf sozialtheoretischer Ebene ebenfalls darauf, wie gegenwärtig veränderte Wissensordnungen Vergesellschaftung prägen (Knorr Cetina 2007; Latour 2007). Auf der regulativen Ebene von Machtverhältnissen bzw. Praxen gibt es bereits Analysen zur Wissenspolitik (vgl. dazu Wehling 2007a) und zu Wissensregimen (vgl. dazu Wehling 2007b). Weitere Forschungsperspektiven ergeben sich beispielsweise in der Netzwerkforschung. Auch die Analyse des Wissensbestandes selbst kann in vielfältigen Blickwinkeln erfolgen. Anstrengungen in diese Richtung erfolgen in der Betrachtung von Formen und Folgen der sozialen Situiertheit von Wissen, ihrer Prozessualität im Verhältnis von Zeit und Handlung oder ihres Raumbezugs der Geltung. Der Umgang mit Kontingenz und Nichtwissen, die kognitiven Voraussetzungen und die Erweiterung der sprachorientierten Analysen auf bildgebun367
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dene Wissensbestände sind Perspektiven, die weiterer Analysen bedürfen. Wir haben Rationalisierung, Reflexivierung und Kontextualisierung als Entwicklungslinien beschrieben, die sich auf die Wissensordnung der Gegenwartsgesellschaft auswirken. Zu dieser Erkenntnis hat auch die Diagnose »Wissensgesellschaft« ihren Beitrag geleistet. Sie stellt uns z.B. mit differenzierteren Begriffen wie dem »Nichtwissen« Mittel zur Verfügung, die gesellschaftliche Wirklichkeit und die damit einhergehende Wahrheitsproduktion genauer zu beobachten. Doch gibt sie uns damit auch gleichermaßen die Mittel an die Hand, in ihr enthaltene normative Implikationen offen zu legen. Mit den Beobachtungen und Theoremen der Wissensgesellschaft in Kombination mit einer wissenssoziologischen Analytik soll in Zukunft vielmehr eine begriffssensible und differenzierte Erforschung der Diagnose ermöglicht werden, die nicht verwirft, was den Akteuren plausibel erscheint und für diese handlungsleitend wirkt, aber die blinden Flecken, die eine solche Beschreibung erzeugt, nüchtern offen legt (vgl. auch Keller 2005: 169ff). In einer Zeit sich wandelnder Wissensordnungen stellt sich mit Nachdruck die zeitdiagnostische Frage »In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?« (Pongs 1999; 2000). Mit Blick auf den Einfluss der wissensgesellschaftlichen Diagnose auf das Denken und Handeln von Akteursgruppen gesellt sich für die Sozialwissenschaften neben der Aufgabe der Gegenwartsbeschreibung aber auch eine zweite Frage, deren Tradition von den Klassikern wie Max Weber bis hin zu den jüngsten Soziologen wie Bruno Latour reicht – die Frage nach der guten Gesellschaft: »In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?«
Literatur Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Fischer. Bittlingmayer, Uwe H./Bauer, Ullrich (2006): Die »Wissensgesellschaft«. Mythos, Ideologie oder Realität? Wiesbaden: VS Verlag. Foucault, Michel (1971): Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1973): Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gibbons, Mike et al. (1994): The new production of knowledge. The dynamics of science and research in contemporary societies, London: Sage.
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Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hg) (2005): Gegenwärtige Zukünfte, Wiesbaden: VS Verlag. Keller, Reiner (2005): »Diskursforschung und Gesellschaftsdiagnose«. In: Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hg): Gegenwärtige Zukünfte, Wiesbaden: VS Verlag, S. 169-186. Knorr Cetina, Karin (2007): »Postsoziale Beziehungen: Theorie der Gesellschaft in einem postsozialen Kontext«. In: Bonacker, Thorsten/Reckwitz, Andreas (Hg.): Kulturen der Moderne: Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Campus, S. 267-300. Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Marx, Karl (1845/46): Die Deutsche Ideologie. In: ders. (1953): Die Frühschriften, Stuttgart: Kröner, S.346-363. Mannheim, Karl (1995 [1929]): Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M.: Klostermann. Pongs, Armin (1999): In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?, Band 1, München Dilemma-Verlag Pongs, Armin (2000): In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?, Band 2, München Dilemma-Verlag Prisching, Manfred (2005): »Interpretative Muster von Zeitdiagnosen«. In: Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hg): Gegenwärtige Zukünfte, Wiesbaden: VS Verlag, S. 205-236. Reese-Schäfer, Walter (2000): »Die seltsame Konvergenz der Zeitdiagnosen. Versuch einer Zwischenbilanz«. In: Beck, Ulrich/Kieserling, André (Hg): Ortsbestimmung der Soziologie: wie die kommende Generation Gesellschaftswissenschaften betreiben will, BadenBaden: Nomos, S. 101-116. Schimank, Uwe/Volkmann, Ute (2007): Soziologische Gegenwartsdiagnosen, Band 1, Wiesbaden: VS Verlag, S. 9-22. Schütz, Alfred (1993 [1932]) Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schützeichel, Rainer (Hg.) Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz: UVK. Wehling, Peter (2007a): Wissenspolitik. In: Schützeichel, Rainer (Hg.) Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz: UVK, S. 704-712. Wehling, Peter (2007b): Wissensregime. In: Schützeichel, Rainer (Hg.) Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz: UVK, S. 713-722.
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Au torinne n und Autore n
Marian Thomas Adolf (Dr.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaft der Zeppelin-University Friedrichshafen. Thomas Alkemeyer (Dr.) ist Professor für Sport und Gesellschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Nicklas Baschek ist Doktorand am Institut für Soziologie der Universität Hamburg. Uwe H. Bittlingmayer (Dr.) ist Professor in der Abteilung Soziologie der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Stefan Böschen (Dr.) vertritt derzeit die Professur für Wissenschaftssoziologie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Andrea D. Bührmann (Dr.) vertritt derzeit eine Professur am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Steffen Dörhöfer (Dr.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Personalmanagement und Organisation der Hochschule für Wirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Anina Engelhardt ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Allgemeine Soziologie der Philipps-Universität Marburg.
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HANDBUCH W ISSENSGESELLSCHAFT
Rainer Fretschner (Dr.) ist Professor für Soziale Arbeit und Gesundheit an der Fachhochschule Kiel. Maria Funder (Dr.) ist Professorin für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Philipps-Universität Marburg. Anja Gladkich ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Kirchen- und Religionssoziologie der Universität Leipzig. Roger Häußling (Dr.) ist Professor für Technik- und Organisationssoziologie an der RWTH Aachen University. Josef Hilbert (Dr.) ist Privatdozent an der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und leitet den Forschungsschwerpunkt Gesundheitswirtschaft und Lebensqualität am Institut Arbeit und Technik der Fachhochschule Gelsenkirchen. Jürgen Howaldt (Dr.) ist Professor an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaft der TU Dortmund. Heike Kahlert (Dr.) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie – Makrosoziologie der Universität Rostock. Mario Kaiser ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Programm für Wissenschaftsforschung der Universität Basel. Laura Kajetzke ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Allgemeine Soziologie der Philipps-Universität Marburg. Reinhart Kößler (Dr.) ist emeritierter Professor des Instituts für Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, derzeit Senior Research Fellow am Arnold-Bergstraesser-Institut Freiburg. Hans-Dieter Kübler (Dr.) ist Professor für Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg. Alexa Maria Kunz ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie des Karlsruher Instituts für Technologie.
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Franz Lehner (Dr.) ist Professor für angewandte Sozialforschung an der Ruhr-Universität Bochum und geschäftsführender Direktor des Instituts Arbeit und Technik der Fachhochschule Gelsenkirchen. Kirstin Lenzen ist Lehrbeauftragte für Technik- und Organisationssoziologie am Institut für Soziologie der RWTH Aachen University. Stephan Lessenich (Dr.) ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse an der FriedrichSchiller-Universität Jena. Sabine Maasen (Dr.) ist Professorin für Wissenschaftsforschung/Wissenschaftssoziologie am Programm für Wissenschaftsforschung der Universität Basel. Renate Martinsen (Dr.) ist Professorin am Lehrstuhl für Politische Theorie der Universität Duisburg-Essen. Gerhard Panzer (Dr.) lehrt an der Dresden School of Culture der Dresden International University. Michaela Pfadenhauer (Dr.) ist Professorin am Lehrstuhl für Soziologie am Karlsruher Institut für Technologie. Gert Pickel (Dr.) ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Markus Schroer (Dr.) ist Professor am Arbeitsbereich Allgemeine Soziologie der Philipps-Universität Marburg. Rainer Schützeichel (Dr.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Fernuniversität Hagen. Jochen Steinbicker (Dr.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Allgemeine Soziologie der Humboldt-Universität Berlin. Torsten Strulik (PD Dr.) vertritt derzeit die Professur für Staatstheorie und Global Governance an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.
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Hidayet Tuncer war Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der AG 6: Versorgungsforschung und Pflegewissenschaft der Fakultät für Pflegewissenschaften der Universität Bielefeld. Peter Wehling (PD Dr.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Augsburg. Jessica Wilde ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Allgemeine Soziologie der Philipps-Universität Marburg.
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Sozialtheorie Ulrich Bröckling, Robert Feustel (Hg.) Das Politische denken Zeitgenössische Positionen Januar 2010, 340 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1160-1
Markus Gamper, Linda Reschke (Hg.) Knoten und Kanten Soziale Netzwerkanalyse in Wirtschaftsund Migrationsforschung Oktober 2010, 428 Seiten, kart., zahlr. z.T. farbige Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1311-7
Karin Kaudelka, Gerhard Kilger (Hg.) Die Arbeitswelt von morgen Wie wollen wir leben und arbeiten? Oktober 2010, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1423-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Sozialtheorie Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Dezember 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5
Elisabeth Mixa Body & Soul Wellness: von heilsamer Lustbarkeit und Postsexualität Januar 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1154-0
Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Oktober 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Sozialtheorie Roswitha Breckner Sozialtheorie des Bildes Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien Dezember 2010, ca. 386 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1282-0
Hannelore Bublitz Im Beichtstuhl der Medien Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis März 2010, 240 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1371-1
Michael Busch, Jan Jeskow, Rüdiger Stutz (Hg.) Zwischen Prekarisierung und Protest Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West
Carolin Kollewe, Elmar Schenkel (Hg.) Alter: unbekannt Über die Vielfalt des Älterwerdens. Internationale Perspektiven Januar 2011, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1506-7
Thomas Lenz Konsum und Modernisierung Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne Dezember 2010, ca. 218 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1382-7
Stephan Lorenz (Hg.) TafelGesellschaft Zum neuen Umgang mit Überfluss und Ausgrenzung
Januar 2010, 496 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1203-5
August 2010, 240 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1504-3
Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft
Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hg.) Sicherheit und Risiko Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert
Dezember 2010, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5
März 2010, 266 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1229-5
Jürgen Howaldt, Michael Schwarz »Soziale Innovation« im Fokus Skizze eines gesellschaftstheoretisch inspirierten Forschungskonzepts
Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hg.) Handeln unter Risiko Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge
August 2010, 152 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1535-7
Juli 2010, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1228-8
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