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German Pages 601 [602] Year 2018
Handbuch Diskurs HSW 6
Handbücher Sprachwissen
Herausgegeben von Ekkehard Felder und Andreas Gardt
Band 6
Handbuch Diskurs
Herausgegeben von Ingo H. Warnke
ISBN 978-3-11-029573-3 e-ISBN [PDF] 978-3-11-029607-5 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-039518-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Warnke, Ingo, 1963- editor. Title: Handbuch Diskurs / edited by/herausgegeben von Ingo H. Warnke. Description: Boston : De Gruyter, 2018. | Series: Handbucher Sprachwissen (hsw) ; 6 Identifiers: LCCN 2018017268| ISBN 9783110295733 (hardback) | ISBN 9783110395181 (e-book (epub) | ISBN 9783110296075 (e-book (pdf) Subjects: LCSH: Discourse analysis. | Foucault, Michel, 1926–1984. | BISAC: LANGUAGE ARTS & DISCIPLINES / Linguistics / General. | LANGUAGE ARTS & DISCIPLINES / Communication Studies. Classification: LCC P302 .H3454 2018 | DDC 401/.41--dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018017268 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Ingo H. Warnke Diskurslinguistik – Verdichtete Programmatik vor weitem Horizont
I
Basiskonzepte der Diskurslinguistik
Dietrich Busse 1. Diskurs und Wissensrahmen
3
Reiner Keller 2. Diskurslinguistik und Wissenssoziologie Heidrun Kämper 3. Diskurslinguistik und Zeitgeschichte Marcus Müller 4. Diskursgrammatik
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53
75
Alexander Ziem 5. Diskurslinguistik und (Berkeley) Construction Grammar Janina Wildfeuer 6. Diskurslinguistik und Text
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Carsten Junker/Julia Roth 7. Intersektionalität als diskursanalytisches Basiskonzept
II Methodische Anker der Diskurslinguistik Martin Reisigl 8. Diskurslinguistik und Kritik Noah Bubenhofer 9. Diskurslinguistik und Korpora
104
173
208
Martin Wengeler 10. Diskurslinguistik als Argumentationsanalyse
242
152
IX
VI
Inhalt
Philipp Dreesen 11. Diskurslinguistik und die Ethnographie des Alltags Uta Papen 12. Discourse analysis and ethnographic fieldwork
265
285
Bettina M. Bock 13. Diskurslinguistik und Grounded-Theory-Methodologie
305
III Dynamik und Varianz in der Diskurslinguistik Constanze Spieß 14. Diskurs und Handlung Kersten Sven Roth 15. Diskurs und Interaktion
339
363
Albert Busch 16. Diskurslinguistik und Vertikalität: Experten und Laien im Diskurs Georg Albert 17. Diskurslinguistik und sprachliche Innovationen
405
Stefan Meier 18. Diskurslinguistik und Online-Kommunikation
426
IV Diskurskodierungen Angelika Linke/Juliane Schröter 19. Diskurslinguistik und Transsemiotizität Ulla Fix 20. Diskurslinguistik und Stil
449
470
Andreas Rothenhöfer 21. Diskurslinguistik und Emotionskodierung Jürgen Spitzmüller 22. Multimodalität und Materialität im Diskurs
488
521
387
Inhalt
Daniel Schmidt-Brücken 23. Diskurslinguistik und Kodierung von Gewissheiten Register
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541
VII
Ingo H. Warnke
Diskurslinguistik – Verdichtete Programmatik vor weitem Horizont Abstract: Nach anfänglichen Legitimationskämpfen und damit verbundenen Infragestellungen durch eine poststrukturalistisch wenig beeindruckte Sprachwissenschaft gehört die Diskurslinguistik inzwischen zu den anerkannten Teildisziplinen der Linguistik. Insbesondere die korpuslinguistische Orientierung hat dazu beigetragen, dass sich Diskurslinguistik inzwischen im konzeptionellen und methodischen Mainstream der Sprachwissenschaft bewegt. Bis heute hat sich die linguistische Teildisziplin jedoch etwas von ihrer subversiven Kraft erhalten, sodass sie nicht in Gänze und glatt in ein tradiertes System der Sprachwissenschaft eingefügt ist. Im Spannungsfeld von unbequemer Provokation und praktikabler Alltagstauglichkeit hat Diskurslinguistik in den letzten Dekaden eine verdichtete Programmatik entwickelt, die als Übersicht über das vorliegende Handbuch skizziert wird. Dabei werden offene Enden aktueller Diskussionen benannt und auf die konstruktivistisch motivierte Frage bezogen, inwiefern Linguistik vor der dringenden Aufgabe steht, über eine Ethik des Diskurses nachzudenken.
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Positionierungen der Diskurslinguistik Programmatische Positionen in der Diskurslinguistik Diskurslinguistische Kanonisierung und Erneuerung Auf dem Weg zu einer Ethik des Diskurses Literatur
1 Positionierungen der Diskurslinguistik Das vorliegende Handbuch will einen Überblick zur Diskurslinguistik geben und den disziplinären Status ihrer epistemologischen Voraussetzungen unter Einschluss ihrer methodologischen Perspektiven erneut zur Diskussion stellen. Dass Diskurslinguistik inzwischen eine etablierte Teildisziplin der Sprachwissenschaft ist, darf als gesetzt gelten. Seit Dietrich Busses und Wolfgang Teuberts (1994) programmatisch bejahendem Text zur Frage, ob Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt sei, hat sich Diskurslinguistik in Forschung und Lehre breit etabliert und ist aus Zusammenhängen einer quellen-, text- und aussagenorientierten linguistischen Analyse kaum mehr wegzudenken. Was unter Diskurs dabei verstanden wird, bleibt multiperspektivisch, bisweilen sogar unentschieden. Unterschiedliche Auffassungen, Annahmen, theoretische Bezüge und Fragestellungen stehen nebeneinander. Kategorielle Offenheit, Relativität, die Reflexion der eigenen Diskursabhttps://doi.org/10.1515/9783110296075-203
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hängigkeit und das Potential zur Integration immer wieder neu und verschieden akzentuierter Forschungsgegenstände sind und bleiben programmatische Bedingungen diskurslinguistischer Arbeit. Diese Heterogenität bzw. Unübersichtlichkeit in Theorie, Methode und Empirie könnte durchaus Anlass zu kritischer Distanzierung sein, jedenfalls dann, wenn wir Diskurslinguistik mit der Erwartung begegneten, dass wissenschaftliche Praxis stets eindeutig zu sein und ihre Aufgabe dort zu finden habe, wo es um die Produktion von wahrem Wissen geht. Da sich ein solcher, Eindeutigkeit einfordernder Wissenschaftsanspruch des Globalen Nordens – der unter anderem in aristotelischen Annahmen der kategoriellen Unterscheidbarkeit von Phänomenen und im Satz vom ausgeschlossenen Dritten wurzelt – ohnehin mit einer zunehmenden globalen Infragestellung von generalisierenden Erklärungsmodellen durch Wissensdynamiken im Globalen Süden konfrontiert sieht (vgl. Connell 2007), sollten solche Erwartungen jedoch nicht unkritisch erfüllt werden. Geisteswissenschaftliche Praxis hat sich mit ihren Themen, Theorien und Methoden so stark pluralisiert, dass jegliche Wissensproduktion darin längst von ihrer Infragestellung begleitet ist. Das gilt auch für die Linguistik. Es gibt nicht mehr d i e Grammatiktheorie, d i e Themen der Zeit, und d i e gesetzten Verfahren zu ihrer Analyse; wenn es diese in der kurzen Geschichte der Linguistik denn überhaupt je gegeben hat. Was diese Pluralität bzw. Pluralisierung angeht, die kritisch betrachtet eben als Beliebigkeit wissenschaftlicher Praktiken wahrgenommen werden könnte, so gehört Diskurslinguistik zu den Gebieten der Sprachwissenschaft, die kategorielle Offenheit in besonderem Maße programmatisch setzen. Dies hat nicht zuletzt theoretische Ursachen. Wenn Diskurse als Grundoperationen gesellschaftlich konstituierter Kommunikation und Wissensorganisation verstanden werden, dann sind sie in jedem sprachlichen Verhalten von Akteuren wirksam. Der Diskurs besitzt mithin Omnipräsenz, so wie die Sprache selbst. Der damit verbundene breite Erklärungsanspruch der Diskurslinguistik geht so weit, dass das Nachdenken über den Diskurs ja selbst als Ausdruck von Diskursen lesbar wird bzw. Diskurse strukturiert oder restrukturiert. Das vorliegende Handbuch steht also nicht außerhalb von Diskursen eines wichtigen Teils der vor allem germanistischen Sprachwissenschaft in den letzten 20 Jahren, der sich von internationalen Diskussionen der Humanwissenschaften zwar erst spät hat berühren lassen, die damit verbundenen Impulse zur Diskursorientierung aber umso engagierter aufgegriffen und in die Disziplin getragen hat, was zum Teil gegen deutlich vernehmbaren Widerstand einer traditionellen und selbstzentrierten Linguistik geschah. Zentral war und ist der radikale Neuentwurf des Poststrukturalismus, der unter Hinweis vor allem auf Michel Foucault (1926–1984) und seltener auf Jacques Derrida (1930–2004) zum Anker einer kategorienkritischen Neuorientierung der Linguistik wurde. Wie dem Poststrukturalismus überhaupt ist auch der Diskurslinguistik „die Negation jeder geschlossenen Systematik zugunsten offener Systeme“ (Rusterholz 1998, 2329) eigen. Von der damit einhergehenden auf-
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weckenden und enervierenden Energie hat die Diskurslinguistik sich bis heute einiges bewahrt. Da Diskurslinguistik sich mit dem konstruktionalen Charakter epistemischer Ordnungen befasst, muss sie jedoch nicht zuletzt für sich selbst gelten lassen, raumzeitliche Relativität zu besitzen. Diskurslinguistik erscheint zu einem bestimmten Moment, unter bestimmten Voraussetzungen und mit einer bestimmten Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Fachdiskussion und ist damit eine innovative Bewegung und historische Wissenskonfiguration zugleich. Das, was man zusammenfassend als Diskurslinguistik bezeichnen kann, begründet sich also wesentlich aus dem Zweifel an der Richtigkeit oder gar universalen Gültigkeit strukturalistischer, regelgeleiteter Sprachtheorien und -analysen und wendet sich massiv gegen den hegemonialen Habitus einer – zumindest imaginierten – Kernlinguistik. In Diskurslinguistik begegnen insofern Bedenken gegen das, was Raewyn Connell für die Sozialwissenschaften General Theory genannt hat, also ein Zweifel am wissenschaftlichen Streben nach widerspruchsfreien, universalen Erklärungen: „By general theory I mean theorising that tries to formulate a broad vision of the social, and offers concepts that apply beyond a particular society, place or time.“ (Connell 2007, 28) Auch Diskurslinguistik hegt große poststrukturalistische Bedenken gegen allgemeingültige ontologische Kategorien. Diese Bedenken können sogar als prinzipielle Voraussetzung diskurslinguistischer Praxis verstanden werden. Dass Diskurslinguistik dabei unbeabsichtigt in ein epistemologisches Dickicht geraten kann, aus dem herauszufinden eine Herkulesaufgabe wäre, soll in Abschnitt 4 noch erläutert werden. Zunächst ergibt sich die Frage, ob ein Handbuch als Genre für eine Übersicht gerade zur Diskurslinguistik überhaupt ein angemessenes Format darstellt, gilt das Handbuch doch als Form der kohärenzbildenden Wissenssicherung, eine Form, die Vorstellungen von Wahrheitsrelativität recht deutlich entgegenzustehen scheint. Wäre nicht eine Sammlung von Essays über Diskurslinguistik oder Snippets aus diskurslinguistischen Überlegungen in schroffer Konfrontation untereinander viel überzeugender, ein Kompendium von Textbruchstücken und Aussagen, aus denen sich mit Suchfunktionen jeweils das herausholen lässt, was man für die Arbeit als sinnvoll erachten und als jeweils nützlich anwenden kann? Wo wird in einem fast schon verstaubt traditionell geordneten Handbuch die Umstrittenheit diskurslinguistischer Positionen zum Ausdruck gebracht, wo ist ihre Unabgeschlossenheit manifest? Müssten also nicht widersprechende Positionen deutlich dokumentiert werden, die das Feld disparater Geltungsansprüche in der Diskursanalyse unaufgelöst erkennbar machen? Sollte also nicht tunlichst vermieden werden, auch nur den Anschein einer Ordnung zu geben? Den poststrukturalistischen Wurzeln von Diskurslinguistik würde dies entsprechen. Doch bliebe bei einer solchen Absage an das traditionelle Genre des Handbuchs eine bedeutsame Möglichkeit ungenutzt, Diskurslinguistik nämlich als eminent wichtigen neueren Baustein im systematischen Projekt der Linguistik ins-
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gesamt zu positionieren. Genau dies halte ich aber für besonders notwendig. Ein Baustein, der zwar nicht glatt in die Fassade des sprachwissenschaftlichen Theoriegebäudes einzupassen ist, der aber eine tragende Funktion für zukünftige Erweiterungen besitzen kann, die notwendig sein werden, damit das Fach im (inter)disziplinären Dialog in Zukunft überhaupt noch erkennbar bleibt. Diese Funktion besteht in der Relativierung tradierter linguistischer Gewissheiten: das Bauwerk einer zweihundertjährigen Disziplin zu relativieren, Möglichkeiten einer Relativierung mit Verweis unter anderem auf Foucault-Lektüren überhaupt zu denken und den linguistischen Gegenstand um textübergreifendes, aussagenvernetztes, gesellschaftlich wirksames sowie sprachlich manifestes, zersplittertes Wissen zu erweitern. Es geht um eine wesentliche Innovation, die Diskurslinguistik bei all ihren unterschiedlichen Spielarten anstößt, und die es zusammenführend darzustellen gilt. Genau dies kann ein Handbuch leisten, nicht zuletzt, indem es das Potential der Relativierung bei aller A- bzw. Anti-Systematik, bei aller Unterschiedlichkeit der Erkenntnisinteressen und bei aller Vagheit des Gegenstands für die etablierten Ausprägungen von Diskurslinguistik unterstreicht. Diskurslinguistik operiert vor einem weiten Horizont diesbezüglicher Forschungsgegenstände und wird hier als ein Programm verstanden, das aufgrund seiner poststrukturalistischen Verankerung und mit seinem Zweifel an realistischen, ontologischen Positionen Ausdruck einer heterogenen, pluralistischen, diversen Welt- und Wissensordnung ist, in der vermeintliche Widersprüche nicht aufgelöst sind. Unter Berücksichtigung dieser Vorannahme ist das Handbuch also gerade nicht die Dokumentation einer widerspruchsfreien Disziplin, doch es möchte die funktionale Potenz von Diskurslinguistik für die Sprachwissenschaft insgesamt und in verdichteter Programmatik thematisieren. Dies geschieht in vier Abteilungen, die im Folgenden näher vorgestellt werden: – Basiskonzepte der Diskurslinguistik – Methodische Anker der Diskurslinguistik – Diskursive Dynamik und Varianz – Heterogenität von Diskurskodierungen.
2 Programmatische Positionen in der Diskurslinguistik 2.1 Basiskonzepte Die erste Abteilung des Handbuchs behandelt theoretische Voraussetzungen der linguistischen Diskursanalyse und führt Diskussionen der Humanwissenschaften zusammen, die seit den 1960er Jahren ihre Wirkung entfaltet haben. Auch wenn Diskurslinguistik als eine relativ späte linguistische Reaktion darauf angesehen werden muss, bleibt sie ein keineswegs schnelles und flüchtiges Paradigma modischer Konjunkturen. Diskurslinguistik ist in wesentlichen theoretischen Debatten
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der Sozial- und Geisteswissenschaften verankert und als ein wichtiger disziplinärer Beitrag innerhalb der Linguistik positioniert. Diese Stellung resultiert vor allem aus der Bedeutung, der Wissen in der Diskursanalyse im Allgemeinen und in der Diskurslinguistik im Besonderen zukommt. Am Beginn des Handbuchs steht Dietrich Busses Abhandlung zu Wissensrahmen, die mehr oder weniger deutlich erkennbar in jeder Diskursanalyse fokussiert werden. Busse geht davon aus, dass die Totalität der gesellschaftlichen Wissensbestände – die sog. Episteme – analytisch über die Beschäftigung mit sprachlich gebundenen Wissenselementen erfassbar ist, die es ihrerseits in ihrer a) Emergenz, b) Serialität, c) Regelhaftigkeit und d) ihrer Formierung neuer Aussagenzusammenhänge zu betrachten gilt. Wissen steht mithin am Beginn des linguistischen Interesses am Diskurs. Bereits hier zeigt sich, dass Diskurslinguistik nicht selten Theorien und Methoden entlehnt, die in anderen disziplinären Kontexten längst gesetzt oder zumindest diskutiert werden, und dass sie diese den eigenen Erkenntnisinteressen anpasst. Insofern besitzt Diskurslinguistik trotz ihres hohen theoretischen Anspruchs, letzthin Sprachtheorie zu sein, zunächst auch keine eigenen Methoden. Im Fall der Analyse von Wissensrahmen greift Diskurslinguistik auf framesemantische Konzepte zurück; nicht ohne die Diskussion aber selbst wesentlich mitzugestalten, etwa mit dem von Busse vertretenen Konzept des verstehens- bzw. bedeutungsrelevanten Wissens und der Bezüge dieses Konzeptes zu einer interpretativen und verstehenstheoretischen Semantik. Es gehört zu den fachgeschichtlich wesentlichen Verdiensten von Busse, die Bezüge von Diskurssemantik zu framesemantischen Ansätzen bereits der 1970er Jahre hergestellt zu haben, denn eine Beschäftigung mit Diskursen als Wissensstrukturen wird durch den Fokus auf Wissensrahmen bzw. Frames handhabbar. Diskurslinguistik stößt hier zugleich eine entscheidende Funktionserweiterung der Linguistik überhaupt an, denn es geht in einem solchen Vorhaben nicht allein um aussagengebundene soziale Semantik, sondern zugleich um die herausfordernde Frage nach ihrem kognitionslinguistischen Status, womit Gesellschaft und Individuum gleichermaßen zu Gegenständen diskurslinguistischer Interessen werden. Zudem ist eine wissensorientierte linguistische Analyse von Diskursen in diesem Sinne immer mit der Explikation von Implizitheit befasst. Eine der grundlegenden Annahmen von Diskurslinguistik ist, dass Wissensbestände nicht aussagengebunden expliziert werden müssen bzw. sind, sondern implizite Bedingungen für Gesagtes/Geschriebenes/Ausgesagtes darstellen. Busse befasst sich in seinem Text unter anderem mit eben diesem Aspekt und zeigt, dass es um nicht weniger geht als um eine praktikable Methode zur Analyse von Wissen in seiner Gesamtheit, also als zeitgebundene epistemische Ordnung. Der Artikel von Reiner Keller zur Wissenssoziologie schließt sich nahtlos an. Es mag verwundern, dass ein linguistisches Handbuch interdisziplinären Stimmen zentrale Positionen einräumt. Da disziplinäre Ordnungen aber selbst diskursgebundene Formationen darstellen, würde ein ausschließender Umgang von Ak-
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teuren jenseits vermeintlicher Disziplingrenzen wenig überzeugen. Eine solche restriktive Disziplinierung von Diskurslinguistik wäre eher Ausdruck ängstlich abgrenzender Dialogverweigerung als ein konstruktiver Beitrag zum Diskurs über den Diskurs, aus welcher Disziplin heraus dieser immer geleistet werden mag. Es liegt nicht nur nahe, sondern man kann es sogar als zwingend erachten, die sog. wissenssoziologische Diskursanalyse, zu deren Hauptvertretern Keller gehört, dicht am Projekt der Diskurslinguistik zu verorten. Keller geht es vor allem darum, die Bezüge einer wissensorientierten soziologischen Analyse auf Grundpositionen seines Faches zu beziehen. Dies ermöglicht aber nicht zuletzt auch diskurslinguistisch Interessierten, ihre eigenen Verbindungen zu historischen Wissenssoziologien seit Karl Marx und Friedrich Engels zu reflektieren und zu überdenken. Keller zeigt unter anderem mit Blick auf Ludwik Fleck, dass wissenschaftliche Diskurse selbst nicht außerhalb des soziologischen Interesses am Wissen stehen. Von besonderer Relevanz sind in diesem Zusammenhang Konzepte der Sprachsoziologie seit den 1960er Jahren und Hinweise auf die Rezeption der Semiotik in der Soziologie; zumal Semiotik inzwischen eines der unterschätzten, weil bereits historisierten Fächer ist. Keller zeigt, dass im gemeinsamen Interesse an Wissen und Sprache die Grenzen zwischen wissenssoziologischer Diskursforschung und Diskurslinguistik nur noch schwach gezogen sind. Damit umreißt seine Abhandlung einerseits grundlegend soziologisch verhandeltes Wissen. Kellers Argumentation ist aber zugleich subversiv, weil sie das interdisziplinäre Potential der Diskursanalyse erkennbar macht. Diskursanalyse ist mithin geeignet, herkömmliche disziplinäre Ordnungen zu verschieben, wenn nicht sogar für obsolet zu erklären. Historizität als Zeitbindung von Wissen hat daher eine enorme Bedeutung für das diskurslinguistische Projekt. Die Entzauberung von Annahmen der universalen, unbegrenzten Gültigkeit von Wissen gehört zu den großen intellektuellen Zumutungen der Diskursanalyse, die als poststrukturalistisch verankerte Theorie ein anti-ontologisches Projekt ist, das Geschichte – besser geschichtlich gebundenen Aussagenkonstellationen – höchste Bedeutung beimisst. Dies bedenkend erstaunt es immer wieder, dass das historische Vermögen der Diskurslinguistik weit weniger sichtbar wird, als das Interesse an je gegenwärtigen Debatten prägend für die diskurslinguistische Agenda ist. Hier ist ein Desiderat offensichtlich, dem sich Heidrun Kämper mit dem Konzept zeitgeschichtliche Diskurslinguistik annimmt. Dies ist nicht etwa ein beliebiger diskurslinguistischer Gegenstand. Aus der Perspektive der germanistischen Linguistik und ihrer historischen Verantwortungen ist zeitgeschichtliche Diskurslinguistik vielmehr ein wesentliches Feld von Diskurslinguistik überhaupt und dadurch bestimmt, dass sie das Projekt der Moderne weiterhin kritisch bearbeitet. Das fachliche Interesse der Linguistik an Wort, Konzept, Argumentationsmuster und Intertextualität steht dabei, wie Kämper zeigt, außer Frage und verankert das Vorhaben der zeitgeschichtlichen Analyse in etablierten Gegenstandsbereichen des Faches. Kämper befasst sich anhand zweier Beispiele mit den damit in Verbindung stehenden Aufgaben von Diskurslinguistik: Umbruch-
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geschichte und Kollektives Gedächtnis. Da es gerade die gesellschaftlichen Brüche sind, die Diskurse erkennbar werden lassen, und da Diskurse als kollektivierte Wissensformationen auch Erinnern prägen, handelt es sich bei diesen ‚Beispielen‘ um Bereiche diskurslinguistischer Interessen, die noch längst nicht hinreichend erforscht sind. Die populistischen Versuche einer Verschiebung der Grenzen des Sagbaren in der Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts zeigen deutlich, welche Bedeutung einem fortgesetzten Interesse am Kollektiven Gedächtnis zukommt und welche Verantwortung Linguistik mit ihrem Interesse an Umbruchgeschichte zu übernehmen hat. Dass es keineswegs nur um Überlegungen im interdisziplinären Dialog geht, zeigt besonders gut das Beispiel der Grammatik. Diskurslinguistik ist einerseits entgrenzend und antikategoriell, sie ist aber ebenso entscheidender Beitrag zur Aktualisierung herkömmlicher Teildisziplinen der Linguistik, die es gewohnt sind, den Goldstandard der Disziplin zu setzen. Grammatik ist dabei unbestritten führend. Marcus Müller zeigt in seinem Artikel zur Diskursgrammatik, dass Diskurslinguistik keineswegs eine der häufig weniger ernst genommenen sog. Bindestrichlinguistiken ist, sondern dass deren sprachtheoretischer Anspruch wesentliche Auswirkungen auf sog. Kerngebiete des Faches hat. Auch wenn sich Diskurslinguistik lange Zeit – aus den Traditionen der (historischen) Semantik kommend – mit Lexik befasst hat, ist Grammatik fraglos eine wichtige Dimension des Diskurses, mit der Linguistinnen und Linguisten nicht zuletzt auch einen fachspezifischen Gegenstand im interdisziplinären Diskursprojekt umreißen können. Müller hebt hervor, dass sprachliche Muster, die in jüngerer Zeit ohnehin großes fachliches Interesse im Zusammenhang der Beschäftigung mit Konstruktionen auf sich gezogen haben, ein mehrschichtiges Kontextualisierungspotential besitzen. Hier verbindet sich Diskursgrammatik mit neueren soziolinguistischen Arbeiten zur Indexikalität. Müllers Perspektive auf Diskursgrammatik als Linguistik indexikalischer Ordnungen zeigt für die Grammatik beispielhaft, dass das vorliegende Handbuch nicht nur konsolidierte Ansätze dokumentiert, sondern auch Impulse zu ihrer fortgesetzten Praxis geben möchte. Die Fragen, was Grammatik überhaupt mit Diskursen anzufangen weiß, und was Diskurse mit Grammatik machen (können), stehen im Mittelpunkt von Müllers Ausführungen und sind verbunden mit Überlegungen zu den Konzepten einer forensischen und explorativen Diskursgrammatik. Ein grammatischer Zugriff auf Diskurse erfolgt nicht alternativ zu semantischen Fragestellungen, sondern ist mit diesen – nicht zuletzt im Sinne eines konstruktionsgrammatisch modellierten, lexikogrammatischen Kontinuums – aufs Engste verbunden. Framesemantik und grammatische Konstruktion sind damit in ihrer Vernetzung ein weiterer wichtiger Gegenstand diskurslinguistischer Interessen. Alexander Ziem befasst sich entsprechend mit der (Berkeley) Construction Grammar und zeigt, welche konstitutive Funktion grammatische Konstruktionen bei der Bedeutungsstrukturierung von Aussagen haben. Es geht um einen grammatischen Ansatz, der nicht zuletzt deshalb in besonderem Maße diskurslinguistische
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Relevanz besitzt, weil er konsequent gebrauchsbezogen ist. Eine Zurückhaltung der Diskurslinguistik gegenüber Grammatik oder eine Marginalisierung von Diskurslinguistik aus der Perspektive der Grammatik sind in einem solchen Theorierahmen nicht mehr denkbar, und dies nicht zuletzt, weil Konstruktionsgrammatik und Diskurslinguistik wesentliche theoretische Voraussetzungen teilen und Konstruktionsgrammatik mithin ein praktikables Instrumentarium zur Analyse von Diskursen bereitstellt. Von Bedeutung ist dabei die Annahme, dass Serialität zur Kategorienbildung beiträgt und korpusbasierte Erhebungen von rekurrenten Konstruktionen Hinweise auf Diskurskontexte liefern. Ziem verbindet seine Ausführungen mit einem kaum zu überhörenden Plädoyer für mehr Berücksichtigung der Grammatik in der Diskurslinguistik überhaupt. Diese Position ist für das vorliegende Handbuch insgesamt erkennbar, denn Musterbildung in Konstruktionen, in sog. Sprachgebrauchsmustern, sind Gegenstand nicht nur dieses Artikels, worauf zurückzukommen ist, wenn die zweite Abteilung vorgestellt wird. In der Genese der Diskurslinguistik und der frühen Begründung ihrer Notwendigkeit kommt einem Narrativ eine wichtige Rolle zu, das Wolfgang Heinemann und Dieter Viehweger (1991, 26) für die Textlinguistik und ihre Überschreitung einer zuvor satzbegrenzten Linguistik als „Erweiterungspostulat“ bezeichnet haben und das Sigurd Wichter (1999, 268) „[d]ie Erweiterung der Einheitenfolge nach oben“ nennt. Die Facherzählung, wonach die Sprachwissenschaft ihren Gegenstandsbereich vom Satz über den Text hin zum Diskurs sukzessive erweitert hat bzw. zu erweitern hatte, kann als wichtige Begründungsfigur früher Diskurslinguistik angesehen werden. Daraus resultiert eine noch immer wahrgenommene Nähe zwischen Text- und Diskurslinguistik. Janina Wildfeuer zeigt in ihrem Beitrag zu Diskurslinguistik und Text vor allem auch mit Blick auf den internationalen Terminologiegebrauch, dass die in der germanistischen Linguistik etablierte Unterscheidung zwischen Text und Diskurs jedoch nicht unproblematisch ist. Sie argumentiert zugunsten des Texts und sieht in textlinguistischen Ansätzen entscheidende Bezugsfelder für Diskursanalyse. Dabei wird einerseits der Text als diskurslinguistische Einheit verstanden und andererseits Diskurslinguistik als Projekt der Untersuchung von Diskursen im Text dargestellt. Wildfeuer sieht Entwicklungen einer Ersetzung von Textlinguistik durch Diskurslinguistik folgerichtig als problematisch an. Dies heißt nicht zuletzt methodisch, dass Texte wesentliche Untersuchungsgegenstände von Diskurslinguistik sind bzw. bleiben sollten. Diese nicht nur von Wildfeuer vertretene Auffassung ist in einer aussagenorientierten Diskurslinguistik nicht unumstritten, jedoch mit dem vorliegenden Text argumentativ im Handbuch verankert. Mit dem Artikel von Carsten Junker und Julia Roth zu Intersektionalität als diskurslinguistisches Basiskonzept trägt das Handbuch dazu bei, die bereits von Wildfeuer kritisierte Innenorientierung der germanistischen Diskurslinguistik weiter aufzubrechen und zu diesem Zweck Intersektionalität als wesentlichen Gegenstand von Diskurslinguistik anzuerkennen. Obgleich Intersektionalität in den Human-
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und Sozialwissenschaften inzwischen breit diskutiert ist, hat das Konzept bisher keinen Eingang in die kanonisierten Theoriezusammenhänge der Diskurslinguistik gefunden. Als rechts- und sozialwissenschaftliches Konzept zur Bezeichnung der multiplen Wirksamkeit von sozial differenzierenden und hierarchisierenden sowie bedeutungsstiftenden Kategorien wie race und class kommt Intersektionalität Junker und Roth zufolge eine wichtige Bedeutung in den Instrumenten der Diskursanalyse und -linguistik zu. Der Handbuchartikel führt mit diesem Ziel in die Begriffsgeschichte des Konzeptes ein und erörtert seine epistemologischen und methodischen Implikationen. Dass Intersektionalität ein Paradigma der Kritik ist, unterstreicht den kritischen Gehalt von Diskurslinguistik, ohne den ein Rückbezug auf Foucault nur schwer denkbar ist. Als Koordinaten einer in diesem Sinne kritischen Diskursanalyse werden die vermeintlichen Gegensätze Theorie vs. Praxis sowie universelle vs. partikulare Geltungsansprüche verstanden, ergänzt um Erweiterungen des Wissensbegriffs als individuelle Erfahrung. Junker und Roth gehen auf methodologische Perspektivierungen ebenso ein wie sie Ungleichheit als diskurslinguistisch zu beachtendes Phänomen hervorheben. Die Trias Diskurs, Wissen und Macht wird in ihrer Verschränkung so als unhintergehbares Phänomen und als diskurslinguistisch wesentliches Objekt betont.
2.2 Methodische Anker Die zweite Abteilung des Handbuchs – Methodische Anker der Diskurslinguistik – stellt Analyseverfahren bzw. methodologische Kontexte diskurslinguistischer Methoden vor. Da Diskurse sich transversal zu Einheiten wie Phonem, Morphem, Wort und Satz verhalten, integriert Diskurslinguistik verschiedene traditionelle und neuere Methoden von Syntax, Semantik und Pragmatik. Wesentlich ist, in welchem methodologischen Szenario eine Anwendung solcher Methoden erfolgt. Das Handbuch geht von drei Clustern aus: Kritik, Korpus und Argumentation. Ergänzt werden diese durch die Hervorhebung einer bislang eher vernachlässigten Ethnographie des Diskurses, die nicht zuletzt auf die methodologische Reflexion der Grounded Theory zurückgreifen kann. Das Handbuch versteht sich damit nicht als Handreichung für instrumentelle Operationalisierungen von Diskurslinguistik, sehr wohl aber als Kompendium für eine Rückbindung von Diskurslinguistik als Sprachtheorie an Fragen der Methodologie. Von eminenter Bedeutung für die Positionierung von Diskurslinguistik ist ihre Einstellung zu Kritik. Martin Reisigl thematisiert in seinem Beitrag zur Kritischen Diskursanalyse ausgehend von etymologischen und gebrauchsgeschichtlichen Dimensionen des Kritikbegriffs das epistemologische Potential von Kritik, wie es weit über eine diskursorientierte wissenschaftliche Praxis funktional und auch für Herausbildungen von verschiedenen Öffentlichkeiten bedeutsam war und noch immer ist. Von besonderem linguistischen Interesse ist dabei nicht zuletzt für die germanistische Sprachwissenschaft ein (zu) lange inszenierter Gegensatz zwischen
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Deskription und Kritik, den Reisigl hinterfragt und in vielen Punkten aufhebt. Diese Dekonstruktion von häufig unvermittelt gedachten Deskriptions- und Kritikbegriffen verdichtet der Autor vor allem auch zu einer kritischen Diskussion einseitiger Deskriptionsansätze in der germanistischen Linguistik, gerade auch von Arbeiten, die kritische Analyse und Kritik selbst ablehnen und aus der linguistischen Analyse sogar ausschließen wollen. Dass eine vermeintlich beschreibende Linguistik in hohem Maße normativ sein kann, wird dabei deutlich herausgearbeitet. Weiter erfasst Reisigl zentrale Kritikkonzepte und bezieht insbesondere unterschiedliche Spielarten kritischer Diskurslinguistik aufeinander. Nicht zuletzt der in der internationalen Diskussion verbreiteten Praxis kritischer Analyse widmet Reisigl seine Aufmerksamkeit und dezentriert dabei Ansätze der germanistischen Linguistik erkennbar. Der Text schließt mit einer systematischen Zusammenfassung von sieben reflexiven Aspekten im Verhältnis von Deskription und Kritik. Für zukünftige Diskussionen wird es vor diesem Hintergrund schwer sein, die zuweilen einfache Entgegensetzung von Deskription und Kritik fortzusetzen. Es wird also die Aufgabe erkennbar, Diskurslinguistik vor allem jenseits interessegeleiteter Hierarchisierungen von Deskription und Kritik weiterzudenken. Während sich die germanistische Linguistik mit kritischen Ansätzen also immer wieder schwergetan hat, ist die Integration korpuslinguistischer Methodologie in die Diskurslinguistik nicht zuletzt im Zuge technisch ausgefeilter Möglichkeiten eine Erfolgsgeschichte und wenig hinterfragt. Diskurslinguistik ohne Korpus zu betreiben, scheint kaum mehr möglich zu sein, und Korpora ohne korpuslinguistische Kompetenz zu untersuchen, verbietet sich fast schon. Noah Bubenhofer stellt in seinem Beitrag zu Diskurslinguistik und Korpora nicht nur fünf wichtige Analysekategorien eines entsprechenden korpusbezogenen Verfahrens vor, sondern zeigt vor allem, welche Relevanz musterhafte Sprachdaten für die Analyse von Diskursen besitzen. Hier verschmelzen grammatische Analysen im lexikogrammatischen Kontinuum und technische Möglichkeiten computergestützter Analyse zu einem leistungsstarken Set methodischer Möglichkeiten. Bubenhofer betont, dass Korpuslinguistik in diesem Zusammenhang nicht etwa den Charakter einer Hilfswissenschaft hat, sondern Schlüssel für vollkommen neue Fragen zur Verfügung stellt. Diskurslinguistik kann dabei als eine linguistische Teildisziplin gelten, die in besonderem Maße Affinitäten zu den Digital Humanities aufweist. Korpuslinguistik ist wie Kritik also ein entscheidender Parameter und tritt für Diskurslinguistik immer dort in den Vordergrund, wo es gilt, methodische Entscheidungen zu treffen. Nicht übergangen werden sollte, dass die Korpuslinguistik keineswegs nur neue technische Möglichkeiten für Diskurslinguistik eröffnet, sondern dass bereits mit Busse/Teubert (1994) eine korpuslinguistische Diskurslinguistik ante litteram entworfen worden ist. Die technischen Möglichkeiten korpuslinguistischer Diskursanalyse im aktuellen Sinn haben vor allem auch eines befördert, worauf Bubenhofer ebenfalls hinweist: ein konsequent exploratives Arbeiten. Mit dem dritten methodologischen Cluster neben Kritik und Korpus richtet sich das Interesse auf die Bedeutung von Argumentation im Diskurs. Martin Wengeler
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zeigt, welche diskurslinguistischen Fragestellungen im Rahmen von Argumentationsanalysen gestellt und beantwortet werden können. Dabei gehört Argumentationsanalyse inzwischen zu den elaboriertesten Verfahren von Diskurslinguistik überhaupt. Wengelers Titel Diskurslinguistik als Argumentationsanalyse verweist insofern durchaus auf einen programmatischen Anspruch. Denn es geht hier weniger darum, lediglich eine Beigabe zum Methodenmix zu leisten, sondern vielmehr einen Typ autonomer diskurslinguistischer Untersuchung zu begründen. Zu bedenken ist, dass Argumentationstopoi insbesondere Diskurse da strukturieren, wo es um öffentliche Begründungszusammenhänge und Positionierungen geht. Argumentationsanalytische Verfahren sind also überall dort besonders geeignet, wo (umstrittene) Diskursinhalte (öffentlich) verhandelt werden. Ein argumentationsanalytischer Ansatz macht es möglich, auf Rationalität verweisende Auseinandersetzungen in ihren seriellen Vorkommen zu beschreiben und aufeinander zu beziehen. Daraus ergeben sich nicht zuletzt Anwendungsmöglichkeiten in diachronen Diskursanalysen, denen Wengeler im Sinne von Diskursgeschichte besondere Aufmerksamkeit schenkt. Die Bezüge zum Diskurshistorischen Ansatz im Rahmen Kritischer Diskursanalyse zeigen außerdem, dass grundlegende methodologische Kontextualisierungen in der Diskurslinguistik nicht als strikte Alternativen verstanden werden müssen. In Ergänzung zu toposorientierten Ansätzen der Argumentationsanalyse stellt Wengeler die Analyse prototypischer Argumente vor und verweist auf Ansätze einer kontrastiven Diskurslinguistik, auf die noch zurückzukommen ist. Neben Kritik, Korpus und Argumentation werden im Handbuch ethnographische Ansätze als methodologische Anker von Diskurslinguistik vorgestellt. Philipp Dreesen befasst sich mit Diskurslinguistik und Ethnographie des Alltags und nicht zuletzt mit Datentypen, die durch korpuslinguistische Verfahren nicht angemessen bearbeitet werden können. Dreesen stellt den als etabliert dokumentierten Makroanalysen ein Interesse an Mikroanalysen zur Seite und erweitert damit nicht nur das methodische Tableau, sondern integriert in die diskurslinguistische Theorie die bisher wenig beachtete Ethnography of Communication, die in anderen Teildisziplinen der Sprachwissenschaft längst breit rezipiert wurde. Dies führt nicht zuletzt dazu, dass zahlreiche, in der Diskurslinguistik kaum wahrgenommene, internationale Diskussionen auf linguistische Analysen von Diskursen beziehbar werden und die Nähe diskurslinguistischer Interessen zur ethnographisch orientierten Gesprächsforschung erkennbar wird. Dreesen umreißt ein Desiderat, das für zukünftige Diskurslinguistik vielfache Erweiterungen ihrer bisherigen dominanten Gegenstände ermöglicht. Dies bedeutet nicht zuletzt die Abgrenzung von einer primär massenmedial orientierten Diskurslinguistik und einen Bezug auf Praktiken der Diskursproduktion. Zentral ist das Konzept Alltag. Konkret werden mit sozioethnographischen Ansätzen und historisch-ethnographischen Ansätzen zwei Anwendungsmöglichkeiten von Ethnographie für Diskurslinguistik dargestellt. Dass die vertiefte Integration der Ethnographie in die Diskurslinguistik noch zahlreicher Diskussionen bedarf, macht Dreesen selbst unmissverständlich deutlich.
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Die theoretisch orientierte Begründung von ethnographischer Diskursanalyse wird bei Uta Papen als Ethnographic Fieldwork konkretisiert, wobei es vor allem um die Kombination von textorientierten Ansätzen und Analysen diskursiver Alltagspraktiken geht. Die für Diskurslinguistik zentralen Konzepte Kontext und Kontextualisierung können als wichtige Relata von Text und Praxis verstanden werden. Dies bedeutet eine Verschiebung von der close analysis of the text itself zu einer Analyse der Produktion und Nutzung von Texten in specific situations and contexts bzw. eine Beachtung der Verschränkung von Textualität und Kontextualität. Papen sieht darin eine der Möglichkeiten, Diskursanalyse und Ethnographie sinnvoll aufeinander zu beziehen. Ihre theoretische Begründung verbindet sich mit der Darstellung konkreter Anwendungsszenarien, unter anderem an der Schnittstelle zu den Urban Linguistics durch die Beschäftigung mit der Frage, wie urbaner Raum diskursiv hergestellt wird. Papen plädiert für eine combining discourse analysis, die textorientierte Diskursanalyse mit Ethnographie zusammenführt. Eine solche kombinierte Diskursanalyse/-linguistik stellt nicht nur eine wichtige Erweiterung etablierter Verfahren dar, sondern ist zudem geeignet, neben der Frage nach dem was der Diskurse auch Fragen nach dem warum zu beantworten. Das Potential einer zukünftig stärkeren Berücksichtigung von Ethnographie ist deutlich. Noch weiter konkretisiert wird der ethnographische Ansatz mit dem Text zur Grounded Theory von Bettina Bock. Grounded Theory hat als wichtige Methodologie qualitativer korpusgesteuerter Forschung bisher wenig Beachtung in der Diskurslinguistik gefunden. Bock geht es vor allem darum, Korpusorientierung und strikt hypothesenfreie qualitative Analyse in Möglichkeiten ihrer Verschränkung als methodische Option für Diskursanalysen darzustellen. Dies greift in die Methodologie insofern tief ein, als Grounded Theory ja den Anspruch erhebt, aus der Empirie selbst theoretische Einsichten zu gewinnen. Einer theorieorientierten Diskurslinguistik begegnet also ein empirischer Theoriebegriff, mit dem sie bisher wenig zu tun hatte. Wie wesentlich bei der Implementierung dieser neuen Methodologie sozialwissenschaftliche Standards sein können, zeigt der Beitrag für die Diskurslinguistik deutlich. Neben der Darstellung grundlegender Verfahren der Grounded Theory richtet der Artikel sein Interesse vor allem auf die Reflexion möglicher Verbindungen mit Diskurslinguistik. Dies geschieht mit Verweis auf geteilte Annahmen und mit Blick auf die schon bei Foucault angelegte Offenheit des Konzeptes Diskurs. Vor allem für die Auswahl von Untersuchungsdaten und verschiedenen Methoden der Datenauswertung werden wesentliche Hinweise für zukünftige ethnographisch orientierte Analysen gegeben. Bock zeigt nicht zuletzt am Beispiel, dass für den Ansatz ein ‚Pendeln‘ zwischen Untersuchungsmaterial und Theorie charakteristisch ist.
2.3 Diskursive Dynamik und Varianz Neben der Reflexion von Verfahren und ihren methodologischen Verankerungen muss sich Diskurslinguistik damit befassen, wie Diskurse als produktive Mecha-
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nismen der Aussagenregulierung wirken und wie sie auf sprachliche Handlungskategorien zu beziehen sind. Man könnte hier von einer diskurslinguistischen Pragmatik sprechen. Sowohl ethnographische Methodologien als auch argumentationsanalytische Ansätze legen eine solche pragmatische Ausrichtung bereits nahe. Die dritte Abteilung – Diskursive Dynamik und Varianz – erörtert deshalb die Konzepte Handlung und Interaktion und setzt sie in Beziehung zu vertikaler Variation und zu Innovationen im Diskurs, nicht zuletzt mit medienwissenschaftlicher Perspektive auf Onlinediskurse. Constanze Spieß befasst sich in ihrem Aufsatz zu Diskurs und Handlung mit grundlegenden Konzepten einer handlungsorientierten Linguistik und bezieht diese in einem breiten interdisziplinären Bogen – ausgehend von Wilhelm von Humboldt über Karl Bühler, Valentin Volosinov, Ludwig Wittgenstein, Charles Morris, Ferdinand de Saussure bis zu Peter Berger und Thomas Luckmann – auf ein mögliches Verständnis der Handlungskategorie im Diskurs bei Foucault. Der Diskurs wird als ein (öffentlicher) Interaktionsraum verstanden, in dem Wirklichkeitskonstruktionen erfolgen. Entscheidend ist dabei ein von Foucault (vielleicht) abweichender Diskursbegriff, der Sprache nicht allein als entkontextualisiertes, strukturelles Gebilde versteht, sondern mit Bezug auf pragmatische Sprachtheorie auch als Praxis. Im Zentrum der Überlegungen von Spieß steht daher die Begründung eines handlungstheoretischen linguistischen Diskursmodells. Ausgehend von einer solchen diskurslinguistischen Pragmatik kommt der Instanz der Handelnden selbst besondere Relevanz zu. Diese Instanz kann im Rahmen eines allein strukturell argumentierenden Diskursverständnisses schnell aus dem Blick geraten. Die Handlungsinstanz entspricht dem Konzept des Akteurs. Spieß führt verschiedene solcher Akteurskonzepte an und zeigt deren Anwendbarkeit in der Diskurslinguistik. Ausgehend von einer handlungstheoretischen Perspektive auf Diskurse und der Instanz der Akteure befasst sich der Text schließlich auch mit Handlungsspielräumen und Handlungsdynamiken. Hier rezipiert Spieß das linguistische Konzept der Transkriptivität und nutzt es zur Erklärung der Varianz von verfestigten Mustern, als deren Bündelung der Diskurs immer auch verstanden wird. Der handlungstheoretisch grundlegende Beitrag integriert einerseits die Subjektdimension in die diskurslinguistische Gesamtkonzeption und dynamisiert andererseits das häufig mit verfestigten Mustern gleichgesetzte linguistische Verständnis vom Diskurs; damit werden linguistisch fassbare Handlungsebenen unterscheidbar. Einen spezifischen Handlungstyp diskurslinguistisch bedeutsamer Praktiken behandelt Kersten Sven Roth in seinem Text zu Diskurs und Interaktion. Es soll hervorgehoben werden, dass das Handbuch einer Einseitigkeit vor allem der germanistischen Linguistik begegnen möchte, wonach Diskurslinguistik sich in Abgrenzung zur sog. Interaktionalen Linguistik vornehmlich mit schriftgebundenen Produkten sprachlicher Handlungen befasst oder zu befassen habe. Die Einschränkung von Diskurslinguistik auf monologisch-schriftliche Texte und die damit verbundene Missachtung dialogisch-mündlicher Gespräche wird auch von Roth
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grundlegend hinterfragt. Dies geschieht wiederum im Rahmen pragmatischer Perspektiven auf Diskurse und damit verbundene sowie notwendige Bezugnahmen auf Theorien der sprachlichen Interaktion. Dabei geht Roth weit über ein metaphorisches Verständnis von Diskurs als intertextuelle Dialogizität hinaus und fragt konkret nach Möglichkeiten der Mikrodiskursanalyse mit linguistischen Verfahren. Es geht um die diskurslinguistische Nutzung von Gesprächsdaten, die Roth als teilnahmeorientierte Realisationen des Diskurses (TORs) bezeichnet. Während bei Texten eine Textproduktionsabsicht angenommen werden kann, seien TORs durch Emergenzen gekennzeichnet, die sich höchstens mit einem geteilten Kooperationsziel erklären ließen. Roth stellt hier verschiedene mikrodiskursive Analyseebenen detailliert vor. Mit der sog. Sektorenanalyse werden thematische Orientierungen im Gespräch erfasst, mit der Aussagenanalyse greift er die komplexe diskurslinguistische Relationierung von Äußerung und Aussage auf, die Formatanalyse betrachtet die Wahl sprachlicher Materialisierung in der Interaktion, die Handlungsanalyse erfasst Interaktion im Gespräch und die Interferenzanalyse schließlich interessiert sich für die Interdependenzen zwischen massenmedial gebundenen Diskursen und TORs. Dass Spannungen, Differenzen und Inkompatibilitäten zwischen Diskursakteuren nicht allein überzeugungsgebunden sind, sondern mit Graden von Sachkompetenz zu tun haben, liegt auf der Hand und wird dennoch häufig stillschweigend übergangen. Albert Busch behandelt daher vertikalitätstheoretische Diskurskonzepte und führt traditionelle soziolinguistische Variationsparameter mit einer an Foucault orientierten Aussagenanalyse zusammen; es geht um Experten und Laien im Diskurs. Der für Diskurslinguistik immer wieder ins Zentrum gerückte Wissensbegriff erfährt hier einerseits eine Differenzierung hinsichtlich verschiedener Wissenswelten und andererseits hinsichtlich der Modifikationen von Wissen in öffentlichen Diskursen zwischen Experten und Laien. Einem abstrahierenden semantischen Wissenskonzept wird so ein pragmatischer Wissensbegriff an die Seite gestellt, der in Abhängigkeit zur vertikalen Position von Diskursakteuren zu denken ist. Hinzu kommt, dass eine Diskurslinguistik der linguistischen Vertikalität die Vielzahl von Vermittlungsdiskursen zwischen Experten und Laien in den Blick nimmt. Busch zeigt, dass die diskurslinguistische Beschäftigung mit Vertikalität unter pragmatischen Gesichtspunkten Diskursives Grounding erkennbar werden lässt, worunter die in einer Experten-Laien-Kommunikation jeweils erst herzustellende, gemeinsame Wissensbasis zu verstehen ist; als Beispiel wird ein gemeinsamer Wissensrahmen in der erfolgreichen Arzt-Patient-Kommunikation genannt. Nicht zuletzt digitale Wissensressourcen sind für die Herausbildung dieses diskursgebundenen Common Grounding zunehmend von Bedeutung. Georg Albert befasst sich mit der Frage, wie sprachliche Innovationen im Diskurs realisiert werden. Damit wird die ansonsten deutlich synchrone Orientierung der Diskurslinguistik in einer weiteren Position zugunsten diachroner und nicht zuletzt sprachgeschichtlicher Fragestellungen ergänzt. Alle als diskurstypisch an-
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gesehenen Phänomene weisen einen hohen Grad an zeitlicher Dynamik auf, was besonders deutlich an der Lexik abzulesen ist. Dies gilt aber auch, wie Albert zeigt, für diskursgebundene Konstruktionen, Dynamiken von Frames, den Wandel von Metaphernbedeutungen oder Veränderungen von Textmusterkonventionen. Sprachwandel selbst als einen diskurslinguistischen Gegenstandsbereich zu verstehen, kann demzufolge als wichtige Ergänzung bisheriger Diskussionen angesehen werden. Drei grundlegende Konzepte werden diskutiert – Differenz, Historizität und Kontinuität – und neuere Theorieansätze auf ihre diskurslinguistische Relevanz geprüft. Der Beitrag bietet mit seiner Unterscheidung von Ebenen des Diskurswandels und seinen Ursachen selbst einen innovativen Rahmen für die zukünftig zu leistende theoretische Integration von ‚Wandel‘ in der Diskursforschung. Nicht zuletzt geht es um den Status von Wandel selbst. Albert geht davon aus, dass Sprachwandel im Diskurs erfolgt, sodass Diskurswandel erkennbare Bedeutung für sprachhistorische Erkenntnisinteressen zukommt. Wesentlich für neueren diskursiven Wandel sind technisch-mediale Innovationen, die nicht nur Kommunikationsroutinen verändern, sondern Fragen der diskursiven Beteiligung, der Anonymität von Diskursakteuren und der Abgrenzung von Öffentlichkeit und Privatheit ganz neu stellen. Stefan Meier befasst sich in seinem Artikel in diesem Sinne mit dem Zusammenhang von Diskurslinguistik und Onlinekommunikation im Rahmen neuerer Mediatisierungstheorien. Er ist besonders an der Ausprägung neuer Öffentlichkeiten interessiert, weil digitale und vernetzte Medialität wesentliche Veränderungen in den Prozessen der kollektiven Wissensproduktion nach sich ziehen. Mag die enorm gewachsene Bedeutung von Onlinekommunikation auf der Hand liegen, so ist die Entwicklung von Methoden zu ihrer diskurslinguistischen Analyse keineswegs trivial. Dies gilt unter anderem deshalb, weil eine Abgrenzung von Online- und Offlinediskursen heute kaum mehr sinnvoll ist; Meier spricht von der transmedialen Wanderung von Diskurspositionen. Die damit einhergehende Verschiebung der Diskurslinguistik von einer Diskurssemantik zur Diskurspragmatik bedeutet zudem, dass Onlinediskurse bei weitem nicht mehr den Vollständigkeitskriterien einer herkömmlichen Textlinguistik entsprechen können. Fragmentarische Aussagensets treten an die Stelle mehr oder weniger geschlossener Diskursdaten. Es ist mehr als nachvollziehbar, dass Meier von methodologischen Herausforderungen spricht, zumal der Fragmentierung von Daten ihre Vervielfältigung in Dimensionen des analytisch kaum mehr Überschaubaren entspricht. Im Rahmen einer multimodalen Online-Diskursanalyse werden Vorschläge zur Planung entsprechender diskurslinguistischer Analysen gemacht.
2.4 Heterogenität von Diskurskodierungen In der letzten Abteilung des Handbuchs wird der Diskurs als eine multiformale und multithematische Struktur- und Handlungsebene eingeordnet. Dies entspricht der Annahme, dass Diskurslinguistik sich nicht allein mit normativ organisierten Tex-
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ten befasst, sondern Phänomene der innerdiskursiven semiotischen Verschiebungen von einem Medium in ein anderes ebenso zu berücksichtigen hat, wie stilistische Varianz oder Dimensionen von Emotionalität im Text. Wie denn überhaupt Multimodalität und Materialität zunehmende Beachtung in neueren Arbeiten finden. In einem letzten Beitrag wird schließlich die Kodierung von Gewissheit behandelt, womit die wissensanalytische Klammer des diskurslinguistischen Vorhabens geschlossen wird. Angelika Linke und Juliane Schröter befassen sich in diesem Rahmen mit Diskurslinguistik und Transsemiotizität. Während andere Teilgebiete der Diskurslinguistik auf eine längere Diskussion verweisen können, ist der Ansatz einer transsemiotischen Diskursanalyse gänzlich innovativ. Es geht um die Frage nach unterschiedlichen Materialisierungen diskursiver Formation, die als Ensemble zeichenhafter Prozesse und Produkte ganz verschiedener Materialitäten bzw. Modalitäten erscheinen. Diskurslinguistik erweitert hier ihren bisher zumindest implizit zugrunde gelegten Sprachbegriff, der traditionell eng ist und sich an dem orientiert, was sich aus strukturalistischer Gewohnheit als Sprache beschreiben lässt: Wort, Satz, Text. Linke und Schröter stellen das Konzept des transsemiotischen Diskurses vor, nicht ohne Übereinstimmungen mit neueren Diskurskonzepten aufzuzeigen, aber vor allem auch Abweichungen von diesen hervorzuheben. Dabei wird die Themenorientierung herkömmlicher Diskurslinguistik kritisch gewürdigt; Transtextualität des Diskurses wird im Sinne einer quer zu Strukturebenen der Sprache liegenden Formation verstanden und auf diesem Weg das Konzept der Transsemiotizität als Form des Über-die-Sprache-Hinausgehens verstehbar. Diskurslinguistik zeigt sich noch einmal deutlich als unbequemer Ansatz innerhalb einer systematisierenden Sprachwissenschaft und lässt sich auf diese Weise kaum in den Selbstverständlichkeiten disziplinärer Vorannahmen über Grenzen des Faches einhegen. Der Aufsatz von Linke und Schröter weist über eine nur methodische Ergänzung deutlich hinaus, er durchbricht eine Mauer des linguistischen Selbstverständnisses, ohne aber Linguistik und ihr Wissen selbst in Frage zu stellen. Dass dies neue konkrete Fragestellungen hervorruft, wird exemplarisch verdeutlicht. Hergestellt wird dabei nicht zuletzt ein Bezug transsemiotischer Diskurslinguistik auf Wissen, das die Autorinnen in der Formel vom Wissen über Zusammenhänge verdichten und mit dem Diktum verbinden, dass propositionslose semiotische Phänomene ihre Diskurskraft gerade aus der Tatsache ziehen, dass sie nicht verhandelbar, d. h. bestreitbar oder negierbar sind. Es wird deutlich, dass mit der Entgrenzung von Diskurslinguistik ihr gesellschaftsanalytisches Potential noch einmal an Kontur gewinnt. In den letzten Jahren gewinnt die Stilistik im Zuge eines Paradigmenwechsels der internationalen Soziolinguistik erneut an Bedeutung (vgl. Eckert 2012). Daher liegt es nahe, den Konnex von Diskurslinguistik und Stil als wichtigen Aspekt der Heterogenität von Diskurskodierungen in Betracht zu ziehen. Ulla Fix befasst sich mit eben diesem Gegenstand. In Ergänzung zu den aktuellen soziolinguistischen
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Debatten um soziale Positionierung durch einen social style geht es Fix vor allem darum, einen andernorts bereits etablierten pragmatisch-semiotischen Stilbegriff der germanistischen Linguistik für diskurslinguistische Arbeiten nutzbar zu machen. Dabei schließt der Beitrag insofern direkt an Linke und Schröters Handbuchartikel an, als Fix die Notwendigkeit sieht, in der diskurslinguistischen Stilistik die Grenzen des Sprachlichen zu überschreiten und Grenzen der Disziplin hin zum Transdisziplinären zu öffnen. Zu diesem Zweck werden Funktionen von Stil unterschieden, aus denen sich jeweilige diskurslinguistische Anknüpfungspunkte ergeben. Damit verbunden ist die kritische Wahrnehmung vom bisherigen dominanten Stilkonzept in der Diskurslinguistik, das nicht selten lediglich als Beschreibungskategorie fungiert. Fix versteht Stil als theoretische Perspektive auf Sprachgebrauchsphänomene, wobei historische und aktuelle Stilauffassungen nachgezeichnet werden. Mit Bezug auf diese Übersicht wird Stil als Diskursphänomen etabliert. Dabei kommen den Eigenschaften der Gestaltetheit, der Sinnvermittlung und der Rezeptionssteuerung wesentliche Bedeutung zu. Der Text schließt mit fünf Fragen, deren Beantwortung in zukünftigen diskurslinguistischen Arbeiten von großem Interesse sein wird. Wenn es um die Frage nach Grenzüberschreitungen in der Diskurslinguistik geht, dann steht sie vor der Aufgabe, Kohärenzpunkte auch für primär nicht thematische Zugänge zu benennen. Ein solcher Bezugspunkt kann in alltagsweltlichen Erfahrungskategorien oder anthropologischen Verhaltensrepertoires gefunden werden. Andreas Rothenhöfer befasst sich in seinem Artikel zu Diskurslinguistik und Emotionskodierung mit dem wichtigen Aspekt der Emotion. Ausgehend von einer Beschäftigung mit der Frage, in welchem systematischen Zusammenhang Emotionen, Diskurs und Kodierung zu betrachten sind, leistet der Aufsatz einen Beitrag zur diskurslinguistischen Emotionssemiotik mit Unterscheidung von verschiedenen Typen der Emotionsmanifestation und Emotionssemantik. Im Zentrum steht die Frage nach Bedeutungs- und Funktionsrelationen kommunikativer Emotionsmanifestationen. Rothenhöfer führt unterschiedliche linguistische Beschreibungsdimensionen für die diskurslinguistische Arbeit ein bzw. zeigt Verbindungen bereits genutzter diskurslinguistischer Ressourcen wie Framesemantik für die diskurslinguistische Emotionsanalyse auf. Die pragmatische Weiterung der Diskurslinguistik wird auch in diesem Ansatz deutlich vollzogen. Hier ist nicht zuletzt die Einordnung von Emotionen als Diskursmuster nicht nur innovativ, sondern erweitert den teilweise noch immer dominanten thematischen Fokus einer Vielzahl diskurslinguistischer Arbeiten deutlich. Rothenhöfers Beitrag schlägt einerseits die Brücke der Diskurslinguistik zum Emotionsparadigma und beleuchtet andererseits Diskurslinguistik aus einer bisher unterrepräsentierten Perspektive. Mit beiden Bewegungen wird der Gegenstand der heterogenen Diskurskodierung in seiner Komplexität exemplarisch erkennbar. Zentral für die Beschäftigung mit der Heterogenität von Diskurskodierungen ist die materielle bzw. mediale Verfasstheit von Diskursen. Jürgen Spitzmüller zeigt,
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wie bedeutungsstiftend und funktional Multimodalität und Materialität im Diskurs sind. Dabei beleuchtet er die multimodale und materielle Verfasstheit von Diskursen und erörtert die Frage, wie diskursiv die Konzepte Multimodalität und Materialität selbst sind. Diskurslinguistik wird insofern als Praktik und Effekt behandelt. Mit der so etablierten Metaebene ist es möglich, die Agenda diskurslinguistischer Interessen nicht nur als forschungsgeschichtliches Faktum zu umreißen, sondern als Effekt disziplinärer Diskurse zu verstehen. Multimodalität und Materialität sind also nicht einfach Bezugsgrößen diskurslinguistischer Forschung, sondern müssen selbst als Konstruktionen verstanden werden. Spitzmüller zeigt, dass das Zurückschrecken vor materiellen Dimensionen des Diskurses tief im Strukturalismus verankert ist und bis heute eine medienindifferente Tradition der Linguistik fortwirkt. Entsprechende Ausklammerungen von Medialität werden aber dort problematisch, wo Fragen nach lokalen Kontextualisierungen gestellt sind. Die Geschichte von Verfestigungen und Brüchen linguistischer Überzeugungen ist für die Herleitung des Konzepts einer multimodal-materiellen Diskursanalyse samt ihrem methodischen Instrumentarium bedeutsam. Folgerichtig ist Spitzmüller an reflexiven Diskursen zur Multimodalität im Sinne von Metapragmatik interessiert. Der Aufsatz geht über eine Darstellung von Konzepten und Verfahren der Analyse heterogener Diskurskodierungen weit hinaus und befasst sich zudem mit Wissen und Bedeutungszuschreibungen im Sinne kommunikativer Epistemologie und Ideologie. Diskurslinguistik besitzt also fraglos ein großes Potential für interdisziplinär relevante Forschungsfragen zu Materialität und Multimodalität, sie ist aber zugleich – und auch das zeigt Spitzmüller – in teilweise problematischer Weise unreflektiert, was nicht zuletzt angesichts korpustechnischer Probleme bei der differenzierten Erfassung multimodaler Texte ein großes diskurslinguistisches Desiderat erkennbar macht. Das Handbuch schließt mit der systematischen Frage nach dem Status von Gewissheit im diskurslinguistischen Projekt, womit der wissensanalytische Anspruch von Diskurslinguistik theoretisch und empirisch noch einmal konkretisiert wird. Daniel Schmidt-Brücken befragt in seinem Aufsatz zu Diskurslinguistik und Kodierung von Gewissheiten den erkenntnistheoretischen Gewissheitsbegriff auf Möglichkeiten einer diskurslinguistischen Operationalisierbarkeit. Er versteht Gewissheit als Kontextualisierungskategorie und sieht sie in Verbindung mit Wissen, Überzeugung, Glaube, wobei er eine axiomatische, eine analytische und eine methodologische Definition des linguistischen Gewissheitsbegriffs herleitet. Schmidt-Brücken befasst sich in diesem Zusammenhang und vor dem Hintergrund der Relevanz impliziter Bedeutung mit der Kodierung, Analyse und Repräsentation von sprachlichen Gewissheiten und unterscheidet für die Untersuchung von Gewissheitsphänomenen einen qualitativ-textanalytischen von einem quantitativ-korpusbezogenen Zugang. Wesentliche Verfahren der neueren Diskurslinguistik werden im Sinne eines Methodenmix verschränkt. Der Beitrag zeigt folglich, dass Diskurslinguistik ein ausgeprägtes theoretisches, philosophiegeschichtliches sowie erkenntnistheore-
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tisches Interesse hat und sprachphilosophische Ansprüche auf Theoriebildung erhebt, ohne jedoch den Bezug auf Diskurspraktiken und Diskursprodukte zu verlieren. Ohne interdisziplinäre Kontextualisierung ist das damit verbundene Forschungsprogramm nicht denkbar.
3 Diskurslinguistische Kanonisierung und Erneuerung Die germanistische Diskurslinguistik hat sich von einer freundlich-rebellischen Figuration zu einer respektablen und durchaus respektierten Teildisziplin verschoben, deren zahlreiche weitere Beiträge hier im Einzelnen nicht aufgeführt werden können. Mit Schmidt-Brücken (2016) liegt inzwischen eine ausführliche und systematisch gegliederte Bibliographie vor, die einen breiten Überblick zu diskurslinguistisch relevanten Publikationen gibt und zusammen mit der Auswahl-Bibliographie zur (Linguistischen) Diskursanalyse nach Foucault in Busse/Teubert (2013) das Forschungsfeld sehr gut dokumentiert. Mit Hinweis auf diese Ressourcen erfolgen im Weiteren nur einige wenige ergänzende Literaturverweise mit dem Ziel, neuere Aushandlungsprozesse innerhalb der diskurslinguistischen Agenda exemplarisch zu umreißen. Viele der im Folgenden nicht genannten Titel sind ohne Frage wichtig für die Herausbildung von Diskurslinguistik in jüngerer Zeit. Es geht in diesem Abschnitt aber nicht um einen gewichteten Forschungsüberblick, sondern lediglich darum, die mit dem vorliegenden Handbuch verbundene Kanonisierung in Bezug zur breiteren Diskussion zu setzen. Dies ist sinnvoll, um einerseits aufzuzeigen, dass die Beiträge dieses Bandes selbstverständlich nur einen Ausschnitt des breiten disziplinären Feldes abdecken, und um andererseits deutlich zu machen, dass (auch) in jüngeren Beiträgen die innerdisziplinäre Gliederung der Diskurslinguistik immer wieder neu verhandelt wird. Fünf Schlaglichter können eine Vorstellung davon vermitteln, wie dynamisch sich Diskurslinguistik inzwischen entwickelt hat: – Unter der Überschrift Disziplinarität werden typische Formate der Konsolidierung neuer wissenschaftlicher Figuration zusammengefasst, – mit Debatten soll auf das ausgeprägte alltagsweltliche Interesse der Diskurslinguistik hingewiesen werden, – unter Innovationen sind Ansätze zu verstehen, die die bereits erreichte Kanonisierung erkennbar überschreiten, – mit Systematik sei auf innerdisziplinäre Hierarchisierungen und damit verbundene Ein- und Ausschlüsse verwiesen – und mit Relevanz schließlich hervorgehoben, dass Diskurslinguistik nicht nur geeignet ist, neue und gesellschaftlich wesentliche Fragen zu erörtern, sondern auch einen Beitrag zur ihrer Beantwortung zu leisten.
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Disziplinarität. Vor allem das sozialwissenschaftliche DFG-Nachwuchsnetzwerk Methodologien und Methoden der Diskursanalyse (2007–2011) hat wichtige interdisziplinäre Bezüge für die Linguistik ermöglicht, die nicht zuletzt in einem umfangreichen Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung (Wrana u. a. 2014) erkennbar werden. Zu nennen ist vor allem auch das aus dem Netzwerk hervorgegangene zweibändige interdisziplinäre Handbuch (Angermüller u. a. 2014), das als Kompendium der Diskursforschung gelten kann. Linguistik ist an diesen Publikationsprojekten unübersehbar beteiligt. Zur disziplinären Spezifik der Diskurslinguistik haben zudem Einführungen beigetragen, die die Diskurslinguistik nicht zuletzt für die akademische Lehre zugänglicher gemacht haben; genannt seien Bendel Larcher (2015), Niehr (2014), Spitzmüller/Warnke (2011) und Habscheid (2009) zum Überschneidungsfeld von Text und Diskurs, insbesondere Abschnitt 4 des Buches. Flankiert werden diese Publikationen durch zwei Zeitschriftengründungen: Einerseits ist die Zeitschrift für Diskursforschung/Journal for Discourse Studies (= ZfD) zu nennen, die als interdisziplinäres Forum neueste Arbeiten der Diskurslinguistik veröffentlicht, andererseits das linguistische Journal Tekst i Dyskurs. Text und Diskurs (= TiD). Von Siefkes/Schöps (2014) ist in der Zeitschrift für Semiotik (ZfS) zudem ein Themenheft mit dem Titel Neue Methoden der Diskursanalyse erschienen, zu dem inzwischen eine ausführliche Rezension (Römer 2017) vorliegt, die selbst einen interessanten Beitrag zu Fragen des disziplinären Selbstverständnisses der Diskurslinguistik leistet und in den Diskurs über die Diskursanalyse hineinwirkt. Debatten. Diskurslinguistik hat weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an gesellschaftlich beachteten Debatten, sie reagiert auf mediale In-Wert-Setzungen von Themen und bringt sich in aktuelle Diskussionen (mehr oder weniger) deutlich ein. An der jeweiligen Aktualität von Diskurslinguistik erkennt man ihren sozialen Fokus. Zahlreiche Arbeiten können genannt werden; beispielhaft sei verwiesen auf Silke Domaschs (2007) Studie zur Thematisierung von Sprache im öffentlichen Diskurs zur Gendiagnostik und auf Nina Kalwas (2013) Diskursanalyse zum Konzept »Islam«. Gemeinsam ist diesen Arbeiten ein deutlich erkennbarer Ausgangspunkt in öffentlichen Debatten und ein unmittelbarer Bezug linguistischer Arbeit auf gesellschaftliche Fragestellungen, was für die Linguistik generell wohl kaum gesagt werden kann. Den Fokus auf unterschiedliche Debatten als Realisierungsfelder eines polyvalenten Diskursobjektes legt Eva Gredel (2014) in ihrer Studie zu metaphorischen Mustern zum Diskursobjekt Virus, auch hier geht es um Sprachgebrauch in öffentlich breit wahrgenommenen Diskursen. Jana Tereicks (2016) Arbeit zum Klimawandel im Diskurs ist für diesen Debattenbezug ein weiteres Beispiel. Zu nennen sind außerdem Arbeiten zur Mediendiskursanalyse und nicht zuletzt zur Dispositivanalyse (siehe etwa Dreesen/Kumięga/Spieß 2012). Die Geschichte der diskurslinguistisch beachteten Themen wird damit einmal mehr selbstreflexiv lesbar als Diskursgeschichte der germanistischen Diskurslinguistik.
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Innovationen. Kennzeichnend für Diskurslinguistik ist eine starke innerdisziplinäre Dynamik. Dabei liegen in den letzten Jahren eine ganze Reihe an innovativen Ansätzen vor, von denen hier etwa das neue Interesse an phraseologischen Fragestellungen genannt werden kann (vgl. Stumpf/Kreuz 2016). Mit Blick auf diese Dynamik ist das vorliegende Handbuch selbstverständlich eine Momentaufnahme und bildet die Breite der diskurslinguistischen Diskussion weder ikonisch ab, noch schließt es sie nur annähernd. Zwei innovative Stränge der diskurslinguistischen Diskussion seien ergänzend hervorgehoben, die zeigen, welche grundlegend neuen Diskussionsbeiträge die Disziplin in jüngster Zeit bereichern. Erwähnt werden soll das zukunftsweisende Konzept einer kontrastiven Diskursanalyse, wie es bereits Waldemar Czachur (2011) am Beispiel der Analyse deutscher und polnischer Medien zur Diskussion gestellt hat. Während kontrastive Analysen in der Allgemeinen Sprachwissenschaft zum üblichen Instrumentarium des Faches gehören, lassen sich solche in der germanistisch dominierten Diskurslinguistik kaum finden. Als weitere Beiträge dazu können Derya Gür-Şekers (2012) Konzept einer transnationalen Diskurslinguistik und der Sammelband zu Computer Mediated Discourse across Languages von Laura Àlvarez López, Charlotta Seiler Brylla und Philip Shaw (2013) gelten. Überhaupt ist auf Diskussionen zu verweisen, die nicht nur in der Diskurslinguistik geführt werden, aber diese wesentlich mitprägen, wie Beiträge zu einer Bildlinguistik (vgl. bereits Diekmannshenke/Klemm/Stöckel 2011) bzw. zum visual/ verbal divide (Bateman 2014). Ein wichtiger Impuls zur Neuausrichtung liegt auch mit Müllers (2015) Monographie Sprachliches Rollenverhalten vor. Das Buch nimmt neuere soziolinguistische Diskussionen zur Positionierung von Akteuren auf und entwickelt aus Theorien zur Indexikalität ein Verfahren der sprachbezogenen Analyse von Verhalten im Diskurs. Das entwickelte korpuspragmatische Vorgehen weist deutlich über bekannte Methoden hinaus und zeigt, wie verschränkt Diskurslinguistik, Pragmatik und Soziolinguistik sein sollten. Systematik. Ausgehend von zentralen Arbeiten der Diskurssemantik werden im Band von Busse/Teubert (2013) Weiterentwicklungen dieses Ansatzes sowie interdisziplinäre Verflechtungen mit Verweis auf empirische Beispielanalysen versammelt. Es wird deutlich, dass Semantik ein Anker jeden diskurslinguistischen Interesses bleibt und die diskurslinguistische Systematik weiterhin maßgeblich von Diskurssemantik geprägt wird. Während bei Busse und Teubert eine über zwanzigjährige Kontinuität erkennbar ist, in der das Feld der Diskurssemantik nachhaltig etabliert wurde, liegt mit Wichters (2011) Monographie Kommunikationsreihen aus Gesprächen und Textkommunikaten eine solitäre Theorie gesellschaftlicher Kommunikation vor, die für die Diskurslinguistik zahlreiche, bisher meines Wissens aber wenig genutzte Konzepte zur Diskussion stellt. Diskurslinguistik changiert hinsichtlich ihrer Systematik heute also zwischen Verfestigung etablierter und relativ breit diskutierter Positionen und ebenso gewichtigen, aber quer zu diesen stehenden, kaum beachteten Konzepten. So wird Wichters umfangreiche Theorie der Kommunikationsreihen, in der auch der Diskurs als Reihe verstanden wird, in der
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ausführlichen Bibliographie bei Busse/Teubert (2013) nicht rezipiert; auch Wichter (1999) ist nicht aufgeführt. Halten wir das beispielhaft fest, dann können wir bereits daran erkennen, dass Diskurslinguistik parallele Systematiken ausgebildet hat, bei denen Hierarchisierungen von Relevanz eine zunehmende Rolle spielen. Damit ist Diskurslinguistik zu einem komplexen wissenschaftlichen Diskurs der Ein- und Ausschlüsse geworden und mithin als Disziplin erkennbar. Relevanz. Zu den neueren diskurslinguistisch orientierten Arbeiten gehören sprachbezogene Analysen historischer und gegenwärtiger Phänomene, deren Relevanz sich weniger aus einer jeweiligen medialen Agenda ableiten lässt, die aber gleichwohl brisant, politisch bedeutsam und damit sozial relevant sind. Zu nennen ist etwa Konstanze Marx’ (2017) Analyse des Diskursphänomens Cybermobbing oder die Sammlung von Beiträgen zu Verbaler Aggression von Silvia Bonacchi (2017). Während sich Marx mit Gewalt in seiner besonderen digitalen Spielart befasst und die Analyse damit zwar nicht themenkonzentriert ist, aber gleichwohl aktuelle mediale Dispositive systematisch erfasst, betrachten die von Bonacchi gesammelten Beiträge in multidisziplinärem Zugang eine bisher wenig beachtete Funktion von Sprache, die diskurslinguistisch von größtem Interesse ist: die verletzende Macht der Sprache. Die Arbeiten stehen im Kontext des linguistischen Interesses am Thema Gewalt, wie es unter anderem mit Monika Schwarz-Friesel und Jan-Henning Krommingas (2014) Sammlung von Beiträgen zu Konzeptualisierungen von Terrorismus in den Medien vor und nach 9/11 dokumentiert ist. Historisch ausgerichtet sind die Beiträge von Schmidt-Brücken (2015) zur Verallgemeinerung im Diskurs – eine indexikalitätstheoretisch verankerte Untersuchung zum generischen Sprachgebrauch im kolonialen Kontext – sowie die im Rahmen eines breit angelegten Projektes zum 20. Jahrhundert stehende Untersuchung zum Demokratiediskurs der späten 1960er Jahre von Kämper (2012). Die gebrauchsbezogene und funktional orientierte Linguistik hat mithin einschlägige Beiträge zur Diskurslinguistik geleistet, die offensichtliche gesellschaftliche Bedeutung haben.
4 Auf dem Weg zu einer Ethik des Diskurses Bei aller Differenziertheit und bei allem Selbstbewusstsein, das die Diskurslinguistik nach anfänglichen massiven Vorbehalten aus den Reihen einer selbstzentrierten Sprachwissenschaft gewonnen hat, kann man doch nicht darüber hinwegsehen, dass Diskurslinguistik inzwischen beginnt, ihre Historizität offenzulegen. Ein kanonisierendes Handbuch ist dabei ein besonders aussagekräftiger Hinweis. Viele der mehr oder weniger subversiven Akteure des Zweifels am Alleinerklärungsanspruch einer sog. Kernlinguistik, wie sie sich in der Diskurslinguistik versammelt haben, vertreten inzwischen in etablierter Position die Linguistik. Das entsprechende Disziplinierungsnarrativ kommt bei der Diskurslinguistik also recht gut zum Tragen.
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Erkennbar wird zudem, dass Diskurslinguistik ihr Selbstverständnis trotz korpuslinguistischer und konstruktionsgrammatischer Aktualisierungen dort verortet, wo in die Jahre gekommene Theorien zur Ruhe kommen: Poststrukturalismus, Dekonstruktion, Konstruktivismus, Kritische Theorie u. a. Robyn Wiegman (2015, 22) spricht mit Blick auf die Fülle geisteswissenschaftlicher Paradigmen(wechsel) der letzten Dekaden vom „very process of wearing out what enlivens the discipline“. Diskurslinguistik wird nun allerdings inzwischen von einer mediatisierten Realität eingeholt, die nicht weniger als ein radikales Labor für das freie Spiel mit Annahmen und Infragestellungen verhandelter und machtgesicherter Wahrheiten abgibt. Tweets, Posts, Alternative Facts, Fake News, Botnets, Trolls erscheinen wie im diskurslinguistischen Laboratorium erfunden, um zu zeigen, dass es keine verlässliche Wahrheit gibt, dass alles nicht mehr ist als das Gesagte. Aufklärung darüber ist heute kaum mehr notwendig, denn man weiß inzwischen allerorten oder könnte es wissen, dass Dinge nur diskurspositioniert gesagt werden müssen, um eine diskursive Kraft zu entfalten bzw. zu entfesseln. Dies zeigt sich von Cybermobbing bis zum digitalem Hate Speech alltäglich. Ich sehe für die Diskurslinguistik aus diesem Grund weit weniger eine Aufgabe darin, diese Gegenwart lediglich zu beschreiben oder wissenschaftlich durch eine Beschäftigung damit noch zu adeln, als vielmehr die selbstkritische Frage zu formulieren, ob poststrukturalistisch orientierte Sprachtheorie zum Begründungszusammenhang für radikale politische und soziale Manipulation durch Streuung von Unwahrheiten werden kann. Spitzmüller (2017, 11) zufolge zeichnet sich bereits ab, „dass die Akteure der Neuen Rechten zunehmend auf Argumentationsmuster des Poststrukturalismus und Konstruktivismus zurückgreifen“. Es fragt sich, wie Diskurslinguistik damit umgeht, hat sie doch stets mit machtkritischem Impetus die Gültigkeit von Wahrheit selbst in Frage gestellt und trägt somit Mitverantwortung für das freie Spiel der Wahrheit, das von den lautesten Stimmen omnipräsent inszeniert wird. Das vorliegende Handbuch schließt in gewisser Weise eine erste Phase der Diskurslinguistik ab, in der es um ihre Etablierung ging. Eine zweite Phase könnte nun weitaus schwierigere Aufgaben bereithalten und müsste einmal mehr zeigen, dass es bei Diskurslinguistik immer auch um Sprachtheorie geht. Um eine Sprachtheorie, die sich die Frage zu stellen hat, welche Schlüsse man aus diskurslinguistischen Erkenntnissen für eine mediatisierte Welt der radikal beschleunigten Geltungsansprüche auf Wahrheit eigentlich ziehen muss. Weit entfernt ist ein solches Projekt nicht von Fragen einer Ethik des Diskurses – die nicht mit Diskursethik zu verwechseln wäre –, auch wenn sich damit zahlreiche Widerspruchszenarien auftun können. Denn wie wäre es möglich, ethische Maximen für den Diskurs einzufordern, wenn man die Diskurspositionen selbst als stets relativ theoretisiert? Es bleibt offensichtlich: Diskurslinguistik entkommt ihrer politischen Dimension nicht. Daran ändert auch nicht, dass eine deskriptive Spielart (vornehmlich der germanistischen Linguistik) dies in Abgrenzung zu kritischer Diskursanalyse lange Zeit versucht hat. Ein weiteres Handbuch zur Diskurslinguistik hat sich womöglich
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vorrangig damit zu befassen, dass gerade die Erkenntnis von der Relativität alles Gesagten, also das Wissen um die Aufladung von Sprache mit Macht und ihr entsprechender machtvoller Gebrauch, dazu Anlass geben, über die Bedeutung von Grenzen des Sagbaren nicht nur beschreibend nachzudenken. Das Konzept ‚Wahrheit‘ kann hier nicht übergangen werden. Ich habe eingangs von einem epistemologischen Dickicht gesprochen, aus dem herauszufinden eine Herkulesaufgabe sein kann. Dieses Dickicht erwächst in der Diskurslinguistik aus dem weitgehend geteilten und poststrukturalistisch motivierten Zweifel an ontologischen Kategorien. Gardt (2007) hat davon gesprochen, dass Diskurslinguistik nicht nur eine spezifische Theorie und Methode darstellt, sondern zudem eine Haltung ausdrückt: „Hinter Theorie und Methode steht zudem ein grundlegendes Verständnis des Fachs, das es rechtfertigt, von der Diskursanalyse auch als einer wissenschaftlichen Haltung zu sprechen“ (Gardt 2007, 39). Dem ist noch immer unbedingt zuzustimmen, auch wenn man über das Wesen einer solchen Haltung unterschiedlicher Auffassung sein kann. Wir können festhalten, dass Diskurslinguistik einen kritischen Habitus antikategorieller, wahrheitsrelativierender Reflexion besitzt, der durch mediatisierte Realitätsentwürfe und die damit ermöglichte Hypertrophie von Wahrheitsbehauptungen allerdings inzwischen mehr als herausgefordert ist. Eine zukünftige Diskurslinguistik sollte Fragen der Verantwortung diskutieren. Es scheint mir nicht unbedeutend zu sein, dass einer der Hauptvertreter des Radikalen Konstruktivismus, Ernst von Glasersfeld (1997, 50– 51), mit einem geradezu existentialistisch anmutenden Gestus den Radikalen Konstruktivismus paradoxerweise auf individuelle Verantwortung zulaufen lässt: Er [der Radikale Konstruktivismus; IHW] beansprucht nicht mehr zu sein als eine kohärente Denkweise, die helfen soll, mit der prinzipiell unbegreifbaren Welt unserer Erfahrung fertig zu werden, und die – was vielleicht besonders wichtig ist – die Verantwortung für alles Tun und Denken dorthin verlegt, wo sie hingehört: in das Individuum nämlich.
5 Literatur Àlvarez López, Laura/Charlotta Seiler Brylla/Philip Shaw (Hg.) (2013): Computer Mediated Discourse across Languages. Stockholm. Angermüller, Johannes/Martin Nonhoff/Eva Herschinger/Felicitas Macgilchrist/Martin Reisigl/ Juliette Wedl/Daniel Wrana/Alexander Ziem (Hg.) (2014): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. 2 Bde. Bielefeld (DiskursNetz, 1). Bateman, John A. (2014): Text and Image. A Critical Introduction to the Visual/Verbal Divide. London. Bendel Larcher, Sylvia (2015): Linguistische Diskursanalyse. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Tübingen (Narr Studienbücher). Bonacchi, Silvia (Hg.) (2017): Verbale Aggression. Multidisziplinäre Zugänge zur verletzenden Macht der Sprache. Berlin/Boston (Diskursmuster – Discourse Patterns, 16). Busse, Dietrich/Wolfgang Teubert (1994): Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Dietrich Busse/Fritz Hermanns/
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Wolfgang Teubert (Hg.), Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte: Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen, 10–28. Busse, Dietrich/Wolfgang Teubert (Hg.) (2013): Linguistische Diskursanalyse: neue Perspektiven. Wiesbaden. Connell, Raewyn (2007). Southern Theory. The Global Dynamics of Knowledge in Social Science. Cambridge. Czachur, Waldemar (2011): Diskursive Weltbilder im Kontrast: Linguistische Konzeption und Methode der kontrastiven Diskursanalyse deutscher und polnischer Medien. Wrocław. Diekmannshenke, Hajo/Michael Klemm/Hartmut Stöckel (Hg.) (2011): Bildlinguistik: Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Berlin. Domasch, Silke (2007): Biomedizin als sprachliche Kontroverse: Die Thematisierung von Sprache im öffentlichen Diskurs zur Gendiagnostik. Berlin/New York. Dreesen, Philipp/Łukasz Kumięga/Constanze Spieß (Hg.) (2012): Mediendiskursanalyse: Diskurse – Dispositive – Medien – Macht. Wiesbaden. Eckert, Penelope (2012): Three waves of variation study: The emergence of meaning in the study of sociolinguistic variation. In: Annual Review of Anthropology 41(1), 87–100. Gardt, Andreas (2007): Diskursanalyse – Aktueller theoretischer Ort und methodische Möglichkeiten. In: Ingo H. Warnke (Hg.): Diskurslinguistik nach Foucault: Theorie und Gegenstände. Berlin/New York (Linguistik – Impulse & Tendenzen, 25), 27–52. Glasersfeld, Ernst von (1997): Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt a. M. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1326). Gredel, Eva (2014): Diskursdynamiken: Metaphorische Muster zum Diskursobjekt Virus. Berlin/Boston (Sprache und Wissen, 17). Gür-Şeker, Derya (2012): Transnationale Diskurslinguistik: Theorie und Methodik am Beispiel des sicherheitspolitischen Diskurses über die EU-Verfassung in Deutschland, Großbritannien und der Türkei. Bremen (Sprache – Politik – Gesellschaft, 6). Habscheid, Stephan (2009): Text und Diskurs. Paderborn (Linguistik für Bachelor). Heinemann, Wolfgang/Dieter Viehweger (1991): Textlinguistik: Eine Einführung. Tübingen (Reihe germanistische Linguistik, 115). Kalwa, Nina (2013): Das Konzept „Islam“: Eine diskurslinguistische Untersuchung. Berlin/Boston (Sprache und Wissen, 14). Kämper, Heidrun (2012): Aspekte des Demokratiediskurses der späten 1960er Jahre: Konstellationen – Kontexte – Konzepte. Berlin (Studia linguistica Germanica, 107). Marx, Konstanze (2017): Diskursphänomen Cybermobbing: Ein internetlinguistischer Zugang zu [digitaler] Gewalt. Berlin/Boston (Diskursmuster – Discourse Patterns, 17). Müller, Marcus (2015): Sprachliches Rollenverhalten: Korpuspragmatische Studien zu divergenten Kontextualisierungen in Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Berlin/Boston. Niehr, Thomas (2014): Einführung in die linguistische Diskursanalyse. Darmstadt (Einführung Germanistik). Römer, David (2017): Rezension: Siefkes, Martin/Doris Schöps. 2013. Neue Methoden der Diskursanalyse. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik 67, 193–203. Rusterholz, Peter (1998): Poststrukturalistische Semiotik. In: Roland Posner/Klaus Robering/ Thomas A. Sebeok (Hg.), Semiotik: Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur = Semiotics, Bd. 2. Berlin/New York, 2329–2339. Schmidt-Brücken, Daniel (2015): Verallgemeinerung im Diskurs: Generische Wissensindizierung in kolonialem Sprachgebrauch. Berlin/München/Boston (Diskursmuster – Discourse Patterns, 9). Schmidt-Brücken, Daniel (2016): Diskurs. Heidelberg (Literaturhinweise zur Linguistik, 3). Schwarz-Friesel, Monika/Jan-Henning Kromminga (Hg.) (2014): Metaphern der Gewalt. Konzeptualisierungen von Terrorismus in den Medien vor und nach 9/11. Tübingen. Siefkes, Martin/Doris Schöps (Hg.) (2014): Neue Methoden der Diskursanalyse (Sonderheft Zeitschrift für Semiotik 35(3–4)).
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Spitzmüller, Jürgen (2017): ‚Kultur‘ und ‚das Kulturelle‘: Zur Reflexivität eines begehrten Begriffs. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik 67(1), 3–23. Spitzmüller, Jürgen/Ingo H. Warnke (2011): Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse. Berlin/Boston (De Gruyter Studium). Stumpf, Sören/Christian D. Kreuz (2016): Phraseologie und Diskurslinguistik – Schnittstellen, Fallbeispiele und Forschungsperspektiven. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik 65(1), 1–36. Tereick, Jana (2016): Klimawandel im Diskurs: Multimodale Diskursanalyse crossmedialer Korpora. Berlin/Boston (Diskursmuster – Discourse Patterns, 13). [TiD =] Bilut-Homplewicz, Zofia/Waldemar Czachur (Hg.) (2008 ff.): Tekst i Dyskurs. Text und Diskurs. Warschau/Rzeszów. Wiegman, Robyn (2015): Wearing out speculative ambitions. In: English Studies in Canada 41(4), 22. Wichter, Sigurd (1999): Gespräch, Diskurs und Stereotypie. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 27(3). 261–284. Wichter, Sigurd (2011): Kommunikationsreihen aus Gesprächen und Textkommunikaten: Zur Kommunikation in und zwischen Gesellschaften. Berlin/Boston (Reihe Germanistische Linguistik, 294). Wrana, Daniel/Alexander Ziem/Martin Reisigl/Martin Nonhoff/Johannes Angermüller (Hg.) (2014): DiskursNetz: Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft, 2097). [ZfD =] Keller, Reiner/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.) (2013 ff.): Zeitschrift für Diskursforschung, Journal for Discourse Studies. Weinheim.
I Basiskonzepte der Diskurslinguistik
Dietrich Busse
1. Diskurs und Wissensrahmen Abstract: Der Begriff Diskurs im Sinne Foucaults ist eng mit dem Begriff der Episteme, d. h. dem gesellschaftlichen Wissen in seiner Gesamtheit, verbunden. Analyse von Diskursen ist daher immer Analyse der Episteme. Das ereignishafte Auftreten von Wissenselementen im Diskurs kommt dabei ebenso in den Blick wie die Bildung von Serien solcher Ereignisse, die daraus entstehenden Regelhaftigkeiten im Auftreten von Diskurselementen, und schließlich das Wirken diskursiver Formationen als Möglichkeitsbedingungen für das künftige Auftreten von Wissenselementen. Auf der Ebene des Wissens, das in Bezug auf die Texte eines DiskursKorpus und auf das Sprachverstehen als bedeutungsrelevantes und verstehensermöglichendes Wissen figuriert, verbindet sich die Analyse von Diskursen mit der Analyse der Sprache. Ein fruchtbares theoretisches Modell und der daraus erwachsende methodische Ansatz, der die Ebene der Sprache (Bedeutungen) und der Diskurse verbinden kann, ist die Analyse von Wissensrahmen (Frames). Der folgende Beitrag erläutert, wie Semantik, Rahmenanalyse des Wissens und Diskursanalyse ineinandergreifen, und welche Synergieeffekte aus diesem Zusammenwirken erwartet werden können.
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Das Wissen im Diskurs Wissen, Diskurs und Sprache Ein Rahmen-Modell für Wissen und Bedeutung Wissensrahmen und Diskurse Zur Leistungsfähigkeit des Wissensrahmen-Konzepts in der Analyse von Diskursen Literatur
1 Das Wissen im Diskurs Der Begriff Diskurs in dem Sinne, wie er von Foucault mit großer (interdisziplinärer) Wirkungsmacht definiert wurde, und das von seinen Arbeiten ausgehende Verständnis von Diskursanalyse (die Foucault selbst indes gar nicht so genannt hat) sind untrennbar und im innersten Kern verbunden mit der Rolle des Wissens (das bei Foucault stets als gesellschaftliches bzw. gesellschaftlich vermitteltes gedacht ist) und mithin der Wissensanalyse, weshalb Foucault für die ihm vorschwebende Form von Analyse Bezeichnungen wie Genealogie oder Archäologie des Wissens vorgezogen hat. Auch die übrigen Kernbegriffe seines Ansatzes sind im weitesten Sinne wissensanalytische Begriffe. Dies gilt für das zentrale diskursive Element, die enoncé, ein in der Verwendungsweise Foucaults komplexer Terminus, der am adäquatesten wohl – cum grano salis – mit „Wissenselement“ zu erläutern wäre https://doi.org/10.1515/9783110296075-001
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Dietrich Busse
(Siehe dazu die ausführliche Begründung dieser Deutung in Busse 1987, 227 ff.). Dies gilt aber auch für alle weiteren Begriffe, die an diesem Begriff hängen, wie enonciation (Erscheinen oder Auftreten einer enoncé), Aussagenfeld, Serie von diskursiven Ereignissen (im Sinne von Ereignissen des Auftretens der enoncé in konkreten Diskursen), Regelmäßigkeit des Auftretens von enoncés in Diskursen und/ oder Aussagefeldern und Möglichkeitsbedingung für das Auftreten von enoncés in Diskursen und/oder Aussagefeldern. Wenn Foucault (1969, 141; dt. 156) den Diskurs bestimmt als „eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören“, dann bezieht er sich damit auf Wissenssysteme und Felder des Wissens. Sein Begriff der Aussagefunktion ist ein Begriff, der auf die Verortung einzelner auftretender Elemente im gesamten Feld des Wissens zielt. Wesentlich ist nicht die einzelne Aussage, der einzelne Gegenstand, die einzelne Theorie, sondern die Position, die sie in einem Netz diskursiver Beziehungen einnehmen. Was wir an den Tag bringen wollen, ist das epistemische Feld, die episteme, in der die Erkenntnisse […] ihre Positivität eingraben und so eine Geschichte manifestieren, die […] die der Bedingungen ist, durch die sie möglich werden. (Foucault 1966a, 13; dt. 24)
Foucaults eigene Studien zur „Geburt des ärztlichen Blicks“, zu „Wahnsinn und Gesellschaft“, zur „Ordnung der Dinge“ (eigentlich eine Wissenschaftsgeschichte), zum Diskurs des Gefängnisses (in „Überwachen und Strafen“), zu „Sexualität und Wahrheit“ waren sämtlich gemeint als Analysen von Wissenssystemen und Wissensbewegungen. Nicht umsonst trägt sein theoretisches und methodologisches Hauptwerk den Titel „Archäologie des Wissens“. Diskursanalyse im Sinne Foucaults ist also vorrangig eine Analyse des Wissens, von Wissenselementen, von Feldern und Systemen des Wissens, vom faktischen Auftreten, von den Auftretenswahrscheinlichkeiten, den Regelmäßigkeiten und den daraus abgeleiteten Bedingungen für die Möglichkeit des Auftretens von Wissenselementen in einem Feld der Episteme (des gesellschaftlichen Wissens) – oder, wie Foucault es in einer zentralen und viel zitierten Aussage formuliert hat: Die Aussageanalyse ist also eine historische Analyse, die sich aber außerhalb jeder Interpretation hält: sie fragt die gesagten Dinge nicht nach dem, was sie verbergen, […] sondern […], was es für sie heißt, erschienen zu sein — und daß keine anderen an ihrer Stelle erschienen sind. (Foucault 1969, 143; dt. 159)
Diese Aussage Foucaults, dass es in der Diskursanalyse vor allem anderen darauf ankomme, herauszufinden, was es für ein Ding, einen Gegenstand des Diskurses, und mithin ein Element des Wissens heißt, (a) überhaupt erschienen zu sein, und (b) dass kein anderes an seiner Stelle im Diskurs (im System des Wissens) erschienen ist, weist der Episteme, dem System des (gesellschaftlichen) Wissens in einer Zeit, den Strukturen dieses Wissens, den Regeln und Regelmäßigkeiten des Auftauchens von Wissenselementen, den Beziehungen zwischen Wissenselementen, den Funktionen ihres Auftretens im Diskurs und zu bestimmten Zeitpunkten und in
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bestimmten (historischen bzw. gesellschaftlichen) Situationen einen zentralen Stellenwert für das zu, was eine Diskursanalyse ausmacht und von allen anderen Formen von Analyse im Feld von Sprache, Denken und Wissen unterscheidet. Die Differenz zu anderen Ansätzen beschrieb er wie folgt: Man sucht unterhalb dessen, was manifest ist, nicht das halbverschwiegene Geschwätz eines anderen Diskurses; man muß zeigen, warum er nicht anders sein konnte, als er war; worin er gegenüber jedem anderen exklusiv ist, wie er inmitten der anderen und in Beziehung zu ihnen einen Platz einnimmt, den kein anderer besetzen könnte. (Foucault 1969, 40; dt. 43).
Diskursanalyse, oder, wie Foucault vorgezogen hat zu sagen: „Analyse der Episteme“, Analyse des „Archivs“, Bestimmung des „historischen Apriori“ (Foucault 1969, 167; dt. 184), „Genealogie“ (Foucault 1971, 61; dt. 41 ff.), „Archäologie“ (Foucault 1969, 179; dt. 195 ff. Dort auch ausführlich zu den Eigenschaften der ‚Archäologie‘), hat also das Wissen selbst zum Gegenstand. Die Analyse der diskursiven Formationen, der Positivitäten und des Wissens in ihren Verhältnissen zu den epistemologischen Figuren und den Wissenschaften haben wir […] die Analyse der Episteme genannt.“ (Foucault 1969, 249; dt. 272). Mein Gegenstand ist […] nicht die Sprache, sondern das Archiv, das heißt die Existenz von zusammengetragenen Diskursen. Die Archäologie, so wie ich sie verstehe, […] ist die Analyse des Diskurses in seiner Form als Archiv. (Foucault 1967, 8; dt. 169 f.). Was die Archäologie zu beschreiben versucht, ist nicht die Wissenschaft in ihrer spezifischen Struktur, sondern der durchaus andersartige Bereich des Wissens. (Foucault 1969, 255; dt. 278).
Dies muss nun auch eine Diskursanalyse berücksichtigen, die sich linguistischer Mittel bedienen möchte. Wenn Diskursanalyse im Sinne Foucaults in erster Linie oder an herausragender Stelle Wissensanalyse ist, dann muss eine linguistische Diskursanalyse (‚nach Foucault‘) das Verhältnis von Sprache, diskursiven Strategien und Wissen in den (analytischen) Blick nehmen. Das heißt aber auch: sie muss sich theoretisch und methodisch mit dem Begriff des Wissens auseinandersetzen und (linguistische bzw. linguistisch reflektierte) Instrumente zu seiner Erschließung und Beschreibung nutzen oder entwickeln.
2 Wissen, Diskurs und Sprache Vor allem die wissensanalytische Zielsetzung war es, die Foucaults Diskursbegriff (zu Beginn seiner Rezeption im deutschen Sprachraum) für eine ebenfalls wissensanalytisch orientierte Begriffsgeschichte und historische Semantik interessant machte. Begriffe, Zeichen, Texte, Diskurse sollten dabei nicht für sich erforscht werden, sondern waren (und sind) vorrangig in ihrer Funktion, (gesellschaftliches) Wissen zu bündeln und zum Ausdruck zu bringen, von Interesse. Dieses Interesse
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Dietrich Busse
fand (über den Versuch der Klärung der epistemischen Grundlagen für Bedeutungswandel) auch in die Zielsetzungen und Methoden einer modernen, kulturanalytisch orientierten Linguistik Eingang. (Die ‚Diskursanalyse nach Foucault‘ hat sich dann zu einem der wichtigsten und am weitesten verbreiteten Ansätze einer modernen kulturanalytisch orientierten Semantik in der Linguistik entwickelt. Siehe für diese Rolle und Zusammenhänge ausführlicher Busse 2014.) Die enge Verbindung von Diskursanalyse und Wissensanalyse setzt voraus, dass (a) auch aus linguistischer Perspektive eine ernsthafte theoretische Auseinandersetzung mit dem Wissensbegriff und eine Untersuchung des Verhältnisses von Sprache und Wissen stattfindet, sowie (b) dass ernsthafte und systematische Überlegungen dazu angestellt werden, welche Modelle und Methoden bei der Aufschließung von Wissenselementen und Wissensstrukturen aus sprachwissenschaftlicher Sicht besonders zielführend sind. Es liegt nahe, dafür in solchen Zweigen der modernen Linguistik nach Anregungen zu suchen, in denen überhaupt das hinter der Verwendung sprachlicher Elemente stehende Wissen als solches zum Thema bzw. Untersuchungsgegenstand gemacht wurde. Solche Ansätze finden sich nun nicht wie Sand am Meer, sie sind im Gegenteil ziemlich rar gesät. Wenig überraschen dürfte, dass man bei dieser Suche am ehesten im Kontext der sog. kognitiven Linguistik (insbesondere der kognitiven Semantik) fündig wird. Der Punkt, an dem Wissen, Diskurs und Sprache in Berührung kommen, und damit zugleich der Punkt, der den Zugriffsbereich für eine wissensanalytisch orientierte und linguistisch reflektierte Diskursanalyse markiert, ist dasjenige, was man unter dem Begriff des verstehensrelevanten Wissens zusammenfassen kann. Da Sprachverstehen und verstehensrelevantes Wissen am ehesten im Kontext der (linguistischen) Semantik in den Blick geraten, kann man auch vom bedeutungsrelevanten Wissen sprechen. Das bedeutungsrelevante Wissen ist dabei immer auch das bedeutungsermöglichende bzw. verstehensermöglichende Wissen; ohne es ist Verstehen oder Aktivieren dessen, was man in der Linguistik ‚Bedeutung‘ (von Wörtern, Sätzen, Texten) nennt, nicht möglich. Dabei wird deutlich, dass man sich mit solchen Überlegungen im Bereich einer Semantik bewegt, die in erster Linie interpretativ und verstehenstheoretisch ausgerichtet ist. Der Gedanke, das verstehensrelevante Wissen in den Mittelpunkt jeder semantischen Analyse zu rücken, wurde (zunächst im Rahmen der historischen Semantik und Begriffsgeschichte) erstmals in Busse (1987) explizit artikuliert (dort noch als „bedeutungsrelevante epistemische Momente“, Busse 1987, 305) und dann in Busse (1991) (im Kontext der Idee einer „explikativen Semantik“) im Zuge der Einführung von Wissensrahmen/Frames in die Überlegungen explizit eingeführt (Busse 1991, 78 ff., 121 f., 139 ff.) und in Hinblick auf eine heuristische Typologie dieses Wissens (Busse 1991, 139 ff.) explizit ausgeführt. (Vgl. zu letzterem auch Busse 1997a, 19 und passim.) – Ziem (2008a, 129 ff. und 150 ff.) hat später systematisch auf diesem Gedanken aufgebaut. – Vergleichbare Überlegungen hatten bereits zuvor Fillmore (1985) dazu veranlasst, seinen Ansatz der frame-analytischen Semantik als „understanding semantics“ oder „interpretive semantics“ zu charakterisieren. Freilich rückt bei ihm das bedeutungsrelevante Wissen nie als solches (theoretisch oder methodisch) in den Mittelpunkt der Überlegungen, sondern wird nur in den praktischen Analysen erwähnt und in Anschlag gebracht.
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Eine solche Semantik überwindet die problematischen theoretischen und methodischen Grenzen, welche sich die moderne Linguistik in der Nachfolge von Saussure durch reduktionistisch enggeführte strukturalistische und/oder logizistische Bedeutungsmodelle selbst ohne Not verordnet hat. Der Begriff des verstehensrelevanten Wissens überwindet dabei die unnötig hochgezogenen Mauern (durchaus im Doppelsinn von ‚unnötig errichtet‘ und ‚unnötig hoch‘) zwischen einem sog. ‚sprachlichen‘ und einem als ‚außersprachlich‘ definierten ‚enzyklopädischen‘ oder ‚Weltwissen‘. (Die Aporien einer solchen ‚zwei-Ebenen-Semantik‘ hat bisher am überzeugendsten Ziem 2008a, 67 ff. aufgezeigt.) Wie insbesondere Fillmore an zahlreichen Beispielen immer wieder gezeigt hat, darf eine Semantik eine solche Grenzlinie nicht vorab errichten, sondern muss schlicht (und ohne vorschnelle Abwehr und Ausgrenzung) nach dem gesamten Wissen fragen, das benötigt wird, um eine sprachliche Form (ob Wort, Satz, Textteil) zu verstehen. (Siehe zu einer Zusammenfassung einiger seiner Beispiele und weiteren Nachweisen Busse 2012, 15 ff.) Die entscheidende Grenzüberschreitung (die ich eine „epistemologische Wende“ in der linguistischen Semantik nennen würde), mit der Fillmore die reduktionistische traditionelle Semantik in Richtung auf eine wissensanalytisch reflektierte Semantik verlässt, datiert mit jenem Moment im Jahr 1971, in dem er für die linguistische Semantik vorschlägt, die übliche (und seiner Ansicht nach falsche) Frage: „Was ist die Bedeutung dieser Form?“ (d. h. dieses Wortes, Satzes) durch die Frage zu ersetzen: „Was muss ich wissen, um eine sprachliche Form angemessen verwenden zu können und andere Leute zu verstehen, wenn sie sie verwenden?“ (Fillmore 1971, 274) Die ganze (damals von ihm noch nicht erahnte) epistemologische Radikalität dieser Neubestimmung der Aufgabe der linguistischen Semantik kommt dort zum Ausdruck, wo Fillmore (1971, 277) die semantische Aufgabe beschreibt als die Erschließung des „vollen Set[s] von Präsuppositionen […], der erfüllt sein muss für jede aufrichtige Äußerung [eines] Satzes.“ In der linguistischen Semantik, aber auch in der kognitionswissenschaftlichen Reflexion über Grundlagen des Sprachverstehens und der Semantik, ist diese von Fillmore eingeleitete Ausweitung des Blicks unter dem Begriff der Wissensrahmen bzw. Frames erfolgt. Frames oder Wissensrahmen stehen daher von Anfang an im Zentrum der theoretischen und methodologischen Überlegungen zu einer wissensanalytisch reflektierten Semantik. Diskurse im Sinne Foucaults sind als Phänomene bestimmt, die sich im Bereich der épistémè bewegen. Daher berühren sich (interpretative bzw. verstehenstheoretisch reflektierte) Semantik und (Analyse der) Diskurse im Bereich des beides ermöglichenden und konfigurierenden Wissens. Als Entlehnung aus dem altgriechischen ἐπιστήμη (das eine Ableitung aus dem Verb ἐπίσταμαι ‚wissen‘ ist) wird épistémè in französischen Wörterbüchern definiert als ensemble des connaissances scientifiques, du savoir d’une époque et ses présupposés (http://fr.wiktionary.org/wiki/ épistémè; 13. 09. 2013). Die darin mitschwingende Verkürzung des Begriffs auf ‚wissenschaft-
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Dietrich Busse
liches Wissen‘ oder ‚Wissenschaft‘ hat dazu geführt, dass fr. épistémologie und engl. epistemology heute meist verkürzend nur als ‚Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte‘ oder ‚Erkenntnistheorie‘ verstanden werden. Begründet wird dies damit, dass bereits in Aristoteles‘ Nikomachischer Ethik zwischen ἐπιστήμη und τεχνή (techne) als ‚theoretischem Wissen‘ und ‚praktischem Können‘ unterschieden werde. (Eine gründliche Analyse des Wissensbegriffs bei Aristoteles müsste aber noch mindestens Begriffe wie δόξα (doxa) und γνῶσις (gnosis) mit einbeziehen; auch war der Begriffsgebrauch schon bei Aristoteles selbst alles andere als konstant.) Bei Foucault scheint noch in Les mots et les choses der übliche französische Gebrauch von épistémologie als ‚Wissenschaftsgeschichte‘ durch. Entsprechend finden sich von ihm Äußerungen, in denen er épistémè in diesem eingeschränkten Sinne benutzt. Aufgrund meiner eigenen Lektüre von L’archéologie du savoir gehe ich jedoch davon aus, dass Foucault spätestens in diesem Werk épistémè im Sinne eines erweiterten, allgemeineren Wissensbegriff verwendet, der es erlaubt, auch das nicht-theoretische, nicht-wissenschaftliche, also das Alltagswissen mit einzubeziehen. Nur so macht seine überaus bemerkenswerte Aussage Sinn: „Ich habe versucht […], die Geschichte nun nicht des Denkens allgemein, sondern alles dessen zu schreiben, was in einer Kultur Gedanken enthält.“ (Foucault 1966b, 4, Sp. 4; dt. 156) – Es mag sein, dass der in meiner eigenen Verwendung von Episteme und Epistemologie mitschwingende allgemeine Wissensbegriff (der noch nicht vorab zwischen wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Wissen unterscheidet und es reduktionistisch auf ersteres verkürzt) mindestens ebenso stark von Theorien des Alltagswissens im Kontext der angelsächsischen Ethnomethodologie-Schule (z. B. Garfinkel 1973, Gumperz 1978, Goffman 1974) und/oder der Wissenssoziologie der Linie Schütz (1932, 1971) – Berger-Luckmann (1969) beeinflusst ist wie von Foucaults Archäologie des Wissens. (Eine weitere Quelle wäre die in Ludwig Wittgensteins (1971) Sprachspiel- und Lebensform-Begriffen aufscheinende Wissenskonzeption.) Für Zwecke einer allgemeinen, verstehenstheoretisch reflektierten interpretativen Semantik, und einer auf dieser aufbauenden oder zumindest mit ihr verflochtenen Diskursanalyse scheint es mir jedoch sinnvoller zu sein, die Wirkung des Wissens und von Wissensrahmen in Sprache und Diskurs zunächst einmal auf einer allgemeinen, grundbegrifflichen und grundlagentheoretischen Ebene zu diskutieren und zu klären, bevor man dann anfängt, verschiedene Sorten von Wissen typologisch zu unterscheiden (und deren möglicherweise typologisch unterschiedlichen Einflüsse auf Sprache, Semantik und Diskurse zu differenzieren). In diesem Sinne meint Episteme bei mir zunächst einmal: ‚menschliches Wissen, gleich welcher Art, Herkunft und Entstehungsform‘. Das Verhältnis von individuellem und gesellschaftlichem Wissen ist dann ein Spezialthema, das im Rahmen dieses Textes nicht ausführlich diskutiert werden kann.
Auch wenn eine gründliche Reflexion des Wissensbegriffs zum Zwecke von Diskurstheorie und -analyse und/oder verstehenstheoretischer Semantik an dieser Stelle nicht geleistet werden kann (also weiterhin dringendes Desiderat bleibt), sollten doch einige vorläufige Klarstellungen vorgenommen werden. Ohne sie alle vertiefen zu können, sind folgende Aspekte wichtig: – Wissen ist konstruiert und konstituiert – Wissen ist schematisch und prototypisch – Wissen ist gekennzeichnet durch einen ‚Willen zum Wissen‘ (Interessen, Präferenzen[hierarchien]) und ‚Streben nach Bedeutung‘ (effort after meaning) – Wissen ist rezeptiv und aktiv zugleich – Wissen ist sozial und individuell zugleich – Wissen ist bewusst und/oder unbewusst – Wissen ist typologisch differenziert
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Wissen ist funktional-operational differenziert Wissen ist graduell differenziert (nach Gewissheitsgraden) Wissen ist polar differenziert (grob-fein; type-token; ‚bedeutungsverleihendes‘ vs. ‚bedeutungserfüllendes‘ Wissen im Sinne von Husserl) Wissen ist (sofern diskursiv verhandelbar) unhintergehbar sprachlich geprägt Weitere Aspekte u. a.: ‚theoretisches‘ (‚Buchwissen‘) vs. ‚episodisches‘ Wissen
Es ist heutzutage feste und gemeinsame Überzeugung aller Wissenschaften mit einem nicht szientistisch verkürzten Selbstverständnis (also in Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften), dass menschliches Wissen in seinen Elementen wie seinen Formen und Strukturen als Ergebnis menschlicher kognitiver Akte und sozialer Interaktion sowohl konstruktiv erzeugt als auch durch diese Akte allererst als solches etabliert (konstituiert) wird. Die sich dabei gemäß dem Satz des Lukrez ex nihilo nihil fit („Nichts entsteht aus dem Nichts. Dies ist nicht zu leugnen.“ 55 v. Chr.) stellende Frage führt direkt ins Zentrum einer Wissensproblematik, wie sie auch für Semantik und Diskursanalyse relevant ist, nämlich die nach den Voraussetzungen und Bedingungen der Wissenskonstitution. Da man es mit Bezug auf Semantik und Diskurse immer mit bereits konstituiertem Wissen zu tun hat, hat die Beantwortung dieser Frage im gegebenen Kontext nicht erste Priorität und lässt sich daher zurückstellen. Für uns ist wichtig, dass jedes Wissen – sofern es überhaupt sprachlich gefasst bzw. diskursiv austauschbar und verhandelbar ist – schematisch geformt und von seinem Charakter her prototypisch zugleich ist. Die schematische Formung ist ein alter Gedanke, der nicht nur auf das Schema-Konzept in der Erkenntnistheorie Kants, sondern letztlich wohl bis auf den Begriff der Kategorie bei Aristoteles zurückgeht. Da die Theorie der Wissensrahmen oder Frames nichts anderes als eine moderne, kognitions-theoretisch reflektierte Form der SchemaTheorie ist, werden wir diesen Punkt zurückstellen bis zur Klärung des RahmenModells. Wichtig ist, dass es (nach Auskunft von Wahrnehmungspsychologen) ein Wissen (das diesen Begriff verdient) ‚vor‘ der schematischen Formung schlichtweg nicht gibt. Wichtiger noch ist aber die Tatsache, dass die schematische Formung des Wissens im Akt seiner Konstitution (in Wahrnehmung, Erkenntnis und Erinnerung) immer im Sinne einer Konstruktion von schematischen Prototypen erfolgt. Diese Prototypikalität des Wissens resultiert unmittelbar aus dem abstraktiven wie aus dem latent sozialen Charakter dieses Wissens selbst. Oder anders ausgedrückt: jedem abstraktiven und schematisierenden Akt der Konstitution von Wissenselementen und -strukturen ist schon allein aufgrund dieser Leistungen ein Moment der Typisierung inhärent. (Wie weit diese Typisierung geht, und ob es eventuell auch Elemente im individuellen Wissen gibt, die davon ausgenommen sind, mag vorerst dahingestellt bleiben. Wichtig ist, dass die Begriffe Schema und Prototyp als zumindest partiell synonym zu gelten haben.) Zugleich ist diese (Proto)-Typisierung immer auch sozial vermittelt (folgt man sozialpsychologisch reflektierten Schema- und Gedächtnistheoretikern wie Bartlett 1932).
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Der konstruktive Charakter jedes Wissens ergibt sich auch daraus, dass dieses immer ein Ergebnis dessen ist, was Foucault (1976) den „Willen zum Wissen“ (la volonté de savoir) genannt hat, und was bei Bartlett (1932, 44) als „Streben nach Sinn“ (effort after meaning) erscheint. Dieses Streben nach Sinn, das dem in Aristoteles‘ Metaphysik (I 1, 980a 21) angesprochenen – den Menschen als Menschen auszeichnenden und ausmachenden – ‚Streben nach Wissen‘ verwandt sein dürfte, führt unweigerlich dazu, dass jedes einlaufende Sinnesdatum gedeutet, mit Sinn gefüllt, schematisch überformt und somit in die vorhandenen Strukturen von Schemata bzw. Frames eingeordnet wird. Dieser Prozess ist aber immer (wenn auch meist für die Individuen unmerklich) von bereits vorhandenen Interessen geprägt. Solche Interessen selbst aber wiederum sind Ergebnisse sozialer Interaktionsprozesse; sie sind sozial geformt bzw. konstituiert. Im ‚Willen zum Wissen‘ – dies hat Foucault erkannt – kommt also immer bereits die vorhandene Episteme zur Wirkung, indem sie ihn lenkt, seine Ergebnisse präformiert und in die vorhandenen diskursiven und epistemischen Strukturen einordnet. Wissen ist aber auch immer aktiv und rezeptiv zugleich. Nach Auffassung von Gedächtnistheoretikern kann sich kein Wissenselement, keine Wissensstruktur im Kopf eines Individuums etablieren, wenn es bzw. sie nicht von diesem durch kognitive Aktivitäten aktiv erzeugt (konstruiert) worden ist. Letztlich ist damit auch das, was wir ‚Rezeption‘ nennen, immer auch Konstruktion bzw. aktive Erzeugung (von Wissensstrukturen bzw. Elementen). Dies darf nun nicht mit dem gängigen Verständnis von ‚kreativ‘ verwechselt werden. Eine aktive Konstruktion von Wissen muss nicht kreativ (im eigentlichen Sinne der Erzeugung von Wissensstrukturen, die vorher so, in dieser Form, nicht vorhanden waren) sein, nämlich immer dann, wenn sie sich von den vorhandenen, im sozialen Diskurs vorgegebenen Linien leiten lässt; in diesem Fall ist sie (‚inhaltlich‘ gesehen) rezeptiv, auch wenn sie von ihrer kognitiven Form her immer aktiv und konstruierend sein muss. In gewissem Sinne ist aber auch die ‚kreative‘ Konstitution von Wissenselementen immer rezeptiv, und zwar, indem sie die vorhandenen Wissensstrukturen und -elemente aufnimmt und dazu benutzt, daraus ‚Neues‘ zu konstruieren. Dies wollte Foucault wohl mit seiner Gedankenfigur des ‚historischen Apriori‘ ausdrücken. Nur auf der Basis von und mit dem Material der vorhandenen Wissenselemente lassen sich neue Strukturen erzeugen. Eine ‚creatio ex nihilo‘ findet also nicht statt. Ein verbreitetes Missverständnis von epistemologischen bzw. kognitiven Positionen zur Erklärung des Wissens muss mit aller Klarheit ausgeräumt werden durch die Feststellung: Wissen ist immer sozial und individuell zugleich. Das Missverständnis eines insbesondere in der Sprachtheorie beliebten Anti-Kognitivismus liegt darin, dass nicht gesehen wird, dass die unvermeidlich individuelle und konstruktive Erzeugung des Wissens im kognitiven Apparat eines einzelnen Menschen keineswegs damit gleichgesetzt werden darf, dass dieses Wissen von allen sozialen Einflüssen frei sei. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Man kann das Verhältnis der beiden beteiligten Aspekte oder ‚Sphären‘ so ausdrücken: Das Wissen ist indivi-
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duell (durch geistige Aktivitäten in jedem einzelnen Individuum) kognitiv konstruiert, doch dabei immer sozial (durch in sozialer Interaktion vermittelte überindividuelle Einflüsse und Vorgaben) strukturiert. Wissen ist damit immer und notwendig sozial und individuell zugleich. Oder anders ausgedrückt: es ist immer doppelt konstituiert: individuell im kognitiven Apparat jedes einzelnen Individuums; sozial durch seine Elemente, Strukturen und Prototypen und die die Konstitution leitenden Interessen und Präferenzen. Das Medium, welches die Sphären des Individuellen und des Sozialen (im Wissen) miteinander vermittelt, ist die Sprache, ist der Diskurs. Ein komplexes (und umstrittenes) Thema ist die Frage, wie bewusst ‚Wissen‘ sein muss und wie ‚unbewusst‘ es sein darf, um dennoch als ‚Wissen‘ gelten zu dürfen. Diese Problemstellung wird insbesondere dort virulent, wo die Frage auftaucht, wie viel ‚unbewusstes‘ Wissen in dem steckt, was wir ‚die Bedeutung‘ (eines Wortes, Satzes, Textabschnitts) nennen. Eine ‚reiche‘ Semantik (oder ‚Tiefensemantik‘), die das verstehensrelevante Wissen mit Bezug auf eine Diskurseinheit in seiner Gesamtheit erschließen will, kann sich nicht auf die Explizierung des ‚Offenkundigen‘, der sozusagen ‚offen zu Tage liegenden‘, den Sprachteilhaber/ innen ‚explizit bewussten‘ epistemischen Elemente von Wort- und Textbedeutungen beschränken, sondern muss gerade auch das zugrundeliegende, mitschwingende, versteckte, normalerweise übersehene, weil als selbstverständlich unterstellte und damit nicht bewusst gemachte, nicht explizit thematisierte Wissen explizieren. Zu dieser Analyse gehört auch die Explizierung von in sprachlichen Äußerungen transportierten oder insinuierten epistemischen Elementen, von deren Vorhandensein die Sprecher und Rezipienten der Texte möglicherweise gar kein reflektiertes Bewusstsein haben. (Dies ist der tiefere Sinn von Schleiermachers (1977, 94) berühmter Bemerkung: „Die Aufgabe ist auch so auszudrücken, ‚die Rede zuerst ebenso gut zu verstehen und dann besser zu verstehen als ihr Urheber‘“, nach der er fortfährt: „Denn weil wir keine unmittelbare Kenntnis dessen haben, was in ihm ist, so müssen wir vieles zum Bewusstsein zu bringen suchen, was ihm unbewusst bleiben kann, außer sofern er selbst reflektierend sein eigener Leser wird. Auf der objektiven Seite hat er auch hier keine anderen Data als wir.“) Jede Wissensanalyse im Rahmen einer Tiefensemantik, ob als Wortsemantik, Begriffsgeschichte, Satzsemantik, Textanalyse oder Diskursanalyse angelegt, erfordert die Explizitmachung solchen bedeutungskonstitutiven Wissens. Insbesondere eine Wissensanalyse im Rahmen einer Diskursanalyse muss mit der Analyse gerade bei den epistemischen Rahmenbedingungen diskursiver Bedeutungs- bzw. Wissenskonstitution anfangen und ihr Interesse verstärkt auf die Voraussetzungen lenken, die das in einem gegebenen Zeitpunkt Sagbare und Denkbare überhaupt erst möglich machen. Mit anderen Worten: Wissen ist bewusst und unbewusst zugleich. Ausschlaggebend darf nicht die Frage sein, ob es den Diskursteilhabern immer und zu jedem Zeitpunkt in vollem Sinne der geistigen Wachheit ‚bewusst‘ ist, sondern, ob es im Gesamt-Diskurs (der in der Zeit womöglich sehr weit zurückreichen kann)
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jemals bewusst gemacht worden ist, bzw. ob es (bei genügend tiefer Reflexion) mit den vorhandenen sprachlichen und epistemischen Mitteln bewusst gemacht werden kann. Es ist in diesem Kontext sehr bemerkenswert, jedoch bislang meist übersehen worden, dass zwei sehr unterschiedliche Theoretiker wie Michel Foucault und Ludwig Wittgenstein in einem Punkt übereinstimmen: in dem großen Wert, den sie auf die Berücksichtigung dieses als selbstverständlich unterstellten, meist nicht bewusst gemachten oder explizit verhandelten, aber doch unser Denken und Wissen zutiefst prägenden, sozusagen ‚subkutanen‘ Wissens gelegt haben. Wittgenstein verwendet in diesem Kontext die Metapher von Fluss und Flussbett und schreibt, dass auch das Flussbett unseres Denkens sich immer verschieben könne. Beide sind erkenntnistheoretische Skeptiker, und beide glauben zutiefst an die soziale Konstitution des menschlichen Wissens bis in die tiefsten Schichten des sog. Unbewussten hinein. Foucault im Rahmen seiner Epistemologie und seines Diskursbegriffs, Wittgenstein (z. B. 1970) im Kontext seiner Reflexionen „Über Gewißheit“.
Ein heikler Punkt (und doch in der Forschung kaum beachtet) ist, dass wir immer undifferenziert von ‚Wissen‘ reden, und uns dabei nicht klar machen, dass es sich dabei keineswegs um einen monolithischen Block handelt, sondern dass das, was wir ‚Wissen‘ nennen, in vielfacher Hinsicht intern differenziert ist, und zwar: typologisch, funktional-operational, graduell (nach Gewissheitsgraden) und polar (grob-fein; type-token; ‚bedeutungsverleihendes‘ vs. ‚bedeutungserfüllendes‘ Wissen im Sinne von Husserl). Da hier nicht der Ort sein kann, eine differenzierte Typologie des Wissens zu entwerfen, nur ganz wenige Anmerkungen und Andeutungen dazu, in welche Richtung eine solche gehen müsste. (Siehe zu einem ersten heuristischen Versuch Busse 1991, 148 ff., in stark erweiterter und überarbeiteter Neuauflage in Busse 2014, 321 ff.) Mit ‚typologisch‘ ist hier eine heuristische Differenzierung nach eher ‚inhaltlich‘ bestimmten Wissensfeldern gemeint (diese dürfen jedoch nicht mit einer enzyklopädischen Wissenstypologie verwechselt werden, da die hier angesprochene Differenzierungsebene noch oberhalb enzyklopädischer „Wissensordnungen“ liegt). Etwa folgende Bereiche können auf den ersten Blick differenziert werden (es ist ein linguistischer bzw. sprachtheoretischer Blick, da die nachfolgenden ‚Typen‘ in dem Sinne sprachlich motiviert bzw. gerechtfertigt sind, als ihnen spezifische sprachliche/textuelle/kommunikative Mittel oder Funktionen entsprechen (können): – perzeptuell verifizierbares Wissen (Situationswissen: optisch, akustisch, taktil, olfaktorisch) – erinnertes oder erinnerbares episodisches Wissen (über selbst erlebte Situationen, Handlungen, Geschehensabläufe) – erinnertes oder erinnerbares Ding- bzw. Sach-Wissen (aus Situationen ehemaligen perzeptuellen Verifizierens) – diskursiv-abstraktes Wissen (etwa in und aus Philosophie, Theorie, Ideologie, Weltbildern usw.); inkl. Ding- bzw. Sach-Wissen über Abstraktes (sog. ‚Buchwissen‘) – allgemeines soziales Wissen (Wissen über soziale Institutionen, Handlungsformen, Handlungs-, Verhaltens-, Interaktionsregeln)
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konkretes und spezifisches soziales Wissen (Wissen über Personen, Gruppen, deren Verhaltensweisen, Reaktionsmuster und dergleichen) Wissen über alltagspraktische (nichtsprachliche) Handlungs- und Lebensformen Wissen über bzw. epistemische Präsenz von Emotionalem Wissen über (eigene oder gesellschaftliche) Bewertungen, Einstellungen usw. epistemische Präsenz von eigenen Absichten, Zielen, Motiven
Die oben als ‚funktional-operational‘ bezeichneten Ebenen des Wissens können in unserem Kontext vernachlässigt werden, da sie vor allem in einem allgemeinen Modell des Textverstehens (als Vollzug einer Prozedur) zum Zuge kommen. (In Busse 1991, 145 ff. wurden hierzu Kernfokus, Fokusumfeld, Relevanzbereich, Diskurswissen, Restliches Weltwissen genannt.) Eine graduelle bzw. skalare Typologie des Wissens bezieht sich auf das, was man Gewissheitsgrade nennen könnte. (Es würde zu weit führen, diese Typologie hier vertieft zu diskutieren oder darzustellen. Siehe aber Busse [1991, 159 ff.] für weitere Erläuterungen und einen ersten Entwurf.) Eine solche Typologie ist nicht nur höchst relevant für viele Bereiche der linguistischen Pragmatik (z. B. die Funktion von Partikeln), sondern unmittelbar auch für die Analyse von Diskursen, da sie eng mit der Thematik der ‚Wahrheit‘ diskursiver Aussagen verbunden ist, die für Foucault bekanntlich Kern und Zentrum seines Diskurs-Modells ausmachte. (Etwa hinsichtlich der Ausschließungsmechanismen, die für ihn immer die Frage betreffen, was im Diskurs und für wen sich ‚im Wahren‘ – einer Gruppe, Gesellschaft, eines gegebenen Diskurses – befindet.) Hinzu kommt eine Ebene der Differenzierung des Wissens, die man (etwas vorläufig) vielleicht polare Differenzierung nennen könnte. Gedacht ist dabei an typetoken-Differenzen, aber auch an das, was Husserl (1913, 37 f.) als „Bedeutungsverleihung“ und „Bedeutungserfüllung“ unterschieden hat. Die Relevanz solcher verstehenstheoretisch wie epistemologisch wichtiger Differenzierungen für eine Analyse von Diskursen wäre noch zu prüfen. Sie haben aber eine erkennbar hohe Relevanz für die Aktivierung und den Aktivierungsgrad von Wissensrahmen bzw. Frames im unmittelbaren Sprachverstehen. (Für einen Problemaufriss und Diskussion zur sehr komplexen type-token-Problematik siehe Busse [2012, 613 ff.]. Zu Husserls Dichotomie siehe auch Busse [2012, 87 und 295].) Und, last, but not least: Wissen ist (sofern diskursiv verhandelbar) unhintergehbar sprachlich geprägt. Sprache ist (wenn man so will) das ‚Medium‘, in dem sich nicht nur die Artikulation und Kommunikation des gesellschaftlichen Wissens vollzieht, sondern in dem dieses zugleich als solches (d. h. als gesellschaftliches) konstituiert und strukturiert wird. Damit ist Sprache (sind die sprachlichen Erzeugnisse, wie z. B. Texte) aber keineswegs das ‚Archiv‘ dieses Wissens. Wollte man eine archivalische Metapher in Bezug auf die Sprache überhaupt verwenden, so könnte man sie noch am ehesten als das ‚Findebuch‘, als das ‚Register‘ des Archivs des gesellschaftlichen Wissens charakterisieren. Dieses ‚Suchregister‘ enthält nur
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Verweise; und zwar Verweise auf etwas, was jeder Sprachverstehende für sich im Prozess des Verstehens (genauer: in den Schlussfolgerungs-/Inferenz-Prozessen, die zum Verstehen führen) allererst epistemisch realisieren, konkretisieren muss. Man kann diesen Prozess im Sinne Husserls als den Prozess der „Sinnerfüllung“ bezeichnen. Die Sprache als Register des Wissens erfüllt ihre Aufgabe, indem die einzelnen Zeichen und ihre spezifischen Kombinationen jeweils Wissen (Rahmen, Schemata und Rahmen-/Schemakomplexe) ‚evozieren‘ (Fillmore 1982, 117). (Damit wird zugleich deutlich, dass die Zeichen das verstehensrelevante Wissen, ihre ‚Bedeutung‘ nicht ‚enthalten‘ oder ‚transportieren‘.) In dieser Funktion ist die Sprache, wollte man diese Metapher fortspinnen, ‚zweistufig‘: Sprache als Inventar an Zeichen (nach Saussure sagte man: ‚System‘) ist sozusagen die erste Stufe des wissensverweisenden ‚Registers‘; dessen zweite Stufe stellen die aus (mit) den Zeichen erzeugten Texte dar. Auch Texte sind daher keineswegs ‚bedeutungserfüllt‘ im Sinne Husserls. Sie sind nur Verweisungsmittel sozusagen höherer Aggregationsstufe, die zu ihrem Verstehen ebenfalls erst massiv mit Frame- bzw. Schemawissen ‚aufgefüllt‘ werden müssen. (Die Relevanz des letzten oben aufgeführten Aspekts der Wissens-Differenzierung, der vor allem in der Sprachpsychologie und Kognitionswissenschaft häufig anzutreffenden Unterscheidung von sog. ‚theoretischem‘ oder ‚Buchwissen‘ und sog. ‚episodischem‘ Wissen für eine Analyse von Wissen in Diskursen müsste noch geprüft werden. Allerdings wird dasjenige Wissen, auf das Foucault mit seinem Diskursbegriff vor allem zielte, eher kaum zum ‚episodischen‘ Wissen zählen, womit es automatisch der anderen Seite der Dichotomie zufällt.) Es wurde in diesem Abschnitt vergleichsweise ausführlich auf Aspekte des Wissens (und am Rande auch des Wissensbegriffs) eingegangen. Die Analyse des Wissens ist nun aber (in unserem Kontext) kein Selbstzweck. Vielmehr dient sie bzw. ist eingebunden in die Ziele einer Analyse des Beitrags, den sprachliche Mittel zur Aktivierung, Strukturierung, Formung und Veränderung des Wissens leisten, sowie die Ziele der Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Wissen, Sprache und Diskurs. (Bei den sprachlichen Mitteln sollte man nicht nur an Wörter bzw. lexikalisches Material denken; syntaktische Mittel, textuelle Mittel, Mittel der epistemischen Charakterisierung und Strukturierung, wie sie insbesondere in der sog. linguistischen Pragmatik untersucht werden, sind – in der Diskursanalyse gerne übersehen – mindestens ebenso wichtige Mittel.) Die von Foucault angesprochenen diskursiven Mechanismen (von denen er insbesondere die Ausschließungsmechanismen in den Fokus genommen hatte) sind dabei nur eine Seite der Medaille. Hier sind die Möglichkeiten eines zusätzlichen Erkenntnisgewinns mit genuin sprachbezogenen Analyseinstrumentarien eher begrenzt. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht interessanter und relevanter sind hingegen die von Foucault ebenfalls an zentraler Stelle genannten diskursiven Formationen, da sprachliche Mittel einen erheblichen Beitrag zur Formierung und Formatierung des diskursiv verhandelten gesellschaftlichen Wissens leisten. „Die diskursive For-
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mation ist das allgemeine Aussagesystem, dem eine Gruppe sprachlicher Performanzen gehorcht.“ (Foucault 1969, 152; dt. 169). Die Formationen haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Wirkungsmöglichkeiten einzelner sprachlicher Mittel in einer gegebenen Epoche, Umgebung, Kontext; umgekehrt können die im Korpus auffindbaren sprachlichen Mittel Indizien für gegebene diskursive Formationen sein. Mit den Worten Kosellecks: die sprachlichen Mittel sind Faktoren wie Indikatoren der diskursiven Strukturen, wie umgekehrt diskursive Formationen bzw. Elemente Faktoren mit Wirkung auf die Funktionsmöglichkeiten sprachlicher Mittel sein können. (Koselleck [1972, XIII ff.] bezog diese beiden Termini auf Begriffe; in seinem Modell der Begriffsgeschichte, das als Vorläufer der Diskursanalyse betrachtet werden kann, kommt dieser Dichotomie eine tragende Rolle zu.) Das Verhältnis von Wissen, Sprache und Diskurs kann nun – dies ist eine der Kernüberlegungen des vorliegenden Textes – am besten und vor allem systematischsten erforscht werden, wenn dabei auf Wissensrahmen (bzw. Frames) als den zentralen Strukturelementen des Wissens Bezug genommen wird. Es ist daher zu erläutern, was darunter verstanden wird und welche Aspekte alle dazu gehören.
3 Ein Rahmen-Modell für Wissen und Bedeutung Konzeptionen bzw. Theorien für Wissensrahmen bzw. Frames haben unterschiedliche Wurzeln und existieren in verschiedenen Ausprägungen, die jeweils teilweise deutlich verschiedene Erkenntnisziele, Forschungsgegenstände und Grundannahmen aufweisen. So hat etwa die Frame-Semantik des Sprachwissenschaftlers Charles J. Fillmore (und des von ihm begründeten Forschungsverbundes FrameNet mit Zentrum in Berkeley) – als einzige genuin linguistische Rahmen-Konzeption – ihre Wurzeln in teilweise anders gearteten Überlegungen und Theoremen als die FrameModelle in den Kognitionswissenschaften, wie etwa die Modelle von Marvin Minsky (1974 und 1986), von Schank/Abelson (1977) und von Lawrence Barsalou (1992). Frame-Theorien (Theorien der Wissensrahmen) begreifen diese Frames (oder Wissensrahmen) in der Regel als ‚Strukturen aus Konzepten bzw. Begriffen‘. Doch heißt das für Fillmore einerseits und für Barsalou oder Minsky andererseits zunächst durchaus etwas Verschiedenes. Ein Frame wäre bei Fillmore dann eine Struktur aus Konzepten/Begriffen, wie sie etwa der Semantik eines Satzes zugrunde liegt (also Begriffe für den Verbinhalt, für den Inhalt des Subjekt-Nomens, der Objekts-Nomina usw.). Hingegen wäre ein Frame etwa bei Barsalou ein epistemisch oder kognitiv gesehen in sich komplexes und strukturiertes (nominales) Konzept, das selbst wieder aus (Unter- oder Teil-)Konzepten zusammengesetzt ist. Jeder Frame ist dann selbst wieder eine Struktur aus Frames, oder, in der Terminologie Barsalous: jedes Konzept (jeder Begriff) muss selbst wieder als eine Struktur aus Konzepten (Begriffen) aufgefasst werden. Die Gemeinsamkeit von Fillmores Satzoder Verb-orientierter Konzeption mit dem von Minsky 1974 begründeten allgemei-
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nen kognitionswissenschaftlichen Frame-Modell (und dessen Präzisierung und Erweiterung bei Barsalou [1992]) liegt vor allem in dem, was den Charme, die Besonderheit und den wesentlichen Kern der Frame-Theorien ausmacht und dessen Attraktivität in der Rezeption breiter Wissenschaftlerkreise mehrerer Disziplinen wesentlich mitbegründet hat: nämlich die Rede von Leerstellen und ihren Füllungen. (Die auf Satzstrukturen gemünzte linguistische Valenztheorie von Lucien Tesnière [1959] hatte diese Grundidee ihrerseits – zumindest implizit – metaphorisch aus der Chemie, genauer: aus der begrifflichen Unterscheidung zwischen der Bindungsfähigkeit von Atomen und den konkreten Bindungen in gegebenen Molekülstrukturen entlehnt. Auf dem Umweg über die ja zunächst auf Sätze und die Bindungsfähigkeit von zentralen Satz-Prädikaten in Form von Verben bezogene Grundidee der Valenzgrammatik und ihre semantische Erweiterung zur KasusRahmen-Theorie bei Fillmore [1968] wurde dieses Modell dann auf die inhaltlichen Strukturen von Begriffen übertragen.) Ein Frame/Wissensrahmen ist – kurz gefasst – eine Struktur des Wissens, in der mit Bezug auf einen strukturellen Frame-Kern, der auch als ‚Gegenstand‘ oder ‚Thema‘ des Frames aufgefasst werden kann (bei Barsalou [1992] heißt er Kategorie), eine bestimmte Konstellation von Wissenselementen gruppiert ist, die in dieser Perspektive als frame-konstituierende Frame-Elemente fungieren. Diese Wissenselemente (oder Frame-Elemente) sind keine epistemisch mit konkreten Daten vollständig ‚gefüllte‘ Größen, sondern fungieren als Anschlussstellen (Slots), denen in einer epistemischen Kontextualisierung (Einbettung, ‚Ausfüllung‘) des Frames konkrete (‚ausfüllende‘, konkretisierende) Wissenselemente (sog. ‚Füllungen‘, ‚Werte‘ oder ‚Zuschreibungen‘) jeweils zugewiesen werden. Frames stellen daher (vereinfacht gesagt) Wissensstrukturen dar, die eine Kategorie mit bestimmten Attributen verknüpfen, die wiederum jeweils mit bestimmten konkreten Werten gefüllt werden können. (In anderen Frame-Theorien heißen die Attribute ‚Leerstellen‘ oder ‚slots‘ und die Werte ‚Füllungen‘ oder ‚fillers‘.) Die Zahl und Art der Attribute eines Frames ist nicht zwingend für immer festgelegt, sondern kann variieren. So können z. B. neue Attribute hinzukommen. Frames werden dann meist verstanden als Strukturen aus (hier als rein epistemische Größen aufgefassten) Konzepten, die, da alle Konzepte selbst wiederum in Form von Frames strukturiert sind, sich als Strukturen aus Frames herausstellen. Insofern Frames im Wesentlichen (epistemische) Anschlussmöglichkeiten und -zwänge (für weitere Detail-Frame-Elemente) spezifizieren, ist ihre Struktur beschreibbar als ein Gefüge aus epistemischen Relationen (zu den angeschlossenen Elementen und unter diesen). (Da Frames Grundstrukturen/-elemente der Kognition/ des Wissens sind, und damit auf allen Ebenen von deren Beschreibung anzusetzen sind, ergibt sich zwingend, dass verschiedene Ebenen und Typen von Frames (und Frame-Analyse) angesetzt werden müssen. Im Rahmen einer linguistischen Anwendung der Frame-Theorie kennzeichnen etwa folgende Dichotomien solche Ebenen-Differenzen, die Frame-theoretisch und Frame-analytisch beachtet werden
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small SIZE large bird-1 brown BIRD
aspect
bird-2
COLOR white
straight BEAK curved
Abb. 1: Beispiel für einen Frame für bird (mit den Attributen/Slots: size, colour, beak und den Werten/Fillern: small/large, brown/white, straight/curved) (Barsalou 1992, 45).
müssen: individuell vs. sozial, Kurzzeitgedächtnis (bzw. Arbeitsgedächtnis) vs. Langzeitgedächtnis, token vs. type, aktuell (bzw. „okkasionell“) vs. usuell, konkret vs. allgemein, Exemplar vs. Kategorie. Zu Typen von Frame-Grafiken siehe Busse (2012, 708 ff.). Wissensrahmen oder Frames (auf der Ebene allgemeiner gesellschaftlicher Wissensstrukturen, d. h. Muster oder Types) sind zudem keine einfachen und geschlossenen Strukturen. Vielmehr muss mit erheblicher gesellschaftlicher Varianz im Grad der ‚Granulierung‘ und Ausdifferenziertheit der Frames gerechnet werden. Aufgrund des allgemeinen Prinzips der Rekursivität sind Frames prinzipiell unendlich verfeinerbare Wissensstrukturen. Dies schlägt sich darin nieder, dass in gesellschaftlichen Domänen mit unterschiedlichem Wissensbedarf auch die Differenziertheit der Frames variiert (typischerweise bekannt als sog. Experten-/LaienDivergenz).
4 Wissensrahmen und Diskurse Wie hängen nun die hier erläuterten Eigenschaften von Wissensrahmen (Frames) und ihren Elementen mit dem Diskursbegriff und einer Diskursanalyse im Anschluss an Foucault, zumal einer linguistischen oder linguistisch begründeten Form einer solchen Diskursanalyse, zusammen? Diskursanalyse hat es vielleicht
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nicht ausschließlich, aber doch weit überwiegend mit sprachlich verfassten Untersuchungsobjekten (Historiker und Philologen nennen sie ‚Quellen‘) zu tun. Das – in der Regel sprachlich vorliegende – Material ist dabei der Prüfstein und damit Ausgangspunkt jeglicher Analyse. Diskursanalyse ist also zunächst und vor allem Sprachanalyse (oder, wem diese Abschwächung mehr behagt: sprachgestützte Analyse). Schwieriger als die Frage des Ausgangsmaterials ist schon die Frage zu beantworten, auf welche Erkenntnisobjekte im engeren Sinne die Analyse von Diskursen zielt. Dies ist weder von dem konkreten Objektzuschnitt noch von der wissenschaftlichen oder sachbezogenen Ebene her eindeutig klar, die der Diskursanalyse zugrunde gelegt werden. So unterschiedliche Entitäten wie ‚Aussagen‘ bzw. ‚enoncés‘, ‚Aussageereignisse‘ bzw. ‚enonciations‘, ‚Spuren‘ oder ‚Dispositive‘ wurden in verschiedenen Versionen von Diskursanalyse als mögliche Untersuchungsobjekte gehandelt. Hinzu kommt die nicht einfach zu deutende Verortung der Diskurse als einer Ebene, die zwischen Denken und Sprechen liegt, durch Foucault (1971, 48; dt. 32). Foucault fundierte seinen Diskursbegriff und seine Vorstellung von Diskursanalyse (die er bekanntlich selbst nie so genannt hat) vor allem auf dem Begriff der ‚enoncé‘. (Ich halte an dieser Deutung der zentralen diskurstheoretischen Schriften Foucaults fest, auch wenn in neueren, vor allem französischen Arbeiten zunehmend der Begriff der ‚enonciation‘ als zentral für die Diskursanalyse gesehen wird.) Was Foucault mit ‚enoncé‘ genau gemeint hat, lässt sich aus seinen Schriften allenfalls interpretativ erschließen, aber nicht mit letzter Eindeutigkeit bestimmen. Er selbst grenzt diesen Terminus von benachbarten Termini wie Proposition, Aussage, Bedeutung und ähnlichem ab (eine Abgrenzung, die man – wie übrigens auch die Abgrenzung der ‚Diskurse‘ von ‚Denken‘ und ‚Sprache‘ – nur dann richtig verstehen kann, wenn man weiß, was sich Foucault unter diesen Nachbarbegriffen jeweils genau vorgestellt hat). Die Frage nach dem Sinn und der Funktion von enoncé lässt sich meines Erachtens am besten beantworten, wenn man sie von der Zielsetzung der Diskursanalyse her zu bestimmen versucht. Zentraler Gegenstandsbereich der Diskursanalyse ist wie gesehen das, was Foucault épistémè nennt. Ich begreife dabei enoncé als eine bestimmte Konstellation von epistemischen Elementen (Wissenselementen), die als diese Konstellation an unterschiedlichen Orten, zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Kontexten, Zweckeinbindungen, Interessen vorkommen und durchaus auch in unterschiedlicher sprachlicher oder zeichenhafter Gestalt auftreten kann. Da die enoncés nicht sozusagen frei flottierend in einem platonischen oder fregeschen Reich der puren Gedanken vor sich hin existieren, sondern notwendigerweise des Ausgesprochen-Werdens, Geschrieben-Werdens, Verstanden- und Gedacht-Werdens bedürfen, müssen sie sich mit den Mitteln der Sprach- bzw. Textanalyse, der Semantik, der kulturellen Interpretation dingfest machen lassen können. Ein Format, mit dem man dies nach meiner Auffassung besonders gut leisten kann, ist nun das Format der Wissensrahmen oder Frames.
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In Bezug auf die Analyse der enoncés hat Foucault (1971, 55; dt. 37) die vier Kategorien Ereignis, Serie, Regelhaftigkeit, Möglichkeitsbedingung eingeführt. Diese vier Begriffe stützen die Deutung, dass es hier um jeweils spezifische Konstellationen von Wissenselementen geht. Da mit dem Modell der Wissensrahmen Strukturen aus Wissenselementen beschrieben werden, die sich in bestimmter Weise zueinander verhalten, scheint dieses Modell geeignet zu sein, enoncés und damit Strukturen und Bewegungen von und in Diskursen zu erfassen. Beispielsweise kann man dasjenige, was Foucault mit dem ‚Ereignishaften‘ des Auftretens einer enoncé meint, recht plausibel mit den im Zusammenhang der Frame-Theorie beschriebenen Synergieeffekten bei Frame-Erweiterungen, Frame-Kombinationen usw. erklären. Die von Foucault erwähnten Regelmäßigkeiten im Auftreten diskursiver Ereignisse können sich auf den verschiedensten Ebenen der Organisation diskursiver Einheiten einstellen. Auch eine Zeichenverwendungskonvention (eine ‚Bedeutung‘) ist eine ‚Regelmäßigkeit‘ im epistemologischen Sinne. Da das Modell der Wissensrahmen aber gerade dafür entwickelt wurde, ‚Bedeutungen‘ sprachlicher Einheiten besser zu beschreiben als ältere Bedeutungsmodelle, findet das Modell der Wissensrahmen auch in dieser Hinsicht ein Anwendungsfeld im Rahmen der Analyse von Diskursen und diskursiven Beziehungen. Auch die vierte von Foucault genannte Analysekategorie für Diskurse, die der Möglichkeitsbedingung, lässt sich mit Bezug auf Wissensrahmen erklären und beschreiben. Gemeint ist damit: Bestimmte epistemische ‚Ereignisse‘ (im diskurstheoretischen Sinne) können überhaupt nur eintreten, wenn in einer vorherigen epistemischen Konstellation die Bedingungen dafür geschaffen wurden, dass diese möglich wurden. Auch diesen Effekt kann man frame-theoretisch gut erklären: Ein Synergieeffekt durch eine Interrelation von zwei zunächst distanten Frames (oder Frame-Komplexen) kann nur dann entstehen, wenn diese Frames (oder Frame-Komplexe) im System des geltenden Wissens überhaupt aufeinander beziehbar waren. Diese Bedingung der Aufeinander-Beziehbarkeit muss aber erst geschaffen werden; sie ist logisch und epistemologisch unabhängig davon, ob diese Beziehung tatsächlich hergestellt wird (ob also das ‚diskursive Ereignis‘, der ‚Synergieeffekt‘ tatsächlich eintritt). Foucaults diskursbezogene Begrifflichkeit wirft immer wieder die Frage auf, wie sie in eine Methodik umgesetzt werden kann (wobei hier mit „Methodik“, da es sich bei der Diskursanalyse um ein interdisziplinäres Unterfangen handelt, zunächst nur eine Art von ‚Suchstrategien‘ gemeint sein kann). Bei der Suche danach könnten vielleicht folgende Überlegungen (folgende Einteilungsversuche) helfen. Ich unterscheide (a) diskursive Ereignisse, (b) diskursive Elemente, (c) diskursive Strukturen/Relationen/Gefüge, (d) diskursive „Constraints“ (wechselseitige Abhängigkeiten), (e) diskursive Prozesse (Prozeduren), die jeweils in unterschiedlichen Typen oder Formen auftreten können, als (α) diskursive Ereignistypen, (β) diskursive Elementtypen, (γ) diskursive Strukturtypen/Relationstypen/Gefügetypen, (δ) diskursive „Constraint“-Typen , (ε) diskursive Prozesstypen (Prozedurentypen). Dazu müssen aus Platzgründen wenige Erläuterungen genügen: Geht man davon aus,
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dass es um epistemische Phänomene geht, dann sind diskursive Elemente als epistemische Elemente (Wissenselemente) und diskursive Ereignisse als das konkrete, kontextualisierte und situierte Auftreten solcher Wissenselemente aufzufassen. Dies bildet den Konnex zu den Wissensrahmen als Strukturen des Wissens, in denen die Position und Funktion von Wissenselementen (Frame-Elementen und TeilFrames) dingfest gemacht werden kann. Diskursive Strukturen, Relationen und Gefüge sind einmal die Strukturen diskursiver Elemente selbst; dann aber auch die nicht nur zufälligen Beziehungen, die zwischen diskursiven Elementen oder Gruppen/Teilstrukturen diskursiver Elemente bestehen. Wichtig scheint mir vor allem das zu sein, was in der Sprachtheorie und Linguistik (und insbesondere der Wissensrahmen-Theorie) ‚constraints‘ genannt wird. Es handelt sich dabei um wechselseitige Beschränkungen und Abhängigkeiten von Wissenselementen, Aussagen, Wissensstrukturen, nach dem Muster „Wenn Du A sagst (denkst, für wahr hältst), musst Du auch B sagen oder zumindest denken, für wahr halten.“, oder auch als negativer Constraint „Wenn Du A sagst (oder denkst oder für wahr hältst), dann kannst Du nicht zugleich B sagen (oder denken oder für wahr halten).“ Es handelt sich hier um epistemische Beschränkungen, die immer nur in einer bestimmten epistemischen ‚Welt‘ gültig sind. Solche epistemischen ‚Wenn-Dann-Beziehungen‘ bzw. Constraints sind einer der interessantesten Aspekte jeder Diskursanalyse und letztlich für Foucault auch der Anlass gewesen, eine Diskursanalyse überhaupt erst zu entwerfen. (Moderne Logiker wie auch sich mit Fiktionalem beschäftigende Texttheoretiker sprechen von ‚möglichen Welten‘. Das, was man ‚Logik‘ nennt, ist ein Teilbereich solcher Beschränkungen/Abhängigkeiten; Constraints im Sinne der Frame-Theorie umfassen aber weit mehr als nur die logischen Beschränkungen. Siehe dazu Barsalou (1992) und zur Darstellung und Diskussion von dessen constraint-Begriff Busse (2012, 374 ff., 565 ff.).) Die Beziehung zwischen Diskurs(en) und Wissensrahmen ist nicht nur in einer Richtung interessant. Bisher haben wir nur beschrieben, wie Elemente bzw. Aspekte von Diskursen in Termini von Wissensrahmen beschrieben oder erklärt werden können (bzw. Aspekte der Diskursanalyse mit Mitteln der Frame-Analyse). Mindestens ebenso interessant und wichtig ist aber auch die Umkehrung dieser Beziehungsrichtung: Von den Diskursen zu den Wissensrahmen. Ausgesprochen wichtig in diesem Kontext (und eine interessante Aufgabe diskursanalytischer Forschung) ist die diskursive Überformung, die bereits in kleinsten Details im Prozess der Bildung und Ausdifferenzierung epistemischer (kognitiver) Schemata (bzw. Frames) zu beobachten ist. Im Kontext der Frame-Analyse (Analyse der Wissensrahmen) kommt wie gezeigt der Ausbildung von Attributen (‚slots‘, ‚Leerstellen‘) oder Aspekten eine wichtige Rolle zu, weil diese die zentralen Strukturelemente von Frames bzw. Wissensstrukturen darstellen. Gerade der Prozess der Schemadifferenzierung oder Aspektbildung (technisch gesprochen: der Ausbildung neuer Attribute bzw. Slots für existierende Frames, die dann selbst wiederum zu neuen Frames mit
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wiederum neuen Attribut-Konstellationen führen können) ist in hohem Maße durch diskursive Prozesse oder Strukturen beeinflusst, überformt. Ob in einem Frame ein neues, bisher nicht ‚gesehenes‘ (in diesem Kontext, in dieser epistemischen Teilstruktur nicht epistemisch ‚prozessiertes‘, angewendetes) Attribut (FrameElement) eingeführt und durch Serienbildung und Ausbildung von Regelmäßigkeiten langfristig epistemisch verankert wird, hängt meist von epistemischen Tendenzen und Relationsbildungen ab, die sehr gut diskursanalytisch erklärt und beschrieben werden können. (Es ist dies ein Punkt, wo das ‚Soziale‘ elementar auf das ‚Wissen‘, das ‚Denken‘ und seine ‚Inhalte‘ einwirkt, da die diskursiven Prozesse und Strukturen letztlich immer nur als soziale Prozesse und als aufgrund sozialer Prozesse induzierte Strukturen aufgefasst werden können.) Die diskursive Überformung tritt hier an zwei Punkten auf. Zum einen bei der Frage, genau welche neuen Attribute oder Aspekte in einen vorhandenen Frame, eine vorhandene Wissenskonstellation erstmals ‚eingebaut‘ werden (und damit auch der Frage, ob epistemische Aspekte/Elemente eines bestimmten Typs in einem gegebenen Frame eines bestimmten epistemischen Typs überhaupt eingebaut werden können, d. h. der Frage, welche epistemischen Elemente welchen Typs in welche Frames welchen Typs an welchen Positionen – nach Maßgabe der gegebenen Wissensstrukturen, die ja als aufgrund diskursiver Prozesse so geformte Strukturen aufgefasst werden müssen – integriert werden können). Zum anderen wirkt die diskursive Überformung auf die Bildung von Serien und vor allem Regelmäßigkeiten der Vollzugsakte solcher epistemischen Elemente ein, insofern es von diskursiven Tendenzen, Bedingungen und ‚Constraints‘ abhängt oder abhängen kann, welche epistemischen Elemente (oder Konstellationen oder Relationen) überhaupt ‚serienfähig‘ sind, d. h. im gegebenen diskursiven Setting geeignet (oder, wenn man so will, dafür ‚zugelassen‘) sind, Regelmäßigkeiten auszubilden und dadurch auf Dauer gestellt zu werden, d. h. fest in der Episteme einer gegebenen Zeit verankert zu werden. Am Beispiel einer Wissensrahmen-Darstellung für das Wort Chaoten kann deutlich gemacht werden, wie diskursive Elemente (diskursives Wissen) in einen solchen Frame eingreifen und ihn steuern (siehe Abb. 2). Im Kern geht es um Bezeichnungen für Teilnehmer von politischen Demonstrationen in den 1980er Jahren. Im Korpus belegte Frame-Elemente wie Krawall, Terror, kriminell, Anarchisten, revolutionär, aber auch Störung zeigen, wie die Verwendung des Wortes in verschiedene Diskurse ‚eingeklinkt‘ wird mit dem Ziel der politischen Diffamierung (und Inkriminierung). Als besonders gutes Beispiel dafür, wie Elemente von Diskursen und Elemente von Wissensrahmen aufeinander bezogen werden können (und in welchen Punkten Diskursanalyse und Frame-Analyse konvergieren können, möglichst mit dem Ergebnis besonderer Synergieeffekte) kann das Konzept der diskurssemantischen Grundfiguren (nach Busse 1997b, 19 ff.) herangezogen werden. Gemeint sind damit Wissenselemente, die nicht zwingend zur ‚Oberflächenbedeutung‘ eines Wortes, Satzes, Textelements in einem Diskurs-Korpus gehören, sondern Teil des impli-
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Versuch für einen Frame für Chaoten Menschen
[Unterart von] Krawall
Terror
Chaoten
HandlungsZiel
kriminell
Anarchisten
Objekt
Handlungseigenscha
Störung
mit Gewalt
[token-Wert] [unspezifiziert]
HandlungsTyp 1
blutrünsg
militant
reisen
Gruppen
offener bewaffneter Kampf
revoluonär
Vandalen
straff organisiert aggressiv
[unspezifiziert] [token-Wert] WAA Wackersdorf
von weither
OrganisaonsGrad
kriminell
öers idensch mit / bewertbar als
GruppenZusammenhalt
Handlungseigenscha
HandlungsTyp 2
Kriminelle Vereinigung
Schläger der übelsten Sorte
paramilitärisch
Abb. 2: Beispiel für einen CHAOTEN-Frame mit Material aus Busse (1989, 101 f.).
ziten, mitgedachten, mit-vorausgesetzten, bzw. epistemisch ‚mit-schwingenden‘, aber nicht notwendigerweise den Diskursteilhabern voll bewussten Wissens sind. Diskurse zeichnen sich zum einen dadurch aus, dass die ihnen zuzuordnenden Texte Regelmäßigkeiten im Auftreten bestimmter Wissens-Elemente aufweisen; zum anderen schlagen sich zu Regelmäßigkeiten verfestigte Wissenselemente in den einzelne Diskurse bildenden (bzw. zu ihnen beitragenden) Texten nieder. Dies führt dazu, dass Texte (und ihre Bestandteile) nicht – wie es einem alten sprachund kommunikationstheoretischen (und wohl auch alltagsweltlichen) Vorurteil entspricht – quasi ab ovo durch die Intentionalität des Produzenten geformte originale Erzeugnisse sind, sondern Versatzstücke verwenden, die zu der epistemischen Grundausstattung der Textproduzenten gehören bzw. von ihnen aus anderen, zuvor rezipierten Texten ad hoc aufgenommen worden sind, ohne dass dies ihnen immer in vollem Sinne ‚bewusst‘ sein muss. Solche Wissenselemente sind dem Willen (dem Bewusstsein, den bewussten kommunikativen Intentionen) der Sprechenden/Schreibenden zwar nicht völlig entzogen, doch offenbaren sie sich (und spezifische Charakterzüge des Textproduzenten bzw. seines Denkens bzw. Wissens) häufig unwillkürlich, am ehesten vergleichbar wohl noch den sog. ‚Freudschen
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Versprechern‘ und anderen ‚Fehlleistungen‘ in der Psychoanalyse. (Zwar kommen solche epistemischen Grundelemente bzw. diskursive Grundfiguren immer wieder auch an die Oberfläche des Diskurses, werden zum expliziten Gegenstand oder Thema des Diskurses, und man könnte vielleicht sogar die These aufstellen, dass diese temporäre Explizität eine notwendige Bedingung ihres (ersten?) Auftretens und ihrer strukturellen Wirksamkeit ist, doch ist ihre normale Wirksamkeit dergestalt, dass ihr Vorhandensein zwar das Erscheinen bestimmter diskursiver Elemente erklärt, in diesen Elementen aber nicht so zum Vorschein kommt, dass sie zur expliziten Textbedeutung auf der Oberflächenebene gerechnet werden könnten.) Solche epistemischen Grundelemente bzw. diskursive Grundfiguren sind nicht unbedingt an einen bestimmten Diskurs gebunden oder auf einen einzigen Diskurs beschränkt, sondern sie können selbst wiederum in verschiedenen Diskursen zugleich auftauchen; dadurch tragen sie zu interdiskursiven Beziehungen bei, die auf Diskursebene vielleicht demjenigen entsprechen, was mit Bezug auf die Textebene in der Textlinguistik als intertextuelle Beziehungen untersucht worden ist. Solche Wissenselemente können linguistisch gesehen in unterschiedlicher Gestalt bzw. an unterschiedlichen Punkten einer sprachlichen Struktur (Wort, Satz, Text) auftreten. Sie können als einzelne semantische Merkmale historische IsotopieKetten bilden; sie können argumentationsanalytisch zu den Stützungselementen einer textbasierenden Schlussregel gehören, sie können Präsuppositionen im allgemeinen Sinne der linguistischen Pragmatik sein, sie können sich hinter Namen, angesprochenen Personen, Sachen, Sachverhalten, Gedankenkomplexen verbergen, und sie können schließlich zur (lexikalischen) Oberflächenbedeutung verwendeter Sprachzeichen und -ketten gehören, in denen sie bemerkt oder unbemerkt wirksam werden. Sie müssen nicht notwendig durch ‚Begriffswörter‘ (im Sinne der alten bedeutungstheoretischen Dichotomie von Autosemantika und Synsemantika) ausgedrückt werden, sondern können auch in der textsemantischen Funktion der sog. ‚Funktionswörter‘ enthalten sein. Am interessantesten und wichtigsten in unserem Zusammenhang ist aber: Sie können auf der Ebene einer Analyse des verstehensrelevanten bzw. epistemisch in einem Diskurstext mit-schwingenden bzw. vorausgesetzten Wissens in einzelnen Elementen einer Frame- bzw. Rahmenstruktur ‚versteckt‘ sein, die sich auf einer unteren, indirekten, vermittelten Ebene der Wissensstruktur quasi ‚verbergen‘. Die Frame- oder Wissensrahmen-Analyse ist daher ein besonders geeignetes Mittel, um solche in den ‚Tiefenebenen des Wissens‘ versteckten Wissenselemente zu erschließen, bewusst zu machen und ihre Wirkweise im Diskurs offenzulegen. Dies kann an einem Beispiel, der diskurssemantisch-epistemischen Grundfigur ‚Das Eigene und das Fremde‘, gezeigt werden. (Siehe dazu ausführlich die Beispielanalysen in Busse (1997b, 17 ff.). Dort auch ausführliche Erläuterungen und Erörterungen zum Konzept der diskursiven Grundfiguren.) Die epistemische bzw. diskursive Wirksamkeit dieser Wissensfigur entfaltet sich in einer epistemischen Struktur, die durch vier Pole gekennzeichnet ist: INDIVIDUELLES ICH, INDIVIDUELLER
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ANDERER, KOLLEKTIVES ICH, KOLLEKTIVER ANDERER. Die vier Pole sind durch Relationen miteinander verbunden, die zum einen solche der „Vererbung“ von Eigenschaften bzw. Begriffselementen bzw. Wissenselementen sind, zum anderen solche der Übertragung von Bewertungen bezüglich von Elementen eines Pols auf Elemente eines anderen Pols. (Der frame-theoretische Begriff der Vererbung bezieht sich auf einen zentralen Aspekt der Wissensrahmen- bzw. Frame-Theorie. So ‚erbt‘ z. B. der Kategorien-Frame für einen Unterbegriff wie Kuh wesentliche FrameElemente (Attribute bzw. Slots) von seinem Oberbegriff Säugetier, der wiederum Elemente erbt von seinem Oberbegriff Wirbeltier, der von Lebewesen usw. Siehe dazu ausführlicher Busse [2012, 629 ff.].) Die Relationen können sowohl Relationen zwischen Attributen bzw. Slots als auch Relationen zwischen Werten bzw. Fillern der Attribute/Slots sein. Eine typische diskurssteuernde Bewegung zwischen Wissenselementen im Viereck dieser Pole wäre folgende: Attribute, Werte (Filler), und deren Bewertungen im Rahmen einer vorausgesetzten Werte- und PräferenzenHierarchie werden vom Element INDIVIDUELLES ICH auf das Element KOLLEKTIVES ICH übertragen (oder auch in umgekehrter Richtung); Werte für Attribute/ Slots sowie Bewertungen dieser Filler des Elements KOLLEKTIVER ANDERER werden in einer polaren Struktur als Gegenpole der Werte sowie der Bewertungen für das Element KOLLEKTIVES ICH konfiguriert; schließlich erbt jedes Exemplar, welches dem Element INDIVIDUELLER ANDERER zugeordnet wird, diese Werte/Filler sowie ihre Bewertungen vom so konfigurierten Element KOLLEKTIVER ANDERER (Siehe zu Details, Korpus-Beispielen und näheren Erläuterungen Busse [1997b, 14 ff.]). Eine solche epistemische Struktur kann wie eine ‚diskursive ErzeugungsMaschine‘ funktionieren, die immer wieder neue diskursive Elemente hervorbringt bzw. in Diskursen an spezifischen Positionen platziert. Wichtig dabei ist in unserem Kontext, dass solche diskursleitenden epistemischen Elemente sich oft sprachlich gesehen in eher unscheinbarer äußerer Form und damit an sehr verborgenen Stellen eines Textes bzw. Diskurses einnisten. Die frühe deutsche Diskursanalyse war im Anschluss an die Begriffsgeschichte als eine besondere Form einer wissensanalytisch ausgerichteten Historischen Semantik entstanden. Dabei stand immer ein emphatisches Verständnis von Begriff im Vordergrund, das nur Wörter mit großer historischer Tragweite und komplexer konzeptueller Struktur überhaupt als ‚Begriffe‘ akzeptierte. (Sprachzeichen, die diese Adelskriterien verfehlten, waren ‚bloße Wörter‘. Siehe zu dieser terminologischen Problematik ausführlich Busse [1987, 50 ff.] oder Busse [2003, 20 ff.].) Aber auch in der Diskursanalyse (nach den Ideen Foucaults) geht es in erster Linie um geschichtlich oder epistemologisch ‚aufgeladene‘, komplexe Wissensstrukturen und deren Bewegungen, wie deutlich wird, wenn Foucault die Diskursanalyse abgrenzt von Begriffsgeschichte, Ideengeschichte, Wissenschaftsgeschichte und linguistischer Semantik. Demgegenüber kann gezeigt werden, dass sich diskursive Grundelemente oft auch in ‚kleinen‘ sprachlichen Elementen bzw. Strukturen sozusagen ‚tarnen‘ können. Es müssen nicht immer die ‚Autosemantika‘ (Begriffswörter wie Nomen,
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Verben oder Adjektive) sein, die diskursives Wissen transportieren und strukturieren, es können auch ‚Synsemantika‘ (die sog. ‚Funktionswörter‘ oder ‚Nebenwortarten‘ nach der üblichen Einteilung in der Linguistik) sein, wie etwa im Falle der diskursiven Grundfigur „Das Eigene und das Fremde“ einfache Personalpronomina wie wir und sie.
5 Zur Leistungsfähigkeit des WissensrahmenKonzepts in der Analyse von Diskursen „Wörter evozieren Frames“ war eine der zentralen Hypothesen des linguistischen Begründers der Wissensrahmen-Semantik Charles J. Fillmore (1982, 117; 2006, 613). Manchmal ist dies in eklatanter Weise offensichtlich: Die ungeheure Vehemenz und epistemische Tiefe, die das Evokationspotential mancher sprachlicher Ausdrücke haben kann, ist schon lange nicht mehr so deutlich geworden, wie durch den kleinen Ausdruck ‚Waffen-SS‘ im Kontext des Grass-Diskurses. (Insofern wäre dieser ein idealer Gegenstand einer epistemologisch orientierten Diskursanalyse. Siehe zu einer kleinen Prä-Analyse dieses Diskurses auf dem Hintergrund eines frame-theoretischen Ansatzes Busse [2008, 76 ff.]). Es können aber auch, wie wir gesehen haben, oft recht unscheinbare Wörter sein, die äußerst komplexe Wissensrahmen oder sogar Wissensrahmen-Netze evozieren. In diesen Wissensrahmen, die nach dem Modell der Frame-Theorie als in sich nach festen Prinzipien strukturiert betrachtet werden können, können sich möglicherweise einzelne Wissenselemente, die für einen Diskurs, eine diskursive Bewegung, eine diskursive Strategie zentral sind, auch an versteckter, in der Wissensstruktur auf tieferen, mehrfach vermittelten Ebenen eingebetteter Stelle verbergen. Das Frame-Modell scheint dann ein Analysemodell zu sein, das besonders geeignet ist, solche Elemente aufzufinden und in ihrer Position und Funktion in einer Wissensordnung zu beschreiben und zu erklären. Gemeinsam ist dem Rahmenmodell einer ‚interpretive semantics‘ im Sinne Fillmores (1985) und dem Diskursgedanken bei Foucault daher die Berücksichtigung auch des ‚stillschweigenden‘, durch ‚semantische Marker‘ oder ‚Dingmerkmale‘ nicht erfassbaren verstehensrelevanten Wissens. Frame-gestützte Analysen sind ein ausgezeichnetes Mittel, um solche versteckten Wissensbestandteile empirisch aufzuspüren. Eine am Frame-Begriff orientierte Analyse der epistemischen Voraussetzungen für die Bedeutung wie für die Möglichkeit des Auftretens bestimmter diskursiver Elemente kann verstanden werden als eine Suchstrategie, die ergiebiger sein kann als das freie interpretatorische Deuten. Eine auf das Format der Wissensrahmen gestützte Analyse kann epistemische Zusammenhänge und Bedingungsgefüge aufdecken, die sonst möglicherweise unentdeckt geblieben oder nicht in ihrem Wirkzusammenhang gesehen worden wären. Diskursanalytische
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Perspektive und rahmengestützte Suchstrategie können sich fruchtbar ergänzen. Ohnehin bin ich der Überzeugung, dass Forscher wie Fillmore und Foucault zumindest partiell von vergleichbaren Fragestellungen angetrieben wurden, wie z. B. der Frage nach den tatsächlichen epistemischen Hintergründen für Äußerungen und Texte. Beide gehen von der Annahme aus, dass die verstehensbedingenden, die diversen soziohistorischen Funktionen von Äußerungen/Texten tragenden epistemischen Voraussetzungen nicht auf der Grundlage der reduktionistischen linguistischen und philosophischen Bedeutungsmodelle zur Entstehungszeit ihrer Überlegungen aufgefunden werden können, sondern einer viel grundsätzlicheren und weiter gefassten epistemologischen Perspektive bedürfen. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Diskursanalyse und Rahmenanalyse sind nicht identisch, beruhen aber auf ähnlichen theoretischen Grundannahmen und können methodisch ineinandergreifen und sich ergänzen. Gemeinsamer Bezugspunkt ist das, was ich das verstehensrelevante Wissen nenne, bzw. dasjenige, was Fillmore das durch die Wörter eines Diskurses oder Textes evozierte Wissen genannt hat. Der Bezug zwischen Sprache und damit Sprachanalyse, und (linguistischer) Semantik und Diskurs ergibt sich dadurch, dass das Wissen nur in und durch Sprache als Wissen konstituiert wird und damit in den Status der Ausdrückbarkeit und Kommunizierbarkeit gelangt. Sprache schafft dieses Wissen nicht (in einem gewissen Sinne, der noch diskutiert werden müsste); ohne sie wäre es aber schlicht nicht verhandelbar, könnte keine Wirkungen entfalten. Das Wissen als solches ist aber frame-förmig – als Wissensrahmen – organisiert und strukturiert. Diese Organisation ist gegeben, gleich ob man das Wissen im Hinblick auf im engeren Sinne semantische Untersuchungsziele (im Rahmen einer linguistischen oder linguistisch motivierten Wort-, Satz- oder Textsemantik) oder im Hinblick auf Untersuchungsziele einer Diskursanalyse im Sinne Foucaults erschließen will. Während herkömmliche Methoden der Satz- oder Textsemantik oft nur recht grobe oder an der epistemischen Oberfläche leicht zugängliche Wissenselemente berücksichtigen (und in dieser Hinsicht reduktionistisch genannt werden müssen), und auch viele bisherige Diskursanalysen eher grobere epistemische Elemente erfassen (insbesondere wenn diese Analysen stark quantitativ, mit großen Korpora oder sogar ausschließlich ‚corpus-driven‘ operieren), erlaubt es das Wissensrahmen- oder Frame-Modell, auch sehr subtile, versteckte, in gegebenen Wissensstrukturen sehr tief eingebettete, man kann auch sagen: in den Tiefen eines Diskurses verborgene Wissenselemente zu erschließen und überhaupt erst dadurch in ihrer Wirkungskraft auf den Diskurs (diskursive Formationen, Bewegungen, Ereignisse und Regelhaftigkeiten) zu bestimmen. Auch wenn eine auf Wissensrahmen gestützte Analyseform keineswegs alle Zwecke einer Diskursanalyse (z. B. im Sinne des sehr umfassenden DIMEANModells nach Warnke/Spitzmüller 2011) erfüllen kann (so erfasst sie z. B. keine Positionen von Diskursbeteiligten), so kann sie doch im Kerngeschäft einer Diskursanalyse im Sinne von Foucault, bei der Untersuchung des Verhältnisses von Texten
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(eines Korpus), Diskurs(en) und Episteme (dem gesellschaftlichen Wissen einer Zeit) wichtige Aufschließungskraft haben. In diesem Sinne sind von einer wissensrahmen-gestützten Untersuchung von Diskursen und diskursiven Elementen nützliche Synergien für die Ziele einer Diskursanalyse nach Foucault zu erwarten. (Siehe in diesem Tenor auch die Arbeiten von Alexander Ziem, z. B. Ziem [2008a, 2008b, 2006a, 2006b].)
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Reiner Keller
2. Diskurslinguistik und Wissenssoziologie Abstract: Die Wissenssoziologie beschäftigt sich als soziologische Teildisziplin mit der Rolle von Wissen in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Zugleich ist sie bereits in der soziologischen Klassik als Theorie- und Forschungsperspektive zu verstehen, die sich auf alle Gegenstände der Disziplin richten kann: Wenn die heterogenen, widersprüchlichen, wetteifernden symbolischen Strukturierungen, mit denen menschliche Kollektive das so und nicht anders sein ihrer Wirklichkeit ordnen und dem Handeln zugänglich machen, als Wissen begriffen werden, dann ist schnell einsichtig, dass jeder Gegenstand der Soziologie, jedes gesellschaftliche Phänomen in seiner Wissensdimension untersucht werden kann. Wissenssoziologie ist also sowohl eine unterschiedlich ausbuchstabierbare Theorieperspektive wie auch eine Spezialsoziologie, die sich mit dem besonderen Gegenstand und Weltverhältnis „Wissen“ auseinandersetzt. Nicht immer muss dabei explizit von „Wissen“ gesprochen werden. Wichtige Beiträge zur Entwicklung der Wissenssoziologie wurden u. a. von Karl Marx und Friedrich Engels, von Emile Durkheim, Karl Mannheim, Peter Berger, Thomas Luckmann, Michel Foucault oder Hans-Georg Soeffner geleistet. Der Beitrag skizziert wichtige Stationen dieser Entwicklung und stellt dann aktuelle Perspektiven einer wissenssoziologischen Diskursforschung vor.
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Einleitung Wissenssoziologien und die Fragen nach dem Wissen Wissen, Sprache, Zeichen, Diskursuniversum Soziologische Diskursforschung als Analyse des Kampfes um die Durchsetzung kollektiver Situationsdefinitionen Aktuelle soziologische Diskursforschung und Wissenssoziologische Diskursanalyse Diskurslinguistik und soziologische Diskursforschung Literatur
1 Einleitung Die Wissenssoziologie beschäftigt sich als soziologische Teildisziplin mit der Rolle, den Formen, Funktionen und Verteilungen bzw. Strukturierungen von Wissen in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Zugleich ist sie bereits in der soziologischen Klassik als Theorie- und Forschungsperspektive zu verstehen, die sich auf alle Gegenstände der Disziplin richten kann. Der Begriff des Wissens wird in Abhängigkeit von unterschiedlichen theoretischen Paradigmen sehr weit und auch sehr heterogen gefasst; er bezieht sich nur selten, wenn überhaupt, auf die Frage nach der Wahrheit von Wissen im Sinne einer positiven, durch Erfahrung bewährten oder https://doi.org/10.1515/9783110296075-002
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bestätigten bzw. falsifizierbaren Menge von Aussagen über die Welt. Eine wichtige, in den 1920er Jahren formulierte Grundmaxime des Interpretativen Paradigmas (Keller 2013) der Soziologie, das sogenannte Thomas-Theorem, besagt bspw., dass wenn Menschen eine Situation als wirklich definieren, diese Definition dann tatsächliche Folgen hat – unabhängig davon, wie angemessen oder unangemessen sie uns aus der Außensicht erscheinen mag. Eine solche Situationsdefinition ist ein Prozess der Bedeutungszuweisung im Rahmen eines Diskursuniversums, verstanden als Horizont kollektiv erzeugter Bedeutungszusammenhänge. Wissenssoziologische Perspektiven beziehen sich auch auf implizites und inkorporiertes Wissen, auf Körperwissen, Routinen des Handelns, Intuitionen, Empfindungen. Die nachfolgende Diskussion konzentriert sich auf zeichenförmig externalisierte Wissensformen. Die soziologische Beschäftigung mit Sprache (Luckmann 1979, Schütze 1975) setzt historisch später ein und bleibt marginal, abgesehen von einer kurzen Hochphase zwischen etwa 1970 und 1980, in die auch eine intensive Auseinandersetzung mit linguistischen Perspektiven fällt. Dennoch hat sie grundlegende Bedeutung für das in der Disziplin entwickelte Verständnis von Sozialisationsprozessen als basale und später dann selektive Formen der Eingliederung und des Erwerbs von Deutungs- bzw. Handlungskompetenz. In den beiden letzten Jahrzehnten hat der Begriff der „Kommunikation“ ein stärkeres theoretisches Gewicht in so unterschiedlichen Perspektiven wie der Habermasschen Theorie des Kommunikativen Handelns, der Luhmannschen Systemtheorie oder dem Kommunikativen Konstruktivismus bekommen (Schützeichel 2004; Keller/Knoblauch/Reichertz 2013). Die in den 1980er Jahren beginnende soziologische Diskursforschung untersucht Diskurse als Prozesse der Herstellung, Zirkulation und Transformation symbolischer Ordnungen. Dabei rückt die Wissenssoziologische Diskursanalyse im Anschluss an Michel Foucault die Frage nach gesellschaftlichen Wissensverhältnissen und Wissenspolitiken in den Mittelpunkt. Bezüge auf (diskurs)linguistische Theorien, Konzepte und Fragestellungen finden sich bislang in der soziologischen Diskursforschung nur am Rande. Die nachfolgende Darstellung kann nur ein paar grundlegende Orientierungen vermitteln, die an der historischen Entfaltung wissens-, sprach- und diskurssoziologischer Perspektiven orientiert sind.
2 Wissenssoziologien und die Fragen nach dem Wissen In der Überschrift zum vorliegenden Abschnitt ist von Wissenssoziologien im Plural die Rede. Tatsächlich haben sich in der Disziplingeschichte der Soziologie sehr unterschiedliche theoretisch-begriffliche, methodologische und empirische Beschäftigungen mit Wissen entwickelt, die heute mit unterschiedlichem Einfluss neben-
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einander bestehen. Als Disziplin wurde die Soziologie in ihren Anfängen gleichsam sofort als Wissenssoziologie etabliert (Ritsert 2002, Keller 2010, Knoblauch 2014). Vorläufer und Begleiter einer solchen Etablierung waren die französische Ideologienlehre von Antoine Destutt de Tracy um die Wende zum 19. Jahrhundert, aber auch weitere frühere und spätere philosophische Traditionen von Giovannia Battista Vico bis Friedrich Nietzsche. Karl Marx und Friedrich Engels formulieren nach und gegen Georg Friedrich Wilhelm Hegel, und auch in Absetzung von Ludwig Feuerbach in der Textsammlung Die Deutsche Ideologie aus dem Jahre 1846 die These, dass das menschliche Bewusstsein aus dem tätigen vergesellschafteten Sein resultiert, d. h. aus der Art und Weise der Naturbearbeitung in vergesellschafteter Arbeit. Sowohl die konkreten Denkmittel der Weltbearbeitung, wie auch die umfassenderen politischen und kulturellen oder religiösen Denkgebilde sind – so Marx und Engels – als Produkte dieser kollektiven tätigen Auseinandersetzung mit Natur im Rahmen der Reproduktion der Gattung zu verstehen. In komplexeren, auf ‚ausbeuterischen‘ Produktionsverhältnissen beruhenden Gesellschaftsgebilden werden sie zu Ideologien, d. h. zu Weltdeutungen, welche die bestehenden Herrschaftsverhältnisse stabilisieren und nach Möglichkeit unverfügbar halten. Etwa gleichzeitig wie Marx und Engels hatte der französische Philosoph Auguste Comte, Namensgeber der neuen Disziplin Soziologie, sein Drei-Stadien-Gesetz formuliert. Comte interpretierte den gesellschaftlichen Prozess als Fortschritt im Durchgang durch verschiedene Stadien des Wissens mit je korrespondierenden Organisationsformen der Gesellschaft. So spricht er von einem theologischen oder fiktiven Stadium, in dem es um das Erkennen der göttlichen Ordnung geht und dem eine militärische gesellschaftliche Ordnung entspricht. Die zweite Stufe bildet das metaphysische bzw. abstrakte Stadium mit feudalistischer Gesellschaftsform. Schließlich nennt er das wissenschaftliche Stadium, das nicht zuletzt in seiner eigenen positiven Philosophie, also der Soziologie zum Ausdruck kommt und die Erkenntnis von Natur- und Sozialgesetzen durch Vernunft, Logik, Beobachtung, Experiment, Klassifikation, kurz: empirische Forschung präferiert. Diesem Stadium entspricht – so Comte – die historische gesellschaftliche Ordnung des Industrialismus. Das positive Wissen der neueren Wissenschaften, nicht zuletzt der Soziologie, sollte Ordnung und Fortschritt versöhnen und dabei insbesondere im Angesicht der religiösen Kriege der Zeit ein zukünftiges friedliches Zusammenleben gewährleisten. Auch Max Webers kurz nach der Jahrhundertwende u. a. im Zusammenhang seiner Analysen der Protestantischen Ethik und der Dynamik des abendländischen Kapitalismus mit deutlichem Pessimismus formulierte These von der zunehmenden Rationalisierung bzw. dem Glauben an die Berechenbarkeit der Weltzustände lässt sich als wissenssoziologische Diagnostik einer solchen Entwicklung der Entzauberung der Welt lesen. Mit seiner Analyse religiöser Predigten, Programmschriften und Verhaltensratgebern bzw. der Folgen einer spezifischen religiösen Lebensführung für das kapitalistische Wirtschaften unternimmt er sogar eine Art frühe soziologische Diskursanalyse.
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Nach der Wende zum 20. Jahrhundert sind es jedoch Emile Durkheim, Max Scheler und später Karl Mannheim, welche die zunehmend explizite Etablierung der Wissenssoziologie (unter diesem Begriff) vorantreiben. Durkheim geht, inspiriert durch Marcel Mauss, in seinem letzten Buch über Die elementaren Formen des religiösen Lebens (Durkheim 1984) der Frage nach der Entstehung und Stabilisierung menschlicher Denksysteme nach. Gegen Kant argumentiert er, dass auch die basalen Vorstellungen von Kausalität, Zeit und Raum keinen vorsozialen Ursprung in einem außerweltlichen Bewusstsein haben, sondern durch und durch sozialer Natur sind. Dies gilt dann umso mehr für Klassifikationssysteme aller Art. Aus der religiösen Kollektiverfahrung entstehen die ersten Raster der Kategorisierung von Welt, bspw. in der Unterscheidung von heiligen und profanen Sphären und Dingen. Kategorien sind im historischen Prozess gesellschaftlich geschmiedete Denkinstrumente oder Werkzeuge: Wenn aber die Kategorien […], so wie wir glauben, wesentlich Kollektivvorstellungen sind, dann drücken sie vor allem Kollektivzustände aus: Sie hängen von der Art ab, wie diese Kollektivität zusammengesetzt und organisiert ist, von ihrer Morphologie, von ihren religiösen, moralischen, wirtschaftlichen usw. Einrichtungen […] Die kollektiven Vorstellungen sind das Ergebnis einer ungeheuren Zusammenarbeit, die sich nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit ausdehnt […] Daher kann die Gesellschaft die Kategorien nicht der Willkür der Individuen überlassen, ohne sich selbst aufzugeben. Um leben zu können, braucht sie nicht nur einen genügenden moralischen Konformismus; es muß auch ein Minimum an logischem Konformismus vorhanden sein, den sie nicht entbehren kann. (Durkheim 1984, 36–38)
Gesellschaften müssen also dafür Sorge tragen, dass ihre jeweiligen Mitglieder die etablierten Kategoriensysteme übernehmen. Forschungen über Rituale, Klassifikationssysteme und Stammesstrukturen australischer Aborigines dienen ihm dann zur Explikation seiner grundlegenden These, der zufolge die sozialen Klassifikationen und Ordnungen der Natur, die Belegung der Welt mit Begriffen als Resultat der Gruppenstrukturen der untersuchten Stämme anzusehen sind. Ein Stamm, der sich aus fünf Clanfamilien zusammensetzt, wird bspw. eine Kosmologie entwickeln, in der die Welt in fünf Teile aufgegliedert ist, die den jeweiligen Clanlinien entsprechen. Das sozial konventionalisierte und in seiner Integrationsfunktion unverzichtbare, überpersönliche Begriffs- und Denksystem des Alltagslebens ist die Sprache; vermittels der Begriffe „kommunizieren die menschlichen Intelligenzen“ (Durkheim 1984, 580). Sprache – und damit das System der Begriffe – ist ein kollektives Produkt: Es drückt die Art und Weise aus, wie sich die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit die Objekte der Erfahrung vorstellt. Die Begriffe, die den verschiedenen Elementen der Sprache entsprechen, sind also kollektive Vorstellungen […] Im Wort also verkörpert sich ein Wissen, an dem ich nicht mitgearbeitet habe, ein mehr als nur individuelles Wissen […] Wenn es sich aber vor allem um kollektive Vorstellungen handelt, dann fügen sie dem, was uns unsere persönliche Erfahrung lehren kann, all das hinzu, was die Gemeinschaft an Weisheit und Wissen im Lauf der Jahrhunderte angesammelt hat. (Durkheim 1984, 581–582)
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In der durchaus unterschiedlich ansetzenden Durkheimtradition geht es dann häufig um die Funktionalität der symbolischen Klassifikationen für die realen Gruppenstrukturen. So interessierte sich bspw. die Anthropologin Mary Douglas für den Konnex von Gruppenstrukturen und Risikowahrnehmung. Der Soziologe Pierre Bourdieu betonte den Zusammenhang von Klassen, Klassifikationen und der Stabilisierung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen (s. u.). Demgegenüber entwarf Michel Foucault eine historische, archäologisch-genealogische Diskursanalyse von Denksystemen, die stärker auf multiple Faktoren der Hervorbringung und Folgen von Macht/Wissen-Regimen abhob. Max Scheler schlägt Mitte der 1920er Jahre eine Unterscheidung von Wissensformen – religiöses, metaphysisches und wissenschaftlich-technologisches Wissen – vor, deren gesellschaftliche Bedeutung empirisch erforscht werden könne. Auch differenziert er zwischen „Idealfaktoren“ als den prinzipiellen, unabhängig existierenden Potenzialen von Bewusstsein und kollektiver Ideenwelt einerseits, und „Realfaktoren“ wie Blutsverwandtschaften, politische Machtverhältnisse und ökonomische Strukturen als den konkreten, faktischen Bedingungen der Selektion aus dem Bereich des Möglichen andererseits. Die spätere Wissenssoziologie greift jedoch kaum auf Schelers Bemühungen zurück. Völlig anders verhält es sich demgegenüber mit der Rezeption von Karl Mannheim, die vor allem im anglo-amerikanischen Raum bis heute als Perspektive einen wichtigen Stellenwert hat. Mannheim entwickelt ein umfassendes und explizit wissenssoziologisches Programm, das die Analyse politischer Weltanschauungen (Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus, allgemeiner: Ideologien und Utopien) ebenso beinhaltet wie diejenige von Konkurrenzprozessen in wissenschaftlichen Settings oder die Erfahrungsweisen und Weltsichten spezifischer gesellschaftlicher Gruppenlagen (Mannheim 1970). Grundlegend ist vor allem die Generalisierung der Marx-Engelsschen Ideologielehre zu einer verallgemeinerten Betonung der unaufhebbaren Standort- oder Seinsverbundenheit der Denkgebilde. Auch stellt er wegweisende Überlegungen zur empirischen Vorgehensweise der Wissenssoziologie an, die unter dem Konzept der „dokumentarischen Methode der Interpretation“ die Entwicklung der heutigen qualitativen Sozialforschung geprägt haben. Mannheim sah in gesellschaftlichen Differenzerfahrungen die wesentliche Voraussetzung und Grundlage wissenssoziologischer Reflexionen: Für einen Bauernsohn, der im engen Bezirke des Dorfes aufwächst und sein Leben lang in diesem seinem Heimatdorfe bleibt, ist das Denken und Reden in der Weise des Dorfes etwas schlechthin Selbstverständliches. Für einen Bauernsohn, der in die Stadt wandert und sich allmählich der Weise des Städters anpasst, hört die dörfliche Weise des Lebens und Denkens auf, etwas Selbstverständliches zu sein. Er hat Distanz zu ihr gewonnen und unterscheidet jetzt vielleicht sogar mit aller Bewußtheit Denkweisen und Gehalte, die er als ‚dörflich‘ bezeichnet, von solchen, die er als ‚städtische‘ kennt. In diesen Unterscheidungen liegt der erste Ansatz zu jener Haltung, die die Wissenssoziologie voll auszubilden trachtet. (Mannheim 1969, 241)
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Eine so verstandene Wissenssoziologie solle zeigen können, dass die das Wissen bestimmenden „Seinsfaktoren“ nicht nur der Erzeugung von Wissen zugrunde liegen, sondern es auch in seiner inhaltlichen Gestalt, seiner „Aspektstruktur“ prägen: Aspektstruktur bezeichnet in diesem Sinne die Art, wie einer eine Sache sieht, was er an ihr erfaßt und wie er sich einen Sachverhalt im Denken konstruiert […]: Bedeutungsanalyse der zur Anwendung gelangenden Begriffe, das Phänomen des Gegenbegriffs, das Fehlen bestimmter Begriffe, Aufbau der Kategorialapparatur, dominierende Denkmodelle, Stufe der Abstraktion und die vorausgesetzte Ontologie. (Mannheim 1969, 234)
Weitere wichtige Impulse erhält die Wissenssoziologie aus der soziologischen Wissenschaftsforschung. Ludwik Fleck (1980) hatte bereits in den 1930er Jahren vor dem Hintergrund der Schriften Durkheims und Mannheims die Rolle von sozialen Prozessen gerade auch in der wissenschaftlichen Wissensproduktion betont. Wissenschaftlergruppen bilden Denkkollektive, die einen spezifischen Denkstil verfolgen, also u. a. konventionalisierte Annahmen über Fragerichtungen, Begriffsraster, mögliche und unmögliche Zusammenhänge. Zudem ist die wissenschaftliche Wissensproduktion in einen zeitgenössischen Kontext, gesellschaftliche Problemkonjunkturen, Denktabus usw. eingebunden. All das prägt das hergestellte Wissen. Fleck nahm damit wesentliche Aussagen der späteren Arbeit von Thomas Kuhn über den Normalbetrieb von Wissenschaft vorweg. Wenig später begründete Robert Merton (1985) eine systematisierte soziologische Wissenschaftsforschung, die sich mit sozialen Einflussfaktoren auf die wissenschaftliche Wissensproduktion beschäftigte. Im Unterschied zu Fleck ging es ihm dabei allerdings vor allem um Prozesse, die sich bezogen auf das Wissenschaftsideal unabhängiger Wahrheitsproduktion als „extern“ begreifen lassen und (störende) Auswirkungen auf eine solche Wahrheitsproduktion haben können. Die sozialen oder gesellschaftlichen Faktoren in der Wissensproduktion lagerten für Merton so nicht im Innersten der Wissenserzeugung, sondern bspw. in der politischen oder ökonomischen Einflussnahme und Förderung von Forschungen, in der Zahl und Größe von Forschungseinrichtungen zu bestimmten Forschungsfeldern usw. Diese häufig als „institutionalistische Wissenschaftsforschung“ bezeichnete Richtung interessierte sich also eher für Wissenschaft als eine soziale Institution und für die konkreten Organisationsformen, in denen Wissenschaft betrieben wurde. Erst das sogenannte „strong programme“ der Wissenschaftsforschung rückte in den 1970er Jahren wieder das dabei erzeugte Wissen in den Mittelpunkt. Es wird im angelsächsischen Raum bis heute vielfach als hauptsächliche gegenwärtige Form der Wissenssoziologie betrachtet bzw. mit dem Begriff assoziiert und formuliert vier Grundmaximen: Erstens gehe es um eine Analyse der ursächlichen Bedingungen, welche Glaubensvorstellungen oder Wissensarten hervorbringen. Zweitens verhält es sich neutral in Bezug auf die Frage von Wahrheit und Falschheit eines Wissens und interessiert sich für beides. Die gleichen Faktoren müssen drittens sowohl für die Erklärung des Einen wie des Anderen herangezogen werden. Und viertens handele es sich um ein reflexives Unternehmen, weil die Erklärungen auch für die Soziologie selbst anwendbar sein
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sollten. Neben dieser Wissenssoziologie wissenschaftlichen Wissens entstanden seit den 1970er Jahren eine Vielzahl von Ansätzen der sozialwissenschaftlichen, häufig soziologisch-anthropologisch orientierten empirischen Wissenschafts- und Technikforschung, unter denen die vor allem von Bruno Latour, Michel Callon und John Law vorangetriebene Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) weltweit vielleicht die größte Resonanz erzeugt hat (Beliger/Krieger 2006). Auch im Symbolischen Interaktionismus entwickelte sich eine engagierte Wissenschaftsforschung mit Vertreterinnen wie bspw. Adele Clarke und Susan Leigh Star, die stärker die Deutungsleistungen der menschlichen Akteurinnen und Akteure in der Wissensproduktion betonten. In engem Kontakt zur ANT schlug die feministische Wissenschaftsforscherin Donna Haraway Ende der 1980er Jahre den Begriff des situierten Wissens vor, um deutlich zu machen, dass jede Wissensproduktion, auch diejenige der Wissenschaften selbst, als lokal eingebettet und immer nur partial zu begreifen sei. Während Karl Mannheim bspw. die Mathematik und die Naturwissenschaften als objektives Wissen einschätzte, das der Seinsverbundenheit entzogen sei, ist spätestens mit den Arbeiten zur Standpunktepistemologie der feministischen Erkenntnistheoretikerin Sandra Harding auf andere Weise deutlich geworden, dass die Mannheimsche Annahme der reinen Objektivität des naturwissenschaftlichen Wissens so nicht haltbar ist. Wissenssoziologische Fragestellungen und Annahmen lassen sich auch in weiteren Theorien finden. So rekurriert die von Harold Garfinkel in den 1950er und frühen 1960er Jahren in den USA begründete Ethnomethodologie auf die Sozialphänomenologie und Wissensanalyse von Alfred Schütz (s. u.), um anhand von Krisenexperimenten die Normalitätsvorstellungen und Basisregeln der Interaktion herauszuarbeiten. Krisenexperimente sind Interaktionssettings, in denen eine Person die Normalitätserwartungen ihrer Gegenüber unterläuft, indem sie bspw. harmlose Fragen und Alltagsfloskeln, aber auch situativ übliches Verhalten durch insistierendes Nachfragen oder irritierendes Tun unterbricht – etwa auf die Einstiegsfrage einer Begegnung „Wie geht es dir?“ mit nichtendenden Erzählungen oder einem unschuldigen „Wie meinst du das genau?“ zu antworten und die anschließenden Reaktionen des Gegenüber zu beobachten. Garfinkel interessierte sich auch für die Begründungen (accounts), die bspw. in Gerichtsprozessen über Schuld und Unschuld von Angeklagten hergestellt wurden. Er beobachtete hier weitreichende Interpretationsspielräume, welche die Idee einer eindeutigen Faktizität der Sachlagen komplett unterliefen. Der kanadische Soziologe Erving Goffman skizzierte mit seinem Konzept der Rahmen-Analyse eine (aus seiner Sicht) aktualisierte Variante der Situationsdefinition und der Sozialphänomenologie. Als Rahmen (frames) interessieren ihn in erster Linie diejenigen Interpretationsschemata für Situationen, die über den Wirklichkeitsstatus eines Geschehens bestimmen. Ein Beispiel dafür ist der Theaterrahmen: Durch das Setting und die Interpretation ist allen Beteiligten ebenso wie den Zuschauerinnen und Zuschauern klar, dass ein aufgeführtes Theaterstück nicht die
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alltägliche Wirklichkeit darstellt, in der wir leben, sondern einen zeitlich begrenzten Sonderbereich, der Handlung und Darstellung für Andere konstituiert. Grundlegende Rahmen (oder in der Sprache von Alfred Schütz: Deutungsschema) sind allerdings auch die Unterscheidungen zwischen Natur und Kultur, Körper und Geist usw., also letztlich alle Deutungsschablonen, die Phänomene in spezifischer Weise konfigurieren. Die Rahmen-Analyse wurde vor allem – wenn auch selektiv – in der soziologischen Forschung zu sozialen Bewegungen rezipiert (s. u.). Im Unterschied zur aktuellen diskurslinguistischen Frame-Analyse fällt auf, dass Goffman und anschließende Arbeiten trotz der Hinweise auf die Bedeutung von Drehbüchern bzw. Skripts, also Mustern für übliche Interaktionsabläufe und -beziehungen, keine Bezüge zur Kognitiven Semantik, Kognitiven Soziologie oder Kognitiven Anthropologie herstellen, die insgesamt in der soziologischen Wissensforschung marginal geblieben sind. Während wie erwähnt im anglo-amerikanischen Raum Wissenssoziologie in erster Linie als Wissenschafts- und Technikforschung verstanden und betrieben wird, finden sich im französischen Sprachraum kaum Bezüge auf diese soziologische Teildisziplin. Gewiss wurde insbesondere die ANT wegen der teilweisen Verankerung ihrer Protagonisten in Frankreich rezipiert. Doch andere wissenssoziologische Ansätze nahm man kaum zur Kenntnis. Am ehesten lässt sich stattdessen wohl die Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu in den Zusammenhang der Wissenssoziologie setzen. Bourdieu untersuchte in der Perspektive seines genetischen Strukturalismus sowohl Symbolordnungen des kabylischen Hauses wie auch die feinen Unterschiede der Geschmäcker zwischen den französischen Klassenformationen der 1960er Jahre oder in Bezug auf die soziale Hierarchie von Männern und Frauen. Klassifikationen sind gesellschaftliche Einteilungen von Dingen, Menschen, Kleidungen, Kunst, Phänomenen aller Art nach unterschiedlichen Dimensionen. Der Begriff des Habitus, die „Leib gewordene Geschichte“ (Bourdieu 1985, 69) bezeichnet ein in Sozialisationsprozessen inkorporiertes und strukturiertes System stabiler Dispositionen – Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata –, ein praktisches Wissen, das als gesellschaftliche, unhinterfragte doxa die Praxisformen der Akteure erzeugt und strukturiert: Wer sich in dieser Welt ‚vernünftig‘ verhalten will, muß über ein praktisches Wissen von dieser verfügen, damit über Klassifikationsschemata […], mit anderen Worten über geschichtlich ausgebildete Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die aus der objektiven Trennung von ‚Klassen‘ hervorgegangen (Alters-, Geschlechts-, Gesellschaftsklassen), jenseits von Bewußtsein und diskursivem Denken arbeiten. Resultat der Inkorporierung der Grundstrukturen einer Gesellschaft und allen Mitgliedern derselben gemeinsam, ermöglichen diese Teilungs- und Gliederungsprinzipien den Aufbau einer gemeinsamen sinnhaften Welt, einer Welt des sensus communis. (Bourdieu 1982, 730)
Bourdieu geht davon aus, dass bspw. die gesellschaftlichen Geschmackshierarchien und die darauf bezogenen Kategorienbildungen ein Ausdruck der gesellschaftlichen Klassenverhältnisse sind. Allgemein gilt öffentlich das als wertvoll, was Aus-
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druck des Oberklassegeschmacks ist, während die populäre Musik, das populäre Essen, der billige Tand Ausdruck der Volksklasse ist: Darum geht es in den Auseinandersetzungen um die Definition des Sinns der Sozialwelt: um Macht über die Klassifikations- und Ordnungssysteme, die den Vorstellungen und damit der Mobilisierung wie Demobilisierung der Gruppen zugrunde liegen. Es geht um das Evokationsvermögen der sprachlichen Äußerung, das anders sehen läßt […] oder das, indem es Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata modifiziert, anderes sehen läßt […]; es geht um das Trennungsvermögen, Distinktion […], das aus der unteilbaren Kontinuität diskrete Einheiten auftauchen läßt, aus dem Undifferenzierten die Differenz. […] Die Kämpfe zwischen den individuellen wie kollektiven Klassifikations- und Ordnungssystemen, die auf eine Veränderung der Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien der sozialen Welt selbst abzielen, bilden eine vergessene Dimension der Klassenkämpfe. (Bourdieu 1982, 748–755)
Die Klassifikationen und auch die Sprache, die nach Bourdieu eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung symbolischer Herrschaft spielt, stabilisieren die sozialen Hierarchien; in einem permanenten und vergeblichen Wettlauf sind vor allem die Mittelklassen bemüht, sich den Geschmack der Oberklasse habituell anzueignen – ein Vorhaben, das zum Scheitern verurteilt ist. Arbeiten von Michel Foucault sind mitunter als Beispiel einer historischen Wissenssoziologie interpretiert worden. Tatsächlich lassen sich seine verschiedenen empirisch-historischen Untersuchungen der Diskurse und Dispositive bzw. allgemeiner der Macht/Wissen-Regime, die je spezifische Teilvorstellungen des modernen Subjekts – seiner körperlichen und geistigen Verfasstheit, seiner Lüste, seiner moralischen Verantwortlichkeit, seiner Stellung in der Naturgeschichte – als eine Variante von Wissenssoziologie begreifen. Foucault rekurriert in seiner empirischen Wendung der Philosophie hin zu problembezogenen Untersuchungen zum einen auf Nietzsches Forderungen nach Studien über die je historisch variierenden Arten und Weisen des Menschseins; zum anderen entwirft er unter Nutzung von Begriffen wie Denksysteme oder eben auch Klassifikationen, die Affinitäten zur Durkheimtradition aufweisen, eine empirische Geschichte – Archäologie und Genealogie – des Wissens, die einerseits vor allem die Rolle und Funktionsweise unterschiedlicher Wahrheitsspiele in den Blick nimmt, andererseits an komplexen Erzeugungskonstellationen und Effekten festhält, die sich einfachen Schematisierungen (etwa des Marxismus oder der Psychoanalyse) entziehen (Foucault 1988; Keller 2008). Die deutschsprachige Soziologie ist wohl der sprachräumliche Kontext, in dem sich seit den 1970er Jahren am deutlichsten eine nicht auf Wissenschaftsforschung und Klassifikationspraktiken beschränkte, sondern äußerst breit ansetzende Wissenssoziologie mit einer seit 2000 eigenständigen Teilsektion innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie etabliert hat. Auch im deutschsprachigen Raum sind verschiedene Wissenssoziologien vertreten. Neben der schon erwähnten Wissenschafts- und Technikforschung oder Ansätzen in der Tradition Mannheims hat bspw. Niklas Luhmann im Rahmen seiner Theorie autopoietischer Systeme seit den
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1980er Jahren mehrere systemtheoretisch-wissenssoziologische Beiträge zum Zusammenhang von Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft – so der Titel einer dazu aufgelegten mehrbändigen Buchreihe des Autors – vorgelegt. Gesellschaftsstruktur meint hier etwas deutlich anderes als bei Pierre Bourdieu. Während letzterer an gesellschaftlichen Klassenstrukturen und dem Verteilungskampf um ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital in gesellschaftlichen Feldern interessiert war, bezieht sich der Begriff im Werk von Luhmann auf den historischen Stand der Differenzierungsform von Gesellschaften entlang der Unterscheidung von segmentärer, stratifikatorischer und funktionaler Differenzierung. Diesen drei Gesellschaftstypen entsprechen grob gesagt klanförmig organisierte Stammesgesellschaften, die mittelalterliche Ständegesellschaft und die moderne Gegenwartsgesellschaft. Angeregt durch die Bielefelder Begriffsgeschichte um Reinhart Kosellek fragt Luhmann nach der Rolle spezifischer Semantiken im Rahmen – als Voraussetzung, Begleiterscheinung oder Folge – der gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse. Bspw. wird die Idee romantischer Liebe im Zusammenhang moderner funktionaler Differenzierung gesehen, wo sie dem tatsächlichen Bedeutungsverlust des Individuums die Vorstellung einer idealisierten Einzigartigkeit für ein Gegenüber verheißt. Wissen gilt ihm als kondensierte und revidierbare Erfahrung, historisches Ergebnis der evolutionären Prozesse von Variation, Selektion und Stabilisierung. Sehr viel breiteren Raum nimmt allerdings seit den 1980er Jahren die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann ein (Berger/Luckmann 1980). Die von den Autoren 1966 vorgelegte Theorie der Wissenssoziologie stellt in verschiedener Hinsicht ein Schlüsselwerk der weiteren wissenssoziologischen Entwicklungen dar. Als Wissen gilt den Autoren alles, was in einer Gesellschaft als Wissen anerkannt ist – eine Begriffsbestimmung, die später vom erwähnten strong programme der Wissenschaftsforschung aufgegriffen wurde. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit wird als permanenter Prozess der interaktiven Objektivierung und Stabilisierung sowie der sozialisatorischen Aneignung von Wissensordnungen beschrieben. Max Webers Grundlegung der verstehenden Soziologie liefert das Fundament einer handlungstheoretisch angelegten Perspektive auf die Bedeutung des Sinnverstehens und das Soziale als Sinnzusammenhang. Mit Durkheim interessieren sich Berger/Luckmann aber gerade für diejenigen Mechanismen, durch die symbolische Ordnungen als entfremdete Produkte menschlichen Handelns und Zwang ausübende soziale Dinge (Emile Durkheim) erscheinen. Alfred Schütz wird mit seinen mundanphänomenologischen Analysen der Konstitution von Wirklichkeit im individuellen Bewusstsein herangezogen, um die Aufschichtungen und Zusammenhänge zwischen individuellen und kollektiven Wissensvorräten zu beschreiben und die Wirkweise des Wissens bei der Strukturierung menschlicher Praxis zu erfassen. Sie führen Berger/Luckmann auch zur Betonung der Wirklichkeitsordnung der alltäglichen Lebenswelt, des Allerwelts- oder Jedermann-Wissens als permanent produzierte und reproduzierte Grundlage der
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gesellschaftlichen Ordnung. Die pragmatistische Sozialtheorie des Symbolischen Interaktionismus bietet dann nicht nur eine Vorstellung über die konkreten Aushandlungsprozesse von Situationsdefinitionen und Wissensbeständen, sondern mit der Meadschen Sozialisationstheorie auch die Grundgedanken dafür, wie gesellschaftliche objektivierte Wissensbestände in Sozialisationsprozessen wiederum angeeignet und damit weitergegeben werden. In dieser Theorie gilt als Wissen alles, was Bedeutung trägt, Sinn macht oder doch sinnvoll interpretiert werden kann, etwa Handlungsmuster, Deutungsmuster, Normen und Regeln, Sprache, Klassifikationen, Institutionen, Berufe, wahrgenommene Gefühle und Empfindungen, Experten-, Professionellen-, Routine- und Referenzwissen. Der gesellschaftliche Wissensvorrat ist komplex, keineswegs homogen und konsistent; es gibt soziale Strukturen seiner Verteilung und Differenzierung. Nicht jeder verfügt über alles Wissen; nicht jede lebt damit – zumindest in modernen Gesellschaften – in der gleichen Welt. Es gibt Experten, Spezialistinnen für dies und das, aber auch unwissende Laien. Es gibt Hierarchien der Wissensverteilung und differenzierte, ungleiche Chancen, Wissen zu produzieren, gesellschaftlich durchzusetzen oder sich individuell anzueignen. Nach sozialen Orten und Gruppenzugehörigkeiten werden unterschiedliche Bestandteile dieses Wissensvorrates subjektiv angeeignet und relevant. Prozesse gesellschaftlicher Objektivierung von Sinn – etwa durch Zeichensysteme, Institutionen, Sprache und materielle Objekte – sind konstitutiv für das soziale Wirklichwerden der Wirklichkeit: „Wissen über die Gesellschaft ist demnach Verwirklichung im doppelten Sinne des Wortes: Erfassen der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige Produzieren eben dieser Wirklichkeit in einem“ (Berger/Luckmann 1980, 71). Der gesellschaftliche Wissensvorrat bildet ein Sinnreservoir, das den Einzelsubjekten als historisch vorgegeben und sozial auferlegt, als sozio-historisches Apriori entgegentritt. Die intersubjektiv verbindlichen Erfahrungsschemata bauen auf elementaren Typisierungen der Wirklichkeit auf und bilden eine grundlegende Schicht gesellschaftlich anerkannter Problemlösungen, die durch sprachliche Objektivierung in einen geschichtlichen Bedeutungszusammenhang gestellt und Teil des kollektiven Wissensvorrates werden; insoweit konstituieren Zeichensysteme ein sozio-historisches Apriori (Luckmann 2003, 20–21). Basale gesellschaftliche Prozesse der Wissenskonstruktion verlaufen als Stufenabfolge der situativen Externalisierung von Sinnangeboten, der interaktiven Verfestigung von Handlungen und Deutungen in Prozessen der wechselseitigen Typisierung durch unterschiedliche Akteure, der habitualisierten Wiederholung, der Objektivation durch Institutionenbildung etwa in Rollen und der Weitergabe an Dritte in Formen sozialisatorisch vermittelter Aneignung. Neben der Untersuchung der Gesellschaft als objektiver Wirklichkeit wenden sich Berger und Luckmann der Gesellschaft als subjektiver Wirklichkeit und damit der Frage nach der Internalisierung dieser Ordnung in das individuelle Bewusstsein zu. Dieser Aneignungsprozess bildet die allgemeine Grundlage für mensch-
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liches Handeln in historisch konkreten Gesellschaften. Menschen bringen qua Geburt eine Disposition für Gesellschaft mit auf die Welt und internalisieren insbesondere in Prozessen der primären Sozialisation die basalen Wissensstrukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Berger/Luckmann 1980, 139–148). Im Anschluss an sozialisationstheoretische Überlegungen insbesondere von George Herbert Mead gehen sie von der Vermittlung der gesellschaftlichen Strukturen in das kindliche Bewusstsein durch signifikante Andere aus, ein Prozess, der über die Identifikation mit diesen Anderen deren Einstellungen zum eigenen Selbst in einem dialektischen Prozess spiegelt. Aus der aus Sicht des Kindes relativen Alternativlosigkeit bezüglich der signifikanten Anderen resultiert die tiefgreifende Einschreibung des durch diese Anderen spezifisch gefilterten gesellschaftlichen Wissensvorrates in das kindliche Bewusstsein. Demgegenüber setzen die Prozesse der sekundären Sozialisation in unterschiedliche gesellschaftliche Subsinnwelten erst zu einem Zeitpunkt ein, wo eine weitreichende Grundformung, eine Ausstattung mit den erforderlichen Basiskompetenzen des Lebens in Gesellschaft erreicht ist. Sekundäre Sozialisation ist ein Prozess, der sich über das ganze Leben erstrecken kann und immer wieder neue Sozialisationen im Hinblick auf erlebte Subsinnwelten erfordert: Sekundäre Sozialisation ist die Internalisierung institutionaler oder in Institutionalisierung gründender ‚Subsinnwelten‘. Ihre Reichweite und ihre Eigenart werden daher von der Art und dem Grade der Differenziertheit der Arbeitsteiligkeit und der entsprechenden gesellschaftlichen Verteilung von Wissen bestimmt. Auch allgemein relevantes Wissen kann natürlich gesellschaftlich bemessen sein – zum Beispiel in Form von Klassen-‚Versionen‘. Was wir jedoch hier meinen, ist die gesellschaftliche Verteilung von ‚Spezialwissen‘, das heißt Wissen, das als Ergebnis der Arbeitsteiligkeit entsteht und dessen ‚Träger‘ institutionell bestimmt sind. […] Die sekundäre Sozialisation erfordert das Sich-zu-eigen-Machen eines jeweils rollenspezifischen Vokabulars. Das wäre einmal die Internalisierung semantischer Felder, die Routineauffassung und -verhalten auf einem institutionalen Gebiet regulieren. Zugleich werden die ‚stillen Voraussetzungen‘, Wertbestimmungen und Affektnuancen dieser semantischen Felder mit erworben […] auch die Subwelten sind mehr oder weniger kohärente Wirklichkeiten mit normativen, kognitiven und affektiven Komponenten. (Berger/Luckmann 1980, 149)
Die Aufrechterhaltung der jeweiligen Sinnbezüge im individuellen Bewusstsein erfordert unablässig einen kommunikativen Input: Das notwendigste Vehikel der Wirklichkeitserhaltung ist die Unterhaltung. Das Alltagsleben des Menschen ist wie das Rattern einer Konversationsmaschine, die ihm unentwegt seine subjektive Wirklichkeit garantiert, modifiziert und rekonstruiert. […] Der Austausch von ein paar Worten wie: ‚So allmählich wird’s Zeit, daß ich zum Bahnhof gehe‘ und: ‚Stimmt, Schatz, mach’s gut im Büro‘, setzt eine ganze Welt voraus, innerhalb deren die anscheinend so einfachen Aussagen Sinn haben. Kraft dieser Eigenschaft bestätigt ein solcher Austausch die subjektive Wirklichkeit der Welt. (Berger/Luckmann 1980, 163)
Berger und Luckmann haben ihre Theorie der Wissenssoziologie insbesondere auf religionssoziologische Fragen bezogen. Das kann hier nur kurz angedeutet werden: Unter den verschiedenen Möglichkeiten, über die Institutionen verfügen, um sich
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zu rechtfertigen, also in ihrem Bestehen und ihrem Geltungsanspruch zu legitimieren, stellt der Hinweis auf einen außerweltlichen Entstehungsgrund eine besonders erfolgreiche oder zumindest erfolgversprechende Option dar (vgl. Berger 1973 [1967]). Wenn die Götter (oder der eine Gott) als Schöpfer gewirkt und die diesseitig erfahrbare Ordnung der Wirklichkeit geschaffen haben, so kann das die Unantastbarkeit dieser Ordnung in besonderer Weise garantieren (wenn auch nicht, wie die historische Erfahrung zeigt: bis in alle Ewigkeit). Denn dann entstammt sie nicht menschlichen Interessen und dient diesen auch nicht, sondern sie entspricht einem die Existenz des Menschen transzendierenden Willen, einer Schöpfung, der zu folgen ist. Eine entsprechende Theorie oder Kosmologie der Wirklichkeit kann dann eigene Institutionen, Vertreter und Rituale erzeugen, die dazu beitragen, sie über die Zeit, den Raum und die Grenzen sozialer Kollektive hinaus zu stabilisieren und zu verbreiten. Dies geschieht in Gestalt von Kirchen, die verstanden werden können als auf Dauer gestellte Bekräftigungen des Glaubens, und die dafür die notwendigen Einrichtungen (Sakramente, Wandlungen, ekstatische Erfahrungen …) bereitstellen. Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für eine wissenssoziologische Analyse in der Tradition des Sozialkonstruktivismus liefern Berger/Berger/Kellner (1987) über das Unbehagen in der Modernität. Dort werden Auswirkungen von strukturellen Einbindungen in Arbeitsprozesse und soziale Gruppen in ihren Wirkungen auf gesellschaftliche Bewusstseinslagen untersucht, oder kurz: der Zusammenhang von Institutionen der Produktion und den Bewusstseinsprozessen der Individuen. Dies geschieht im Vergleich zwischen modernen westlichen Industriegesellschaften und Gesellschaften, denen in öffentlichen Debatten Modernisierungsrückstände attestiert wurden. Da die Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zu einem Standardwerk der soziologischen Literatur (und darüber hinaus) geworden ist, finden sich in der heutigen Soziologie zahlreiche direkte und implizite Anknüpfungen an die dort entwickelte Position. Der in den USA begründete soziologische Neo-Institutionalismus von John Meyer bspw. versteht sich als explizite Fortführung des Programms im Hinblick auf die gesellschaftlichen Makroebenen der institutionellen Ordnung auf Weltebene. Im deutschen Sprachraum unternimmt die Hermeneutische Wissenssoziologie (Hitzler/Reichertz/Schröer 1999) den direkten Anschluss an den Sozialkonstruktivismus. Im Unterschied zu den weit ausholenden religionssoziologischen Analysen von Berger und Luckmann folgen die Vertreterinnen und Vertreter dieser Wissenssoziologie einer stark empirischen und interpretativen Forschungsorientierung, wie sie auch die Arbeiten des Symbolischen Interaktionismus auszeichnet. So heißt es bspw. 1994 in der namengebenden Grundlegung, die Hermeneutische Wissenssoziologie wolle (re)konstruieren, aufgrund welcher Sinnbezüge Menschen handeln, wie sie handeln. Gefragt wird, wie Subjekte, hineingeboren in eine historisch und sozial vorgedeutete Welt, diese Welt permanent deuten und somit auch verändern. Pointiert: es geht um die (Re)konstruktion der
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Prozesse, wie handelnde Subjekte sich in einer historisch vorgegebenen sozialen Welt immer wieder ‚neu‘ finden, d. h. auch: zurechtfinden und wie sie dadurch zugleich auch diese Welt stets aufs Neue erschaffen und verändern. (Reichertz/Schröer 1994, 59)
Das führte in der Hermeneutischen Wissenssoziologie vor allem zu der bereits von Alfred Schütz aufgeworfenen Frage zurück, wie wissenschaftliche Analyseprozesse als Verstehensprozesse zu begreifen und einer gewissen methodologischen Reflexion und methodischen Systematik des Vorgehens zu unterziehen sind. Daher rührt das neue Attribut des Hermeneutischen. Ergänzt wird die wissenssoziologische Grundperspektive der Gesellschaftlichen Konstruktion um eine Reflexion auf die methodologischen Implikationen und methodischen Vorgehensweisen einer empirischen Wissenssoziologie, die darüber Auskunft geben muss, wie sie zu ihren gegenstandsbezogenen Aussagen über Wirklichkeit, Wissen, Deuten und Handeln gelangt. Dazu schließt sie an die Grundüberlegungen von Hans-Georg Soeffner zur sozialwissenschaftlichen Hermeneutik an: Es geht also nicht nur darum, das implizit und intersubjektiv bereits Gedeutete und Verstandene rekonstruktiv und objektivierend zu deuten, zu verstehen und in seinen Bedingungen und Folgen zu erklären, sondern auch darum, die Arbeitsweise und die Verfahren des Deutens und Verstehens selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen. Dabei bewegt man sich – auch in wissenschaftlicher Einstellung – nicht gegenüber einer weitgehend symbolisch ausgedeuteten Welt, sondern in ihr. (Soeffner 1989, 8)
Gegenwärtig betont der in den erwähnten Traditionen verankerte Kommunikative Konstruktivismus (Keller/Knoblauch/Reichertz 2013) die bereits von Berger und Luckmann unterstrichene Rolle der Kommunikationsprozesse bei der permanenten Aufrechterhaltung und Transformation gesellschaftlicher Wirklichkeit. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse (Keller 2010, s. u.) entwirft in der Zusammenführung von Berger/Luckmann mit dem Interpretativen Paradigma und den Diskursüberlegungen Michel Foucaults ein Forschungsprogramm zur Untersuchung gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken, das Diskurse als spezifische Formen der gesellschaftlichen Prozessierung von Wissen begreift. Auch aus anderen diskurstheoretischen Perspektiven wird die „diskursive Konstruktion von Wirklichkeit“ (Keller u. a. 2005) diskutiert. Knoblauch (2014) und Schützeichel (2007) geben aktuelle Überblicke über die Breite wissenssoziologischer Forschungen. Untersucht wurden bspw. Wissensvorräte von Expertinnen und Experten sowie Professionellen, in Organisationen, medialen Formaten, im Hinblick auf die alltägliche Einbettung von Problemwahrnehmungen und vieles andere mehr. Methodologisch-methodisch arbeitet die anglo-amerikanische Soziologie wissenschaftlichen Wissens mit ethnographischen Methoden (mehr oder weniger teilnehmende Beobachtungen), Dokumenten-, Interaktions-, Organisations- und Institutionenanalysen, während die wissenssoziologischen Forschungen im deutschsprachigen Raum hermeneutisch-rekonstruktive Formen der Analyse von Sinnsetzungen präferieren (Hitzler/Honer 1997). Dabei wird davon ausgegangen,
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dass Bedeutungsaufbau bzw. Sinnkonstruktion im Zeichengebrauch sequenziell erfolgt, und dass dieser Prozess in der analytischen Rekonstruktion aufgeschlüsselt wird. Es bedarf deswegen sehr genauer Wort für Wort, Zeile für Zeile, Satz für Satz vorgehender Interpretationsarbeit, die vor allem voreiliges und vorschnelles Ein-Urteilen methodisch disziplinieren will. Dabei richtet sich die Interpretation nicht auf einzelne Wortarten oder grammatikalische Verknüpfungen, sondern auf die im Zeichengebrauch manifesten Wissens- und Wirklichkeitsbezüge sowie -herstellungen.
3 Wissen, Sprache, Zeichen, Diskursuniversum Die Konjunktur der Sprachsoziologie lässt sich auf die Zeit von Mitte der 1960er Jahre bis in die erste Hälfte der 1980er Jahre datieren. Dabei wurden umfangreiche Bezüge zu sprachwissenschaftlichen Theorien und Forschungen hergestellt (Schütze 1975; Luckmann 1979). Vor dem Hintergrund der ethnomethodologisch inspirierten Konversationsanalyse, der Sprechakttheorie und weiterer linguistischer Perspektiven wurden zum einen sprachlich vermittelte Interaktionen und der Einsatz kommunikativer Gattungen untersucht. Hinzu kamen Forschungen zu Sprachmilieus und zur Bedeutung von Sozialisation für die Unterschiedlichkeit des Sprachgebrauchs im Hinblick auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit. Gegenwärtig ist die sprachsoziologische Forschung aus der Disziplin weitgehend verschwunden bzw. durch den sehr unterschiedlich verwendeten Begriff der Kommunikation ersetzt worden, der eher auf Bedeutungsherstellung und -vermittlung verweist und wohl auch der Allgegenwart neuer Kommunikationsmedien Rechnung trägt (Schützeichel 2004; Keller/Knoblauch/Reichertz 2013). Dennoch hat zumindest in der Tradition der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie das Verhältnis von Zeichen, Sprache und Bedeutung eine theoriestrategisch zentrale Funktion. Luckmann betont sogar, das Berger/Luckmannsche Programm sei explizit als eine „sprachsoziologisch interessierte(n) und relevante(n) Version der Wissenssoziologie“ (Luckmann 1979, 12–13) zu verstehen. Obwohl die strukturalistische Theorie der Langue von Ferdinand de Saussure unmittelbare Bezüge zur soziologischen Institutionentheorie von Emile Durkheim aufweist, wurde die entsprechende Zeichentheorie in der Soziologie kaum aufgegriffen, wenn man von ihrem Einfluss auf die Bourdieusche Soziologie der 1960er und 1970er Jahre und auf einzelne Arbeiten Jean Baudrillards (Das System der Dinge) absieht, und Roland Barthes Überlegungen zum System der Mode usw. nicht direkt der Soziologie zurechnet. Sehr viel bedeutsamer war demgegenüber die Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce, die den Zeichengebrauch, die Zeichentypen und die Zeichenfunktionen in den Vordergrund stellte. George Herbert Mead entwickelte in den 1920er Jahren vor deren Hintergrund seine Überlegungen zur gesellschaftlichen Erzeugung signifikanter Symbole und zu deren sozialisatorischer Vermittlung, durch die Menschen
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deutungs-, handlungs- und interaktionsfähig werden. Spezifischer mit der Rolle von Sprache, Zeichen und Deutungsschemata bei der Sinnkonstitution im individuellen Bewusstsein, d. h. bei der Transformation von sinnlichem Erleben in reflexiv verfügbare Erfahrung befasste sich der Sozialphänomenologe Alfred Schütz seit den 1930er Jahren – ebenfalls eine zentrale Theoriegrundlage des Sozialkonstruktivismus. Schütz (1974 [1934]) analysierte im Anschluss an Henri Bergson und Edmund Husserl, wie im zeitlichen Strom des Bewusstseins aus den Empfindungen Gedanken entstehen, d. h. Formen der Selbstzuwendung des Bewusstseins, die den Bewusstseinsstrom unterbrechen und ihn selbst zum Gegenstand der Reflexion machen, oder anders ausgedrückt: ungeordnetes sinnliches Erleben in gedanklich repräsentierte Erfahrung übersetzen. Jeder dabei feststellbare Zeichengebrauch, jede Zeichenerzeugung beruht auf einer appräsentativen Bewusstseinsleistung, die einen Verweisungszusammenhang zwischen dem präsenten Zeichen und einem nicht präsenten „Datum“, seiner „Bedeutung“ (Luckmann 1980, 101–102) organisiert. Der Appräsentationsprozess beinhaltet vier Dimensionen: die Apperzeption (Wahrnehmung) eines Zeichenphänomens; die eigentliche Appräsentation als Verweisrelation (etwa die Zurechnung eines Kreidestriches als Schriftzeichen), ein Referenzschema (der Bereich der Gegenstände, auf die verwiesen wird) und eine allgemeine Rahmen- oder Deutungsordnung (welcher Code – bspw. die deutsche Sprache – liegt dem zugrunde). Schütz insistiert darauf, dass die entsprechenden Appräsentationsleistungen sich nicht nur auf ein isoliertes Zeichen bzw. Bewusstseins-Objekt beziehen, sondern auf ein Netz von Verweisungen, in das es eingebunden ist: Jeder Gegenstand ist Gegenstand innerhalb eines Felds, zum Beispiel eines Wahrnehmungsfelds; jede Erfahrung ist von einem Horizont umgeben; beide gehören zu einem bestimmten Bereich (einer ‚Ordnung‘), der seinen eigenen Stil hat. […] Ein mathematisches Objekt, zum Beispiel ein gleichseitiges Dreieck, verweist auf alle Axiome und Theoreme, welche dieses mathematische Objekt definieren, wie auch auf alle Theoreme usw., die im Begriff der Dreieckigkeit und der Gleichseitigkeit gründen, so auf ein regelmäßiges Viereck und schließlich auf eine geometrische Figur im allgemeinen. (Schütz 1971, 344)
Sprache ist das Hauptmedium, in dem Bedeutungen und Sinnstrukturen als Teile gesellschaftlicher Wissensvorräte in Erscheinung treten: Die objektivierte soziale Welt wird von der Sprache auf logische Fundamente gestellt. Das Gebäude unserer Legitimationen ruht auf der Sprache, und Sprache ist ihr Hauptargument. (Berger/Luckmann 1980, 69)
Die historisch je spezifisch entstandene und objektivierte bzw. institutionalisierte Sprache objektiviert Welt, weil sie dem individuellen menschlichen Erleben eine Ordnung zur Verfügung stellt. Sie ist umfassender Bestandteil dessen, was Schütz bzw. Schütz/Luckmann (1979; 1984) als gesellschaftlichen Wissensvorrat bezeichnen:
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Sprache ist sowohl das Hauptmedium der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, als auch das Hauptmedium der Vermittlung gesellschaftlich konstruierter Wirklichkeit. […] [Jene] Erfahrungsschemata, die intersubjektiv oder gar sozial relevant sind, werden in der Abfolge der Generationen als Stellungnahmen zur Wirklichkeit […] sprachlich ausgeformt. Sobald das geschehen ist, üben sie ihrerseits einen Einfluß auf individuelle Erfahrung und soziales Handeln aus, in der Weise sowohl einer historisch vorgezeichneten Wirklichkeitstopographie (von Pflanzentaxonomien bis zu Verwandtschaftssystemen) als auch einer Handlungslogik (von Beschwörungsritualen bis zu Verkaufsgesprächen). […] Als Wissensform ist die Sprache sozial (ungleich) verteilt; als Handlungssystem aktualisiert sie sich in (konkreten) Situationen und (kontingenten) Abläufen. (Luckmann 1980, 117f)
Die entsprechenden Zeichen/Typisierungen werden als kollektiver Wissensvorrat gespeichert und in Sozialisationsprozessen subjektiv angeeignet. Sie funktionieren dann, bezogen auf das individuelle Erleben, gleichzeitig als Schemata der aktiven Erfahrung oder Wahrnehmung (Apperzeption) und als solche der über das Zeichen hinausweisenden Deutung, der Appräsentation, also der Interpretation des Wahrgenommenen und des intervenierenden Deutens/Handelns. Schütz spricht auch im Anschluss an den Pragmatismus bzw. Mead (1963, 89–90) sowie dessen Schüler Charles Morris von Diskursuniversen bzw. Diskurstypen (etwa dem Diskursuniversum der Mathematik) als umfassenderen kollektiv erzeugten Deutungszusammenhängen, sowie von den verschiedenen Symbolsystemen etwa der Kunst, Religion, Politik und Philosophie, die nur in loser Verbindung zueinander stehen und ein besonderes Merkmal der Gegenwart darstellen. Der historisch entstandene und situierte Wissensvorrat menschlicher Kollektive ist dem einzelnen Individuum vorgegeben. In Gestalt der existierenden Institutionen zwingt er sich der vorsozialisatorischen tabula rasa des individuellen Bewusstseins auf.
4 Soziologische Diskursforschung als Analyse des Kampfes um die Durchsetzung kollektiver Situationsdefinitionen Seit Ende der 1950er Jahre übertrug der Symbolische Interaktionismus das weiter oben erwähnte Konzept der Situationsdefinition auf die öffentlich ausgetragenen Konflikte zwischen kollektiven gesellschaftlichen Akteuren und deren Konstruktion sozialer Probleme, etwa in Gestalt der öffentlichen Aktivitäten moralischer Unternehmer, die durch ihre Etikettierungsprozesse bestimmten Verhaltensweisen das Label abweichend zuweisen (klassisch z. B. Becker 1981). Später wurde dieser Ansatz allgemeiner auf die Analyse der gesellschaftlichen Konstruktion sozialer Probleme und das claim/meaning making ganz unterschiedlicher Akteure hin ausgeweitet. Eine klassische Studie stellt hier Joseph Gusfields Analyse der USamerikanischen Politiken zur Regulierung von ‚Trunkenheit am Steuer‘ dar. Gusfield (1981) analysiert die Karriere umstrittener öffentlicher Problemdefinitionen
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sowohl im Hinblick auf ihre konkret-materiellen Aspekte (Institutionen, Mittel und Folgen), auf ihre semantisch-symbolische Ebene, die verschiedenen, in Konflikte verstrickten Akteure und auf die eingesetzten Sprach-, Argumentations- und Visualisierungsstrategien. Dabei betont er die wirklichkeitskonstituierende Macht der produzierten symbolischen Ordnungen ebenso wie ihre exkludierende Funktion im Hinblick auf andere Deutungsmöglichkeiten. Öffentliche Diskurse werden als Wirklichkeitsbereiche sui generis betrachtet, deren gesellschaftliche Funktion in der ritualistischen Vergegenwärtigung der Möglichkeit des Bestehens symbolischer und damit sozialer Ordnung liegt. Neben den mit der Faktenherstellung befassten Wissenschaften (einschließlich der Unfallstatistiken, Blutproben, Testverfahren und Rhetorik wissenschaftlicher Berichte) zählen dazu die zugrunde liegende Theorie des Autofahrers als Unfallverursacher, die soziale Organisation der Datengrundlage einschließlich der involvierten Akteure (z. B. der Nationale Sicherheitsrat), die Dramatisierung des Phänomens in der öffentlichen Arena und die Behandlung im Recht. Der gesamte Prozess wird als öffentlich-dramatisches Ritual der Schaffung einer kollektiven moralischen Ordnung interpretiert. Im Kontext solcher Untersuchungen und Perspektiven entwickelten Hilgartner/Bosk (1988) ein Karrieremodell sozialer Probleme. Soziale Probleme sind demnach Phänomene, die in Arenen öffentlicher Diskurse und öffentlichen Handelns als problematisch etikettiert werden. Ihre Karriere wird durch die Kontexte öffentlicher Aufmerksamkeit (mit) bestimmt. Dazu zählen die institutionellen Strukturen der Medien und die Aufmerksamkeitsökonomie des Publikums. In der Folge erwies sich dann im Kontext der 1980er Jahre insbesondere die Nutzung der symbolischinteraktionistischen Perspektiven in der Forschung über soziale Bewegungen und deren Mobilisierungsanstrengungen als einflussreich. Im Anschluss an das zusätzlich eingebundene Goffmansche Konzept des framing konzentrierten sich diese Forschungen auf die strategischen Deutungsanstrengungen, mit denen soziale Bewegungen versuchen, öffentliche Anhängerschaften für ihre Anliegen zu mobilisieren (Benford/Snow 2000; zur Kritik: Ullrich/Keller 2014). Dabei entwickelte vor allem William Gamson mit verschiedenen Kolleginnen und Kollegen eine nach einer qualitativ-explorativen Phase dann quantifizierend-inhaltsanalytisch ausgerichtete Frame-Analyse massenmedialer Diskursprozesse auf der Grundlage sehr großer Datenkorpora, die über Codierschemata analysiert wurden. Erfasst wurden bspw. Akteure, Metaphern und andere rhetorische Mittel, Rahmungsstrategien usw. (Gamson/Modigliani 1988; Gamson/Stuart 1992).
5 Aktuelle soziologische Diskursforschung und Wissenssoziologische Diskursanalyse Seit Anfang bis Mitte der 1990er Jahre entwickelt sich in der deutschsprachigen Soziologie eine vor allem durch die Arbeiten Michel Foucaults inspirierte Diskurs-
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forschung, die z. T. eher inhaltsanalytisch, z. T. eher diskurstheoretisch oder aber als eigenständiges Theorie-Methoden-Paket angelegt ist (vgl. Keller 1997; Keller u. a. 2010, 2011; Bührmann u. a. 2007; Angermüller u. a. 2014). Die in diesem Zusammenhang entstehenden Forschungen nehmen auch politisch-diskursive Konflikte in den Massenmedien oder politischen Arenen in den Blick. Empirische Schwerpunkte bilden vor allem umweltpolitische Diskurse oder auch bildungspolitische Diskurse. In den u. a. wissenssoziologisch, narrationstheoretisch, inhaltsanalytisch, ‚foucaultianisch‘, poststrukturalistisch oder anderweitig ansetzenden und vorgehenden Forschungen steht die konflikthafte diskursive Konstruktion politischer Agenden im Vordergrund. Explizit in der Tradition der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie verortet ist die seit Ende der 1990er Jahre von Reiner Keller entwickelte „Wissenssoziologische Diskursanalyse“ (Keller 2010, 2011). Darin werden zentrale Argumente der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie mit dem Pragmatismus des Symbolischen Interaktionismus und verschiedenen Perspektiven Foucaults sowie Anschlüssen an die Methodologie und Methoden interpretativer Sozialforschung verbunden. Die WDA untersucht gesellschaftliche Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken und stellt sich damit dezidiert in das Foucaultsche Programm einer Analyse von Macht/ Wissen-Regimen. Diskurse werden als zusammenhängende Aussagepraktiken und Prozessierungen kollektiver Wissensordnungen verstanden. Die Anschlüsse an die interpretativen und sozialkonstruktivistischen Traditionen leisten in der WDA zum einen eine bei Foucault so nicht formulierte grundlagentheoretische Unterfütterung des Zeichengebrauchs, der dem Prozessieren von Diskursen zugrunde liegt und durch letztere strukturiert wird. Sie erlauben zudem, die Rolle sozialer Akteure differenzierter in den Blick zu nehmen als das Foucaultsche Vokabular. Schließlich unternimmt sie Anschlüsse an methodische Vorgehensweisen der interpretativen empirischen Sozialforschung – Diskursforschung ist aus der Sicht der WDA notwendige (reflexive) Interpretationsarbeit in Gestalt einer re/konstruktiven Hermeneutik. Für die Analyse von Diskursen stellt die WDA ein umfangreiches begriffliches Werkzeug zur Verfügung, das die Konzepte der Diskursarenen, Diskurskoalitionen, der diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken, der Dispositive und Ressourcen, der Spezialdiskurse und öffentlichen Diskurse oder der Akteure, Sprecherinnen und Sprecher, Modellsubjekte und tatsächlichen Subjektivierungen erfasst. Die Bedeutungsstiftung durch Diskurse wird u. a. über die wissenssoziologischen Konzepte des Deutungsmusters, der Klassifikationen, der Aspekt- bzw. Phänomenstruktur, der narrativen Strukturen und (zwischenzeitlich ergänzt) der Argumentative (Schünemann 2014) erfasst. Dabei versteht sich die WDA als interpretative Analytik, die an elaborierte sequenzanalytische Auswertungsstrategien der interpretativen Sozialforschung und an dort – etwa im Rahmen der Grounded Theory – vorgeschlagene Strategien der Korpusbildung und -analyse anschließt. Neben verschiedenen Überblicken existiert hier inzwischen eine Vielzahl von Einzelstudien, welche die Perspektive aufgreifen und z. T. mit anderen Ansätzen verbinden (Keller/Truschkat
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2012). Ausgehend vom Forschungsprogramm der Wisssenssoziologischen Diskursanalyse analysierte bspw. Bechmann (2007) die öffentliche und politische Diskussion über die Reform der Krankenversicherung. Biermann (2014) beschäftigte sich mit den Auseinandersetzungen um einen Moschee-Bau in Köln. Elliker (2013) untersuchte die Schweizer Integrationsdebatte. Klinckhammer (2014) betrachtete die Vorstellungen von Kindheit in der Bildungs- und Betreuungspolitik. Schünemann (2014) vergleicht politische Argumentationsprozesse anlässlich der Abstimmungen über die ‚europäische Verfassung‘ in mehreren Ländern. Keller (2009) analysierte ebenfalls im Ländervergleich öffentliche und politische Diskussionen über das Müllproblem.
6 Diskurslinguistik und soziologische Diskursforschung Seit Ende der 1990er Jahre haben in der deutschsprachigen Diskursforschung wiederholte Begegnungen zwischen diskurslinguistischen und soziologischen Ansätzen stattgefunden, die z. T. aus der Soziologie heraus, zum Teil aus der Linguistik heraus initiiert wurden und auch vielfach dokumentiert sind (Keller u. a. 2005, 2010 [2003], 2011 [2001]; Angermüller u. a. 2014; Viehöver/Keller/Schneider 2013; Keller/Schneider/Viehöver 2015; Kämper/Warnke 2015; vgl. exemplarisch auch die Veranstaltungen im Netzwerk „Sprache und Wissen“, Felder/Müller 2008). Neu an den – oder zumindest einigen – jüngeren diskurslinguistischen Perspektiven scheint, dass hier die Untersuchung der sprachlichen Verfasstheit von Diskursen mit dem Blick für die dadurch vorangetriebenen Wissensformierungen verknüpft wird. Dabei finden sich etliche Berührungspunkte zwischen den Disziplinen, etwa da, wo Fritz Hermanns die „Diskurshermeneutik“ (Hermanns 2007) als Verstehenswissenschaft porträtiert und für die Anerkennung entsprechender Reflexionen und Methodologien plädiert, oder da, wo Klaus-Peter Konerding (2009) die Konturen einer inzwischen bereits weiter entfalteten Diskurslinguistik (Spitzmüller/Warnke 2011) in weitreichender Parallele zu sozialwissenschaftlichen Skizzen beschreibt. Auch die Arbeiten von Wolf Andreas Liebert, Martin Wengeler und anderen aus dem ehemaligen Düsseldorfer Kontext um Georg Stoetzel zeigen viele Affinitäten zur soziologischen Diskursforschung (z. B. Wengeler 2003). In besonderem Maße gilt dies im Hinblick auf die theoretischen Grundlegungen einer Historischen Diskurssemantik, die Dietrich Busse (1987, 2000) schon früh und wegweisend vorgenommen sowie als Analyse gesellschaftlichen Wissens ausgewiesen hat. In den genannten Begegnungen entsteht zuweilen der Eindruck, dass sich die entsprechenden sprachwissenschaftlichen Vorhaben im Kontext der Diskursforschung stärker auf die Sozialwissenschaften zu bewegen als umgekehrt. Das resultiert wohl daraus, dass sich die Fragestellungen zunehmend auf den Einsatz von Sprache in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Praxisfeldern bzw. „Wis-
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sensdomänen“ (Felder 2008, 13) richten. So beschäftigt sich das Forschungsnetzwerk Sprache und Wissen mit der „Frage nach der Formung von gesamtgesellschaftlich relevanten Wissensbeständen durch sprachliche Mittel.“ (Felder 2008, 12) Insoweit mag die Orientierung am Begriff des Wissens und der damit anvisierten Analyse der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (Berger/Luckmann 1980 [1966]) ein wichtiger Grund für diesen Eindruck einer Versozialwissenschaftlichung der Linguistik sein. In einer vor einigen Jahren veröffentlichten ausführlichen Rezension diskurslinguistischer Arbeiten hat Rainer Diaz-Bone (2010) den „Beitrag der Diskurslinguistik für die Foucaultsche Diskursanalyse“ – damit sind stärker soziologisch orientierte Diskursforschungen bezeichnet – als vergleichsweise gering erachtet (und ausdrücklich die Elaboriertheit der Diskurslinguistik hervorgehoben). Unter anderem macht er dafür den starken fachdisziplinären Textbias der Datenkorpora und Analyseinteressen verantwortlich, der den soziologischen Frageinteressen nach Diskursen als Praktiken der Aussageproduktion wenig entspräche. Doch muss man umgekehrt konzidieren, dass auch die soziologische Diskursforschung (einschließlich der Wissenssoziologischen Diskursanalyse) bislang in ihren empirischen Anwendungen sehr textlastig operiert. Deswegen scheinen mir die Gründe dafür, dass man bislang zwar immer wieder gerne miteinander redet, aber kaum miteinander forscht, einerseits in doch bestehenden und ganz und gar legitimen unterschiedlichen Fachinteressen zu liegen, und zum anderen in der Beobachtung, dass sich die (wissens-)soziologische Diskursforschung für sprachliche Zeichen und deren Verkettung nicht direkt interessiert, sondern nur insoweit, wie sie als Trägermedium für Bedeutungen (die als Wissen verstanden werden) fungieren, während umgekehrt die Diskurslinguistik aus ihrer Perspektive gerade die sprachliche Spezifizität der Zeichen und ihrer Verbindungen in den Blick nimmt. Diese derzeit bestehende Differenz schließt freilich keineswegs zukünftige Zusammenarbeiten aus, ganz im Gegenteil.
7 Literatur Angermüller, Johannes u. a. (Hg.) (2014): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. 2 Bde. Bielefeld. Bechmann, Sebastian (2007): Gesundheitssemantiken der Moderne. Eine Diskursanalyse der Debatten über die Reform der Krankenversicherung. Berlin. Becker, Howard S. (1981): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt a. M. [1963]. Belliger, Andréa/David J. Krieger (Hg.) (2006): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie. Bielefeld. Benford, Robert D./David A. Snow (2000): Framing processes and social movements. In: Annual Review of Sociology 26, 611–639. Berger, Peter L. (1973): Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie. Frankfurt a. M. [1966]. Berger, Peter L./Brigitte Berger/Hansfried Kellner (1975): Das Unbehagen in der Modernität. Frankfurt a. M.
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Heidrun Kämper
3. Diskurslinguistik und Zeitgeschichte Abstract: Das Erkenntnisziel zeitgeschichtlicher Diskurslinguistik steht im Kontext des Zusammenhangs von Sprache und Gesellschaft und der diskursiven Repräsentation dieses Verhältnisses. Dieser Zusammenhang wird spezifiziert und als sprachwissenschaftlicher Gegenstand einer zeitgeschichtlichen Diskurslinguistik methodisch profiliert. Ausgehend von der Definition Rothfels‘ wird die zeitliche und inhaltliche Erstreckung von ‚Zeitgeschichte‘ als relationale Größe thematisiert und von dem Phänomen der Geschichtlichkeit abgegrenzt. Als methodische Perspektive wird anschließend, von Foucault kommend, die der Kontextualisierung im Sinn des grundlegenden erkenntnisleitenden Zugangs vorgestellt und als hermeneutisches Verfahren bewertet. Mit der Darstellung des Verhältnisses von Diskurslinguistik und Zeitgeschichte auf den Analyseebenen Wort, Konzept, Argumentationsmuster und Intertextualität wird deutlich gemacht, dass Diskurslinguistik keine methodenbezeichnende Kategorie ist, sondern eine Perspektive auf sprachlich-diskursive Repräsentationen bezeichnet. Mit zwei Beispielen für Fragestellungen (Umbruchgeschichte und Kollektives Gedächtnis) wird abschließend die empirische Dimension zeitgeschichtlich orientierter Diskurslinguistik angedeutet.
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Vorbemerkung ‚Zeitgeschichte‘ als Beschreibungskategorie Kontextualisierung als methodische Implikatur Analyseebenen zeitgeschichtlicher Diskurslinguistik Fragestellungen zeitgeschichtlicher Diskurslinguistik: Zwei Beispiele Fazit Literatur
1 Vorbemerkung Ohne Frage ist vorauszusetzen, „dass konkrete historische Umstände spezifische Wirkungen auf der Ebene der Diskurse hervorrufen (können)“ (Guilhaumou 2003, 23). Mit dieser Annahme wird der Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft auf das Thema ‚Diskurslinguistik und Zeitgeschichte‘ fokussiert: Das Erkenntnisziel zeitgeschichtlicher Diskurslinguistik steht im Kontext des Zusammenhangs von Sprache und Gesellschaft und der diskursiven Repräsentation dieses Verhältnisses. Dieser Zusammenhang ist im Folgenden zu spezifizieren und als sprachwissenschaftlicher Gegenstand einer zeitgeschichtlichen Diskurslinguistik methodisch zu profilieren. https://doi.org/10.1515/9783110296075-003
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2 ‚Zeitgeschichte‘ als Beschreibungskategorie Insofern Sprache und damit Diskurs der Ort ist, wo Geschichte stattfindet, mit Greimas „ce lieu où se passe l’histoire“ (Greimas 1958, 112) korrespondieren Zeitgeschichte und Diskursgeschichte miteinander. Die berühmte Definition von Hans Rothfels, Zeitgeschichte sei die „Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“ (Rothfels 1953), bedeutet methodisch, Phänomene der Gegenwart als Ergebnisse einer Entwicklung zu erklären, die in einer jüngst vergangenen Vergangenheit eingesetzt hat. Diese Vergangenheit muss, um der Gegenwart eine zeithistorische Perspektive zu geben, für diese Gegenwart unmittelbare Relevanz haben. Für den vorliegenden Beitrag und angesichts der diskurslinguistischen Forschung, die sich als zeitgeschichtlich bezeichnen lassen kann, soll diese Festlegung modifiziert werden. Diskurslinguistik im Horizont der von Rothfels definierten Zeitgeschichte hätte zum Gegenstand solche Diskurse, deren Themen eine Geschichte haben, die aus der jüngeren Vergangenheit, nämlich aus der Vergangenheit, in der noch lebende Personen bereits gelebt haben, in die Gegenwart hineinreicht. Ihr Erkenntnis- und Darstellungsziel wäre die Rekonstruktion solcher auf Gegenwart in spezifischer Weise bezogener zeitgeschichtlicher Diskurse und die Beschreibung ihrer sprachlichen Ordnung. Derart bestimmte zeitgeschichtlich orientierte Diskurslinguistik setzte bei der Geschichtsphase an, die sozusagen generationell noch präsent ist. Damit wäre eine notwendige Unterscheidung zwischen Geschichtlichkeit und Zeitgeschichte markiert. Denn Geschichtlichkeit ist ein allgemeines Phänomen jeglicher gesellschaftlicher Hervorbringungen, mit dem wir es im gesellschaftlichen Kontext stets zu tun haben – es ist immer alles geschichtlich. Geschichtlichkeit bezeichnet auch die historische und gesellschaftliche Bedingtheit von Sprache in Diskursen. Wer im Rothfels’schen Sinn Zeitgeschichte (diskurslinguistisch) untersucht, fragt nach einer gleichsam verdichteten und aktuellen Form von Geschichtlichkeit. Denn es ist mit dieser Definition die jüngst vergangene Geschichte, die für die Gegenwart von hoher Evidenz ist. Dieser so definierte zeitgeschichtliche Referenzbereich ist also stets angepasst an die jeweilige Gegenwart: Zeitgeschichte zur Zeit Rothfels‘ reichte bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, während man den Referenzbereich von Zeitgeschichte heute, mit dem Kriterium der Mitlebenden, zunehmend mit dem Jahr 1945 beginnen lässt. Zwar wären damit also die Kategorien ‚Geschichtlichkeit‘ und ‚Zeitgeschichte‘ in der notwendigen Klarheit voneinander abgegrenzt. Generationelle Präsenz, wie das Kriterium der Mitlebenden von Rothfels übersetzt heißt, scheint hingegen ein allzu schematischer Ausdruck zur Bezeichnung dessen zu sein, worum es bei ‚Zeitgeschichte‘ eigentlich geht: nämlich um die Relevanz von in der Vergangenheit geschehenen Ereignissen oder geführten Diskursen, die in der Gegenwart auf bestimmte Weise Gültigkeit haben und die die Gegenwart und ihre Diskurse in spezi-
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fischer Weise prägen. So definierte ‚Zeitgeschichte‘ erlaubt es etwa, den Menschenrechtsdiskurs des späten 18. Jahrhunderts als zeitgeschichtlichen Diskurs insofern zu bewerten, als er etwa in die Verfassungsdiskurse des 20. Jahrhunderts hineinreicht. Zur Erklärung der sprachlichen Ordnung von Diskursen, also z. B. der lexikalisch-semantischen oder intertextuellen Strukturen, ist also eine Perspektive, die u. U. einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren umfasst, unabdingbar. Daneben ist das inhaltliche Kriterium zur Festlegung dessen, was unter zeitgeschichtlichen Diskursen zu verstehen ist, einzubeziehen. Zeitgeschichtlich orientierte Diskurslinguistik engt ihren Fokus thematisch ein auf gesellschaftlich bzw. politisch evidente Diskursinhalte. Die Gegenstände zeitgeschichtlicher Diskurse sind solche, die politische und gesellschaftliche Sachverhalte repräsentieren. Dieses inhaltlich-thematisch bestimmte Kriterium von Zeitgeschichte ist das entscheidende zur Bestimmung des Gegenstands. Zeitgeschichte hat thematisch eine sozialoder politikgeschichtliche Dimension und erfährt von diesen Inhalten ihr eigentliches Profil. Mit dieser Gegenstandsbestimmung von ‚Zeitgeschichte‘ ist auch ‚Diskurslinguistik‘ modifizierbar. Allgemein lässt sich Diskursanalyse als eine spezifische (dem jeweiligen Erkenntnisinteresse entsprechende) Art von Gesellschaftsanalyse beschreiben. Im Sinne Foucaults beschreibt etwa Jäger den „Gesamtdiskurs, der eine Gesellschaft überspannt“ als „ein komplexes Geflecht von in sich verzahnten und sich überlappenden, gegenseitig durchdringenden Diskurssträngen […] Damit stellt Diskursanalyse zugleich den Anspruch, Gesellschaftsanalyse zu sein“ (Jäger 1993, 210). Die daraus abzuleitende Aufgabe der Diskurslinguistik ist es, einen Diskurs als gesellschaftliches Phänomen in seiner Komplexität und Heterogenität hinsichtlich der Diskursbeteiligten (vgl. Kämper 2017a i. Dr., Kämper 2017b) und seiner sprachlichen Manifestation zu beschreiben. Sprachwissenschaftliche Diskursanalyse stellt dar, wie eine gesellschaftliche Formation einer bestimmten Epoche bzw. zu einer bestimmten Zeit auf einen Sachverhalt kontrovers oder konsensuell sprachlich Bezug nimmt und damit konstituiert. Damit sind Diskurse durch die jeweils spezifischen (historischen, gesellschaftlichen, politischen, individuellen) Bedingungen geprägte soziale Praktiken zur kollektiven Deutung von Wirklichkeit. In ihnen wird – je nach Sprecherperspektive bzw. Akteursbezug – Sinn und damit Wirklichkeit konstituiert. Zeitgeschichtliche Diskurslinguistik ist vor diesem Hintergrund als eine spezifische Version von Diskurslinguistik einzugrenzen: Zeitgeschichtliche Diskurslinguistik gibt ihrem politisch-gesellschaftlichen Gegenstand eine explizit historische Dimension, die sich auf die Geschichte der lebenden Generationen beziehen, die aber zeitlich auch weit in die Vergangenheit reichen kann. Zusammenfassend sei festgehalten: Zeitgeschichtliche Diskurslinguistik hat zur Aufgabe die Darstellung und Beschreibung von gesellschaftlich-politisch relevanten Diskursen und ihren sprachlichen Repräsentationen einer Gegenwart des 20. oder 21. Jahrhunderts mit erklärender Einbeziehung des historischen Horizonts dieser Diskurse. Das Verhältnis zwischen Diskurslinguistik und Zeitgeschichte lässt
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sich insofern auch als sprachbezogene Gesellschafts- und Politikgeschichte bezeichnen, indem diskurslinguistische Zeitgeschichte eine transdisziplinäre Verbindung zu ihnen herstellt.
3 Kontextualisierung als methodische Implikatur Der methodische Einbezug von Interferenzen, also die kontextbezogene Beschreibung und Darstellung des Gegenstands einer zeitgeschichtlichen Diskursanalyse schließt an die Überlegungen Foucaults an, der die Kontextualisierung von Diskursen als ein Instrument der Hermeneutik versteht: Unter der Voraussetzung, dass Diskursanalyse versucht, in der Dimension einer allgemeinen Geschichte jenes ganze Gebiet der Institutionen, ökonomischen Prozesse und gesellschaftlichen Beziehungen zu entdecken, über die sich eine diskursive Formation artikulieren kann (Foucault 1973, 235),
versteht Michel Foucault Kontext (alternativ „Aussagenmechanismus“ (Foucault 1973, 144), „Aussagekoexistenz” (ebd. 145), „Aussagefeld” (ebd.) oder „assoziiertes Feld” (ebd. 143–144)) als entscheidendes Kriterium der Sinnkonstituierung von Aussagen. Deren Funktion kann nicht ohne Existenz eines assoziierten Gebiets [i.e. Kontext] ausgeübt werden. Das macht aus der Aussage etwas anderes und mehr als eine reine Ansammlung von Zeichen, die zu ihrer Existenz lediglich einer materiellen Stütze bedürfte (Foucault 1973, 139).
Foucault hat ganz offensichtlich eine Vorstellung von der desambiguierenden Funktion von Kontextualisierungen, wenn er den Prozess von „eine[r] Sequenz von sprachlichen Elementen“ zu einer „Aussage“ beschreibt. Letztere werde zu einer solchen „nur dann […], wenn sie in ein Aussagefeld [i.e. Kontext] eingetaucht ist, wo sie dann als ein besonderes [i.e. desambiguiertes] Element erscheint.“ (ebd., 144) Mit diesem Obligo reicht zeitgeschichtlich orientierte Diskurslinguistik in die Perspektive der historischen Semantik, ein Ansatz, der die „Auffassungen sozialer und geschichtlicher Realität“ rekonstruiert, „wie sie das Denken einer Epoche geprägt haben“ (Busse 1987, 94). Insofern historische Semantik „geschichtliche Entwicklungen und Strukturen erklären helfen will“, muss sie „diese übergreifenden diskursiven Zusammenhänge untersuchen“ (Busse 1987, 96). Dieses Erkenntnisinteresse bedeutet methodisch, den Kontext, in dem historische Sprachdaten realisiert sind, als Erklärungsmoment einzubeziehen. Denn eine „historische Semantik [ist] ohne sozialhistorische Fundamentierung und Zielsetzung schlechterdings undenkbar.“ (Busse 2003, 10) Sie ist pragmatisch fundiert und setzt den historischen Sprachgebrauch in Beziehung zu den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen, um so einen Deutungshorizont der „textuellen oder diskursiven Spuren gesellschaftlicher Verhältnisse“ (Bollenbeck 1994, 19) zu schaffen, um so
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die sprachliche Konstruktion der Wirklichkeit, die Bedeutungs- und Weltkonstitution durch Sprache, wie sie jeweils von einzelnen Gruppen in geschichtlich vergangenen Zeiten geschaffen wurde und für sie gültig war, durch Analyse sprachlicher Handlungen
aufzeigen zu können (Wengeler 2000a, 55). In einer späteren Arbeit definiert Busse Diskurse als Markierungen von Kontextualisierungszusammenhängen (Busse 2007, 82) und stellt unter dieser Voraussetzung ein differenziertes Modell von Ebenen und Typen von Kontextualisierungen als diskurslinguistische Perspektive vor. Er unterscheidet u. a. zwischen (a) Kontextualisierungen, die als epistemisch-kognitive Leistungen von textverstehenden Individuen tatsächlich (und erwartbar) vollzogen werden und (b) einer scheinbar objektivierten Kontextualisierung, die man als realweltliche Situierung eines Ereignisses oder epistemischen Elements in einer gegebenen realweltlichen Umgebung begreifen könnte. (Busse 2007, 84)
Als Kontextdeterminanten beschreibt Busse u. a. die „linguistisch elementare Kontextualisierungsebene“ (ebd. 87), die sich auf das Wort, auf Prädikationen, auf Texte bezieht. In methodischer Hinsicht formuliert er dann vier „Methoden der Wortsemantik“ aus als komponenten-, prototypen-, feld- und rahmensemantische Perspektive. Die in unserem zeitgeschichtlichen Zusammenhang insbesondere interessierende ist die „Suchstrategie der rahmensemantischen Kontextualisierung“, die die „Analyseperspektive über die sprachinternen Wissensstrukturen hinaus auf sach- bzw. weltbezogene Strukturierungen aus[weitet]“ (ebd. 98–99). Kontextualisierung ist die methodische Obligation einer historischen Semantik, die Bedeutung als im Diskurs konstituiertes Wissen versteht – in der Formulierung Ingo Warnkes und Jürgen Spitzmüllers, die auf Bedeutung als Resultat einer Kontextualisierung verweisen: Es gibt kein kontinuierliches Bedeuten der Welt […], sondern eher Brüche in der Positivierung, die es aufzudecken gilt. Bedeutung ist damit immer spezifisch, nur im Diskurs gegeben und resultiert aus einer Kontextualisierung […] im verstehensrelevanten Wissen. (Warnke/Spitzmüller 2008, 7)
Wenn die kulturgeschichtlich orientierte Historiografie nach den „historischen Formen von Sinn und Bedeutung, mit denen Gesellschaften der Vergangenheit ihre Wirklichkeit ausgestattet haben“ (Landwehr 2005, 44) fragt, und diese Fragestellung den Rahmen vorgibt, dann fragt zeitgeschichtlich orientierte Diskurslinguistik nach den sprachlichen Repräsentationen dieser Sinngebungen, nach ihrer kommunikativ-pragmatischen Regelhaftigkeit, kurz: nach ihrer sprachlichen Ordnung unter Einbeziehung ihrer jeweiligen gesellschaftlich-politischen Bedingungen. Diese Einbeziehung ist unabdingbare Voraussetzung für die Erklärung von Sprachgebrauch und Diskursstrukturen – nämlich als ‚Folge‘ dieser Bedingungen. Das Interesse der zeitgeschichtlichen Diskurslinguistik gilt der sprachlich-diskursiven Repräsentation von gesellschaftlich-politischen Gegenständen. Ihr Ziel ist die
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Erklärung der sprachlichen Ordnung dieser Diskurse in ihrer diskursiven, also historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Prägung. Diese je spezifischen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten des Kontextes bezieht zeitgeschichtliche Diskurslinguistik als Gebrauchsbedingungen ein. Dieses methodische Profil schließt an eine pragmatische Sprachgeschichtsschreibung an: Als eine Version von Sprachgeschichte verstanden ist dieser Zugang der „‚geistigen’ oder besser gesellschaftlich-kulturellen Seite der Sprache unter den externen Bedingungen des konkreten Sprachgebrauchs“ zugewendet (Mattheier 1995, 8), in dessen Zentrum […] immer die Frage nach den Möglichkeiten und der Praxis sprachgebundenen sozialen Handelns unter bestimmten historischen Bedingungen (Cherubim 1998, 544)
steht. Eine so konstituierte zeitgeschichtliche Diskurslinguistik ist ein Aspekt von kulturwissenschaftlicher Linguistik, weil sie historisch-politische, ökonomische, kulturelle, religiöse usw. Faktoren einbezieht. Zeitgeschichtlich orientierte Diskurslinguistik erklärt Sprachgebrauch damit als Wirkung aller Faktoren, die den gesellschaftlichen, historisch-politischen Raum bilden, in dem er sich manifestiert. Dieser Raum ist beides, Teil der methodisch-theoretischen Orientierung ebenso wie der Gegenstand der Darstellung. Denn die „Frage nach dem Charakter eines politischen Systems, einer politischen Ordnung“ hängt nicht nur „eng zusammen mit der Frage, wie in dieser Ordnung kommuniziert wird, wie kommuniziert werden kann“ (Grünert 1984, 29), sondern auch vice versa: Die Frage nach dem Diskurs hängt eng damit zusammen, in welcher politischen Ordnung er seinen Platz hat. Zeitgeschichtlich orientierte Diskurslinguistik ist ohne diese Perspektive, die die Interferenz zwischen Sprachdaten und Daten der politischen Geschichte, der Zeitund der Kulturgeschichte erklärt, also nicht zu denken. Im Rahmen einer zeitgeschichtlichen Diskurslinguistik ist ein solcherart methodisch elaboriertes Kontextverfahren als ein hermeneutisches Verfahren zur Erzeugung von diskursbezogenem Sprachverstehen zu beschreiben (zu Hermeneutik als Beschreibungskategorie vgl. Hermanns/Holly 2007). Dieses Verfahren überschreitet die Fächergrenze: Kontextualisierung, die den jeweiligen Ereigniszusammenhang herstellt und die historische politisch-gesellschaftliche Situation erklärend einbezieht, ist als transdisziplinäre Perspektive obligatorisch in dem Sinn, dass die von der (Sozial-)Geschichte bereitgestellten Daten/Befunde als Referenzdaten diskurslinguistischer Analysen dienen. Wir verstehen nichts, wenn wir nicht den historischen Rahmen haben, den die (Sozial-)Geschichte schafft. Die zeitgeschichtlich orientierte Diskurslinguistik erfordert insofern in besonders hohem Maße die transdisziplinäre Grenzüberschreitung zur (Sozial-)Geschichte, als in ihrem Zentrum die Frage nach den historischen Bedingungen bzw. der historischen, gesellschaftlich-politischen Bedingtheit von Diskursen steht, nach den Möglichkeiten und der Praxis sprachgebundenen sozialen Handelns unter den jeweiligen historischen Voraussetzungen. Eine der Voraussetzungen zur Beantwortung dieser
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Frage ist der geschichtswissenschaftlich erarbeitete und aufbereitete historische Referenzbereich. Diskurslinguistik im zeitgeschichtlichen Horizont beschreibt also einen analytischen Zusammenhang, dem nicht anders als transdisziplinär zu entsprechen ist. Erst in dieser Dimension erschließen sich die Diskursebenen der Sprecher-/ Akteurssituation, die Diskursstatus der Beiträge (responsiv, initiativ, reproduzierend), die Phasen der Diskursprogression usw. Erst in dieser Dimension erklären sich die linguistischen Phänomene auf der Wort-, Satz- und Textebene des Diskurses.
4 Analyseebenen zeitgeschichtlicher Diskurslinguistik Diskurslinguistik ist keine Methode, sondern eine spezifische Perspektive auf Sprachdaten. Diese versteht Diskurs als soziale Praxis. Insofern sind Sprachdaten auf der semantischen Wort- bzw. Konzeptebene (4.1/4.2), der Handlungsebene (4.3), der Textebene (4.4) Untersuchungsgegenstände. Mit der Perspektive der zeitgeschichtlichen Diskurslinguistik werden Sprachdaten auf diesen Ebenen als gesellschaftliches Phänomen hinsichtlich ihrer Serialität erkennbar. Serialität als Leitidee der diskursanalytischen Perspektive schließt natürlich an die Foucaultsche Definition von Diskursen als „geregelte und diskrete Serien von Ereignissen“ (Foucault 1970, 38) an. Konkretisiert in Bezug auf den zeitgeschichtlichen Kontext erfahren Diskursphänomene mit dieser Perspektive ihre historische und gesellschaftsbezogene Verortung. Die zur Analyse aufbereiteten Sprachdaten bilden bekanntlich das Korpus. Die zeitgeschichtliche Diskurslinguistik generiert diese Daten vorzugsweise aus Zeitungskorpora und folgt damit einem Konzept, das die Diskurseigenschaft der ‚Öffentlichkeit‘ weitgehend mit Zeitung (online oder print) gleichsetzt. Dem ist entgegenzuhalten ein offeneres und allgemeineres Konzept, das Diskurs im Sinn von ‚Gesellschaftsgespräch‘ (Wichter 1999, 274) deutet mit dem Anspruch, Gesellschaft als ein soziales System zu verstehen, das sich außer in Zeitungen potenziell in allen Domänen einer Gesellschaft und in allen Formaten bzw. Textsorten ausdrückt: von der Predigt über die politische Rede, den wissenschaftlichen Vortrag und den zeitkritischen Essay bis zum Gedicht und Roman. Das Kriterium der Serialität erfährt mit einem solchen konsequenten Diskursverständnis die gesellschaftliche Verortung, die vorauszusetzen ist, um Zeitgeschichte und Diskurslinguistik empirisch adäquat zu konzipieren.
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4.1 Zeitgeschichtliche Diskurslexikologie Jede Zeit hat ihre Wörter. Diese Wörter sind die lexikalisch-semantischen Archive der Zeitgeschichte. Erkenntnisinteresse der Diskurslexikologie ist die Darstellung und Beschreibung des lexikalisch-semantischen Potenzials eines Diskurses, „die Analyse der kommunikativen Phänomene, der Wortschatzphänomene und ihrer Regeln“. Diskurslexikologie stellt „grundlegende Prozesse, Lexikalisierungsvorgänge und Sprachhandlungsphänomene ins Zentrum ihres Blickfeldes“ (Busch 2002, 137). Wortschatz ist damit eine zentrale Forschungsperspektive des Untersuchungsgegenstands Diskurs überhaupt. In zeitgeschichtlicher Hinsicht ist die lexikalisch-semantische Ebene, als diejenige, die Zeitphänomene der Gesellschaft und Politik am unmittelbarsten und offensichtlichsten dokumentiert, erster Analyseansatz. Linguistische Diskursanalyse im zeitgeschichtlichen Horizont beschreibt als Diskurslexikologie den Gebrauch lexikalischer Einheiten in Bezug auf ihr serielles Vorkommen auf der Folie der historischen politisch-gesellschaftlichen Bedingungen dieses Gebrauchs, m. a. W. in Bezug auf den Kontext der „Zusammenhänge […], in denen [die] Quellentexte [der Diskursgeschichte] stehen“ (Hermanns 1995, 89). Zeitgeschichtliche Diskurslinguistik rekonstruiert mit der Fokussierung der lexikalischen Serie lexikalisch-semantische Einheiten im kommunikativen Kontext, d. h. in Bezug auf Funktionen und Absichten größerer Sprechergruppen als gesellschaftliches Phänomen. Diskurse sind in dieser Perspektive Archive von durch die jeweils spezifischen (historischen, gesellschaftlichen, politischen) Bedingungen jeglichen Sprechens geprägten lexikalisch-semantischen Ausdruckseinheiten. Diese sind zum einen als isolierte Phänomene (s. 4.1.1), zum andern als Bedeutungsbeziehungen herstellende Wortnetze (4.1.2) Instanzen zeitgeschichtlicher Diskurse.
4.1.1 Einzelwortbezogene Diskurslexikologie Einer eher auf den diskursiven Gebrauch einzelner Wörter gerichtete zeitgeschichtliche Diskurslexikologie stehen zur Beschreibung der lexikalischen Diskurseinheiten Modelle zur Verfügung, die den lexikalisch-semantischen Einheiten je nach Erkenntnisziel unterschiedliche Status geben. Diese Statusunterschiede sind terminologisch erfasst. Vor allem Untersuchungen, die aus dem Forschungsschwerpunkt ‚Sprache und Politik‘, also aus dem zeithistorischen Kontext, hervorgegangen sind, haben eine differenzierte Terminologie zur Beschreibung des Wortgebrauchs in der politischen Kommunikation erarbeitet (vgl. etwa Dieckmann 1964, Hermanns 1994, Böke 1996). Die Kategorien zur Bezeichnung heißen ‚Schlagwörter‘, ‚Fahnenwörter‘, ‚Stigmawörter‘, ‚Schlüsselwörter‘. Die Schlagwortforschung beginnt mit Otto Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch (1906), wurde fortgeführt u. a. von Wulf Wülfing, Schlagworte des Jungen Deutschland (1982). Die Definition Dieckmanns gilt weiterhin: ‚Schlagwort‘ bezeichnet
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das gemeinsame Bewußtsein oder Wollen, eine bestimmte Tendenz, ein Ziel oder Programm einer Gruppe gegenüber einer anderen oder einer Mehrzahl von anderen, bewegt sich meist auf einer höheren Abstraktionsebene und vereinfacht die Wirklichkeit gemäß den Erfordernissen des kollektiven Handelns, hat die Aufgabe, Anhänger zu werben und zu sammeln oder den Gegner zu bekämpfen und zu diffamieren, ist in seiner appellativen Funktion hörerorientiert und zieht seine Wirkungen vornehmlich aus angelagerten Gefühlswerten. (Dieckmann 1964, 79–80)
Schlüsselwörter bezeichnen „entscheidende Tendenzen einer Epoche oder Bewegung“ und enthalten in ihrer „Semantik gewissermaßen den ‚Schlüssel‘ zum Verständnis einer historischen Entwicklungsstufe“ (Schmidt 1972, 34). Hermanns grenzt ‚Schlagwort‘ und ‚Schlüsselwort‘ insofern voneinander ab, als der Terminus ‚Schlüsselwort‘ das Wort, das er bezeichnet, nicht hinsichtlich der Funktion [benennt], die es für die Beteiligten, die dieses Wort verwenden, hat [wie Schlagwort]; sondern hinsichtlich der Funktion, die es für die Betrachter der Verwendung hat, z. B. für Historiker und Linguisten. (Hermanns 1994, 43)
So bezeichnen ‚Schlag-‘ bzw. ‚Schlüsselwort‘ eigentlich keine unterschiedlichen Kategorien, sondern unterscheiden eher Perspektiven desjenigen, der sie verwendet, abgesehen davon, dass sie hinsichtlich ihrer Konnotationen verschieden gebraucht werden: ‚Schlagwort‘ ist sozusagen die negativ ‚konnotierte‘ Version von eher neutralem ‚Schlüsselwort‘. In diesem Sinn Schlag- oder Schlüsselwortstudie ist auch ‚Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist‘. In diesem ‚Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch‘ analysieren Strauß/Haß/Harras (1989) „Wörter […], deren Gebrauchsweisen die sprachliche Verständigung erschweren oder sogar stören können, also Wörter, die unter verschiedenen Gesichtspunkten erklärungsbedürftig sind“ (Strauß/Haß/Harras 1989, 9). Schlag- oder Schlüsselwörter können als Leitvokabeln beschrieben werden. Karin Böke (1996) definiert etwa ‚politische Leitvokabeln‘ als Wörter, die in diesen [öffentlich relevanten] Themenfeldern zu größtenteils umstrittenen, politische Leitbilder vermittelnden ‚Schlüsselwörtern‘ [sic!] wurden, [als] Wörter[…] oder Wortkomplexe[…], die im Sprachgebrauch der konfligierenden Gruppen mit bestimmten Leitgedanken ihrer (kontroversen) politischen Programme oder Ziele verbunden werden. (Böke 1996, 19–20)
Der zeitgeschichtliche Horizont erschließt sich m. a. W. über Schlüsselwörter. Eher im im engeren Sinn politischen Kontext sind die Funktionen von Fahnenund Stigmawörtern zu beschreiben. Während mit Fahnenwörtern politische Akteure Bekenntnisse zu ihren Zielen und Werthaltungen ablegen, wird mit Stigmawörtern der politische Gegner und sein Wollen abgewertet (vgl. Hermanns 1994). In diesem Sinn einer Leitwörter fokussierenden diskursbezogenen Einzelwortlexikologie sind u. a. die Beiträge in Stötzel/Wengeler 1995 und in Böke/Liedtke/ Wengeler 1996 konzipiert. Lexikografische Bearbeitungen liegen vor mit dem zwei-
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bändigen „Wörterbuch der ‚Vergangenheitsbewältigung‘“, das die „NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch“ (Untertitel) beschreibt (Stötzel/Eitz 2007/ 2009), und dem „Zeitgeschichtlichen Wörterbuch“ von Stötzel/Eitz (2002), in dem „ausgewählte Vokabeln aus dem deutschen gesellschaftlich-politischen Sprachgebrauch seit 1945“ (ebd. 1) dargestellt werden. Auch Felbick (2003) und Niehr (1993) sind in diesem Zusammenhang zu nennen.
4.1.2 Wortnetzlexikologie Darüber hinaus erschließt die lexikalisch-semantische Perspektive von Wörtern im Diskurs die gesellschaftlich-kollektive, weil seriell vorkommende Dimension von Wortgebrauch, indem sie Bedeutungsbeziehungen darstellt. Sie hat den Status zeitgeschichtlicher Diskurslexikologie, insofern sie die lexikalisch-semantischen Netze im Kontext von Gesellschafts- und Politikgeschichte erklärt und beschreibt und damit Diskurslexikologie von allgemeiner Lexikologie unterscheidet. Wortnetze sind Repräsentationen von Diskursordnungen/-strukturen auf lexikalisch-semantischer Ebene. Sie dokumentieren Diskursdynamiken hinsichtlich hoher oder niedriger Wortgebrauchsfrequenzen, in Bezug auf die Ordnungen von Bezeichnungs- und Bedeutungsalternativen bzw. -konkurrenzen, der Beziehungen kollokativer Wortverbindungen oder der Zusammenhänge von Nominations- und Prädikationsverfahren. Das semantische Netz des Diskursvokabulars macht den kohärenzschaffenden Faktor eines Diskurses auf der Wortebene aus: Diskursive Kohärenz entsteht durch die semantische Vernetzung der lexikalischen Diskurseinheiten. Sie gehen untereinander mehr oder weniger intensive Bedeutungsbeziehungen ein, die eine Diskurslexikologie aufzudecken und zu erklären hat. Ein spezifisches Format der Darstellung dieser Bedeutungsbeziehungen ist das Diskurswörterbuch: Ein Diskurswörterbuch beschreibt und erklärt den Wortschatz eines Diskurses hinsichtlich der semantischen Relationen, in denen die Wortschatzeinheiten zueinander stehen. Es gibt die Netzstruktur eines Diskurses wieder, indem es die lexikalisch-semantischen Bezüge, die die Wörter des Diskurses untereinander eingehen, durch eine Verweisstruktur darstellt. Diese semantische Ordnungsstruktur, die das Netz des Diskursvokabulars dem Diskurs gibt, wird diskurslexikografisch auf den unterschiedlichen Ebenen der Bedeutungsrelationen dargestellt: als konzeptionelle Relation, als Synonymie-, Antonymie-, Hyperonymie-/Hyponymie oder als Funktionsrelation (vgl. Kämper 2007a, 2007b, 2013).
4.2 Zeitgeschichte und Konzeptgeschichte Eine konzeptgeschichtliche Fragestellung einer zeitgeschichtlichen Diskurslinguistik ist auf diskursiv repräsentierte Wissensaspekte gerichtet. Aus der Perspektive der Linguistik ist, ihrem Verständnis von Konzept als eine Wissen strukturierende
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Instanz entsprechend, die Analyse sprachlich repräsentierten Wissens eine Dimension der Semantik. Busse definiert Semantik im epistemologischen Sinn als eine methodisch reflektierte Analyse der Wissenselemente und -voraussetzungen, welche für die sich auf Sprachelemente, auf Zeichen und Texte stützende Bedeutungskonstitution seitens der sprachverstehenden Individuen und ihrer Gruppierungen notwendig aktiviert, aktualisiert werden müssen. (Busse 2004, 43)
Unter dieser Voraussetzung ist Aufgabe der Semantik […] die Analyse und Explikation des verstehensrelevanten Wissens. Eine solche Analyse schließt eo ipso die Explikation von Strukturen des Wissens ein. Indem in der Semantik sprachlicher Zeichen und Zeichenketten das gesellschaftliche Wissen zum Ausdruck und zur Wirkung kommt, ist Semantik besonders gut geeignet, zur Analyse der Strukturen des gesellschaftlichen Wissens beizutragen. (Busse 2004, 55)
Wissen im Sinn von „organisierte Information“ (Solso 2005, 242) ist in Wissensrahmen, also in Komplexen strukturiert, in denen verstehensrelevante „Wissensaktivierungen zu einer sich nach Inhaltsaspekten ergebenden mehr oder weniger stabilen Ganzheit zusammenkommen.“ (Busse 2004, 46–47) Diese sind als Konzepte, als komplexe semantische Einheiten höherer Ordnung, beschreibbar. Diese Konzepte werden von Elementen (Wörtern) gebildet, die zueinander in Bedeutungsbeziehungen stehen. Konzepte sind „eingebettet in ein Beziehungsgeflecht, also einen Rahmen und repräsentieren demnach Wissen über Sachverhalte“ (Felder 2008, 59). Sie bilden einen Bedeutungszusammenhänge stiftenden Komplex, sind lexikalisch-semantisch repräsentiert und Ergebnisse von „Kontexteffekten“ (Schwarz 2008, 233), also von semantischen Sinngebungsakten der Produktion bzw. des Verstehens sprachlicher Einheiten. Im Rahmen eines Konzeptmodells lässt sich die lexikalisch-semantische Struktur eines Diskurses als Komplex semantisch relationaler und damit konzeptueller Bezüge darstellen. Die einzelnen das Konzept repräsentierenden lexikalisch-semantischen Einheiten sind Konzeptspezifizierungen, -aspektualisierungen, -modifizierungen usw. Unter der Voraussetzung einer diskurslinguistischen Zeitgeschichtsschreibung werden in diesem Sinn solche Konzepte rekonstruiert, dargestellt und beschrieben und als Manifestationen von Wissensbeständen bewertet, die einen politisch-gesellschaftlichen Bezug haben. ‚Demokratie‘ z. B., als eine politisch-gesellschaftliche Grundidee des 20. Jahrhunderts, ist ein Konzept der Zeitgeschichte, das sich als sprach- und diskursgeschichtliches Leitphänomen manifestiert. Demokratie bezeichnet daher ein grundlegendes zeitgeschichtliches Konzept, das aus einem komplexen Inventar von semantisch kodierten und lexikalisch repräsentierten Wissenselementen gebildet wird. Die Summe dieser Wissenselemente macht seine „Wissensgeschichte“ aus. Zur Wissensgeschichte eines Demokratiekonzepts, auf das in der Zeit der frühen Weimarer Republik die neue Reichsverfassung gründet, gehört etwa die Rekonstruktion von Kodierungen derjenigen demokratiebezogenen
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Wissensbestände, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den Programmen der (zu dieser Zeit im Entstehen befindlichen) politischen Parteien fixiert sind (vgl. Kämper 2014). Es lassen sich mit den das Konzept ‚Demokratie‘ konstituierenden Wissenselementen Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit so zeitgeschichtliche Spuren der Demokratiegeschichte legen. Diese Wissensgeschichte des Konzepts ‚Demokratie‘ erfährt dann 1919 mit der Implementierung der genannten Elemente in der Weimarer Reichsverfassung eine Markierung, indem das Konzept ‚Demokratie‘ institutionell festgeschrieben wird.
4.3 Zeitgeschichte und Argumentationsmuster Ein Diskurs hat eine Funktion bzw. besteht aus einem Funktionenkomplex. Die Funktion gibt dem Diskurs eine Handlungsstruktur, die sich in Argumentationsmustern ausdrückt. Diskurse haben argumentative Strukturen, in ihnen formulieren die Diskursbeteiligten ihr Wollen, und dieses Wollen lässt sich als kohärentes, weil seriell auftretendes gesellschaftliches Phänomen beschreiben. Die Beschaffenheit von Diskursen lässt sich mithin funktional auf der argumentationsanalytischen Ebene darstellen. Die Perspektive einer argumentationsbasierten Diskurslinguistik fokussiert Serien einer kollektiven Argumentation und macht diese explizit. Sie leistet damit einen Beitrag zur Beschreibung (historisch bedingter) kulturgeschichtlich geprägter Denkweisen. Diese Beschreibung von Argumentation(sziel)en im Zuge der Diskursanalyse bedeutet, das real existierende Nebeneinander unterschiedlicher Positionen und Haltungen innerhalb eines Diskurses im Hinblick auf identische Ziele zu ordnen und überindividuelle argumentative Hauptströme, i.e. kongruierende Argumentationssegmente darzustellen und mit weiteren Argumentationssegmenten zu kontrastieren, etwa im Sinn einer Pro- und Contra-Struktur. Die von Martin Wengeler vorgelegte Analyse des Migrationsdiskurses der Jahre 1960 bis 1985 (Wengeler 2003) ist als solche argumentationstheoretisch angelegte Studie zu bezeichnen. Unter der Voraussetzung, dass gerade in „öffentlichen Themenfeldern für und gegen jeweilige Einstellungen, Vorhaben, Handlungen argumentiert wird“, dass also Agonalität (zu diesem diskursiven Grundphänomen vgl. Felder 2006, Spitzmüller/Warnke 2011, 43–48) herrscht, hat Wengeler einen Zugang über „die Analyse von Argumentationstopoi“ erarbeitet (ebd. 175). Weil es in „einer diskursgeschichtlichen Argumentationsanalyse […] vor allem auch um die argumentative Funktion von Äußerungen“ geht (ebd. 277), entwirft der Autor ein Analysemodell, das die formalen, typologischen Muster (nach Kienpointner) und die inhaltlich-materialen Ausdrucksvarianten (nach Kopperschmidt) zusammenführt. Dieses Modell nennt der Autor „Typologie themen- bzw. kontextspezifischer Argumentationsmuster“ (ebd. 277) und stellt seine Analyse so in das „Spannungsfeld zwischen konkreter Sachargumentation […] und universellem rhetorischen Schema“ (ebd. 278). Er weist 24 zentrale Argumentationsmuster pro und contra
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Einwanderung nach, die er auf einer Zeitachse von 1960 bis 1985, also diachronisch, abbildet (ebd. 302–321). Im Horizont der Zeitgeschichte stellt sich die funktionale Beschaffenheit von Diskursen als Ausdruck des kollektiven Wollens einer Gesellschaft dar, und damit z. B. als Instrument, um Kontinuitäten und Diskontinuitäten der sprachgebundenen kollektiven Mentalitätsgeschichte zu rekonstruieren.
4.4 Zeitgeschichte und Intertextualität Die Bedeutung von Texten in der Perspektive der Zeitgeschichte manifestiert sich diskurslinguistisch auf der Ebene der Intertextualität bzw. Diskursivität. ‚Intertextualität‘ ist Bezeichnung für alle Arten von impliziten oder expliziten Bezugnahmen auf vorgängige oder zeitgleiche Texte (zur hier nicht wiederzugebenden Intertextualitätsforschung vgl. u. a. den Überblick bei Fix 2008 und Klein/Fix 1997). Der Terminus bezeichnet ein prinzipielles Aufeinanderbezogensein sprachlicher Instanzen und setzt voraus, dass eine Texteinheit nicht isoliert zu denken, sondern in einen Verbund historischer und zeitgenössischer Texte eingelassen ist. Mit dieser Bestimmung wird vorausgesetzt, dass ein Text grundsätzlich auf andere Texte verweist, ohne textuelle Bezüge nicht möglich ist, nie für sich steht und eine durch andere (zeitgenössische und/oder historische) Texte determinierte Geschichte hat, in der Formulierung von Ulla Fix: Jeder Text wird vom Produzenten wie vom Rezipienten mit Bezug auf Textwissen und Texterfahrung, d. h. vor dem Hintergrund zuvor produzierter und rezipierter Texte, in der Kontinuität des jeweiligen Umgangs mit Texten wahrgenommen. (Fix 2008, 449)
Dasselbe Phänomen lässt sich mit ‚Diskursivität‘ dann bezeichnen, wenn auf die gesellschaftliche Kontextgebundenheit von Texten, auf ihre soziale (und damit geschichtliche) Bedingtheit verwiesen wird. Als Beitrag zur Beschreibung von Sprachwandel-, speziell Polyfunktionalisierungsphänomenen, formuliert Ingo Warnke die These, dass „der Einzeltext als historische Quelle […] Einsichten in Sprachwandelvorgänge nur [ermöglicht], wenn er im Kontext gleichgerichteter Vertextungen verortet wird“ (Warnke 2000, 219), um diesen „Kontext gleichgerichteter Vertextungen“ dann – mit den Foucaultschen Kategorien – „Diskurs“ zu nennen und das „Ereignis“ Einzeltext von der „Serie“ der Vertextungsgeschichte abzugrenzen (ebd.). Diskursivität definiert Warnke dann als „den kommunikativen Zusammenhalt einer Vielzahl singulärer Vertextungen, der als seriell organisierte und anonyme kommunikative Praxis funktionalen Sprachwandel bedingt“ (ebd. 220). Diese setzt er mit Intertextualität gleich. Als „Positivierung von Aussagen“ dokumentiert jedes „Textvorkommen […] bereits diskursive Strukturen und schreibt die Diskursformation inhaltlich fort.“ (Warnke 2002, 9) Texte als Diskursphänomene zu verstehen heißt also, sie als einen im Zuge kommunikativer gesellschaftlicher Praktiken repräsentierten Gegenstand zu bewerten.
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Der im Kontext der Zeitgeschichtlichkeit zentrale Aspekt ist der der Diskursgeprägtheit, der Gesellschaftlichkeit von Texten. Als Texte der Zeitgeschichte, wenn sie diskurslinguistische Gegenstände sind, gelten solche Texte, die hohe gesellschaftliche bzw. politische Relevanz haben. Das sind nicht nur Regierungserklärungen, textuelle Diskursbeiträge von Personen der Öffentlichkeit o. Ä., sondern auch Zeitungsartikel, Leserbriefe etc. Darüber hinaus gibt es Texte der Zeitgeschichte, die – z. B. als Normtexte mit hoher Verbindlichkeit – große und eine Gesellschaft, ihr Denken, Wollen und Sollen ausdrückende und zugleich prägende Kraft haben, wie z. B. der Text des Grundgesetzes oder der Verfassung. Solche Texte haben nicht nur zeitgeschichtlichen, sondern paradigmatischen Status. Dieser Status manifestiert sich, wenn solche Basistexte z. B. obligatorische Grundlage bei der Erstellung weiterer Exemplare desselben Genres, derselben Textsorte sind. Dieser Prozess einer Instanziierung eines Textes zu einem zeitgeschichtlichen Referenztext ist Gegenstand einer zeitgeschichtlichen Diskurslinguistik. Sie vollzieht diesen Prozess derart nach, dass sie diskursiv geprägte Intertextualitätsphänomene beschreibt. Die Instanz ‚Grundrechte‘ hat in diesem Sinn den Status eines zeitgeschichtlich relevanten Textes, der den Grundrechteteil der Paulskirchenverfassung von 1848 darstellt. Dieser wiederum wird in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 modifiziert bzw. reformuliert und ist Gegenstand eines verfassungsrechtlichen und öffentlichen Diskurses: Die Grundrechte werden im „Unterausschuss Grundrechte“ beraten, es finden Diskussionen in Parteien statt, Zeitungen berichten und kommentieren und in der Nationalversammlung wird mit Argumenten debattiert. Dieser (hier nur angedeutete) Nachvollzug des Instanziierungsprozesses der Grundrechte lässt erkennen, dass Texte Diskursphänomene und damit als ein kontrovers im Zuge kommunikativer gesellschaftlicher Praktiken repräsentierter Gegenstand zu bewerten sind. Zeitgeschichtlichkeit ist also Ergebnis einer agonalen Auseinandersetzung, an deren Ende ein Text den Status eines Nehmer-, ein anderer Text den eines Gebertextes hat. Die Relation des Textes der Verfassung von 1919 – als Nehmertext – zu dem Text der Verfassung von 1848 – als Gebertext – ist auf der linguistischen Ebene der Textsorte, der strukturellen Übernahmen bzw. Modifizierungen, sowie auf der lexikalisch-semantischen Ebene beschreibbar: formal (Übernahme/Entsprechung des Textmusters/der Textsorte), strukturell (Anzahl, Status, Reihenfolge der Paragrafen), lexikalisch-semantisch (Wiederaufnahmen, Reformulierungen, Ergänzungen, Adaptionen, Ersetzungen). Auf welcher Sprachebene solche intertextuellen Bezugnahmen auch stattfinden – sie sind, wenn es sich um Bezüge auf historische Texte handelt, Faktoren der Schaffung von textgebundener Zeitgeschichte. Daraus leiten wir das Prinzip der intertextuellen Reflexion ab: Intertextualität ist ein Phänomen, das die Zeitgeschichtlichkeit von Texten als gegenwartskompatibel gemachte Aktualisierungen von historischen Texten unter den Bedingungen einer jeweiligen gegenwärtigen Diskursformation reflektiert.
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5 Fragestellungen zeitgeschichtlicher Diskurslinguistik: Zwei Beispiele Die Frage, welche Erkenntnisinteressen die Perspektive der zeitgeschichtlichen Diskurslinguistik verfolgt, soll, angesichts der großen Forschungsvielfalt und der Vielzahl unterschiedlichster Befunde, nur exemplarisch mit zwei Beispielen beantwortet werden.
5.1 Zeitgeschichte als sprachliche Umbruchgeschichte Linguistische Diskursanalyse in zeitgeschichtlichem Horizont ist diejenige Perspektive, die sprachliche Umbrüche darstellbar macht, die als sprachgeschichtliche Befunde im Sinn von Gebrauchsveränderungen beschrieben werden. So erfährt der Zusammenhang zwischen historischen, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und der Struktur und Ordnung von Diskursen mit der Fokussierung auf gesellschaftlich-politische Umbrüche eine Spezifizierung. Eine Fragestellung, die Diskurslinguistik und Zeitgeschichte zueinander in Beziehung bringt, ist die nach dem Zusammenhang gesellschaftlich-politischer Umbrüche und diskursiver, sprachlich manifester Verschiebungen. Dieser Zusammenhang ist als mutuelle Relation nachzuweisen. Umbrüche sind plötzliche, radikale gesellschaftlich-politische Veränderungen. Sie sind nicht nur „historische Ereignisse“, weil sie überhaupt „eine geschichtliche Veränderung“ (Hölscher 2002, 72) bewirken, sondern weil sie höchstes und rasch wirkendes Veränderungspotenzial auf Diskursebene haben. Brigitte Schlieben-Lange beschreibt das Umbruchphänomen diskursbezogen in Bezug auf die Geschichte der Sprachwissenschaft: Brüche in Serien können in dieser Perspektive gerade als Erscheinungsform des diskursiven Zugriffs gelesen werden: die Serien verändern sich, wenn sie in den Sog der Diskurse als je neuer Systematisierungen des sprachlich formulierten Wissens (z. B. über Sprache) geraten. (Schlieben-Lange 1996, 237)
Dieses Veränderungspotenzial manifestiert sich in unterschiedlichen diskursiven Dimensionen, z. B. thematisch (neue Themen beherrschen die Diskurse, die zuvor nicht möglich waren), in Bezug auf die Beteiligten (neue Diskursgemeinschaften entstehen), textuell (es werden neue Textformate/-sorten erforderlich oder bestimmte Textformate/-sorten kommen in hoher Frequenz vor), lexikalisch-semantisch (Wortschätze verändern sich ausdrucks- und inhaltsseitig) und kommunikativ (es entstehen z. B. neue Formate politischen Redens). Thema, Beteiligte, Texte und Textsorten, Wortschatz, Kommunikationsformen sind demnach gesellschaftlich und sprachlich umbruchrelevante Faktoren, denn die Gesellschaftlichkeit von politisch-sozialem Wandel und die Gesellschaftlichkeit sprachlicher Umbrüche stehen
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auf diesen Ebenen in Beziehung zueinander. Insofern Serialität die Konstituente von Diskurs darstellt, ist serielle Diskontinuität dasjenige Phänomen, das auf der Ebene der Topik, der Texte/Textsorten, der Beteiligten, der Lexik, der Kommunikationsformen einen Umbruch sprachlich indiziert und mithin Gegenstand einer Umbruchanalyse, deren Erkenntnisziel auf die initialen Momente gesellschaftlicher, und damit sprachlicher Veränderung gerichtet ist (vgl. ausführlich Kämper 2011). Eine sprachliche Umbruchgeschichte beschreibt die Interdependenz der jeweiligen gesellschaftlichen Prozesse und sprachlichen Veränderungen im Unterschied zur ‚klassischen‘ Sprachwandelforschung synchronisch, d. h. punktuell. Gegenstand der Sprachwandelforschung ist nicht die Dynamik (vgl. Keller 1994, 153), sondern die Evolution, nicht der Moment der Neuerung, sondern der Prozess. Die Aufmerksamkeit und das Erkenntnisinteresse einer sprachlichen Umbruchgeschichte ist dagegen auf Zäsuren und deren Beschreibung als solche gerichtet. Diese Ebene der Synchronie ist auch die Ebene der Zeitgeschichte, die Ebene der Diachronie ist die Ebene der Geschichte (vgl. Kämper 2005, 2008, 2011). Fazit: Umbrüche sind nur auf der Basis von Diskursen erkenn- und beschreibbar. Darin besteht der Unterschied zu Sprachgeschichte als Entwicklungsgeschichte, die den allmählichen Wandel, den evolutionären Charakter von Sprachwandelprozessen beschreibt, ohne den Umbruch als solchen mit seinen Einflussfaktoren darzustellen. Die mit der Diskursperspektive feststellbare Serialität, also die kollektiv-gesellschaftliche Repräsentanz, erfährt im Moment sprachlicher Umbrüche sozusagen eine Störung, die auf den oben beschriebenen sprachlich relevanten Ebenen stattfindet und die einen Bruch der sprachlichen Diskursordnung bedeutet. Aus der Diskursperspektive können sprachliche Umbrüche damit als Brüche diskursiver Muster beschrieben werden.
5.2 Kollektives Gedächtnis Gegenstände des kollektiven Gedächtnisses sind Ereignisse der Vergangenheit, deren Aktualisierungen in der und für die Gegenwart mit außerhalb ihrer selbst liegenden Bedeutung versehen werden. ‚Kollektives Gedächtnis‘ bezeichnet Wissensinstanzen der Vergangenheit, auf die sich eine Gesellschaft, also kollektiv, in ihren öffentlichen Diskursen, also seriell, zum Zweck der Erinnerung, also kontext- und situationsgebunden, bezieht. Was das Kollektiv betrifft, um dessen Gedächtnis es geht, so umfasst es Gesellschaften von „Familien, Berufen, politischen Generationen, ethnischen und regionalen Gruppen, von Gesellschaftsklassen und Nationen“ (Kansteiner 2004, 127). Diese Instanzen erhalten im Zuge kommunikativer gesellschaftlicher, also diskursiver Prozesse den Status der Zeitgeschichtlichkeit. ‚Kollektives Gedächtnis‘ als Gegenstand eines diskurslinguistischen Zugriffs ist eine handlungsbezogene Kategorie. Seine Manifestationen sind aus linguistischer
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Sicht greifbar als kulturelle Praxis mit spezifischen Funktionen im kommunikativgesellschaftlichen Kontext (vgl. ausführlich Kämper 2015). Der Bestand des kollektiven Gedächtnisses, das „eine zentrale Rolle zur Erhaltung der Kultur“ spielt und „ihre Kontinuität [sichert], indem es das kulturelle Wissen gleichsam lagert, und die Wiederherstellung von Wissen“ erlaubt (Knoblauch 2005, 306), kann als eine spezifische Variante des Erinnerungs- bzw. historischen Wissens einer Gesellschaft gelten, seine aktualisierten Ausdrucksinstanzen sind sprachlich repräsentierte Elemente dieses Wissens. Die basale, jegliche Kommunikation voraussetzende allgemeine Bedingtheit von Gedächtnis und Wissen erfährt in Bezug auf mit zusätzlichem Sinn versehene kulturgeprägte Wissenselemente insofern gleichsam eine Verdichtung. ‚Kollektives Gedächtnis‘ ist eine für den diskurslinguistischen Zugriff operationalisierbare Kategorie. Sie bezeichnet Bewusstseinsphänomene, also die Manifestationen von Inhaltseinheiten des kollektiven Gedächtnisses, die kognitiv als Wissensinstanzen konzeptualisiert sind. Instanzen des kollektiven Gedächtnisses sind konzeptuell kognitiv gespeichert, sprachlich und damit diskursiv repräsentierbar und insofern als Gegenstand einer linguistischen Diskursanalyse konstituierbar. In deren Verständnis ist der aktivierte Wissensbestand des kollektiven Gedächtnisses die Einfügung von spezifischen Elementen historischen Wissens in den Kommunikationsprozess und damit Ergebnis einer Neu-Kontextualisierung. Die Instanzen des kollektiven Gedächtnisses müssen, damit diese Aktualisierung ihre kommunikative Funktion erfüllen kann, zum latenten Bestand historischen Wissens einer Gesellschaft gehören. Im Moment seiner diskursiven Aktualisierung erfährt dieser Bestand eine neue Deutung, die als Konstituierung neuer je historisch bedingter und damit variabler Wissenselemente beschreibbar ist. Eine weitere Voraussetzung gleichsam der Instanziierung von Elementen des kollektiven Gedächtnisses ist die der seriell-kollektiven Repräsentierung im Diskurs: Bestände des kollektiven Gedächtnisses sind kollektive Hervorbringungen einer Gesellschaft oder, mit Klein: „memory is a specifically social phenomenon“ (Klein 2000, 127). Als solche sind sie Diskursphänomene, die ihrer wissenschaftlichen Erschließung die Perspektive der Diskursanalyse geben: Diese macht die serielle Aktualisierung einer Instanz des kollektiven Gedächtnisses überhaupt erst sichtbar. Sprachlich gesehen ist die Reformulierung die entscheidende Voraussetzung dafür, dass sprachliche Elemente als Aktualisierungen des kollektiven Gedächtnisses erkennbar werden. Darüber hinaus gibt die Perspektive der Diskursanalyse Aufschluss über Dynamiken des Diskurses hinsichtlich der Präsenz (oder Abwesenheit) von Instanzen des kollektiven Gedächtnisses. Die Diskursperspektive erlaubt den Zugriff auf sprachlich kodierte Gedächtnisinhalte als kollektives Phänomen insofern hinsichtlich des Instanziierungsprozesses, dem Gegenstände des kollektiven Gedächtnisses unterworfen sind. Mit der Diskursperspektive wird mit anderen Worten der kollektive Sprachgebrauchsprozess sichtbar, der eine sprachliche Sinneinheit zu einer Wissensinstanz
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des kollektiven Gedächtnisses entwickelt, sie stabilisiert und/oder auch ihre diskursive Präsenz beendet. Das ist die linguistische Perspektive der die Wissenssoziologie interessierenden Frage danach, wie Gedächtnisinhalte „konkret erhalten, weitergegeben, konserviert und modifiziert werden können“ (Vogd 2007, 456). Insofern alle Erinnerungen „in einem Kollektiv nur dann Bedeutung [erlangen], wenn sie in einem gesellschaftlichen Rahmen strukturiert, repräsentiert und angewandt werden“ (Kansteiner 2004, 128), erschließt also der diskurslinguistische Zugang die Möglichkeit, diese Ordnung gleichsam einer sprachlichen Denkmalsetzung zu beschreiben. Diese memorialen Aktualisierungen haben Eigenschaften, die linguistisch zu beschreiben sind: 1. Die Performativität/Performanz der memorialen Aktualisierung ist r i t u a l i s i e r t, Ritual verstanden als „eine expressive institutionalisierte Handlung“ (Werlen 1984, 81–82), u. a. ausgedrückt mit sprachlichen Pathosformeln und Symbolen. Musterhaftigkeit, Musterrepetition und Erwartbarkeit sind daher Kennzeichen der rituellen Praxis. 2. Die textuellen Formate ihrer Aktualisierung sind stark m u s t e r h a f t e Textsorten wie Gedächtnis-, Gedenk- und Erinnerungsreden (zu Gedenkrede vgl. Felder 2000). 3. Hinsichtlich des Aktualisierungstermins besteht Z e i t g e b u n d e n h e i t, insofern insbesondere Jahrestage den Anlass der Aktualisierung darstellen. 4. Damit einher geht außerdem die tendenzielle S p r e c h e r g e b u n d e n h e i t des Ritus der Aktualisierung. Der rituell-offiziöse Kontext setzt einen professionellen und legitimierten Akteur, etwa den Festredner, voraus. 5. Memoriale Aktualisierungen sind schließlich f u n k t i o n a l und i s o t o p i s c h k o h ä r e n t. Das bedeutet: Der Zweck ihrer Aktualisierung ist Erinnerung an Ereignisse und Personen mit der Funktion der Identitätsschaffung. Damit werden memorial aktualisierte Gedächtnisinstanzen in ihrem historischen Kontext belassen und daher auch nicht semantisiert. Sie sind außerdem im Textverbund isotopisch kohärent in den Kontext einer Geschichtsnarration eingelassen, die ihrerseits Teil einer Meisternarration sein kann. Kohärenz schafft die memoriale Aktualisierung eines aktiv und performativ an zumeist ritualisierte Situationen des Gedenkens gebundenen Gedächtnisinhalts.
6 Fazit Der Beitrag hat ‚Zeitgeschichte‘ als diskurslinguistische Perspektive sowohl wie als diskurslinguistischen Gegenstand dargestellt. Diese Darstellung hat zeitgeschichtlich orientierte Diskurslinguistik zum einen auf relevanten linguistischen Analyseebenen reflektiert, nicht zuletzt um deutlich zu machen, dass zeitgeschichtliche Diskurslinguistik selbst keine Methode, sondern eine Perspektive auf Sprachdaten ist, die u. a. lexikalisch-semantisch, argumentationsbezogen oder (inter)textuell be-
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schreibbar sind. Auf der inhaltlichen Ebene ist Zeitgeschichte ein unerschöpflicher Gegenstand, der lediglich durch die Bestimmung von ‚Zeitgeschichte‘ als auf gesellschaftlich-politische Gegenstände des 20. und 21. Jahrhunderts bezogene Rekonstruktionen eine Eingrenzung erfährt.
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Diskurslinguistik und Zeitgeschichte
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4. Diskursgrammatik Abstract: Die linguistische Diskursanalyse hat zwar keine eigene Grammatiktheorie hervorgebracht, sich aber sehr wohl immer wieder auf Grammatiktheorien (bzw. diese einschließende Sprachtheorien) berufen, v. a. auf die functional grammar, die funktionale Pragmatik und die construction grammar. Diese weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, die als grundlegend für die Vorstellungen von Grammatik innerhalb der linguistischen Diskursanalyse gelten können: Grammatik (im gegenstandsbezogenen Sinne des Wortes) formiert sich demgemäß philo- und ontogenetisch im Sprachgebrauch und ist kein autonomes Modul, sondern derjenige Aspekt von Sprache als sozio-semiotischer Praxis, der die syntagmatische Musterhaftigkeit betrifft. Dementsprechend erhalten sprachliche Muster ein Kontextualisierungspotenzial hinsichtlich der Epochen, Situationen, Themen, sozialen Sprecherrollen, Medien und kommunikativen Gattungen bzw. Genres ihres Gebrauchs. In diesem Konzept ergeben sich eher kontexttranszendierende grammatische Phänomene (z. B. Restriktionen der Vorfeldbelegung im Deutschen) und eher kontextsensitive Phänomene (z. B. Nominalisierungstendenzen, Muster im Partikelgebrauch oder logisch-kombinatorische Effekte des Gebrauchs von Konnektoren). Die Forschung innerhalb der Diskurslinguistik (inklusive der Critical Linguistics, der verschiedenen Spielarten der Discourse Analysis und der sprachkritischen Linguistik in Deutschland) konzentriert sich begreiflicherweise auf die kontextsensitiven Phänomene. Mittels derer werden etwa soziokommunikative Asymmetrien, ideologische Voreinstellungen oder epistemische Grundfiguren analysiert. Der Handbuchbeitrag stellt den oben angedeuteten theoretischen Hintergrund dar und stellt Ergebnisse einschlägiger Forschungen vor.
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Einleitung Das forensische Programm: Was macht Grammatik mit Diskursen? Das explorative Programm: Was machen Diskurse mit Grammatik? Schluss Literatur
1 Einleitung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der grammatischen Organisation von Sprache in Diskursen. Der damit umrissene Forschungsbereich soll Diskursgrammatik heißen. Genauer: Der Ausdruck Diskursgrammatik bezeichnet erstens einen diskurslinguistischen Phänomenbereich, zweitens ein gedankliches Modell der Erfassung grammatischer Strukturen und drittens eine Forschungsrichtung. Im Eingang stehen folhttps://doi.org/10.1515/9783110296075-004
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gende miteinander verbundene Fragen: Wodurch grenzt sich Diskursgrammatik von sonstigen Grammatikmodellen ab? Was ist der Gegenstand von Diskursgrammatik? Diesen vorgelagert aber sind die Kernfragen: Was verstehen wir überhaupt unter Grammatik und was unter einem Diskurs? Vor aller theoretischen Modellierung lässt sich schon einmal sagen, dass Grammatik diejenige Perspektive auf sprachliche Zeichen bezeichnet, welche die syntagmatische Kombinatorik sprachlicher Zeichen betrifft. Die Standardmodelle von ‚Grammatik‘, die zur weiteren Beantwortung der Frage potenziell zur Verfügung stehen, sind a) das strukturalistische, b) das generative, c) das historisch-genetische und d) das funktionale. Hinzu kommt, mit geringerer Reichweite im Hinblick auf die zu erklärenden Sprachränge, die Valenzgrammatik. Diese Modelle können hier nicht referiert werden, es sei hier auf die aktuellen Darstellungen in Dürscheid (2012) und Hagemann/Staffeldt (2014) verwiesen.
1.1 Grundbegriffe und Forschungsfelder Sicher ist, dass im diskursanalytischen Zusammenhang kein Modell weiterhilft, das Grammatik als ein von Bedeutung und Funktion sprachlicher Zeichen abgekoppeltes Modul oder eine im Sprachsystem zu verortende abstrakte Struktur versteht. Diese Aussage würde für die hier aufgeführten Modelle a) – c) gelten. Für ein Grammatikverständnis diskursanalytischen Arbeitens liefert Haspelmath (2002, 271) das Motto, wenn er von Grammatik als ,,geronnenem Diskurs“ spricht. Auch wenn das Wort „Diskurs“ hier nicht im spezifischen Sinne der (deutschen) diskursanalytischen Tradition verwendet wird, sondern so viel wie ›Sprache im Gebrauch‹ bedeutet, ist damit die Grundlegung einer diskurstheoretisch inspirierten Grammatikforschung gegeben (zum Diskursbegriff s. u.). Grammatik muss also etwas sein, das in der Gebrauchsgeschichte sprachlicher Zeichen entsteht und somit als Epiphänomen semiotisch reifizierter Akte des Meinens und Verstehens anzusehen ist. Darüber hinaus gelten folgende Grundannahmen: Grammatik – wandelt sich; – variiert über thematische, situative, soziale und mediale Kontexte hinweg; – spielt eine mehr oder weniger saliente Rolle bei der kognitiven, sozialen und emotionalen Instruktion mittels sprachlicher Zeichen; – stellt für die Zeichenbenutzer selbst mehr oder weniger erkennbar eine Bedingung und Restriktion ihrer sprachlichen Handlungsmöglichkeiten dar. Insbesondere am letzten Punkt kann man sich verdeutlichen, welch zentralen Stellenwert Grammatik – wenn man sie denn so versteht, wie hier skizziert – im Rahmen einer Diskurstheorie der Sprache zukommt: Diskurse sind als Bedingungsgefüge sozialer Interaktion demnach grammatische Gebilde, in dem Sinne, dass die Trennung von Sagbarem und Unsagbarem, die Verteilung von Macht und Ohnmacht und die wahrheitsbildende Kraft des Seriellen Effekte sind, die zu einer kon-
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textsensitiven syntagmatischen Gestaltbildung beim Gebrauch sprachlicher Zeichen führen. Warnke u. a. (2014) entfalten eine analoge theoretische Position im terminologischen Rahmen der Aussagenanalyse nach Foucault und verorten Diskursgrammatik demgemäß im Kontext einer kulturwissenschaftlichen Linguistik. Über die Geschichte und Theoriebildung der linguistischen Diskursanalyse kann man sich in den entsprechenden Beiträgen dieses Handbuchs informieren. Aus der Perspektive der Diskursgrammatik ist jedenfalls ein Diskursbegriff einschlägig, der sich nicht nur über Themen definiert, wie das in der deutschen Tradition nach Busse/Teubert (1994) üblich ist, sondern übergeordnet die sozialen, epistemischen und kognitiven Effekte von Sprachgebrauch im Kontext hervorhebt. Der Terminus ‚Diskurs‘ ist also zuerst in der weiten Definition von ‚Sprachgebrauch‘ (z. B. Fasold 1990) zu verstehen und dann in weiteren Punkten zu spezifizieren, nämlich in Bezug auf – den Handlungscharakter und die multimodale Verfasstheit von Sprache im Gebrauch (van Dijk 2008a, 116); – die Ableitung der Regelhaftigkeit von Sprache aus der Regelhaftigkeit von Sprachverwendungssituationen (Feilke 1994; Tomasello 2006, 21). Diese Anschauung impliziert, dass sprachliche Muster nur unter Berücksichtigung der Varianz ihrer Verwendungskontexte beschrieben werden können; – den Zusammenhang von sprachlichen Formulierungsroutinen in Kontexten, der Prägung sprachlicher Konstruktionen und individuellem, sozialem und kollektiven Wissen (Felder/Müller 2009); – die Begriffstrias ‚Gesellschaft‘, ‚Handlung‘, ‚Kognition‘ als zentrale Explikanten des Phänomens ‚Sprache‘ (vgl. dazu Felder/Müller/Vogel 2012, 5–6); – die methodologische Festlegung auf die Auffassung von Sprachzeichen als Spuren sozialer Interaktion (Müller 2012; 2015a). Auf der Ebene der Systematik sind mit dem Terminus ‚Diskursgrammatik‘ prinzipiell alle Phänomenklassen angesprochen, die man aus der Systemgrammatik kennt: Phonologie, Morphologie, Phrasen- und Satzsyntax sowie Text- und Intertextgrammatik. Zur Verdeutlichung ist hier hinzuzufügen, dass mit Diskursgrammatik also nicht eine weitere grammatische Ebene oberhalb des Textes im Sinne einer Intertextgrammatik gemeint ist, die etwa pronominal organisierte intertextuelle Verweise beinhaltet, sondern vielmehr die grammatische Beschreibung im Rahmen einer Diskurstheorie der Sprache. Intertextgrammatik wäre aber als ein Teilbereich dem Forschungsprogramm einer Diskursgrammatik zuzuordnen. Die oben skizzierten Eigenschaften sind der Grammatik mehr oder weniger explizit und ausführlich in funktional argumentierenden Grammatiktheorien zugeschrieben worden, v. a. der functional grammar (Halliday 1978, 1985), der funktionalen Pragmatik (Ehlich 2007, 29–46; für die einschlägige Syntaxforschung: Hoffmann 2003) und der Theoriefamilie der Konstruktionsgrammatik (Goldberg 1995; Croft 2001; Bybee 2006 – zu deren Fachgeschichte und Differenzierung s.
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Ziem, in diesem Handbuch). Eine gute Darstellung der wichtigsten funktionalen Grammatikmodelle geben Smirnova und Mortelmans (2010). Einschlägig ist auch die Forschung zur sog. Grammatikalisierung (Diewald 1997; Haspelmath 2002), welche die momentan wohl beste Basis eines diskursorientierten Forschungsprogramms zur grammatischen Verfasstheit von Sprache darstellt (s. u., Kap. 3). Der folgende Beitrag gibt eine Darstellung diskurssensitiver grammatischer Phänomene, die möglichst unabhängig von Einzeltheorien sein soll. Ein hier prinzipiell einschlägiges Thema ist die Forschung zur Grammatik in der mündlichen Interaktion. Die obige Skizze der grundgelegten Vorstellung von ‚Diskurs‘ schließt Sprache in Gesprächen ausdrücklich ein. Wenn die entsprechenden Forschungen im folgenden Beitrag ausgeklammert werden, dann hat das darstellungspraktische Gründe: Die interaktionale Grammatikforschung hat gezeigt, dass es einen nicht kleinen Bereich grammatischer Strukturen gibt, deren Entstehung und Funktionsbereich in der interaktionalen Organisationsform von Gesprächen zu suchen ist. Diese haben einen eigenständigen Forschungsbereich konstituiert (Auer 2000; Deppermann 2007; Imo 2010). Die einschlägigen Forschungsergebnisse hier zu integrieren, hätte zur Voraussetzung, dass diese in einen gemeinsamen Vermittlungsrahmen mit der diskurstheoretischen Erklärungsperspektive gestellt würden. Das ist aber bis auf einige Ansätze (Roth 2010; Müller 2013a; Müller 2015a) noch nicht in der Weise geschehen, dass man in der komprimierten Form eines Handbuchbeitrags darauf aufbauen könnte. Unten (3.) wird aber in nicht systematischer Form auf die interaktionale Linguistik Bezug genommen. In der linguistischen Diskursanalyse selbst, zumindest im deutschsprachigen Bereich, spielte die grammatische Analyse lange Zeit praktisch keine Rolle. Das mag fachhistorisch dadurch erklärbar sein, dass sich die Diskurslinguistik in Deutschland v. a. aus einer Auseinandersetzung mit der Begriffsgeschichte entwickelt hat (Busse/Teubert 1994; dazu im Rückblick auch Busse 2013; diese Erklärung gibt auch Ziem 2013). Damit mag auch die starke Themenzentrierung der deutschen Diskurslinguistik erklärbar sein, die wohl viel dazu beigetragen hat, dass grammatische Phänomene bisher so wenig in den Blick gekommen sind. Im englischsprachigen Kontext der Critical Discourse Analysis (CDA) wird die Analyse grammatischer Muster zwar von Beginn an theoretisch und praktisch berücksichtigt (vor allem die Analyse von Nominalisierungen und Passivkonstruktionen, s. u.), so wird von Fowler und Kress (1979) die Grammatikanalyse diskutiert, Fowler geht auch in späteren Schriften auf Grammatik ein (z. B. Fowler 1991). Allerdings ist man dabei doch bei einzelnen Phänomenen geblieben, der Schwerpunkt der Analysen lag und liegt auch in der CDA deutlich auf der Lexik. Dieser wird zugetraut, sozio-epistemische Prozeduren, Ideologeme und gesellschaftliche Asymmetrien zu tragen und zu katalysieren, während die Grammatik der diskursanalytisch uninteressanten Systemebene der Sprache zugerechnet wird. Van Dijk (2008b, 4) als wichtiger Vertreter und Role Model der CDA schreibt in diesem Sinne: „Whether you are on the Left or on the Right, the grammar […] is the same for everyone.“ Mit dieser impliziten
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Trennung der Ebenen ‚System‘ und ‚Gebrauch‘ schließt van Dijk an eine lange Tradition innerhalb der Soziolinguistik an, die besagt, dass soziolinguistische Variation ein Gebrauchsphänomen sei, welches man unabhängig von Sprachsystem zu bewerten habe, das wiederum „von den Bedingungen einer gegebenen Gesellschaft relativ unabhängig sei“ (Quasthoff 1978, 44). Hier herrschte lange Zeit ein Konsens zwischen autonomistischen Grammatikern und Variationsforschern über die Aufgabenteilung im Bereich der linguistischen Gegenstandsfindung. Eine Position, die von der van Dijks abweicht, vertritt van Leeuwen (2012). Er untersucht vergleichend Komplementsätze in Reden des niederländischen Politikers Geert Wilders und der damaligen niederländischen Integrationsministerin Ella Vogelaar und interpretiert diese hinsichtlich möglicher rhetorischer Effekte. Allerdings diagnostiziert auch van Leeuwen (2012, 88): Within the tradition of Critical Discourse Analysis (CDA), substantial attention has been paid to style, i.e. a focus not on what (political) actors say, but on how they say it. Analyses have focused on a wide variety of linguistic means. However, striking is the relative sparse attention devoted to grammatical phenomena.
1.2 Diskursgrammatik als Linguistik indexikalischer Ordnungen Hier grundlegend ist also die Erkenntnis, dass Grammatik nur in Abhängigkeit von den sozialen Kontexten des Sprachgebrauchs erklärt werden kann. Während aber die Grammatikalisierungsforschung diese Prämisse heranzieht, um meist mit abstrakten Kontext- und Gesellschaftsbegriffen die Entstehung und den Wandel einzelner grammatischer Phänomene auf Systemebene zu beschreiben, besteht das Programm der Diskursgrammatik darin, die Involvierung grammatischer Muster in konkrete Sprachgebrauchskontexte aufzuzeigen und zu untersuchen. Damit ergeben sich zwei Perspektiven: Erstens wird – abweichend von der traditionellen Soziolinguistik – nicht mehr angenommen, grammatische Variation sei ein von der Systemebene der Sprache weitgehend abgekoppeltes und damit gesondert zu untersuchendes Phänomen, und zweitens wird – anders als in dem Zitat van Dijks – der Grammatik zugetraut, Aufschluss über epistemische, soziale und interaktionale Konstellationen in thematischen, situativen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu geben. Mit dem Terminus ‚Diskursgrammatik‘ wird also darauf aufmerksam gemacht, dass sprachliche Zeichen kraft der Tatsache, dass sie in sozialen Zusammenhängen entstehen, in indexikalischen Ordnungen ihres Gebrauchs zu verorten sind und diese gleichzeitig selbst hervorbringen. Diese These hat folgende Begründung, die hier nur holzschnittartig dargestellt werden kann (vgl. Müller 2012, 34– 37, 2015a): Sprache ist dazu da, in sozialen Interaktionen den wechselseitigen Anmutungen von Meinen und Verstehen eine Form zu geben („Reifizierung“, vgl. Wenger 1998). Damit entstehen Serien der syntagmatischen Reihung sprachlicher Ausdrücke, die sich als Spuren sozialer Interaktion analysieren lassen. Den Termi-
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nus ‚Indexikalische Ordnung‘ („orders of indexicality“) prägt Silverstein (2003, vgl. auch Blommaert 2005, 74, Müller 2015a): Aufbauend auf der Feststellung, dass sprachliche Zeichen im Moment ihrer Verwendung nicht nur ein symbolisches, sondern auch ein indexikalisches Verweispotenzial entwickeln und dass dieser indexikalische Zeichenaspekt die Verbindung sprachlicher Zeichen zu den situativen, sozialen, aber auch historischen und politischen Kontexten ihrer Verwendung konstituiert, zeigt Silverstein, dass sich die indexikalischen Bedeutungen sprachlicher Zeichen in Ordnungssystemen formieren, welche den Rahmen für Restriktionen der Entfaltung diskursiver Positionen in Situationen bilden. Der Punkt ist nun, dass indexikalische Ordnungen nicht nur Sprache in Situationstypen verankern, sondern auch die Zeichenkombinatorik relativ zu Kontexten betreffen. Grammatik wäre in dieser Perspektive ein Innenbereich des Verweissystems, durch welches sprachliche Zeichen in soziale Interaktionsräume verwoben sind. Die Idee von Grammatik als Konglomerat indexikalischer Zeichen ist für die mündliche Sprache von Auer (2000) aufgegriffen worden, von der Seite der Phraseologieforschung her hat Feilke (1994, 294–298) diesen Gedanken entwickelt. Dieser Innenbereich der indexikalischen Ordnung von Sprache weist nun kontexttranszendente und kontextsensitive Bereiche auf. Das hängt damit zusammen, dass diejenigen Phänomene, die von Sprecherinnen und Sprechern sowie Forscherinnen und Forschern gleichermaßen als Kernbereich der Grammatik erfahren werden, im Kindesalter erworben und in der weiteren Sozialisationsgeschichte über neu sich ergebende Kontexte hinweg angewendet werden, z. B. Restriktionen der Vorfeldbelegung im Deutschen, die Wortbildungskombinatorik in einfachen Sätzen oder Möglichkeiten der Wortkomposition. Andere grammatische Phänomene dagegen entwickeln ihre Musterhaftigkeit erst in mehr oder weniger spezifischen Kontexten und können daher als eher kontextsensitive Phänomene analysiert werden, z. B. Nominalisierungstendenzen, Muster im Partikelgebrauch oder logisch-kombinatorische Effekte der Verwendung von Konnektoren. Während kontexttranszendente grammatische Phänomene bis dato eher Gegenstand der Grammatikalisierungsforschung waren, tendieren diskursgrammatische Studien eher zu kontextsensitiven Phänomenen. Es scheint aber nicht sinnvoll zu sein, hier einer neuen Gewaltenteilung das Wort zu reden, wie sie vormals zwischen Grammatikforschung und Soziolinguistik geherrscht hat, sondern in der zukünftigen Forschung vielmehr Grammatik als ein Phänomen zu beschreiben und erfassbar zu machen, das in sozialen Situationen entsteht, sich wandelt und auf die Systemebene transzendiert wird. Es ergibt sich daraus für die Diskursgrammatik ein doppeltes Programm: Erstens werden grammatische Phänomene im Hinblick auf ihre epistemischen Funktionen in spezifischen thematischen Kontexten untersucht (Felder 2013; Warnke/ Karg 2013; Mattfeldt 2014). Und zweitens wird erforscht, inwieweit grammatische Strukturen selbst als emergente Diskursphänomene zu beschreiben sind (Bubenhofer 2009; Müller 2015a; b). Im ersten Fall kann von einem forensischen und im zweiten Fall von einem explorativen Programm der Diskursgrammatik gesprochen
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werden. In vereinfachten Forschungsfragen formuliert: Was macht Grammatik mit Diskursen (2.) und was machen Diskurse mit Grammatik (3.)?
2 Das forensische Programm: Was macht Grammatik mit Diskursen? Wenn Grammatik als Index für diskursanalytisch relevante Erkenntnisgegenstände betrachtet wird, baut man auf der Tatsache auf, dass grammatische Strukturen notwendigerweise die Sachverhalte, die sprachlich präsentiert werden, perspektivieren. An dieser Kernaussage aller funktionalen Grammatikmodelle setzt forensische Diskursgrammatik an und fragt danach, in welcher Weise grammatische Perspektivierungen an soziopragmatische Kontexte gebunden sind und diese erst hervorbringen. Köller hat die funktionalistische Idee der kognitiven Perspektivierung durch Sprache am konsequentesten ausformuliert. In seinem Buch Perspektivität und Sprache (Köller 2004) dekliniert er den Gedanken der Perspektivität auf allen Rängen des Sprachsystems aus. ‚Perspektivität‘ wird als Modus der kognitiven und kommunikativen Objektivierung konkreter und abstrakter Sachverhalte auf der Ebene der menschlichen Wahrnehmung und auf der Ebene des Kommunikationssystems Sprache beschrieben. Der Begriff ‚Perspektive‘ vermittelt dabei zwischen dem Aspekt des Erkenntnisobjektes und dem Standpunkt des Erkenntnissubjektes („Sehepunkt“). Die Perspektive ist diejenige Kategorie, in der sich – abhängig vom Standpunkt des Erkennenden – der Aspekt eines Sachverhaltes erschließt. Bei solchen kommunikativen Akten der Aspektualisierung mittels lexikalischer Zeichen sind zwei Arten von Perspektiven zu unterscheiden: Die Perspektive, die sich sprachhistorisch durch habitualisierte Ausdrucksverwendungen als Systembedeutung sprachlicher Ausdrücke verfestigt hat, und diejenige, die ein aktueller Sprecher durch die spezifische Verwendung eines bestimmten Ausdrucks auf seinen Redegegenstand einnimmt. Köller (2004, 317) schreibt dazu: Beim konkreten Sprachgebrauch überlagern sich gleichsam zwei Prozesswellen bzw. zwei kommunikative Perspektivierungsanstrengungen, nämlich die Prozesswelle, die auf die aktuellen sprachlichen Objektivierungsanstrengungen des jeweiligen Sprechers zurückzuführen ist, und die Prozesswelle, die auf die Ausbildung von brauchbaren sprachlichen Ordnungsmustern für aktuelle Perspektivierungsanstrengungen zurückzuführen ist.
Im diskursgrammatischen Kontext bedeutet das, dass grammatische Muster als Emergenzphänomen situativer Sachverhaltsperspektivierungen zu beschreiben ist, das als sprachliches Ordnungsmuster wiederum aktuelle Perspektivierungsanstrengungen restringiert. Der Grad der Restriktion ist stark kontextsensitiv. Grammatik ist für das forensische Programm der Diskursforschung besonders interessant, weil über die serielle Analyse derjenigen Ausdrucksklassen, die ab-
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strakte gedankliche Relationen wie Possession, Kausalität oder Konzessivität tragen, die Ordnungsmuster angesteuert werden können, welche den lexikalischkonzeptuellen Kategorien ihre Rolle in der Sinnformation des Diskurses zuweisen. Die Attraktivität des Zugriffs liegt also darin, dass man konkrete Ausdrücke wie z. B. unser, auf, daher, obwohl aufsuchen kann, die abstrakte Relationen repräsentieren, um dann in deren syntagmatischem Umfeld die autosemantischen Ausdrücke zu finden, mit welchen die Kernkonzepte eines Diskurses repräsentiert werden. Diese Formulierungen zeigen schon, dass es dabei in der Regel um die Analyse von Sprache in thematischen Kontexten geht. Methodisch wird dabei meist auf korpuslinguistische Standardverfahren zurückgegriffen, oft werden Konkordanzen und Kookkurrenzfelder (also Listen von Ausdrücken, die überzufällig häufig in der Umgebung eines anderen Wortes vorkommen) von einschlägigen Synsemantika erstellt und ausgewertet. Was dabei „einschlägig“ bedeutet, kommt auf den Untersuchungsansatz an: Wenn die Analyse an einer vorgegebenen logischen Relation interessiert ist, wird gezielt nach Ausdrücken gesucht, welche diese repräsentieren. Felder (2013) schlägt z. B. für die Forschung zu sog „agonalen Zentren“ vor, die Verteilung und Umgebung konzessiver und adversativer Konnektoren zu untersuchen (s. u.). Andererseits können auch im induktiven Korpusvergleich die diskurssensitiven Synsemantika ermittelt werden, welche dann den Ausgangspunkt der Analyse bilden (z. B. in Bubenhofer 2009). Drittens kann auch von zentralen lexikalischen Ausdrücken ausgegangen werden, deren Umgebung nach Ausdrücken und Satzmustern analysiert wird, welche die relationale Einbettung eines Kernkonzeptes im Diskurs indizieren (z. B. Jacob 2011 für Verantwortung oder Ziem/Scholz/ Römer 2013 für Finanzkrise – s. u.). Daneben gibt es Ansätze, die lexikalisch unspezifische grammatische Muster in Texten aufsuchen und ihnen eine diskursspezifische kategoriale Funktion zuschreiben, z. B. werden Nominalisierungen als Mittel der Eliminierung von Akteuren im Diskurs untersucht (s. u.). Im Folgenden werden forensisch orientierte Arbeiten im Bereich Diskursgrammatik exemplarisch vorgestellt – da eine phonologische Analyse im diskursanalytischen Kontext nicht bekannt ist und text- und intertextgrammatische Ansätze in textlinguistischen Überblickswerken (z. B. die Beiträge von Janich und Gansel/Jürgens in Janich 2008) schon gut dargestellt sind, richtet sich die Gliederung nach den Kernkategorien der grammatischen Analyse: Morphologie (2.1.) sowie Phrasenund Satzsyntax (2.2.).
2.1 Morphologie 2.1.1 Nominalisierung und Passivierung Zwei traditionsreiche, eng miteinander zusammenhängende Forschungsthemen aus dem Bereich der Morphologie sind Nominalisierungen (Wortbildung) und Pas-
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sivierung (Flexionsmorphologie). Sie können in einen Zusammenhang mit der deutschen Sprachkritik ab der Nachkriegszeit gebracht werden (s. u.) und bilden ein zentrales Thema der Critical Linguistics (Fowler/Hodge 1979) und, daran anschließend, der Critical Discourse Analysis (Fairclough 1992). Einen hervorragenden Einblick in die Arbeiten der CDA zu Nominalisierungen und Passivierungen gibt Billig (2008). Billig bezieht sich dabei in erster Linie auf die schulbildende Studie Language and Social Control (Fowler u. a. 1979): The analysis of ‚nominalization‘ was one of the most exciting features of the early work. By examining a series of examples, Fowler et al. (1979) demonstrated that choosing noun phrase over verbs and the passive voice over the active voice was often ideologically charged. […] Most readers of Language and Social Control would afterwards find it difficult to view headlines such as ‘Attack on Protestors’ as innocent summaries of reported stories. The East Anglian group pointed out that such headlines systematically omitted the agents of the action, […] fowler and his colleagues persuasively argued that in these contexts the choice of passive over active, or noun over verb, was not ideologically random. (Billig 2008: 785)
Fowler u. a. kritisieren an solchen Nominalisierungen in Zeitungsüberschriften, dass die syntaktische Reduktion erstens zur Tilgung der Handlungssubjekte aus der versprachlichten Szene („deleting agency“) und zweitens zur Vergegenständlichung eines Prozesses bzw. einer Handlung führe („reifying“ – dazu Billig 2008 785–786). Drittens stünden derart verdinglichte Prozesse selbst wieder als Akteure in abstrakten Handlungskonstellationen zur Verfügung. Mittels Nominalisierungen würden durch Menschen herbeigeführte Verhältnisse sprachlich als objektive und unabänderliche Gegebenheiten dargestellt und damit der Kritik entzogen: Instead of talking about people buying and selling commodities for various prices, economists, administrators, journalists etc. might talk about ‘market-forces’. The nominal term ‘marketforces’ can then be used as the subject for verbs that denote agency: ‘market-forces dictate/ demand/forbid …’ etc. […] This completes the transformation of processes into entities: these nominalized entities then become posited as the agents of processes. (Billig 2008: 786)
Viertens würden mittels Nominalisierungen Machtverhältnisse stabilisiert. Nach Fowler u. a. (1979, 33) haben Nominalisierungen in der Wissenschaft und anderen spezialisierten Gesellschaftsbereichen die Funktion, Menschen von gesellschaftlichem Wissen auszuschließen: New lexical terms can be created through nominalizing verbs. Technical and scientific writers often use nominalization in this way. The effect of creating new terms often is ‘control through the one-way flow of knowledge’ […]. Scientist use technical language which is filled with nominalizations rendering processes as entities. Those who create and use this specialized language act as gatekeepers for the scientific community, ensuring that young researchers write in the appropriate way. As such, formal discourse belongs to, and helps reproduce, a social context of inequality. (Billig 2008: 786)
Diesen letzten Punkt greift Billig auf und wendet ihn auf Arbeiten der CDA selbst an. Billig (2008, 789–792) analysiert, wie z. B. Fowler u. a. (1978) und Fairclough
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(1992) in solchen kritischen Analysen von Nominalisierungen und auch von Passivbildungen selbst Nominalisierungen und Passiv-Konstruktionen verwenden. Der Terminus Nominalisierung selbst stelle ja eine Nominalisierung dar (Billig 2008, 791–792). Damit würde aus dem Akt des Nominalisierens die Entität der Nominalisierung, welche die Autoren damit einer Prozessbeschreibung entziehen. Die Fragen etwa, wer aus welchen Motiven nominalisiert, stellen sich so nicht. Diesen Befund interpretiert Billig wissenschaftskritisch, er regt an, dass sich gerade Forscherinnen und Forscher der CDA sensibel gegenüber den Wirkungen ihrer Sprache zeigen und entsprechend selbstreflexiv mit Sprache umgehen sollten: „If critical analysts use the same forms of language whose ideological biases they are exposing in others, then they might be uncritically and unselfconsciously instantiating those very biases.“ (Billig 2008, 784). Davon ausgehend weitet Billig (2008, 795–796) den Fokus und richtet seine Kritik auf den fachsprachlichen Nominalstil des Wissenschaftsbetriebs, welcher zu verkürzenden und verdinglichenden Festschreibung dynamischer Prozesse führe und den Blick auf Akteure und Verursacher verstelle. Diese Arbeiten der CDA bearbeiten also Systematiken des Gebrauchs grammatischer Zeichen und betreffen damit Phänomene, welche nach Köller der zweiten Prozesswelle der semiotischen Perspektivierung angehören. Diese werden dann sozialkritisch ausgedeutet. Als sprachtheoretischer Grundbegriff fungiert dabei der Terminus ‚choice‘: Nach dem Modell der functional grammar (Halliday 1978; 1985) wählen Sprecherinnen und Sprecher beim Kommunizieren immer aus den Möglichkeiten der Versprachlichung, welche das Sprachsystem bereithält, diejenige Alternative aus, welche der Kommunikationssituation („context of situation“, Halliday 1985: 52–53) adäquat ist. Die Gesamtheit an choices, die sich aus einem context of situation ergeben, nennt Halliday (1985: 53) „register“. Fowler u. a. (1979) verwenden dieses deskriptive Modell, um kontextsensitiven Sprachgebrauch zu identifizieren, der auf kritikwürdige gesellschaftliche Verhältnisse schließen lässt. Dieses Verfahren kann man als soziopragmatisch informierte Variante von sprachkritischen Arbeiten betrachten, welche ab den 1950er Jahren in Deutschland von kulturkritischen Publizisten vorgelegt wurden. Beispielhaft dafür sei eine Passage aus der wohl bekanntesten dieser Arbeiten, dem erstmals 1945 erschienenen Buch Aus dem Wörterbuch des Unmenschen (Sternberger/Storz/Süskind 31968), zitiert. Dolf Sternberger diskutiert darin das Beispiel jn. betreuen als Ableitung aus dem Prädikat jm. treu sein: Wer jemandem treu ist, kann […] seinerseits dieses Jemands nicht sicher sein. Treu sein und bleiben ist eben, wie man daran leicht sieht, nichts weiter als ein menschliches Verhalten und Verhältnis. Für den Unmenschen ergab sich die dringende Notwendigkeit, erstens ein recht kräftiges Tätigkeitswort und zweitens ein transitives zu bilden oder hervorzusuchen, welches den Jemand schärfer anpackt. […] die Vorsilbe „be-“ half. Dieses „be-“ drückt nicht bloß ein selbstloses Hinzielen auf den Gegenstand aus wie die einfachen Transitiva „lieben“ und „schützen“, sondern eine Unterwerfung des Gegenstands, […]. Die Hortnerin oder besser: der Kindergarten betreut die Kinder. Der Lehrer oder besser: die Schule betreut die Schüler. Der
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Arzt betreut die Kranken. […] Ja wahrhaftig: Die Geheime Staatspolizei betreute die Juden. […] aber das ist mit dem Dritten Reich keineswegs untergegangen. Baufirmen, Siedlungsgesellschaften betreuen ungescheut die Bebauung dieses oder jenes Areals, als wäre das ein Akt der Barmherzigkeit, und als wäre kein Auftraggeber, Käufer, Benutzer, Pächter oder Mieter gegenwärtig. (Sternberger/Storz/Süskind 31968, 31–32)
An diesem Ausschnitt wird die Stoßrichtung der Kritik deutlich: Sternberger macht Beobachtungen am Sprachsystem und deutet diese kulturkritisch. Er geht dabei vom Sprachgebrauch der Nationalsozialisten aus, um diesen dann aber zum Ausgangspunkt für eine radikale kulturkonservative Zeitkritik zu nehmen. Der Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber (1958) hat dieses Beispiel aufgegriffen und weiterentwickelt in eine sprachidealistisch fundierte Systemkritik an Wortbildungen, die zur Folge haben, dass (menschliche) Objekte in Verbrahmen nicht mehr im Dativ, sondern im Akkusativ versprachlicht werden. In ähnlicher Weise sind Nominalisierungen, Funktionsverbgefüge und Komposita kritisiert worden. Darüber kann man sich kritisch in den Beiträgen von Kolb und von Polenz informieren, die der dritten Auflage von Sternberger/Storz/Süskind ( 31968) beigegeben sind. Eine umfassende historische Einordnung findet sich in Schiewe (1998).
2.2 Phrasen- und Satzsyntax Im Bereich der Phrasen- und Satzsyntax wird im forensischen Paradigma analysiert, wie lexikalisch perspektivierte Konzepte durch syntagmatische Musterbildung auf der Mikroebene in Diskurse integriert werden. Die Serialität syntagmatischer Prägung entfaltet eine indexikalische Kraft, welche nicht nur Konzepte in diskursspezifische Konstellationen bringt, sondern diese auch an Typen von Kontexten bindet. Diese syntagmatische Ebene der Sachverhaltskonstitution hat in den gängigen Mehrebenenmodellen der linguistischen Diskursanalyse einen festen Platz, z. B. in DIMEAN (Warnke/Spitzmüller 2008; Spitzmüller/Warnke 2011) und den Modellen von Felder (2009, 31–40; 2012, 146–160) und Müller (2007, 144–194.) Hier soll exemplarisch dargestellt werden, wie die Analyse syntagmatischer Muster Aufschluss über die Bauweise der in Diskursen konstituierten Sinnwelt geben kann und wie über die syntaktische Analyse von Diskursen Erkenntnisse über das Verhältnis von Akteursgruppen zueinander gewonnen werden können, sowohl hinsichtlich der gedanklichen Relationierung zentraler Diskurspositionen als auch im Hinblick auf die Selbstzuschreibung gesellschaftlicher Macht.
2.2.1 Nominalkonstruktionen: unser x Als erstes Beispiel für die forensische Diskursforschung an Nominalkonstruktionen soll die Possessivkonstruktion unser x im sprachlichen Rollenverhalten von Kommunizierenden, welche verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen angehören, be-
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trachtet und als Indikator der seriellen Selbstzuschreibung von Geltungsansprüchen gedeutet werden. Müller (2013b) untersucht an öffentlichen Äußerungen im Rahmen bioethischer Debatten, unter welchen Bedingungen Sprecherinnen und Sprecher Konstruktionen mit dem possessiven Determinativ der ersten Person Plural, also Konstruktionen des Typs unsere Kinder, unsere Gesellschaft, unsere Werte, dazu benutzen, um andere Interaktionsteilnehmer sprachlich ein- oder auszuschließen. In dem Satz unsere Gesellschaft ist korrupt wird z. B. für alle Menschen, die unter die Extension von unsere Gesellschaft fallen, das Prädikat ‚ist korrupt’ geltend gemacht. Durch die Serialität der Ergebnisse wiederum lassen sich solche Selbstermächtigungen zu bestimmten Aussagetypen als Index für soziokommunikative Asymmetrien oder soziale Macht begreifen. Ein grammatisches, und nicht etwa ein semantisches Thema ergibt sich hier dadurch, dass die begrifflichen Inklusions- und Exklusionseffekte erst durch die kontextsensitiv und seriell konstituierte Indexikalitätsbeziehung zwischen possessivem Determinativum und Possessum entstehen. An dem Beispiel wird auch gut deutlich, wie die innere Indexikalität von Sprache, also die grammatische Vernetzung der Zeichen mit der äußeren Indexikalität, ihrer Verwobenheit in die soziale Interaktion, verbunden ist. Als Illustration für den einschlägigen Gebrauch der unser x-Konstruktion soll ein Beleg dienen, in dem ein Politiker die Nominalphrase unser Leben verwendet: Schließlich und letztlich plädiere ich für eine kulturelle Enttabuisierung des Sterbens. So sehr jeder Tod die Katastrophe unseres Lebens ist, so wenig macht es Sinn, den Tod aus unserem Leben zu verbannen. Nur wenn wir Leiden, Sterben und Tod nicht verdrängen und in unser Leben zurückholen, werden wir die Urteilskraft entwickeln können, die wir so dringend benötigen, um in Grenzsituationen unseres Lebens bestehen zu können. (Politiker, schriftlich – Programmschrift in einem Sammelband)
Die zehn häufigsten Konstruktionen mit dem Determinativ unser im Sprachgebrauch von Politikerinnen und Politikern indizieren allesamt Inklusionshandlungen; insgesamt verwenden diese die unser x- Konstruktion zehnmal häufiger als Biologinnen und Biologen sowie immer noch zweieinhalbmal häufiger als Ärztinnen und Ärzte oder biomedizinische Laien. Quantitativ dominiert die Konstruktion unsere Gesellschaft. Der exkludierende Sprachgebrauch ist dagegen ganz besonders häufig bei der Gruppe der medizinischen Laien. Ein Beispiel für den exkludierenden Gebrauch der unser x-Konstruktion stammt aus einem Betroffenen-Forum Hallo XXX, da ist schon viel in dem, was YYY sagt. Unsere Tochter ist 15 und an MS erkrankt. Betroffene, schriftlich; Multiple Sklerosis Forum – Forenbeitrag (anonymisiert)
Wie man an den illustrierenden Belegen leicht erkennen kann, ist der Gebrauch solcher Possessivkonstruktionen in vielfältige Rede- und Textstrategien eingebunden. Auch ist die Semantik und Diskursfunktion der Konstruktion im Einzelfall komplex und nicht nur auf die Unterscheidung Exklusion und Inklusion zu beziehen. Die Serialität der Gebrauchsweisen liefert aber Erkenntnisse über die Sozio-
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Tab. 1: Inklusion- und Exklusionshandlungen mit der Konstruktion unser x als Index sprachlichen Rollenverhaltens in öffentlichen Beiträgen zur Bioethikdebatte (aus: Müller 2013b, 132). Gebrauch von unser x inkl. IP
Frequenz je 100.000 WF
Gebrauch von unser x exkl. IP
Frequenz je 100.000 WF
Politiker/in IG-Vertreter/in Theologe/in Philosoph/in Betroffener/Laie Arzt/Ärztin Journalist/in Jurist/in Biologe/in
49,41 46,63 41,2 25,22 16,67 15 14,47 9,88 5,67
Betroffener/Laie IG-Vertreter/in Arzt/Ärztin Journalist/in Biologe/in Theologe/in Jurist/in Philosoph/in Politiker/in
25,9 12,4 7,94 3,99 3,78 3,66 0,9 0 0
IP steht für Interaktionspartner/in, WF für Wortformen, IG für Interessengruppe
pragmatik der Konstruktion: Wer seinen Interaktionspartner in der gezeigten Weise in sprachlich indizierte Gruppen einbezieht, über die dann Aussagen gemacht werden, der sieht sich selbst zur Durchsetzung eines kommunikativen Geltungsanspruchs ermächtigt. Diese kann in der eigenen Rede oder durch den Interaktionspartner jederzeit affirmiert, bestritten oder auch ausgesetzt werden. Die entscheidende Analyseperspektive liegt hier nicht im einzelnen Sprechakt, sondern vielmehr in der Korrelation zwischen seriellen Inklusions- und Exklusionshandlungen und sozialen Sprecherrollen. Das bedeutet: Die serielle performative Selbstzuschreibung sprachlicher Handlungsmöglichkeiten kann unter bestimmten Voraussetzungen als Indikator für soziokommunikative Macht gedeutet werden. Tabelle 1 gibt eine Aufstellung von Inklusions- und Exklusionshandlungen im sprachlichen Rollenverhalten der neun wichtigsten sozialen Gruppen, deren Angehörige sich öffentlich über bioethische Themen äußern. Dass Politikerinnen und Politiker überdurchschnittlich häufig den Geltungsanspruch ihrer Aussagen auf die Adressatinnen und Adressaten ausdehnen, lässt sich gut mit dem persuasiven Grundmodus der politischen Sprache erklären. Laien dagegen thematisieren in der öffentlichen Bioethikdebatte einen Sachverhalt eher in Bezug auf persönliche Verhältnisse und sprechen dann eben von unserer Tochter, unserem Sohn usw., weil sich ja durch den persönlichen Lebensbezug ihre Legitimation als Sprecherin oder Sprecher ergibt. Der genannte Zusammenhang zwischen Inklusions- und Exklusionshandlungen auf der grammatischen Mikroebene und gesellschaftlichen Verhältnissen ergibt sich also erst, wenn man den jeweiligen Sprachgebrauch mit der diskurspragmatischen Position der jeweiligen Akteursgruppen in Verbindung bringt. Warnke (2004, 319–323) geht in Bezug auf den Menschenrechtsdiskurs ähnlich vor und verweist dabei auf die Möglichkeit, mit der Analyse von Quantoren (jeder Deutsche/alle Menschen) die indexikalische Lagerung von Nominalphrasen im konzeptuellen Bezugsraum diskursiver Aussagen zu analysieren.
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2.2.2 Semantische Rollen Wenn man – wie oben skizziert – grammatische Muster in Diskursen heranzieht, um die relationale Lagerung zentraler Konzepte zu untersuchen, dann ist das Konzept der semantischen Rollen (Fillmore 1968, von Polenz 2008) besonders interessant, weil hier von der Distributionsanalyse lexikalischer Ausdrücke als Argumente von Handlungs-, Vorgangs- oder Zustandsprädikaten auf diskurssensitive Perspektivierungen geschlossen werden kann. Semantische Rollen sind konzeptuelle Klassen, die von Prädikaten bestimmt werden und festlegen, welche Art von Konzept durch welches Element in einem Satz repräsentierbar ist. Zum Beispiel vergibt das Prädikat ‚schlagen‘ (Heidi schlägt Peter) die semantische Klasse des Handelnden (Agens) für das Subjekt und die des Erleidenden (Patiens) für das Akkusativobjekt. Ziem, Scholz und Römer (2013) verwenden diesen Ansatz zur vergleichenden Analyse der Konzepte ‚Ölkrise‘ in deutschen Texten der Jahre 1973/74 und ‚Finanzkrise‘ in Texten von 2008/9. Sie stellen zuerst fest, dass Lexeme mit -krise in ihrem Korpus in drei verschiedenen Konstruktionstypen einschlägig sind, nämlich (am Beispiel Finanzkrise) in: – Transitivkonstruktionen: Finanzkrise als Satzsubjekt (etwa Finanzkrise drückt die Rendite); – Possessivkonstruktionen: Finanzkrise als Genitivattribut einer Nominalphrase (etwa Opfer der Finanzkrise); – Präpositionalkonstruktionen: Finanzkrise als nominaler Kern einer Präpositionalphrase (etwa wegen der Finanzkrise) (Ziem/Scholz/Römer 2013, 348) In Transitivkonstruktionen werden dann verschiedene Prädikatstypen unterschieden, die wiederum dem Lexem Finanzkrise verschiedene semantische Rollen zuweisen (vgl. Tab. 2). Tab. 2: Prädikatstypen und Transitivkonstruktionen als syntaktische Einbettung des Lexems Finanzkrise; aus: Ziem/Scholz/Römer (2013, 351). Exempl. Token
Semantische Typen
Semantische Rollen nach von Polenz (2008)
trifft x beunruhigt x erschwert x
Handlungsbetroffene
Affiziertes Objekt (AOB) Benefaktiv (BE)
zeigt x bestätigt x lehrt uns x
Handlungsrechtfertigung
Contra-Agens (CAG) Benefaktiv (BE)
tobt steht
Zustandsbeschreibung
Agens (AG) Lokativ (LOC)
sorgt für x löst aus x erschüttert x
Handlungsresultate
Effiziertes Objekt (EOB)
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Abb. 1: Prozentualer Anteil der semantischen Typen an den 100 häufigsten Transitivkonstruktionen mit -krise (aus: Ziem/Scholz/Römer 2013, 352).
Entsprechend der Gliederung werden dann Diskurseffekte von grammatischer Metaphorik (vgl. Halliday 1985: 51–52), z. B. Agentivierungen oder sonstige Reifizierungen der Konzepte ‚Ölkrise‘ vs. ‚Finanzkrise‘ untersucht und systematisiert, indem die aufgefundenen Belegungen semantischer Rollen in vier interpretative Oberklassen zusammengefasst werden: Handlungsbetroffene, Handlungsrechtfertigungen, Zustandsbeschreibungen und Handlungsresultate. Ziem, Scholz und Römer geben dann eine Darstellung des quantitativen Verhältnisses dieser Kategorien, indem sie deren Füllwerte aus den 100 häufigsten Transitivkonstruktion auswerten (s. Abb. 1). Nach Ziem, Scholz und Römer (2013, 352–353) zeigen sich in dieser Perspektive Unterschiede in der Rollenzuweisung des Konzeptes ‚Krise‘ in den verschiedenen thematischen Kontexten: Während in der „Finanzkrise“ stärker Handlungsbetroffene […] und Handlungsresultate […] in den Blick genommen werden, spielen Handlungsrechtfertigungen und -beschreibungen […] in der „Ölkrise“ eine größere Rolle. Diese Ergebnisse scheinen in einem inhaltlich komplexen Verhältnis zueinander zu stehen: Je stärker auf die Betroffenen und die Auswirkungen der „Finanzkrise“ geschaut wird, desto mehr geraten Rechtfertigungen und Beschreibungen (des Zustandes) der Krise aus dem Blick. Und je weniger in der „Ölkrise“ umgekehrt betroffene Personen thematisiert werden, desto stärker ist es die (Beschreibung der) Krise selbst, die ins Zentrum rückt.
Mit dem Modell der semantischen Rollen arbeiten diskursanalytisch auch Müller (2007, 93–94 u.ö.; 2015a, 148–197) und Rothenhöfer (2011, 79).
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2.2.3 Phrasen und Sätze als Integrationsformen diskurskonstitutiver Konzepte Bei der diskurslinguistischen Analyse von Syntagmen kann man aus onomasiologischer Sicht monozentrische und plurizentrische Syntagmen unterscheiden. Ein monozentrisches Syntagma ist z. B. Verantwortung gegenüber der Gesellschaft (Beleg aus Jacob 2011, 66), in dem die Präpositionalphrase den nominalen Kern der Nominalphrase attribuiert und damit einem handlungsleitenden Konzept (Felder 2009, 21) spezifische Attribute zuschreibt. Dagegen gibt es auch syntaktische Muster in Diskursen, die als Integrationsform diskurskonstitutiver Konzepte betrachtet werden können. Diese werden hier als plurizentrische Syntagmen bezeichnet. Sie sind dann gegeben, wenn Kernkonzepte in Diskursen lexikalisch perspektiviert und dann auf der Mikroebene syntaktisch ineinander integriert werden. Müller (2007, 68–71 und 144–195) untersucht die syntaktische Integration der diskurskonstitutiven Wissensbereiche Kunst, Geschichte und Nation in kunsthistorischen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der deutschen Kunst. Diese kann in Nominalkonstruktionen oder Prädikationsgefügen geschehen:
Tab. 3: Syntaktische Integration der Wissensbereiche Kunst, Geschichte und Nation in Geschichten der deutschen Kunst. Nominalphrasen integrierte Bereiche
synt. Muster
Konstruktion
Kunst+Geschichte
Adj + N
künstlerische Entwicklung
Kunst+Geschichte
N + NP[Det + N]
Aufblühen der Malerei
Kunst+Nation
Adj + N
deutsche Architektur
Kunst+Geschichte+ Nation
N + NP[Det + Adj + N]
Verfall der deutschen Plastik
Kunst+Geschichte+ Nation
N + NP[Det + Adj + N] + PP[Präp + Adj + N]
Wandlung der südlichen Basilika zum deutschen Gotteshaus
integrierte Bereiche
Prädikatstyp
Konstruktion
Kunst+Geschichte
Vorgang
Die Architektur blüht auf.
Nation+Geschichte
Handlung
Die Nation erhebt sich.
Kunst+Nation
Zustand
Dürers Malerei ist deutsch.
Kunst+Geschichte+ Nation
Vorgang
Die Plastik in Deutschland verfällt.
Prädikationsgefüge
In solchen integrativen Fügungen werden Wissensbereiche nicht nur aufeinander bezogen, sie werden in einer bestimmten Weise aufeinander bezogen: In Formulierungen wie den oben dokumentierten erscheinen die Wissensbereiche erstens le-
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xikalisch perspektiviert und zweitens ggf. kodiert in bestimmten semantischen Rollen, und zwar weil solche integrativen Fügungen oft Konzepte prädikativ aufeinander beziehen, was zur Folge hat, dass dem Kopf der entsprechenden Nominalphrase eine semantische Rolle zugewiesen wird. So werden z. B. in der genitivischen Fügung Aufblühen der Malerei Geschichte im Sinne eines Modells von ‚Geschichte als Verbesserung‘ konzeptualisiert und ‚Malerei‘ (Kunst) als Patiens des Geschichtsprozesses präsentiert. In der Fügung künstlerische Entwicklung ist Geschichte neutral als ‚Veränderung‘ konzeptualisiert, während das Adjektivattribut künstlerisch den Bereich Kunst nur als unspezifischen Geltungsraum des Veränderungsprozesses aufruft: Die ‚künstlerische Entwicklung‘ ist schließlich keine Entwicklung, die künstlerisch ist, sondern eine Entwicklung im Bereich der Kunst. In dem Satz die Plastik in Deutschland verfällt ist ‚Plastik‘ (Kunst) als Patiens kodiert, Geschichte wird als Verschlechterung konzeptualisiert und ‚Deutschland‘ (Nation) wird durch die Integration des Ländernamens in ein lokales Präpositionalattribut als Ort präsentiert. So werden nicht Wissensbereiche, sondern Aspekte der Wissensbereiche ineinander integriert – es ergeben sich spezifische Konstellationen konzeptuell geprägten Wissens, die an syntaktische Muster gebunden sind. Auf diese Weise gibt die Analyse der Integrationsmuster Aufschluss über die interne diskursive Konfiguration komplexer Wissensbereiche. An Prädikationsgefügen in historischen Überdachungstexten ist besonders gut zu beobachten, wie die sprachliche Bewältigung historischer Komplexität auf der Mikroebene funktioniert. In den konstruktionellen Rahmen von Verben, die dem Nähebereich sozialer Interaktion entnommen sind, werden kategoriale, generische und abstrakte Nominale integriert, z. B. Backstein dringt südwärts vor Dehio I [1919, 284] oder die Nation blüht auf/die Plastik in Deutschland verfällt (s. o.). (vgl. dazu Müller 2009, 393–395)
2.3 Konnektoren Ein starker Index für asymmetrische und/oder konfliktive Schichtungen auf der konzeptuellen Ebene von Diskursen sind Konnektoren, also Wörter, welche die gedanklichen Verhältnisse zwischen Propositionen explizit machen. Bei der diskurslinguistischen Konnektorenanalyse geht es darum, diejenigen abstrakten Relationen eruieren zu können, die einem Diskurs immanent und in welche diskurssensitive Kernkonzepte gelagert sind. Praktisch bedeutet das zweierlei: Erstens können Konnektoren als Indikatoren dafür dienen, ob relativ zu einem thematischen, sozialen, funktionalen oder situativen Kontext z. B. kausale, konditionale oder konzessive Strukturen vorherrschen. Zweitens kann die Konnektorenanalyse die erste Phase einer strukturierten Konzeptanalyse bilden, indem zuerst Klassen von Konnektoren aufgesucht und dann in deren syntagmatischem Umfeld die autosemantischen Ausdrücke eruiert werden, mit welchen die Kernkonzepte eines Diskurses ausgedrückt werden. Diese Formulierungen zeigen schon, dass es dabei in der Regel um die Analyse von
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Sprache in thematischen Kontexten geht. Mattfeldt (2014, 22) gibt eine Begründung für die diskurslinguistische Analyse von Konnektoren: Konnektoren übernehmen im Text die Rolle von Lesehinweisen (vgl. Hausendorf/Kesselheim 2008, 82) […], die die Orientierung im Text erleichtern. […] Als Kohäsionsmittel, die potenziell Kohärenz im Text herstellen, tragen Konnektoren dazu bei, die Kohärenz eines Textes an der Textoberfläche deutlich zu machen, und sind daher von großer Relevanz für die Konstitution eines Textes […]. Konnektoren verknüpfen versprachlichte Sachverhalte an der Textoberfläche, wobei die Art der Verknüpfung bereits eine Deutungslenkung enthalten kann, wenn zum Beispiel mit Mitteln der finalen Konnexion die Handlungen einer Person mit Zielen verknüpft werden, die diese Person damit verfolgen könnte. Eroms bezeichnet Konnektoren als „diskurssteuernd“, da sie „den dynamischen, agierenden und reagierenden Charakter der Kommunikation zeigen“ (Eroms 2001, 47).
In der grammatischen Forschung herrscht keineswegs Konsens darüber, was mit dem Begriff ‚Konnektor‘ zu bezeichnen sei. Da es im Rahmen des forensischen Programms der Diskursanalyse um die Indikatorenfunktion grammatischer Zeichen geht, wird in den entsprechenden Arbeiten ein in Bezug auf die Wortartenkategorien weiter Begriff zugrunde gelegt, der streng funktional bestimmt ist: Versteht man unter Konnektoren vor allem Mittel zur Verknüpfung, die Lese- und Deutungshinweise geben, erscheint es sinnvoll, eine eher weit gefasste Definition von Konnektoren zu verwenden, die mehrere Wortarten umfasst. Deshalb wird hier die breite Basisdefinition der Duden-Grammatik zugrunde gelegt, die „Junktionen, Relativwörter, bestimmte Adverbien, Abtönungspartikeln und Präpositionen“ als Wortarten nennt, die als Konnektoren fungieren können (Duden 2009, 1066). Wichtig erscheinen hier als Definitionskriterien vor allem das Verknüpfungspotenzial, das mehr oder weniger explizit zur Geltung kommen kann […], und die Herstellung bestimmter inhaltlicher Relationen zwischen Propositionen. (Mattfeldt 2014, 24)
Um Konnektoren zu eruieren, wird meist auf korpuslinguistische Standardverfahren zurückgegriffen, oft werden funktional bestimmte Klassen von Konnektoren (z. B. kausale K. oder konzessive K.) mit Konkordanzprogrammen aufgesucht und dann mit dem erweiterten Kotext als Kernkorpora exportiert. Die meisten Arbeiten, die dieses Verfahren anwenden, erforschen auf diese Weise kompetitiv oder konfliktiv aufeinander bezogene Äußerungskomplexe. Entsprechend stehen adversative und konzessive Konnektoren im Mittelpunkt der Analyse. Zum Unterschied zwischen Adversativität und Konzessivität stellt Felder (2012, 152) zusammenfassend fest: Schwierigkeiten der Abgrenzung […] basieren auf der Tatsache, dass wir es mit einer präsupponierten Inkompatibilität von Sachlagen zu tun haben und dass adversative Konnektoren in bestimmten Lesarten als konzessive Konstruktionen aufgefasst werden können, aber nicht umgekehrt. Die unspezifischeren Adversativrelationen indizieren lediglich ein kontrastives Verhältnis, Konzessivkonstruktionen hingegen markieren einen inneren Zusammenhang zwischen zwei Propositionen […]. Zwischen zwei – durch eine Konzessivrelation verbundenen – Sachverhalten besteht stets ein innerer Zusammenhang, der in einer rein adversativen Satzverknüpfung hingegen nicht gegeben ist, aber implizit hergestellt werden kann.
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Tab. 4: Ausdrücke um adversative Konnektoren im Diskurs zur Berliner Mauer, aus: Schedl (2011, 13). abgeleitete Konzepte
Gruppen von Ausdrücken
›Ost‹ vs. ›West‹
Ost, Osten, Ostdeutsche, Ostdeutschland, Ossis, Ostler, Ostblock West, Westen, westlich, westdeutsch, Westberlin, Wessi, Westler
›Bürger‹ vs. ›Staat‹
Bürger, Volk, Bevölkerung Staat, Regierung, staatlich, Bundesregierung
›Einheit‹ vs. ›Teilung‹
Einheit, Vereinigung, Wiedervereinigung, gemeinsam gesamtdeutsch, einig, vereinigt Grenze, Mauer, Teilung, geteilt, Spaltung
›Kooperation‹ vs. ›Konfrontation‹
Gemeinsam, helfen, Freund, Bündnis, Zusammenarbeit, Vertrauen, solidarisch, Unterstützung Krieg, Gegner, schießen, kämpfen, Gewalt, Feind, Kampf, Wettbewerb, Konkurrent
›Freiheit‹ vs. ›Sicherheit‹
frei, Freiheit sicher, Sicherheit, sichern, Ordnung, Stabilität, stabil, versichern, stabilisieren, Unsicherheit, gesichert, Absicherung, unsicher
Die Analyse von Serien dieser Konnektoren relativ zu thematischen Kontexten verspricht nach Felder (2013) Aufschluss über sog. „agonale Zentren“. Ein agonales Zentrum ist gemäß Felder (2013, 21) ein sich in Sprachspielen manifestierender Wettkampf um strittige Akzeptanz von Ereignisdeutungen, Handlungsoptionen, Geltungsansprüchen, Orientierungswissen und Werten in Gesellschaften. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen kompetitive Sprachspiele zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Diskursakteuren (vgl. auch Felder 2012, 134).
Diese Definition, die sich auf Lyotard (1987) und dessen Rezeption in Warnke (2009) beruft, beschreibt agonale Zentren als eine soziopragmatische Konstellation, durch deren Analyse nicht nur die aufeinander bezogenen konzeptuellen Perspektiven verschiedener gesellschaftlicher Gruppen deutlich werden, sondern auch die Sprachhandlungsmuster, in denen die Perspektiven sprachlich aufgeführt werden. Praktisch werden dabei die syntagmatischen Umfelder adversativer und konzessiver Konnektoren auf Wörter untersucht, die über Assoziationsklassen zu Wortfeldern geordnet werden können, welche dann antagonistische Zentralkonzepte von Diskursen repräsentieren. Felder (2012, 136) resümiert das Vorgehen wie folgt: Durch die Untersuchung der adversativen und konzessiven Konnektoren-Kotexte nach signifikanten Lexemen entstehen extensional geprägte onomasiologische Vernetzungen, die in handlungsleitende Konzepte zurückgeführt werden können und dadurch operationalisierbar sind.
Schedl (2011) analysiert nach dieser Methode agonale Zentren im deutschdeutschen Pressediskurs zur Berliner Mauer (vgl. Tab. 4).
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Allerdings operiert diese Art der Konnektorenanalyse notwendigerweise mit grobkörnigen Kategorien grammatischer Relationen. Warnke und Karg (2013, 153– 154 und 156–158) zeigen am Beispiel des konzessiven Konnektors obwohl im deutschen Kolonialdiskurs, dass logisch-semantischen Relationen, welche durch Konnektoren repräsentiert sind, nicht schon dann als diskurssensitiv gelten können, wenn festgestellt wurde, dass die entsprechenden Konnektoren in einem gegebenen Diskurs überzufällig häufig vorkommen. Vielmehr sind die meisten Konnektoren polysem und haben eine ganze Reihe unterschiedlicher Lesarten. Warnke und Karg (2013, 156) referieren die entsprechenden Untersuchungen Di Meolas (1997), der für obwohl von insgesamt neun Lesarten ausgeht. Warnke und Karg (2013, 158–159) zeigen nun, dass obwohl im Kolonialdiskurs zwar formseitig überdurchschnittlich frequent ist, dass die statistisch messbaren Unterschiede aber verschwinden, wenn die einzelnen Lesarten getrennt berücksichtigt werden. Insofern ist es wichtig, dass die Feinkörnigkeit der Konnektorenanalyse dem jeweiligen Erkenntnisinteresse angepasst wird.
3 Das explorative Programm: Was machen Diskurse mit Grammatik? Während sich die forensische Perspektive grundsätzlich mit einer strukturalen autonomistischen Auffassung von Grammatik vereinbaren lässt (auch wenn die meisten genannten Autorinnen und Autoren diese nicht teilen), wird im explorativen Programm ausdrücklich und zwangsläufig ein gebrauchstheoretisches Grammatikmodell angenommen. Hier wird danach gefragt, inwiefern erstens spezifische Diskurse als Erklärung für die Präferenz für bestimmte grammatische Typen verstanden werden können und zweitens Grammatik im einzelsprachlichen Sinne als Emergenzphänomene aus diskursiven Makrokonstellationen erklärt werden kann. Das explorative Programm schließt unmittelbar an die Grammatikalisierungsforschung (Diewald 1997) und an Emergenztheorien der Grammatik (Haspelmath 2002) an. Für den Beschreibungsansatz einer dichten Empirie, wie ihn die Diskursforschung pflegt, ist es allerdings nicht unproblematisch, dass die meisten grammatischen Phänomene sich über sehr lange Zeiträume entwickeln und verändern, im frühen und mittleren Erstspracherwerb gelernt werden und dementsprechend über Kontexte hinweg angewendet werden (Tomasello 2006). Damit ergibt sich der Eindruck, Grammatik habe eben nichts oder nicht viel mit (thematischen, funktionalen, sozialen, zeitlichen) Diskursen zu tun. Hier hat die interaktionale Linguistik eine Vorreiterrolle eingenommen, indem die Forscherinnen und Forscher in vielen Einzelstudien gezeigt haben, welch hohen Stellenwert die sog. „Randgrammatik“ bei der Organisation interaktional prozessierter Sprache einnimmt. Damit sind grammatische Muster gemeint, die sich speziell in der mündlichen Interaktion for-
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mieren und aus einer an der schriftlichen Norm orientierten Perspektive entweder gar nicht in den Blick geraten oder aber als „ungrammatisch“ abgetan werden, z. B. das projizierende so als Quotativ-Marker (dann meint ich so= […] das meinste jetzt nicht ERNST, Auer 2006, 296) oder deontische Infinitivkonstruktionen (=Erst hausaufgaben dAnn fernsehen, Deppermann 2006, 245). Es kann heute nicht mehr sinnvoll bestritten werden, dass es ein bedeutendes Inventar an grammatischen Mustern gibt, deren Entstehungs- und Funktionsbereich in der mündlichen Interaktion liegt. Eine solche Beweisführung steht für die Diskurslinguistik der geschriebenen Sprache noch aus, hier steht die Analyse grammatischer Muster als kontextsensitiver Emergenzphänomene noch ganz am Anfang. Dabei gibt es zwei Perspektiven: Erstens kann gezeigt werden, dass die diskurslinguistische Forschung grammatische Phänomene hervorbringt, die aus systemlinguistischer Sicht vollkommen unsichtbar sind. Solche Phänomene kann man Geisterkonstruktionen nennen (3.1). Zweitens kann die explorative Diskursgrammatik die Variation, den Wandel und die Genese grammatischer Muster an dichten Kontexten beschreiben und dabei auch zeigen, dass Syntagmen, die aus systemgrammatischer Perspektive als transparente Effekte freier Zeichenkombinatorik erscheinen, sich dann als „soziale Gestalten“ (Feilke 1996) zeigen, wenn Kontextparameter wie Sprecherrolle, Situation und Thema berücksichtigt werden. Zwar zeigt bereits die Grammatikalisierungsforschung, welch große Rolle Kontexte bei der Formierung grammatischer Muster spielen (z. B. Diewald 1999) – dort bleibt der Kontextbegriff aber so abstrakt, dass Aussagen über Kontextrestriktionen für den gesamten Verwendungsraum einer grammatischen Konstruktion geltend gemacht werden. Das liegt wohl daran, dass das Erkenntnisinteresse der Grammatikalisierungsforschung in der zeitlichen, nicht aber der situationalen, funktionalen oder sozialen Variation liegt. Die Diskursgrammatik kann also die Grammatikalisierungsperspektive um einen variationslinguistischen Realismus bereichern. Methodisch hat sich bei der explorativen Analyse von Diskursgrammatik bisher vor allem der korpuspragmatische Zugriff (Felder/Müller/Vogel 2012, 4–5) bewährt: Unter Korpuspragmatik verstehen wir einen linguistischen Untersuchungsansatz, der in digital aufbereiteten Korpora das Wechselverhältnis zwischen sprachlichen Mitteln einerseits und Kontextfaktoren andererseits erforscht und dabei eine Typik von Form-Funktions-Korrelationen herauszuarbeiten beabsichtigt. Solche Kontextfaktoren betreffen potenziell die Dimensionen Handlung, Gesellschaft und Kognition. Die Analyse bedient sich insbesondere einer Kombination qualitativer und quantitativer Verfahren.
Im Bereich der damit angesprochenen Methoden ist vor allem die sprachstatistische Musteranalyse von Diskurskorpora relativ zu Vergleichskorpora (Bubenhofer 2009; Müller 2015a) in der Lage, auch solche syntagmatischen Verfestigungen zu entdecken, die gemäß systemgrammatischer Regelvorstellungen gar nicht in den Blick gekommen wären. Auch können auf diesem Weg kontextsensitive Verfestigung solcher Muster analysiert werden, die aus systemgrammatischer Sicht trans-
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parente komponierte Strukturen sind, aus der diskurspragmatischen Perspektive aber ihren Gestaltcharakter und ihr Kontextualisierungspotenzial offenbaren.
3.1 Geisterkonstruktionen Eine erste Perspektive für die kontextnahe Forschung an Grammatikalisierungsphänomenen ist also die Analyse von Geisterkonstruktionen (Müller 2015b). Damit sind Muster „versteckter Grammatik“ (Imo 2010) in Diskursen gemeint, die in der sprachstatistischen Analyse eine klare Konturierung aufweisen, die aber in dem Moment als autonome syntaktische Segmente verschwinden, wenn man sich Instantiierungen des Musters ansieht. Geisterkonstruktionen sind syntaktische Muster, die weder auf der System- noch auf der Gebrauchsebene der Sprache, sondern nur in der Zwischenwelt der diskursiv geprägten Serialität zu existieren scheinen. Es geht also um Konstruktionen, die existieren, wenn man sie nicht sieht, und verschwinden, wenn sie erscheinen. Den Weg, syntagmatische Muster in Diskursen mit sprachstatistischen Mitteln zu untersuchen, hat Bubenhofer (2009) aufgezeigt, der in einem Korpus aus Texten der Neuen Zürcher Zeitung signifikante Mehrworteinheiten misst und dann ansatzweise diskuslinguistisch interpretiert (z. B. Kampf gegen X, die deutsche(n) X). In Müller (2015b) wird festgestellt, dass bei der Messung solcher korpusspezifischer Mehrworteinheiten oft Muster zutage treten, die nach gängigem Verständnis gar keine syntaktischen Strukturen repräsentieren, in bestimmten Kontexten dennoch aber eine semiotische Gestalthaftigkeit entwickeln. Als ein Beispiel für eine solche Geisterkonstruktion wird in Müller (2015b) das Muster PPER ADV ADV diskutiert: letztlich geht es natürlich auch um risiken die bei der mutter entstehen uns geht es doch eigentlich sehr gut ja da möchte ich aber nochmal nachfragen sie dürfen uns auch gerne ganz altmodisch schreiben Zur Analyse solcher Muster sind Diskurskorpora in ein reines Wortartenformat zu bringen (Part-of-speech Tagging) und dann mittels statistischer Vergleichsanalysen überzufällig häufige Wortartsequenzen (n-Gramme) zu eruieren. An den Beispielen wird deutlich, dass es sich bei den Instantiierungen des Musters nach gängigem Verständnis nicht um segmentale syntaktische Einheiten handelt, sondern vielmehr um Teile mit Diskursmarkern angereicherter Syntagmen. Der typische pragma-syntaktische Kotext des Musters lässt sich dabei folgendermaßen bestimmen: [Höreradressierung] VFIN PPER ADV ADV [ADV…] [RK], [NS]
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Da die Partikelphrase hier direkt an das Personalpronomen anschließt, indiziert das Muster eine invertierte Wortstellung, und zwar am häufigsten in Deklarativsätzen, in denen die Inversion durch ein Adverb oder eine Partikel im Vorfeld ausgelöst wird. Daneben findet sich das Muster erwartungsgemäß in Fragesätzen und Nebensätzen. In einer Korrelationsstudie, in der die Verteilung des Musters auf unterschiedliche soziale Sprecherrollen untersucht wird, zeigt sich, dass die Gebrauchsdomäne des Musters mündliche Beiträge von Journalisten in Interviews und Debatten sind (Müller 2015b, 216–217). Dies kann mit der Aufgabe erklärt werden, Mediengespräche strukturell zu organisieren, indem Vor- und Rückbezüge hergestellt werden, Themenprägnanz markiert wird, und – im Hinblick auf die Mehrfachadressierung – ein Ausgleich zwischen Forcierung und Abtönung kontroverser Positionen im Gespräch geschaffen wird: Journalisten treten in der Mündlichkeit in der Bioethikdebatte vor allem als Moderatoren von Gesprächsformaten verschiedenen Zuschnitts auf, in denen es strittige Themen kontrovers zu verhandeln gilt. Dabei gibt es eine Mehrfachadressierung von Äußerungen der Interaktionspartner: Einerseits fungieren die Äußerungen im Rahmen der interaktiven Bearbeitung von Themen, Gesprächsmodi und Beziehungen; andererseits werden sie als Informationsangebot für Dritte, nämlich die Radiozuhörer oder Fernsehzuschauer, konzipiert. Im Kontext der Aushandlung strittiger Themen ergibt sich für den Moderator die Aufgabe, einen kommunikativen Eiertanz aufzuführen: Er ist für die interaktive Themenentfaltung und die Gesprächsdynamik zuständig; er muss im Interesse der dialektischen Behandlung des Themas, aber auch des Unterhaltungspotenzials des Gesprächs immer wieder forcieren, also die Prägnanz der kontroversen Positionen und ihrer Inszenierung schärfen. Andererseits muss er ständig retro- und prospektive Imagearbeit nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Diskutanten leisten, und zwar nicht (nur) im Interesse der Gesprächsteilnehmer, sondern vor allem im Sinne einer gelungenen Medieninszenierung. Die Konstruktion indiziert also die Aufgabe der Gesprächslenkung in öffentlichen kontroversen Gesprächen; sie dient zum Vollzug von Vor- und Rückbezügen im Gespräch; sie markiert Themenprägnanz; und steht für den Eiertanz zwischen Forcierung und Abtönung des journalistischen Gesprächsleiters.
3.2 Grammatische Muster als kontextsensitive Gestalten Mit Hilfe der vergleichenden Korpusstatistik kann aber auch gezeigt werden, dass solchen grammatischen Mustern, die aus systemgrammatischer Perspektive als transparente Effekte syntagmatischer Kombinatorik erscheinen, nicht selten eine kontextspezifische Gestalthaftigkeit zukommt. Ein Beispiel dafür ist das Muster mit ADJA NN. Es kann in quantitativen Vergleichsstudien (Müller 2015a) gezeigt werden, dass dieses Muster im sprachlichen Rollenverhalten von Ärzten und Politikern häufiger vorkommt als bei anderen Sprechergruppen. Mit ADJA NN kann dabei als Präpositionalattribut, als instrumentales bzw. modales Adverbial oder als Präposi-
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tionalobjekt vorkommen, wobei Präpositionalattribute insgesamt die dominante Satzfunktion bilden. Für die Konstruktion konnte jeweils ein rollenspezifisches Kontextualisierungspotenzial festgestellt werden. Es können dabei zwei Typen unterschieden werden: a) substantivierte Prädikationskonstruktion mit präpositional angeschlossenem Argument; z. B. Umgang mit moralischen Konflikten; b) expansive Nominalkonstruktion, in der ein Gattungsbegriff spezifiziert wird; Weizen mit besonderen Backeigenschaften. In Bezug auf das sprachliche Rollenverhalten von Politikern kann nun die Diskursfunktion der Konstruktionen beider Typen darin gesehen werden, dass damit komplexe Sachverhalte mit formelhaften Phrasen bewältigt werden, die einerseits syntaktische Verdichtung ermöglichen und andererseits aber auch in nicht-fachlichen Situationen – und ggf. in der Mündlichkeit – rezipierbar sind. Die Formelhaftigkeit dieser Konstruktionen wird wohl auch dadurch begünstigt, dass Themen in der Politik in wechselnden Kontexten und Medien immer wieder in denselben interaktionalen Konstellationen verhandelt werden. Für Ärzte hat lediglich der zweite Typus der Nominalkonstruktion Relevanz, und zwar thematisch spezifiziert durch Syntagmen wie Patienten mit ungünstiger Prognose. Sie kommen in bioethischen interdisziplinären Situationen, typischerweise in der Schriftlichkeit, vor und sind im Zusammenhang zu sehen mit der Aufgabe von Ärzten, sich im Bioethikdiskurs als doppelte Experten zu positionieren, nämlich erstens für medizinisches Fachwissen und zweitens für soziale Situationen der ärztlichen Berufspraxis. Mit der hier zur Rede stehenden Konstruktion werden Kategorisierungsformeln für Patientengruppen aufgerufen, die in ihrer Formelhaftigkeit auf ebensolche Lebenssituationen medizinischer Diagnostik verweisen. Das zeigt sich deutlich, wenn man die Äußerungskontexte der Konstruktion analysiert. Während für Präpositionalobjekte keine Rollensensitivität gezeigt werden kann, zeigt sich diese bei den Adverbialen: Bei Politikern indiziert die Verwendung der Konstruktion mit ADJA NN als instrumentales Adverbial Argumentationskontexte, der Adjektivslot zeichnet sich durch Gradattribute im Superlativ aus (z. B. mit modernsten Analysemethoden). In der Regel übernimmt die Konstruktion dann die diskurspragmatische Funktion einer Prämisse in Argumentationen. Mit ihr wird allgemein auf den Topos der Art und Weise verwiesen. Dieser erfährt in zwei Fällen eine Konkretisierung als ‚Topos der Seriosität‘: erstens als instrumentales Adverbial mit evaluativem Adjektivattribut (z. B. mit modernsten/ausgeklügelten Methoden) und zweitens als modales Adverbial mit Relevanzhochstufung im Adjektivslot (z. B. mit großem Ernst/mit großer Sorgfalt). Der Seriositätstopos scheint für biopolitische Debatten besonders fruchtbar zu sein. Für Ärzte wiederum konnte eine Rollensensitivität des Modaladverbials gezeigt werden: Ein Großteil der einschlägigen Formulierungen (z. B. mit enormen Aufwand) verweist entweder deskriptiv auf die individuelle oder generische Repräsentation von Behandlungspraktiken oder direkt auf den Kontext der ärztlichen Diagnostik.
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In solchen Analysen können nicht per se Ergebnisse gewonnen werden, die systemgrammatisch auch relevant sind, in dem Sinne, dass man sie in Grammatiken des Deutschen schreiben würde. Es ist aber davon auszugehen, dass eine konzertierte Forschung in diesem Bereich dazu führt, dass grammatischen Mustern auch auf der Darstellungsebene von z. B. Schulgrammatiken oder Grammatiken für Deutsch als Fremdsprache Informationen zu Gebrauchswerten und Idiomatisierungen beigegeben werden kann, so wie es zurzeit in zunehmenden Maße bei Bedeutungsangaben in Wörterbüchern geschieht.
4 Schluss Wie oben in der Einleitung dieses Beitrags dargelegt, können wir verschiedene Ebenen unterscheiden, auf die das Wort Diskursgrammatik anzuwenden ist: erstens einen diskurslinguistischen Phänomenbereich, zweitens ein gedankliches Modell der Erfassung grammatischer Strukturen und drittens eine Forschungsrichtung. Erstens kann hinsichtlich der Phänomenbereichsebene gesagt werden, dass Diskursgrammatik die Analyse der kontextsensitiven Variation, der Gebrauchsdynamik und der Genese grammatischer Muster betrifft. Zweitens weist Diskursgrammatik als grammatisches Beschreibungsmodell den dichten Kontexten der Sprachverwendung einen zentralen Erklärungswert zu und fügt den explikativen Paradigmen der funktionalen Grammatik damit eine soziokommunikative Komponente hinzu. Drittens kann Diskursgrammatik als Forschungsrichtung die linguistische Diskursanalyse vor allem dadurch weiterbringen, dass kognitive, soziale und situative Dimensionen von Diskursen in ihrer relationalen Lagerung erfasst und beschrieben werden können. Wir können zwei Typen des diskursgrammatischen Zugriffs unterscheiden, den forensischen und den explorativen Typus: Die forensische Diskursgrammatik beschäftigt sich mit dem Auffinden epistemischer Figuren, sozialer Asymmetrien und agonaler Zentren in Diskursen, meist relativ zu thematischen Kontexten, indem grammatische Muster als Indices konzeptueller Strukturen verstanden und ausgenutzt werden. Die explorative Diskursgrammatik erforscht kontextsensitive Grammatikalisierungsprozesse in Bereichen, die aus systemgrammatischer Sicht gar nicht in den Blick rücken. Insbesondere dieser zweite Bereich scheint große Entwicklungsmöglichkeiten für zukünftige Forschungen zu bieten, da sich hier die Chance ergibt, ein kommunikationsrealistisches Bild grammatischer Variation und Dynamik zu entwerfen und so die soziopragmatischen Kontexte von Grammatikalisierung und Sprachwandel zu erforschen.
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5. Diskurslinguistik und (Berkeley) Construction Grammar Abstract: Der Beitrag verfolgt das Ziel, konzeptionelle und methodologische Gemeinsamkeiten diskurslinguistischer und konstruktionsgrammatischer Analyseperspektiven auszuloten und konkrete Anwendungsbereiche exemplarisch vorzustellen. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass grammatische Beschreibungskategorien bislang nur sehr zögerlich in die Diskurslinguistik Eingang gefunden haben. Während es der Diskurslinguistik an einer Grammatiktheorie mangelt, fehlt der Konstruktionsgrammatik ein geeigneter Apparat zur Beschreibung von Musterbildungen im Diskurs. Grammatische Strukturen, so die leitende Annahme, sollten neben semantischen und pragmatischen Eigenschaften im gleichen Maße Berücksichtigung finden, da sie selbst Bedeutung(en) tragen und zur Bedeutungskonstitution (schon auf der lexikalischen Ebene) konstitutiv beitragen. Die Konstruktionsgrammatik offeriert einen (grammatik-)theoretischen und method(olog)ischen Rahmen für diskurslinguistische Untersuchungen, der im übergeordneten Erklärungszusammenhang eines am Sprachgebrauch orientierten Ansatzes skizziert und in drei Fallstudien exemplifiziert wird.
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Einleitung Die diskurslinguistische Relevanz von Konstruktionen Konvergenzen von Diskurslinguistik und Konstruktionsgrammatik Warum Konstruktionsgrammatik? Konstruktionsgrammatische Ansätze FrameNet und (Berkeley) Construction Grammar: diskurslinguistische Perspektiven Zusammenfassung und Ausblick Literatur
1 Einleitung Diskurse bilden die Bedingungsgefüge für die Konstituierung sprachlicher Bedeutungen, und zwar auf allen Ebenen der Zeichenorganisation. Worin der Gegenstandsbereich diskurssemantischer Studien besteht, hängt mithin davon ab, welche sprachlichen Einheiten als ‚bedeutungstragend‘ angenommen werden. Geht man, wie funktionale Sprachtheorien, davon aus, dass über das lexikalische Inventar hinaus grammatische Strukturen selbst kommunikative und semantisch relevante Funktionen erfüllen, sind auch diese einzubeziehen. Die Realität der diskurslinguistischen Forschung, zumindest im deutschsprachigen Raum, sieht jedoch anders aus. Gardt (2007, 32) kommt in einer Überblicksdarstellung zwar zu dem https://doi.org/10.1515/9783110296075-005
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Befund, dass die Diskursanalyse alle Ebenen des Sprachsystems vom Lexikon über Metaphern und Texten bis hin zu Sprechakten abzudecken versuche. Dass Grammatik in dieser Liste fehlt, muss jedoch als ein auffälliges Desiderat bewertet werden. Begreift sich die Diskurslinguistik tatsächlich „als eine funktionsorientierte Sprachwissenschaft, weil sie sprachliche Formen als Werkzeuge der Wissenskonstituierung versteht“ (Warnke 2013, 79), leuchtet es nicht ein, ihr Tätigkeitsfeld auf die lexikalische – und ggf. argumentative (etwa im Sinne einer Topos-Analyse) – Ebene zu beschränken. Genauso wenig, wie sich eine Sprache auf ihre lexikalischen Bausteine reduzieren lässt, wenn sie in ihrer Funktion als Werkzeug zur wechselseitigen Verständigung ernst genommen werden soll, wäre es verfehlt oder zumindest verkürzt, Diskurse auf den Bereich des Lexikons einzugrenzen. Grammatisches Wissen ist nämlich nicht weniger diskursiver Natur: Es ist Wissen, wie mit sprachlichen Formen konzeptueller Gehalt transportiert und kommunikativ eingesetzt werden kann. Dieses Wissen ist zugleich Ausdruck und Sediment kommunikativer Bedürfnisse einer Sprachgemeinschaft (Ziem 2015a). Denn bei sprachlichen – auch grammatischen – Strukturen handelt es sich um objektivierte Erfahrungen, die zum kollektiven Wissensvorrat einer Sprachgemeinschaft geworden sind, weshalb grammatisches Wissen zum geradezu prototypischen Gegenstandsbereich der Diskurslinguistik gehört, nämlich zu den, wie es Wengeler (2013, 66) formuliert, „seriell in verschiedenen diskursiven Einzel-Ereignissen immer wieder ähnlich vorkommenden Wirklichkeitskonstruktionen als gesellschaftlich verbreitete Denkmuster, als Ausdruck eines kollektiven, sozialen Wissens“. Diskursanalytisch betrachtet gehören auch grammatische Strukturen zu den Denkmustern, also dem kollektiven, sozialen Sprachwissen einer Sprachgemeinschaft. Da grammatische Strukturen bei der Bedeutungskonstitution auf allen Ebenen der Zeichenorganisation mitwirken und lexikalische Ausdrücke in aller Regel in grammatische Strukturen (Phrasen, Argumentstrukturen usw.) eingebettet sind, sollte ihnen in diskurslinguistischen Analysen schon auf der Wort-Ebene Rechnung getragen werden. Dies ist, so der Ausgangspunkt des Beitrages, insofern in einem konstruktionsgrammatischen Beschreibungsrahmen besonders gut möglich, weil dieser die diskurslinguistische Methodologie komplementär ergänzt. Während es der Diskurslinguistik an einer Grammatiktheorie mangelt, fehlt der Konstruktionsgrammatik ein geeigneter Apparat zur Beschreibung von Musterbildungen im Diskurs. Die Einbindung konstruktionsgrammatischer Konzepte ermöglicht es somit, grammatische Kategorien in diskurslinguistische Analysen einzubeziehen. Die Konstruktionsgrammatik ist aus dem Bestreben heraus entstanden, in enger Orientierung am tatsächlichen Sprachgebrauch ein Framework zu entwickeln, das (vermeintliche) Randphänomene bzw. Idiosynkrasien einer Sprache genauso erfasst wie kerngrammatische Bereiche. Fried und Östman (2004, 24) sprechen deshalb zurecht von einer maximalistischen Grammatiktheorie. Ihre Wurzeln reichen zurück zu zwei wegweisenden Fallstudien, zur let-alone- (Fillmore/Kays/O’Connors
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1988) und there-Konstruktion (Lakoff 1987, 462–585). Ausgehend von der Annahme, dass Zeichen, also konventionelle Form-Bedeutungspaare variierender Abstraktheit und Komplexität, die grundlegenden Bausteine einer Sprache bilden, besteht das Ziel der Konstruktionsgrammatik darin, das zum Verstehen einer sprachlichen Einheit relevante Wissen zu erfassen und ggf. zu modellieren. Dem Zusammenhang zwischen Diskurslinguistik und Konstruktionsgrammatik gehe ich in sechs Schritten nach. Zunächst wird zwischen grammatischen Konstruktionen als kognitiven Schemata und sprachlichen Mustern unterschieden; letztere werden als intrinsisch diskursive Einheiten begriffen, die als diskurslinguistische Analysekategorien Einsatz finden können (Abschnitt 2). Auch wenn der diskurslinguistische und der konstruktionsgrammatische Zugang grundlegende sprachtheoretische Voraussetzungen miteinander teilen (Abschnitt 3), sind die grammatiktheoretischen Prämissen allein in Letzterem hinreichend expliziert (Abschnitt 4). Trotz gemeinsamer Leitannahmen wäre es falsch, die Konstruktionsgrammatik als eine homogene Grammatiktheorie anzusehen; vielmehr ist es nötig, zwischen verschiedenen Ansätzen zu unterscheiden (Abschnitt 5). Nicht alle eignen sich jedoch im gleichen Maße für diskurslinguistische Analysen. Am Beispiel des FrameNet-Konstruktikons, das im Geiste der Berkeley Construction Grammar das lexikographisch ausgerichtete FrameNet um Konstruktionen erweitert, stellt Abschnitt 6 abschließend Ergebnisse von drei Fallstudien vor.
2 Die diskurslinguistische Relevanz von Konstruktionen Zumindest aus semantischer Sicht ist es inzwischen unbestritten, dass Schemata Fundierungskategorien erster Ordnung sind (vgl. hierzu ausführlich Busse in diesem Band; auch: Ziem 2008, 247–282), und zwar in zweifacher Hinsicht (Fillmore 1978, 165): Einerseits strukturieren und organisieren Schemata unser (sprachliches) Wissen; sie bilden also kognitive Einheiten im (Langzeit-)Gedächtnis, auf die bei der Sprachproduktion und -rezeption zurückgegriffen wird. Andererseits dienen Schemata zugleich als analytische Werkzeuge, mit denen sich sprachliche Strukturen im Untersuchungsmaterial identifizieren und analysieren lassen. In diesem Sinne hat das Frame-Konzept als methodisches Instrument Eingang gefunden in die diskurslinguistische Forschung (vgl. den Überblick in Ziem 2013a, 2014a). Die Unterscheidung zwischen Schemata als einer kognitiven Größe und einem analytischen Instrument ist von grundlegender Bedeutung für die Bewertung der diskurslinguistischen Relevanz von Konstruktionen. In der konstruktionsgrammatischen Forschung spielt zwar das Verständnis von Konstruktionen als kognitive Schemata eine dominante Rolle (Langacker 1987, Goldberg 1995 und 2006; aus psycholinguistischer Sicht: Bencini 2013), gleichzeitig kommen Konstruktionen aber
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auch als analytische Hilfsmittel zum Einsatz (Bybee 2013, Gries 2013). In dieser zweiten Hinsicht werden Konstruktionen – ähnlich wie Frames – zu einer wertvollen Kategorie für die diskurslinguistische Forschung. Um beide Bestimmungen von Konstruktionen auch terminologisch unterscheiden zu können, spreche ich fortan von Konstruktionen als Schemata, wenn es um die kognitive Dimension geht, und von Konstruktionen als Muster, wenn ihr analytischer Einsatz im Mittelpunkt steht.
2.1 Konstruktionen als Schemata: die konstruktionsgrammatische Perspektive Die Konstruktionsgrammatik ist eine zeichenbasierte Grammatiktheorie. Als kleinste Bausteine der Grammatik gelten Form-Bedeutungs- bzw. Form-Funktionspaare, also sprachliche Zeichen (im Sinne Saussures). Analytisch können Form- und Bedeutungsaspekte zwar jeweils isoliert betrachtet werden, jedoch existieren sie nicht als unabhängige sprachliche oder kognitive Einheiten. Da Form und Inhalt durch das soziale Band der Konvention zusammengehalten werden, variieren (Aspekte von) Konstruktionen in dem Maße, wie sich sprachliche Kodierungen von kommunikativen Bedürfnissen innerhalb einer Sprachgemeinschaft ändern. Was das Konzept der Konstruktion vom Saussure’schen Zeichen-Begriff unterscheidet, ist sein potentiell schematischer Charakter. In den Worten Taylors: A construction is a schema or template, which captures what is common to a range of expressions, and which, at the same time, sanctions new expressions of the respective type. (Taylor 1998, 177)
Goldberg (2006, 5) zufolge kommt jeder (potentiell komplexen) sprachlichen Einheit, die entweder nicht-kompositioneller Natur ist oder im Sprachgebrauch so frequent auftritt, dass sie als geschlossene Einheit kognitiv verfügbar ist, der Status einer Konstruktion zu. Dagegen beschränkt Langacker (1987, 2–86 und 409 f.) den Begriff der Konstruktion auf syntagmatisch komplexe Einheiten. Wörter wie Hund, hoch, ich sind demnach keine Konstruktionen, aufgrund ihrer morphologischen Komplexität wohl aber lexikalische Einheiten wie Hunde und höher. Gleichwohl handelt es sich nicht nur bei Konstruktionen (als Einheiten der Grammatik), sondern auch bei Wörtern (als Einheiten des Lexikons) deswegen um Schemata im Sinne Taylors, weil ihre kognitiven Repräsentationen sowohl formals auch inhaltseitig Ergebnisse der Abstraktion vom tatsächlichen Gebrauch sind. Langacker zufolge besteht ein konstruktionales Schema aus drei Elementen: Only three basic types of units are posited: semantic, phonological, and symbolic. A symbolic unit is said to be “bipolar”, consisting of a semantic unit defining one pole and a phonological unit defining the other: [[SEM]/[PHON]]. (Langacker 1991, 16)
Die so genannte phonologische und semantische Einheit treten nicht allein, sondern nur zusammen als konstruierte komplexe Einheit auf. Zu einer „symbolischen
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komplexe symbolische Einheit komplexe Formstruktur („phonologische Struktur“) Form
Form
Bedeutung [WORTSTAMM]
symbol.
[ -e]
symbol.
symbol.
[WORTSTAMM]
Bedeutung [PLURAL]
komplexe Bedeutungsstruktur („semantische Struktur“)
Abb. 1: Nominale Pluralbildung als konstruktionales Schema.
Einheit“ werden sie durch ihre konventionelle Verbindung. Der frequente Gebrauch in gleichförmigen Kommunikationszusammenhängen führt zur sprachlichen Verfestigung der Einheit (entrenchment). In der Folge ist die komplexe Struktur auch kognitiv als Einheit verfügbar und reproduzierbar, ohne ihre kompositionale Struktur beachten zu müssen (Taylor 2002, 26). Dies gilt nicht nur für Instanzen von Schemata, wie etwa für nominale Pluralbildungen (z. B. [[Hund]e]], [[Töpf][e]], [[Affe][n]]), sondern auch für das konstruktionale Schema, das diese Bildung lizenziert (Booij 2010, Kap. 3). Für eine Klasse von Nomen bildet beispielsweise das Schema [Wortstamm][e]] formseitig ein Paradigma für Pluralbildungen; Langackers Notationsform folgend illustriert dies Abbildung 1. Obwohl das Schema ein voll kompositionelles sprachliches Phänomen beschreibt, gilt es in der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik als eigenständige Konstruktion. Aus welchen Informationseinheiten setzen sich Konstruktionen zusammen? Abbildung 1 veranschaulicht ein morphologisches Paradigma, also ein sprachliches Phänomen von syntagmatisch geringer Komplexität. Wendet man sich komplexeren Konstruktionen, etwa Argumentstrukturen, zu, wird deutlich, dass die Form- und Inhaltsseite weitere Eigenschaften umfassen können. Formseitig sind dies neben morphologischen auch syntaktische und phonologische Charakteristika, inhaltsseitig neben semantischen auch pragmatische und diskursfunktionale Kennzeichen. Croft (2001, 18) fasst diese wie in Abbildung 2 illustriert zusammen. Ähnlich wie das in Abbildung 1 beschriebene konstruktionale Schema zur nominalen Pluralbildung, spezifizieren die meisten Konstruktionen nicht alle von Croft angeführten Informationseinheiten. Die Doppelobjekt-Konstruktion (z. B. Peter gibt Jörg ein Buch) enthält etwa keine morphologischen oder phonologischen
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Construction Syntactic properties Morphological properties Phonological properties
(Conventional) form
Symbolic correspondence (link) Semantic properties Pragmatic properties Discourse-functional properties
(Conventional) meaning
Abb. 2: Konstruktionen als komplexe Zeichen nach Croft (2001, 18).
Restriktionen, noch stellt sie pragmatische oder diskursfunktionale Informationen bereit. Bei anderen Konstruktionen ist dies anders. So etwa bei der so genannten Incredulity-Response-Konstruktion (z. B. Der und Arzt?, vgl. Fillmore/Kay/O’Connor 1988; Lambrecht 1990), mit der Sprecherinnen und Sprecher Ungläubigkeit und Verwunderung zum Ausdruck bringen können. Wie Lambrecht zeigt, basiert die Incredulity-Response-Konstruktion wesentlich auf einer bestimmten prosodischen Kontur; sie unterliegt also phonologischen Realisierungsbedingungen. Ein illustratives Beispiel für eine diskursfunktional spezifizierte Konstruktion sind Extrapositionen (z. B. Stolz auf sein neues Fahrrad ist Peter ohne Frage), insofern sich diese auf die Informationsstruktur des Satzes auswirken (vgl. Günthner 2006, Michaelis/ Ruppenhofer 2001). Festzuhalten bleibt, dass es sich bei Konstruktionen zwangsläufig um schematische Abstraktionsgrößen handelt. Sie umfassen wesentliche Eigenschaften, die alle Instanzen dieser Konstruktion teilen, während von jenen Charakteristika abstrahiert wird, die nicht alle Instanzen gemeinsam aufweisen. Das gilt auch für die Bedeutungsseite. Trotz erheblicher semantischer Variationen bilden beispielsweise (1a) bis (1c) Instanzen der Doppelobjekt-Konstruktion. (1) a. Hans gibt seinem Sohn einen Kuss. b. Corinna backt ihrem Bruder einen Kuchen. c.
Eberhard liest seiner Tochter eine Geschichte vor.
Die Konstruktionsgrammatik geht davon aus, dass auch syntaktische Strukturen Bedeutung tragen. Konkret: Eine vergleichbar abstrakte Form-Bedeutungseinheit
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bildet die Doppelobjekt-Konstruktion, deren semantischer Gehalt darüber informiert, dass ein Agens (Hans, Corinna, Eberhard) veranlasst, dass ein Rezipient (seinem Sohn, ihrem Bruder, seiner Tochter) ein möglicherweise abstraktes Affiziertes Objekt (einen Kuss, einen Kuchen, eine Geschichte) erhält. Dass es tatsächlich die Konstruktion ist, die diesen semantischen Beitrag leistet, machen (1b–c) deutlich. Hier treten syntaktisch zweiwertige Verben in die Doppelobjekt-Konstruktion ein. Anders als in (1a) kann die Bedeutung eines Transfers also nicht in der Verbvalenz angelegt sein; vielmehr stammt diese von der Konstruktion. Auch wenn Crofts Charakterisierung von Konstruktionen als weitgehend konsensuell gelten darf, so bleibt dennoch ein aus diskurslinguistischer Sicht wichtiger Aspekt unberücksichtigt. Bereits Fillmore (1988, 51) hat darauf hingewiesen, dass Kontextfaktoren, einschließlich Verwendungsbedingungen, kriterial für Konstruktionen sein können, so etwa im Fall von Grußformeln. In diesem Sinne argumentieren auch Fried und Östman (2004, 20), dass „some constructions must make reference to differences in register, social value, and context-related properties or pragmatic reasoning”. Noch weiter geht Bybee (2010, 14), wenn sie postuliert, dass die Bedeutungsseiten von Konstruktionen auch Inferenzen über den gesellschaftlichen, sprachlichen sowie außersprachlichen Kontext umfassen könnten. Kurzum: Für einen gebrauchsbasierten Ansatz, wie ihn Bybee, Fried und Östman vertreten, gelten Konstruktionen stets als Ergebnisse diskursiver Prägungen (hierzu ausführlich: Ziem 2015a).
2.2 Konstruktionen als Muster: die diskurslinguistische Perspektive Der intrinsisch diskursive Charakter ist bereits in der definitorischen Bestimmung von Konstruktionen als konventionelle Einheiten angelegt. Konventionen sind sprachliche Relikte dessen, was im kommunikativen Haushalt einer Sprachgemeinschaft zum Usus geworden ist. Diesem Umstand trägt Goldberg Rechnung, wenn sie über Nicht-Kompositionalität hinaus kognitive Verfestigung (entrenchment) als Definiens ansetzt. Any linguistic pattern is recognized as a construction as long as some aspect of its form or function is not strictly predictable from its component parts or form other constructions recognized to exist. In addition, patterns are stored as constructions even if they are fully predictable as long as they occur with sufficient frequency. (Goldberg 2006, 5)
Im Anschluss an Goldberg soll fortan von Konstruktionen als Mustern („pattern“) oder sprachlichen Prägungen gesprochen werden, und zwar im Sinne von „kulturellen Signifikanzen des alltäglichen Sprachgebrauchs“ (Linke 2011, 41), die in verfestigten sprachlichen Strukturen (wie Kollokationen, Routineformeln, Phraseologismen etc.) Ausdruck finden und sich korpusbasiert nachweisen lassen.
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Der Begriff des Musters steht in der Tradition datenbasierter, empirischer Sprachforschung (vgl. Bücker 2015, Abschnitt 3), zu deren wichtigstem Prinzip die Leitmaxime „what you see is what you get“ (Goldberg 2003, 219) gehört. Sprachliche Strukturen gelten als Abstraktionsgrößen, abgeleitet von Oberflächenstrukturen. Grundsätzlich abgelehnt werden leere Kategorien, „unsichtbare“ Tiefenstrukturen und Bewegungen (wie „move α“ in der Generativen Grammatik). Eng verwandt mit dem Begriff des Musters ist das Konzept der (Ausdrucks-)Prägung (Feilke 1996). In die konstruktionsgrammatische Diskussion hat es Paul Kay (2002) eingeführt, dies allerdings in scharfer Abgrenzung vom Konzept der grammatischen Konstruktion; nur letztere, nicht aber sprachliche Prägungen, seien Teil der Grammatik im engeren Sinne, da nur sie als Basis für Grammatikalitätsurteile dienen können. Problematisch ist diese Dichotomie jedoch deshalb, weil ihr ein reifiziertes Verständnis von grammatischen Strukturen zugrunde liegt, demnach Grammatik unabhängig vom Sprachgebrauch existiert und ohne Bezug auf den tatsächlichen Sprachgebrauch untersucht werden kann. Anders als Kay geht das auch hier favorisierte gebrauchsbasierte Modell („usage-based model“, Langacker 1988) deshalb davon aus, dass sprachliche und konzeptuelle Strukturen aufs Engste miteinander verbunden sind. Aufgegeben wird somit nicht nur eine scharfe Trennung von Sprachgebrauch und Sprachsystem, sondern auch die strukturalistische Separierung von Synchronie und Diachronie. Stattdessen gilt, was Diessel treffend folgendermaßen zusammenfasst: Grammar is a dynamic system of emergent categories and flexible constraints that are always changing under the influence of domain-general cognitive processes involved in language use. (Diessel 2015, Abschnitt 1)
Ein solches dynamisches Konzept von sprachlichen – auch grammatischen – Kategorien zeitigt für empirische Analysen konkrete Konsequenzen. Sie hat etwa kontextuellen Faktoren, einschließlich diskursiver Bedingungen der Realisierung von sprachlichen Zeichen, Rechnung zu tragen. Was für eine Sprachgemeinschaft als musterhaft und gleichförmig identifiziert werden kann, muss nicht im gleichen Maße innerhalb einer anderen Sprachgemeinschaft Geltung haben. Und was als musterhaft und gleichförmig in einem institutionellen Kontext gilt, kann bisweilen unter anderen Realisierungsbedingungen mithilfe von alternativen Mustern sprachlich realisiert werden. Eine genuin diskurslinguistische Aufgabe besteht nun darin, den möglichen Variationsbereich grammatischer sowie lexikalisch-semantischer Muster diskursvergleichend zu eruieren und auszuweisen. Muster haben dabei den Status von soziokulturell geprägten Sedimenten gleichförmiger kommunikativer Handlungen innerhalb einer Diskursgemeinschaft. Diese im Bereich grammatischer Strukturbildungen zu erfassen, ist bislang vorrangig an der Schnittstelle von Korpus- und Diskurslinguistik gelungen (vgl. exemplarisch Hein/Bubenhofer 2015; Lasch 2015; Müller 2015; Ziem 2013b). Eröffnet sich hier ein konkreter Anwendungsbereich der
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konstruktionsgrammatisch inspirierten Diskursforschung, so zeigt sich der Nutzen konstruktionsgrammatischer Analysekategorien erst auf den zweiten Blick. Drei Aspekte, die im Weiteren ausführlicher behandelt werden, seien vorweggreifend hervorgehoben: – Etablierte konstruktionsgrammatische Methoden helfen bei der Identifizierung und analytischen Beschreibung diskursiv relevanter Muster (vgl. Ziem/Lasch 2013, 67–76). – Das Konzept der Konstruktion erlaubt eine sprachtheoretische Einordnung von Musterbildungen im Diskurs, weil sich mittels Konstruktionen der linguistische wie auch epistemologische Status und Stellenwert der Untersuchungseinheiten definieren lassen. – Schließlich kann mithilfe von Konstruktionen der Konnex zwischen sprachlichen Mustern und kognitiven Schemata (im erläuterten Sinne) hergestellt werden, wodurch die erzielten Analyseergebnisse zum Gegenstand weiterer kognitionswissenschaftlicher Untersuchungen werden können, etwa den Zusammenhang von Sprache, Kognition und Wirklichkeitskonstruktion betreffend (Boroditsky 2012); die diskurslinguistische Forschung wird so interdisziplinär anschlussfähig.
3 Konvergenzen von Diskurslinguistik und Konstruktionsgrammatik Die Konstruktionsgrammatik ist eine Diskurstheorie grammatischer Strukturen und Kategorien, ohne deren gesellschaftliche Relevanz und soziale Funktion in konkreten Kommunikationszusammenhängen in den Fokus zu rücken. Umgekehrt ist die Diskurslinguistik ein linguistischer Ansatz zur Beschreibung des Sprachgebrauchs unter seinen je spezifischen sozialen, medialen und institutionellen Bedingungen, ohne über einen eigenen grammatischen Beschreibungsapparat oder gar eine Grammatiktheorie zu verfügen. So komplementär sich die Diskurslinguistik und die Konstruktionsgrammatik in dieser Hinsicht ergänzen, so erklärungsbedürftig bleibt gleichwohl, worin ihre Gemeinsamkeiten bestehen, die eine integrative Untersuchungsperspektive rechtfertigen. Im Folgenden sollen deshalb die wichtigsten Konvergenzen in drei Thesen benannt werden. Um Thesen handelt es sich deshalb, weil sie zwar sowohl für die diskurslinguistische als auch die konstruktionsgrammatische Forschung Gültigkeit beanspruchen, ohne aber in der Fachliteratur aufeinander bezogen zu werden. These 1: Der Gegenstand linguistischer Analyse ist Sprache-im-Gebrauch In der Diskurslinguistik wie in der Konstruktionsgrammatik gilt die kommunikative Äußerung als die kleinste Analyseeinheit. Aus dieser Prämisse leiten sich zwei grundlegende Forschungsaxiome ab. Zum einen ist der Kontext einer sprachlichen
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Äußerung keine nachgeordnete, sondern eine konstitutive Größe linguistischer Analysen. Langackers Diktum lässt sich auf die diskurslinguistische Forschung direkt übertragen: All linguistic units are context-dependent. They occur in particular settings, from which they derive much of their import, and are recognized by speakers as distinct entities only through a process of abstraction. (Langacker 1987, 401)
Wenn sich sprachliche Strukturen aus dem Sprachgebrauch und somit aus konkreten Kontexten ableiten, lassen sie sich nur unter Einbezug ihrer je spezifischen Verwendungszusammenhänge angemessen beschreiben. Dazu gehören auch institutionelle, soziale und situationsbezogene Bedingungen der Kommunikation, also genuin diskurslinguistische Analyseparameter. Zum anderen folgt aus dem Primat kommunikativer Äußerungen die methodologische Konsequenz, dass das sprachliche Wissen einer Sprachgemeinschaft ein Abstraktionsprodukt von Äußerungseinheiten ist. Sprachliches Wissen ist folglich kein starres System, sondern ein dynamisches Gebilde, das sich durch den Sprachgebrauch fortlaufend verändert. Innerhalb einer Sprachgemeinschaft können stets neue Konventionen entstehen, während bestehende Konventionen, sei es im Wortschatz oder in der Grammatik, ausbleichen und schließlich verschwinden können. Da jeder kontextuelle Wissensaspekt potentiell mit einer sprachlichen Form konventionell verbunden werden kann, erweist sich die strukturalistische Trennung zwischen Sprach- und Weltwissen in der empirischen Praxis als hinderlich und theoretisch nicht haltbar (ausführlich hierzu Ziem 2008, 119–142). These 2: Sprachwissen ist emergentes Wissen Die sowohl für die Konstruktionsgrammatik als auch für die Diskurslinguistik charakteristische Orientierung am Sprachgebrauch hat konkrete Konsequenzen für den zugrunde liegenden Begriff des sprachlichen Wissens: Im Kern ist sie soziokognitiver Natur. Ihr kognitiv-schematisches Substrat einerseits und ihre soziokulturelle Verfasstheit andererseits bilden gleichsam zwei Seiten derselben Medaille. Gleichförmige, rekurrente Kategorisierungen führen zu kognitiven Routinisierungen. Ist einmal eine Routine etabliert, verringert sich der kognitive Aufwand der Verarbeitung, da auch das neue komplexe Konzept als gestalthafte Einheit im Gedächtnis abgespeichert wird und fortan en bloc abgerufen werden kann. Auch syntagmatisch komplexe Einheiten – auf der Wortebene etwa komplexe Wörter wie Trostpflaster, Kindergarten, Lohnsteuerjahresausgleich – werden in der Folge rezipiert und produziert, ohne in ihre Einzelteile dekomponiert werden zu müssen. Generell gilt: [E]ach usage event leaves a trace in the processing system. Every time a particular unit is accessed, its representation is strengthened, or entrenched, so units which are accessed frequently become easier to activate; conversely, units which are not accessed gradually decay, and become more difficult to activate. (Dabrowska 2004, 213)
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Aus soziokultureller Sicht sind solche Entrenchment-Prozesse Phänomene der dritten Art (im Sinne von Keller 1994, vgl. auch Ziem 2008a, 348–356). Sie entstehen durch gleichförmige Sprachhandlungen, die aufgrund ihrer strukturellen und inhaltlichen Ähnlichkeit sowie ihres wiederholten Auftretens eine prägende Wirkung haben und zu einer ‚festen‘ Kategorie werden. Grammatik erweist sich somit als Epiphänomen kommunikativer Interaktion. „Metaphorisch könnte man also sagen: Grammatik ist geronnener Diskurs.“ (Haspelmath 2002, 284). Die gemeinsame Affinität der Konstruktionsgrammatik und Diskurslinguistik zur Korpuslinguistik hat hier ihren Ursprung. Sprachliche Muster bilden sich im Sprachgebrauch heraus und lassen sich korpusbasiert identifizieren und näher bestimmen. These 3: Sprache und Sprachgebrauch beeinflussen Denken und (nicht-sprachliches) Handeln Die Annahme, dass der Sprachgebrauch und die einer Sprache zugrunde liegenden grammatischen und lexikalischen Kategorien das Denken und Handeln beeinflussen, geht zurück auf Wilhelm von Humboldt und Ludwig Wittgenstein (vgl. zusammenfassend Wengeler 1992, 12–19) sowie auf die sprachliche Relativitätstheorie von Sapir und Whorf, die durch Slobins (Zweit-)Spracherwerbs-Studien teilweise gestützt wird. Die Quintessenz seiner empirischen Befunde hat Slobin in der Formel Thinking-for-Speaking zusammengefasst (Slobin 1987). Um zu kompetenten Sprecherinnen und Sprecher einer Sprache zu werden, so die Hypothese, sei es nötig, zunächst sprachspezifische Modalitäten des Denkens zu erwerben. Daran anknüpfend hebt Boroditsky den engen Zusammenhang von sprachspezifischen Konstruktionen und dem Denken hervor: „What information gets transmitted (or even what information can be transmitted) is necessarily constrained by the particular properties of the language being used.“ (Boroditsky 2012, 617) Ganz analog dazu markiert die „Sprachbedingtheit der menschlichen Erkenntnis“ (Warnke 2009, 116) auch den Ausgangspunkt diskurslinguistischer Forschungsinteressen. Motiviert ist die Annahme eines solchen Sprachapriori durch Foucaults Einordnung des Diskurses als eine Ebene, die sich zwischen Sprache und Denken schiebt (Foucault 1991). Im Diskurs werden mithin die Bedingungen des Erscheinens von (sprachlichem) Wissen definiert. Diese haben mit Blick auf Sprache den Status von Konventionen, die innerhalb einer Sprachgemeinschaft gelten. Konventionen entstehen nur in einer Sprachgemeinschaft, entziehen sich aber zugleich dem steuerbaren Einfluss durch ihre Mitglieder. Konventionen führen dazu, die Aufmerksamkeit auf verschiedene Facetten der Wirklichkeit zu legen und diese auf eine bestimmte Weise sprachlich zu kodieren. Die soziokulturelle Dimension der sprachlichen Wirklichkeitskonstitution ist somit in der Sprache selbst, nämlich im Zeichenbegriff, angelegt.
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4 Warum Konstruktionsgrammatik? Ein zentraler Ausgangspunkt diskurslinguistischer Studien liegt in der Annahme, dass Sprache nicht einfach Wissen (im Sinne von knowing-that) abbildet, sondern vielmehr selbst aktiv am Prozess der Wissenskonstitution beteiligt ist. Die „Regeln der Wissenskonstituierung und -strukturierung“ (Busse 1987, 233) sind mithin ebenso in sprachlichen Strukturen und deren kommunikativem Einsatz zu suchen. Wenn es sich bei grammatischen Strukturen in dieser Hinsicht immer auch um diskursive Strukturen handelt, nämlich um ein „Regelsystem, das sachbezogene Äußerungen überhaupt erst ermöglicht“ (Warnke 2009, 118), ist es diskurslinguistisch zwingend erforderlich, grammatische Mechanismen im kommunikativen Prozess der sprachlichen Wissensformation von Anfang an zu berücksichtigen. Konsequenterweise versteht Müller (in diesem Band, Abschnitt 1.1) Grammatik in dem Sinne, dass die Trennung von Sagbarem und Unsagbarem, die Verteilung von Macht und Ohnmacht und die wahrheitsbildende Kraft des Seriellen Effekte sind, die zu einer kontextsensitiven syntagmatischen Gestaltbildung beim Gebrauch sprachlicher Zeichen führen.
In dem Maße, wie auch grammatische Strukturen als kommunikative Prägungen im Diskurs zu begreifen sind, die einer Sprachgemeinschaft als semiotische Ressource zur Versprachlichung von Gedanken zur Verfügung stehen, sei der „Konnex von Diskursbedingungen, Sprache und Wahrheit“, wie es Warnke (2007, 14) formuliert, schon auf der „Ebene des Sprachsystems“ angelegt. Mit dem Gebrauch grammatischer Konstruktionen geht stets einher, bestimmte Perspektiven auf (Aspekte der) Wirklichkeit zu werfen, und zwar so, wie es im sprachlichen System einer Sprachgemeinschaft angelegt ist. Die Konstruktionsgrammatik bietet einen konzeptionellen Rahmen für die Analyse des diskursiven Einsatzes von grammatischen Strukturen und Funktionen (vgl. auch Müller 2009, 411; Ziem 2013b). Sie macht es möglich, den Gebrauch von grammatischen Mitteln unter den diskursiven Bedingungen ihres Kommunikationskontextes – so etwa des Mediums, des Textgenres, des thematisch-kommunikativen Zusammenhangs, der Kommunikationsteilnehmer bzw. -teilnehmerinnen usw. – analytisch zu beschreiben. Der konzeptionelle Rahmen beruht dabei im Wesentlichen auf drei grammatiktheoretischen Voraussetzungen: der Annahme eines Kontinuums zwischen Lexikon und Grammatik (Abschnitt 4.1), dem Verständnis von sprachlichem Wissen als Ergebnis diskursiver Prägungen (Abschnitt 4.2) und der Konzeption von Konstruktionen als Grundeinheiten einer Sprache (Abschnitt 4.3).
4.1 Lexikon und Grammatik als diskursives Kontinuum Aus der Definition von Konstruktionen als konventionellen Form-Bedeutungspaaren folgt, dass Konstruktionen hinsichtlich ihres Grades an Komplexität und Abstraktheit erheblich variieren können. Neben lexikalischen Einheiten sind auch syntagma-
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Tab. 1: Konstruktionen variierender Komplexität und Schematizität. Konstruktionen
Beispiele
Morpheme (komplexe) Wörter Mehrworteinheiten Grammatische Phraseme Sprichwörter Idiome Vergleichssätze mit je-desto Doppel-Objekt-Konstruktionen Wortarten Grammatische Relationen
-er [toll-er]; -er [Läuf-er]; -er [blau-er] gedemütigt, Mann, Weberknecht Auf Wiedersehen! geschweige denn Morgenstund hat Gold im Mund jdn. auf den Senkel gehen je x-er desto y-er [je mehr desto besser] [[NPNom][VP][NPDat][NPAkk]] [NOMEN], [VERB], [PRÄPOSITION] [SUBJEKT], [DIREKTES OBJEKT]
tisch komplexe Größen wie Phraseologismen oder Argumentstrukturen (Transitiv-, Doppelobjekt-, Resultativ-Konstruktionen etc.) genauso gute Kandidatinnen für Konstruktionen wie abstrakte sprachliche Kategorien, so beispielsweise phrasale Strukturen (z. B. Nominal-, Verb-, Präpositionalphrase), grammatische Funktionen und Wortarten. Die Annahme eines Kontinuums zwischen Lexikon und Grammatik ist somit im Begriff der Konstruktion selbst angelegt. Statt wie in traditionellen Ansätzen, einschließlich der Generativen Grammatik und Valenzgrammatik, zwischen Wörtern als Einheiten des Lexikons einerseits und syntaktischen Strukturen und Kategorien als Einheiten der Grammatik andererseits kategorial zu unterscheiden, besteht zwischen ihnen aus konstruktionsgrammatischer Sicht ein gradueller Übergang. Methodologisch hat dies zur Folge, dass alle Einheiten einer Sprache, ganz gleich, ob sie eher am einen oder eher am anderen Ende des Kontinuums zu verorten sind, denselben sprachlichen und kognitiven Prinzipien unterliegen. Sie lassen sich dementsprechend unter denselben sprachtheoretischen Prämissen innerhalb eines Theorieapparats behandeln. Obwohl das Lexikon-Grammatik-Kontinuum zu den zentralen Grundannahmen der Konstruktionsgrammatik zählt (vgl. Boas 2010, Broccias 2012), bleibt in der Literatur unklar, welche Spracheinheiten als die syntagmatisch komplexesten FormBedeutungspaare gelten können und mithin das eine Ende des Kontinuums bilden. Goldbergs (2006, 5) beispielhafte Auflistung von Konstruktionstypen scheint zu suggerieren, dass Vergleichssätze mit je-desto (vgl. auch Tab. 1) diesen Endpunkt bilden. Es gibt jedoch aus diskurslinguistischer Sicht gute Gründe dafür, auch ungleich komplexere Einheiten wie Textgenres einzubeziehen (Günthner 2006, Imo 2010, Östman 2005). Östman (2005) spricht in diesem Zusammenhang von „Diskurs-Konstruktionen“ („discourse constructions“). Gemeint ist damit das diskursgrammatisch interessante Phänomen, dass syntaktische Strukturen durch Textoder Diskurstypen lizenziert werden, in denen sie auftreten. Dies ist beispielsweise in subjektlosen Konstruktionen wie z. B. Aufkochen lassen und umrühren in Kochrezepten der Fall. Diskursbedingte Mechanismen der Lizenzierung von Form- oder
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Inhaltsaspekten grammatischer Konstruktionen sind ubiquitär, unter konstruktionsgrammatischen Gesichtspunkten jedoch bislang unzureichend erforscht. Tabelle 1 gibt einen Überblick über verschiedene Typen von Konstruktionen, die bislang in der Literatur behandelt sind. Sie variieren zum einen beträchtlich hinsichtlich ihres Grades an Schematizität; das Kontinuum reicht von lexikalisch voll spezifizierten Einheiten wie Wörtern, festen Mehrworteinheiten und Sprichwörtern bis zu konstruktionalen Schemata wie Doppel-Objekt-Konstruktionen. Zum anderen decken Konstruktionen hinsichtlich ihres Grades an Abstraktheit ein breites Spektrum ab, das sich von relativ konkreten semantischen Einheiten wie Autosemantika bis hin zu abstrakten Kategorien (grammatischen Relationen, Wortarten etc.) erstreckt.
4.2 Sprachliches Wissen als diskursive Prägung: Frequenz und Produktivität Schematische Strukturen von Konstruktionen bilden sich allmählich im Diskurs heraus, und sie verändern sich in dem Maße, wie der Sprachgebrauch variiert. Prozesse der Etablierung und des Wandels von Konstruktionen wurden bislang intensiv im Spracherwerb (Behrens 2011; Diessel 2015; Tomasello 2003) und in diachroner Hinsicht (Barðdal/Smirnova/Sommerer/Gildea 2015; Diewald 2007; Fried 2009; Hilpert 2013) untersucht. Maßgebend ist dabei die Annahme, dass Prozesse der sprachlichen Verfestigung und Musterbildung als Frequenzeffekte im Diskurs zu bewerten sind. Mit anderen Worten: Die Produktivität eines sprachlichen Musters zeigt an, wie stark das Muster verfestigt ist und wie groß mithin seine diskursive Relevanz ausfällt, wobei mindestens drei Parameter analytisch zu berücksichtigen sind bzw. berücksichtigt werden können: (a) soziale Varianz, insbesondere die Sprachgemeinschaft betreffend, (b) zeitliche Varianz (diachroner Wandel) und (c) Varianz des diskursiv-thematischen Zusammenhangs. Bei der Produktivität eines Musters, seiner Verfestigung und diskursiven Prägung handelt es sich infolgedessen um Gradphänomene (Barðdal 2008); Konstruktionen variieren zwischen den Extremen gleichsam monolithischer Struktureinheiten einerseits und hochgradig produktiven Mustern mit wechselnder Type- und Token-Frequenz andererseits. Clauser und Croft (1997, 271) zufolge sind drei Typen von Verfestigungs- bzw. Prägungsprozessen zu unterscheiden, die die Produktivität einer Konstruktion festlegen. Erstens gilt eine Konstruktion als produktiv und konsolidiert (entrenched), wenn eine Vielzahl verschiedener Instanzen ihre Leerstellen bedienen; die TokenFrequenz ist in diesem Fall vergleichbar niedrig, die Type-Frequenz hingegen hoch. Zweitens verfestigen sich bei einer hohen Auftretensfrequenz von einigen wenigen Token insbesondere diese Token selbst; die Konstruktion erweist sich hier als semiproduktiv. Schließlich liegt auch dann Token-Entrenchment vor, wenn nur eine Instanz rekurrent auftritt; in diesem Fall bildet sich kein Schema heraus, die Kon-
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Konstruktion
Instanz
Instanz
Konstruktion
…
Instanz
Instanz
Instanz
Abb. 3: Konstruktionale Prägungsprozesse (im Anschluss an Clausner/Croft 1997, 271).
struktion hat vielmehr einen monolithischen Charakter. Abbildung 3 veranschaulicht die drei Varianten diskursiv-kognitiver Prägungen (vgl. auch Ziem 2008, 339–348). Schemabasierte Prägungsprozesse dieser Art legen fest, wie grammatische Strukturen kognitiv strukturiert und organisiert sind. Schema-Instantiierung ist mithin ein mächtiger kognitiv-diskursiver Mechanismus (Ziem 2014a). Aus dieser gebrauchsbasierten Perspektive kommt die Grammatik einem flexiblen, dynamischen Netzwerk von systematisch miteinander verbundenen Konstruktionen gleich. Dieses Netzwerk, auch „Konstruktikon“ genannt, spiegelt die kognitive Organisation und Repräsentation von sprachlichem Wissen.
4.3 Konstruktionen sind ubiquitär In der deutschsprachigen Diskurslinguistik werden schwerpunktmäßig die lexikalisch-semantische und argumentative Dimension des Sprachgebrauchs erforscht (vgl. für den internationalen Kontext aber Müller in diesem Band), grammatische Phänomene dagegen eher stiefmütterlich behandelt (Gardt 2007, 32–35). Im Rahmen eines konsequent auf den Sprachgebrauch ausgerichteten ganzheitlichen Beschreibungsansatzes muss dies als problematisch bewertet werden. Da grammatische Strukturen selbst zeichenhafter Natur sind und folglich Bedeutung tragen, wäre es zumindest dann fahrlässig, sie nicht zu berücksichtigen, wenn an der Zielvorgabe festgehalten wird, in einer diskurslinguistischen Analyse potentiell alle Faktoren einzubeziehen, die sich für die sprachlich vermittelte Bedeutungs- und Wissenskonstitution als relevant erweisen (vgl. Wengeler 2013, 66 im Anschluss an Busse 1987). Eine Perspektive zur Einlösung eines solchen umfassenden Erklärungsanspruches eröffnet sich unter konstruktionsgrammatischen Vorzeichen, wenn Konstruktionen als konstitutive Bausteine einer Sprache angesehen werden. Goldberg geht so weit zu behaupten, dass „the totality of our knowledge of language is captured by a network of constructions“ (Goldberg 2003, 219). Demzufolge ist es nicht sinnvoll, zwischen einem Kern- und einem Randbereich (der Grammatik) zu unterscheiden, wie es etwa in der Generativen Grammatik der Fall ist (vgl. exemplarisch Fries 1987). Die Metapher der Kerngrammatik bezeichnet hier eine Menge an gramma-
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tischen Strukturen und Eigenschaften, die regelhaft gebildet bzw. erzeugt werden können im Gegensatz zu irregulären Ausdrücken, die sich durch den Regelapparat aufgrund ihrer syntaktischen oder semantischen Idiomatizität nicht erfassen lassen. Diese Phänomene gelten als Ausnahmen und bedürfen einer separaten Betrachtung. Die Konstruktionsgrammatik stellt den Sinn einer solchen kategorialen Unterscheidung von grammatischen Rand- und Kernphänomenen grundsätzlich in Frage. Auf der Basis von empirischen Befunden besteht Grund zu der Annahme, dass der vermeintliche Randbereich in Wirklichkeit einen Großteil der Grammatik ausmacht. Nicht nur idiomatische Prägungen sind ubiquitär; auch syntaktische Idiosynkrasien lassen sich nicht auf eine schmale Anzahl an (Rand-)Phänomenen beschränken (für das Deutsche vgl. den Überblick in Ziem/Lasch 2013, 144–150). Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, Konstruktionen als generelles Strukturierungsformat grammatischer Informationen anzusetzen. So sei es möglich, wie es Fillmore in einem frühen wegweisenden Beitrag formuliert, „that insights into the mechanics of the grammar as a whole can brought out most clearly by the work of factoring out the constituent elements of the most complex constructions“ (Fillmore 1988, 36). Zu diesen Mechanismen gehören nicht zuletzt diskursfunktionale und pragmatische Eigenschaften von Konstruktionen.
5 Konstruktionsgrammatische Ansätze So vielfältig mögliche Untersuchungsperspektiven auf Konstruktionen sind (etwa in sprachgeschichtlicher, typologischer, spracherwerbsbezogener oder kognitiver Hinsicht), so zahlreich sind auch die Ansätze zu ihrer empirischen Beschreibung und Erfassung. Es darf somit kaum verwundern, dass die Konstruktionsgrammatik weder als eine konsistente, voll entwickelte Grammatik- oder gar Sprachtheorie gelten kann, noch als ein homogenes Grammatikmodell anzusehen ist. Vielmehr handelt es sich um eine Familie miteinander mehr oder weniger eng verwandter Ansätze, die grundlegende Annahmen und Konzepte teilen (Ziem/Lasch 2013, 77– 109; vgl. auch Abschnitt 3). Die Gemeinsamkeiten dürfen aber nicht über teilweise substantielle Unterschiede hinwegtäuschen, die auch Auswirkungen auf die Behandlung diskurslinguistischer Fragestellungen zeitigen. Zu unterscheiden sind insgesamt sieben konstruktionsgrammatische Theoriebildungen (vgl. den Überblick in Hoffmann/Trousdale 2013, Sektion II und Ziem/ Lasch 2013, 48–66): – Cognitive Construction Grammar (Lakoff 1987; Goldberg 1995, 2003) – Cognitive Grammar (Langacker 1987, 1991) – Radical Construction Grammar (Croft 2001) – Berkeley Construction Grammar (Fillmore/Kay/O’Connor 1988; Fillmore 2013) und das FrameNet-Konstruktikon (Fillmore/Lee-Goldman/Rhodes 2012)
120 – – –
Alexander Ziem
Sign-Based Construction Grammar (Sag/Boas/Kay 2012) Embodied Construction Grammar (Bergen/Chang 2005) Fluid Construction Grammar (Steels 2011)
Ein Unterschied betrifft zunächst den jeweils avisierten Gegenstandsbereich und die Methodologie. Crofts (2001) Radical Construction Grammar übernimmt beispielsweise zentrale Konzepte von Langackers Cognitive Grammar, um der Frage nachzugehen, inwiefern typologisch verschiedenen Sprachen grammatisch distinkte Kategorien zugrunde liegen. Dagegen besteht das wesentliche Ziel der Embodied Construction Grammar und Fluid Construction Grammar darin, ein gebrauchsbasiertes Grammatikmodell in einem Computerprogramm zu implementieren, das es erlaubt, kognitive Verarbeitungsprozesse von Konstruktionen zu modellieren. Über den von der Sign-Based Construction Grammar vorgeschlagenen (und an der HPSG angelehnten) Formalismus hinaus, erfordert dies die Formalisierung von Konstruktionen. Für diskurslinguistische Studien eignen sich diese Ansätze deswegen kaum, weil sie gerade davon abstrahieren, was diskurslinguistisch interessant ist: kotextuelle, kontextuelle und soziale Realisierungsbedingungen sprachlicher Zeichen. Dass pragmatische Informationen zum konventionellen Bedeutungsgehalt einer Konstruktion gehören können, ist im Framework der Cognitive Construction Grammar (etwa Goldberg 1995, 2006) und der Berkeley Construction Grammar (etwa Fillmore/Kay/O’Connor 1988; Kay/Fillmore 1999; zusammenfassend: Fillmore 2013) herausgearbeitet worden. Das FrameNet-Konstruktikon, eine Weiterentwicklung des lexikographischen FrameNet-Projektes im Geiste der Berkeley Construction Grammar, erlaubt zudem systematische Datenannotationen, die auch für diskurslinguistische Zwecke nutzbar gemacht werden können (vgl. Abschnitt 6). Weiterhin unterscheiden sich die Ansätze wesentlich hinsichtlich des angestrebten Grades der Formalisierung von Konstruktionen. Sind der Sign-Based Construction Grammar (und auch der frühen Berkeley Construction Grammar) Formalisierungen zu analytischen Zwecken ein zentrales Anliegen, so lehnt Goldberg als Vertreterin der Cognitive Construction Grammar wie auch Langacker jedwede Form von Formalisierung mit der Begründung ab, diese leiste einem reduktionistischen Verständnis konzeptuell reicher Sprachstrukturen Vorschub, die adäquat am besten als radiale Kategorien im Sinne der Prototypentheorie beschrieben werden können. Was auf den ersten Blick wie ein unüberbrückbarer Gegensatz aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Kontinuum. Denn wie Sag, Boas und Kay (2012) zeigen, lassen sich Analysen von einem Framework prinzipiell in ein anderes übertragen. Welcher Ansatz für eine konstruktionsgrammatische Analyse zu bevorzugen ist, ist somit keine methodologische Prinzipienfrage, sondern vielmehr abhängig von den jeweils leitenden Erkenntnisinteressen. Schließlich unterscheiden sich konstruktionsgrammatische Ansätze hinsichtlich ihres Methodenrepertoires. Grob lassen sich vier methodische Zugänge iden-
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tifizieren (Ziem/Lasch 2013, 67–76): Introspektion, korpusgesteuerte quantitative Methoden (insbesondere Verfahren der maschinellen Datenverarbeitung), qualitative Analysen sowie experimentelle, insbesondere psycho- und neurowissenschaftliche Zugänge. Für konstruktionsgrammatische Diskursstudien lassen sich die methodischen Präferenzen klar benennen: Während Introspektion insbesondere bei Grammatikalitätsurteilen Einsatz findet und experimentelle Methoden zur Überprüfung der kognitiven und neuronalen Realität dienen, sind es korpusbasierte und -gesteuerte Verfahren, also qualitative und quantitative Datenanalysen, die auch diskursanalytisch Anwendung finden. Aufgrund der starken Affinität von Korpus- und Diskurslinguistik (vgl. etwa Bubenhofer 2009, Bubenhofer/Scharloth 2013, Felder/Müller/Vogel 2012, Spieß 2011, Ziem 2008) verwundert dies kaum.
6 FrameNet und (Berkeley) Construction Grammar: diskurslinguistische Perspektiven Im Mittelpunkt der Darstellung stand bislang die Frage, inwiefern die Konstruktionsgrammatik einen konzeptionellen und grammatiktheoretischen Rahmen für diskurslinguistische Studien bieten kann. Darüber hinaus lassen sich konstruktionsgrammatische Konzepte konkret für diskurslinguistische Analysen nutzbar machen. Mögliche Anwendungsbereiche sollen abschließend im Anschluss an FrameNet und der (Berkeley) Construction Grammar beispielhaft erläutert werden.
6.1 Konstruktionen in FrameNet und der (Berkeley) Construction Grammar Konstruktionen bilden die Bausteine der Grammatik einer Sprache. Sie treten formseitig in vielfältiger Form auf, etwa in Gestalt von morphologischen Paradigmen (Booij 2010), Argumentstrukturen (Goldberg 1995) oder noch komplexeren Einheiten zur Bildung von Sätzen und satzwertigen Ausdrücken (Meibauer/Finkbeiner 2015). Die strukturelle Komplexität der Beschreibung von Konstruktionen korreliert dabei in der Regel mit der syntagmatischen Komplexität ihrer Ausdrucksgestalt. Bei der konstruktionalen Erfassung von Satztypen sind beispielsweise neben den beteiligten Phrasentypen und grammatischen Funktionen auch Aspekte wie Wortstellung und Intonationskonturen zu berücksichtigen, die unterhalb der Satzebene keine Rolle spielen. Die Inhaltsseite von Konstruktionen strukturieren Frames. Sie lässt sich zum einen, wie in FrameNet, mithilfe von framespezifisch definierten semantischen Rollen, so genannten Frame-Elementen, erfassen. Zum anderen kommen je nach Konstruktionstyp (diskurs-)funktionale und pragmatische Bestimmungen hinzu. Für diskurssemantische Zwecke bietet es sich an, (selektive, interessegeleitete,
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Alexander Ziem
strategische etc.) Realisierungen von semantischen Rollen in qualitativer und ggf. auch quantitativer Hinsicht zu untersuchen. FrameNet stellt hierfür die differenzierteste und umfänglichste Dokumentation von semantischen Rollen zur Erfassung von Prädikationsstrukturen (Valenzrahmen) bereit. Frames eignen sich nicht nur zur systematischen Beschreibung von lexikalischen Einheiten; das FrameNet zugrunde liegende analytische Vorgehen bei der Datenannotation, einschließlich der Nutzung des Annotations-Desktops, lässt sich auch auf die Analyse von grammatischen Konstruktionen übertragen (vgl. Fillmore/Lee-Goldman/Rhodes 2012, Ziem 2014b). Nötig ist die Erweiterung von FrameNet zu einem FrameNetKonstruktikon deshalb, weil sich mit den durch Frames erfassten valenzbedingten Eigenschaften von (vorrangig lexikalischen) Konstruktionen eine Reihe an komplexen Ausdrücken einer Sprache nicht vollständig erklären lassen. Dazu gehören etwa nicht voll kompositionale Einheiten wie Präpositionalphrasen (in Gewahrsam, unter Beobachtung), Stützverbkonstruktionen (Urlaub nehmen, Trost spenden usw.) oder N-N-Komposita (Lückenbüßer, Radstand etc.). So stellen Fillmore, Lee-Goldman und Rhodes fest: [T]here remain many sentences whose semantic and syntactic organization cannot be fully explained in terms of the kinds of structures recognized in FN’s annotation database, or simple conjoinings or embeddings of these, and that is where the new research on grammatical constructions comes in. (Fillmore/Lee-Goldman/Rhodes 2012, 312)
Aktuell wird deswegen die FrameNet-Datenbank zu einem so genannten FrameNetKonstruktikon erweitert, das auch partiell gefüllte grammatische Konstruktionen (wie Argumentstruktur-Konstruktionen, Phraseoschablonen etc.) und abstrakte Konstruktionen (wie Phrasenstrukturen, Wortarten etc.) abdeckt. Konzeptionell ist das FrameNet-Konstruktikon voll kompatibel mit der von Charles Fillmore und Paul Kay bereits in den späten 1980er Jahren entwickelten Berkeley Construction Grammar (alternativ auch Traditional Construction Grammar genannt; Fillmore 2013). Wichtig zu sehen ist, dass (auch abstrakte) grammatische Konstruktionen – wie lexikalische Einheiten – Frames evozieren. Die in einem Frame angelegten semantischen Rollen lassen sich also auch zur Beschreibung von Bedeutung(en) grammatischer Konstruktionen im Diskurs nutzen (vgl. Abschnitt 6.2). Was sind Frames (im Sinne von FrameNet)? Das Mitte der 1990er Jahre von Charles Fillmore am International Computer Science Institute, Berkeley, initiierte FrameNet-Projekt (Fillmore/Baker 2010) hat zum Ziel, jeden prädikativen Ausdruck in allen seinen Bedeutungsvarianten auf der Basis seiner syntaktischen und semantischen Valenz zu bestimmen. Den Ausgangspunkt bilden dabei so genannte „Lexikalische Einheiten“ (kurz: LE). Eine LE ist ein festes Wort-Bedeutungspaar, also ein Wort hinsichtlich einer seiner lexikalischen Bedeutungen. Diese beschreibt der Frame, den die LE evoziert. Mithilfe der in ihm angelegten Frame-Elemente, d. h. der frame-spezifisch ermittelten semantischen Rollen, lassen sich relevante Bedeutungsaspekte der LE angeben. Jeder Frame umfasst (a) eine Definition,
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(b) Bestimmungen der Frame-Elemente, (c) eine Liste der den Frame evozierenden LE, (d) Angaben der Relationen zu benachbarten Frames und (e) Details und Beispiele zur Annotation (vgl. die ausführliche Darstellung in Ziem 2014b, Abschnitt 5.1). An dem Beispiel der LE Krise, die auch in Abschnitt 6.2 zur Illustration herangezogen wird, lässt sich dies folgendermaßen veranschaulichen: Die LE Krise evoziert, genauso wie etwa Desaster.n, kriseln.v, Katastrophe.n, katastrophal.a, leiden.v, Unfall.n etc., den so genannten Catastrophe-Frame (vgl. https://framenet. icsi.berkeley.edu/fndrupal/index, letzter Zugriff 10. August 2015). Dieser ist definiert als ein unerwünschtes Ereignis, das negative Auswirkungen auf betroffene Personen hat, ohne dass ein Agens beteiligt sein muss. Weiterhin umfasst der Frame insgesamt acht semantische Rollen: – Patiens: Entität, die das unerwünschte Ereignis erleben. – Unerwünschtes Ereignis: dasjenige, das als Krise wahrgenommen wird. – Grund: die Ursache der Krise. – Umstände: die Umstände, unter denen eine Krise stattfindet und wahrgenommen wird. – Ausmass: Umfang der Krise. – Art und Weise: wie sich eine Krise zeigt und wahrgenommen wird. – Ort: wo die Krise stattfindet. – Zeit: Zeitpunkt der Krise bzw. Zeitraum, über den sich eine Krise erstreckt. Frames erfassen, wie an diesem Beispiel deutlich wird, schematisches Wissen über wiederkehrende, teilweise kulturspezifische Erfahrungen und Ereignisse (einschließlich der beteiligten Personen und Situationsparametern), die für den konzeptuellen Gehalt der jeweiligen LE charakteristisch sind.
6.2 Konstruktionen im Diskurs: einige Beispiele Mittels konstruktionsgrammatischer Analysen lassen sich Bedeutungsprägungen im Diskurs identifizieren und beschreiben. An drei Fallstudien soll dies deutlich gemacht werden, und zwar mit Blick auf einen konstruktionsbasierten Zugang zur Realisierung von semantischer Valenz im Diskurs (Abschnitt 6.2.1) sowie am Beispiel von Argumentstruktur-Konstruktionen als diskursanalytischen Kategorien zur Erfassung von Schlüsselwörtern (Abschnitt 6.2.2) und konzeptuellen Metaphern (Abschnitte 6.2.3).
6.2.1 Von Valenzrahmen zu Wortbedeutungen Ein konstruktionsbasierter Zugang zu diskursiven Prägungen von Wortbedeutungen ergibt sich aus der Anwendung von Valenzrahmen (Frames) auf diskurssemantische
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Fragestellungen (Sing 2010; Scholz/Ziem 2015). So können die Frame-Elemente eines Frames, den der lexikalische Zielausdruck evoziert, als Annotationskategorien genutzt werden, um zu eruieren, inwiefern innerhalb eines Diskurses bestimmte semantische Rollen dominieren oder marginalisiert bzw. systematisch ausgeblendet werden. Daraus lassen sich Erkenntnisse über diskursive Bedeutungsprägungen ableiten, die Aufschluss darüber geben können, inwiefern der Zielausdruck zur begrifflichen Rahmung beiträgt oder als sprachliches Instrument zur Durchsetzung von politischen u. a. Interessen eingesetzt wird. Besteht beispielsweise das Ziel der Untersuchung darin, begriffliche Prägungen des Schlüsselwortes Krise innerhalb eines diskursiven Zusammenhanges (wie der öffentlichen Diskussion um die Finanzkrise 2009/2010) zu bestimmen, ist ein dreischrittiges Verfahren nötig: (a) Bestimmung des Frames. Wie im letzten Abschnitt dargelegt, evoziert Krise den so genannten Catastrophe-Frame. Dieser zeichnet sich durch die erwähnten acht framespezifischen semantischen Rollen (Frame-Elementen) aus, nämlich Patiens, Unerwünschtes Ereignis, Grund, Umstände, Ausmass, Art und Weise, Ort, Zeit. (b) Semantische Annotation. Die Frame-Elemente dienen dazu, in einem Diskurs(ausschnitt) die syntaktisch vom Zielausdruck abhängigen Einheiten (Phrasen, abhängige Nebensätze, Modifier) semantisch zu annotieren. So würde beispielsweise im Fall von globale Krise das attributive Adjektiv als eine Instanz des FrameElementes Ausmass annotiert, und in dem Beispiel Krise der Euroländer wäre das Genitivattribut eine Instanz des Frame-Elementes Patiens. (c) Auswertung und Interpretation. Die quantitative und qualitative Auswertung der annotierten Belegstellen gibt Hinweise auf die diskursive Relevanz der Bedeutungsaspekte (Frame-Elemente). Werden einzelne Frame-Elemente nicht realisiert oder sind ihre Instanzen quantitativ stark unterrepräsentiert, weist dies darauf hin, dass diese Frame-Elemente entweder systematisch ausgeblendet werden (etwa weil sie zum Bereich des diskursiv Unsagbaren gehören) oder umgekehrt diskursiv so zentral sind, dass sie als Teil des Common Sense-Wissens präsupponiert werden können. Exemplarische Analysen liegen bislang insbesondere zu politischen Schlüsselund Schlagwörtern vor (etwa Sing 2010; Scholz/Ziem 2015; Ziem 2016).
6.2.2 Von Argumentstruktur-Konstruktionen zu Wortbedeutungen Ein zweiter konstruktionsbasierter Zugang zu Bedeutungsprägungen im Diskurs betrifft die Argumentstruktur, in die der Zielausdruck eingebettet ist (vgl. ausführlich Ziem 2013b). Leitend ist dabei die Annahme, dass die Argumentstruktur als übergeordnete syntaktische Einbettungsstruktur die Bedeutung lexikalischer Einheiten maßgeblich mitprägt. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwiefern diskursiv
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Tab. 2: Semantische Rollen und Argumentstrukturen, in denen Krise realisiert ist (Angaben in Prozent; Beschränkung auf Vorkommen ≥ 5 %). Transitiv Agens Causativ Affiziertes Obj.
Intransitiv
Ditransitiv
Kopula
∑
31
3
2
–
40
6
7
2
–
16
–
16
15
–
Temporativ
2
3
–
1
6
Qualitativ
2
–
–
2
5
Thema
5
–
–
2
7
…
…
…
…
…
…
∑
69
13
5
5
100
zentrale lexikalische Kategorien (wie Schlüsselwörter, Schlagwörter, politische Fahnenwörter usw.) innerhalb einer Argumentstruktur systematisch hinsichtlich der semantischen Rollen variieren, in denen sie realisiert werden. Tatsächlich lässt sich nachweisen, dass systematische Unterschiede abhängig davon bestehen, welches Medium (beispielsweise Frankfurter Allgemeine Zeitung vs. Bild usw.) und welches Textgenre (beispielsweise volks- und betriebswirtschaftliche Fachartikel vs. Zeitungsbeiträge usw.) zugrunde liegen. Zur Illustration dient hier die systematische Variation von syntaktischen Einbettungsstrukturen und semantischen Rollen, in bzw. mit denen das Wort Krise in den Printmedien Frankfurter Allgemeine Zeitung und Bild realisiert wird (Ziem 2013b). Die Studie basiert auf einem Zeitungskorpus, das 1.500 Artikel zur Finanzkrise im Zeitraum vom 1. September 2008 bis zum 30. April 2009 umfasst. Dieses deckt in den Texten der Bild 809 Okkurrenzen des Zielausdrucks Krise und 5.409 Okkurrenzen in der FAZ ab. Aus einer repräsentativen Teilmenge der Belegstellen wurde der Zielausdruck sowohl hinsichtlich der jeweils realisierten semantischen Rollen als auch der Argumentstruktur, in die er eingebettet ist, annotiert. Tabelle 2 fasst die erzielten Ergebnisse zusammen (vgl. ausführlicher Ziem 2013b, 460). Die wichtigen Befunde lassen sich in vier Punkten zusammenfassen: – In durchschnittlich drei von vier Fällen ist Krise in Transitiv-Konstruktionen (wie Die Krise erschüttert die Wirtschaft) eingebettet; – nur in jedem achten Fall handelt es sich um eine Intransitiv-Konstruktion (wie Die Krise geht vorüber), eine Ditransitiv- (wie Minister konfrontiert Bürger mit Krise) und eine Kopula-Konstruktion (wie Die Krise ist ein Symptom der Zeit) werden jeweils nur von jeder zwanzigsten Instanz von Krise instantiiert; – in 40 Prozent aller Okkurrenzen wird Krise in der semantischen Rolle des Agens realisiert; – nur in ungefähr jedem sechsten Fall tritt Krise in der semantischen Rolle des Causativs und Affizierten Objektes (nach von Polenz 2008, 167–174) auf.
126
Alexander Ziem
Solche quantitativen Korrelationen sind insbesondere vor dem Hintergrund des kognitiv-semantischen Frequenz- bzw. Entrenchment-Prinzips relevant, das besagt, dass die Häufigkeit des Auftretens einer sprachlichen Einheit bzw. die Häufigkeit der Kookurrenz von zwei sprachlichen Einheiten korreliert mit dem Grad an kognitiver und diskursiver Verfestigung dieser Einheit bzw. Einheiten (hierzu ausführlich: Ziem 2008, 339–355, Ziem/Lasch 2013, 102–109). Im vorliegenden Fall lässt sich aus den erzielten Ergebnissen zunächst ableiten, dass das Konzept der Krise stark reifiziert wird. So liegt beispielsweise immer dann eine Personifizierung bzw. eine ontologische Metapher (Lakoff/Johnson 1980, Abschnitt 6) vor, wenn Krise in Transitiv-Konstruktionen als syntaktisches Subjekt und in der semantischen Rolle des Agens realisiert wird. Aufschlussreich ist weiterhin der Befund, dass sowohl die formseitige (also die jeweils realisierte Argumentstruktur-Konstruktion betreffende) wie auch die bedeutungsseitige (also die realisierte semantische Rolle betreffende) Realisierung über verschiedene Medien hinweg nicht konstant bleibt. Vielmehr zeichnet sich eine medienbedingte Varianz ab, die sich mit Blick auf semantische Rollen folgendermaßen konkretisieren lässt: – Während Krise in der FAZ ungefähr in einem von drei Fällen in der semantischen Rolle des Agens auftritt, ist dies in der Bild in mehr als der Hälfte aller Okkurrenzen der Fall; – weitaus geringer, aber dennoch erwähnenswert ist die Dominanz der semantischen Rolle des Causativs in Bild-Texten (FAZ: 6 Prozent, Bild: 9 Prozent). Das Konzept der Krise, so lässt sich zusammenfassend festhalten, wird in Texten der Bild in einem erheblich höheren Maße reifiziert bzw. personifiziert. Die implizite Zuschreibung von Handlungsträgerschaft zeigt sich in konstruktionsbedingten Realisierungen von Krise als Causativ und insbesondere als Agens. Im ersten Fall wird der Krise eine ursächliche Verantwortung für Missstände zugeschrieben (z. B. Die Krise führt zur Vernichtung von Arbeitsplätzen), im zweiten Fall eine aktiv-handelnde Funktion (z. B. Die Krise erschüttert die Autobranche). In den Blick geraten diese mithilfe einer konstruktionsgrammatischen Analyse der übergeordneten Einbettungsstrukturen der Zielausdrücke (hier: der lexikalischen Einheit Krise).
6.2.3 Von Argumentstruktur-Konstruktionen zu konzeptuellen Metaphern Den Befund der zuletzt vorgestellten Analyse, dass zwischen konzeptuellen Metaphern und (Argumentstruktur-)Konstruktionen ein konzeptionell enger Zusammenhang besteht bzw. bestehen kann, soll abschließend zum Anlass genommen werden, um eine dritte konstruktionsgrammatische Analyseperspektive vorzustellen. Sie richtet sich auf grammatische Konstruktionen als Hilfsmittel zur Identifizierung von konzeptuellen Metaphern innerhalb eines Diskurses (vgl. ausführlich
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Ziem 2015b: Abschnitt 4). Zur Illustration, inwiefern grammatische Konstruktionen (als lokale Einbettungsstrukturen von lexikalischen Einheiten) konzeptuell-metaphorische Interpretationen anzeigen können, soll ebenfalls der lexikalische Ausdruck Krise im erwähnten Zeitungskorpus zur Finanzkrise dienen. Insgesamt sind es lediglich drei Konstruktionen, in die knapp zwei Drittel aller Okkurrenzen des Zielausdrucks Krise eingebettet sind: (a) Transitiv-Konstruktionen (z. B. Die Krise erreicht auch den Immobilienmarkt), (b) Possessiv-Konstruktionen mit Krise als Genitivattribut (z. B. Zentrum der Krise) und (c) Präpositionalphrasen mit Krise als nominalem Kern (z. B. infolge der Krise). Die quantitative Dominanz dieser Konstruktionen lädt zu einer genaueren Betrachtung ein. Transitiv-Konstruktionen. Im vorangehenden Abschnitt 6.2.2 hat sich bereits gezeigt, dass eine konzeptuell-metaphorische Interpretation des nominalen Ausdrucks in Subjektfunktion dann erfolgt, wenn dieser zugleich in der semantischen Rolle des Agens auftritt. Dies führt zu einer Verdinglichung in Gestalt einer Personifikation „that […] allow us to make sense of phenomena in the world in human terms – terms that we can understand on the basis of our own motivations, goals, actions, and characteristics” (Lakoff/Johnson 1980, 33–34). Possessiv-Konstruktionen mit Krise als Genitivattribut. Ähnlich wie im Fall der Personifikation ist das strukturelle Vorkommen von Krise innerhalb einer Konstruktion – hier als Genitivattribut einer Possessiv-Konstruktion – nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für eine konzeptuell-metaphorische Interpretation des Ausdrucks. Entscheidend ist nämlich auch hier, in welcher semantischen Rolle Krise realisiert wird. So sind es insbesondere die semantischen Rollen des Affizierten Objektes (Eindämmung der Krise, Überwindung der Krise usw.), des Causativs (Folgen der Krise, Schäden der Krise usw.) und des Spezifizierten Objektes (Zentrum der Krise, Sog der Krise usw.), die eine metaphorische Lesart triggern. Während im Fall des Affizierten Objekts Krisen als Feinde konzeptualisiert werden, führt der Causativ zu einer mechanischen Interpretation von Krisen als Verursacher und das Spezifizierte Objekt zu einer Vergegenständlichung von Krisen zu dinglichen Objekten. Präpositionalphrasen mit Krise als nominalem Kern. Welche semantische Rolle Krise als nominaler Kern in Präpositionalphrasen instantiiert, variiert abhängig von der jeweiligen Präposition. Im Fall von kausalen Präpositionen (wie infolge von, aufgrund von, wegen) tritt Krise beispielsweise in der semantischen Rolle eines Causativs auf, was zu einer konzeptuell-metonymischen Interpretation führt, insofern dem Ereignis der Krise (und nicht etwa Akteuren der Krise) ursächliche Verantwortung zugeschrieben wird. Eine Reifizierung liegt auch vor, wenn Krisen in der semantischen Rolle eines Locativs (vgl. von Polenz 2008, 167–174) realisiert werden (mitten in der Krise, innerhalb der Krise usw.). Derartige Konzeptualisierungen von abstrakten Entitäten als Behälter sind ubiquitär und etwa am Beispiel von Emotionen gut erforscht (vgl. Kövecses 2000). Übergreifend bleibt festzuhalten, dass die jeweils realisierte semantische Rolle für konzeptuell-metaphorische Verschiebungen zwar kriterial ist, sie sich jedoch
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ihrerseits nur unter Einbezug der grammatischen Konstruktion, in die sie eingebettet ist, bestimmen lässt. In diesem Sinne hält Goldberg fest: „roles are determined by the meaning of the construction“ (Goldberg 2006, 20). Mit anderen Worten: Die Bestimmung der semantischen Rolle lässt sich nicht unabhängig von der grammatischen Konstruktion vornehmen. In den thematisierten Beispielen sind Konstruktionen folglich an der sprachlichen Realisierung von konzeptuellen Metaphern konstitutiv beteiligt. Aus diesem Grund können Konstruktionen (und semantische Rollen als integrale Bestandteile von Konstruktionen) als hilfreiche diskursanalytische Werkzeuge dienen, um konzeptuelle Metaphern in Diskursen aufzuspüren und funktional zu beschreiben.
7 Zusammenfassung und Ausblick Diskurslinguistik und Konstruktionsgrammatik teilen grundlegende konzeptionelle und methodologische Voraussetzungen. Diese mit dem Ziel auszuloten, konstruktionsgrammatische Analysekategorien für diskurslinguistische Untersuchungszwecke nutzbar zu machen, erweist sich schon deshalb als ein lohnenswertes Unterfangen, weil grammatische Beschreibungskategorien bislang nur sehr zögerlich in die Diskurslinguistik Eingang gefunden haben. Ein wesentlicher Grund für dieses Defizit scheint darin zu liegen, dass Untersuchungen des öffentlichen (politischen, massen-/medialen, institutionellen usw.) Sprachgebrauchs hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Implikationen bislang insbesondere semantisch und pragmatisch motiviert sind: Im diskurslinguistischen Fokus stehen primär Fragen nach (den Voraussetzungen) der Produktion und Rezeption sprachlicher Bedeutungen und ihrer Kontextualisierungen unter bestimmten sozialen und ideologischen Rahmenbedingungen. Gleichwohl, so die leitende Annahme des Beitrags, sollten ebenso grammatische Strukturen Berücksichtigung finden, da sie selbst Bedeutungen tragen und zur Bedeutungskonstitution schon auf der lexikalischen Ebene konstitutiv beitragen. Daraus leitet sich die diskurslinguistische Aufgabe ab, wie es Müller (in diesem Band) treffend formuliert, „grammatischen Beschreibung im Rahmen einer Diskurstheorie der Sprache“ Rechnung zu tragen. Für diese liefert die Konstruktionsgrammatik wesentliche Bausteine. Zum einen stellt sie grammatiktheoretische Konzepte bereit, die es erlauben, sprachliche Einheiten im Kontinuum von Lexikon und Grammatik konsistent zu analysieren, ohne die unhintergehbare diskursive Realität sprachlicher Zeichen zu vernachlässigen. Zum anderen können konstruktionsgrammatische Kategorien als diskursanalytische Werkzeuge dienen, mit denen sich diskursive Bedingungen des Sprachgebrauchs korpusbasiert untersuchen lassen. Dazu gehören die diskursiven Einbettungsstrukturen von Sprachzeichen, so etwa deren syntaktischer Kotext sowie das Textgenre, in dem sie realisiert werden, wie auch das Medium, das sie hervorbringt. Die konstruktionsgrammatische Analyse erfolgt dabei unter der me-
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thodologischen Prämisse der wahrheitsbildenden Kraft des Seriellen, d. h. unter der kognitionslinguistischen Voraussetzung, dass Kategorienbildungen unter den Bedingungen sprachlicher Rekurrenz erfolgen. Häufiges kookkurrentes Auftreten von sprachlichen Einheiten führt zu einer erhöhten semantischen und pragmatischen Bindung (entrenchment) dieser. Es bleibt abzuwarten, in welchem Maße konstruktionsgrammatische Konzepte und Analysekategorien in diskurslinguistischen Studien zukünftig Anwendung finden werden. Der komplementäre Zusammenhang, in dem diskurslinguistische Bedeutungsanalysen und konstruktionsgrammatische (Argument-)Strukturanalysen stehen, eröffnet der Konstruktionsgrammatik jedenfalls die Möglichkeit, Musterbildungen im Diskurs zu erfassen, und zeigt zugleich der Diskurslinguistik einen Weg auf, durch „die Aufdeckung bzw. Rekonstruktion historischer Wissensbestände, die in sprachlichen Strukturen verankert sind“, „mehr als eine transtextuell orientierte und korpusgestützte Teildisziplin der Sprachwissenschaft“ zu sein (Warnke 2013, 87).
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Janina Wildfeuer
6. Diskurslinguistik und Text Abstract: Der Beitrag will sich mit der Frage beschäftigen, welche Rolle die Einheit Text innerhalb der Diskurslinguistik spielt. Dabei soll der Fokus auf dem Objekt und nicht auf der Disziplin liegen und seine Eigenschaften gegenüber denen des Diskurses abgrenzen. Der dabei entstehenden Problematik der Unterscheidung zwischen den Begriffen ‚Diskurs‘ und ‚Text‘ wird auf zweierlei Weise begegnet: Zum einen werden die unterschiedlichen Konzepte rund um diese Begriffe, ihre Entstehung und ihre (Weiter-)Entwicklung im Rahmen eines wissenschaftsgeschichtlichen Überblicks kritisch diskutiert. Die Erweiterung des Textbegriffs hin zum Diskurs, wie sie vor allem in der germanistischen Linguistik bis heute stark verfolgt wird, soll dabei mithilfe von frühen Definitionsversuchen hinterfragt werden. Zum anderen will der Beitrag im Hinblick auf aktuelle Diskussionen und Analysen produktive Vorschläge zur Vermeidung der bestehenden Uneindeutigkeit einerseits sowie der ebenso häufig auftretenden Synonymie machen.
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Einleitung Quo vasisti, Text? – Eine (internationale) Bestandsaufnahme Für ein stärkeres textuelles Bewusstsein innerhalb der Diskurslinguistik Literatur
1 Einleitung Diskurslinguistik und Text sind zwei innerhalb der Sprachwissenschaft nicht voneinander zu trennende Konzepte. Häufig als (notwendige) Erweiterung der Textlinguistik definiert (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011; Spieß 2013, 19), greift die Disziplin der Diskurslinguistik nahezu immer auf die Analyse von Texten zurück, ist mit ihnen unweigerlich verwoben. Bereits in den 1950er Jahren bezeichnet Zellig Harris die Methode zur Textuntersuchung als discourse analysis und wendet diese grundsätzlich auf Texte als Einzelvorkommen an (vgl. Harris 1952a, b). Die sich vor allem im anglophonen Bereich sehr früh etablierende und stetig weiterentwickelnde Disziplin der Diskursanalyse hält bis heute am textuellen Untersuchungsobjekt fest, egal ob sie sich dabei auf rein sprachliche oder auch non-verbale Artefakte bezieht. In der deutlich später stattfindenden Ausdifferenzierung einer germanistischen Disziplin der Diskurslinguistik ist – neben der grundsätzlichen Annahme des Diskurses als neuer Oberund/oder Komplementärbegriff zu den bisherigen Einheiten sprachlicher Untersuchung – immer auch die Rede vom Text als Zentrum der Diskursanalyse (vgl. https://doi.org/10.1515/9783110296075-006
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Heinemann 2011, 39). Es wird von „diskursanalytischen Texten“ (Warnke/Spitzmüller 2011, 3) und von Texten als „grundlegende diskursive Handlungseinheiten“ (Spieß 2013, 19) ausgegangen. Nichtsdestotrotz erfolgt nach und nach und verständlicherweise eine Fokussierung der Beschreibungen auf den Diskurs selbst. Die theoretische Weiterentwicklung der germanistischen Diskurslinguistik vollzieht sich in kurzer Zeit so schnell und detailliert, dass sie längst nicht mehr nur als Subdisziplin einer darüber hinaus greifenden Textwissenschaft zu verstehen ist. Als Konsequenz kommen neueste Einführungen in die Thematik nun fast ohne Verweis auf das Einzelvorkommen Text aus bzw. nehmen keine Abgrenzung zwischen den Gegenständen Text und Diskurs mehr vor (vgl. Niehr 2014; Busse/Teubert 2013; siehe unten). Ist Text als diskurslinguistische Einheit damit durch den Diskurs verdrängt worden? Kann man der Diskurslinguistik eine Abwendung von bzw. Nichtachtung der einst größten sprachlichen Untersuchungseinheit vorwerfen? Und wie verhält es sich mit der bis heute anhaltenden Fokussierung auf Texte innerhalb anglophoner Auseinandersetzungen? Wie stehen Diskurs und Text – als Einheiten einer allgemeinlinguistischen Analyse – (noch) miteinander im Verhältnis? Diese Fragen sollen im Fokus der folgenden Diskussion stehen. Vor dem Hintergrund der bereits angedeuteten unterschiedlichen Entwicklungen und Ausdifferenzierungen in germanistischen und anglophonen Auseinandersetzungen soll näher beleuchtet werden, welchen Status die Einheit Text heute in der Diskurslinguistik hat, dabei auch auf Theorien und Methoden einer größer gefassten und nicht einzelsprachlich zu beschreibenden Diskursanalyse zurückgreifend. Ähnlich der im Rahmen theoretischer Überlegungen zur Diskurslinguistik viel besprochenen Frage nach dem Diskurs als Konstituente eigener Ordnung (vgl. Warnke/Spitzmüller 2011, 25) soll geklärt werden, inwiefern Text in Abgrenzung zum Diskurs und innerhalb der Disziplin eine Konstituente eigener Ordnung mit spezifischen Eigenschaften ist. Dies soll zum einen im Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte der noch jungen Disziplin der Diskurslinguistik innerhalb der Germanistik, zum anderen im Vergleich zu der lange bestehenden und tief verankerten Forschungsrichtung der discourse analysis im internationalen Kontext erfolgen. Die Diskussion geht dabei zunächst vom tatsächlich sprachlichen Objekt Text aus, d. h., sie beruft sich auf das in den 1950er und 1960er Jahren entstandene sprachwissenschaftliche Interesse an über den Satz hinausgehenden sprachlichen Zeichenfolgen. Bis heute dominiert diese Ansicht auf Text als verbale Einheit vor allem in der alltagssprachlichen Verwendung; im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen unterschiedlicher Medien allerdings wird der Textbegriff längst auf Filme, Comics, Internetseiten und weitere multimodale, also aus sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichenressourcen bestehende Artefakte übertragen (vgl. z. B. Wildfeuer 2013; Bateman/Wildfeuer 2014). Inwiefern auch hier von Text als diskurslinguistischer Einheit zu sprechen ist, soll ebenfalls hinterfragt werden. Erst in einem weiteren Schritt kann dann geklärt werden, wie der Einheit Text definitorisch und analytisch als Gegenstand der Diskurslinguistik begegnet werden kann.
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Der vorliegende Beitrag wird somit eine zusammenfassende Darstellung sowie Bestandsaufnahme zum Konzept Text innerhalb der Diskurslinguistik liefern und Vorschläge für die Überwindung der vorliegenden Ambiguitäten anbieten.
2 Quo vasisti, Text? – Eine (internationale) Bestandsaufnahme Der Beginn der linguistischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Text kann auf die Zeit der 1950er und 1960er Jahre zurückgeführt werden. Grundsätzlich war der Blick auf die Texthaftigkeit von Literatur Anlass für einen neuen Forschungsgegenstand in den Geisteswissenschaften, der auch innerhalb der bis dato vor allem durch die Saussure’sche Systemlinguistik geprägte Sprachanalyse aufgenommen wurde und für eine beginnende Etablierung des Textes als linguistische Einheit sorgte. Interessanterweise weichen die Entwicklungsstränge der neu entstehenden Disziplin der Textlinguistik in den jeweiligen Einzelphilologien stark voneinander ab. So setzt das Interesse am Text innerhalb der germanistischen Sprachwissenschaft zeitlich verzögert ein und vollzieht sich lange Zeit ohne Rückgriff auf bereits vorliegende anglophone Auseinandersetzungen. Deutliche Unterschiede sind vor allem in der Bestimmung des Gegenstandes Text sowie der disziplinären Verortung zu erkennen, die auch heute noch zu einer konkurrenzartigen Gegenüberstellung beitragen. Für eine Klärung der Frage nach dem Status des Textes innerhalb einer grundsätzlich allgemeinsprachwissenschaftlich zu verstehenden Disziplin der Diskurslinguistik ist es deswegen notwendig, die jeweiligen Entwicklungsstränge kurz zu skizzieren. In einem weiteren Schritt sollen dann auch über das sprachliche Verständnis hinausgehende Konzepte von Text Erwähnung finden, die für eine Etablierung der linguistischen Diskursanalyse ebenso von Bedeutung sind.
2.1 Discourse analysis und ‚text‘ Während die germanistische Sprachwissenschaft mit den Arbeiten von Hartmann zum Ende der 1960er Jahre (1968a; 1968b) eine neue (Teil-)Disziplin der Textlinguistik begründet, spricht man im internationalen Kontext zu dieser Zeit bereits von der Disziplin der discourse analysis, die mit Harris in den 1950er Jahren ihren linguistischen Ausgangspunkt fand (siehe oben). Während diese Forschungsrichtung in der anglophonen Auseinandersetzung meist als Diskursanalyse und nicht als -linguistik bezeichnet wird und grundsätzlich auch anthropologische, philosophische, soziologische und psychologische Fragestellungen beinhaltet, gilt die spezifisch linguistische Methode der discourse analysis zunächst als Herangehensweise für die Untersuchung von zusammenhängender Sprache oder Schrift, die neue In-
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formationen „about the particular text we are studying“ vermittelt (Harris 1952a, 1). Harris betont eingehend, dass das Einzelvorkommen Text im Vordergrund der Analyse steht: This additional information results from one basic fact: the analysis of the occurrence of elements in the text is applied only in respect to that text alone – that is, in respect to the other elements in the same text, and not in respect to anything else in the language. As a result of this, we discover the particular interrelations of the morphemes of the text as they occur in that one text; and in so doing we discover something of the structure of the text, of what is being done in it. (Harris 1952a, 1)
Text ist demnach das singuläre Objekt einer diskursanalytischen Untersuchung, die satzübergreifende Strukturen sowie Relationen zwischen kleineren Einheiten im Text oder Satz herausarbeitet. Dabei können in einem weiteren Schritt dann auch Muster innerhalb spezifischer Texte, „for particular texts“, (Harris 1952a, 1), gefunden werden. Auf Grundlage der zunächst theoretisch beschriebenen Methode nimmt Harris die formale Analyse in ausführlichen Beispielen vor (vgl. Harris 1952b). Auch hier stehen ein spezifischer Text bzw. Auszüge aus verschiedenen Einzeltexten im Vordergrund, ohne dass ein gemeinsamer und einheitlicher Kontext für diese Texte gewählt wurde. Diskursanalyse nach Harris als Vertreter angloamerikanischer Auseinandersetzungen kann folglich vor allem als Beschreibung einer methodologischen Herangehensweise aufgefasst werden, die so und ähnlich in der weiteren Entwicklung der linguistischen discourse analysis im gesamten anglophonen Bereich fortgeführt wird. Dabei wird nahezu nie eine direkte Gegenüberstellung der Begriffe ‚Text‘ und ‚Diskurs‘ vorgenommen, gelegentlich finden sich zumindest Definitionen für ‚Text‘ als Basis für weitere methodologische Überlegungen. Einschlägig sind hier vor allem die Werke von Halliday/Hasan (Cohesion in English 1976; 2013), Martin (English Text 1992) und der gesamte Bereich der systemisch-funktionalen Grammatik (Halliday 1985; Halliday/Matthiessen 2004). Auch neuere Arbeiten von Johnstone (Discourse Analysis 2002) oder Renkema (Introduction to Discourse Studies 2004), die sich neben dem geschriebenen Text immer auch mit gesprochener Sprache beschäftigen, sind hier zu nennen. In allen Arbeiten wird besonders hervorgehoben, dass Texte nicht nur aufgrund ihrer syntaktischen Komplexität grammatisch beschreibbar sind, sondern dass sie vor allem als semantische Einheiten funktionieren (vgl. Halliday/Hasan 1976, 2; Martin 1992, 1–7). Halliday/Hasan 1976 betonen zum Beispiel: A text is best regarded a as a SEMANTIC unit: a unit not of form but of meaning. Thus it is related to a clause or sentence not by size but by REALIZATION, the coding of one symbolic system in another. A text does not CONSIST of sentences; it is REALIZED by, or encoded in, sentences. If we understand it in this way, we shall not expect to find the same kind of STRUCTURAL integration among the parts of the text as we find among the parts of a sentence or clause. The unity of a text is a unity of a different kind. (Halliday/Hasan 1976, 2; Hervorhebungen im Original)
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Während die Autoren den Begriff ‚discourse‘ noch selten verwenden, ihn aber bereits als Einheit oberhalb des Satzes beschreiben und mit dem von ihnen genutzten Begriff ‚text‘ gleichsetzen, steht Martins Buchtitel English Text bereits explizit für eine „introduction to discourse analysis“ (Martin 1992, 1). Im Vordergrund aller Analysen steht aber der Komplex der text structure bzw. texture (vgl. dazu auch Martin 2001) als Voraussetzung für die Konstruktion von Bedeutung. Martin entwickelt hier vor allem den Bereich der discourse semantics weiter, der die in Hallidays Introduction to Functional Grammar (1985) vorgenommene grammatische Beschreibung auf eine weitere Ebene der Sprachanalyse hebt. Halliday/Matthiessen machen darauf aufmerksam, dass ‚text‘ immer auf sprachliche Instanzen referiert und dies entweder als eigenständiges Objekt („object in its own right“) oder als Instrument („instrument for finding out about something else“) geschieht. Sie fassen zusammen: „But the text has a different status in each case: either viewed as artefact, or else viewed as specimen“ (Halliday/ Matthiessen 2004, 3). Text ist demnach nie eine abstrakte Größe, sondern immer tatsächliches, konkretes Untersuchungsobjekt. Dies kann grundsätzlich für den anglophonen Bereich der discourse analysis festgehalten werden und wird gleichermaßen auch in einschlägigen Handbüchern zur Thematik formuliert: „discourse analysis as the examination of actual (not hypothetical) text and/or talk“ (Schiffrin u. a. 2001, 7).
2.2 Text- und Diskurslinguistik in der Germanistik „[D]er Text ist schon deshalb kein wissenschaftliches Objekt per se, weil es den Text nicht gibt“, argumentiert Warnke (2002, 126; Hervorhebung im Original) im Rahmen der Preisfrage „Brauchen wir einen neuen Textbegriff?“, die die Germanistinnen Ulla Fix und Kirsten Adamzik im Jahre 2002 stellen (Fix u. a. 2002). Warnke plädiert für eine Beantwortung dieser Frage mit dem Konzept der Diskursivität und mit einer Entgrenzung des Textbegriffes, die den Text nicht mehr als größtes sprachwissenschaftliches Objekt sieht: Denn sprachliche Äußerungen erfolgen zwar in Texten, doch sind Texte eben keine isolierten Größen, sondern stehen im Verbund koexistierender Texte, sie sind Teil von Diskursen. Kennzeichen solcher Diskurse sind die Interdependenzen einzelner Textvorkommen, das heißt die Wiederaufnahmerelation von Inhalt und Form sprachlicher Äußerungen. (Warnke 2002, 131)
Mit dieser Neuorientierung bzw. Erweiterung der Textlinguistik durch Diskurse als „transtextuelle oder besser metatextuelle Größen“ (Warnke 2002, 127) wird nicht nur die Disziplin der Diskurslinguistik innerhalb Deutschlands grundsätzlich neu begründet, sondern erfährt auch der Textbegriff eine revolutionäre Neubestimmung. Text ist fortan innerhalb dieser neuen Fachrichtung vor allem eine (nur noch) singuläre Einheit mit kommunikativer Funktion, eingebettet in eine Serie von an-
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deren Einzeltexten, die gemeinsam einen Diskurs abstrahieren (vgl. Warnke 2002). Damit wird zwar die textlinguistisch vorgenommene, sehr prototypische Beschreibung des Textes als kommunikative Einheit oder Okkurrenz übernommen (vgl. z. B. Hartmann 1968a, 14; Schmidt 1973, 150; Beaugrande/Dressler 1981, 3), allerdings wird ihm seine dort zugestandene Eigenständigkeit abgeschrieben: Spitzmüller/ Warnke (2011, 22) betonen im Hinblick auf die Disziplin der Textlinguistik noch die Autonomie des Textbegriffs, der durch die Preisfrage von Fix und Adamzik (vgl. Fix u. a. 2008) lediglich vage bestimmt werden konnte, jedoch dadurch grundsätzlich alle Wege zum Phänomen offen lässt (vgl. dazu auch Fix 2008, 17). Nach Warnke umfassen Texte zum einen „eine Reihe selbst wiederum recht komplexer linguistischer Formen und Funktionen“, zum anderen verdanken sie ihre Existenz der Bezugnahme auf andere Texte (Warnke 2008/Spitzmüller, 35–36), sodass der Bezugsrahmen Diskurs immer mitgedacht werden muss. Text steht damit nicht mehr an oberster Stelle in der Hierarchie der Konstituenten von Sprache (vgl. Warnke/Spitzmüller 2008; Spitzmüller/Warnke 2011), sondern wird – ähnlich den Einheiten Morphem, Wort und Satz zu ihren nächst größeren Einheiten, hier dem Diskurs – eine untergeordnete Rolle zugeschrieben. Im anglophonen Bereich erfährt der Begriff des Diskurses keine derart starke Fokussierung und damit auch Gegenüberstellung zum Begriff ‚Text‘, stattdessen ist stets die Rede von der Methodik der Diskursanalyse. Schubert (2008, 14) hält zum Beispiel – in einer deutschsprachigen Einführung in die englische Textlinguistik – fest, dass die anglistische Textlinguistik (hier mit dem eher seltener zu findenden Begriff ‚text linguistics‘ bezeichnet) immer schon einen „Teilbereich der umfassenden Diskursanalyse (discourse analysis, DA)“ darstellt. Innerhalb germanistischer Ausarbeitungen dagegen erleben der Text und die Rechtfertigung einer ihm eigenen Disziplin eine pessimistische Hinterfragung (vgl. Fix u. a. 2002). Zwar endet diese in einer grundsätzlichen Bejahung eines Textbegriffes und erscheinen zeitgleich zu Arbeiten im Hinblick auf die Entwicklung der Diskurslinguistik weiterhin auch Einführungen in die Textlinguistik (vgl. Janich 2008; Hausendorf/Kesselheim 2008). Diese kommen aber entweder nicht ohne einen starken Verweis auf den Begriff des Diskurses und die damit einhergehenden Neuerungen aus (vgl. Warnke 2008 in Janich 2008) oder aber fassen aus einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive die formalen Kriterien der Einzeltextanalyse zusammen, ohne diese jedoch auf zum Beispiel korpusanalytische Fragestellungen übertragen zu können (vgl. Hausendorf/Kesselheim 2008). Nach dem Jahre 2008 und den dann vorliegenden ersten expliziten Arbeiten zur Diskursanalyse (vgl. Warnke 2007) entstehen germanistisch fokussierte Beschreibungen der Textlinguistik und damit auch eventuell neu vorzunehmende Bestimmungen des Gegenstandes Text nicht mehr bzw. nur in unveränderten Neuauflagen (vgl. zum Beispiel Brinker 2010). Beobachtbar ist, dass nach einer anfänglichen Erweiterung der Disziplin der Textlinguistik und ihrem inhärenten Textbegriff der Fokus stärker auf die neue Forschungsrichtung der Diskurslinguistik gelegt wird und damit auch der Begriff
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des Diskurses in den Vordergrund rückt. Dennoch wird Text in beiden Disziplinen zwar kritisch, aber weiterhin ausführlich behandelt. Heinemann macht in einer Stellungnahme zur Diskursanalyse im Jahre 2011 deutlich, dass durch diese Veränderungen ein grundsätzliches Gegenüber unterschiedlicher Auffassungen von Text in diskursanalytischen Kontexten besteht (vgl. Heinemann 2011). Er betont damit die nicht einheitlich geklärte Rolle des Textes innerhalb der germanistischen Sprachwissenschaft. Zum einen verstanden als in übergreifende Textzusammenhänge bzw. Diskurse eingebettet und damit um die Eigenschaft diskursiv erweitert, zum anderen immer noch als grundlegendes Objekt der Kommunikation bezeichnet, scheint nie ganz deutlich zu werden, welcher Status dem Text als Einzelvorkommen innerhalb der Diskurslinguistik zugeschrieben werden kann. Auffällig ist außerdem, dass mehr und mehr von Texten im Plural gesprochen wird, Einzelvorkommen dagegen wenig Erwähnung finden und auch Begriffe und Prinzipien der textuellen Analyse am einzelnen Artefakt kaum in die Diskurslinguistik Eingang finden. Tatsächlich wird der Begriff ‚Text‘ seltener verwendet und stellt in den meisten Fällen dann eine abstrakte Formulierung einer Menge von Einzelvorkommen dar. Spieß (2013, 23) beispielsweise spricht in einer Kapitelüberschrift vom „Text im Kontext von Dispositiven“ und bezeichnet den Text darin als Schlüsselkategorie und zentrale Handlungseinheit, analytisch interessant sind dann aber stets nur eine Vielzahl von Texten in ihrer gegenseitigen Beeinflussung (vgl. Spieß 2013, 27). Hier stehen vor allem Begriffe wie ‚Verbund‘, ‚Interaktionsrahmen‘ sowie ‚Vernetzung‘ im Vordergrund (vgl. z. B. Spieß 2013). Niehr (2014, v. a. 32–35) spricht in einer germanistischen Einführung in die linguistische Diskursanalyse zwar von Textkorpora als Grundlage für die Analyse von Diskursen, das Untersuchungsobjekt selbst ist aber der Diskurs. Besonders auffällig ist auch hier die Benutzung des Textbegriffs fast ausschließlich im Plural, nämlich in Formulierungen wie „Auswahl von Texten“ (33), „Texte des öffentlichen Diskurses“ (33). Niehr kommt zum Schluss, dass Text (hier dann im Singular verwendet) nicht der primäre Untersuchungsgegenstand der Diskursanalyse, sondern, wie Jung (1996: 461) sagt, „lediglich eine notwendige Zwischenetappe“ (Niehr 2014, 34) sei. Auch in Busse/Teuberts Neuherausgabe und Diskussion älterer Beiträge zur linguistischen Diskursanalyse (2013) und im Besonderen zur (historischen) Diskurssemantik spielt der Textbegriff nur eine marginale Rolle und erhält, ähnlich wie bei Niehr, lediglich Erwähnung, wenn es um „virtuelle Textkorpora“ und die Materialität von Diskursen, die sich nur durch Texte realisieren lässt, geht (vgl. Busse/Teubert 1994, 14 bzw. 2013, 16). Zu beobachten ist folglich, dass die germanistische Auseinandersetzung mit Diskursen den Textbegriff mehr und mehr zu vermeiden sucht bzw. ihn nicht mehr als konkretes Untersuchungsobjekt akzeptiert. Stattdessen stehen Mengen und Ansammlungen von Texten im Vordergrund, deren Analysen sich zwar textlinguistischer Prinzipien bedienen, dies jedoch nur als ein erster Schritt in Richtung der
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dann in diskursanalytischen Zusammenhängen interessanten Fragen (z. B. nach der Konstitution von Wissen; vgl. Warnke 2009a, 2009b) zu verstehen ist.
2.3 Text und Diskurs im Wandel Obwohl das vorliegende Handbuch explizit auf das sprachliche Phänomen Diskurs und seine Gegebenheiten sowie Analysemethoden zurückgreifen will, sollen im Folgenden auch Beschreibungen nicht- oder nur teilweise sprachlicher Artefakte als Texte betrachtet werden, deren textuelle und gleichermaßen diskursive Bestimmung – solange sie aus einer linguistischen Perspektive vorgenommen wird – immer auch eine Frage nach der Bedeutungskonstruktion und den semantischen Mustern ist. Die Frage nach der Texthaftigkeit dieser Artefakte nimmt somit gleichermaßen Einfluss auf den Status des Objekts innerhalb der Sprachwissenschaft und seine Einordnung in die Diskurslinguistik. Während innerhalb medienspezifischer Untersuchungen, beispielsweise im Rahmen der Filmwissenschaft in den 1960er Jahren, bereits sehr früh Parallelen des sprachlichen und schriftlich fixierten Textes zu anderen Medienformen hergestellt werden (vgl. Metz 1966, 1972, 1973), erfolgt eine Übertragung textlinguistischer Analysemittel erst deutlich später, aber mit dann fortschreitender Intensität. Inzwischen ist der zunächst sehr starre und auf sprachliche Phänomene fokussierte Textbegriff längst gegenüber anderen Zeichensystemen geöffnet worden und erlaubt nun eine Gesamtbetrachtung aller repräsentativen Vorkommen des Typs Text, die auch die Verknüpfungen nonverbaler und gänzlich ohne Sprache auskommender Elemente berücksichtigt. Medien, die sich durch ihre digitale Verbreitung von traditionellen, analogen Medien abgrenzen und die zunächst als „neue Medien“ bezeichnet werden (vgl. Siever u. a. 2005, 9), haben dabei den größten Einfluss auf die Textlinguistik ausgeübt und ihr Interesse vor allem auf den Hypertext gelenkt, der als umfassendes System verschiedenste Formen anderer Texte vereinen kann (vgl. Storrer 2000). Im Zuge dieser digitalen Revolution rückt dann auch das Bild als weitere Komponente neben dem schriftlichen Text in den Vordergrund. Neben der Annahme, dass diese Bilder textuelle Qualitäten haben können (vgl. Stöckl 2004; Klug 2013), finden nach und nach weitere Arten von Zeichenmodalitäten Berücksichtigung in der textlinguistischen Auseinandersetzung. Texte werden folglich als „genuin multimodal“ (Stöckl 2004, 18; Eckkrammer/Held 2006) definiert und können damit nicht mehr nur Verbindungen von Schrifttext und Bild, sondern auch Kombinationen aus Bildund Videodokumenten darstellen. Ähnlich wird auch Schokoladenverpackungen (vgl. Wiederwohl 2006) sowie Museumsausstellungen (vgl. Hofinger/Ventola 2004) ein textueller Charakter zugewiesen. Text wird demnach als komplexes System von Einzelzeichen mit kommunikativer Funktion gesehen, deren Analyse zunächst mit traditionellen textlinguistischen Instrumentarien erfolgt. Zurückgehend auf die ein weiteres Mal zeitlich früher erfolgende Auseinandersetzung im anglophonen Bereich wird diese Analyse grund-
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sätzlich aber als multimodale Diskursanalyse bezeichnet und in Anlehnung an die bahnbrechenden Arbeiten von Kress und van Leeuwen (1996, 2001) beschrieben. Diese betonen als eine wichtige Schicht der Bedeutungsgenerierung in und für multimodale Texte die Ebene des Diskurses und bezeichnen damit vor allem durch den Text und seinen Kontext sozial konstruiertes Wissen (vgl. Kress/van Leeuwen 2001, 4; Bucher 2007, 41). Innerhalb dieses Rahmens werden die Begriffe ‚text‘ und ‚discourse‘ ebenfalls gegeneinander austauschbar benutzt. Text gilt auch hier vor allem als das konkrete Artefakt, das mit der Methode der Diskursanalyse bzw. im Rückgriff auf das Konzept des Diskurses untersucht werden kann, um so Aussagen über unterschiedliche Textvorkommen sowie ihre Kontexte zu erlangen: The term ‚discourse‘ functions in the theory as a resource for constructing epistemological coherence in texts and other semiotic objects. Discourse refers to ‚institutions’ and the knowledge they produce about the world which constitutes their domain […]. (Kress 2010, 110)
Gleichzeitig sind aber ebenso Formulierungen zu finden, die ‚discourse‘ als Einzelvorkommen beschreiben, dann oft in der Verwendung bzw. Bezeichnung als konkreter medialer Diskurs, z. B. in Formulierungen wie „filmic discourse“ (vgl. z. B. Bateman/Schmidt 2012). Diese Analyse multimodaler Artefakte weist starke Parallelen zu anderen diskurslinguistischen Herangehensweisen auf, die sich ebenfalls vordergründig mit der Konstruktion von Bedeutungen allgemein bzw. spezifisch mit der Untersuchung von Wissensstrukturen oder soziokulturellen Praktiken beschäftigt (vgl. dazu Spitzmüller in diesem Band). Diese direkten Bezüge zwischen den sonst als gegensätzlich bezeichneten Richtungen werden allerdings im deutschsprachigen Raum nur zögerlich gewürdigt (vgl. Roth/Spiegel 2013; Roth 2012) bzw. direkt in den Rahmen einer größeren Diskurssemiotik eingefasst, die sprachliche Phänomene nicht vordergründig betrachtet (vgl. Siefkes 2014; Linke/Schröter in diesem Band). Auch neuere Einführungen fokussieren ihre beispielhaften Untersuchungen stets auf sprachliche Phänomene, nur selten wird ein Verweis auf darüber hinausgehende Kriterien gegeben. Deutschsprachige Arbeiten zur Multimodalität werden folglich nur selten als explizit diskurslinguistisch bezeichnet, obwohl sie ebenso versuchen, textlinguistische bzw. diskurssemantische Analyseinstrumentarien auf multimodale Textformen zu übertragen (vgl. Bucher 2007, 2011; Stöckl/Schneider 2011; Bateman 2014; Wildfeuer 2014) – eine Herangehensweise, die im internationalen Kontext längst als (diskurs-)linguistisch etabliert ist (vgl. u. a. Jewitt 2009; O’Halloran/Smith 2014). Unter Berücksichtigung dieses internationalen Kontextes ist es demnach durchaus notwendig, auch multimodale Analysen und die damit einhergehende Bestimmung des Textes in die vorliegenden Überlegungen miteinzubeziehen. Auffällig ist dabei, dass der ähnliche Gebrauch beider Begriffe in englischsprachigen Analysen zur Multimodalität für deutsche Auseinandersetzungen oftmals einfach übernommen wird. Eine tatsächliche Gegenstandsbestimmung bzw. Ausdifferen-
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zierung der Begriffe ‚Text‘ und ‚Diskurs‘ erfolgt entgegen der sonst so häufig vorgenommenen Gegenüberstellung nicht. Außerdem fehlt es an deutschsprachigen Einführungen, die sich zum Beispiel explizit mit der Terminologie der multimodalen Diskursanalyse auseinandersetzen. Innerhalb dieser spezifischen Forschungsrichtung der Diskurslinguistik bleibt demnach zu hinterfragen, ob hier eine erste Annäherung der germanistischen Diskurslinguistik zur anglophonen Diskursanalyse erkennbar ist oder ob die bisher nur zögerlich erfolgte Etablierung multimodaler Analysen innerhalb der deutschen Diskurslinguistik erst noch anerkannt werden und damit auch eine terminologische Festlegung erfolgen wird. Für die hier im Fokus stehende Frage nach dem Status des Textes bleibt schließlich zu vermerken, dass aufgrund neuerer und neuester Entwicklungen innerhalb einer allgemeinsprachwissenschaftlichen Diskursanalyse die traditionell germanistische Gegenüberstellung von Text und Diskurs nicht mehr allein haltbar ist.
3 Für ein stärkeres textuelles Bewusstsein innerhalb der Diskurslinguistik Die vorangegangenen Darstellungen machen deutlich, dass innerhalb der Diskurslinguistik als allgemeinsprachwissenschaftlicher Disziplin kein einheitlicher Umgang mit ‚Text‘, auch im Hinblick auf eine Gegenüber- oder Gleichstellung zum Begriff ‚Diskurs‘, zu erkennen ist. Zwar lassen sich in den einzelnen skizzierten Bereichen grundsätzliche Unterschiede ausmachen, tatsächlich kann aber weder in der germanistischen noch in der darüber hinausgehenden internationalen Diskussion auf eine allgemeingültige Definition oder Gegenstandsbestimmung zurückgegriffen werden. In diesem Sinne ist „‚Text‘ […] in der Sprachwissenschaft immer noch ein theoretisch fragwürdiger, d. h. untersuchenswerter Gegenstand“. (Holly 2013, 3) Vor allem der großen Disziplin der Diskursanalyse allgemein ist bereits des Öfteren eine Verweigerung bzw. Problematisierung terminologischer Festlegungen vorgeworfen worden (vgl. u. a. Bluhm u. a. 2000; Jäger 2012), die – auch belegt durch die obigen Ausführungen – zu Uneindeutigkeit und Verwirrung führen. Auch die anhaltende allgemeine Verunsicherung über den Begriff des Diskurses scheint hierzu beizutragen. Wenn auch innerhalb der Germanistik inzwischen einige übereinstimmende Definitionen vorliegen (vgl. u. a. Spitzmüller/Warnke 2011; Roth/Spiegel 2013; Niehr 2014), sind diese (noch) nicht auf eine allgemeingültige und über einzelphilologische Diskussionen hinausgehende Bestimmung verwendet bzw. übertragen worden. Ebenso fehlt es an einer solchen näheren Bestimmung des Textes als Konstituente der Diskurslinguistik. Während die Germanistik sich von diesem Begriff beinahe abzuwenden scheint bzw. ihn nur noch sehr eingeschränkt für eine Menge von Einzeltexten benutzt, werden englischsprachige Defi-
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nitionen, wie zum Beispiel die von Halliday/Hasan (1976; siehe oben), nicht ohne Weiteres für alle diskurslinguistischen Interessen übernommen. Deswegen soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, aufbauend auf der bisherigen Entwicklungsgeschichte der Disziplin und mit Blick auf eine weitere Ausdifferenzierung eine genauere Festlegung dieses Begriffs zu erarbeiten. Dies soll im Hinblick auf eine allgemeinsprachwissenschaftliche Einordnung der Diskurslinguistik als Disziplin zur Analyse sprachlicher und nicht-sprachlicher Phänomene oberhalb der Satzebene erfolgen und ein neues Bewusstsein für das Vorhandensein des textuellen Einzelobjektes in diskurslinguistischen Untersuchungen schaffen.
3.1 Text als diskurslinguistische Einheit Dass Texte eine wichtige Rolle innerhalb der Diskurslinguistik spielen, ist durch die obigen Ausführungen deutlich geworden. Vor allem jüngere germanistische Ausführungen zu einer neuen Disziplin der Diskurslinguistik haben zwar dazu beigetragen, den Text als Untersuchungsobjekt in den Hintergrund zu rücken, indem das Interesse auf einen terminologisch ebenso wenig geklärten Begriff gelenkt wurde. Aus einer allgemeinlinguistischen Perspektive kann jedoch nicht die Rede davon sein, dass der Begriff ‚Text‘ an Bedeutung verliert. Tatsächlich ist sogar festzustellen, dass viele Artefakte als textuell bezeichnet werden und in einem größeren diskursiven Kontext zu analysieren sind. Dieser Kontext wird oftmals als ein wichtiges Kriterium für die Definition von Diskurs angeführt, ist jedoch auch für die Analyse eines einzelnen Textes unabdingbar. Denn auch die Semantik textueller Strukturen oder das Erkennen propositionaler Gehalte nicht-verbaler Texte ist nur durch die Hinzunahme von Weltwissen, Diskurskontext und spezifischem Fachwissen möglich (vgl. Asher/Lascarides 2003; Warnke u. a. 2014). Durch die pragmatische Wende sind diese Aspekte längst in die Beschäftigung mit dem Text eingegangen (vgl. z. B. Klemm 2002b). Eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Einzelvorkommen Text und dem ihn umgebenden Kontext als Diskurs ist also für die hier vorzunehmende Gegenstandsbestimmung des Textes nicht weiter akzeptabel. Stattdessen ist vielfach sowohl die Rede von einzelnen textuellen Kriterien wie Struktur oder Kohäsion/Kohärenz, die für die Frage nach der Bedeutung eine Rolle spielen, als auch von größeren Textkorpora bzw. Vernetzungsstrategien einzelner Texte, die wiederum Aufschluss über bestimmte Inhalte geben. Die Tendenz, dass der Begriff ‚Text‘ vor allem im Plural verwendet wird und für die Diskurslinguistik lediglich eine Menge von Texten analytisch interessant ist, kann zwar für die germanistische Forschungsrichtung festgehalten, grundsätzlich aber nicht auf alle diskursanalytischen Interessen übertragen werden. So werden beispielsweise in der tatsächlichen Anwendung diskurslinguistischer Prinzipien auf die Online-Kommunikation (vgl. Fraas/Meier 2013), auf bildhafte Wissensstrukturen (vgl. Klug 2013) oder auf den Kolonialdiskurs (vgl. Warnke/Schmidt-Brücken 2013) – im Übri-
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gen alle germanistisch – immer auch Einzelbeispiele durchexerziert, die dann als „multimodale Online-Texte“ (Fraas/Meier 2013, 144; vgl. dazu auch Meier in diesem Band) bzw. als Bildtexte oder Einzeltexte bezeichnet werden. Die Methode zur Analyse ist in allen Fällen die der Diskurslinguistik. Die genannten Beispiele stehen neben einer Vielzahl anderer Analysen programmatisch für eine diskurslinguistische Herangehensweise an den Text, die entgegen der eher pessimistischen, theoretischen Annäherung sehr bewusst und aktiv mit textuellen Objekten umgeht und diese nicht nur als Zwischenetappe oder Hilfsmittel für den Diskurs einsetzt. Es ist deswegen unabdingbar, Text als ein singuläres Objekt diskurslinguistischer Analyse zu betrachten, das zwar nicht primärer Untersuchungsgegenstand der Diskurslinguistik ist (denn das ist ja im Unterschied zur Textlinguistik der Diskurs), aber ein wichtiges und zentrales Element zur Analyse dieses Diskurses darstellt. Text wird dann sehr allgemein als semiotisches Artefakt verstanden, das verbale und non-verbale Zeichenressourcen beinhalten und miteinander verbinden und so Bedeutung konstruieren, Wissen manifestieren und Informationen über soziokulturelle Praktiken bzw. Muster vermitteln kann (vgl. dazu auch Siefkes 2014). Für letztere ist eine Einzeltextanalyse oft nicht ausreichend, sodass auf eine größere Menge von Texten zurückgegriffen werden sollte. In allen Fällen bleibt Text eine grundsätzlich linguistische Einheit, die Fragen nach der Texthaftigkeit bzw. nach seinen textuellen Kriterien mit sich bringt. Diese Kriterien sind innerhalb der Textlinguistik bereits hinlänglich beschrieben und innerhalb eines umfangreichen Instrumentariums an Analysemethoden erarbeitet worden. Auch für die nähere Bestimmung der diskurslinguistischen Einheit Text sind sie relevant, um diese einerseits von der Einheit des Diskurses abgrenzen zu können und andererseits die Prozesse der Bedeutungskonstruktion und -interpretation nachvollziehen zu können. Da es sich größtenteils um einem Text inhärente Kriterien (wie Kohäsion/Kohärenz, Makro-Propositionen, Handlungsstrukturen, etc.; vgl. Stöckl 2006) handelt, beziehen sie sich vor allem auf die Materialität des Objektes, seine Zusammensetzung aus unterschiedlichen semiotischen Ressourcen. Unter Material werden ein spezifisches Laut- oder Schriftbild, eine Farbe oder auch ein Geräusch verstanden, die wiederum durch einen bestimmten Zeichenträger (Schallwellen, Papier, Zelluloid, Tonband, etc.) vermittelt werden. Die Textualität eines Artefaktes kann je nach Medialität und Materialität unterschiedlich bestimmt werden. Bereits in den Anfängen der Textlinguistik war dies ein wichtiges Kriterium, das Eingang in eine Vielzahl von Textdefinitionen fand, zunächst beschränkt auf eine Menge von sprachlichen Zeichen, später auch als übersprachlicher Zeichenkomplex (vgl. Klemm 2002a). Bis heute kann diese Auffassung von Text sowohl für eine Ansammlung sprachlicher Aussagen genutzt als auch auf andere Medien übertragen werden. Bateman (2014) macht allerdings darauf aufmerksam, dass nicht das Vorhandensein von Zeichen in einem Artefakt allein entscheidend für
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seine Textualität ist, sondern erst das Vorliegen von Struktur als ein dem Material inhärentes Kriterium (vgl. dazu auch Beaugrande/Dressler 1981) etwas zu einem Text macht: Ein Hauptmerkmal von solchen, von mir hier als ‚echte‘ Texte bezeichneten Artefakten ist genau die Komplexität ihrer internen semiotischen Bezüge und die Relationen dieser Bezüge zu absichtlich hervorgerufenen Interpretationswegen. Dabei wird jede Behandlung von Text als eine ‚Menge von Zeichen‘ inadäquat. Es ist stattdessen die interne Struktur und die besondere Funktion dieser Struktur, die einen Text ausmachen. (Bateman 2014, 251–252)
Struktur und Funktion sind zum einem das Ergebnis einer intentionalen und produktiven Zeichenhandlung, weswegen Texte u. a. auch als Handlungsergebnisse bezeichnet werden (vgl. Posner 2003; Siefkes 2014). Zeichen im Text hinterlassen demnach „textuell interpretierbare und als solche identifizierbare Spuren“ (Bateman 2014, 253), die durch die Rezipienten erkannt und dekodiert werden müssen. Zum anderen sind sie folglich immer auch ein Resultat der Rezeption eines Textes, denn erst durch die Verknüpfung von einzelnen Einheiten im Text kann sein textueller Gesamtzusammenhang interpretiert werden. Die Kriterien stellen somit zugleich eine Schnittstelle zwischen Produktions- und Rezeptionsseite eines textuellen Artefakts dar und ermöglichen auch ohne Rückgriff auf empirisches Wissen darüber eine umfangreiche Analyse seiner Bedeutung sowie Funktion. Auch für eine Definition des Textes, die im Rahmen diskurslinguistischer Analysen Anwendung finden kann, sind diese Kriterien entscheidend. Denn wenn Diskursanalyse zum Beispiel Wissens- und kulturelle Strukturen sowie die Konstruktion von Wirklichkeit (vgl. Niehr 2014, 47–49) herausarbeiten will oder aber nach der Herstellung von Bedeutung in multimodalen Texten wie Bildern, Filmen oder Online-Diskursen fragt, muss eine Analyse der jeweiligen Texte im Hinblick auf ihre Materialität, Struktur sowie Funktion vorausgehen. Ohne eine semantische Basis können zwar Interpretationen gefunden, nicht aber auf ihre tatsächliche textuelle Grundlage zurückgeführt werden. Text muss folglich auch innerhalb der Diskurslinguistik als Konstituente eigener Ordnung mit spezifischen materiellen Eigenschaften verstanden werden. Besonders die Eigenschaft der Materialität kann dabei für eine Abgrenzung zum Diskursbegriff hilfreich sein und als entscheidendes differenzierendes Kriterium angewandt werden. Während Text ein konkretes materielles Artefakt ist, dessen textuelle Eigenschaften mithilfe textlinguistischer Instrumentarien herausgearbeitet werden können, ist Diskurs eine dem Text übergeordnete, in vielen Fällen abstrakte Einheit. In den meisten vorliegenden Definitionen wird diese Abstraktheit durch Formulierungen wie „virtuelle Gesamtheit“ (Spitzmüller/Warnke 2011) oder „virtuelle Textkorpora“ (Busse/Teubert 2014, 16) ausgedrückt, ist die Rede von „Wissensformationen“ (Spieß 2013, 22) oder von Ressourcen zur Konstruktion von Kohärenz (vgl. Kress 2010; siehe oben). Um diese Abstraktheit des Diskurses fassen zu können, ist jedoch jeweils ein Rückgriff auf das tatsächliche Material notwendig, ein Rückgriff auf den bzw. die Texte.
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Dementsprechend kann dieser Bestimmung des Textes als materielles Objekt insofern eine Autonomie gegenüber dem Diskursbegriff zugeschrieben werden, als dass Text in seiner konkreten Materialisierung, die sowohl singulär als auch in einem seriellen Verbund von textuellen Ereignissen (vgl. Warnke 2002, 134) möglich ist, den Diskurs fassbar macht. Text muss in diesem Sinne eine diskurslinguistische Einheit sein, weil Diskurs nicht ohne Text analysier- und interpretierbar ist. Dies hat für das Bewusstsein über das Vorhandensein der Kategorie Text innerhalb der Diskurslinguistik signifikante Konsequenzen, die im Folgenden aufgezeigt werden.
3.2 Diskurslinguistik als Untersuchung von Diskursen im Text Die im Zuge der Etablierung der neuen Disziplin der Diskurslinguistik oftmals vorgenommene Abtrennung zur Textlinguistik und die damit einhergehende Gegenüberstellung von Text und Diskurs in germanistischen Diskussionen sind im Hinblick auf eine allgemeinsprachwissenschaftliche Einordnung nur bedingt haltbar. Zwar ist verständlich, dass eine Neuorientierung der Textlinguistik als Untersuchung von Texten im Diskurs (vgl. Warnke 2002; Fix 2002) im Gegensatz zu der zunächst angenommenen transphrastischen Analyse ohne Rückgriff auf größere Zusammenhänge (vgl. Fix 2008, 21–22) sehr begrüßt wurde, allerdings wird im Gegenzug der Diskurslinguistik der Textbegriff eher ab- als zugesprochen. Die bisherigen Ausführungen veranlassen aber dazu, gegenteilig zu argumentieren und analog die Diskurslinguistik als Untersuchung von Diskursen in Texten zu formulieren. Dies entspricht zum einen der Annahme, dass Texte auch weiterhin Untersuchungsobjekte der Diskurslinguistik sind, weil ohne sie Fragen nach der Bedeutungs- und Wissenskonstitution nicht möglich wären. Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, kann sogar noch deutlicher formuliert werden: Diskursanalyse ohne Text(e) ist nicht möglich. Zum anderen kann mit dieser Formulierung eine allgemeingültige Beschreibung diskursanalytischer Untersuchungen vorgenommen werden, die auf die unterschiedlichsten Zugänge zum Diskurs anwendbar ist. Unabhängig davon, ob es sich um eine historische, politische oder soziologische Analyse, um Fragen nach der Narrativität oder Computerbasiertheit, um interdisziplinäre oder einzelphilologische Diskussionen handelt (vgl. zur Übersicht über unterschiedliche diskursanalytische Fragestellungen z. B. Schiffrin u. a. 2001): immer ist die Analyse des Diskurses in Texten notwendig. Dies entspricht der bereits weiter oben zitierten Annahme von Diskursanalyse als „the examination of actual (not hypothetical) text and/or talk“ (Schiffrin u. a. 2001, 7). Explizit diskurslinguistisch sind diese Analysen, solange sie ihre Frage auf die textuellen Kriterien der jeweiligen Texte zurückführen und so die Bedeutungskonstitution erforschen. Ein Bewusstsein über diese entscheidende Rolle des Textes innerhalb der Diskurslinguistik muss, wie es scheint, für die weitere Entwicklung der Disziplin teil-
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weise neu entstehen bzw. reaktiviert werden. Dabei würde ein stärkeres Zugeständnis zu der tatsächlich vorgenommenen Textanalyse mithilfe diskurslinguistischer Prinzipien helfen, die skizzierte pessimistische Haltung gegenüber Texten in eine bewusste und aktive Auseinandersetzung mit dem Objekt umzuwandeln. Diskurslinguistik kann dann gesehen werden als Analyse von Diskursen als abstrakte, virtuelle Einheiten in Texten, die diskursive Inhalte materialisieren.
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Carsten Junker/Julia Roth
7. Intersektionalität als diskursanalytisches Basiskonzept Abstract: Intersektionalität bietet ein spezifisches Instrumentarium für eine machtsensible Analyse von Diskursen. Als diskursanalytisches Basiskonzept zielt Intersektionalität darauf, die Verwobenheit unterschiedlicher sozial differenzierender und hierarchisierender sowie bedeutungsstiftender Kategorien in der Analyse von diskursiv verfassten Wissensordnungen adäquat zu erfassen. Das Konzept hat sich in den letzten Jahren zunehmend als produktiv für die komplexe Analyse von Diskursen über traditionelle Fächergrenzen hinaus erwiesen. Der vorliegende Beitrag erläutert in einem ersten Schritt disziplinäre und raumzeitliche Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge des Konzepts. In einem zweiten Schritt stehen epistemologische und methodologische Überlegungen im Vordergrund. Der Beitrag plädiert für Intersektionalität als Instrument der Perspektivierung und Reflexion von Diskursanalyse und deren Analyseparametern.
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Einleitung Entstehungszusammenhänge, Verlauf Epistemologische und Methodologische Implikationen Ausblick Literatur
1 Einleitung In den letzten Jahren ist eine nunmehr beinah unüberschaubare Anzahl an Publikationen zu Intersektionalität im Rahmen sozial-, rechts- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen erschienen (für den deutschsprachigen Kontext siehe z. B. Klinger/Knapp/Sauer 2007; Walgenbach u. a. 2007; Haschemi Yekani u. a. 2008; Winker/Degele 2009; Hess/Langreiter/Timm 2011; einen nützlichen Forschungsüberblick inkl. umfangreicher Bibliographie bietet das Online-Portal Intersektionalität, www.portal-intersektionalitaet.de; für eine Bestandsaufnahme im angloamerikanischen Raum, siehe Cho u. a. 2013). Umso erstaunlicher ist es, dass der jüngst publizierte Band DiskursNetz: Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung auf einen Eintrag zu Intersektionalität verzichtet, was angesichts des Anspruchs der Bandherausgeber, „das breite Spektrum der Diskursforschung in verschiedenen Disziplinen“ abzubilden (Wrana u. a. 2014, 8), überrascht. Das Konzept der Intersektionalität hat sich in deutschsprachigen Zusammenhängen in den letzten Jahren aus seinem Rezeptionskontext der Geschlechterforschung zu einem breit https://doi.org/10.1515/9783110296075-007
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rezipierten Paradigma entwickelt, das „als gemeinsamer Orientierungsrahmen fungiert und neue Forschungsperspektiven eröffnet“ (Walgenbach 2012a, 82; vgl. Kuhn 1973, 25). Nicht zuletzt generiert dies auch neue Impulse für diskursanalytische Vorgehensweisen. Intersektionalität bietet ein spezifisches Instrumentarium für eine machtsensible Analyse von Diskursen. Als diskursanalytisches Basiskonzept zielt Intersektionalität darauf, die Verwobenheit unterschiedlicher differenz-, hierarchie- und bedeutungsstiftender Kategorien in der Analyse von diskursiv verfassten Wissensordnungen adäquat zu erfassen. Katharina Walgenbach definiert das Konzept folgendermaßen: Unter Intersektionalität wird […] verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren ‚Verwobenheiten‘ oder ‚Überkreuzungen‘ (intersections) analysiert werden müssen. Additive Perspektiven sollen überwunden werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird. Es geht demnach nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen. (Walgenbach 2012a, 81)
Laut Gabriele Dietze (2013, 34) eignen sich Intersektionalitätsmodelle gut dafür zu beschreiben, dass „Unterdrückung vielschichtig ist und Individuen und Menschengruppen in unterschiedlichen ‚Szenen der Ungleichheit‘ multiple Identitäten in sich vereinen“. Das Konzept wurde im Rahmen der afroamerikanisch-feministisch geprägten Rechts- und Sozialwissenschaften etabliert und erhielt dabei Anstöße durch die Forderungen sozialer Bewegungen, besonders des afroamerikanischen Feminismus. Intersektionalität hat sich in den letzten Jahren zunehmend als produktives Konzept für die komplexe Analyse von Diskursen über traditionelle Fächergrenzen hinaus erwiesen. Im deutschsprachigen Raum sind jüngst eine wachsende Anzahl von sozial-, literatur-, kultur- und sprachwissenschaftlich ausgerichteten Forschungsarbeiten erschienen. Ihre Untersuchungsansätze sind entweder explizit intersektional angelegt oder sie haben das Konzept selbst zum Untersuchungsgegenstand. Als diskursanalytisches Basiskonzept dient Intersektionalität dazu, sprachlich verfasste diskursive Phänomene vielschichtig zu analysieren und daraufhin zu befragen, auf welchen Ebenen Sprache an der Herstellung von Wissen und Diskursen beteiligt ist, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Analyse von Machtverhältnissen, Ungleichheiten und Privilegien liegt. Wir beziehen uns dabei auf einen diskursanalytischen Ansatz nach Foucault, der Diskurs begreift als sprachlich verfasstes „Formationssystem von Aussagen, das auf kollektives, handlungsgeleitetes und sozial stratifizierendes Wissen“ verweist (Spitzmüller/Warnke 2011, 9). Sprache wird dabei weniger systembezogen als vielmehr im Rahmen ihrer verschiedenen Gebrauchszusammenhänge forschungsrelevant. Wie Spitzmüller/Warnke (2011, 5) konstatieren, ist der Diskursbegriff uneindeutig und interessengeleitet definiert:
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Mit der Verbreitung des Diskursbegriffs in weiten Teilen der Geistes- und Sozialwissenschaften ab den 1970er-Jahren ist […] eine gewisse Bedeutungskonkurrenz entstanden, die durch die jeweils spezifische Perspektive bedingt ist, aus der heraus so unterschiedliche Fächer wie bspw. die Philosophie, die Soziologie, die Geschichtswissenschaft, die Literaturwissenschaft und die Linguistik ‚Diskurse‘ konzeptionalisieren. (Spitzmüller/Warnke 2011, 5)
Überlegungen zu einer intersektionalen Diskursanalyse knüpfen an den Verweis auf die soziale Stratifizierung von Wissen in Diskursen direkt an. Eine entsprechende, grundlegende Definition von Diskurs lautet folgendermaßen: Diskurs […] bezeichnet einen durch Äußerungen produzierten sozialen Sinn- oder Kommunikationszusammenhang […], bisweilen mit einem besonderen Fokus auf den Themen, den institutionellen Orten und Positionierungen der SprecherInnen in Machtordnungen. (Wrana u. a. 2014, 75)
Unser Beitrag plädiert für eine entsprechende intersektionale Perspektivierung und Reflexion von Diskursanalyse. Intersektionalität verstehen wir dabei nicht als Methode, sondern als Methodenreflexion, d. h. auch als Methodologie, die den Herstellungskontext der eigenen Analyse mit einbezieht. Hierbei kommen insbesondere Fragen nach der gesellschaftlichen Positionierung von Diskursakteurinnen und Diskursakteuren zum Tragen. Das Konzept kann dazu dienen, in der Analyse besonders zu berücksichtigen, wie Diskurse auf komplexe Weise Positionszuweisungen vornehmen, und wie Sprache auf machtvolle Weise Diskurse ordnet und durch Sprachgebrauch strukturiert. Dies zielt nicht zuletzt auf die Frage danach, wer jeweils Diskurse analysiert.
2 Entstehungszusammenhänge, Verlauf Im folgenden Abschnitt werden Fragen nach der Herkunft und dem Rezeptionsverlauf des Konzepts sowie dem Verhältnis unterschiedlicher Kategorien zueinander erörtert. Analysierte Intersektionalitätsforschung im anglo-amerikanischen Kontext zuerst das Verhältnis der beiden sozialen Struktur- und Analysekategorien Race und Gender bzw. beabsichtigte zu untersuchen, wie sich Rassismus und Sexismus in ihrer Verschränkung auswirkten, so erfuhr der Ansatz seitdem Weiterungen durch Kategorien wie soziale Schicht, Sexualität und Nation. Wir skizzieren im Folgenden dessen Rezeptionszusammenhang, nicht zuletzt auch in deutschsprachigen Kontexten. Dabei berücksichtigen wir auch das Verhältnis von Intersektionalität als politisches und akademisches Konzept und verweisen auf den Impetus, Ungleichheiten zu analysieren und Hegemonie(selbst)kritik zu üben.
2.1 Begriff nach Kimberlé Crenshaw Der Ursprung des Begriffs Intersektionalität lässt sich klar verorten. Er entstand im Kontext der Rechts- und Sozialwissenschaften und geht zurück auf den Aufsatz
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„Demarginalizing the Intersections of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics“ der afroamerikanischen Juristin und feministischen Aktivistin Kimberlé Crenshaw, erschienen 1989. Anhand mehrerer Fallbeispiele problematisierte Crenshaw in diesem Aufsatz ein konkretes juristisches Problem: Laut Crenshaw sei die Aufhebung der gleichzeitigen sexistischen und rassistischen Diskriminierung von schwarzen Frauen durch bestehende Rechtsmittel in den USA nicht einklagbar gewesen. Dies beschrieb Crenshaw u. a. anhand des Beispiels einer Klage ehemaliger schwarzer weiblicher Angestellter der Autofirma General Motors (GM), die Opfer einer Entlassungswelle geworden waren, in deren Folge keine schwarzen Frauen mehr bei General Motors beschäftigt wurden. Wie der Rechtstreit zeigte, sei diese doppelte Diskriminierung gerade juristisch bisher nicht greifbar gewesen: GM beschäftigte Frauen und erfüllte somit den Anspruch auf Gleichstellung – diese Frauen waren nun aber ausschließlich weiß. GM beschäftigte auch Schwarze und erfüllte somit die Ansprüche der Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen, die so genannte Affirmative Action – alle schwarzen Angestellten waren jedoch männlich. Crenshaws Intervention zielte darauf, die sich darin artikulierende, gleichzeitige rassistische und sexistische Diskriminierung einklagbar zu machen. Es ging ihr um eine „Kritik an einem eindimensionalen single-issue-framework der existierenden Antidiskriminierungsrechte“ (Walgenbach 2012b, 17). Wie Walgenbach aufzeigt, hebt Crenshaw drei unterschiedliche Ebenen von Intersektionalität hervor – eine strukturell-verschränkte Ebene der Unterordnung, eine Ebene verschiedener sozial-stratifizierter Positionierungen, und eine Ebene von Intersektionalität als vielschichtiges politisches Identitätskonzept: 1. Intersectionality in Bezug auf die Überkreuzung oder Überschneidung von Kategorien und Herrschaftsstrukturen (race/gender und racism/sexism). Deutlich wird dies auch in Formulierungen wie intersectional subordination oder structural intersectionality (Crenshaw 1995, 358–359). 2. Intersectionality als Konzeptualisierung der sozialen Position Schwarzer Frauen innerhalb sich überlappender Systeme (overlapping systems) von Subordinationen und am Rande von Feminismus und Antirassismus. Diese Ebene findet sich ebenfalls in Begriffen wie intersectional locations (Crenshaw 1995, 367) oder intersectional experiences (Crenshaw 1998, 315) 3. Intersectionality als politisches Identitätskonzept, das sich nicht auf eine Kategorie beschränkt: multiple identities (Crenshaw 1995, 358). (Walgenbach 2012b, 13–14). Crenshaws Text stellte eine bedeutende Erweiterung in der Analyse US-amerikanischer juristischer Diskurse dar. Ihre Intervention trug auch grundlegend dazu bei, dass feministische Kritik die Vielfalt der Diskriminierung von Frauen in den Blick nahm, anstatt auf der Grundlage einer vermeintlich gemeinsamen weiblichen Erfahrung zu argumentieren. Zugleich erweiterte ihr Ansatz rassismuskritische De-
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batten um eine gendersensible Perspektive. Neben ihrer Professur arbeitet Crenshaw heute als Beraterin für zahlreiche internationale Institutionen (z. B. die UNO) und betreibt ihren eigenen Think Tank (The African American Policy Forum, www.aapf.org). Seit sie den Begriff Intersektionalität geprägt hat, ist er an vielen verschiedenen Orten aufgegriffen worden, er bezeichnet inzwischen unterschiedliche Dinge in verschiedenen Kontexten, und es gibt vielfältige Auffassungen darüber, was unter Intersektionalität zu verstehen ist. Insbesondere in den Sozialwissenschaften erlebte das Konzept einen regelrechten Boom und wird häufig als Methode empirischer Studien verwendet. Ina Kerner (2012, ohne S.) spricht sogar von einem intersectional turn in der feministischen Kritik. Kathy Davis (2008, 67) von Intersektionalität als buzzword.
2.2 Soziale und historische Hintergründe Das Verständnis, das im Konzept der Intersektionalität zum Ausdruck kommt, hat eine lange Geschichte im schwarzen Feminismus in den USA. Die Genealogie dieses Verständnisses lässt sich zurückführen auf verschiedene soziale Bewegungen und auf eine soziale Praxis von Interventionen, welche sich als Widerstand gegen geltende sozial-hierarchisierende Normen und als Intervention in entsprechende hegemoniale Diskurse äußerte. Bereits unmittelbar nach der französischen Revolution hatten Feministinnen wie Olympe de Gouges (1791) und Mary Wollstonecraft (1792) hervorgehoben, dass die proklamierten Menschenrechte auf weiße Männer beschränkt seien. Zur gleichen Zeit unterstrichen die Akteurinnen und Akteure der Haitianischen Revolution (1791) den Widerspruch zwischen Menschenrechten und dem System der institutionalisierten Versklavung. Im Jahr 1851 zeigte die ehemals versklavte afroamerikanische Feministin Sojourner Truth in ihrer Rede „Ain’t I a Woman?“ im Rahmen der Women’s Rights Convention (Frauenrechtlerinnenversammlung) in Akron, Ohio, wie eng verwoben sexistische Unterdrückung mit anderen Dominanzregimen wie Kolonialismus, Versklavung, Rassismus und sozialem Status ist. Somit stellte Truth den Universalitätsanspruch des vornehmlich weißen und bürgerlichen Feminismus – und die darin vertretene vermeintlich allgemeine weibliche Erfahrung der Unterdrückung – in Frage. Truth stellte diesem Anspruch ihre eigene Erfahrung als ehemals versklavte Frau gegenüber, deren Kinder verkauft worden waren und die stets gezwungen war zu arbeiten, der Mutterschaft, Ehe und Hausfrauendasein im bürgerlichen Sinn strukturell abgesprochen wurde, und die die gleichen körperlichen Strapazen auf sich zu nehmen hatte wie ein Mann. Auch sozialistische Feministinnen kritisierten die Dominanz bürgerlicher feministischer Perspektiven, indem sie die Bedeutung der Kategorie ‚Klasse‘ hervorhoben. Im Zuge der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der feministischen Bewegung seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts fand in den USA eine strukturell ähnliche Kritik an eindimensionalen Kämpfen statt. Als ein Meilenstein veröffent-
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lichte im Jahr 1971 die afroamerikanische Autorin und Literaturnobelpreisträgern Toni Morrison den Essay „What the Black Woman Thinks about Women’s Lib“. 1977 trat das Combahee River Collective aus schwarzen lesbischen Frauen an, um interlocking systems of oppression zu thematisieren und zu bekämpfen. In Brasilien intervenierten auf ähnliche Weise die Mulheres Negras mit einem Manifest im Rahmen des Frauenkongresses im Juli 1975. Angela Davis (1981) nahm auf die aufeinander bezogenen Hierarchien von Sexismus, Rassismus und Klassismus in dem Band Women, Race and Class Bezug. Auch der Sammelband mit dem bezeichnenden Titel All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave: Black Women’s Studies (1982), herausgegeben von Gloria T. Hull, Patricia Bell Scott und Barbara Smith, verwies auf die Problematik, die Crenshaw später in ihrem Konzept beschreiben sollte. 1983 thematisierten Nira Yuval-Davis and Floya Anthias in ihrer Arbeit mit dem Titel „Contextualising Feminism – Ethnic and Class Divisions“ die Notwendigkeit, Feminismus mit ethnischen und Klassengrenzen zu kontextualisieren. Zwei wegweisende Publikationen seien hier noch genannt: In ihrem Essay „It’s All in the Family: Intersections of Gender, Race, and Nation“ (1998) analysiert Patricia Hill Collins die Funktion des traditionellen Familienideals (in den USA) als ein bevorzugtes Anschauungsbeispiel für Intersektionalität. Sie untersucht dabei aufschlussreich, wie ein herkömmlicher Diskurs über Familie die Bedeutung von Raum und Territorium, die Vorstellung einer naturalisierten Hierarchie und normative Begründungen für die ungleiche Verteilung von Ressourcen und sozialen Wohlstand prägt. Collins zufolge artikuliert sich im Familiendiskurs eine Herrschaftsmatrix (matrix of domination), die bestimmte Formen von Familienmitgliedschaft privilegiert. Diese Formen sind auf der Mikroebene (Kernfamilie) ebenso wie auf der Makroebene (Nation) durch rassisierte und vergeschlechtlichte Einschlussund Ausschlusskriterien gekennzeichnet. Die Chicana-Feministin Gloria Anzaldúa prägte 1987 das Konzept des Borderlands/La Frontera im gleichnamigen Buch. Borderlands verweist einerseits auf das konkrete physische Territorium der heutigen US-amerikanisch-mexikanischen Grenze, die sich in Folge des US-amerikanisch-mexikanischen Krieges von 1848 dorthin verschob. Die Region ist seither ein Gebiet der Entwurzelung und Entrechtung ebenso wie ein Ort gewaltvoller Grenzregime gewesen, aber auch ein Gebiet des Widerstands gegen und der Transgression von geopolitischen und kulturellen Grenzen. Dies drückt sich formell im Text anhand des Gebrauchs von Code Switching und Mehrsprachigkeit (Englisch, Spanisch, Nahuatl) aus. Das Buch führt somit das in ihm beschriebene Konzept selbst vor. Andererseits beschreibt Anzaldúa mit dem Konzept des Borderlands ihre Erfahrung und Selbstidentifizierung als lesbische Chicana in prekären sozialen Verhältnissen. Anzaldúa bezeichnete diese Identitätsposition als ermächtigende Position. Zudem verweist sie darauf, dass das Konzept eine neue Perspektive und eine andere Form von Wissen ermögliche. Somit zielt es dezidiert auf eine Machtkritik, eine Kritik an lokalen und globalen geo-
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politischen Herrschaftsverhältnissen und am Konzept der Nation. Es erweitert somit in bedeutender Weise den intersektionalen Diskursrahmen. Seither haben viele ‚nichthegemoniale‘ Feministinnen eine ähnliche Agenda verfolgt, auf die verflochtenen Dimensionen verschiedener Unterdrückungsachsen und Ungleichheiten insistiert und das Konzept weiterentwickelt. Neben dem anfänglichen Fokus auf Race und Gender rückten insbesondere die Dimensionen Sexualität und Nation ins Blickfeld. Inzwischen ist eine Proliferation verschiedener Differenzkategorien erfolgt. Während einige sozialwissenschaftliche Ansätze dafür plädieren, die Komplexität von Identitäten in entsprechenden Analysen angemessen zu erfassen, heben andere Positionen stärker hervor, dass Intersektionalität eine Perspektivierung darstelle, also einen Rahmen, der den gleichzeitigen und verflochtenen Charakter von Ungleichheitsachsen sichtbar macht. Welche Kategorien – oder vielmehr: welche Ungleichheitsachsen wie Sexismus, Rassismus, Homophobie – und wie viele Kategorien relevant sind, hängt dabei jeweils vom konkreten Untersuchungskontext und der spezifischen Fragestellung ab. Diese zweite Richtung zielt demnach weniger auf eine vermeintlich vollständige Darstellung von Kategorien, sondern vielmehr darauf, eine Perspektive darauf zu eröffnen, wie verschiedene Machtverhältnisse zusammenwirken und wie diese Ausschlüsse und Ungleichheit hervorrufen, bedingen oder verstärken.
2.3 Deutschsprachiger Kontext Obgleich im deutschsprachigen akademischen Kontext keine zeitgleiche Begriffsbildung wie in den USA verzeichnet werden kann, waren es auch hier die Protagonistinnen sozialer Bewegungen jenseits eines mehrheitsfähigen Feminismus, die Forderungen nach intersektionalen Analysen stellten. Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Bewegungen wiesen darauf hin, dass im Rahmen von Ungleichheitsverhältnissen eine Analyse des Zusammenspiels vielfältiger Formen der Differenzsetzung und Hierarchisierung notwendig sei, um soziale Verhältnisse adäquat zu beschreiben und daraus Forderungen nach Veränderung abzuleiten. Für den deutschsprachigen Raum hat Walgenbach (2008, 27–40) insbesondere auf politische Interventionen von Sozialistinnen der 1920er-Jahre verwiesen und auf diejenigen, die seit den 1970er Jahren von Vertreterinnen der „Bewegung von Frauen mit Behinderung“, der „Migrantinnenbewegung“, der „jüdische[n] Frauenbewegung“ und der „Schwarze[n] Frauenbewegung“ ausgehen. Diese flankierten die dominante Frauenbewegung und fügten deren Forderungen, die sich primär gegen Sexismus richteten, weitere Forderungen hinzu, die sich auf Diskriminierungspraktiken aufgrund von Klasse, Behinderung, sowie auf Antisemitismus und Rassismus bezogen. Die Kategorie „Frau“ alleine, so eine daraus abzuleitende Erkenntnis, machte die Interessen und komplexen Diskriminierungserfahrungen vielfältig positionierter und marginalisierter Frauen unsichtbar. Stand diese universalisierende Kategorie auch lange Zeit im Zentrum feministischer Debatten und
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Politiken, so konnte sie eine Kritik an sozialen Ungleichheiten, die sich vielfältig artikulierten, doch nicht angemessen erfassen (siehe Hügel u. a. 1993; Gelbin u. a. 1999). Wie oben bereits beschrieben, erfährt das Konzept Intersektionalität seit einiger Zeit eine rege Rezeption und einen regelrechten Boom in den deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften. Als eine zentrale Position in der Diskussion diskutieren Klinger/Knapp/Sauer (2007) das Konzept mit Verweis auf Achsen der Ungleichheit, so der Buchtitel, und richten somit den Fokus auf die hierarchische Dimension sozialer Stratifizierungsachsen. Walgenbach (2012b, 2) grenzt den Ansatz klar von additiven oder anderen Konzepten wie Heterogenität oder Diversity ab, indem auch sie den Fokus auf Ungleichheiten und den kritischen Impetus von Theoriebildung betont: „Das Forschungsfeld bzw. der gemeinsame Gegenstand von Intersektionalität sind […] Macht-, Herrschafts- und Normierungsverhältnisse, die soziale Strukturen, Praktiken und Identitäten reproduzieren“.
3 Epistemologische und Methodologische Implikationen Zwar haben intersektionale Ansätze es ermöglicht, Machtverhältnisse in ihrer Vielschichtigkeit angemessen zu erfassen und dabei die Konstruiertheit und Verschränkung verschiedener Kategorien zu berücksichtigen. Diese Ausdifferenzierung hat jedoch auch zu der Frage geführt, wie sich – auch im akademischen Feld – weiterhin wirksam konkrete politische Forderungen formulieren ließen, die übergreifende Referenzpunkte erfordern. Antworten auf diese theoretische Frage boten Überlegungen zu den von Judith Butler (1993, 31) in ihrem Aufsatztitel so genannten kontingenten Grundlagen. Das heißt, strategische Allianzen sollten im Interesse politischer und diskursiver Handlungsfähigkeit aufgrund gemeinsamer und eindeutiger Bezugspunkte möglich sein – wenn auch im Wissen um deren brüchige Gültigkeit. Genannt seien hier auch die Überlegungen zum „strategischen Gebrauch von Essentialismus“ (Spivak 1987, 205), mit dem Identitätspolitiken im Wissen um die sozial und diskursiv konstruierten Dimensionen von vermeintlich vereindeutigten Identitäten betrieben werden können (siehe auch den von Moya/Hames-García (2000) vorgeschlagenen Ansatz des postpositivist realism). Schließlich sei hier auch auf das Konzept der Äquivalenzketten nach Laclau/Mouffe (2006, 168) verwiesen, denen zufolge verschiedene Gruppen, die partikulare Interessen vertreten, sich zusammenschließen, um allgemeine Veränderungen in von Hegemonie durchzogenen gesellschaftlichen Strukturen zu erwirken. Mit Verweis auf Laclau/Mouffe betont Alex Demirović (2007, 76), dass „[p]lurale Äquivalenzketten […] das Merkmal demokratischer Kämpfe [seien], denn diese bestehen darin, die Äquivalenzkette auszudehnen: also [beispielsweise] Antirassismus, Antisexismus und Antikapitalis-
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mus miteinander zu artikulieren“. Für Diskurse steht damit zur Diskussion, wer in einem Diskurs worüber spricht und für wen sprechen darf und wer die Regeln des Sagbaren bestimmt; dies gilt in besonderer Weise gerade auch für die Analyse von Diskursen. Differenzkategorien wie Staatsbürgerschaft, Religionszugehörigkeit, Gender und Race strukturieren nicht ausschließlich soziale Ordnungen – und positionieren Diskursakteurinnen und Diskursakteure auf komplexe Weise –, sondern diese Strukturkategorien haben auch Auswirkungen auf die Analyse von sozialen Verhältnissen und Diskursen. Mit anderen Worten: intersektionale Differenzkategorien sind sowohl soziale und diskursive Strukturkategorien als auch Analysekategorien.
3.1 Intersektionalität und Linguistik Oben wurde die Bewegung von einer zentral gesetzten Analysekategorie zur Vervielfältigung und komplexen Verschränkung von Analysekategorien aufgezeigt. Diese Dynamik lässt sich beispielhaft an einer Bewegung von feministischer sprachwissenschaftlicher Theoriebildung der 1980er Jahre hin zu Ansätzen der Linguistik im Rahmen gegenwärtiger Gender Studies beobachten. Während Arbeiten der feministischen Linguistik (Trömel-Plötz 1982; Pusch 1984) als Beispiele für Analysen von Geschlecht als singuläre Kategorie sprachlicher Differenzierung und deren Beschreibung gelten können, ist mit dem Paradigma der Intersektionalität auch eine Reflexion über die Vervielfältigung und Relationierung sprachlicher Kategorisierungen markiert. Hier stellen sich u. a. Fragen danach, „welche Aspekte in welchen Diskursen vorausgesetzt werden für die Konstitution von Kategorisierungen“ (Hornscheidt 2007, 94); das heißt, intersektionale (bei Hornscheidt interdependent genannte) Analysen sind mit der Frage konfrontiert, welche Differenzkategorien durch den Untersuchungsgegenstand und für die Analyse als relevant gelten können und welche nicht, und bei welcher Setzung und Gewichtung zweier oder mehrerer Kategorien es besonderer Legitimation bedarf. Anspruch einer sprachorientierten intersektionalen Diskursanalyse ist es demnach, sprachliche Prozesse als „zentrale Handlungen in und für Kategorisierungen“ (Hornscheidt 2007, 103) zu diskutieren und in der Analyse von sprachlich verfassten Diskursen deren Komplexität gerecht zu werden. Hier stellen sich insbesondere Fragen danach, ob und wie innerhalb einer dominant gesetzten Analysekategorie eine weitere analytische Ausdifferenzierung stattfinden soll, oder warum und wie zwei oder mehrere Kategorien gleichsam die Analyse perspektivieren, ohne beliebig gereiht und additiv die Untersuchung zu strukturieren. Im Sinne einer Diskursanalyse, die Diskurse in ihrer Komplexität greifen will, sollten also die Auswahl der Kategorien und Gewichtungen untereinander dargelegt und mitreflektiert werden. Die Bewegung von Gender als primärer Analysekategorie hin zu einer Vervielfältigung von Analysekategorien hat entsprechend zu intensiven Auseinandersetzungen über die Durchsetzung unterschiedlicher Analysekategorien geführt,
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was auf Kämpfe um Deutungshoheit im Rahmen einzelner Wissenschaftsfelder verweist.
3.2 Intersektionalität als spezifisches Paradigma der Kritik Insgesamt ist für eine intersektionale Analyse von Diskursen von Bedeutung, dass sie vor allem als ein kritisches Projekt zu verstehen ist. Während intersektionale Ansätze also durchaus auch Perspektiven für deskriptive Ansätze von Diskursanalyse eröffnen, erscheinen sie aufgrund ihrer machtkritischen Ansprüche besonders für eine kritische Diskursanalyse erkenntnisbringend. Erstens ist Intersektionalität als kritisches Projekt zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Politik verortet und vermittelt zwischen universellem und partikularem Anspruch. Entstanden in aktivistischen Kontexten, verknüpft das Konzept allgemeine und individuelle Ebenen und zeichnet sich durch eine starke Referenz auf Erfahrungswissen aus. Demzufolge bedeutet dies für Diskurse zweitens, dass eine solche Perspektivierung eine Erweiterung des Wissensbegriffs mit sich bringt. Der Autorität der Erfahrung (titelgebend bei Diamond/Lee 1977; Scott 1991) kommt hier eine zentrale Bedeutung zu, um verschiedene Identitätskonzepte, aber auch soziale Ungleichheiten sagbar und somit analysierbar zu machen. Damit trägt eine intersektionale Rahmung von Diskursanalyse zur Überwindung von vermeintlich objektivem Wissen und einem Bewusstsein für die Situiertheit und Partikularität von Wissen bei. Sie ist von feministisch-ausgerichteten Arbeiten geprägt, die Wissensproduktion als kontext- und interessegebunden betrachteten und unter den Stichworten situiertes Wissen (Haraway 1988, dt. 2001) und Standpunkt-Epistemologie fassen (Harding 1986, dt. 1990). Bezogen auf den Kontext sowohl des Untersuchungsgegenstands als auch den der Analyse zielt eine entsprechende Perspektivierung darauf, die situationsbedingte Herstellung von Wissen und Diskursen zu reflektieren. Drittens ist Intersektionalität – als Paradigma oder Perspektivierung – ein interdisziplinäres oder zwischen den Disziplinen situiertes Projekt. Als Begriff an der Schnittstelle von etablierter Rechtswissenschaft, aktivistisch motivierten Critical Race Studies und Black Feminism entstanden, ist das Konzept inzwischen in den Sozial- und Kulturwissenschaften weit rezipiert. Es setzt zwischen individuellen, symbolischen und institutionell/strukturellen Analyseebenen an, es vermittelt zwischen ihnen und stellt zugleich deren vermeintliche Trennung in Frage (vgl. Collins 2003).
3.3 Methodologische Perspektivierungen Epistemologie und Methodologie stehen im Kontext von Intersektionalität in offener Beziehung zueinander. Die oft gestellte Frage, ob das Konzept als eine Theorie,
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Methodologie oder Analysestrategie zu begreifen sei, beantwortet Walgenbach (2007, 24–25) mit dem Verweis, es handele sich um ein Paradigma. Auf diese Weise dient Intersektionalität als Rahmung für die Analyse von Diskursen. So lässt sich das Konzept weniger als operationalisierbare Methode verstehen, sondern vielmehr als Ausgangspunkt für eine Reflexion und Perspektivierung von Forschungsansätzen, die Analysekategorien auf verschiedene Weise konfligiert denken können. Im Hinblick auf die Methodologien soziologischer Analysen hat Leslie McCall (2005, 1774) verschiedene intersektionale Komplexitäten von Untersuchungsgegenständen unter den folgenden drei Begriffen erfasst: – intrakategorial – interkategorial – antikategorial Diese Taxonomie kann sich folgenreich auf verschiedene Analyseansätze auswirken: entsprechend würde eine intrakategoriale Analyse etwa bestimmte soziale Gruppen an vernachlässigten Punkten von Überkreuzungen fokussieren – mit der Absicht, „to reaveal the complexity of lived experience within such groups“. Mit anderen Worten, es geht hierbei um die Analyse von Differenzen innerhalb einer Gruppe, die im Hinblick auf eine primäre Kategorie identifiziert wird. Eine interkategoriale Analyse dagegen bringt McCall (2004, 1773) mit Ansätzen in Verbindung, die Ungleichheitsbeziehungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und sich verändernden Konfigurationen von Ungleichheit entlang multipler und konflikthafter Dimensionen dokumentierten. Dabei bezieht sich McCall also auf Differenzen zwischen sozialen Gruppen. Ein anderes Verständnis von intersektionaler Analyse findet sich bei der Kulturwissenschaftlerin Anne McClintock. Bezogen auf die im US-amerikanischen Kontext häufig thematisierte Trias Race, Class und Gender spricht McClintock (1995, 5) von artikulierten Kategorien: [R]ace, gender and class are not distinct realms of experience, existing in splendid isolation from each other; nor can they be simply yoked together retrospectively like armatures of Lego. Rather, they come into existence in and through relation to each other – if in contradictory and conflictual ways. In this sense, gender, race and class can be called articulated categories.
Ein antikategorialer Ansatz hingegen stellt Kategorisierungen grundsätzlich in Frage und kann mit einem dekonstruktivistischen Verständnis von Kategorien in Verbindung gebracht werden. Dabei tritt etwa der historisch veränderbare, kulturelle Konstruktionscharakter von Kategorien in den Vordergrund. Zu denken wäre hier an das von Dietze/Haschemi Yekani/Michaelis (2007, 139) entwickelte Modell der korrektiven Methodologie, das Erkenntnisse aus den Queer Studies aufgreift und mit Intersektionalität in Bezug setzt, um eine „Flexibilisierung zum Problem der Kategorisierung [zu erreichen]. Es wird dafür sensibilisiert, eine zeitliche Dimension in Rechnung zu stellen, d. h. Kategorien können auch nur für einen bestimmten Zeitraum gelten und dann wieder nicht – ein Umstand, der Identitätsansätze problematisierbar macht“.
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Als ein Beispiel für Unterschiede zwischen intrakategorialen, interkategorialen und antikategorialen Zugangsweisen soll hier in aller Kürze der frühmoderne transatlantische Kolonialdiskurs angeführt werden, wie er in Francis Bacons Essay „Of Plantations“ (1625) (dt. „Über Kolonien“) mobilisiert wird. Bacon erörtert darin Bedingungen, unter denen es möglich sei, eine volkswirtschaftlich gewinnbringende und ökologisch nachhaltig betriebene Kolonie zu gründen und zu erschließen. In dem Text, der sich an ein britisches Publikum richtet, unterbreitet Bacon Vorschläge zur geographischen Wahl der Kolonien und zum Anbau geeigneter Lebensmittel für die Subsistenz und den Handel der Kolonisatoren. Zudem diskutiert er, welche Berufsgruppen sich in den Kolonien ansiedeln sollten, wann eine Ansiedlung von Frauen neben Männern und welche Verwaltungsformen notwendig seien. Nun ließe sich Bacons Sprechen über eine Kolonie in Nordamerika unter der Zusammenschau verschiedener Aspekte analysieren: Wie etwa artikuliert sich hier ein nationales Selbstverständnis, dass britische Expansion unter Berücksichtigung bestimmter Annahmen – etwa von Natur, geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und zivilisatorischem Fortschrittsglauben – diskutiert. Dies wäre ein intrakategorialer Ansatz, in dem der Kategorie Nation verschiedene weitere Analysekategorien untergeordnet sind. Eine Diskursanalyse könnte hingegen auch danach fragen, wie sich bestimmte Annahmen von Nation, Natur, Arbeit, Geschlecht und zivilisatorischem Fortschritt gegenseitig bedingen und durch Bezug zueinander zum Ausdruck kommen. Dies entspräche einem interkategorialen Ansatz. Kategorien wie Nation, Natur, Kultur, Geschlecht werden hier in ihrem Verhältnis zueinander und in ihrer gegenseitigen Bedingtheit für eine Analyse eines frühneuzeitlichen Kolonialdiskurses veranschlagt. Ein antikategorialer Ansatz wiederum würde die Kategorie Nation auf ihre historische Passgenauigkeit hin befragen und eventuell auf einen protonationalen Entstehungskontext von Bacons Essay verweisen, ebenso wie er etwa den Zivilisationsbegriff und die Annahme geschlechtsspezifischer Besonderheiten bei Bacon historisieren und kritisch einordnen würde. Wie sich hier zeigt, geht besonders ein antikategorialer intersektionaler Analyseansatz weit über gängige Methoden der Triangulation verschiedener Analyseparameter hinaus. Darüber hinaus lässt es ein antikategorial-intersektionaler Ansatz zu, den Diskursbegriff selbst, der Kolonialismus unhinterfragt als Diskursgegenstand setzt, in Frage zu stellen und einen Diskurs auf seine verschiedenen Dimensionen und auf seine Wirksamkeit hin zu beleuchten. Ein Diskurs kann sach- und themenbezogen sein (der Kolonialdiskurs, der ‚Bioethik-Diskurs‘), er kann disziplinbezogen sein (der ‚medizinische Diskurs‘, der ‚demographische Diskurs‘); er kann auch positionsbezogen sein (der ‚Diskurs der Kolonialherren‘, der ‚Opferdiskurs‘); darüber hinaus denkbar kann er auch ereignisbezogen sein (der ‚68er Diskurs‘, der ‚Diskurs um 9/11‘). Es scheint geboten, sich in der konkreten Analyse eines Diskurses diese verschiedenen Verständnisse oder Ebenen des Diskursbegriffs zu vergegenwärtigen. Anhand des vorliegenden Beispiels zeigt sich, dass verschiedene Diskursebenen sich in ihrer Verschränkung
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analysieren lassen: Welche diskursive Position stellt der Diskurs Francis Bacon im Sprechen über Kolonien bereit, welchen Blick erschließt der Diskurs dermaßen auf den Ort der Kolonisierenden und der Kolonisierten, welchen Beitrag leistet der Diskurs über Kolonien im Rahmen der Agrarwissenschaften und der Biopolitik und für sie, welche historischen Ereignisse flankieren Bacons Ausführungen, aus welcher Position und in welchem Interesse wird Bacons Text heute analysiert? Damit sind exemplarisch und keineswegs systematisch erschöpfend verschiedene Dimensionen für eine Analyse der diskursiven Einbindung und Ausgestaltung von Bacons Text angesprochen. Das Beispiel deutet darüber hinaus und nicht zuletzt darauf hin, dass Intersektionalität zu einer Meta-Diskurstheorie anleiten kann, die verschiedene Diskursanalysen auf ihre jeweiligen intersektional perspektivierten Analyse-Parameter hin untersucht. Grundsätzlich steht hier zur Diskussion, welche Analysen zu welchen Zeitpunkten mit welchem Interesse (etwa auch der Positionierung im akademischen Feld) welche Analysekategorien bemüht haben. Damit ist auch auf die diskursive Verfasstheit und historische Situiertheit verschiedener intersektionalitätstheoretischer Ansätze selbst verwiesen.
3.4 Intersektionalität und Ungleichheit Eine intersektionale Rahmung von Diskursanalyse fördert ein Bewusstsein dafür, soziale und historische Untersuchungskontexte mit zu berücksichtigen, in diskursanalytische Verfahren einzubeziehen und zu präzisieren. Dies betrifft auch die Theoriebildung in Bezug auf das Konzept Intersektionalität selbst. So zielen beispielsweise Avtar Brah und Ann Phoenix (2004, 84) in ihrem Aufsatz „Ain’t I A Woman? Revisiting Intersectionality“ darauf, diskursive Interventionen, die intersektionale Unterdrückung avant la lettre adressieren, zu historisieren. Sie plädieren entsprechend für eine historisch verankerte Betrachtung von Intersektionalität und betonen dabei, dass feministische Dialoge und dialogische Imaginationen machtvolle Werkzeuge darstellen, um gegenwärtig auf der Weltbühne stattfindende Machtspiele herauszufordern, welche auf historisch hergestellten Asymmetrien basierten. Methodologische Reflexionen schließen eine verschränkte Analyse von historischen und räumlichen Untersuchungsgegenständen ein. Dementsprechend lassen sich gegenwärtige geopolitische Positionierungen von Ungleichheit als historisch produziert analysieren. Gutierrez-Rodriguez (2010) untersucht die prekäre Situation migrantischer Pflegearbeit in Europa als historischen Effekt kolonialer Geopolitiken. Diese prägen gegenwärtige so genannte Transkulturations- und Translationsprozesse. Angesichts des aktuellen Phänomens des transnationalen Outsourcings von Haus- und Pflegearbeit (vorrangig an Migrantinnen aus dem ‚globalen Süden‘ und Osteuropa) argumentieren Lutz/Palenga-Möllenbeck (2011), dass eine jeweils isolierte Betrachtung von Sozialstaats-, Gender- und Migrationsdiskursen und -regimen nicht länger ausreiche. Vielmehr sei eine entsprechende Analyse der Ver-
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flechtung dieser drei Dimensionen erforderlich. Floya Anthias zufolge kann eine Konzeptualisierung von Intersektionalität als translokale Positionalität (2008) dazu beitragen, umfassendere Theorien für Stratifizierung zu entwickeln. Somit könnten die vielfältigen und variierenden Interrelationen und Interdependenzen zwischen sozialen Spaltungen, insbesondere in Bezug auf transnationale Prozesse, berücksichtigt werden. Eine intersektionale Perspektivierung (von Analysen, von Wissen, von Diskursen) dient demnach einer epistemischen Sensibilisierung (Roth 2013, 22–29), um bestimmte Ungleichheitsachsen in ihrer historisch und geopolitisch verschränkten Verfasstheit präziser zu erfassen, als dies eindimensionale Analyserahmen vorsehen. Hier lässt sich zudem an eine geopolitische Kontextualisierung von Intersektionalität als politisches Konzept anknüpfen, die sich in Form globaler Ungleichheiten und global-lokaler Wechselbeziehungen sozialer Stratifizierungsprozesse artikulieren. Somit wird der Interdependenz von Dominanzverhältnissen vielfältig (lokal/global, gegenwärtig/historisch, auf der Mikro-/Meso-/Makro-Ebene) Rechnung getragen. Wir erachten es für diskursanalytische Arbeiten folglich als gewinnbringende Perspektivierung, Ungleichheitsforschung und/als Intersektionalitätsforschung zusammenzudenken und umgekehrt. Überlegungen zu verflochtenen Ungleichheiten (Costa 2011) oder globalen Ungleichheiten (Boatcă 2011), welche auf die Überwindung von so genanntem methodologischem Nationalismus zielen, lassen sich auf diese Weise mit Intersektionalitätsansätzen in einen Dialog bringen (siehe auch das zugrunde liegende, von Shalini Randeria geprägte Konzept der Entangled Histories of Uneven Modernities, 2002). Hervorzuheben ist dabei, dass intersektionale Analysen sich keineswegs ausschließlich auf unterdrückte, marginalisierte oder ausgeschlossene Erfahrungen, Identitäten und Positionen bzw. Positionierungen beziehen. Im Gegenteil: insbesondere für die Berücksichtigung von Mehrfachprivilegierungen und die Relationalität verschiedener privilegierte Positionierungen bieten sich diskursive Anknüpfungspunkte. Eine intersektionale Perspektivierung ermöglicht einen entsprechenden Blickwechsel hin zu den Orten der Hegemonieproduktion, wie sie die Critical Whiteness Studies fordern (vgl. Eggers u. a. 2005, Husmann-Kastein/Hrzán/ Dietze 2006). Dietze (2006, 219) hat dieses Konzept für spezifisch deutsche Kontexte in Form eines „kritischen Okzidentalismus“ weitergedacht, besonders in Bezug auf die Mobilisierung von islamfeindlichen Gender-Diskursen für die Herstellung ‚deutscher‘ Überlegenheitsvorstellungen. Ein anderes Beispiel für einen hegemoniekritischen Ansatz wäre das Konzept der hegemonialen Männlichkeit (Connell 1999), der nicht-hegemoniale (nicht-weiße, nicht-heterosexuelle, nicht-westliche etc.) Männlichkeiten untergeordnet sind. Diese verschiedenen hegemoniekritischen Ansätze können verknüpft werden, um zu analysieren, wie Diskurse in ihrer Vielschichtigkeit und Verschränkung an der Herstellung von Privilegien beteiligt sind.
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4 Ausblick Die Diskussionen innerhalb intersektionaler Theoriebildung zeigen, dass Intersektionalität als Basiskonzept der Diskursanalyse grundsätzliche Fragen nach den Relationierungen der Kategorien Diskurs, Wissen und Macht aufwerfen: Diskurse lassen sich im Hinblick darauf erfassen, wie sie Wissen(sordnungen) und Machtverhältnisse reproduzieren und konstituieren; Wissen wird in den Dimensionen seiner diskursiven und sprachlichen Verfasstheit und in seiner von Macht durchzogenen Komplexität begriffen; nicht zuletzt kann Macht als unhintergehbare Bedingung für die Ordnung von Wissen und Diskursen analysiert werden. Auf die Analyseebene bezogen zielt dies nicht zuletzt auf die Frage danach, wer mit welchem Effekt jeweils Diskurse analysiert: Wie nimmt Diskursanalyse auf komplexe Weise Positionszuweisungen vor und wie werden dadurch Diskurse, die auf machtvolle Weise durch Sprachgebrauch strukturiert sind, analysiert? Der Beitrag hat für Intersektionalität als eine Perspektivierung und Reflexion von Diskursanalyse plädiert. Eine solche Sensibilisierung ermöglicht eine Fokussierung auf historische Dimensionen von Dominanzverhältnissen, wie sie sich in Diskursen artikulieren. Dies umfasst die Reflexion und kritische Hinterfragung von Wissensarchiven. Wie sich Vermachtung in Diskursen äußert, zeigt bspw. die Debatte um rassistisches Sprechen in Kinderbüchern. Der Ansatz kann auch dafür sensibilisieren – und dies sei hier abschließend beispielhaft genannt –, verschiedene Ebenen von Sprache zusammen zu denken: so wäre rassistisches Sprechen nicht alleine auf der Ebene von Lexik (Wörtern), sondern auch und zugleich im Sprachgebrauch und auf anderen Textebenen, z. B. Textsorten (Kinderbücher als Genres, die Wahrnehmung und Wissen strukturieren) zu analysieren. Eine intersektionale Perspektivierung der Analyse von Sprachgebrauch verweist auch auf die gegenseitige Bedingtheit von Lexik, Pragmatik und Diskursen und nichtsprachlichen Dimensionen von gewaltvollen Dispositiven. Eine dogmatische Proliferation von Analysekategorien kann zu Willkür, Unschärfe, Relativierung bis hin zu Zynismus führen. Wir schlagen deshalb vor, die jeweils relevanten Analysekategorien (und/oder -ebenen) nicht statisch und a priori, sondern aus dem konkreten Material heraus zu entwickeln (ähnlich wie dies der Ansatz der Grounded Theory nahelegt). Intersektionalität fungiert somit weniger als Forschungsdesign, Theorie oder Methode, denn als Paradigma zu Perspektivierung und Sensibilisierung für die Interdependenzen von Dominanzverhältnissen, wie sie sich in Untersuchungsgegenständen artikulieren. Eine intersektionale Linse schärft den Blick für ein Verständnis von Wissen als situiert, kontextabhängig und positionsspezifisch. Auf diese Blicköffnung lassen sich entsprechende Analysen aufbauen: der jeweilige Untersuchungsgegenstand macht eine entsprechende Öffnung gegenüber dem Material erforderlich. Die Herausforderung einer intersektionalen Rahmung liegt dabei darin, eine a priori-Einengung oder vorherige Festlegung von Kategorien zu vermeiden. Da eine Einengung eine Analyse jedoch erst
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möglich machen kann – und häufig auch notwendig ist –, sollte sie anhand des konkreten Untersuchungsgegenstandes in Hinblick auf das jeweilige Erkenntnisinteresse erfolgen. Eine intersektionale Diskursanalyse reflektiert, warum welche Auswahl von Analysekategorien in konkreten Untersuchungskontexten getroffen wird. Dies geschieht in dem kritischen Bewusstsein, dass in den meisten Kontexten vielschichtige, sich simultan artikulierende Kategorien wirkmächtig sind.
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II Methodische Anker der Diskurslinguistik
Martin Reisigl
8. Diskurslinguistik und Kritik Abstract: In der sprachwissenschaftlich fundierten Diskursforschung lassen sich konträre Perspektiven auf das Verhältnis von Diskurs(linguistik) und Kritik ausmachen. Sie werden im vorliegenden Artikel behandelt. Nach einer kurzen Einleitung wird in Abschnitt 2 die Etymologie des Kritikbegriffs rekonstruiert, um darauf aufbauend eine grundlegende Reflexion der Konturen des Kritikbegriffs vorzunehmen. Kritik wird als vieldeutige Bezeichnung für die Prüfung und Bewertung von Personen, Objekten, Handlungen und Gesellschaftssystemen auf Normen und Ziele hin bestimmt. Sie beinhaltet bis zu fünf Teilprozesse: Unterscheiden 1 (Feststellen von Unterschieden zwischen Elementen des Untersuchungsgegenstands), Unterscheiden 2 (Feststellen von Unterschieden zwischen Sein und Nicht-Sein, Sein und Wollen, Sein und Sollen sowie Sein und Können), Bewerten, Begründen der Bewertung und Anleiten zum Handeln. Es wird aufgezeigt, dass Kritik bis zu fünf elementare Vertextungs- und Diskursivierungsmuster einbezieht. In Abschnitt 3 werden normative Grundlagen der linguistischen Diskursanalyse besprochen. Dabei wird der normative Hintergrund von Beschreibungen und Erklärungen skizziert. In Abschnitt 4 wird die Idee einer deskriptiven Diskurskritik diskutiert. Sie enthält sich des politischen Engagements und will keine Normen setzen, sondern sich primär auf Unterscheiden 1 beschränken, also das Aufzeigen wahrnehmbarer Unterschiede. In Abschnitt 5 werden die Kritikbegriffe der sieben prominentesten Zugänge zu einer Kritischen Diskursforschung thematisiert. Im Konkreten werden folgende Konzeptionen von Kritik angesprochen: positive versus negative Kritik, Machtkritik, Ideologiekritik, erklärende versus normative Kritik, Sprachkritik, Standpunktkritik, Kritik als Haltung, tolerante Kritik, Kritik als Spiel, text- und diskursimmanente, sozio-diagnostische, prospektive und retrospektive Kritik, feministische Kritik. Abgerundet wird der Beitrag in Abschnitt 5 mit einem Fazit und Ausblick. Dabei werden sieben Diskussionspunkte benannt. Sie wären wissenschaftstheoretisch und selbstkritisch zu bearbeiten, um einen konstruktiven Dialog zwischen deskriptiver und kritischer Diskurslinguistik zu fördern.
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Einleitung Zur Etymologie und den Grundkonturen des Kritikbegriffs Der normative Hintergrund der Diskurslinguistik Zur Konzeption einer impliziten deskriptiven Sprachkritik Kritische Diskursanalyse Fazit Literatur
https://doi.org/10.1515/9783110296075-008
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1 Einleitung Diskurs und Kritik hängen auf vielfältige Weise zusammen. Gleichwohl ist die Verbindung von Diskurslinguistik und Kritik nicht für alle sprachwissenschaftlich orientierten Diskursforscherinnen und Diskursforscher selbstverständlich. Wer für eine deskriptiven Diskurslinguistik eintritt, geht von einem tendenziellen Gegensatz zwischen beidem aus. Thomas Niehr legt in seiner Einführung in die linguistische Diskursanalyse etwa nahe, dass sich „linguistische Diskursanalyse“ und „Kritische Diskursanalyse“ wechselseitig ausschließen (Niehr 2014a, 51–64) und dass eine Diskursanalyse, die an sprachlich oder anderweitig semiotisch konstitutierten politischen Verhältnissen explizit Kritik übe, mit Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens in Konflikt gerate. Aus einer derartigen Warte scheint Kritik in der Diskurslinguistik bestenfalls als „implizite Sprachkritik“ (Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 56) oder „deskriptive“ Kritik angebracht zu sein (Wengeler 2011, 40), so die Wissenschaftlichkeit der Diskursanalyse nicht in Mitleidenschaft gezogen werden soll. Demgegenüber betonen Kritische Diskursforscherinnen und Diskursforscher manchmal, dass gute Wissenschaft durchgehend kritische Wissenschaft sei, dass Kritische Diskursanalyse auch nach Wissenschaftlichkeit zu streben habe und dass Kritische Diskursanalyse ebenfalls als linguistisch fundiertes Unterfangen betrieben werde, in vielen Fällen also auch Diskurslinguistik und nicht lediglich Gesellschaftskritik sei. Daher sei die begriffliche Gegenüberstellung von Diskurslinguistik und Kritischer Diskursanalyse nicht zu halten. Sie mute aus einer kritischen politolinguistischen Perspektive, die ich selbst auch einnehme, wie eine wissenschaftspolitisch motivierte strategische Namenspolitik an, die den Begriff Diskurslinguistik einseitig besetzt und sich solcherart in einen performativen Selbstwiderspruch zu den eigenen Ansprüchen einer (weitgehenden) wissenschaftlichen Neutralität begibt. Mithin haben wir es im Bereich der Diskurslinguistik mit konträren Perspektiven auf das Verhältnis von Diskurs(linguistik) und Kritik zu tun. Sie gilt es im vorliegenden Beitrag zu durchleuchten. Dies soll vor dem Hintergrund einer einleitenden Rekonstruktion der Etymologie des Begriffs der Kritik und einer grundlegenden Reflexion der Konturen des Kritikbegriffs geschehen (Abschnitt 2). Zweitens werden normative Grundlagen einer linguistischen Diskursanalyse und Diskurskritik grundsätzlich aufgezeigt (Abschnitt 3). Im Anschluss daran sollen die Möglichkeiten einer deskriptiven Diskurskritik ausgelotet werden (Abschnitt 4). Viertens werden die Kritikbegriffe der Kritischen Diskursforschung vor- und zur Diskussion gestellt (Abschnitt 5), ehe am Ende des Beitrags ein Fazit mit einem Ausblick gezogen wird (Abschnitt 6).
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2 Zur Etymologie und den Grundkonturen des Kritikbegriffs Kritik ist eine vieldeutige Bezeichnung für die Prüfung und Bewertung von Personen, Objekten, Taten (einschließlich sprachlicher Handlungen) und Gesellschaftssystemen auf Normen und Ziele hin. Kritik stellt sich in den Dienst von Wahrheitssuche, Moral, Textexegese, Selbstreflexion, Aufklärung, Emanzipation, sozialer Veränderung, ökologischer Bewahrung, ästhetischer Orientierung und vielem mehr. Etymologisch leitet sich das Wort Kritik vom altgriechischen Adjektiv kritikós in der Bedeutung von „zur entscheidenden Beurteilung gehörig“, „entscheidend“, „kritisch“ her, welches seinerseits auf das altgriechische Verb krīnein zurückgeht, das „scheiden“, „trennen“, „auswählen“, „entscheiden“, „urteilen“, „anklagen“ und „streiten“ bedeutet (vgl. Röttgers 1982, 651; Duden 1989, 389; Kluge 2002, 540– 541). Der Ausdruck wurde zuerst vermutlich primär in juristischen Zusammenhängen und in der Medizin verwendet. In der Medizin wurde er terminologisch gebraucht, um die „kritischen Tage“ zu bezeichnen, „in denen eine Krankheit zu ihrem entscheidenden Punkt, der Krise, gelangt“ (Höffe 2012, 28; siehe auch von Bormann 1976, 1249). Im Bereich des Rechtswesens war der Begriff gebräuchlich, um das kenntnisreiche, sachliche Urteil über den Wert einer Sache zu bezeichnen (Röttgers 1982, 652; Höffe 2012, 28). Platon verwendet das Verb krīnein bereits für das erkenntnisbezogene Unterscheiden von Wahrem und Falschem. Bei Aristoteles wird die Semantik des Ausdrucks auf den politisch-rechtlichen Bereich in einem umfassenderen Sinne ausgeweitet. In der aristotelischen Rhetorik erlangte das Anthroponym krites drei unterschiedliche Bedeutungen. Die Personenbezeichnung bezog sich gleichermaßen auf die richtende Instanz im forensischen Prozess, die entscheidende Person in der deliberativen politischen Beratung und die (geschmacklich-ästhetisch) urteilende Person im Rahmen der rhetorischen Darbietung epideiktischer Reden (Kopperschmidt 1995, 92–93). Insofern verband sich der Terminus mit allen drei klassischen rhetorischen Redegattungen. In der stoischen Philosophie traten die politisch-rechtlichen Bedeutungen des Terminus in den Hintergrund und fand der Terminus vorwiegend in den Bereichen der Rhetorik und Philologie Verwendung, wo kritikós teilweise gleichbedeutend mit grammatikós und philologos wurde. Mit der Zeit kam es zu einer Bedeutungsverengung, die dazu führte, dass sich das quasisynonyme Verhältnis zwischen kritikós und grammatikós auflöste. Für den Bereich der Grammatik setzte sich der lateinische Terminus grammaticus als alleinige Bezeichnung durch. Kritiker (sic!) wurden gegenüber bloßen Grammatikern (sic!) dahingehend aufgewertet, dass behauptet wurde, sie seien zu feineren Differenzierungen von Formen und Inhalten befähigt, etwa auch dazu, allegorische Textauslegungen durchzuführen und aus den zu interpretierenden Texten auch theologische bzw. religiöse und sittliche Lehren zu ziehen, während Grammatiker (sic!) primär mit dem Bezeichnenden befasst seien (von Bormann 1976, 1252–1253). Demnach wäre der kritische Zugang ganzheitlicher
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und der grammatische partikularistischer. Von dieser frühen Begriffsdifferenzierung – die in den nachfolgenden Jahrhunderten allerdings nicht immer durchgehalten wurde (siehe von Bormann 1976, 1254) – lässt sich cum grano salis eine Parallele zu der bis zur Gegenwart reichenden Unterscheidung zwischen deskriptiver und kritischer Diskursanalyse ziehen. Erstere ist ihrem Selbstverständnis nach partikularistischer, Letztere ist tendenziell ganzheitlicher orientiert. Im 15. und 16. Jahrhundert hatte der Terminus in der Philologie, Logik und Ästhetik seine je eigene Bedeutung (Röttgers 1982, 653–654). Im philologischen Bereich bezeichnete er die methodisch angeleitete exegetische Beurteilung alter, zumeist antiker Schriften mit Blick auf die Rekonstruktion der voraussichtlich eigentlichen, ursprünglichen Formen und Lesarten dieser Texte. In der Logik war Kritik die Lehre von der Praxis der logischen Analyse, bezeichnete der Ausdruck also eine Art Metalogik und insofern eine Methodologie. In diesem Zusammenhang wurden die aristotelischen Lehren von der Kunst der Schlüsse und Beweise als Analytiken bezeichnet, wobei Analytik manchmal synonym zu Kritik verwendet wurde. Dies war auch bei Petrus Ramus der Fall, der die Kritik zudem als Teilbereich der Dialektik ansah und der Topik gegenüberstellte (von Bormann 1976, 1255– 1256). In der Ästhetik kam der Kritik die Bedeutung zu, über den selektiven Vergleich von griechischen und römischen Klassikern (sic!) der Literatur zu ästhetischen Werturteilen zu gelangen, welche die Imitations(un)würdigkeit der ausgewählten Autoren (sic!) zum Gegenstand haben. Im 17. und 18. Jahrhundert konsolidierte sich die terminologische Verwendung des Ausdrucks in diesen drei Disziplinen, wobei das Wort allmählich eine Bedeutungserweiterung erfuhr. Kritik meinte nun zuweilen allgemein die wissenschaftliche Methode der Wahrheitsfindung durch die urteilende Unterscheidung von Wahrem und Falschem, die kritische logisch-dialektische Zerlegung gegebener Gedanken und die Lehre von den Urteilen oder die Kunst des Urteilens (von Bormann 1976, 1259). Im Zuge der semantischen Ausweitung wurde die Kritik bald nicht mehr nur auf die Texte selbst und auf die Lehre der Propädeutik zu den verschiedensten Wissenschaften und Künsten, sondern immer mehr auch auf die in den Texten thematisierte soziale Wirklichkeit bezogen. So entwickelte sich neben der interpretativen Textkritik, neben der Kritik als methodischer und logischer Propädeutik und neben der Kritik als ästhetischer Methode und Methodologie langsam auch eine historische Kritik heraus. Allerdings sollte es, zumal im deutschen Sprachraum, wo das deutsche Wort Kritik erstmals 1718 in einem Text auftauchte (Röttgers 1982, 660), noch einige Zeit dauern, bis der Begriff eine Politisierung als zukunftsweisendes, utopisches Konzept erfuhr. Zunehmend wurde das Konzept der Kritik jedoch mit (bürgerlicher) Öffentlichkeit verbunden, und immer mehr bezog es sich potentiell auf alle Texte, künstlerischen Hervorbringungen und gesellschaftlichen Institutionen (Röttgers 1982, 662). Schon bei Kant, der in seinen drei Kritiken den Terminus vor allem im Sinne einer Propädeutik, einer vorbereitenden Voruntersuchung oder einer Wissenschaft der
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urteilenden Vernunft und ihrer Quellen und Grenzen verwendet hatte (vgl. Kant 1988, 62), hieß es: Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können. (Kant 1988, 13, Anmerkung)
Röttgers (1982, 662), der diese bekannte Stelle aus der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ebenfalls zitiert, legt dar, dass Kant einerseits zwar zur Bedeutungsverallgemeinerung des Terminus beitrug, dass der enorme Einfluss seiner drei Kritiken und seiner moderaten politischen Philosophie andererseits für längere Zeit eine weitgehende politische Enthaltsamkeit zeitigte. Der Terminus der philosophischen Kritik geriet laut Röttgers nachgerade zu einem Antonym von Revolution. Die politische Karriere des Ausdrucks sollte sich allerdings nur verzögern, war aber nicht mehr aufzuhalten. Spätestens mit der französischen Revolution, bei den Linkshegelianern und mit der Herausbildung des Marxismus erlangt das Wort eine stark zukunftsgerichtete politische Bedeutung. Nunmehr geht es um eine Kritik der Wirklichkeit mit dem Ziel einer revolutionären Umsetzung der theoretisch geforderten egalitären, sozialistischen Verhältnisse in die Praxis. Diese Sozial- und Gesellschaftskritik beurteilt den religiösen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen bzw. ideologischen Ist-Zustand vor dem Hintergrund normativer Idealvorstellungen. Sie werden als bessere und daher wünschenswerte Alternativen zu der als ungenügend wahrgenommenen und dargestellten Gegenwart präsentiert. Ein solch politisch motivierter Kritikbegriff wird ab dem 19. Jahrhundert und bis heute oft in Anschlag gebracht. Allerdings kommt der Begriff der Kritik im 20. und 21. Jahrhundert immer öfter auch inflationär zum Einsatz. Es besteht durchaus die Gefahr einer inhaltlichen Bagatellisierung und politischen Depotenzierung des Begriffs – das gibt schon Röttgers (1982, 675) zu bedenken. Im 20. Jahrhundert wird unter Kritik im landläufigen Sinn mehreres verstanden, wobei die einzelnen Bedeutungen des Ausdrucks sich überschneiden (vgl. Duden 2001, 966): 1. Erstens bezeichnet das Wort allgemein die sachlich prüfende, auf rationaler Argumentation und nachvollziehbarer Evidenz oder Beweisführung beruhende Beurteilung einer Sache oder Person sowie die Formulierung des Urteils in entsprechenden Worten. 2. Zweitens bezeichnet der Ausdruck die Kundgabe der negativen Einschätzung einer Sache oder Person in tadelnden Worten, das heißt die Kundgabe dessen, dass jemand mit jemandem oder etwas nicht einverstanden ist, weil die betreffende Person oder Sache bestimmten Maßstäben nicht entspricht. In diesem Verständnis ist Kritik mit negativer Bewertung verbunden, die nicht selten als etwas rezipiert wird, das einer Aburteilung, einem Vorwurf, einer Verbalatta-
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cke, einer Polemik, wenn nicht gar einer Beschimpfung oder Diffamierung gleichkommt. Diese Form der Kritik gilt, falls sie überhaupt als Kritik apostrophiert wird, als destruktive Kritik. 3. In einem spezifischen Sinne, dem die erste allgemeine Bedeutung des Wortes zugrunde liegt, meint Kritik die nach mehr oder weniger streng und sorgfältig angelegten künstlerischen, wissenschaftlichen oder anderen Maßstäben erfolgende Beurteilung und Besprechung (etwa in Form einer Rezension) einer künstlerischen oder wissenschaftlichen Arbeit oder Leistung. Dabei steht die Positivität oder Negativität oft erst am Ende der kritischen Untersuchung fest. 4. Eine spezielle und temporäre Bedeutung erlangte das Wort in früheren sozialistischen Staaten wie der ehemaligen DDR, wo mit Kritik eine (öffentliche) kritische oder selbstkritische Stellungnahme bezeichnet wurde, in der Fehler und Versäumnisse, das heißt vor allem überholte Arbeitsmethoden und gesellschaftliche Einrichtungen sowie als „unsozialistisch“ erachtete Lebensweisen, beanstandet wurden, um dadurch angeblich zur Beschleunigung der politischen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung im sozialistischen Staat beizutragen (vgl. Klaus/Buhr 1983, 680). In dieser Verwendung war Kritik negative Beurteilung zum Zwecke einer positiven Veränderung, sollte sie also eine konstruktive Kritik darstellen. Allen Formen von Kritik ist gemeinsam, dass sie Kategorien des Denkens und des (meist sprachlichen) Handelns darstellen, die unter anderem mit normativen Fragen der Wahrheit, ethischen Richtigkeit, Wahrhaftigkeit bzw. Authentizität, Verständlichkeit oder Angemessenheit befasst sind: Kritik ist eine Denkbewegung, die etwas relativ auf eine Norm beurteilt. Diese sehr allgemeine Bestimmung besagt, daß im Vollzug des Kritisierens eine Norm als Kriterium in Anspruch genommen wird, die im Prozeß des Kritisierens selbst je nicht in Frage gestellt werden darf. (von Bormann 1973, 810)
Der Prozess des kritischen Urteilens kann insgesamt bis zu fünf Teilprozesse inkludieren. Sie lassen sich allgemein wie folgt einteilen: 1) Unterscheiden: Das Feststellen von Unterschieden – man erinnere sich hier an die Etymologie des Verbs krīnein (,scheiden‘, ,trennen‘) – beruht zunächst auf dem Zerlegen, Zerteilen, Aufgliedern, Segmentieren des (kategorial) wahrgenommenen Untersuchungsgegenstands. Dieses Unterscheiden (= Unterscheiden 1) setzt eine Beobachtung des Gegebenen voraus. Etwas zu beobachten bedeutet, in einer zergliedernden, vergleichenden und selektierenden Suchbewegung unter anderem Teile oder Details und deren Eigenschaften sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Teilen und ihren Eigenschaften zu erkennen. Die Selektion dessen, was in die Beschreibung einfließt, beruht auf einem Gewichten, das ein Beurteilen nach theoriegeleiteten Kriterien der Relevanz darstellt. Nicht alles, was potentiell am Untersuchungsgegenstand wahr-
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genommen, differenziert und in der Folge beschrieben werden könnte, wird auch tatsächlich in eine konkrete Beschreibung mit aufgenommen. Die Versprachlichung und Visualisierung des sinnlich Beobachteten erfolgt – textlinguistisch betrachtet – mit Hilfe des mehr oder weniger multimodalen Vertextungs- und Diskursivierungsmusters der Deskription. Wo Unterschiede zwischen verglichenen Elementen nicht offensichtlich sind, werden sie erklärt. Wer Unterschiede beobachtet und semiotisch repräsentiert, beschreibt oder erklärt, analysiert. Insofern ist die Analyse (einschließlich der Deskription und Explikation) selbst immer schon ein grundlegendes Moment von Kritik im Sinne des an Relevanzkriterien ausgerichteten Feststellens und Erklärens von Differenzen zwischen verglichenen Elementen. Allerdings bezieht sich die Darlegung von Differenzen durch Kritik zumeist nicht lediglich auf das sinnlich wahrnehmbare Sein oder Nichtsein. Das Unterscheiden kann etwa im Bereich der Textkritik auch als interpretative Explikation von Textstellen realisiert werden, die mehrere Lesarten zu unterscheiden erlauben und deren Bedeutung oder Sinn nicht offensichtlich ist. Das Unterscheiden geht über den Bereich der wahrnehmbaren Wirklichkeit hinaus. Es kann als relationaler Prozess insgesamt auf vier Verhältnisse Bezug nehmen, die neben der Dimension des Wirklichen auch die modalen Dimensionen des Möglichen, Notwendigen oder Gewollten involvieren. Bei diesem Unterscheiden (= Unterscheiden 2) geht es also um a) das Feststellen von Unterschieden zwischen Sein und Nicht-Sein bzw. Gewissem und Ungewissem, also Wahrem und Falschem (epistemische Dimension), b) das Feststellen von Unterschieden zwischen Gegebenem und Gewünschtem, also Sein und Wollen (volitive Dimension), c) das Feststellen von Unterschieden zwischen Sein und Sollen bzw. Müssen (deontische Dimension), d) das Feststellen von Unterschieden zwischen Sein und Können (dispositionelle Dimension). Es ist besonders Unterscheiden 2, das prototypisch mit Kritik in Verbindung gebracht wird. Bewerten: Den durch Unterscheidung (1 und vor allem 2) identifizierten Divergenzen zwischen Sein und Nicht-Sein, Sein und Wollen, Sein und Sollen sowie Sein und Können werden auf der Basis von Normen bestimmte Werte zu- oder abgesprochen. Normen sind handlungsleitende Wenn-Dann-Regeln, die auf Wertsetzungen fußen. Bewertungen stellen normengebundene Gewichtungen dar. Sie werden als positive oder negative Prädikationen umgesetzt. Bewertungen gehen in der Regel über Beschreibungen hinaus, auch wenn Beschreibungen implizite Bewertungen enthalten können, was von positivistisch und deskriptivistisch sozialisierten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen oft nicht erkannt wird. Unter Rückgriff auf die Differenzierung zwischen den oben
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genannten Modalitäten lassen sich vier Arten von Bewertungen unterscheiden. Alle vier können eine (zumindest partielle) Negation oder Zurückweisung des Seins miteinschließen: a) So wird erstens in epistemischer Hinsicht, in der es um Fragen der Wahrheit, also des richtigen Wissens geht, das Gegebene relativ zum Nicht-Gegebenen als wahr oder falsch oder das Gewusste gegenüber dem nicht (sicher) Gewussten als mehr oder weniger gewiss oder ungewiss bewertet. b) Zweitens wird in volitiver Hinsicht, in der es um Gewolltes und Ungewolltes bzw. Fragen des richtigen Wollens geht, das Gegebene gegenüber einer potentiellen Alternative als mehr oder weniger un/erwünscht bewertet oder die nicht gegebene Alternative gegenüber dem Gegebenen als un/erwünschte Option beurteilt. Unter diesen Punkt lassen sich auch die Kategorien der Wahrhaftigkeit bzw. Aufrichtigkeit subsumieren als Angelegenheiten des richtigen Wollens. Wer als wahrhaftig bewertet wird, der oder dem wird (auf)richtiges Wollen zuerkannt. Wer als unwahrhaftig bewertet wird, dem oder der wird kritisch ein unaufrichtiges Wollen, also Unehrlichkeit zugeschrieben. c) Drittens wird in deontischer Hinsicht das Gegebene gegenüber einer potentiellen Alternative als normativ richtig oder falsch bewertet oder umgekehrt. Eines von beiden gilt also entweder als gesollt, gemusst, notwendig oder als nicht gesollt, nicht gemusst, unnötig. Die deontische Dimension kreist um Fragen der normativen Richtigkeit, also Fragen des ethisch oder moralisch richtigen Handelns. Sie bezieht sich auf Pflichten, Zwänge, Handlungsaufforderungen, Erlaubnisse, Gebote und Verbote. Die Lüge bringt gleich alle drei genannten Geltungsansprüche ins Spiel: Sie verstößt gegen den Anspruch der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit und der normativen Richtigkeit. Deontische Bewertungen sind in allen sozialen Handlungsfeldern von Relevanz, einerlei, ob es sich um richtiges Handeln in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion oder anderswo handelt. d) Viertens wird in dispositioneller Hinsicht die potentielle Alternative gegenüber dem Bestehenden als (nicht) möglich und (nicht) machbar beurteilt. 3. Begründen der Bewertung: Kritische Bewertungen sind in vielen menschlichen Lebenszusammenhängen begründungspflichtig, allen voran in der Wissenschaft. Wird etwas als positiv oder negativ bewertet, dann gilt es unter Befolgung der Regel der Begründungspflicht, Gründe für das Urteil anzuführen, also zu argumentieren. Die Begründung für die Bewertung erfolgt unter Bezugnahme auf eine Norm, die mit einem bestimmten Wert operiert. In komplexeren Argumentationen werden Normen oft mit Hilfe übergeordneter Normen begründet. Will Diskurskritik wissenschaftlich sein, bedarf sie einer schlüssigen bzw. plausiblen Begründung mit Hilfe des Vertextungs- und Diskursivierungsmusters der Argumentation. 4. Anleitung zum Handeln (konstruktive instruktive Kritik): Wird eine Differenz zwischen Sein und Sollen/Müssen, Wollen oder Können urteilend aufgezeigt
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und wird der Soll-/Muss-Zustand, der gewollte Zustand oder der als gekonnte Möglichkeit favorisierte Zustand dem Ist-Zustand gegenübergestellt, dann kann sich in praktischer Absicht eine konstruktiv intendierte, instruierende Kritik anschließen. Sie leitet dazu an, wie wir – vermutlich, womöglich, hoffentlich – vom Ist-Zustand zum favorisierten Zustand gelangen können. Das Vertextungsmuster, das hier zum Einsatz kommt, ist die Instruktion bzw. instruktive Explikation. An dieser Zergliederung kritischer Urteile in einzelne Teilprozesse, von denen nicht alle in jedem diskurskritischen Ansatz gleichermaßen relevant gesetzt werden, zeigt sich, dass verschiedene Vertextungs- und Diskursivierungsmuster, Modalitäten und Sprechhandlungen involviert sein können, wenn Kritik im diskursanalytischen Forschungsprozess als Verfahren des auf Vergleich beruhenden Unterscheidens, Bewertens, Begründens und Instruierens geübt wird. Je nachdem, welche pragmatische Funktion erfüllt werden soll, können potentiell alle fünf klassischen Muster der Text- und Diskursformation in kritischer Absicht eingesetzt werden:
Muster 1
Deskription
Funktion Wahrgenommenes (z. B. in Bezug auf verschiedenste Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten) für jemanden ikonisch repräsentieren
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Explikation
einen Sachverhalt (z. B. kausalen Zusammenhang), eine Bedeutung oder eine Funktionsweise für jemanden verständlich machen
3
Argumentation
jemanden von einer strittigen These (die z. B. eine positive oder negative Bewertung enthält) durch eine Begründung überzeugen
4
Narration
für jemanden vergangene Ereignisabfolgen chronologisch wiedergeben (z. B. in Form einer biographischen Narration als Medium der kritischen Selbst- und/oder Fremdreflexion)
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Instruktion
jemanden zu einem bestimmten Handeln (das z. B. eine gewünschte Alternative herbeiführen soll) oder zu einem spezifischen Gebrauch von etwas (z. B. eines Instruments) anleiten
Abb. 1: Fünf elementare Muster der Text- und Diskursformation.
Unterteilt man die Hauptphasen des Forschungsprozesses in Entdeckungszusammenhang, Begründungszusammenhang und Verwertungszusammenhang, so lässt sich idealtypisch konstatieren, dass im Entdeckungszusammenhang primär die
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Deskription, Explikation und Argumentation, im Begründungszusammenhang primär die Argumentation und sekundär auch die Explikation und Deskription und im Verwertungszusammenhang nicht zuletzt auch die Instruktion zum Einsatz kommen. Hinsichtlich der vier genannten Modalitäten sei festgehalten, dass sie – wo Kritik geübt wird – eng miteinander verquickt sein können. Das zeigt beispielsweise die folgende Textpassage aus dem Vortrag Foucaults, der unter dem fragenden Titel Was ist Kritik? veröffentlicht wurde: „Nicht regiert werden wollen“ heißt schließlich auch: nicht als wahr annehmen, was eine Autorität als wahr ansagt, oder jedenfalls nicht etwas als wahr annehmen, weil eine Autorität es als wahr vorschreibt. Es heißt: etwas nur annehmen, wenn man die Gründe es anzunehmen selber für gut befindet. Dieses Mal geht die Kritik vom Problem der Gewißheit gegenüber der Autorität aus. (Foucault 1992 [1978], 14)
Hier spricht Foucault – der Kritik zuvor als die Kunst bestimmt hat, „nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992 [1978], 12) – drei zentrale Elemente der Kritik an, nämlich (a) drei der vier oben unterschiedenen Modalitäten (das heißt, die volitive, epistemische und deontische Modalität: wollen, als wahr annehmen, als wahr vorschreiben), (b) die Negation (die gleich dreifach in Erscheinung tritt) und (c) die Argumentation („die Gründe […] anzunehmen“, die man „selber für gut befindet“). Argumentationstheoretisch gefasst handelt die Passage von der Infragestellung epistemischer und deontischer Autorität und von der Negation eines möglichen Argumentum ad verecundiam, das auf der Ehrfurcht vor dieser Autorität beruht. Über die kritischen Normen bzw. Maßstäbe, auf die sich solche Kunst konkret bezieht, äußert sich Foucault wenig. Aber auch wenn ihre Konturen blass bleiben, so steht doch außer Zweifel, dass jede Form von Kritik zumindest implizit bestimmte Normen oder Maßstäbe ins Spiel bringt. Dies tun selbst poststrukturalistische und deskriptiv ausgerichtete Ansätze, die für sich in Anspruch nehmen, nicht normativ zu sein. Um eben solche Normen oder Maßstäbe von Kritik soll es in den Abschnitten 3 und 4 gehen.
3 Der normative Hintergrund der Diskurslinguistik Aus metasprachlicher Perspektive, die textlinguistisches und pragmatisches Grundwissen mit einbezieht, lernen wir viel über den sprachlichen Charakter der Kritik und über die Normen oder Maßstäbe, auf welche die Versprachlichung von Kritik explizit oder implizit zurückgreift. Eine solche Betrachtung kann dabei helfen, Missverständnisse aus der Welt zu schaffen, die z. B. für Grabenkämpfe zwischen dem deskriptiven und kritischen Lager mitverantwortlich sind. Eine Aufhellung des normativen Hintergrunds der Diskurslinguistik kann etwa dort zur Klärung beitragen, wo deskriptive Zugänge in der Diskurslinguistik außer Acht las-
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sen, dass auch sie normative Setzungen präsupponieren müssen, um ihrem Geschäft der Deskription nachzugehen. So beruhen wissenschaftliche Deskriptionen als perspektiven- bzw. theorieabhängige Beschreibungen von wahrnehmbaren Gegenständen (z. B. Diskursen) und Vorgängen bzw. Handlungen (z. B. diskursiven Praktiken) auf normativen Setzungen wie Sachlichkeit, Informativität, Relevanz, Präzision (Detailliertheit) und Verständlichkeit (Konkretheit, Anschaulichkeit usw.). Wer wissenschaftlich, in unserem Fall diskurslinguistisch, beschreibt, hält sich kritisch prüfend an diese Normen. Insofern ist Deskription selbst schon eine kritische wissenschaftliche Aktivität (Reisigl 2013, 268). Diskurslinguistisches Handeln kann sich allerdings nicht in der Beschreibung des Untersuchungsgegenstands erschöpfen. Beschreibung allein ist nämlich noch keine Wissenschaft. Damit etwas als Wissenschaft gelten kann, bedarf es zusätzlich zur Beschreibung auch der Erklärung und – so die Erklärung strittig wird – der Begründung. Dabei ist die wissenschaftliche Erklärung an Normen wie Verständlichkeit, Klarheit und Plausibilität orientiert und die Begründung an Normen wie Schlüssigkeit, Gültigkeit, Wahrscheinlichkeit, Plausibilität, Klarheit und Sachlichkeit. Wissenschaftliche Instruktionen werden schließlich ebenfalls an Normen der Verständlichkeit und Klarheit ausgerichtet. Diskurslinguistik ist mithin allein schon in ihrer wissenschaftlichen Grundtätigkeit und Sprachlichkeit auf vielfältige Art mit Normativität verbunden – selbst dort, wo sie nur beschreiben will. Über diese normative Grundprägung hinaus gibt es eine Reihe von kritischen Traditionen, die für Diskurslinguistik relevant sind oder sein können. Sie knüpfen z. B. an Literaturkritik, philologische und hermeneutische Kritik, rhetorische Kritik, argumentationstheoretische Kritik, textlinguistische Kritik, philosophische Sprachkritik, politolinguistische Sprachkritik, feministische bzw. gendertheoretische Sprachkritik an (Reisigl/Warnke 2013, 24–25).
4 Zur Konzeption einer impliziten deskriptiven Sprachkritik Nicht lediglich Kritische Diskursanalyse, sondern etwa auch historische Diskurssemantik (z. B. Busse), die Diskurslinguistik in der Tradition der Düsseldorfer Diskursanalyse (Böke, Jung, Niehr, Wengeler) und der Ansatz einer Diskursanalytischen Mehr-Ebenen-Analyse (DIMEAN; Spitzmüller/Warnke 2011) setzen sich mit dem Verhältnis von Diskurs(linguistik) und Kritik und im Besonderen mit Fragen der Sprachkritik auseinander. In diesen Ansätzen wird Sprachkritik zumeist nicht als Teil von Gesellschaftskritik gesehen, explizite Sozialkritik gemieden und eine klare Trennung von Beschreibung und Bewertung gefordert (Warnke/Spitzmüller 2008, 22, 64; Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 53). Wie schon ausgeführt, dürfte die Trennung von Beschreibung und Bewertung nicht leicht einzuhalten sein, stellt
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doch die apperzeptive, das heißt kategorial gesteuerte Selektion dessen, was in eine Beschreibung konkret einfließt, bereits eine implizite Bewertung in Sinne einer von Erkenntnisinteressen und theoretischen Vorannahmen gesteuerten Relevanzsetzung dar. Wenn ich z. B. nicht erkannt habe, dass bei einer primären Interjektion wie mhm der relative Intonationsverlauf (z. B. fallend-steigend, steigend-fallend oder eben) systematisch darüber entscheidet, welche konkrete pragmatische Funktion die Interjektion im Gespräch jeweils erfüllt, werde ich die Intonation in meinem Transkript, das ja als deskriptive Textart zu verstehen ist, nicht erfassen, das heißt, den Intonationsverlauf – irrtümlich – als unwichtig bewerten. Diskurslinguistische Kritik soll aus der Sicht einer sich in die Tradition der „deskriptiven Linguistik“ stellenden Sprachwissenschaft bestenfalls als implizite Sprachkritik realisiert werden (Kilian/Niehr/Schiewe 2011, 49–50). Sie ist dazu angehalten, nicht auf „einen außersprachlichen Maßstab wie ,politisches Engagement‘“ zu bauen „oder von einem bestimmten politischen Standpunkt aus ,Gesellschaftskritik‘ betreiben zu wollen“ (Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 55; siehe dazu auch Niehr 2015, 146–147). Im Grunde haben wir es bei diesem „deskriptiv“ eingehegten Verständnis von Sprach- oder Diskurskritik primär mit einer Kritik zu tun, die sich nur auf den kritischen Teilprozess von Unterscheiden 1 beziehen möchte. Unterscheiden 2 soll bei dieser Form von Sprachkritik keine oder höchstens eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Diese Art von „deskriptiver Kritik“ beschränkt sich z. B. darauf, mit Blick auf einen bestimmten Teildiskurs über Anglizismen zu beschreiben, welch unterschiedlicher Umgang mit Anglizismen in einer Gesellschaft gepflegt wird und welche konkurrierenden Einstellungen gegenüber Anglizismen (und das heißt auch Bewertungen) in unterschiedlichen sozialen Gruppen dieser Gesellschaft artikuliert und kritisiert werden. Das kontrastive Beschreiben der unterschiedlichen Auffassungen und Umgangsweisen sei insofern kritisch, als es die in Diskursen vorgebrachte Sprachkritik direkt aufzeige und damit das in Diskursen vorhandene sprachkritische Potenzial bewusst mache (Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 55–56). Ziel dieser vergleichenden Diskurslinguistik im Sinne einer „impliziten Sprachkritik“ ist das Bewusst-Machen von Unterschieden, also letztlich die Vermittlung von Wissen über Differenzen (etwa in thematisch gleichen Diskursen in einem bestimmten Staat, in einer bestimmten Einzelsprache und in unterschiedlichen Sprachen oder Staaten). Die durch Vergleich aufgezeigten Unterschiede können in einem Sein versus Nicht-Sein (= Fehlen) oder einem Sein versus Anders-Sein (z. B. qualitative, quantitative, modale Differenz) bestehen. Konkrete diskurslinguistische Analysen, die sich in diese sprachkritische Tradition stellen, fokussieren vor allem politische Lexik (kontroverse Begriffe), Metaphern, inhaltliche Argumentationsmuster und metasprachliche Äußerungen (als Indikatoren für Normenkonflikte). Derartige sprachkritische Ansätze können ihren deskriptiven Anspruch meines Erachtens nicht strikt durchhalten, aus mehreren Gründen:
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Erstens verlassen sie das Territorium der Beschreibung, wenn sie sprachliche Phänomene auch erklären wollen. Das zeigt sich etwa dort, wo Thomas Niehr den Begriff der Politolinguistik wie folgt umreißt: „Die Politolinguistik versteht sich als Teil der deskriptiven Linguistik, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, sprachliche Phänomene zu beschreiben und zu erklären, ohne sie jedoch einer Wertung zu unterziehen“ (Niehr 2014b, 18). In dem Moment, in dem ein erklärender Anspruch erhoben wird, geht es nicht mehr nur um Beschreibung, sondern um Explikation. Darüber hinaus ist in den Prozess der Analyse oft auch Argumentation involviert. So kann z. B. die analytische Extraktion inhaltsbezogener Topoi aus einem großen printmedialen Textkorpus (vgl. Wengeler 2003) nicht ohne begründete Interpretationsprozesse erfolgen, ist also die diskursanalytische Tätigkeit der Argumentationsanalyse selbst auch argumentativ angeleitet – zumindest implizit. Zweitens kann es eine lediglich beschreibende Wissenschaft (und damit auch Diskurslinguistik) per se gar nicht geben, weil Wissenschaft immer zumindest auf Beschreibung, Erklärung und Begründung angewiesen ist. Drittens schleicht sich über den in den letzten Jahren immer prononcierteren Bezug auf das Kriterium der (funktionalen) Angemessenheit (Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 62–66) auch die deontische Dimension ein, die mit jeder Form von Sprachkritik verbunden ist, auch wenn jene Form von Sprachkritik, wie sie Kilian, Niehr und Schiewe konzipieren, nichts Spezifisches vorschreiben will: Eine solche Sprachkritik greift nicht durch Vorschriften in das Sprachverhalten der Menschen ein, wohl aber liefert sie wertende Orientierungen, die das Ziel haben, Kommunikation im Sinne ,gelingender Kommunikation‘ zu befördern. Ein angemessener Sprachgebrauch setzt also Sprecher und Sprecherinnen voraus, die die Relevanz und Gewichtung bestehender Normen abwägen können und diese Normen gemäß der Kommunikationsabsicht zum Zwecke gelingender Kommunikation im jeweiligen Text realisiert (sic!) oder aber gegebenenfalls auch abwandeln oder gar verletzen. (Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 66)
Im Zitat kommt zum Vorschein, dass letztlich auch diese Form von Sprachkritik nicht ohne deontische Setzungen auskommt. Kontrastive Sprachkritik liefert funktionsabhängig wertende Orientierungen, die ,gelingende Kommunikation‘ zum Ziel haben. Es geht dieser Sprachkritik um eine abgeschwächte, gewissermaßen ,höfliche‘, auf dem Komparativ beruhende Deontik, die nicht mit den starken Modaloperatoren des Müssens und Sollens und nicht mit direkten direktiven Sprechhandlungen oder Instruktionen arbeitet (es sei denn, es würde sich zeigen, dass eine Sprachkultur insgesamt in Gefahr sei, so Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 66). Doch auch diese schwächere Deontik bleibt noch immer eine Deontik. Die direktive Qualität der diskurslinguistischen Aussagen wird in Assertionen gepackt, welche die Angemessenheit oder Unangemessenheit eines bestimmten sprachlichen Handelns konjunktivisch, komparativisch skalierend und konditional konstatieren (etwa im Sinne von: „Wenn Sie in dieser Situation sprachlich angemessener handeln möchten, wäre es besser, wenn Sie so und so formulieren würden“). Es wird den Leserinnen und Lesern überlassen, ob sie aus den diskurslinguistischen Analysen direkti-
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ve Illokutionen herauslesen möchten oder nicht. Diese Form von Sprachkritik will keine Normen setzen, sondern die kontextabhängige Vielfalt und Relativität von konkurrierenden Normen reflektieren sowie bewusst machen und auf diese Weise Orientierungen geben (Kilian/Niehr/Schiewe 2016, 67). Sie will nicht mit einer absoluten Wertedichotomie von ,richtig‘ oder ,falsch‘ operieren, sondern mit einem skalierenden Kontinuum zwischen ,angemessen‘ und ,unangemessen‘. Die auf die Frage der (funktionalen) Angemessenheit bezogenen Bewertungsmaßstäbe und die darauf aufgebauten orientierenden Bewertungen sollen expliziert und begründet werden. Mit dieser Forderung nähert sich die kontrastive Sprachkritik in den letzten Jahren meines Erachtens ein ganzes Stück weit der Kritischen Diskursforschung an, allerdings gibt es durchaus auch noch vehemente Abgrenzungen gegenüber der Kritischen Diskursanalyse (siehe z. B. Niehr 2014a; Niehr 2014b; Niehr 2015).
5 Kritische Diskursanalyse Im Gegensatz zur so genannten kontrastiven und impliziten Sprachkritik legt die so genannte Kritische Diskursanalyse oder Kritische Diskursforschung explizit Wert auf alle oben unterschiedenen Teilprozesse von Kritik, also auf Unterscheiden 1 ebenso wie Unterscheiden 2, auf den Akt des Bewertens, auf die Begründung der Bewertung und auf die Instruktion. Ab Mitte der 1980er Jahre hat sich diese zumeist ebenfalls linguistisch fundierte Diskursforschung als ein Gebiet herausgebildet, das mittlerweile einen zentralen Bereich der Diskursforschung ausmacht – vornehmlich im anglophonen Raum, aber auch in deutschsprachigen Ländern. Mit dem Epitheton kritisch soll programmatisch zum Ausdruck gebracht sein, dass eine gesellschaftskritische Diskursforschung intendiert ist, die sich wissensbezogen mit theoretischen und praktisch mit lebensweltlich-sozialen Problemen auseinandersetzt, welche eine sprachliche bzw. semiotische Dimension beinhalten. Kritischer Diskursforschung geht es um die Aufdeckung von und Sensibilisierung für machtbezogene, manipulative oder diskriminierende Zusammenhänge zwischen Diskurs und Gesellschaft, um die Verbesserung problematischer Kommunikationsverhältnisse in institutionellen Handlungsfeldern wie der Politik, Justiz, Medizin und den Medien, um eine Förderung der Emanzipation benachteiligter sozialer Gruppen und um die Sensibilisierung für einen bedenklichen diskursiven Umgang mit der Vergangenheit oder der Umwelt. Kritische Diskursforscherinnen und Diskursforscher nehmen einen gemäßigt konstruktivistischen bis kritisch realistischen Standpunkt ein, wenn sie die wirklichkeitsprägende Kraft von Diskursen untersuchen. Sie nehmen einen deontischen, normativen Standpunkt ein, von dem aus ein diskursives Phänomen oder eine diskursive Praxis daraufhin beurteilt und bewertet wird, wie es oder sie in puncto Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit nicht sein bzw. sein sollte.
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Die Kritische Diskursforschung gliedert sich in mehrere Spielarten, ist in sich also kein völlig homogenes Projekt: 1. Norman Faircloughs und mittlerweile auch Isbela Faircloughs Ansatz ist stark sozialwissenschaftlich und argumentationstheoretisch ausgerichtet und orientiert sich an der Systemisch-Funktionalen Linguistik (Fairclough 1995/2010; Fairclough 2003; Fairclough/Fairclough 2012; Fairlough 2017). 2. Teun van Dijks Ansatz legt Wert auf das Studium der sozio-kognitiven Dimension von Diskursen (Van Dijk 1991; Van Dijk 1993; Van Dijk 2001; Van Dijk 2009; Van Dijk 2017), und eine jüngere Generation von Kritischen Diskursforschern und Diskursforscherinnen sucht aus soziokognitiver Perspektive Anschluss an neueste Theorien der kognitiven Linguistik (Koller 2005; O’Halloran 2003; Hart/Lukeš, Hg., 2007; Hart/Cap, Hg., 2014; Cap 2017; Hart 2017). 3. Der soziosemiotische Ansatz von Gunther Kress, Theo van Leeuwen, David Machin und anderen verfolgt das Projekt einer multimodalen Kritischen Diskursanalyse und richtet die Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel von Text, Bild, Film, Ton, Musik und weiteren zeichenbasierten Modi (Van Leeuwen 1999; Van Leeuwen 2005; Van Leeuwen 2008; Kress/Van Leeuwen 2007). 4. Der bekannteste Ansatz einer Kritischen Diskursanalyse im deutschen Sprachraum ist der Duisburger Ansatz von Siegfried und Margarete Jäger (S. Jäger 2001; S. Jäger 2012; M. Jäger/S. Jäger 2007) und ihren Mitarbeiterinnen sowie Mitarbeitern am außeruniversitären Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Er greift stark auf Michel Foucaults und Jürgen Links Schriften zurück. 5. Der Oldenburger Ansatz (Klaus Gloy, Franz Januschek und ihre Mitarbeiterinnen sowie Mitarbeiter) weist ein Nahverhältnis zum Duisburger Ansatz auf, ist aber stärker linguistisch (z. B. gesprächs- sowie textlinguistisch) ausgerichtet und sehr rezeptionsorientiert (Januschek 2007; Gloy 1998). 6. Der diskurshistorische Ansatz, der auch als „Wiener“ Ansatz bezeichnet wird (Ruth Wodak, Martin Reisigl, Rudolf De Cillia, Michal Krzyżanowski, Bernhard Forchtner, John Richardson, Florian Menz, Helmut Gruber, Karin Wetschanow, Markus Rheindorf) wird sowohl im deutschen als auch im anglophonen Sprachraum vertreten. Er richtet seine Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf vergangenheitsbezogene Diskurse und die historische Dimension von Diskursen (Wodak u. a. 1990, 1998; Reisigl/Wodak 2001, 2016; Reisigl 2011, 2017). 7. Die Kritische Feministische Diskursanalyse könnte sich als eigene Variante der Kritischen Diskursanalyse konstituieren (Lazar 2005, 2007, 2017), weil feministische und gendertheoretische Anliegen in manchen der traditionelleren Spielarten der Kritischen Diskursanalyse teilweise vernachlässigt werden. In meiner nachfolgenden Synopse vermag ich es nicht, allen Zugängen zur Kritischen Diskursanalyse gleichermaßen gerecht zu werden. Daher bleiben meine Ausführungen selektiv und holzschnittartig.
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5.1 Norman Faircloughs Kritische Diskursanalyse Norman Fairclough setzt sich in seinen Schriften seit Mitte der 1980er Jahre ausführlich mit unterschiedlichen Facetten des Kritikbegriffs auseinander. Sein Verständnis von Kritik ist stark sozialwissenschaftlich und neomarxistisch geprägt. Kritik lenkt ihre Aufmerksamkeit laut Fairclough auf die Frage, was in einer Gesellschaft, Institution oder Organisation „falsch“ sei oder „falsch laufe“ und wie ein entsprechendes „social wrong“ beseitigt oder gemildert werden könne (Fairclough 2010, 7). Kritik, wie er sie versteht, beruht auf Werten wie Gerechtigkeit, Demokratie und Fürsorge und insbesondere der Frage, wie eine „gute“ Gesellschaft aussehen müsse, die menschliches Wohlergehen befördere. Kritik urteilt über das, was ist, was sein könnte und was sein sollte. Ihr Augenmerk richtet sich auf etwaige Diskrepanzen zwischen verlautbartem Anspruch und Wirklichkeit: The crucial point, however, is that critique assesses what exists, what might exist and what should exist on the basis of a coherent set of values. At least to some extent this is a matter of highlighting gaps between what particular societies claim to be (‘fair’, ‘democratic’, ‘caring’ etc.) and what they are: We can distinguish between negative critique, which is analysis of how societies produce and perpetuate social wrongs, and positive critique, which is analysis of how people seek to remedy or mitigate them, and identification of further possibilities for righting or mitigating them. (Fairclough 2010, 7)
Fairclough interessiert sich nicht nur für negative Kritik bestehender Strukturen und Systeme, sondern auch für positive Kritik, die nach Handlungswissen und Strategien, das heißt nach Möglichkeiten der Transformation und Beseitigung von Hindernissen sucht, die dem menschlichen Wohlergehen im Wege stehen (Fairclough 2010, 14). Zu solchen Hindernissen zählt Fairclough den neoliberalen Kapitalismus. In Bezug auf ihn sind für Fairclough Machtkritik und Ideologiekritik ein wichtiges Anliegen. Machtkritik zielt vor allem auf die Infragestellung von diskursiv hervorgebrachter sozialer Ungleichheit, die kapitalistische Ausbeutung ermöglicht. Der Ideologiekritik geht es darum, Ideologien als unangemessene Repräsentationen von Wirklichkeit aufzudecken, die der Etablierung und Aufrechterhaltung kritikwürdiger Machtverhältnisse dienen (Fairclough 2010, 8). Als Methode der Sozialforschung sei Kritik darum bemüht, Interpretationen und Erklärungen zu liefern, welche die Ursachen bzw. Gründe für die Genese von „social wrongs“ ebenso zum Gegenstand haben wie Lösungsvorschläge dazu, wie soziale Missverhältnisse bekämpft werden können und sich Wirklichkeit zum Besseren hin verändern lässt. Generell unterscheidet Fairclough zwischen normativer Kritik und erklärender Kritik. Normative Kritik beruht Fariclough zufolge auf Normen und Werten wie Wahrheit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit. Sie evaluiert soziale Überzeugungen sowie Praktiken als wahr oder falsch (Fairclough/Fairclough 2012, 79) bzw. als nützlich oder schädlich. Dagegen würde erklärende Kritik auf kausale und dialektische Zusammenhänge fokussieren (Fairclough 2017, 14). Diese Gegenüberstellung ist aus
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pragmatischer, textlinguistischer und diskursethischer Perspektive fraglich. Es kann nämlich kein Zweifel daran bestehen, dass so genannte erklärende Kritik auf dem Sprechakttyp der Assertion beruht (Erklärungen sind Behauptungen) und dass mit jeder Assertion ein Geltungsanspruch der Wahrheit verbunden wird (wer erklärt, stellt eine Behauptung auf, die etwas – z. B. einen kausalen Zusammenhang – verständlich machen soll und von deren Wahrheit die erklärende Person in der Regel überzeugt ist). Insofern operieren Erklärungen stets vor dem Hintergrund von Wahrheitsnormen, und damit ist auch erklärende Kritik normativ fundiert. Das Konzept der erklärenden Kritik (explanatory critique) übernimmt Fairclough von Bhaskar (1986), um es weiterzuentwickeln (Fairclough 2010, 226). Erklärende Kritik baut in erkenntnistheoretischer Hinsicht auf einem kritischen Realismus auf (Fairclough 2010, 554). Das methodische Vorgehen der erklärenden Kritik gliedert Fairclough in vier Phasen (Fairclough 2003, 209 f.; Fairclough 2010, 226): 1. Fokussierung eines sozialen Problems („social wrong“) und insbesondere der semiotischen Aspekte dieses Problems (Themenwahl und Konstruktion des Forschungsobjekts durch seine transdisziplinäre Theoretisierung), 2. Identifikation der Hindernisse, welche die Lösung des sozialen Problems erschweren (Analyse der dialektischen Beziehungen zwischen der Semiose und anderen sozialen Elementen, Auswahl von Texten und Analyseperspektiven sowie Analysekategorien, Textanalyse mit Blick auf Interdiskursivität und semiotische Beschaffenheit), 3. Reflexion der Frage, ob die soziale Ordnung das Problem „benötigt“, 4. Identifikation möglicher Wege, um die Hindernisse, die der Lösung des Problems entgegenstehen, zu überwinden (diese Phase ist der positiven Kritik gewidmet). Norman Fairclough (2010, 509) hebt hervor, dass in der Kritischen Diskursanalyse drei Formen von Kritik von Bedeutung seien: ideologische Kritik, rhetorische Kritik und strategische Kritik. Er selbst habe primär mit ideologischer Kritik an der sozialen Ordnung der Nachkriegsära und ihrer diskursiven Reproduktion begonnen, um dann eine Kritik des neoliberalen Diskurses zu betreiben, die vor allem auf Veränderungen von Diskursen, Intertextualitäten, Interdiskursivitäten, Genres und Stilen achte. Seit der Weltwirtschaftskrise ab 2007 sei er zu einer Kritik des deliberativen Diskurses und praktischen Argumentierens übergegangen (Fairclough 2017, 14–15). Ideologische Kritik ist für den britischen Diskursanalytiker jene Form, die am stärksten mit Kritischer Diskursanalyse verbunden sei und bis heute wichtig bleibe. Diese Kritik nimmt die Macht hinter und im Diskurs und vor allem verschiedene Machteffekte von Semiose auf soziale Beziehungen in den Blick (Fairclough 2010, 509). Rhetorischer Kritik gehe es primär um das Aufspüren von Persuasion und Manipulation in Einzeltexten und Einzelgesprächen. Strategische Kritik fokussiere
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auf die Rolle der Semiose in Strategien, die von Gruppen angewandt werden, um eine bestimmte Gesellschaft in eine bestimmte Richtung zu ändern. Diese Kritik nehme vor allem Perioden mit markantem sozialen Wandel in den Blick. Zentrale Konzepte von strategischer Kritik seien unter anderem Emergenz, Hegemonie und Rekontextualisierung (Fairclough 2010, 509). Sprachkritik ist für Norman Fairclough ebenfalls bedeutsam. Sie sieht er eng mit rhetorischer Kritik verbunden. Sprachkritik stelle ein wichtiges Moment von Gesellschaftskritik dar. Dies zeigt Fairclough zusammen mit Phil Graham am Beispiel mehrerer Schriften von Karl Marx auf. Marx sei über sprachkritische Beobachtungen zu sozialkritischen Diagnosen gelangt (Fairclough/Graham 2010, 301–303). Sprachkritik sei vor allem auch für die schulische Spracherziehung von Bedeutung und spiele eine zentrale Rolle für Demokratien, weil eine „critical language awareness“ ein mündiges selbstreflexives Denken fördere (Faiclough 2010, 532).
5.2 Van Dijks soziokognitive kritische Diskursforschung Teun van Dijk war gemeinsam mit Norman Fairclough der erste, der explizit über das Projekt einer sozial relevanten Kritischen Diskursanalyse nachdachte. Bereits 1985 verwendete er den Terminus Critical Discourse Analysis, um eine Differenz gegenüber einer angeblich deskriptiven Diskursanalyse zu markieren: There is another possible extension to relevant discourse analysis: the formulation of criticism and alternatives. Although we here leave the confines of academic control and enter clearly sociopolitical realms, this does not mean that we are powerless. There are many domains about which discourse analysis is able to provide relevant insights: the use of sexist discourse, racist reporting in the news media, the enactment of power in and by the discourses of authorities, the inequalities confirmed by the prevalence of white middle-class discourse styles in multi-ethnic schools, and so on. […] Without a thoroughly founded criticism of those authorities or institutions who are responsible for the inequalities, we are no more than ‘free-floating intellectuals’, paper tigers. (Van Dijk 1985, 6–7)
Problemorientiert und programmatisch steckt er hier schon ein breites Feld von diskursanalytischer Kritik ab: Sexistischer Sprachgebrauch, rassistische Presseberichterstattung, die behördliche Ausübung von Macht durch diskursive Praktiken und die Festigung und Aufrechterhaltung von sozialer Ungleichheit durch die Bevorzugung von Diskursstilen der weißen Mittelklasse in multiethnischen Schulen sind einige der klassischen Forschungsschwerpunkte der Kritischen Diskursanalyse. Van Dijk richtet sich gegen die Figuren der frei flottierenden Intellektuellen und des Papiertigers. Ihm geht es darum, eine fundierte Kritik an diskursiven und sozialen Verhältnissen zu üben und die Verantwortung bestimmter gesellschaftlicher Institutionen für ungerechtfertigte Ungleichheiten aufzuzeigen. Überall dort, wo sich tagtäglich soziale Probleme kommunikativ und interaktiv konstituieren, könne die Diskursanalyse subtile und genaue Einsichten in das komplexe Zusammen-
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spiel gesellschaftlicher Makro- und Mikrostrukturen liefern, die zu Sexismus, Rassismus, Klassendifferenzen und Machtmissbrauch führen. Wer diskursanalytisch erkennt, welch entscheidende Rolle Diskurse bei der ideologischen Formulierung, bei der kommunikativen Reproduktion, in politischen Entscheidungsfindungsprozessen und bei der institutionellen Verwaltung der besagten Probleme spielen, hat ein zentrales Instrument zur Hand, um die problematischen Mechanismen offenzulegen und zu durchkreuzen (van Dijk 1985, 6 f.). Van Dijk befasst sich besonders mit medialen und politischen Diskursen. Er forscht zur Frage, welche Rolle die Presse und gesellschaftliche Eliten in den Niederlanden, in Großbritannien und in Spanien bei der Verbreitung diskriminierender Vorurteile und Stereotype gegenüber ethnischen Minderheiten einnehmen. Die Presseberichterstattung betrachtet er als Spiegel dessen, was herrschende Politiker und Politikerinnen sowie dominante Mehrheiten in einer Gesellschaft über Minderheiten äußern. Im Speziellen fokussiert er auf die Frage, welche sozialen Gruppen Zugang zu den Medien haben und welche nicht, ob Nachrichten eine ,manipulative‘ Qualität aufweisen und wie sozial diskriminierte Minderheiten in der Presseberichterstattung medial repräsentiert werden. Van Dijk kommt zum Befund, dass Angehörige ethnischer Minderheiten in den meisten Zeitungen selten zu Wort kommen und dass ethnische Minderheiten medial vorwiegend negativ repräsentiert werden. Positive Seiten von ethnischer Vielfalt und Migration kommen in der Presse, die der niederländische Diskursforscher im Laufe der Jahrzehnte einer kritischen Diskursanalyse unterzogen hat, selten zur Sprache. Anders als Fairclough favorisiert Van Dijk ein Ideologiekonzept, dass nicht lediglich negativ konnotiert ist. Er betreibt daher keine neomarxistische Ideologiekritik und will die Ideologiestudien der Frankfurter Schule erneuern. Einerseits seien Ideologien zwar durchaus kritisch daraufhin zu analysieren, ob sie ungerechtfertigte Macht- und Dominanzverhältnisse legitimieren sollen. Anderseits würden ideologische Glaubenssysteme aber auch dazu dienen, den Widerstand gegen Machtmissbrauch und Solidarität unter Unterdrückten zu fördern (Van Dijk 1998, 11).
5.3 Soziosemiotische Kritische Diskursanalyse Der auf die Analyse der Multimodalität und Multimedialität von Diskursen spezialisierte soziosemiotische Ansatz setzt sich zwar nicht theoretisch mit dem Kritikbegriff auseinander, er bietet aber eine Reihe von differenzierten Analysekategorien an, die diskurskritische Analysen ermöglichen. Theo van Leeuwen, Gunther Kress, David Machin und andere Soziosemiotikerinnen sowie Soziosemiotiker fokussieren insbesondere auf – die Analyse der „Grammatik des visuellen Designs“ und des multimodalen Zusammenhangs von Text und Bild, z. B. in der Presse, in Schulbüchern und in Werbeanzeigen (Kress/Van Leeuwen 2007; Van Leeuwen 2005),
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die Analyse der sprachlichen Repräsentation von sozialen Akteuren sowie Akteurinnen und Aktionen (Van Leeuwen 2008), die Analyse von diskursiven Legitimationsstrategien (Van Leeuwen 2007), Studien zum semiotischen Zusammenspiel von Text, Bild, Ton, Musik in Filmen (Van Leeuwen 1999; Van Leeuwen 2005) Studien zur Globalisierung von Medientechnologien, Genres, Stilen, Sprachen und Bildbanken (global media discourse; Machin/Van Leeuwen 2007), kritische Betrachtungen zu unterschiedlichen Typen visueller Diskriminierung (Van Leeuwen 2008) und zu Computerspielen, z. B. Kriegsspielen (Van Leeuwen/Machin 2007), und die Untersuchung von Power-Point als multimodalem Medium und semiotischer Ressource, die den semiotischen Handlungsspielraum der Nutzerinnen und Nutzer stark vorprägt (Djonov/Van Leeuwen 2017).
Mit Blick auf soziosemiotische Kritische Diskursanalyse bzw. Kritische Multimodale Analyse erscheinen mir – zusätzlich zu den genuinen Beiträgen zum Studium der visuellen Kommunikation und zu den Text-Bild-Verknüpfungen – zwei Punkte besonders hervorhebenswert: 1. Analytisch fruchtbar sind die Bündel von Analysekategorien, die eine differenzierte Betrachtung der sprachlichen ebenso wie visuellen Repräsentation sozialer Akteure und Akteurinnen sowie Aktionen ermöglichen. Diese Kategorien erlauben es, der Frage der Inklusion und Exklusion von Akteurinnen und Akteuren oder ihrer Handlungen und der stereotypen bzw. diskriminierenden, aber auch der verschleiernden Darstellung von Akteuren und Akteurinnen in Diskursen genau auf den Grund zu gehen. Das entsprechende kritische Forschungsinteresse hat die Soziosemiotik von der Kritischen Linguistik geerbt, die in den 1970er Jahren der Kritischen Diskursforschung vorangegangen war (siehe dazu z. B. Fowler 1996). 2. Großes kritisches und innovatives Potenzial besitzen die auf den ersten Blick ausgefallen anmutenden, tatsächlich aber sehr originellen und alltagsrelevanten Analysen zum semiotischen Handlungspotential von diskursiv manipulierbaren Gegenständen wie z. B. Spielzeug und von technisch-materiellen Handlungsressourcen wie z. B. Computer-Software. Erhellend und ernüchternd sind die kritischen Beobachtungen dazu, wie die vorgefertigten Designparameter von Power Point generische Muster vorprägen und Nutzer sowie Nutzerinnen zumindest tendenziell auf ganz bestimmte Handlungsalternativen festlegen, also keineswegs als ,neutrale‘ technische Medien fungieren, sondern tendenziell zur Homogenisierung von Diskursen und zur Limitierung der Handlungsmöglichkeiten auf ein Set vordefinierter funktionaler Elemente beitragen. Was die soziosemiotischen Analysen so einzigartig und erfrischend macht, das ist der kritische Blick auf die symbolische, indexikalische und ikonische Bedeutung der Materialität von Diskursen. Diese Sicht lässt Selbstverständliches und
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häufig fraglos Vorausgesetztes als kontingentes Moment erscheinen, das nicht selten einer Logik des (neoliberalen) Marktes (Stichwort: marketization of discourse) und der unhinterfragten Reproduktion sozialer Verhältnisse unterworfen ist.
5.4 Duisburger Kritische Diskursanalyse Der von Siegfried und Margarete Jäger sowie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am DISS ausgearbeitete Zugang zur Kritischen Diskursanalyse hat sich seit Ende der 1980er Jahre ständig weiterentwickelt. Dabei wurde der Bezug auf Foucaults Schriften im Laufe der Jahrzehnte immer wichtiger. Generell unterscheidet S. Jäger (1993, 19 und 2001, 25) zwischen einer Kritik, die einfach nur verdeckte Strukturen sichtbar macht, und einer Kritik, die von einem begründeten moralischethischen Standpunkt aus vorgebracht wird, um die sichtbar gemachten Strukturen zu problematisieren. Siegfried Jäger macht keinen Hehl daraus, dass er die zweite „Ebene“ von Kritik für die eigentliche hält. Diese zweite Form der Kritik sehen Margarete und Siegfried Jäger (2007, 37) als politisches Unterfangen an, bei dem es darum gehe, herrschende Diskurse zu hinterfragen und zu dekonstruieren, Vorschläge zur Vermeidung von diskursiv konstituierten Missständen zu machen und Gegendiskurse zu fördern. Margarete und Siegfried Jäger halten ihre Kritik für mehr als nur Sprachkritik. Sie verstehen ihre Version von Kritischer Diskursanalyse als Gesellschaftskritik, die sich vor allem gegen Rassismus (in einem sehr weit gefassten Sinn des Wortes), gegen diskursiv vollzogene Ausgrenzungen verschiedenster Art, gegen ökologische Fehlentwicklungen und gegen die Benachteiligung sozial Schwacher richtet (Jäger/ Jäger 2007, 37). Gewaltfreiheit, Antifundamentalismus und die Ablehnung einer jedweden Herrschaft von Menschen über Menschen gehören zu den Grundfesten dieser Spielart von Kritischer Diskursanalyse (Jäger 2012, 8–9). Der Duisburger Ansatz will Mut machen zu Widerstand gegen Ungerechtigkeiten, Unterdrückung und diskriminierende Blockaden des Zugangs zu Wissen und Macht (Jäger 2012, 9). In zahlreichen Fallstudien hat die Duisburger Gruppe kritisch analysiert, wie bundesdeutsche Printmedien zur Herausbildung und Reproduktion diskriminierender und insbesondere rassistischer Haltungen beitragen. Dabei bleibt ihr Konzept von Rassismus so breit gefasst, dass es Konzepte wie Fremden- und Ausländerfeindlichkeit weitgehend inkludiert. Der Duisburger Ansatz betreibt dahingehend angewandte praktische Kritik, dass er Medienleuten ihre Deutungsmacht anschaulich vor Augen führt und sie für diskriminierenden Sprachgebrauch sensibilisiert, indem er z. B. konkrete Vorschläge zur Vermeidung diskriminierender Berichterstattung über Einwanderer sowie Einwanderinnen und Flüchtlinge publiziert und Schulungen mit Journalistinnen und Journalisten durchführt (Jäger u. a. 1998, DISS 1999). Bisher kein wichtiges Thema scheint für die Duisburger Gruppe die Frage des geschlechtergerechten Sprachgebrauchs zu sein.
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Demokratie, Gerechtigkeit, die Verfassung, das Völkerrecht und die allgemeinen Menschenrechte sind normative Bezugspunkte für die Fundierung ihrer Kritik, allerdings werden auch diese normativen Grundlagen als begründungspflichtig erachtet und so selbst nicht als fraglos vorausgesetzte Basis für Kritik angesehen. Zusätzlich zur Menschenwürde wird als kritische Prüfinstanz die allgemeine menschliche Vernunft betrachtet, die nicht instrumentell verengt ist (Jäger 2001, 225). Immer wieder beruft sich Siegfried Jäger zudem auf ein Bild vom allgemeinen (universellen und autonomen) Menschen, der als solcher zwar nicht existiere, aber als utopischer Fluchtpunkt diene, auf den sich Kritische Diskursanalyse bei der Formulierung ihrer Kritik berufen könne (Jäger 2012, 155). Die Wahrheitsfrage kann für die Duisburger Gruppe weder objektivistisch noch logisch-kausalanalytisch beantwortet werden (Jäger 1993, 223). Die gesellschaftliche Durchsetzung von Wahrheiten ist selbst nämlich den Regeln des Diskurses unterworfen und von Machtverhältnissen sowie Ideologien abhängig. Kritische Diskursanalyse könne zutage fördern, wie und mit welchen Mitteln bestimmte Wahrheiten gesetzt werden und für welche Wahrheiten jeweils bei bestimmten Bevölkerungsgruppen um Akzeptanz geworben werde (Jäger 2001, 223). Sie könne aufzeigen, wie der Raum des Sagbaren durch diskursive Kontrollprozeduren konturiert und begrenzt wird (Jäger/Jäger 2007, 35). Kritische Diskursanalyse könne aber keinen absolut privilegierten objektiven Standpunkt einnehmen. Einen eben solchen würde die Ideologiekritik präsupponieren, weshalb sie von der Duisburger Kritische Diskursanalyse abgelehnt wird. Jäger erteilt sowohl der Idee einer absoluten Wahrheit als auch der Idee eines universellen moralischen Standpunktes eine klare Absage (Jäger 1993, 226) und lehnt die so genannte Standpunktkritik ab, die Norman Fairclough und Teun van Dijk einnehmen würden (Jäger 2001, 224–226). Inwieweit es überhaupt möglich ist, eine Kritik ohne Standpunkt vorzubringen (ich glaube nicht, dass eine solche Kritik überhaupt möglich ist), bleibt in den Texten Siegfried Jägers unklar. Auch die Berufung auf das Bild vom allgemeinen Menschen als Fluchtpunkt für Kritik setzt einen Standpunkt voraus, von dem aus eine Perspektive eingenommen wird. Und auch die Foucaultsche Bestimmung von Kritik als Haltung, die Jäger positiv aufnimmt, ist meines Erachtens nicht wirklich dazu angetan, das Standpunktproblem zu überwinden (Jäger 2001, 225), denn um eine Haltung einnehmen zu können, muss ich – um im Bild zu bleiben – irgendwo stehen, sitzen oder liegen. Möglicherweise relativiert sich das Problem zumindest teilweise, das Jäger und andere poststrukturalistisch geprägte Diskursanalytikerinnen und Diskursanalytiker mit der von ihnen so genannten Standpunktkritik haben, wenn die geometrische Metapher dynamisiert und in der Folge darauf hingewiesen wird, dass Kritiker sowie Kritikerinnen gut daran tun, nicht nur starr auf ein und demselben Standpunkt zu verharren, sondern die Positionen und damit auch Perspektiven zu wechseln und verschiedene Standpunkte einzunehmen, durchaus im Sinne der Übernahme der Rolle anderer („taking the role of the other“, siehe Mead 1988, 194–206).
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Siegfried Jäger legt einen differenzierten methodischen Apparat und Analyseleitfaden für seine Variante der Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse vor (Jäger 2001, 158–214 und Jäger 2012, 76–119). Der Kritikbegriff selbst wird analytisch jedoch nicht näher operationalisiert und normativ fundiert. Der Duisburger Ansatz oszilliert zwischen epistemischem sowie ethischem Relativismus und universalistischen Tendenzen. Dadurch bleibt die normative Basis für das kritische Vorgehen – wie bei vielen poststrukturalistischen Ansätzen – zum Teil unabgesichert. Jäger spricht sich zum einen gegen einen moralischen Rigorismus und für einen moralischen Pluralismus aus, der gesellschafts- und kulturabhängig ist. Insofern sei die Kritik der Kritischen Diskursanalyse gesellschaftsspezifisch und gesellschaftsimmanent (Jäger 1993, 227) und könne es das Ziel der Kritischen Diskursanalyse sein, „Modelle toleranter Kritik“ zu entwickeln (Jäger 1993, 228, Jäger 2012, 157). Andererseits projiziert Jäger als Orientierungspunkt für Kritik das utopische „Bild des allgemeinen (universellen) Menschen, den es allerdings auf dieser Welt nicht gibt“ (Jäger 1993, 228). Die Fragen, wie stark dieses humanistische und tendenziell universalistische Menschenbild, das selbst auch kritisch hinterfragbar sei (Jäger 2012, 156), gegenüber kulturrelativistischen moralischen Partikularismen in Anschlag gebracht werden kann oder soll und wo die Toleranz für partikuläre Moralen an ihre Grenzen stößt, bleiben unbeantwortet. Das Projekt, „Modelle toleranter Kritik“ auszuarbeiten, muss meines Erachtens nicht zwangsläufig in krassem Gegensatz zum Projekt einer ,höflichen‘ impliziten Kritik stehen, wie sie in Abschnitt 4 umrissen wurde. Hier wären mögliche Konvergenzen zu prüfen, auch wenn Siegfried Jägers Interesse, mit seiner Kritischen Diskursanalyse in die politische Praxis selbst zu intervenieren, von Diskurslinguisten wie Kilian, Niehr, Schiewe und Wengeler nicht geteilt wird. Selbstkritik ist eine Form von Kritik, die in den meisten Spielarten der Kritischen Diskursforschung als unerlässlich gilt – zumindest gemäß den entsprechenden programmatischen Lippenbekenntnissen. In diesem Zusammenhang fragt Siegfried Jäger, ob die mittlerweile zum wissenschaftlichen „Mainstream“ gewordene Kritische Diskursanalyse einen Teil ihres kritischen Potenzials eingebüßt habe (Jäger 2008, 9). Diese berechtigte Frage stellt auch Michael Billig (2003), der die Sprache der Kritischen Diskursanalyse selbst und namentlich ihre angebliche Tendenz zu einem Nominalstil einer Kritik unterzieht (Billig 2013). Betrachtet man die Entwicklungen des Forschungsfeldes im letzten Jahrzehnt und überblickt man in diesem Zusammenhang etwa auch die Programme und Inhalte der großen internationalen Tagungen zur Kritischen Diskursforschung, dann stellt sich zuweilen der Eindruck ein, dass der kritische Stachel der Kritischen Diskursforschung aufgrund ihres großen Erfolgs, ihrer Modegängigkeit und ihrer Institutionalisierung zuweilen durchaus ein wenig stumpf geworden ist.
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5.5 Oldenburger Kritische Diskursanalyse Die „Oldenburger Kritische Diskursanalyse“ (Januschek 2007; die geographische Etikettierung ist eine synekdochische Verengung), die federführend von Klaus Gloy, Franz Januschek und ihren jeweiligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgearbeitet wurde, hat sich wie keine andere am Normenbegriff abgearbeitet. Klaus Gloy hat ab den 1970er Jahren zahlreiche systematische, philosophisch und soziologisch fundierte Arbeiten zum Normenbegriff vorgelegt, die für die Frage der normativen Fundierung von Kritik wichtig sind. Als Normen versteht er deontische Sachverhalte bzw. Regeln, die in einem Geltungsbereich relevant sind und auf deren Grundlage oft zwischen ,richtig‘ und ,falsch‘ unterschieden wird. Gloy unterscheidet zwischen Normen im engeren und Normen im weiteren Sinn. Eng gefasst bezieht er den Begriff auf den intentionalen Sachverhalt einer Obligation oder Präskription, die unter anderem auf Fragen des Zweckmäßigen, des Angemessenen und des Legalen antworten. Norm im weiteren Sinn meint einen statistisch-strukturellen Sachverhalt wie z. B. eine Häufung, Distribution oder Regelmäßigkeit, die eine deontische Sinnstruktur zur Grundlage hat oder nahelegt (Gloy 2004, 392). Es sind unter anderem wissenschaftliche Diskurse, Ethik-Diskurse (z. B. Diskurse über Sterbehilfe) und rechtspopulistische Diskurse, die Gloy, Januschek und ihre Kolleginnen und Kollegen im Laufe der Jahrzehnte kritisch in den Blick nehmen. Januschek knüpft an das bei Foucault zu findende Motiv der Fröhlichkeit an (Januschek 2008, 102), um Kritische Diskursanalyse als ein Spiel zu konzipieren. Es ist ihm folglich ein Anliegen, Kritik nicht als verbissenes und negativ bewertendes Urteilen, sondern als etwas Spielerisches zu betrachten, das kreativ und humorvoll vorgeht und das die selbstkritische Einfühlung in verborgene eigene Möglichkeiten mit einschließt, also den Möglichkeitssinn schärft (Januschek 2008, 92). Eine solche avancierte Kritik sieht der Kritische Diskursanalytiker in der Parodie. Januschek richtet sich gegen voreingenommenes Aburteilen, wie es in manchen kritischen Diskursanalysen zu finden ist, in denen vor der Analyse schon festzustehen scheint, wonach empirisch gesucht wird und was das Analyseergebnis sein soll. Zentral für sein Kritikverständnis ist die Bewusst-Machung und spielerische Aufhebung von Selbstverständlichkeiten und die Reflexion des unterschwellig Mitbedeuteten und selbstverständlich Vorausgesetzten, und zwar auch des von den Diskursanalytikerinnen und Diskursanalytikern selbst an theoretischen Begriffen und Methoden Vorausgesetzten (Januschek 2007, 16; Januschek 2008, 90). Letzteres bedeutet, und darin unterscheidet sich die Oldenburger von der Duisburger Diskursanalyse, dass nicht einfach herkömmliche schulgrammatische Kategorien übernommen und analytisch appliziert werden, sondern dass die anzuwendenden Analysekategorien selbst einer Kritik unterzogen und so lange kritisch bearbeitet werden, bis sie gegenstandsadäquat sind. Präsuppositionen, Anspielungen, Phraseologismen, Metaphern und Kollektivsymbole werden als sprachliche Mittel analysiert, die in einer bestimmten Diskursgemeinschaft unhinterfragte Wissensbestände und für selbstverständlich genommene Normen artikulieren.
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Charakteristisch für die Oldenburger Kritische Diskursanalyse ist es, dass das kritische Moment der sprachlichen Alltagspraxis ernst genommen werden soll (siehe z. B. Bredehöft u. a. 1994, 30–31). Nicht zuletzt deshalb ist diesem Ansatz wohl auch daran gelegen, an Gesprächsanalyse anzuschließen. Kritische Alltagspraxen, die Januschek methodisch für Kritik fruchtbar macht, sind die Gegenüberstellung von sprachlich Manifestem und erwartbaren Alternativen, das Aufspüren emergenter Sinnstrukturen über die Beschreibung möglicher Lesarten, das Basteln mit sprachlichen ebenso wie nonverbalen Versatzstücken durch transformatorische Verfahren wie der Substitution, Metathese, Tilgung und Addition und die Synthese ideologischer Textstücke aus verschiedenen Versatzstücken (Januschek 2008, 94). Kritische Diskursanalyse solle versuchen, hermeneutische Verfahren zu entwickeln, die es erlauben würden, immer genauer zwischen den Zeilen zu lesen – ein Motiv, das schon in der von Utz Maas konturierten Lesweisenmethode anklingt. Maas (1984, 18) schlägt vor, auf der Basis der Analyse der sprachlichen Formen und des soziohistorischen Kontexts konkurrierende und widersprüchliche Lesweisen zu erarbeiten und so der Polyphonie von Texten nachzuspüren (vgl. auch Januschek 2008, 98). Die These Januscheks, dass es nicht der Job der Kritischen Diskursanalytikerinnen und Diskursanalytiker sei, Diskurse anhand der vermeintlich außerdiskursiven historischen Wahrheit zu überprüfen (Januschek 2008, 98), bedarf aus der Perspektive des diskurshistorischen Ansatzes einer Kommentierung: Ich teile die Sicht, dass historische Wahrheiten nicht einfach außerdiskursiv gegeben sind und dass es in einer Diskursanalyse nicht einfach nur darum geht, die Verdrehung historischer Wahrheiten aufzuzeigen (Januschek 2008, 102). Gleichwohl muss eine diskurshistorische Analyse dort, wo es in den untersuchten Diskursfragmenten um die Darstellung vergangener Ereignisse und Taten geht, auch die referentielle Sprachfunktion ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, und idealerweise tut sie das, indem im Rahmen von Teamforschung eng mit Historikern und Historikerinnen zusammengearbeitet wird. Eine derartige Teamforschung wurde im Rahmen von Untersuchungen der Wiener Kritischen Diskursanalyse mehrmals unternommen (siehe z. B. Wodak u. a. 1990; Wodak u. a. 1994).
5.6 „Wiener“ bzw. diskurshistorischer Ansatz einer Kritischen Diskursanalyse Der diskurshistorische Ansatz betreibt kritische Studien unter anderem zu diskriminierendem Sprachgebrauch (sei er rassistisch, antisemitisch, fremdenfeindlich oder geschlechterdiskriminierend), zu Sprachbarrieren in institutioneller Kommunikation (z. B. in der Kommunikation zwischen ärztlichem Personal und ihren Patientinnen oder Patienten), zu politischer Kommunikation (z. B. zu nationalistischer oder rechtpopulistischer Rhetorik und diskursiv konstituierter Ausgrenzung in Diskursen über Migration), zu problematischem Umgang mit der Vergangenheit (z. B.
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mit dem Nationalsozialismus) oder zu Diskursen über ökologische Probleme (z. B. zu klimaskeptischen Äußerungen). Das Konzept der Kritik, dem sich der „Wiener“ Ansatz einer Kritischen Diskursanalyse bei der Durchführung derartiger Studien verpflichtet fühlt, schließt zumindest drei miteinander zusammenhängende Dimensionen ein (siehe dazu auch Reisigl/Wodak 2001, 32–35 und Reisigl 2011, 483 ff.): 1. Text- oder diskursimmanenter Kritik ist es darum zu tun, (Selbst)Widersprüche, Inkonsistenzen und Dilemmata in den text- oder diskursinternen, beispielsweise logisch-semantischen, argumentativen, kohäsiven, syntaktischen, performativen, präsuppositionalen, implikativen und interaktionalen Strukturen beschreibend aufzuzeigen, erklärend verständlich zu machen und argumentativ zu begründen. Immanent bedeutet dabei auch, dass thematisch zusammenhängende Texte und Diskursfragmente vorwiegend in ihren lokalen Kontexten und daher auch aus den Binnenperspektiven der am Diskurs Teilnehmenden betrachtet und beurteilt werden. Diese Kritik versucht, die diskursiven Praktiken vor dem Hintergrund der im Diskurs erhobenen Geltungsansprüche und zusätzlicher allgemeiner ,interner‘ Maßstäbe zu beleuchten. Nehmen bestimmte Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer für sich in Anspruch, die Wahrheit zu sagen, wahrhaftig oder normativ richtig zu handeln, verständlich zu sprechen und schlüssig zu argumentieren, dann kann aus der näheren intertextuellen Betrachtung der zum Diskurs gehörigen Diskursfragmente bzw. Texte hervorgehen, dass diese Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer einander widersprechende Geltungsansprüche der Wahrheit, Wahrhaftigkeit und normativen Richtigkeit erheben, dass sie für andere unverständlich sind oder dass sie widersprüchlich argumentieren. Die weiteren allgemeinen ,internen‘ Maßstäbe dieser Kritik sind auf grundsätzlich geltende Kriterien der Textund Diskursproduktion bezogen. Sie sind nicht im strikten, sondern nur im weiteren Sinne immanent, weil der Rekurs auf sie in den hermeneutischen Zirkel eingebunden bleibt und auf einer allgemeinen Diskurskompetenz beruht. Beides setzt bei einem sozialisatorisch erworbenen Vorverständnis und einem mit ihm verbundenen wissenschaftlichen Framing an, das die Nutzung theorieabhängiger Analysekategorien nahelegt. Derart allgemeine Kriterien könnten etwa die in der textlinguistischen Theorie von de Beaugrande und Dressler (1981) herausgearbeiteten Kriterien der Textualität sein, also Kriterien wie Kohäsion, Kohärenz, Informativität, Intentionalität, Akzeptabilität, Situationalität und Intertextualität. Pragmadialektische, auf argumentatives Handeln bezogene Maßstäbe wie die Redefreiheit, Begründungspflicht, die redliche Bezugnahme auf Gesagtes, die Sachlichkeit, die redliche Bezugnahme auf implizite Voraussetzungen, das Respektieren gemeinsamer Ausgangspunkte, die Verwendung plausibler Argumentationsmuster, die logische Gültigkeit, die Akzeptanz der Ergebnisse der Diskussion und die Klarheit des Ausdrucks sowie korrektes Verstehen sind ebenfalls wichtige Prüfsteine für eine immanente Kri-
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tik, auch wenn manche der pragmadialektischen Regeln schon ein erweitertes Kontextverständnis über lokale Kommunikationszusammenhänge hinaus voraussetzen (siehe dazu Reisigl 2014, 81–85). Im Gegensatz zur immanenten Kritik besteht die sozio-diagnostische Kritik in einer differenzierten, den diskursiven Untersuchungsgegenstand gesamtgesellschaftlich einbettenden Zustands-Beurteilung. Diese Kritik ist Krisendiagnose und nicht selten Ideologiekritik. Sie zielt auf die Aufdeckung des häufig verborgenen suggestiven, propagandistischen, ideologischen und manipulativen Charakters diskursiver Praxen. Sozio-diagnostische Kritik ist darauf aus, (ethisch) problematische soziale und politische Ziele und Effekte diskursiver Praktiken aufzuspüren, die für diese Praktiken verantwortlichen sozialen Akteurinnen und Akteure zu identifizieren und über nicht offenkundige widersprüchliche, ideologische oder dem Allgemeinwohl schadende Partikularinteressen der am Diskurs Teilnehmenden aufzuklären. Diese Kritik bemüht sich, auf der Grundlage einer umfassenden kontextuellen (sozialen, historischen, politischen und wirtschaftlichen) Einbettung, beschreibend, erklärend und argumentativ nachzuvollziehen, wie sich Widersprüche als Kompromissbildungen formieren und wie sie z. B. als kalkulierte oder unbewusste Ambivalenzen aus Interessenkonflikten, Mehrfachadressierungen, multiplen Autoren- und Autorinnenschaften oder der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten hervorgehen. Wer eine solche Kritik formulieren will, geht über die rein textuelle oder diskursinterne Sphäre hinaus und verortet sprachliche, textuelle oder interaktionale Strukturen und diskursive Ereignisse in einem gesellschaftlichen bzw. politischen Gesamtzusammenhang. Ein entsprechender Blick zielt auf die ,Entschleierung‘ von Widersprüchen zwischen diskursiven und mit diesen in Zusammenhang stehenden sozialen Praxen, beispielsweise zwischen schönfärberischen politischen Deklarationen oder Sonntagsreden mit der Funktion einer positiven Selbstdarstellung und diskriminierenden administrativen Praxen der Ausschließung, die unter Rechtfertigungsdruck stehen. Letzteres tun sie immer dann, wenn sie mit der Ausübung von Macht, mit der Auferlegung von Pflichten und Lasten oder mit politischen Entscheidungen verbunden sind, die zur Einschränkung individueller Freiheiten führen. Diese Form von Kritik bedeutet, dass sich kritische Analytikerinnen und Analytiker selbst politisch positionieren. Sie integriert als Teilprozesse Unterscheiden 1 und 2, das Bewerten und die Begründung der Bewertung. Zu einer solchen Form von Kritik geht die so genannte implizite bzw. deskriptive Kritik für gewöhnlich ebenso auf Abstand wie zu der unter (3) noch zu nennenden Kritik. Prospektive praktische Kritik ist zukunftsbezogene, ethisch begründete, instruktive Kritik. Sie richtet sich gegen die Gegenwart und erfolgt in der praktischen Absicht, eine gesellschaftliche Transformation herbeizuführen. Über Diskurskritik soll hier zur Verbesserung sozialer Verhältnisse und zur Lösung sozialer Probleme mit einer diskursiven Dimension beigetragen werden. Politisch ist
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diese Form von Kritik im handlungsbezogenen Sinne der Politics, teilweise aber auch im Sinne der Policy (man denke etwa an diskursanalytisch fundierte Leitfäden zu nicht-diskriminierendem Sprachgebrauch). Normative Basis für diese Form von Kritik bilden (a) das Streben nach Gerechtigkeit, (b) die Berufung auf die Menschenrechte und die demokratischen Grundrechte, (c) die Beachtung von Prinzipien der Rationalität (ohne dabei der missverständlichen und letztlich unhaltbaren Opposition von Vernunft und Gefühl das Wort zu reden) und (d) Empathie als Mitgefühl mit den Opfern ungerechter Behandlung und als Vermögen, sich in die Rolle anderer hineinzuversetzen. Diese Kritik wendet sich gegen diskursiv betriebene soziale Diskriminierung, Unterdrückung, Dominanz, Exklusion und Ausbeutung und tritt für Emanzipation, Selbstbestimmung und soziale Anerkennung ein. Seit Jahrzehnten bemüht sich die am Wiener Institut für Sprachwissenschaft ausgearbeitete Kritische Diskursanalyse, diese Art von praktischer Kritik zu betreiben und zur Verbesserung der Kommunikation in öffentlichen Institutionen – unter anderem in Krankenhäusern, in Schulen, vor Gericht, in öffentlichen Ämtern und in Einrichtungen der medialen Vermittlung von Information, Meinung, Unterhaltung und Kulturgütern – beizutragen, etwa durch die Ausarbeitung von Vorschlägen und Richtlinien, die dem Abbau von Sprachbarrieren dienen könnten oder diskriminierenden Sprachgebrauch zu vermeiden helfen. Eine Sonderform von prospektiver praktischer Kritik ist – auch wenn das nicht unmittelbar einleuchten mag – retrospektive Kritik, also Rückschau haltende Kritik (siehe dazu z. B. Wodak u. a. 1990, 1994, 1998, 2009 [1999]; Reisigl/Wodak 2001; Reisigl 2007). Diese Kritik kann sich unter anderem auf ein bestimmtes Geschichtsbild oder auf spezifische Erinnerungsverhältnisse und Gedenkpraktiken in einer Gesellschaft beziehen. Eine solche retrospektive Kritik hat dann die kritische Rekonstruktion der Vergangenheit zum Gegenstand, die immer noch negativ auf die Gegenwart wirkt. Sie kann in einer Kritik am gegenwärtigen Umgang mit der Vergangenheit, das heißt in einer Kritik am kommemorativen Status quo bestehen und praktisch auf eine Revision des aktuellen Geschichtsbildes oder bestehenden ,Narrativs‘ abzielen, um auf diese Weise einen angemesseneren Umgang mit der Vergangenheit zu erreichen.
5.7 Feministische Kritische Diskursanalyse Im Grunde sollten feministische Anliegen für alle Spielarten der Kritischen Diskursanalyse eine zentrale Rolle spielen und sich wie ein roter Faden durch die empirischen kritischen Analysen von Diskursen ziehen, da die humanistischen und emanzipatorischen Grundüberzeugungen des Feminismus und der Kritischen Diskursforschung übereinstimmen und eine Verbindung von beidem daher sehr sinnvoll erscheint. Und in der Tat legen viele Kritische Diskursanalytikerinnen
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und Diskursanalytiker ein allgemeines feministisches Lippenbekenntnis ab. Leider berücksichtigen konkrete empirische Studien den Zusammenhang von Sprache, Macht und Geschlecht dann aber doch nicht in dem Maße, wie es der Feminist Critical Discourse Analysis ein Anliegen ist (Lazar 2005; Lazar 2007; Lazar 2017). Dies hat zum Teil damit zu tun, dass bis auf eine Ausnahme (nämlich die von Ruth Wodak) alle Gründungsmitglieder der Kritischen Diskursforschung weiße Männer sind. Die explizite Selbstbezeichnung als Feministische Kritische Diskursanalyse soll eine Bündelung der kritischen feministischen Arbeiten zum Diskurs-Macht-Geschlecht-Konnex in seiner ganzen Breite erleichtern und eine entsprechende Bewusstmachung fördern: Feministische Kritische Diskursanalyse „aims to advance a rich and nuanced understanding of the complex workings of power and ideology in discourse in sustaining (hierarchically) gendered social arrangements“ (Lazar 2007, 211). Über das theoretische Erkenntnisinteresse hinaus versteht Lazar Feministische Kritische Diskursanalyse in praktischer Hinsicht als politische Praxis des Widerstands. Feministische Kritische Diskursanalyse geht davon aus, dass Sprache bzw. Diskurs, Macht und Geschlecht zweifach zusammenhängen: 1. Sprache/Diskurs macht Geschlecht: Diese soziokonstruktivistische Annahme besagt, dass der Sprachgebrauch bzw. Diskurs soziales Geschlecht mitkonstituiert und dass die Kategorie des biologischen Geschlechts von sozio-kulturellen inklusive wissenschaftlichen Interpretationen des Körperlichen bestimmt und damit sprachlich/semiotisch determiniert wird (vgl. Butler 1991). 2. Machtverhältnisse zwischen Geschlechtern werden sprachlich/diskursiv errichtet, reproduziert und bekämpft. Gender ist ein zentrales Element hegemonialer Ideologien, deren normative Annahmen bzw. Stereotype internalisiert werden, z. B. binäre Stereotype von Männlichkeit und Weiblichkeit. These 1 und These 2 verbinden sich dort, wo davon ausgegangen wird, dass Machtund Geschlechterordnungen menschengemacht sind und sich historisch verändern (lassen). Aus dieser Sicht speisen sich die feministischen Forderungen nach einer Dekonstruktion von Gender(stereotypen) und der Vermeidung vereinfachender Geschlechterdichotomien (wie sie in der Linguistik seit den 1970er Jahren oft reproduziert wurden) ebenso wie die Forderung, Geschlecht nicht in Isolation von weiteren sozialen Variablen wie z. B. Schicht, ethnischer Zugehörigkeit, religiösem Bekenntnis oder Bildungsstand zu betrachten, sondern eine intersektionale Perspektive einzunehmen [vgl. den Beitrag von Junker/Roth in diesem Band], die etwa auch für multiple Formen von Diskriminierung sensibilisiert ist. Die Kritik der feministischen Kritischen Diskursanalyse richtet sich unter anderem gegen die gegenderte Dichotomisierung öffentlicher und privater Sphären, gegen die Ethnisierung von Sexismus, gegen Androzentrismus und subtile Formen der Diskriminierung am Arbeitsplatz (Holmes 2005; Martin Rojo/Esteban 2005), gegen diskursiv konstituierte, legitimierte und verharmloste sexuelle Gewalt gegen
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Frauen (die Opferbeschuldigungen und Täterentlastungen mit einschließen) und gegen visuelle Diskriminierung (Lazar 2017, 375–383). In praktischer Absicht erarbeitet Feministische Kritische Diskursanalyse Empfehlungen zu einem geschlechtergerechten Sprachgebrauch.
6 Fazit Das Verhältnis zwischen Diskurs(linguistik) und Kritik ist ein sehr vielfältiges, und die Diskussion darüber kann trotz der zahlreichen Publikationen noch keineswegs als abgeschlossen gelten. Selbst in einschlägigen Handbüchern (siehe z. B. Flowerdew/Richardson 2017) wird der systematischen Arbeit am Begriff der Kritik verhältnismäßig wenig Platz eingeräumt. Allerdings zeichnet sich sowohl im Lager der primär deskriptiv orientierten Diskursforschung als auch im Lager der Kritischen Diskursforscherinnen und Diskursforscher eine zunehmende Reflexion der normativen Grundlagen der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit ab, die auch die Chance in sich birgt, dass sich die beiden Lager näherkommen. Auf dem Weg zu einer zumindest teilweisen Annäherung sind meines Erachtens mehrere Missverständnisse auszuräumen und Konfliktpunkte reflexiv zu bearbeiten (siehe dazu auch Reisigl 2013 und Reisigl/Warnke 2013): 1. Wenn im deskriptiven Lager moniert wird, dass in Kritischen Diskursanalysen die Beschreibung des empirischen Untersuchungsgegenstands manchmal zu kurz komme, weil man voreilig zum Politisieren übergehe, dann sollten Kritische Diskursforscher und Diskursforscherinnen diese Kritik, die den wissenschaftlichen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang betrifft, beherzigen, weil genaue Deskription im Sinne von Unterscheiden 1 ein zentrales Fundament einer jeden guten Analyse darstellt. 2. Wenn deskriptiv ausgerichtete Diskursanalytikerinnen und Diskursanalytiker für eine strikte methodische Trennung von Deskription und Bewertung plädieren, dann sollten sie bedenken, dass Deskriptionen nie völlig wertungsfrei sein können, weil bereits die Entscheidung, bestimmte Elemente oder Eigenschaften in eine Beschreibung aufzunehmen und andere auszusparen, eine Bewertung der Relevanz der beschriebenen und der Irrelevanz der getilgten Elemente bzw. Eigenschaften darstellt. Schon insofern ist die These nicht zu halten, dass Bewertung selbst keine wissenschaftliche Tätigkeit sei. 3. Wer Kritik übe, so ein aus deskriptivistischer, aber auch poststrukturalistischer Warte vorgebrachter Einwand, maße sich einen privilegierten Standpunkt in der Wahrheitsfrage an, der sich oft kaum begründen lasse. Dieses Problem kommt beispielsweise dort zum Tragen, wo Kritische Diskursanalyse das Manipulationsurteil fällt, ohne eine Manipulationsabsicht, eine konkret vorgenommene Manipulation oder eine manipulative Wirkung mit Sicherheit nachweisen zu können. An diesem Punkt ist Kritische Diskursforschung dazu
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aufgerufen, keine simplifizierenden, monokausal und unidirektional anmutenden Kommunikationsmodelle zugrunde zu legen und stärker auf Rezeptionsforschung und die Analyse der individuellen Aneignung von Medien durch ihre Nutzerinnen und Nutzer zu setzen. 4. Wenn im deskriptiven Lager postuliert wird, dass sich Wissenschaft neutral und objektiv zu verhalten habe und dass der Verwertungszusammenhang nicht zum Geschäft der Diskursforschung gehöre, weshalb Diskursforscherinnen und Diskursforscher nicht mehr wissenschaftlich handeln würden, sobald sie sozialkritisch in das laufende gesellschaftliche und politische Tagesgeschehen zu intervenieren versuchten, müsste erst einmal schlüssig begründen, weshalb der Verwertungszusammenhang selbst keine wissenschaftliche Angelegenheit sein soll. Ein solches Urteil würde im Grunde allen angewandten Wissenschaften, die nach praktischer Umsetzung ihrer Erkenntnisse trachten, die Wissenschaftlichkeit absprechen. Zudem müssten die Vertreter und Vertreterinnen der Neutralitätsthese den Beweis dafür führen, dass es wissenschaftliche Neutralität überhaupt geben kann. Kritische Diskursforscherinnen und Diskursforscher würden nämlich einwenden, dass jede wissenschaftliche Beobachtung theorieabhängig und interessengeleitet sei, weshalb es keine strikte Neutralität geben könne. Außerdem stünde eine ,neutrale‘ Position im Verdacht, in dem Sinne politisch, und das heißt parteiisch zu sein, dass sie die Tendenz aufweist, den Status quo zu affirmieren. An diesem Punkt wären also zum einen die Begriffe der Neutralität und Objektivität für die Linguistik wissenschaftstheoretisch und wissenschaftsphilosophisch genauer zu reflektieren und zum anderen die eigenen Standpunkte jeweils selbstkritisch zu berücksichtigen. 5. Wer in der Diskursanalyse lediglich deskriptiv vorgehen möchte, dürfte streng genommen nicht in Anspruch nehmen, diskursive Phänomene auch erklären zu wollen. In dem Moment, indem ich ein diskursives Phänomen oder einen diskursiven Zusammenhang erkläre, transzendiere ich das Vertextungs- und Diskursivierungsmuster der Beschreibung. Wer das eigene wissenschaftliche Arbeiten als Diskurslinguist und Diskurslinguistin durch die Brille der Textlinguistik und Pragmatik genauer beobachtet und reflektiert, sollte zum Schluss kommen, dass er oder sie nicht nur beschreibt, sondern auch erklärt und begründet und dort, wo es um die Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse geht, auch instruiert. Insofern hat es eine rein deskriptive Diskursanalyse nie gegeben und kann es sie gar nicht geben. Wer die Selbstcharakterisierung als deskriptiv favorisiert, ist dazu eingeladen, das eigene Verständnis von Deskription genauer darzulegen, als es bisher getan wurde. 6. Wer sich in der Diskursforschung andererseits das kritische Etikett auf die Fahne heftet, sollte bedenken, dass es wissenschaftstheoretische Positionen gibt, die Kritik als eine conditio sine qua non für gute Wissenschaft insgesamt betrachten und ein kritisches Vorgehen in allen Phasen des wissenschaftlichen Forschungsprozesses – also sowohl im Entdeckungs- als auch im Begründungs- und
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Verwertungszusammenhang – für basal halten. Aus einer solchen Sicht erscheinen die Fahnenphrasen Kritische Diskursanalyse und Kritische Diskursforschung gar als Pleonasmen und wird sogar die Deskription als kritisches Vergleichen und Auffinden von sinnlich wahrnehmbaren Differenzen am Untersuchungsgegenstand zu einem wichtigen Bestandteil von Kritik, der normativ grundiert ist. Wer einen Kritikbegriff favorisiert, wie er in Abschnitt 2 dargelegt wurde, wonach sich Kritik in ihrer entfalteten Form in die Teilprozesse von Unterscheiden 1, Unterscheiden 2, Bewerten, Begründen der Bewertung und Instruieren gliedern lässt, wird ebenfalls dazu neigen, Diskursanalyse insgesamt als ein kritisches Unterfangen zu betrachten oder eine begriffliche Unterscheidung zwischen Kritischer Diskursforschung im engeren Sinn und Kritischer Diskursanalyse im weiteren Sinn vorzunehmen. Aus den vorangegangenen Ausführungen sollte erhellen, dass ich selbst einem weiten Verständnis von Kritischer Diskursforschung das Wort rede.
Alle diese Punkte könnten in der fortdauernden Debatte über das Spannungsverhältnis zwischen deskriptiver und kritischer Diskurslinguistik noch viel eingehender erörtert werden, auf dass sich die Gräben zwischen den unterschiedlichen diskurslinguistischen Lagern verkleinern mögen und eine differenziertere wissenschaftstheoretische Reflexion über die Grundlagen der Diskursforschung möglich werde.
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Noah Bubenhofer
9. Diskurslinguistik und Korpora Abstract: Der Beitrag skizziert die grundsätzliche korpuslinguistische Perspektive auf Diskurse. Zunächst wird diese Perspektive genauer spezifiziert als Fokussierung auf die Musterhaftigkeit von Sprache und Repräsentation von Daten in Vektorräumen. Danach werden die grundlegenden Schritte des Korpusaufbaus und die Möglichkeiten der Annotation der Daten diskutiert. Schließlich werden die wichtigsten Analysekategorien, die für diskurslinguistische Fragestellungen relevant sind, beschrieben: Kollokationen, Mehrworteinheiten, Keywords, Topic Models und Netzwerkanalysen. Der Beitrag schließt mit Überlegungen, die Korpuslinguistik nicht als Hilfswissenschaft für die Diskursanalyse zu sehen, sondern als Schlüssel zu einem neuen Verständnis des Umgangs mit Daten in den Geisteswissenschaften. In diesem Zusammenhang werden fünf Desiderate genannt, die im Rahmen einer sozial- und kulturwissenschaftlich interessierten maschinellen Textanalyse verfolgt werden sollten. 1 2 3 4 5 6 7
Einleitung Analyseperspektiven Korpuserstellung Korpusaufbereitung und Annotation Analysekategorien und Beispiele Fazit Literatur
1 Einleitung Diskurslinguistische Arbeiten verwenden als empirische Untersuchungsbasis Korpora gesprochener oder geschriebener Sprache, die anschließend auf unterschiedlichen Wegen ausgewertet werden. Es existiert eine längere Diskussion darüber, ob und warum korpuslinguistische Ansätze gewinnbringend für die Diskurslinguistik sind (Busse/Teubert 1994; Spitzmüller/Warnke 2011; Bubenhofer 2009; Teubert 2006) – diese Diskussion soll an dieser Stelle nicht geführt werden. Plädoyers dafür, dass die korpuslinguistische Perspektive für die Diskurslinguistik mehr als ein Werkzeugkasten ist, finden sich in einer Reihe von Publikationen (Bubenhofer 2013; Bubenhofer et al. 2014; Mautner 2012; Scharloth et al. 2013; Storjohann/ Schröter 2011). Stattdessen zielt dieser Beitrag darauf, grundlegende Methoden der korpuslinguistischen Diskursanalyse wiederzugeben und Hinweise für die Aufbereitung und Analyse von Korpora für diskurslinguistische Fragestellungen anzubieten. Damit verbunden ist aber auch eine kritische Reflexion über die sozial- und kulturwissenschaftliche Arbeit mit digitalen Daten und digitalen Methoden. https://doi.org/10.1515/9783110296075-009
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Hier wird Korpuslinguistik als Zugang verstanden, der Methoden der Computerlinguistik, des Text Minings, der Statistik, visueller Analysemethoden und ähnlicher Felder nutzt, um sozial- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen zu untersuchen. An anderer Stelle haben wir diesen Zugang als korpuspragmatisch definiert (Scharloth/Bubenhofer 2011; Bubenhofer/Scharloth 2013b, 2015) und argumentiert, dass damit die Korpuslinguistik mehr ist als ein Methodenapparat oder Werkzeugkasten, sondern ein Zugang, der eine neue Sichtweise auf Sprachgebrauch einnimmt: 1) Die sprachliche Oberfläche (Feilke 1996; Feilke/Linke 2009) ist der Ausgangspunkt von Analysen, die 2) im Wechsel datengeleitet, hypothesengenerierend („corpus driven“: Tognini-Bonelli 2001) und hypothesengeleitet 3) auf der Basis von großen Textmengen vorgenommen werden. Nach wie vor besteht aber ein Desiderat, die theoretischen und methodischen Implikationen korpuslinguistischer Ansätze vor dem Hintergrund des digitalen Zeitalters kritisch zu reflektieren (Bubenhofer/Scharloth 2015). Mit der tiefgreifenden und beinahe flächendeckenden Verdatung der Welt (einerseits über die fortschreitende Digitalisierung analoger Quellen, andererseits über die Masse der ‚digital born‘ Quellen), werden sprachliche Artefakte zählbar. Wenn alle Daten digital vorliegen und unterschiedlichste Informationstypen numerisch repräsentiert sind, können sie deswegen auch beliebig kombiniert werden – ‚Big Data‘ ist damit die mögliche Grundlage für ganz unterschiedliche Formen von Analysen. Als Drittes folgt daraus eine zunehmende Emanzipation der Daten vom Zweck ihrer Produktion, da Daten nicht mehr in Archiven lagern, die nur bestimmte Suchen erlaubten (etwa eine Bibliothek, in der Bücher gefunden werden können), sondern die Daten in ihrer strukturierten, digitalen Form auf mannigfache Weise abfragbar sind (z. B. Kollokationsprofile zu einem Suchausdruck in Abhängigkeit vom Publikationsdatum in allen Büchern mehrerer Bibliotheken). Mit welchen Methoden die Daten dereinst abgefragt werden, kann und muss bei ihrer Aufbereitung nicht erschöpfend definiert werden. Im Folgenden werden die Schritte der Korpuserstellung, Korpusaufbereitung, Annotation und möglicher grundlegender Analysemethoden beschrieben. Die einsetzbaren Tools und Softwarepakete verändern sich naturgemäß ständig, deshalb werden die Schritte möglichst generisch beschrieben – das Online-Handbuch „Einführung in die Korpuslinguistik“ (www.bubenhofer.com/korpuslinguistik/ – Bubenhofer 2006–2016) bietet diesbezüglich aktuelle Informationen. Der Fokus dieses Beitrags liegt auf geschriebener Sprache. Ein Teil der Arbeitsschritte und Analysemethoden können grundsätzlich auch für Korpora gesprochener Sprache eingesetzt werden, trotzdem ergeben sich dort eine Reihe weiterer Probleme, aber auch Chancen, auf die hier nicht eingegangen werden kann.
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2 Analyseperspektiven Wenn Diskurse anhand größerer Datenmengen analysiert werden sollen, stellt sich die Frage nach der Analyseperspektive, die eingenommen werden soll. Textkorpora können z. B. als Textdatenbank oder als Zettelkasten aufgefasst werden. Eine Textdatenbank erlaubt primär eine effiziente Verwaltung von mit Metadaten versehenen Texten, um leicht Texte eines bestimmten Datums, einer Quelle o. ä. zu finden. Damit gewinnt man aber noch keine linguistische Perspektive auf den Text. Das ist beim Zettelkasten anders, der die Texteinheit durchbricht und den Fokus auf Verwendungsweisen einer beliebigen sprachlichen Einheit, beispielsweise eines Lemmas, lenkt, indem die Verwendungsweisen dieser sprachlichen Einheit übersichtlich aufgeführt und damit systematisch analysierbar gemacht werden. Der Erfolg der Korpuslinguistik liegt zunächst darin begründet, genau dafür Suchmöglichkeiten und Darstellungsweisen entwickelt zu haben, nämlich die sog. Keyword in Context-Darstellung (KWiC) als Ergebnis einer Suche in großen digitalen Textsammlungen. Dies ist eine triviale Einsicht, jedoch eine relevante, denn lange lag das Interesse der Korpuslinguistik (und deren Nutzerinnen und Nutzer) darin, solche KWiC-Darstellungen zusammenzufassen: Kollokationen, syntagmatische Muster, Distribution von Treffermengen. Dies sind wichtige und erfolgreich angewandte Methoden, die in neuerer Zeit jedoch ergänzt – und vielleicht abgelöst werden durch eine gänzlich andere Perspektive, nämlich jene, die Texte, Wörter oder andere sprachliche Einheiten und deren Eigenschaften als Daten in einem sog. Vektorraum auffassen. Diese beiden unterschiedlichen Perspektiven möchte ich im Folgenden ausführen.
2.1 Syntagmatische Muster und Verteilungen Elementare Einsicht für die meisten diskurslinguistischen Arbeiten, die Korpora als Grundlage verwenden, ist folgende: In Mustern des Sprachgebrauchs spiegeln sich Diskurse wider. Sprachgebrauchsmuster (Bubenhofer 2009) sind demnach rekurrente sprachliche Strukturen, wie etwa Kovorkommen von 1) sprachlichen Ausdrücken (z. B. Lexemen) in gleichen Kontexten oder von 2) sprachlichen Ausdrücken in Texten bestimmter Autorinnen und Autoren, Institutionen, Zeiträumen, Textsorten und dergleichen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Kovorkommen von sprachlichen Ausdrücken (1) zu operationalisieren. Letztlich geht es darum, KWiC-Listen von sehr vielen Belegen eines Suchausdrucks zusammenzufassen zu einer Liste von den typischsten unterschiedlichen Verwendungsweisen. Die häufigste Operationalisierung ist die Berechnung von Kollokationen (Evert 2009), bei der grundsätzlich in einem Korpus statistisch gesehen auffällig oft zusammen vorkommende Lexeme berechnet werden. Dahinter stecken unterschiedliche statistische Testverfahren, die die
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Überzufälligkeit der Assoziation bewerten (vgl. grundlegend Evert 2009; Lemnitzer/Zinsmeister 2006; im Kontext diskurslinguistischer Fragestellungen: Bubenhofer 2015). Kollokationsprofile von Lexemen werden für sehr unterschiedliche linguistische Zwecke verwendet, etwa in der Lexikographie und Semantik (Bedeutungskomponenten datengeleitet erarbeiten) oder eben auch in der Diskurslinguistik. Hier ist es oftmals von Interesse, von bestimmten Lexemen die Kollokationsprofile auf der Basis unterschiedlicher Korpora, oder aber die Kollokationsprofile auf der gleichen Datenbasis, aber zwischen unterschiedlichen Lexemen zu vergleichen. Weiter unten werden diesbezüglich Anwendungsbeispiele genannt. Die Korrelation von sprachlichen Ausdrücken mit beliebigen weiteren Texteigenschaften wird über unterschiedliche distributionelle Analysen ergründet (2). Im einfachsten Fall werden beispielsweise Frequenzen eines Suchbegriffs in unterschiedlichen Teilkorpora, z. B. in einem nach Publikationsdatum der Texte diachron nach Jahren o. ä. gegliederten Korpus, untersucht. Oder die Verwendungsfrequenzen eines grammatischen Phänomens (z. B. Passivformen) in Zeitungskorpora zu unterschiedlichen Themen. Dabei existiert aus korpuslinguistischer Perspektive eine Diskussion darüber, welches geeignete Maße sind, um die Frequenzen zu messen und zu vergleichen; dass das Maß in Relation zur jeweiligen Korpusgröße stehen muss, versteht sich von selbst. Darüber hinaus wurden aber auch Maße wie ‚Frequenzklassen‘ vorgeschlagen, die robuster gegenüber unterschiedlichen Korpusgrößen sind und deshalb relativen Maßen wie ‚Treffer pro Mio. laufender Wortformen‘ o. ä. vorgezogen werden (vgl. für eine ausführliche Diskussion Perkuhn et al. 2012, 78). Weiter können wiederum statistische Testverfahren eingesetzt werden, um zu messen, ob die gemessenen Frequenzunterschiede signifikant sind oder nicht (Kilgarriff 2001). All diesen Methoden gemeinsam ist die Tatsache, dass die Abhängigkeit einer Variable von einer gegebenen, unabhängigen Variable gemessen wird. Wenn ich allerdings so herausfinde, dass ein Lexem X in einem Korpus A signifikant häufiger vorkommt als in B, oder wenn ich herausfinde, dass ein Lexem Y signifikant häufig zusammen mit X vorkommt, teste ich nur genau diese Zusammenhänge und keine weiteren (außer ich wiederhole die Messung systematisch mehrmals mit anderen unabhängigen Variablen). In Ansätzen, die unter Labeln wie ‚Data Mining‘ in ‚Big Data‘ o. ä. geführt werden, versucht man jedoch normalerweise komplexere Abhängigkeiten zu testen. Dafür müssen Texte als Daten mit Eigenschaften in Vektorräumen modelliert werden.
2.2 Daten im Vektorraum Wenn vor einem diskursanalytischen Hintergrund die Frage interessiert, welche Themenschwerpunkte in einem Diskurs vorherrschend sind und durch welches Vokabular diese geprägt werden, explodiert die Anzahl der zu berücksichtigenden Variablen: Auf Lexemebene gedacht ist jeder in den Texten vorkommende Lexem-
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type mit den Frequenzen in den jeweiligen Texten eine Variable. Es wäre nun aufwändig, für jeden Lexemtype die Frequenzen in jedem Text zusammenzutragen – und auch dann wäre unklar, welche nun tatsächlich für bestimmte Texte bedeutend wären oder ob für bestimmte Gruppen von Texten eine für die jeweilige Gruppe spezifische Kombination von Lexemen existiert, die für einen thematischen Cluster stehen. Um solche Fragen zu verfolgen, werden Daten als Sammlung von Objekten mit Eigenschaften in einem Vektorraum angesehen: Ein Datensatz (ein Korpus) besteht aus Objekten (Texten). Diese Objekte weisen bestimmte Eigenschaften (‚Features‘) auf: Darin vorkommende Lexeme, andere sprachliche Phänomene, bestimmte Metadaten etc. Diese Eigenschaften werden nun in einer systematischen Art und Weise gemessen und als Matrix repräsentiert: Jedes Objekt nimmt eine Zeile ein, jede Eigenschaft eine Spalte, sodass für jedes Objekt die Ausprägung dieser Eigenschaft notiert werden kann. Das Ergebnis ist eine Tabelle mit Werten des gesamten Datensatzes, wie wir sie auch manuell erstellen würden.
Text
fX
fY
A B C D E F G H
15 25 27 30 30 31 28 27
28 11 9 10 30 10 28 30
Diese Tabellen können sehr breit sein, also viele Spalten (Eigenschaften) ausweisen. Jede Eigenschaft, die irgendwo in einem der Objekte auftritt und die uns interessiert, die wir also messen, muss aufgeführt werden, wobei wir für jedes Objekt einen Messwert haben (kommt vor, kommt gar nicht vor, ggf. wie häufig oder mit welcher Assoziation). Die Folge der Ausprägungen aller Eigenschaften wird nun Vektor genannt; es handelt sich um eine Gerade in einem mehrdimensionalen Raum. Das Potenzial, was sich daraus ergibt, lässt sich besser erklären, wenn man zunächst von einem einfacheren Datensatz ausgeht: Nehmen wir an, für unsere Objekte erfassen wir nur die Frequenzen zweier Lexeme X und Y. Wir können nun die Werte für X und Y in einem Diagramm mit den zwei Achsen X und Y eintragen und erhalten ein Streudiagramm (vgl. Abb. 1). Je nachdem, wo die Punkte liegen, können wir die Objekte charakterisieren: Liegen die Punkte im Bereich oben rechts, handelt es sich um Objekte, in denen beide Lexeme häufig vorkommen. Punkte in der rechten Ecke unten charakterisieren Objekte, in denen das Lexem X vorherrschend ist, Y aber kaum vorkommt usw.
Diskurslinguistik und Korpora
213
Abb. 1: Streudiagramm Fantasiefrequenzen für X und Y von acht Objekten.
Wir fassen nun die X- und Y-Werte als Vektoren auf: Der Vektor, die Gerade, beginnt beim Schnittpunkt 0,0 der beiden Achsen X und Y und endet beim jeweiligen Punkt des Objekts. Dieser Vektor beschreibt die Eigenschaft des Objektes geometrisch im Vektorraum. Wenn die Vektoren zweier Objekte in die ähnliche Richtung zeigen (in Abb. 1 Vektoren der Objekte B und C), ähneln sich die beiden Objekte, ansonsten unterscheiden sie sich mehr oder weniger (A unterscheidet sich stark von B und C). Das Maß der Abweichung kann über geometrische Maße gemessen werden, etwa indem die Distanz zwischen den Punkten (euklidische Distanz) oder der Winkel gemessen wird, den die beiden Vektoren aufmachen (Kosinus-Distanz). Wir können uns zu den beiden Dimensionen X und Y noch eine dritte Dimension Z vorstellen, wenn wir die Frequenz eines weiteren Lexems erfassen. Dies lässt sich noch immer visualisieren, indem ein dreidimensionales Streudiagramm gezeichnet wird und zusätzlich die Position auf der in den Raum zeigenden Z-Achse verortet wird. Wenn wir weitere Eigenschaften hinzufügen, bewegen wir uns entsprechend in einem n-dimensionalen Raum, der sich nicht mehr visualisieren, aber nach wie vor rechnerisch behandeln lässt. Jedes Objekt wird nach wie vor durch einen Vektor in einem mehrdimensionalen Raum repräsentiert und die Ähnlichkeit oder Differenzen zwischen den Objekten lässt sich noch immer über geometrische Operationen berechnen. Darin liegt das Potenzial begründet, wenn die Komplexität von Daten in einem mehrdimensionalen Raum repräsentiert und damit operiert werden kann. Das geisteswissenschaftliche Vergleichen von Dingen wird damit zu einem geometrischen Messen von Distanzen im Vektorraum: „The concept of a geometric feature space allows us to take the most basic method of humanities –
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a comparision – and extend it to big cultural data. In the same time, it allows us (or forces us, if you prefer) to quantify the concept of difference“ (Manovich 2015, 26). Aus diskurslinguistischer – und generell geisteswissenschaftlicher Sicht bedeutet dies: Große Datenmengen sind gut handhabbar und reiche, differenzierte Annotationen gut nutzbar. Zusätzlich kommt hinzu, dass diese Methoden neue Analysestile ermöglichen: Explorative, datengeleitete Zugänge sind möglich, ggf. im Verbund mit hypothesengeleiteten und/oder auch qualitativen Zugängen (Bubenhofer et al. 2014; Bubenhofer/Scharloth 2015). Sobald die Eigenschaften von Objekten als Vektoren repräsentiert werden, können eine Vielzahl von Algorithmen darauf angewandt werden. So versuchen Clustering-Methoden Gruppen von Objekten zu identifizieren, die ähnliche Eigenschaften aufweisen und sich von anderen Objekten (und Gruppen) möglichst stark unterscheiden. Bei einem zwei- (wie in Abb. 1) oder dreidimensionalen Streudiagramm sehen wir diese Gruppen in Form von nahe beieinander stehenden Punkten. Bei mehr Dimensionen jedoch nicht. Die vom Algorithmus identifizierten Cluster können anschließend von der Forscherin als Kategorien gedeutet werden und führen allenfalls sogar zu Kategorisierungen der Daten, an die man vorher gar nicht gedacht hat. Solche explorativen, sog. ‚unüberwachten‘ Methoden kontrastieren mit ‚überwachten‘ Lernmethoden, wo bereits manuell oder anderweitig klassifizierte Daten die Grundlage sind, um daraus algorithmisch ein statistisches Modell zu erstellen, mit dem neue, nicht-klassifizierte Daten maschinell klassifiziert werden können (Carstensen et al. 2010, 591; Manovich 2015, 24). Manovich argumentiert im Kontext der Digital Humanities, dass solche Klassifikationsaufgaben, also überwachte Lernverfahren, die darauf hinzielen, bestehende Kategoriensysteme für eine maschinelle Klassifikation von großen Datenmengen zu nutzen, nicht sehr interessant ist: „Why should we use computers to classify cultural artifacts, phenomena or activities into a small number of categories? Why not instead use computational methods to question the categories we already have, generate new ones, or create new cultural maps that relate cultural artifacts in original ways?“ (Manovich 2015, 24) Unüberwachte, datengeleitete Methoden erlauben stattdessen einen explorativen Zugang zu riesigen Datenmengen, was gerade auch für diskurslinguistische Fragestellungen interessant ist (Scharloth et al. 2013).
3 Korpuserstellung 3.1 Textauswahl Ein zu untersuchender Diskurs ist nicht zwingend durch ein klar definiertes Korpus repräsentierbar, da Diskurse als Aussagensysteme begriffen werden müssen, die quer zu Texten liegen können (Spitzmüller/Warnke 2011, 25, 88, 91). Trotzdem ist
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es aus forschungspraktischen Gründen unumgänglich, eine Auswahl an Texten für ein Korpus zu treffen. Folgende Strategien können aber dem berechtigten Einwand zu enger Korpusgrenzen entgegenkommen (vgl. ausführlich Bubenhofer 2009): 1) Dank immer besserer Verfügbarkeit digitaler Texte und größerer Speicher- und Rechenkapazitäten ist es oft möglich, mit sehr großen Textkorpora zu arbeiten, die zunächst gar keiner thematischen Eingrenzung unterworfen sind. Um beispielsweise massenmediale Krisendiskurse in Nachkriegsdeutschland zu untersuchen, stehen mit den digitalen Archiven der Wochenzeitschrift ‚die Zeit‘ und des Magazins ‚der Spiegel‘ Quellen zur Verfügung, mit denen ein Korpus aller in Nachkriegsdeutschland bis heute publizierten Artikel aufgebaut werden kann. Bei der späteren Analyse könnten immer wieder neue Eingrenzungen (thematisch, zeitlich, bezüglich Textsorten etc.) vorgenommen werden. Auch große öffentlich verfügbare Korpora wie das DeReKo (Kupietz et al. 2010) enthalten genug große Textmengen verschiedener Typen, um Korpora zu bilden, die zunächst thematisch überhaupt nicht eingegrenzt werden. Schwierig bis unmöglich ist dieses Vorgehen selbstverständlich bei schwieriger Quellenlage. 2) Der Vorteil korpuslinguistischer Zugänge zu Texten liegt darin, dass die Texteinheit oft gar keine Rolle spielt: Die typische Key-Word in Context-Ansicht (KWiC) bricht die Textgrenzen auf und lenkt die Aufmerksamkeit auf Aussagemuster, die über Textgrenzen hinaus gehen. Trotzdem sind bei Bedarf die Einzeltext-Informationen (Metadaten, Artikelgrenzen) verfügbar.
Bei der Auswahl eines Korpus für eine diskurslinguistische Analyse sollte idealerweise zunächst nur definiert werden, welche Sprachdomänen, medialen Erscheinungsformen, Textsorten oder zeitlichen Perioden Grundlage für die Analysen sind. Diese Definition orientiert sich verständlicherweise auch an den praktischen Möglichkeiten, die durch technische, finanzielle und nicht zuletzt juristische (Perkuhn et al. 2012, 52) Grenzen bestimmt werden. Aus dieser Grundgesamtheit wird dann eine Stichprobe gezogen, die entweder zufällig oder aber geschichtet ist, also bezüglich bestimmter Dimensionen, die für die Analyse als entscheidend angesehen werden, ausgeglichen ist. Eine solche Zufallsstichprobe hat das Ziel, eine für die Grundgesamtheit repräsentative Textmenge zusammenzustellen, sodass Beobachtungen in der Stichprobe auf die Grundgesamtheit interpoliert werden können. Während dieses Vorgehen bei sozialwissenschaftlichen empirischen Untersuchungen hochgradig standardisiert ist, stellen sich in der Korpuslinguistik eine Reihe von Problemen (Perkuhn et al. 2012, 46). Bei Korpora, die ‚die deutsche Sprache‘ repräsentieren sollen, ist offensichtlich, dass dieses Ziel nicht erreicht werden kann, ohne vorher genau definiert zu haben, was zur ‚deutschen Sprache‘ gehört – was ohne ganz deutliche Eingrenzungen unmöglich ist. Aber wie verhält es sich mit Diskursen? Migrationsdiskurse zeigen sich nicht nur in der massenmedialen Politik-Berichterstattung, sondern auch in anderen Themen (z. B. Ökologie: Einwanderung von ‚fremdem‘ Saatgut) und in anderen medialen Formen (Jung 1996). Um eine Grundgesamtheit zu definieren, sind Eingrenzungen notwendig – aber nicht zwingend thematischer Art. Beispielsweise könnte für das Beispiel Migrationsdiskurs die Grundgesamtheit auf deutschsprachige Pressetexte und Webforen-Diskussionen in einem bestimmten Zeitraum beschränkt werden. Mit der (geschichteten) Stichprobe würde man sich auf bestimmte Pressetitel und Foren
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Noah Bubenhofer
beschränken, dort aber jeweils alle Texte des definierten Zeitraums ins Korpus integrieren (Vollerhebung).
3.2 Untersuchungs- und Referenzkorpus Einige der im Folgenden vorgestellten Analysemethoden beruhen auf Korpusvergleichen: Mit Keyword-Analysen wird beispielsweise das typische Vokabular eines Korpus im Vergleich zu einem Referenzkorpus berechnet. Das Referenzkorpus dient also dazu, die Besonderheiten des Untersuchungskorpus hervorzuheben. Meist ist es nicht sinnvoll, gleich zu Beginn eines Projekts ein festes Referenzkorpus zu definieren. Denn die Wahl des Referenzkorpus entscheidet darüber, welche Parameter (Thema, Textsorte, Zeitperiode etc.) miteinander verglichen werden können; idealerweise unterscheiden sich Untersuchungs- und Referenzkorpus jeweils bezüglich eines Parameters, um die beobachteten Unterschiede als Effekt dieses Parameters erklären zu können. In einer Untersuchung zu Veränderungen von Sprachgebrauchsmustern in der Neuen Zürcher Zeitung von 1995 bis 2005 wurde das Korpus, eine Zufallsstichprobe aller im Zeitraum erschienenen Artikel, nach unterschiedlichen Kriterien unterteilt (Bubenhofer 2009, 197). Beispielsweise wurden zwei Zeiträume 1995–1997 und 2003–2005 definiert und pro Ressort (‚Ausland‘, ‚Inland‘, ‚Wirtschaft‘ etc.) Teilkorpora erstellt. Bei der Gegenüberstellung des Auslands-Korpus 1995–1997 und des Auslands-Korpus 2003–2005 sind alle Parameter (Medium, Textsorten, Ressort, grundsätzlich vorkommende Themen) gleich bis auf den Publikationszeitpunkt. Die bei der Analyse sich ergebenden Unterschiede können demnach als zeitgebundene Veränderungen des Sprachgebrauchs (was indirekt natürlich auch mit unterschiedlichen Themen zusammenhängen kann) interpretiert werden. Zusätzlich könnte aber auch das gesamte NZZ-Korpus als Referenz zu einem Untersuchungskorpus ‚Feuilleton-Artikel‘ oder ‚Artikel zum Thema X‘ definiert werden, um die Spezifika von Feuilleton-Artikeln bzw. Artikeln zu einem Thema X herauszuarbeiten. Als Referenzkorpus kann je nach Anlage auch ein externes Korpus verwendet werden: Das DeReKo (Kupietz et al. 2010) eignet sich mit seiner Größe von 24 Milliarden laufenden Wortformen (Stand 2014) als Referenz, um beispielsweise in der Gegenwartssprache typische Verwendungsweisen bestimmter sprachlicher Ausdrücke zu untersuchen und mit denen des eigenen Untersuchungskorpus zu vergleichen (vgl. dazu ausführlicher Bubenhofer 2013). Beim Design des Korpus empfiehlt es sich demnach, für das Forschungsvorhaben potenziell interessante Korpusvergleiche vorzusehen. Demnach ist eine Vollerhebung bestimmter Quellen (z. B. alle Zeitungsartikel einer Zeitung in einem bestimmten Zeitraum) auch aus Gründen der Referenzkorpus-Bildung von Vorteil.
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4 Korpusaufbereitung und Annotation 4.1 Überführung in strukturierte Daten 4.1.1 XML als nachhaltiges Datenformat Für diskurslinguistische Untersuchungen ist eine reiche Auszeichnung der Daten mit Metadaten sehr bedeutend. Zwar soll es das Korpus ermöglichen, Aussagemuster über Textgrenzen hinweg zu finden, gleichzeitig müssen die Metadaten aber zur Verfügung stehen, um beliebig Teilkorpora zu bilden oder das Streuungsverhalten bestimmter Phänomene über Textsorten, Autorinnen und Autoren, Zeitabschnitte etc. zu untersuchen. Deswegen ist es unumgänglich, das Korpus in einem strukturierten oder semistrukturierten Format abzulegen. Dafür eignet sich die Auszeichnungssprache XML (Bray et al. o. J.), mit der grundsätzlich ein eigenes, maßgeschneidertes Kategorienund Auszeichnungssystem umgesetzt werden kann. Im Folgenden sei ein einfaches Beschreibungsmodell der Metadaten gegeben, das beliebig erweitert werden kann:
Titel des Textes Autor 2012–04–01
Hier folgt der Text…
Es existieren allerdings XML-Standards zur Codierung von Textkorpora. Dazu gehören die Standards TEI (‚Text Encoding Initiative‘ TEI Consortium 2014; Stührenberg 2012) oder XCES (‚Corpus Encoding Standard for XML‘ Ide et al. 2000), die versuchen, für möglichst viele unterschiedliche Texte Codiervorgaben zu geben. Dazu gehören nicht nur Vorgaben für die Codierung der Metadaten, sondern auch (hauptsächlich bei TEI) die Möglichkeit, Layoutinformationen im Text zu codieren. TEI wird laufend weiterentwickelt und es existieren Hilfsmittel, um aus dem vergleichsweise komplexen Standard vereinfachte Versionen für eigene Projekte abzuleiten.
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Noah Bubenhofer
Die XML-Auszeichnungen folgen einem Regelapparat, der die zu verwendenden Elemente und die hierarchische Struktur, nach denen sie angeordnet werden können, beschreibt (Means 2004). Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Regelapparat zu beschreiben: Die ältere Variante ist das Verfassen einer DTD (Document Type Definition) – neuer, und der DTD überlegen, da die Regeln genauer beschrieben werden können, ist das XML-Schema (van der Vlist 2011). Folgt man dem TEI-Standard, kann man auch das entsprechende XML-Schema verwenden und XML-Dokumente, die man selber erstellt, gegenüber dem Schema validieren lassen. Dazu dienen beispielsweise XML-Editoren oder ein XML-Parser. Ein gewichtiger Vorteil von XML liegt darin, dass Dokumente, die sich bereits in einer XML-Struktur befinden, vergleichsweise einfach in eine andere XML-Struktur konvertiert werden können. So kann das weiter oben dargestellte einfache XMLSchema in XML-TEI konvertiert werden, wobei natürlich ggf. Informationen ergänzt werden müssen. Damit ist XML ein Format, das sich für eine nachhaltige Archivierung von Daten eignet. Um XML-Dokumente eines bestimmten Schemas in ein XML-Dokument eines anderen Schemas zu überführen, wird ein XSL-Stylesheet geschrieben (XSLT, Tidwell 2008). Dieses regelt, welche XML-Elemente in bestimmte andere XML-Elemente überführt werden sollen. Mit einem solchen Stylesheet können dann beliebig viele XML-Dokumente, die dem gleichen Schema folgen, in XML-Dokumente eines anderen Schemas überführt werden.
4.1.2 Erstellung von XML-Dokumenten XML-Dokumente können über verschiedene Wege erstellt werden. Die Wahl des Weges hängt davon ab, in welchem Ausgangsformat sich die zu konvertierenden Dokumente befinden. In aller Kürze kann dazu Folgendes zusammengefasst werden: – Ausgangsdokumente sind in einem strukturierten Format vorhanden, z. B. als Datenbanktabelle, CSV-Datei (kommaseparierte Datei, etwa als Export aus einer Tabellenkalkulations-Software wie Microsoft Excel oder OpenOffice Calc) etc.: Eine Überführung in XML ist besonders einfach und oft direkt aus der entsprechenden Software hinaus möglich. Ggf. muss das dabei entstandene XML-Format in das gewünschte Format, z. B. TEI, mittels XSLT konvertiert werden. – Ausgangsdokumente sind in einem semi-strukturierten Format vorhanden, z. B. als XML oder HTML-Dokumente: XML-Dokumente können leicht mittels XSLT in das gewünschte XML-Schema überführt werden. Ein Spezialfall sind HTML-Dokumente: HTML gehört zur Familie der XML-Dokumente, gehorcht aber nicht den strengen Regeln der Wohlgeformtheit wie XML (so müssen z. B. sich öffnende Elemente nicht zwingend geschlossen werden – ein Browser interpretiert solche HTML-Dokumente großzügig). Daher ist vor der Weiterverar-
Diskurslinguistik und Korpora
–
219
beitung mit XSLT die Überführung in XHTML notwendig. Dafür existieren Konverter, die zudem typische Syntaxfehler in HTML-Dokumenten korrigieren und XML-konformes XHTML ausgeben. Ausgangsdokumente sind in einem unstrukturierten Format vorhanden, z. B. OCR-erkannter Text (Text, der von einer Optical Character Recognition-Software aus Bilddaten erkannt worden ist), PDFs, Word-Dokumente etc.: Bei solchen Dokumenten ist eine Überführung in XML mit erheblich mehr Aufwand verbunden. Entweder muss dabei komplett manuell gearbeitet werden oder aber es können Heuristiken entwickelt werden, mit denen Strukturen in den Dokumenten (z. B. Titel, Untertitel, Datumsangabe etc.) erkannt und in entsprechende XML-Strukturen überführt werden. Dazu können beispielsweise Scriptsprachen verwendet werden, mit denen solche Heuristiken programmiert werden.
Je nach Ausgangslage muss also mehr oder weniger Aufwand in die Konvertierung des Materials in XML einberechnet werden.
4.2 Linguistische Annotation der Textdaten Mit dem Annotieren von Textdaten ist das Hinzufügen von beliebigen linguistischen Informationen zu den Wortformen oder Gruppen von Wortformen gemeint (Lemnitzer/Zinsmeister 2006; Perkuhn et al. 2012, 57). Typischerweise werden mittels eines Part-of-Speech-Taggers automatisch morphosyntaktische Informationen (Wortartklassen) hinzugefügt sowie die jeweilige Grundform (Lemmatisierung, Stemming). Weiter können aber auch syntaktische Informationen (Phrasentypen, Satzglieder o. ä.) annotiert werden sowie zahlreiche weitere Kategorien. Bei großen Textkorpora versucht man diese Annotationen maschinell zu erzeugen. Morphosyntaktische Tagger annotieren mit relativ hoher Sicherheit auf der Basis eines Lexikons und statistischer Modelle, die typische Wortarten-Kombinationen anhand eines manuell annotierten Trainingskorpus gelernt haben. Neben maschinellen Methoden der Annotation können Textdaten jedoch auch manuell oder halbautomatisch annotiert werden. Oft sprechen forschungspraktische Gründe dagegen, große Textmengen manuell zu annotieren, um komplexe Phänomene zu annotieren, ist ein manuelles (z. B. in einem Teilkorpus) oder halbautomatisches Annotationsverfahren aber oft unumgänglich. Ich beschränke mich im Folgenden auf eine Übersicht über maschinelle Annotationsmethoden. Linguistische Diskursanalysen sind, zumindest auf den ersten Blick, weniger an grammatikalischen, sondern eher an lexikalischen Phänomenen interessiert. Deshalb könnte man zum Schluss kommen, dass eine linguistische Annotation der Daten, also beispielsweise das Hinzufügen von Wortartklassen zu den Wortformen, nicht von Interesse ist. Allenfalls wäre eine Lemmatisierung der Wortformen, also das Rückführen der Wortformen auf Grundformen, eine Erleichterung für die Suche
220
Noah Bubenhofer
im Korpus – doch rechtfertigt dies den Aufwand? Zwei Gründe sprechen jedoch dafür, zumindest eine morphosyntaktische Annotation und Lemmatisierung (Zinsmeister 2015) vorzunehmen: – Auch aus diskurslinguistischer Sicht ist die Beobachtung von typischen syntaktischen Mustern (oder Veränderungen davon) in den Daten interessant. Zu den zahlreichen Beispielen gehören die Verwendung von Modalverben (mit oder ohne Negation?) in Verbindung mit typischen Subjekten oder Objekten, Verwendung von Tempusformen, die Anteile von Aktiv- und Passivkonstruktionen, von Partikeln in Verbindung mit bestimmten Nomen (für X, gegen X, mit X etc.), Anzeige typischer Adjektive in Verbindung mit bestimmten Nomen und dergleichen mehr. Daneben sind morphosyntaktische Kategorien bei datengeleiteten Analysen eine wichtige Bereicherung, wie weiter unten gezeigt wird. Aber auch bei Analyseverfahren, die primär ohne morphosyntaktische Annotation auskommen, können diese Informationen in einem zweiten Schritt von großer Hilfe sein – ein Beispiel ist die Berechnung von Kollokationen: Bei annotierten Daten können die Kollokatoren anschließend nach Wortartklassen gefiltert werden, was die Interpretation systematisiert. – Der Nutzen einer morphosyntaktischen Annotation ist zudem zu einem relativ geringen Preis zu haben: POS-Tagger gehören zu den Standardanwendungen der Computerlinguistik und sind leicht einsetzbar (Beispiele für POS-Tagger sind der ‚TreeTagger‘ – Schmid 1994; und der ‚RFTagger‘ – Schmid/Laws 2008). Wenn die Daten in einem XML-Format vorliegen, ist die Annotation technisch relativ problemlos. Einige Korpusmanagement-Systeme bieten zudem Standardannotationen, darunter die morphosyntaktische Annotation, an, ohne zusätzliche Software installieren zu müssen. Neben morphosyntaktischer Annotation sind weitere maschinell anwendbare Annotationskategorien für linguistische Diskursanalysen von Interesse: – Automatische syntaktische Analysen versuchen die syntaktischen Strukturen der Sätze zu identifizieren, wobei man Chunk-Parsing (Carstensen et al. 2010, 275) und vollständiges Syntaxparsing (Carstensen et al. 2010, 303) unterscheidet. Chunk-Parsing, auch partielles Parsing genannt, beschränkt sich auf das Erkennen von Phrasen mit inhaltstragenden Wörtern als Kopf, ohne die Abhängigkeiten der einzelnen Chunks untereinander zu bestimmen. Diese Technik ist um einiges robuster und erfolgreicher als das Parsing der kompletten Dependenzstruktur, dafür auch weniger informativ. Syntaktisch annotierte Daten können für diskurslinguistische Fragestellungen interessant sein, wenn grammatische Eigenschaften (Textkomplexität, Topikalisierung, Aktiv-/Passivverwendung etc.) diskursive Bedeutung haben könnten. – Named Entity Recognition (NER) – Eigennamenerkennung: Es existieren Systeme, die aufgrund von Wortlisten und statistischem Wissen maschinell Eigennamen erkennen und klassifizieren, indem sie z. B. Personen-, Firmen- und Institutionennamen sowie Toponyme unterscheiden. Bei einem diskursanaly-
Diskurslinguistik und Korpora
–
–
221
tischen Interesse für Akteure sind solche Informationen ohne Zweifel interessant. Auch die Verwendung von Toponymen in Diskursen kann erhellend sein oder die Berechnung von ‚Geokollokationen‘ – typische Kollokatoren zu Toponymen – deckt die diskursive Prägung von Orten auf (Bubenhofer 2014). Bei mehrsprachigen Daten, bei denen nicht bereits Sprachinformationen verfügbar sind, ist wahrscheinlich eine maschinelle Sprachidentifikation sinnvoll. Diese arbeiten beispielsweise mit Sprachmodellen, die auf Häufigkeiten von Buchstaben-N-Grammen (also Folgen von Buchstaben) beruhen und funktioniert für die gängigen Sprachen sehr erfolgreich (Dunning 1994). Ebenfalls von Bedeutung sind linguistische Ressourcen wie semantische Lexika (z. B. WordNet: Miller 1995; GermaNet: Kunze/Lemnitzer 2002), die den Wortschatz in sog. Synsets, also der Menge der Synonyme eines Konzeptes, modelliert und semantische Relationen festlegt. Diese Ressourcen können verwendet werden, um beispielsweise Wörtern in einem Korpus Hyperonyme zuzuweisen. Es gibt zahlreiche weitere Ansätze, Wissensbasen aufzubauen, indem etwa die Wikipedia als Grundlage für Extraktionen von Ontologien verwendet wird (Gabrilovich/Markovitch 2006; Zesch et al. 2008).
Aus diskurslinguistischer Sicht ergeben sich zwar interessante Optionen, um Korpusdaten maschinell reich zu annotieren, es stellen sich aber auch Probleme. Zunächst muss man bei computerlinguistischen Annotationsverfahren grundsätzlich damit leben, dass sie nicht fehlerfrei arbeiten. Auch wenn beispielsweise bei einem POS-Tagger bei Zeitungstexten 95 % Akkuratheit erreicht wird – also 95 % der Wörter richtig annotiert werden – bedeutet dies bei einer durchschnittlichen Satzlänge von 17 Wörtern, dass ungefähr jeder zweite Satz einen Fehler aufweist (Zinsmeister 2015, 96). Lässt man längere Sätze außen vor, verbessert sich die Rate etwas. Für diskurslinguistische Fragestellungen muss das nicht zwingend problematisch sein, da die Akkuratheit auch nicht gleichmäßig auf die Wortarten verteilt ist. Dies gilt für alle Verfahren, die mit statistischen Modellen arbeiten, die auf der Basis von Trainingskorpora berechnet worden sind. Phänomene, die häufig sind, werden deshalb auch sicherer erkannt, seltenere eher nicht. Möchte man also beispielsweise die Adjektivvariation in einem Korpus untersuchen, werden Annotationsfehler nicht stark ins Gewicht fallen. Bei selteneren Phänomenen oder Textsorten, die sich stark von den Trainingsdaten des Taggers unterscheiden, hingegen schon. Weiter ist man bei der Verwendung von computerlinguistischen Tools und Ressourcen von Designprinzipien und Prämissen abhängig, die bei der Erstellung der Tools festgelegt worden sind und die nicht immer transparent und selten veränderbar sind. Ein semantisches Lexikon wie GermaNet geht beispielsweise nicht von einem sich dynamisch verändernden Wortschatz aus, der darüber hinaus in unterschiedlichen Diskursen unterschiedlich verwendet wird. Die automatische Erkennung von Eigennamen ist abhängig von der verwendeten Definition des Konzeptes ‚Eigenname‘. Solche Prämissen reproduzieren also Episteme, die über die Diskurs-
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Noah Bubenhofer
analyse freigelegt werden sollen. Es ist deswegen unabdingbar, Annotationstechnologien informiert und nicht als Black Box anzuwenden und die damit verbundenen Implikationen abschätzen zu können.
5 Analysekategorien und Beispiele Abschließend möchte ich die Praxis der korpuslinguistischen Diskursanalyse an Beispielen zeigen. Damit konkretisieren sich auch zentrale Analysekategorien, die oben bereits erwähnt und an anderer Stelle (Bubenhofer/Scharloth 2013a, 2015) ausführlich beschrieben werden. Zu diesen zentralen Kategorien gehören (neben anderen): – Kollokationen/Kookkurrenzen: Statistisch signifikantes Kovorkommen von sprachlichen Ausdrücken, meist Lexemen. – N-Gramme/Mehrworteinheiten: Folgen von Wortformen, Lemmata, Wortartklassen o. ä. oder Kombinationen davon. – Keywords: Sprachliche Ausdrücke, die in einem Untersuchungskorpus im Vergleich zu einem Referenzkorpus statistisch signifikant häufiger vorkommen. – Topic Models: Clustering-Methode, mit der Texte oder Textfragmente aufgrund ihrer Wortdistribution in Gruppen separiert werden, die sich durch eine ähnliche Wortverwendung auszeichnen. – Netzwerkanalysen: Modellierung von Beziehungen zwischen Objekten (z. B. Wörtern) als Netzwerk.
5.1 Kollokationsprofile vergleichen Kollokationsprofile eines Lexems zeigen, mit welchen anderen Lexemen dieses häufiger, als wir es bei einer gleichmäßigen Verteilung der Lexeme im Korpus erwarten würden, auftritt. Das Profil ist damit eine Zusammenfassung aller Verwendungsweisen und zeigt die typischen Verwendungsweisen. Belica entwickelte eine erweiterte Form von Kollokationsprofilen (hier genannt: Kookkurrenzprofil), bei denen nicht nur die signifikanten Kollokatoren zum Ausgangslexem, sondern auch sekundäre und tertiäre Kollokatoren sowie typische syntagmatische Muster angezeigt werden (CCDB: Belica 2001). Abbildung 2 zeigt die ersten Zeilen eines solchen Profils des Lexems ‚Ausländer‘ auf der Basis einer älteren Version des Deutschen Referenzkorpus DeReKo (Kupietz et al. 2010). Das Kookkurrenzprofil zeigt deutlich, in welchen Kontexten im (zeitungslastigen) Korpus normalerweise von ‚Ausländern‘ die Rede ist. Die fett gedruckten Kollokatoren sind die primären Kollokatoren, um die sich dann ggf. noch weitere Kollokatoren gruppieren. Die weiteren Spalten informieren über die Position, an der der Kollokator vor (Minus-Werte) oder nach (Plus-Werte) dem Ausgangslexem auftritt, den statistischen Assoziationsgrad sowie die absoluten Frequenzen, mit de-
Diskurslinguistik und Korpora
Analysewort:
223
, Analysetyp 0
+
-1 -1 19509 lebenden hier legal
+
-1 -1 19509
9 44% von legal hier lebenden
+
-1 -1 19509 lebenden hier
+
-1 -1 19509 lebenden legal
51 52% von legal [in
+
-1 -1 19509
33 51% von
+
-1 -1 19509 lebenden
+
-2 -2 13649 Integration lebender
34 100% die Integration hier|in
+
-2 -2 13649 Integration Aussiedlern
24 75% die|zur Integration von
+
-2 -2 13649 Integration
+
-2 -2 13225
+
-2 -2 13225
+ +
11 54% sollten alle
hier lebenden
auch arbeiten
545 61% der|die hier [...] lebenden [...] ] lebenden [in Deutschland] lebenden
allein abgeschoben
1887 66% in hier|Deutschland lebenden [...] lebender und Aussiedlern
1933 62% die Integration von erleichterte
17 52% erleichterte
junger
und
45 60%
und
in|die der Schweiz
-2 -2 13225
15 53%
und
-2 -2 13225
950 67%
[und]
+
-4 5
7413 Deutschland lebende
228 98% in Deutschland [...] lebende [...]
+
-4 5
7413 Deutschland geborene
123 57% in|In Deutschland geborene Kinder von
+
-4 5
7413 Deutschland geborenen
+
-4 5
7413 Deutschland
+
-5 4
6904 illegal eingereiste
+
-5 4
6904 illegal eingereisten
41 63% von illegal [...] eingereisten [...]
+
-5 4
6904
72 90% illegal [...]
+
-5 4
6904 illegal
+
-1 -1 6673 lebende hier legal
+
-1 -1 6673 lebende hier
+
-1 -1 6673 lebende legal
+
-1 -1 6673 lebende
744 97% in hier|Deutschland lebende [...]
+
-1 -1 6022 viele leben
143 62% zu viele [...]
+
-1 -1 6022 viele lebten
29 62% es|Deutschland lebten zu viele [...]
+
-1 -1 6022 viele wohnen
49 67% in dem viele [...]
+
-1 -1 6022 viele
... das Stimm und Wahlrecht
die
86 82% in Deutschland [...] geborenen [Kinder|Kindern von] 3688 42%
die ...
[... in] Deutschland
130 96% illegal [...] eingereiste [...]
1107 58% illegal [in ...] 5 100% legal hier lebende 153 96%
hier [...] lebende [...]
36 100% legal [in
] lebende
[...] leben in
[...] wohnen
1867 84% viele [...]
Abb. 2: Kookkurrenzprofil von „Ausländer“ (Ausschnitt), CCDB.
nen die Kollokationen im Korpus erscheinen. In der letzten Spalte sind die typischen syntagmatischen Muster (mit Prozentangabe über den Anteil, den das Muster an allen Belegen einnimmt) aufgeführt (vgl. Bubenhofer/Scharloth 2013a für eine ausführlichere Erklärung zu den Kookkurrenzprofilen). Über Kookkurrenzprofile des gleichen Lexems aber in unterschiedlichen Korpora, die unterschiedliche Diskurse repräsentieren, können diskursspezifische Verwendungsweisen ausgearbeitet werden. Eine weitere Möglichkeit ist der Vergleich zweier Kookkurrenzprofile unterschiedlicher Lexeme auf der gleichen Datenbasis: Wie unterscheidet sich die Verwendungsweise von ‚Ausländer‘ von der von ‚Flüchtling‘? Mit der Funktion ‚contrast near-synonyms‘ ist es nicht nur möglich, Kookkurrenzprofile miteinander zu vergleichen, sondern das ganze semantische Feld zwischen den beiden Lexemen zu untersuchen. Abbildung 3 zeigt diese Funktion der CCDB (Belica 2001) beim Kontrastieren der Profile von „Ausländer“ und „Flüchtling“. Die Idee ist Folgende: „Ausländer“ und „Flüchtling“ haben je ein spezifisches Kollokationsprofil. Zusätzlich gibt es aber viele weitere Lexeme, die ähnliche Profile haben wie die beiden Ausgangslexeme und dabei mehr oder weniger ähnlich sind wie das eine oder andere Lexem.
224
Noah Bubenhofer
Ausländer
Flüchtling
Bootsflüchtling zwangsweise Waisenkind Neuankömmling Flüchtlingsrat Abschiebehäftling Flüchtlingskind traumatisiert
Auffanglager zurückschicken Flüchtlingsfrage Türkei Flüchtlingswesen Zuflucht Hunderttausender Togo
Ruander Zaire Ruanda Militärintervention burundisch Somalia Bürgerkriegsland Friedensgespräch
Kriegsgebiet Kriegsopfer Krisengebiet UNO Hilfslieferung Hilfskonvoi Blauhelm UN
Bosnien Bosniake Restjugoslawien Serbe serbisch Kroate bosnisch Herzegowina
Asylant Asylbewerber Asylsuchende Asylwerber Asylbewerberin Aufenthaltsstatus Asylverfahren ausreisepflichtig
Bürgerkriegsflüchtling Kriegsflüchtling Gastarbeiter Immigrant Einwanderer abgeschoben abschieben Wirtschaftsflüchtling
Flüchtlingsfamilie Staatsangehörige
Vertriebene Rückkehrer Flüchtlingsstrom Massenflucht geflohen Flüchtlingslager Flüchtlingswelle fliehen
Zivilbevölkerung Freischärler Enklave Regierungstruppe Offensive Heimkehrer Großoffensive Artillerieangriff
Scheinehe Duldung Ausländergesetz Ausländeramt Ausweisung Aufenthaltsrecht Aufenthaltsbefugnis Ausländerbehörde
Schwarzarbeiter Schleuser Fremdenpolizei legal Bundesrepublik Aufenthaltsverbot Grenzübertritt aufgreifen
Türke Rumäne Schwarzafrikaner Asiate Nordafrikaner Vietnamesin Tunesier Algerier
Kurde Bosnierin Afghane Tamile Bosnier Staatsbürger Kurdin Haitianer
Zivilist Untergrundkämpfer Extremist Diaspora Kämpfer Rebell Glaubensbruder Separatist
Arbeitsbewilligung Ausländerkind Aufenthaltsbewilligung nichtdeutsch Arbeitsgenehmigung Aussiedler Aufenthalt Zuwanderer Aufenthaltsberechtigung Inländer Touristenvisum Spätaussiedler Visum Integration Arbeitserlaubnis Staatsangehörigkeit
zugewandert lebend
Roma Fremdarbeiter Nationalität Emigrant Hugenotte türkischstämmig Afroamerikaner Farbige
Mitbürger Wanderarbeiter
erschleichen erschlichen Rechtsanspruch Unionsbürger verweigern verweigert befristet ansuchen
Menschenhandel Verhinderung Ausländerhass Ausländerhaß unterbinden bandenmäßig ausländerfeindlich rassistisch
Randgruppe Schwule Andersdenkende Heim Homosexuelle Drogensüchtige Kriminelle jugendlich
Sozialhilfeempfänger Saisonarbeiter Arbeitskraft Behinderte Behinderter erwerbslos Heimen gleichgestellt
Zuwanderung Einwanderung Ausländerrecht Einbürgerung erleichtert erleichtern Einwanderungsgesetz Wahlrecht
Abb. 3: Vergleich der beiden Kookkurrenzprofile von „Ausländer“ und „Flüchtling“, CCDB.
Diese ähnlichen Lexeme werden nun nach Grad der Ähnlichkeit mit den Ausgangslexemen angeordnet, wobei zusätzlich ein Clustering stattfindet: Lexeme, deren Profile besonders ähnlich sind und sich gleichzeitig von den anderen unterscheiden, werden zu einer Gruppe zusammengefasst. Jedes Feld in Abbildung 3 enthält einen solchen Cluster von Lexemen mit besonders ähnlichen Kollokationsprofilen. Die farbliche Codierung zeigt zudem an, wie ähnlich die Lexeme im Vergleich zu „Ausländer“ (hell, im Original gelb) oder „Flüchtling“ (dunkel, im Original rot) sind. Nun wird sichtbar, dass „Flüchtling“ in ähnlichen Kontexten erscheint wie eine Reihe von Herkunftsbezeichnungen von typischen Emigrationsländern („Bosniake“, „Serbe“, „Kroate“, „Ruander“) oder Kriegsterminologie („Zivilbevölkerung“, „Offensive“, „Regierungstruppe“ etc.), die Fluchtgründe benennt. Sehr ähnlich wie „Ausländer“ sind jedoch Lexeme wie „Menschenhandel“, „Ausländerhass“, „aus-
Diskurslinguistik und Korpora
225
länderfeindlich“, „rassistisch“ etc., also Phänomene, die eintreten können, wenn Migrantinnen und Migranten im Inland thematisiert werden. Dazwischen stehen z. B. mit einer Nähe zu „Flüchtling“ Institutions- oder Menschenbezeichnungen, bei denen es um Flüchtlinge im Inland geht: „Neuankömmling“, „Waisenkind“, „Flüchtlingsrat“, „Abschiebehäftling“ usw. Ebenfalls zwischen „Ausländer“ und „Flüchtling“, jedoch näher bei ersterem, sind Bezeichnungen für gesellschaftlich diskriminierte Menschen wie „Schwule“, „Andersdenkende“, „Homosexuelle“, „Drogensüchtige“, „Kriminelle“. Es gäbe weitere Beobachtungen zu machen, doch bereits diese kurze Analyse zeigt wichtige Aspekte des Migrationsdiskurses (allerdings in einer bereits historischen Perspektive, da die zugrundeliegenden Daten nicht aktuell sind): „Flüchtlinge“ heißen Migrantinnen und Migranten dann, wenn sie im Kontext ihrer Fluchtgründe benannt werden. Erreichen sie das Inland, werden sie zu Ausländern, wobei dann nicht mehr die ursprünglichen Fluchtgründe bedeutend sind, sondern der Umgang mit ihnen im Inland. Die (diskurs-)linguistische Bedeutung dieser Methode ist bemerkenswert: Wir finden damit typische Verwendungsweisen eines bestimmten Wortes und wiederum Wörter, die ähnlich verwendet werden wie dieses, also Aussagemuster, die sich ähneln, obwohl deren Kerne auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben („Ausländer“ und „Homosexueller“). Es offenbaren sich Muster des Sagbaren in Diskursen. Daneben erhält man datengeleitet eine Übersicht über involvierte Akteure, Vorgänge oder Zustände, die tatsächlich inhaltlich etwas mit den verglichenen Ausgangslexemen zu tun haben oder aber einem ähnlichen Dispositiv entspringen.
5.2 Sprachgebrauchsmuster Sprachgebrauchsmuster können als Indikatoren für verschiedene Aspekte eines Diskurses gelesen werden (Bubenhofer 2009). Sie können korpuslinguistisch operationalisiert werden als Ketten von sprachlichen Einheiten wie Wortformen, Grundformen oder Wortartklassen, die typisch für ein bestimmtes Untersuchungskorpus (Diskurs X in Zeitung A) im Vergleich zu einem Referenzkorpus (alle Themen in Zeitung A) sind. Im einfachsten Fall werden dazu alle Wortformen-n-Gramme im Untersuchungs- und Referenzkorpus extrahiert und deren Frequenzen in den beiden Korpora verglichen. N-Gramme, die im einen Korpus im Vergleich zum anderen überzufällig häufig auftreten, sind demnach statistisch auffällig und lohnenswert, um sie als diskursspezifisch zu interpretieren. Anhand des Text+Berg-Korpus (Bubenhofer et al. 2013b) konnten wir mit dieser Methode zeigen, wie sich das Sprechen über Berge in Bergsteigerberichten des Schweizer Alpenclubs in 150 Jahren verändert hat (Bubenhofer/Scharloth 2011, 2013b; Bubenhofer/Schröter 2012). Auffallend für die 1880er- und 1890er-Jahre sind Muster wie „[Adjektiv] Stunde [Adjektiv] [Nomen]“ mit Realisierungen wie „halben
226
Noah Bubenhofer
Stunde angenehmer Steigung“, „halben Stunde weiteren Weges“ oder das Muster „[Präposition] [Artikel] Nähe [Artikel] [Nomen]“ mit Realisierungen wie „in der Nähe des Gipfels/der Grenze/des Muttensees“ etc. Die meisten Muster spiegeln einen logbuchartigen, sachlichen Stil wider, mit dem die Landschaft genau vermessen wird. In den 1930er- und 40er-Jahren sind Muster vorherrschend, die einen narrativen Stil vermuten lassen: „dann [Vollverb] [Artikel] [Nomen/Adjektiv]“ mit Realisierungen wie „dann kündet die Gipfelglocke“, „dann geschieht das Wunder“ etc. oder „[Adverb] [Vollverb] [Artikel] [Adjektiv] [Nomen]“ mit Realisierungen wie „draussen erwachte ein neuer Tag“, „dann kam ein trüber Tag“, „nun naht das schwierigste Stück“. Immer emotionaler und subjektiver wird diese Erzählweise in den 1960er- und 70er-Jahren, wo auch vermehrt Muster mit den Personalpronomen in erster Person Singular und Plural auftreten oder Ausrufe wie „… [Adjektiv] [Nomen] [Ausrufezeichen]“ – „War das ein wertvoller Fund!“, „Eine wunderbare Welt!“, „Welch andere Welt!“. Im Zusammenhang mit anderen korpuslinguistischen Erkenntnissen wird deutlich, dass der Diskurs des Sprechens über Berge zu einem Sprechen über sich selber in den Bergen wird.
5.3 Semantische Lesarten diachron Kollokationsprofile spiegeln typische Verwendungsweisen von Wörtern (siehe oben) wider. Die unterschiedlichen Verwendungsweisen müssen aber interpretativ aus dem Profil abgeleitet werden. Um solche Verwendungsweisen datengeleiteter aus einem Korpus zu berechnen, eignet sich die Anwendung eines Topic ModellingVerfahrens. Unter ‚Topic Models‘ werden verschiedene Ansätze zusammengefasst, die darauf zielen, Texte nach Themen zu clustern (Anthes 2010; Graham et al. 2012). Dabei sollen die Themen jedoch nicht vorgegeben, sondern aus den Daten abgeleitet werden. Vereinfacht gesagt werden Texte aufgrund der Wortverteilung, gemessen an einer bestimmten Wahrscheinlichkeitsverteilung, in Klassen aufgeteilt und die dafür charakterisierenden Wörter genannt. Der Algorithmus versucht die bestmögliche Klassifizierung zu finden, die aufgrund des Wortmaterials die Texte in möglichst homogene Gruppen aufteilt. Bei Rohrdantz et al. (2012) findet sich ein Ansatz, diese Methode zu verwenden, um semantische Veränderungen von Lexemen datengeleitet zu berechnen. Anstelle von Texten werden Belege des gesuchten Lexems klassifiziert und die Verteilung der unterschiedlichen Verwendungsweisen diachron abgebildet. So können beispielsweise die semantischen Facetten von „Terror“ herausgearbeitet werden (Bubenhofer/Scharloth 2015): „Al-Qaida-Terror“, „RAF-Terror“, „Brigade Rosse-Terror“ und weitere mehr. Während diese Lesarten einen starken historischen Bezug haben und wenig überraschend sind, sind Analysen abstrakterer Konzepte interessanter. Betrachten wir die semantischen Facetten von „Freiheit“.
Diskurslinguistik und Korpora
227
Die Datengrundlage ist ein Korpus aller Artikel des Magazins ‚Der Spiegel‘ von 1947 bis 2010 (237.620.381 Tokens, 307.111 Texte). Daraus werden alle Belege für das Lexem „Freiheit“ extrahiert, wobei jeweils ein Kontext von 25 Wörtern davor und danach berücksichtigt wird. Die 24.291 Belege, in lemmatisierter Form, werden nun einer LDA-Klassifikation (Blei et al. 2003) unterzogen. Da dem Clusteringalgorithmus eine Zielgröße der Anzahl der zu findenden Cluster übergeben werden muss, ist es sinnvoll, verschiedene Zielgrößen zu testen, um eine optimale Anzahl zu finden. Im Beispiel erwiesen sich zehn unterschiedliche Cluster als sinnvoll. Der Algorithmus kommt zu folgenden Clustern, charakterisiert durch die jeweiligen ‚Keywords‘:
#
Prob.
Keywords
Bezeichnung (manuell)
0
0,13
Kirche Recht Universität Gesetz Artikel Grundgesetz Professor Forschung Presse Lehre Student Grundrecht Wissenschaft Verfassung persönlich Staat akademisch Person Richter
Grundrechte/ Menschenrechte
1
0,27
Land Jahr Volk Präsident Krieg Polen kämpfen amerikanisch Regierung Sowjet Demokratie Amerika Kampf Welt politisch US Unabhängigkeit Tag USA
Erkämpfte Freiheit
2
0,3
mein Frau da Mann Leben Jahr Kind gut nehmen jetzt alt nun hier Tag leben jed nichts wo du
Persönliche Freiheit
3
0,73
Freiheit Mensch jed politisch Demokratie Staat ohne Recht frei sondern Deutschland denn ganz eigen weil gut Frage Gesellschaft Bürger
Freiheit und Demokratie
4
0,03
Mark Weg finanziell Bodo Schäfer Hans Campus Seite Verlag Euro Macht _( Leben NUMMER mein Hoffmann Bertelsmann Neger Campe
(keine sinnvolle Zuordnung)
5
0,08
Uhr Film Kunst künstlerisch ZDF ARD Autor Buch Regisseur Künstler TV − ord Theater Stück Schriftsteller Geschichte spielen Roman
(keine sinnvolle Zuordnung)
6
0,13
Jahr Gefängnis Monat entlassen Haft Tag drei verurteilen Woche Mann Gefangene Gericht Stunde letzt Häftling sitzen nun ins Arzt
Physische Freiheit
7
0,15
SPD CDU Sozialismus statt Partei FDP Strauß jung CSU Zeitung Kohl Deutschland Bonner Berlin Berliner Wahlkampf − Wissenschaft Woche
Parteipolitische Freiheit
8
0,1
Berlin West Million Ost New Berliner Prozent Jahr Mark York rund DDR Preis Westen Stadt Symbol amerikanisch Dollar Auto
BRD West/Ost-Freiheit
9
0,14
Freiheit Mensch Gleichheit Reich Gott Brüderlichkeit Revolution sondern Idee menschlich französisch Welt Jahrhundert Geschichte Ideal Marx Gerechtigkeit jen bürgerlich
Menschenrechte historisch
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Noah Bubenhofer
Abb. 4a–c: Distribution der Cluster auf die zeitliche Achse (Cluster 0, 2 und 3).
Diskurslinguistik und Korpora
229
Die Wahrscheinlichkeit (‚Prob.‘), mit der die Belege den Clustern zugeordnet werden können, ist nicht überall befriedigend. Insbesondere die Cluster 4 und 5 gehen wahrscheinlich auf Buch- und Filmanzeigen zurück, die auch nicht sehr oft im Korpus vorkommen. Für die anderen Cluster ist es aber aufgrund der Keywords möglich, Namen zu vergeben. Natürlich kann ein Blick in die Belege und die Zuordnungen bei der Interpretation helfen: Für jeden Beleg ist angegeben, mit welchen Wahrscheinlichkeiten die zehn Cluster zugeordnet worden sind. In einem weiteren Schritt kann die Verteilung der Häufigkeiten, mit denen die Cluster den Belegen zugeordnet worden sind, auf eine zeitliche Achse abgetragen werden (Abb. 4). Die Lesart ‚Grundrechte/Menschenrechte‘ nimmt bis in die 60er-Jahre zu, geht dann aber kontinuierlich zurück. Die Lesart ‚persönliche Freiheit‘ nimmt nach einem Tiefpunkt am Anfang der 60er-Jahre kontinuierlich zu und die Lesart ‚Freiheit und Demokratie‘ bleibt über die ganze Periode mehr oder weniger stabil, allerdings mit regelmäßigen Ausschlägen (die Debatte um die Volkszählung in den 1980er-Jahren in Deutschland könnte für den Ausschlag in dieser Zeit verantwortlich sein). Das Topic Modelling-Verfahren hat nicht nur datengeleitet zu möglichen semantischen Facetten von „Freiheit“ geführt, sondern macht es auch möglich, die 24.000 Belege zu klassifizieren und so Veränderungen in der Verwendungsweise festzustellen und somit ggf. eben auch Hinweise für diskursive Veränderungen zu haben.
5.4 Netzwerke Es ist inzwischen üblich geworden, ganz unterschiedliche Gegenstände als Netzwerk zu konzipieren. Im Grimm’schen Wörterbuch wird ‚Netzwerk‘ umschrieben als „etwas netzartiges: alle fächlein oder bläslein der läpplein in den lungen werden mit einem sehr subtilen netzwerke … umgeben. Zedler 23, 2021“ (DWB, „Netzwerk“). Besonders produktiv wurde der Netzwerkbegriff durch dessen Abstrahierung durch die Anwendung auf soziale Gefüge in den 1960er-Jahren (Mitchell 1969), sodass sich inzwischen eine eigenständige Netzwerkforschung entwickelt hat (Newman 2010; Stegbauer 2010). Im Kontext der Kulturgeschichte zeigten etwa Schich et al. (2014), wie aus trivialen Daten, nämlich den Geburtsorten/-daten und Sterbeorten/-daten von über 120.000 ‚bekannten Persönlichkeiten‘ ein interpretierbares Netzwerk entsteht: Werden die Geburts- und Sterbeorte als auf einer Karte georeferenzierte Knoten und die Bewegung der Personen als Kanten dazwischen visualisiert, wird im diachronen Vergleich sichtbar, welche Orte sich als kulturelle Zentren etablieren konnten oder diesen Status wieder verloren. Die quantitative Auswertung der Daten und insbesondere die Visualisierung als Netzwerk ermöglichen eine neue Sicht auf die Daten, die vorher nicht möglich war.
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Abb. 5: Die typische Bergsteigergeschichte: Netz von Kollokationen im Text+Berg-Korpus (vgl. https://www.bubenhofer.com/sprechtakel/2013/02/21/die-typische-bergtour/ für eine interaktive Version).
Auch Kollokationen lassen sich als Netzwerk auffassen, wobei die kollokierenden Wörter als Knoten mit einer Kantenverbindung, die ggf. die Assoziationsstärke visualisiert (etwa durch Dicke oder Länge). Abbildung 5 zeigt ein Kollokationsnetz auf der Basis von 1962 Texten (7.562.273 Tokens) aus dem Text+Berg-Korpus (Bubenhofer et al. 2013b), also von Bergsteigerberichten. Daraus wurden für alle Lexeme, die im Vergleich zu einem Referenzkorpus signifikant sind, Kollokatoren berechnet und als Netzwerk visualisiert. In Abbildung 7 ist ein Detail aus der Übersichtsdarstellung abgebildet. Bevor ein kurzer Blick auf die Inhalte des Netzwerkes geworfen werden soll, lohnt es sich, die Konstruktion des Netzwerkes als solches vor Augen zu führen. Die zugrundeliegenden (berechneten) Kollokationsdaten haben vereinfacht folgendes Format:
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Westwind → heftig Gewitter → heftig los+brechen → Blitz los+brechen → Gewitter Blitz → Gewitter flammen → Blitz grell → zucken grell → Blitz heftig → Kälte … Es ist unmöglich, durch Lesen solcher langer Listen einen Eindruck über das Ensemble der Verknüpfungen zu erhalten. Erst durch die Visualisierung als Netz kann sich ein Bild ergeben (Pfeffer 2010; für einen historischen Blick auf Visualisierungen von Netzwerken: Kruja et al. 2002). Allerdings stellt sich die Frage, wie die Knoten (Wörter) im Raum – und damit ist meist eine zweidimensionale Fläche gemeint – angeordnet werden sollen. Dafür können unterschiedliche Layoutalgorithmen verwendet werden (vgl. Abb. 6). Bei komplexen Netzwerken ist dies keine triviale Angelegenheit, da für jeden Knoten vielfältige Bedingungen gelten sollen, die sich widersprechen können (z. B. sowohl eine Verbindung zu einem weiteren Knoten ganz links als auch ganz rechts in der Fläche, gleichzeitig aber nicht zu nahe an einem dritten Knoten). Oft wird einem physikalischen Prinzip folgend ein Optimum der Positionierung der Knoten zu erreichen versucht. Ein häufiges Modell in der Gruppe der ‚force-directed‘ Layoutmodi nimmt zwei grundsätzlich wirkende Kräfte an: Einerseits werden die Knoten, als ob sie an Springfedern angemacht wären, ins Zentrum der Fläche gezogen, gleichzeitig stoßen sich Knoten aber gegenseitig ab, als ob sie elektrisch gleich geladen wären. Lässt man die Berechnung nach diesem Prinzip mehrfach über die Knoten iterieren, ergibt sich mit der Zeit eine optimale Darstellung. Es existieren verschiedene Spielarten dieses Prinzips, die z. B. auf schnelle Berechenbarkeit optimiert sind (Chen et al. 2008, 109; Pfeffer 2010). Schaut man sich nun das nach einem force-directed-Algorithmus (hier: Force Atlas) gelayoutete Kollokationennetzwerk genauer an, ergeben sich alleine durch die Anordnung der Knoten Cluster von Themen, die plausibel gedeutet werden können. Vgl. etwa in Abbildung 7 die Cluster zum Wetter und zum Essen, die offenbar Konstanten in den Bergsteigerberichten sind. Man sieht aber auch Knoten, die für mehrere Cluster bedeutend sind, etwa „Hagel“, der sowohl über „prasselt“ eine Verbindung zum „Feuer“-Cluster hat („Feuer prasselt“), als auch über „Gewitter“ zum Wetter-Cluster. Darstellungsbedingt kommt „Hagel“ aber über den Essen/Trinken-Cluster zu liegen; würde man für das Layout eine dreidimensionale Darstellung wählen, würde der Layoutalgorithmus eine bessere Lösung finden können (vgl. zu diesem Problem der Dimensionsreduktion Abschnitt 2.2).
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c)
d) Abb. 6a–d: Verschiedene Netzwerklayouts der gleichen Daten: a) Zufällige Anordnung, b) Force Atlas, c) Fruchterman Reingold, d) Yifan Hu.
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Abb. 7: Ausschnitt aus dem Kollokationsgraph der Bergsteigerberichte.
In der Netzwerkforschung wurden verschiedene statistische Maße entwickelt, um Aussagen über das Netzwerk machen zu können. So gibt es unterschiedliche Zentralitätsmaße, um zu messen, wie ‚wichtig‘ ein Knoten im Netzwerk ist (Newman 2010, 168). Die ‚betweenness centrality‘ drückt beispielsweise aus, wie oft ein Knoten durchlaufen wird, wenn man alle möglichen Verbindungen zwischen allen Knoten im Netz in Betracht zieht und jeweils den kürzesten Weg wählt (Newman 2010, 185). Im Beispiel oben wurde die Louvain-Methode (Blondel et al. 2008) angewandt, um ‚Communities‘ von Knoten zu entdecken, die viele Verbindungen untereinander, aber wenige mit anderen Knoten aufweisen. Es ist naheliegend, Methoden der Netzwerkforschung für diskurslinguistische Zwecke zu nutzen – und zwar sowohl indem 1) Akteure oder Artefakte (bzw. ihre Eigenschaften) als Netzwerk modelliert werden (analog dem ersten Beispiel oben
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von Schich et al.), als auch 2) indem sprachliche Eigenschaften des zugrundeliegenden Textkorpus als Netzwerk aufgefasst werden. Letzteres ist eine primär diskurslinguistische Herangehensweise, während ersteres ganz generell für diskursanalytische Fragestellungen auch in anderen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen eine Rolle spielt.
6 Fazit Die Korpuslinguistik kann für die Diskursanalyse eine Hilfswissenschaft sein, um bestimmte Thesen oder Phänomene in großen Datenmengen effizient zu untersuchen. Sie kann aber, das hoffe ich gezeigt zu haben, auch viel mehr sein: Der Schlüssel zu einem neuen Verständnis, wie wir in den Geisteswissenschaften mit Daten umgehen. Daraus ergeben sich Möglichkeiten für neue Fragestellungen, kombiniert mit einer äußerst wichtigen Diskussion und Reflexion über das Zusammenspiel von Methoden und theoretischen Annahmen. Bereits die Art und Weise, wie Daten repräsentiert werden – numerisch in einem Vektorraum statt als Texte in einer Datenbank – hat einen Einfluss darauf, unter welchen theoretischen Prämissen die Daten analysiert werden können. Häufig benutzte Methoden wie das Topic Modelling oder die Repräsentation von Objekten als Netzwerk basieren auf Algorithmen, die in den Geisteswissenschaften nur zu gern als Black Box verwendet werden. Die Auseinandersetzung mit den zugrundeliegenden Algorithmen gehört jedoch genauso zu den theoretischen Prämissen wie die Entscheidung, eine Diskurslinguistik eher nach der ‚Düsseldorfer Schule‘ oder als ‚Critical Discourse Analysis‘ zu betreiben (Spitzmüller/Warnke 2011, 81). Visualisierungsmethoden zur Exploration von Daten beeinflussen ebenfalls markant die methodischen Zugänge, wobei deren Status im Forschungsprozess, gerade wenn man es mit sprachlichen Daten zu tun hat, noch nicht hinreichend reflektiert ist (Bubenhofer/Scharloth 2015, 16; siehe für den Vorschlag einer New Visual Hermeneutics: Kath et al. 2015). Wir haben unlängst vier Desiderate formuliert, die im Rahmen einer sozialund kulturwissenschaftlich interessierten maschinellen Textanalyse verfolgt werden sollten (Bubenhofer/Scharloth 2015), die ich hier wiederholen und um einen Aspekt ergänzen möchte: – Die maschinelle Textanalyse braucht einen integrierten Textbegriff: Die meisten Methoden des Data-Minings und der Computerlinguistik gehen von sogenannten ‚Bag of Words‘-Ansätzen aus: Ein Text (oder eine kleinere Einheit) besteht aus einer Menge von Wörtern, die jedoch ihrer Sequenzialität entrissen werden. Bei der oben dargestellten Methode des Topic Modellings spielt die Position des Wortes im Text oder Textausschnitt für die Bestimmung der Clusterzugehörigkeit keine Rolle. Text – und auch Diskurs – wird also meistens nicht als komplexes Gewebe operationalisiert. Das liegt nicht an technischen Beschränkungen, sondern daran, dass sich die Geisteswissenschaften bislang zu
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wenig für maschinelle Methoden interessierten und ihre Sicht einfließen ließen. Ein Versuch, Narrative in Geschichten vom ‚Ersten Mal‘ datengeleitet zu berechnen, liegt vor und zeigt das Potenzial, über die ‚Wortsäcke‘ hinwegzukommen (Bubenhofer et al. 2013a). Die maschinelle Textanalyse braucht valide Modelle: Methoden des DataMinings müssen funktionieren, nicht aber unbedingt erklären können. Für die maschinelle Autorschaftsattribution mag ein Ansatz, der ein Modell auf der Basis von Buchstaben-n-Grammen verwendet, funktionieren, um Texte mit unbekannter Autorschaft einem Autor/einer Autorin zuzuweisen. Das Modell hat aber aus linguistischer Sicht keinen erklärenden Wert, da Buchstaben-nGramme keine linguistischen oder literaturwissenschaftlichen Stilbegriffe operationalisieren. Für die Sozial- und Kulturwissenschaften sind demnach Modelle wichtig, die hinsichtlich des zu Operationalisierenden valide sind (Kath et al. 2015; Lemke/Stulpe 2015) und die White-box- statt Black-box-Algorithmen verwenden (Rieder/Röhle 2012). Die maschinelle Textanalyse braucht neue Methoden der Visualisierung: Auch Visualisierungen sind nicht nur ein Hilfsmittel, um Ergebnisse übersichtlich darzustellen, sondern – wie das Beispiel zu den Netzwerken oben gezeigt hat – ein hermeneutisches Mittel zur Datenanalyse. Schon länger firmieren unter Labeln wie ‚Visual Analytics‘ oder ‚Scientic Visualization‘ Paradigmen, die im Data-Mining erfolgreich eingesetzt werden (Chen et al. 2008; Keim et al. 2010). Obwohl die Linguistik eine lange Tradition von Visualisierungstechniken als exploratives Mittel aufweist (Dialektkarten, Gesprächstranskriptionen, Key Word in Context-Darstellungen etc.), steckt die Reflexion darüber, welchen Effekt diese Visualisierungen auf die Sprachdaten haben und wie sie im Forschungsprozess eingebettet sind (Stichwort „Macht der visuellen Evidenz“: Rieder/Röhle 2012), in den Anfängen. Die diagrammatische Forschung dazu zeitigt interessante Überlegungen, die intensiviert werden müssen (Bauer/Ernst 2010; Krämer 2009; Steinseifer 2013; Stjernfelt 2007). Zudem ergeben sich mit digitalen Daten neue Möglichkeiten von Visualisierungsformen, die erkundet werden sollten. Die maschinelle Textanalyse braucht eine Forschungsethik: Digitalisierung sind nicht nur Zahlen, Daten, Informationen und Algorithmen, sondern der Umgang damit ist Praxis. Diese Praxis gilt es zu hinterfragen, da sie eine Reihe von ethischen Problemen berührt. Darunter fallen die forschungsethischen Grundprinzipien, etwa wenn individuelle Spuren in großen Datenmengen nachgezeichnet werden können, oder Gleichbehandlung, wenn der Zugang zu Daten und Analysetools beschränkt ist oder bestimmte Personengruppen von der Datenanalyse ausgeschlossen sind, da ihre Daten weniger gut greifbar sind. Zusätzlich wird der Ausgleich zwischen Urheber-/Verwertungsrechten und informationsethischen Grundprinzipien in Frage gestellt – nur ein Beispiel: Was ist höher zu gewichten, das Gemeininteresse an Informationen oder die kommerzielle Verwertung derselben?
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Die maschinelle Textanalyse braucht eine Reflexion über Coding Cultures: Programmiersprachen, die verwendet werden, um Algorithmen zu implementieren und daraus Software zu bauen, werden gemeinhin als neutrales Werkzeug angesehen. Die Entscheidung über die Wahl der Programmiersprache als höchstens ingenieurtechnisch interessante Trivialität. Aus der Innensicht des Programmierers ist aber klar, dass Programmierer/innen unterschiedlicher Programmiersprachen „different cultures, different tribal folklores, that they use to organize their working life“ (Ford 2015) haben. Software ist „a theoretical category […] still invisible to most academics, artists, and cultural professionals interested in IT and its cultural and social effects“ (Manovich 2014) – und ich würde weitergehen: Die Praxis der Softwareerstellung ist es ebenso, da die Praxis des Programmierens eine zutiefst kulturelle Praxis ist. Im Bereich der Visualisierung haben technologische Neuerungen (HTML5, SVG) zu einer völlig neuen Praxis der Visualisierung geführt, wie an sog. Bibliotheken für JavaScript, eine populäre Scriptsprache für Webanwendungen, gezeigt werden kann. D3.js oder P5.js sind Beispiele für solche Bibliotheken, deren technische Grundlagen und Möglichkeiten ähnlich sind, mit denen jedoch sehr unterschiedliche Kulturen verknüpft sind. In einem interaktiven Präsentationsvideo von P5.js (http://hello.p5js.org/) gibt die Hauptentwicklerin Lauren McCarthy dieses OpenSource-Projekts den unkomplizierten, undogmatischen Stil vor, in dem mit der Sprache programmiert werden soll. Dies kontrastiert bereits mit der ernsteren Selbstpräsentation von D3 (http://www.d3js.org) und größtmöglich etwa mit Auftritten des ehemaligen CEO von Microsoft, Steve Ballmer, der an Entwicklerkonferenzen zur Befeuerung „Developers“ bis zur Heiserkeit schreit. Dem Programm sieht man an, welcher Programmierkultur es entspringt und die Programmierkultur befördert einen bestimmten (wissenschaftlichen) Denkstil (nach Ludwik Fleck, 1980).
Der Diskurslinguistik ist zuzutrauen, diese metareflexiven Aufgaben angehen zu können.
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Martin Wengeler
10. Diskurslinguistik als Argumentationsanalyse Abstract: Die Argumentationsanalyse hat sich im letzten Jahrzehnt zu einer wichtigen diskurslinguistischen Analysemethode entwickelt. Insbesondere der ToposBegriff, der auf Plausibilität und nicht auf logische ‚Wahrheit‘ zielt, ist dabei in Anspruch genommen worden. Daher wird in diesem Artikel zunächst die ToposAnalyse als diskurslinguistische Methode hergeleitet und begründet. Mit diesem Begriff arbeitende diskurslinguistische Studien werden exemplarisch vorgestellt, wobei insbesondere Erweiterungen der Topos-Analyse zu Mehrebenenanalysen fokussiert werden. Die Kritische Diskursanalyse untersucht neben Topoi argumentative Trugschlüsse, die sie in die Lage versetzen, manipulative Züge öffentlicher Diskurse aufzuzeigen und zu kritisieren. Die Analyse von Einzeltopoi als auf Diskursinhalte bezogene Methode wird zudem erweitert bzw. ergänzt durch eine stärker Diskursstrukturen ins Auge fassende Analyse eines komplexen topischen Musters. Dieses findet sich bei allen öffentlich kontrovers diskutierten Fragestellungen, es wird aber im Einzelnen unterschiedlich ausgefüllt, woraus sich spezifische topologische Diskursformationen ergeben. Nicht mit dem Topos-Begriff operierende Analysen prototypischer Argumente ergänzen die ‚Werkzeugkiste‘ diskuslinguistischer Methoden der Argumentationsanalyse.
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Einleitung Topos als diskurslinguistisches Analyse-‚Werkzeug‘ Topos-Analysen als ein Instrument der Linguistischen Diskursgeschichte Topos-Analysen in der Kritischen Diskursanalyse Komplexe topische Muster in Diskursen Analyse prototypischer Argumente Literatur
1 Einleitung Ich beginne mit drei Zitaten, die einen ersten Eindruck davon geben sollen, dass das hier zu Beschreibende inzwischen als anerkannte Methode der Diskurslinguistik gelten kann. Sie lassen auch anklingen, warum und inwiefern das der Fall ist – was dann im Folgenden näher ausgeführt wird: Eine linguistische Diskursanalyse im Anschluss an die epistemologische […] Forschungsperspektive von Foucault sollte das verstehensrelevante und -ermöglichende Wissen in möglichst großer Breite theoretisch zu erfassen und empirisch zu beschreiben versuchen. […] Elemente https://doi.org/10.1515/9783110296075-010
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des verstehensrelevanten Wissens sind in Sprachphilosophie und Linguistik in verschiedenen Formen (Formaten) thematisiert und erforscht worden: […] – sie können argumentationsanalytisch zu den Stützungselementen einer textbasierenden Schlussregel gehören [Fn.: […] in der Diskursanalyse ist der darauf [auf Kopperschmidts Argumentationsanalyse] aufbauende topologische Ansatz […] wegweisend geworden]. (Busse 2008, 62–63) Dass Diskurse auch argumentative Strategien aufweisen, zeigt besonders deutlich das ToposKonzept. […] Wir weisen […] auf die Wichtigkeit der topologischen Strukturen im Diskurs hin, die rein inhaltsorientierte Analysen deshalb entscheidend ergänzen, weil auch sie implizite Ebenen in Textvernetzungen erkennbar machen. Die diskurslinguistische Toposanalyse gehört zu den zentralen und erfolgreichen Konzepten der transtextuell orientierten Linguistik. (Spitzmüller/Warnke 2011, 191) Möchte man also die typische Argumentationsweise eines Diskurses analysieren, so bedarf es eines „grobkörnigeren“ Verfahrens [als es die Argumentationsanalyse nach Toulmin bereithält] […]. Dieses Verfahren sollte weniger auf die einzelnen Bestandteile von Argumentationen in Texten abzielen, sondern den Blick auf das Diskursganze richten helfen. Dies dürfte am ehesten dadurch ermöglicht werden, dass der Blick auf Makrostrukturen gerichtet wird. (Niehr 2014, 111)
Diese Einschätzungen des Zusammenhangs von Argumentationsanalyse und Diskurslinguistik zeigen, dass der im Gründungstext der deutschsprachigen Diskurslinguistik von Busse/Teubert (1994, vgl. dazu auch Busse 2013) vor über zwanzig Jahren formulierte Vorschlag, die Argumentationsanalyse als eine Methode der linguistischen Diskursanalyse zu nutzen, weil sie „in einer Art von ‚Tiefensemantik’ das Nicht-Gesagte, nicht offen Ausgesprochene, nicht in den lexikalischen Bedeutungen explizit artikulierte Element von Satz- und Textbedeutungen zu analysieren und offenzulegen“ (Busse/Teubert 1994, 23) erlaube, inzwischen umgesetzt worden ist und zu interessanten Ergebnissen geführt hat. Die Textsorte Handbuch-Artikel ist mit der Gefahr verbunden, etwas zu Papier zu bringen, was schon in anderen Zusammenhängen so und ähnlich niedergelegt worden ist. Daher kann ich es den mit dem Ansatz der diskurslinguistischen Argumentationsanalyse Vertrauten nicht ersparen, hier noch einmal die Herleitung und Begründung der Topos-Analyse als diskurslinguistische Methode rekapituliert zu lesen (Kap. 2). Daraus abgeleitete diskurslinguistische Studien werden im Anschluss daran exemplarisch vorgestellt (Kap. 3). Dabei soll aber das Augenmerk insbesondere auf Erweiterungen des eigenen methodischen Verfahrens gelegt werden. Zudem werden drei anders begründete argumentationsanalytische Methoden präsentiert, die ebenfalls diskurslinguistische Interessen verfolgen und als Alternativen oder Ergänzungen zum zu Beginn vorzustellenden Ansatz betrachtet werden können. Es handelt sich um die argumentationsanalytischen Ansätze der Kritischen Diskursanalyse (Kap. 4), um Josef Kleins politolinguistisches Konzept komplexer topischer Muster (Kap. 5) sowie um Thomas Niehrs Analysen prototypischer Argumente (Kap. 6). Ein kurzer Ausblick soll den Beitrag beschließen.
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2 Topos als diskurslinguistisches Analyse-‚Werkzeug‘ Das Ziel diskurslinguistischer Untersuchungen ist es – insbesondere wenn sie im Sinne Fritz Hermanns‘ (1995) auch als eine mentalitätsgeschichtliche Methode verstanden werden –, Erkenntnisse über das Denken, Fühlen und Wollen von Individuen und Gruppen und somit über das soziale Wissen, die Konstruktion bzw. Konstitution sozialer Wirklichkeiten durch Sprache zutage zu fördern. Dieses gesellschaftliche Wissen kann – nicht nur, aber auch – bezüglich thematisch bestimmter öffentlicher Themenfelder untersucht werden, was in bisherigen diskurslinguistischen Studien zumeist über öffentlich zugängliche Quellen wie z. B. Pressetexte praktiziert wurde. In diesen Quellen, die zu mehr oder weniger großen Textkorpora zusammengestellt werden, deren Auswahl wiederum gut zu begründen ist, kommt ‚Wissen‘, d. h. das zu einer bestimmten Zeit von bestimmten Gruppen für ‚wahr‘ oder ‚richtig‘ Gehaltene entweder explizit zur Sprache oder es wird in sprachlichen Äußerungen, in den Texten als verstehensrelevantes Hintergrundwissen zu Grunde gelegt und evoziert. Da es in öffentlichen Diskursen zumindest in demokratisch verfassten, heterogenen Gesellschaften immer auch um das Durchsetzen von Überzeugungen, Entscheidungen, Maßnahmen, Vorhaben geht, muss für diese und gegen konkurrierende Weltsichten, Vorschläge etc. argumentiert werden. In Argumentationen geht es – wie es eine verbreitete Definition ausdrückt –, darum, kollektiv Fragliches in kollektiv Geltendes (Wissen, so könnte man hinzufügen) zu überführen bzw. – um es an Habermas‘ Diskurstheorie anzuschließen – zu einem gesellschaftlichen Konsens bezüglich einer Fragestellung zu kommen. Was sich als verbreitetes, von vielen oder den meisten anerkanntes Wissen dabei durchsetzt, muss mit Wahrheit oder Richtigkeit nichts zu tun haben, ist dementsprechend auch dynamisch und veränderbar und dadurch auch erst untersuchenswert. Unterstellt man dieses diskurslinguistische Erkenntnisinteresse und die erwähnte Relevanz von Argumentationen, so liegt es nahe, zum einen – zumindest auch – eine argumentationsanalytische Herangehensweise zu wählen und zum zweiten in dem Zusammenhang eine Begrifflichkeit und ein Konzept zu wählen, das es erlaubt, die ‚nur‘ plausiblen, überzeugungskräftigen, aber nicht unbedingt logisch ‚wahren‘ Argumente zu erfassen, mit denen in öffentlich-politischen Debatten Meinungen, Beschlüsse, Handlungen begründet werden. Solche Konzepte und Begriffe liefern die antike Rhetorik im Allgemeinen und die Tradition der Topik im Anschluss an Aristoteles im Besonderen. Der Begriff des Topos erweist sich dabei im Anschluss an seine Wiederentdeckung durch die moderne Rhetorik als ein geeignetes Instrument, um transtextuell in öffentlichen Diskursen zum Ausdruck kommendes oder auch nur mit-gemeintes ‚Wissen‘ erfassen und beschreiben zu können. Der Topos-Begriff geht auf Aristoteles‘ Ausarbeitung der antiken Redelehre zurück. Topos wird dabei im Rahmen der Erörterung der sog. Enthymeme eingeführt.
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Diese werden von ihm auch als rhetorische Syllogismen bezeichnet, was sowohl auf Ähnlichkeiten wie auf Unterschiede zum wissenschaftlichen Syllogismus zielt: Syllogismus verweist darauf, dass auch diese Schlussverfahren die Struktur eines wissenschaftlichen Syllogismus haben, das Attribut rhetorisch darauf, dass es nicht um formallogisch strenge, auf Wahrheit zielende Schlüsse geht, sondern um quasilogische oder alltagslogische Schlussverfahren, die auf Wahrscheinlichkeiten, auf Plausibilitäten zielen. Das macht den Begriff Topos für auf Diskurse zielende Analysen attraktiv. In der Neuen Rhetorik wird er von Perelman/Olbrects-Tyteca (2004), Kopperschmidt (1989) und Kienpointner (1992) wieder aufgegriffen, differenziert und für sprachwissenschaftliche Analysen nutzbar gemacht, während der Literaturwissenschaftler Lothar Bornscheuer (1976) vier Strukturmerkmale des Topos herausarbeitet, die den Begriff als ein geeignetes Konzept für diskursanalytische Erkenntnisinteressen ausweisen. Die beiden Letzteren, Kienpointners „Alltagslogik“, die sozusagen die Synthese und die auf das 20. Jahrhundert übertragene Quintessenz seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Topos-Begriff seit der Antike darstellt, sowie Bornscheuers Strukturmerkmale des Topos werden im Folgenden noch einmal zur theoretischen Begründung der Topos-Analyse als diskurslinguistische Methode rekapituliert (vgl. dazu ausführlich Wengeler 2003). Kienpointner entwirft dabei im Anschluss an die lange Tradition von ToposKatalogen eine eigene Typologie von kontextabstrakten Argumentationsmustern (=Topoi), die den Anspruch erhebt, die in geschriebenem und gesprochenem Standard-Deutsch der Gegenwart anzutreffenden Argumentationsschemata annähernd vollständig zu erfassen und damit für die Untersuchung von Argumentationsschemata in anderen Varietäten des Deutschen (und anderen Sprachen) eine Grundlage zu liefern. (Kienpointner 1992, 47)
Schon zehn Jahre zuvor hatte er das Ziel seiner Typologie, das für diskurslinguistische Zwecke relevant ist, wie folgt benannt: Wenn es gelänge, die Zuordnung konkret realisierter Argumente zu einzelnen Argumenttypen „aufgrund plausibler Kriterien“ zu klären, können anhand der Frequenz bestimmter Typen interessante Fragen beantwortet werden wie etwa, welche topoi bzw. aus diesen gewonnene Argumente für (bestimmte Subgruppen) eine(r) Sprachgemeinschaft besonders charakteristisch sind […]. Diachron könnte die Ab-/Zunahme bestimmter Argumenttypen festgestellt werden; so dürften in den letzten Jahren Argumente nach dem ‚Endpunkt‘-topos […] zunehmend häufiger geworden sein. Argumente mit einem ‚Endpunkt‘ versuchen zu begründen, daß eine Kette von verursachenden Handlungen unweigerlich bis zu einem Endpunkt in einer Entwicklung führen wird. (Kienpointner 1982, 180)
Mit seinen sechzig kontextabstrakten Argumentationsmustern geht es Kienpointner also vor allem um Topoi, die „für das Argumentieren großer Subgruppen der deutschen Sprechgemeinschaft typisch sind, insbesondere in der politischen Argumentation“ (1992, 235), und die „somit zum ,kollektiven Wissen‘ einer Sprachgemeinschaft gehören“ (1982, 181) bzw. eben von bestimmten Gruppen zu einer be-
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stimmten Zeit. In einer diskurslinguistischen Untersuchung geht es weitergehend auch darum, die Unterschiede in der Verwendung typischer Topoi zwischen verschiedenen Gruppen zu einem Zeitpunkt und zwischen diesen Gruppen zu verschiedenen Zeitpunkten in einem Themenbereich herauszufinden. Kienpointners Typologie kontextabstrakter Muster des Argumentierens ist eine gute Grundlage und Orientierung für eine diskursgeschichtlich ausgerichtete Argumentationsanalyse. Bei dieser geht es aber, soweit und weil sie an Inhalten interessiert ist, um kontextspezifische, d. h. inhaltlich ‚gefüllte‘ Topoi. Diese Differenzierung zwischen kontextabstrakten und kontextspezifischen Mustern ist ebenfalls bereits bei Aristoteles angelegt. Aristoteles unterscheidet zwischen allgemeinen und besonderen Topoi, was auch von Kopperschmidt (1991) mit den Begriffen der formalen und der materialen Topik wieder aufgegriffen wird. Während es beim ersten Begriff dieser Gegenüberstellungen – wie auch bei Kienpointners kontextabstrakten Mustern – um die allgemeinen, unabhängig von jeglicher inhaltlichen Spezifizierung verwendbaren Schlussregeln einer Argumentation wie etwa das a-minore-/a-maioreSchema (a minore: „Wenn sogar p, und d. h.: wenn sogar das weniger Plausible gilt, dann gilt erst recht q bzw. das mehr Plausible“, Kopperschmidt 1989, 182–183; a maiore: ‚Wenn schon p, d. h. das mehr Plausible nicht gilt, dann gilt erst recht nicht q, d. h. das weniger Plausible‘, vgl. ebd., 179–180) oder den Kausalschluss (als normatives Grund-Folge-Schema: Handlung A führt zu Folge B. B ist positiv/negativ zu bewerten. Also: Handlung A ist positiv/negativ zu bewerten und daher zu vollziehen/zu unterlassen, vgl. Kienpointner 1996, 149) geht, sind mit dem zweiten Begriff die inhaltlich gefüllten Herstellungen konkreter Sachverhaltszusammenhänge gemeint. Bei Aristoteles geht es dabei um verschiedene wissenschaftliche Disziplinen wie Ethik oder Physik, der Gedanke ist aber übertragbar auf nicht-wissenschaftliche Bereiche, auf öffentlich diskutierte Themenfelder. Die seit der Antike geführte Diskussion, ob Topoi eher formalen Charakter haben oder ob sie eher inhaltlich bestimmt sind, kann für diskurslinguistische Zwecke dahingehend genutzt werden, dass Topos als eine eher inhaltlich bestimmte Kategorie aufgefasst wird – auch wenn die kontextspezifischen Topoi sich auf formale Schlussmuster zurückführen lassen. Die den „besonderen Topoi“ der Tradition nahekommenden Topoi/Argumentationsmuster lassen sich in jedem inhaltlich bestimmten Diskurs auffinden, ihre Analyse und evtl. die Auszählung ihrer Häufigkeit können Aussagen liefern über typische, wichtige oder dominante Denkweisen, Sichtweisen, Wahrnehmungsmuster bestimmter Gruppen, in einem bestimmten Zeitraum, bezogen auf ein bestimmtes Thema. Dieser Mittelweg zwischen universalem formalem Schema und konkreter Sachargumentation erscheint mir für diskurslinguistische Zwecke am fruchtbarsten zu sein. Es gilt, für den jeweils zu untersuchenden Diskurs eine Typologie themen- bzw. kontextspezifischer Argumentationsmuster zu entwerfen, die zwischen formaler und materialer Topik anzusiedeln ist. D. h. in den meisten Fällen werden als ‚Argumentationsmuster‘ inhaltlich-kategorial bestimmte Topoi formuliert. Das entspricht eher einer ‚materialen Topik‘. Andererseits werden auch einige im klassischen Sinne formale Muster berücksichtigt wie etwa der Auto-
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ritäts- oder Beispiel-Topos. Zum Teil schwanken die Topoi auch zwischen materialer und formaler Topik. In jedem Fall sind sie in Anlehnung an formale Muster definiert, erweisen sich aber durch ihre inhaltliche Bestimmtheit als Bestandteile einer materialen Topik. Diese argumentationstheoretische Ungenauigkeit ist mit den inhaltlichen Analysezielen zu rechtfertigen, obwohl sie bei der konkreten Analyse zu Zuordnungs- und Abgrenzungsproblemen beitragen kann. Beispiele für solche Topoi werden im folgenden Kapitel über spezifische argumentationsanalytisch untersuchte Diskurse angeführt. Zuvor soll auch mit Bornscheuers Rekonstruktion des Aristotelischen ToposBegriffs verdeutlicht werden, inwiefern Toposanalysen für diskurslinguistische Erkenntnisinteressen fruchtbar sind: Lothar Bornscheuer (1976) leitet vom aristotelischen Topos-Begriff vier Strukturmerkmale des Topos her: Ein Topos ist habituell, das heißt gewohnheitsmäßig und kollektiv verbreitet und abrufbar. Sein Potenzialitätsmerkmal begründet die relative Abstraktheit der Topoi: Sie können als Denkund Argumentationsmuster jeweils für und gegen die in Frage stehenden Positionen eingesetzt werden. Das Intentionalitätsmerkmal betont, dass die sprechenden Individuen mit ihren Interessen und Intentionen die vorhandenen Denkmuster, Topoi, Bedeutungen zwar auch perpetuieren (Habitualitätsmerkmal), sie aber gleichzeitig mit jeder sprachlichen Handlung modifizieren. Das Symbolizitätsmerkmal hebt darauf ab, dass Topoi in verschiedener Weise sprachlich/symbolisch realisiert werden können. Diese Merkmale weisen den Topos-Begriff als brauchbar für solche diskursgeschichtlichen Analysen aus, die einerseits davon ausgehen, dass sprachlich Handelnde Bedeutungen/gesellschaftliches Wissen mit ihren einzelnen individuellen Handlungen konstituieren und in jeder einzelnen Sprechhandlung auch minimal verändern (Intentionalitätsmerkmal), die andererseits aber auch annehmen, dass sie dies nur im Rahmen des geschichtlich, sozial, diskursiv im Moment der Sprachhandlung Denk- und Sagbaren tun (Habitualitätsmerkmal).
3 Topos-Analysen als ein Instrument der Linguistischen Diskursgeschichte Mit dem Ausdruck Diskursgeschichte in der Kapitelüberschrift hebe ich speziell auf die Spielarten der Diskursanalyse ab, die den Wandel kollektiven Wissens, das zu verschiedenen Zeiten gesellschaftlich Sagbare in den Mittelpunkt ihres Untersuchungsinteresses stellen. Als Linguistische Diskursgeschichte geht es dementsprechend – im Kontrast zu Diskursanalysen der Historiker oder wissenssoziologischen Studien – um solche Ansätze, die den Wandel mit linguistischen Methoden untersuchen. Dabei haben sich in der Sprachwissenschaft zwei historisch ausgerichtete diskursanalytische ‚Schulen‘ entwickelt. Die eine versucht, Dietrich Busses Programm einer Historischen Semantik in empirischen Forschungen vor allem zur Geschichte des 20. Jahrhunderts umzusetzen. Bei der anderen handelt es sich um den
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Wiener diskurshistorischen Ansatz (DHA), auf den im nächsten Kapitel eingegangen wird. In der ersten ‚Schule‘ werden der Bedeutungswandel zentraler Schlüsselwörter, der Wandel metaphorischer Konzepte sowie von Argumentationsmustern bzw. Topoi in öffentlich verhandelten Themenfeldern untersucht (vgl. u. a. Niehr 2014, Kap. 4). Diese Analyseebenen werden inzwischen, wie Spieß resümiert, in „Mehrebenenmodellen“ der Analyse integriert, „deren Ziel darin besteht, den Diskurs in seiner Komplexität adäquat zu beschreiben.“ Dabei komme der Analyse von Argumentationen […] eine besondere Rolle zu, da Argumentationen u. a. die lexikalische und metaphorische Ebene in ihren Dienst nehmen. In der Handlung des Argumentierens, die zwar unterhalb der Textebene realisiert wird, aber textübergreifende diskursive Ausformungen zeitigt, laufen verschiedene Diskursebenen zusammen: die Ebene der Lexik, der Einzelhandlung, der Text- und der Diskurshandlung. (Spieß 2017, 864)
In diesem Sinne nehmen viele neuere Untersuchungen verschiedene Untersuchungsebenen in den Blick und versuchen sie zu integrieren. Diskurslinguistische Topos-Analysen können aber auch isoliert von anderen sprachlichen Untersuchungsobjekten wie der Lexik oder der Metaphorik, die immer Bestandteile von Argumentationsmustern sind und deren Funktion für oder in diesen Mustern mitberücksichtigt werden kann, praktiziert werden. Das habe ich im Anschluss an die oben skizzierte Begründung der Topos-Analyse als diskurslinguistische Methode für den bundesdeutschen Diskurs um Arbeitsmigration in den Jahren 1960 bis 1985 erprobt (vgl. Wengeler 2003). Es geht dabei um die Erfassung und Beschreibung der in dieser Zeit quantitativ dominanten und von bestimmten Gruppen bevorzugt verwendeten Topoi pro und contra Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Das Ziel war, das kollektive und sich jeweils öffentlich durchsetzende ‚Wissen‘ zu diesem Themenfeld zu eruieren. Ein diskurshistorisch interessantes und auch für aktuelle Migrationsdiskurse relevantes Ergebnis ist dabei, dass zwar auch Argumentationsmuster und Denkweisen in Erscheinung treten, die zeittypisch für vergangene Jahrzehnte sind (z. B. der Gefahren-Topos in einer Ausprägung, die in den 1960er Jahren mit der Gefahr kommunistischer Infiltration von Betrieben durch südeuropäische Gastarbeiter oder mit der Gefahr des Einschleppens von Krankheiten contra Zuwanderung argumentiert, oder der Verlagerungs-Topos, der in den 1970er Jahren contra Einwanderung empfiehlt, doch die Arbeit zu den Arbeitern zu bringen statt die Arbeiter nach Deutschland kommen zu lassen), dass andere Topoi aber im gesamten Zeitraum des untersuchten Migrationsdiskurses vorkommen und eine lange Kontinuität hinsichtlich des ‚Wissens‘ und Wollens zum Thema Zuwanderung nach Deutschland zeigen. Gemeint sind damit z. B. Belastungs- und Missbrauchs-Topoi auf der einen (contra Zuwanderung) oder Humanitäts-, Realitäts- und der Topos vom wirtschaftlichen Nutzen auf der anderen Seite (pro Zuwanderung). Die Arbeit kommt zu dem Schluss, dass – entgegen der diskurskritischen Einschätzung, ‚der‘ Diskurs über Zuwanderer in Deutschland sei fremdenfeindlich und ablehnend (auch wenn dies für bestimmte Gruppen und auch hinsichtlich konkreter politischer Maßnahmen zutrifft) – bei einer quan-
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titativen Auswertung der Pressekorpora festzustellen ist, dass auch pro Zuwanderung oder Zuwanderer vorgebrachte Argumentationen den öffentlichen Diskurs mit-prägen. Diese bestätigen allerdings auch die Einwanderer-ablehnenden Tendenzen dadurch, dass sie zunehmend (in den 1980er Jahren) defensiv gegen Forderungen nach Zuwanderungsbeschränkungen gerichtet sind: Während in den 1970er Jahren und in Ansätzen auch von 1980 bis 1982 noch offensiv Gerechtigkeits- und Realitäts-Topoi (letzterer ist in den 1980er Jahren das quantitativ wichtigste pro Einwanderung verwendete Argumentationsmuster – mit dem stereotyp verfestigten Satz Deutschland ist de facto ein Einwanderungsland geworden) für eine Besserstellung der Einwanderer angeführt wurden, galt es danach, mit der Realitäts-Argumentation rigide Nachzugsbeschränkungen zu verhindern. Als Erweiterung solch ein-dimensionaler Topos-Untersuchungen haben sich – wie erwähnt – diskurslinguistische Untersuchungsdesigns entwickelt, die Argumentationen als die komplexen Handlungen auffassen, die transtextuell wiederkehrend in ihrer Typizität, ihrer Habitualität und hinsichtlich sich durchsetzender Muster betrachtet werden können, die aber zu ihrer Realisierung sprachlichen Materials bedürfen, das ebenfalls Aufschluss über diskursive Regelmäßigkeiten und damit über kollektiv verfügbare Konzepte und Mentalitäten (Gewohnheiten des Denkens, Fühlens, Wollens) gibt. Folgerichtig, so Spieß resümierend, „setzen sich zunehmend Untersuchungen durch, die die Vernetzung der argumentativen Ebene mit anderen sprachlichen Ebenen und Phänomenen wie Lexik, Metaphorik, Handlungsstrategien und den Bezug zu Wissensrahmen in den Blick nehmen“ (Spieß 2017, 878) Als erster hat Jürgen Spitzmüller in seiner Arbeit über „Metasprachdiskurse“ (2005) die Analyseebenen der Lexik (Schlagwörter), der Metaphorik und der Argumentationsmuster (Topoi) integriert. Er untersucht den öffentlichen Diskurs zu Anglizismen in den 1990er Jahren und möchte dabei herausfinden, welcher Sprachbegriff diesem Diskurs über Sprache zugrunde liegt. Mit der Gegenüberstellung des öffentlichen und des fachlichen Diskurses über Anglizismen geht es ihm darum zu erkennen, warum die Verständigung zwischen laienlinguistischer Sprachkritik an und fachlicher Einordnung von Anglizismen kaum möglich ist. Auch Spitzmüller beruft sich auf Bornscheuer und Kienpointner und analysiert kontextspezifische Topoi, da diese „an eine bestimmte (Diskurs-)Gesellschaft und an ein bestimmtes Thema gebunden“ (2005, 274) sind. Mit dem Topos-Begriff will er die „kollektiv geteilten ‚Gewissheiten’, an die sich die Argumente anschließen“ und die „Teil jenes kollektiven Wissens sind, das keiner Begründung bedarf“ (ebd., 272), eruieren. Das im Diskurs Unausgesprochene, das für eine Diskursanalyse gerade von besonderem Erkenntniswert ist, erfasst er also mit dem Topos-Begriff. Da dieses Unausgesprochene im Toulmin‘schen Argumentationsschema zumeist die Schlussregel ist, deren Geltung aber die Überzeugungskraft konkreter Einzelargumente sichert, stellt er die in den Beiträgen der Diskursakteure vorausgesetzten Topoi als Schema von Schlussregel, Argument und Konklusion dar, sodass z. B. der von Anglizismengegnern am häufigsten geäußerte Verständnisbarrieren-Topos
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wie folgt formuliert wird: „Das Verständnis einer Entlehnung bedarf der Kenntnis der Sprache, aus der die Entlehnung stammt.“ (ebd., 279) Die in den analysierten Texten vorkommenden Argumente werden den Topoi (z. B. Verständnisbarriere, Ausgrenzung, Aufwertung, Euphemisierung, Identitätsstörung – so die Bezeichnungen) zugeordnet, die deshalb „als Topoi […] einzustufen [seien], weil ihre Gültigkeit im Diskurs verankert ist und mithin dort nicht zur Debatte steht: Sie leuchten unmittelbar ein und bedürfen keiner Erklärung“ (ebd., 280). Mit dieser Vorgehensweise kann Spitzmüller – ergänzt durch die Analyse zentraler, meist pejorativer Schlagwörter (wie Anglizismus, Kauderwelsch, Pidgin, Denglisch) und von Metaphernkonzepten wie der Krankheits- und Flutmetaphorik – die ‚Wissensstrukturen‘ des öffentlichen Anglizismendiskurses der 1990er Jahre sowohl qualitativ als auch quantitativ erfassen und sie mit dem Sprachverständnis der Linguistik kontrastieren. Es zeigt sich, dass Öffentlichkeit und Sprachwissenschaft je eigene metasprachliche Diskurse führen, die so wenig miteinander kompatibel sind, dass die Kommunikation zwischen beiden erheblich erschwert wird. Der Sprachwissenschaft wird insbesondere empfohlen, sich diesen ganz anderen Diskurs der Öffentlichkeit und das dort zum Ausdruck kommende ganz andere Sprachverständnis bewusst zu machen, um Anknüpfungspunkte für eine Verständigung zu finden. Constanze Spieß stellt in ihrer Analyse des öffentlichen Diskurses um die Stammzellforschung in Deutschland in den Jahren 1998 bis 2002 den Handlungscharakter sprachlicher Äußerungen in den Mittelpunkt. Gehandelt aber wird in öffentlichen Auseinandersetzungen um ein solches brisantes Thema in einer demokratisch verfassten Gesellschaft in Form von Argumentationen. Insofern sind auch für sie Argumentationstopoi eine nahe liegende Untersuchungsebene. Sie ordnet diese aber – etwa den Gefahren-Topos, den Standort-Topos, den Topos vom Helfen und Heilen oder den Dringlichkeits-Topos – vier für den Diskurs zentralen „Handlungsstrategien“ zu. Dazu gehört z. B. das „Heraufbeschwören von Handlungszwängen“ (Spieß 2011, 528), für das vor allem der Realitäts-Topos funktionalisiert wird. Auf der Grundlage dieser Handlungsstrategien zeigt Spieß schließlich, dass sich im Diskurs eine utilitaristische und eine deontologische Pflichtenethik gegenüberstehen. Diese entsprächen den diskursiven Grundfiguren des Nutzens (konsequenzialistischer Argumentationstyp) auf der einen und des vorgängigen moralischen Prinzips (deontologischer Argumentationstyp) auf der anderen Seite, die als handlungsleitende Konzepte im Diskurs fungierten und mit Nutzen-Topoi einerseits und mit Prinzipien-Topoi andererseits realisiert würden. In folgendem Resümee führt Spieß ihre verschiedenen Untersuchungsebenen zusammen: Argumentationstopoi [stellen] ein äußerst komplexes und heterogenes sprachliches Phänomen dar, die den Diskurs strukturieren und die hier untersuchten Ebenen – vom Wort bis zu Metaphern- und Aussagegefügen – integrieren. In funktionaler Perspektive werden mit den verwendeten Topoi zentrale Diskurshandlungen vollzogen. In ihrer Einteilung in zwei ethische Grundtypen des Argumentierens stellen sie wesentliche weltanschauliche bzw. grundlegende ethische
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Voraussetzungen bzw. Wissenshintergründe dar, die den Diskurs in seiner inhaltlich-formalen und argumentativen Zuspitzung strukturieren und als diskursive Grundfiguren bezeichnet werden können. (ebd., 537)
Das Verdienst der Studie von Spieß liegt darin, dass bei ihr deutlich wird, wie die Analysekategorie des Argumentationstopos andere Analyseebenen integrieren kann und wie Topoi Wissenshintergründe, verstehensrelevantes Wissen strukturieren, das zur Produktion von Diskursbeiträgen und Diskurshandlungen zur Verfügung steht und zu deren Verstehen notwendig ist. Zur Realisierung der je konkreten Argumentationshandlungen bedarf es aber der sprachlichen Mittel Schlagwörter (z. B. Menschenwürde, Leben(sbeginn), Wunderwaffe Stammzelle) und Metaphern (z. B. Rubikon-Metapher, Industriemetaphorik: Rohstoffe, Ersatzteile, Kriegs-Metaphorik), die daher in die Analyse integriert werden. Kann schon Spieß‘ Analyse nur sehr bedingt als eine diskursgeschichtliche Studie aufgefasst werden, insofern es um ein zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon historisch gewordenes Textkorpus und Thema geht, der diachrone Wandel im kurzen untersuchten Zeitraum aber nur eine geringe Rolle spielt, so handelt es sich bei den folgenden Untersuchungen eher um synchrone Studien, die aber Erwähnung finden sollen, weil sie sich auf den hier skizzierten, für diskursgeschichtliche Analysen konzipierten Topos-Begriff berufen. In den im Folgenden anzusprechenden Studien von Ziem (2014) und Kalwa (2013) geht es um eine Verknüpfung von Frame- und Topos-Analyse, um ein bestimmtes Konzept zu erfassen bzw. um „lexikalische und argumentative Bedeutungsdimensionen miteinander verschränkt und innerhalb eines einheitlichen Theorie-Settings“ (Ziem 2014, 2) zu beschreiben. Die Verbindung von Wissensrahmen- und Topos-Analyse hatte Ziem schon in einem Beitrag von 2005 angeregt. Topoi weist er dabei als einer Bedingung der Möglichkeit argumentativen Sprechens einen privilegierten Platz in einer an Foucault orientierten Diskursanalyse zu, allerdings könnten mit ihnen nur einzelne Diskurssegmente untersucht werden. Die Wissensrahmen(Frame)-Analyse sieht er als ein umfassenderes diskursanalytisches Konzept, das ein Beschreibungsformat liefern soll, mit dem eine linguistische Epistemologie das jeweils verstehensrelevante Wissen, das diskursiv erzeugt und bei jeder sprachlichen Handlung abgerufen wird, beschreiben kann. Er will damit „über Argumentationsstrukturen hinaus den Blick auf übergeordnete epistemische Dimensionen“ (2005, 324) lenken. An einem Einzeltext zeigt Ziem, wie Argumentationstopoi zum Verstehen eines Textes, als Scharnier zwischen zwei im Text aufgerufenen Wissensrahmen ‚funktionieren‘. Diese Funktion als Makro-Wissensrahmen, der nicht sprachlich expliziert, sondern nur inferiert wird, ist die Funktion von Argumentationstopoi, die wirksam sind, ohne vollständig ausgesprochen zu werden und die daher vom Analysierenden erschlossen werden müssen. In Ziems Beispiel-Text handelt es sich um den Gerechtigkeits-Topos, inhaltlich spezifiziert als Chancengleichheits-Topos bzw. -Wissensrahmen:
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Es handelt sich dann um einen Topos, wenn ein ganzer Wissensrahmen inferiert wird, der zwei Wissensrahmen des Textes über ein ebenso inferiertes Schlussmuster miteinander verbindet. Dieser Wissensrahmen wird nur deswegen als Default-Wert verstehensrelevant, weil er auf einer mittleren Abstraktionsebene liegt. Im Fall des Makro-Wissensrahmen ‚Chancengleichheit‘ heißt das: Das inhaltlich spezifische Wissen, dass alle Bürger die gleichen Chancen haben sollen und dass sozial Schwache staatlich zu fördern sind, wird formal durch einen Konditionalschluss miteinander verbunden. Diese Verschränkung einer inhaltlichen mit einer formalen Seite kann insgesamt als Default-Wert auftreten, weil sie sich zuvor in einem Diskurs zu einer diskursiven Regelmäßigkeit verfestigt hat. Sie gehört somit zum kollektiven Wissen einer Sprachgemeinschaft. (ebd., 342)
Diese Verfestigung zu einem kollektiven Wissensbestandteil, der nicht mehr ausgesprochen werden muss, aber inferiert und mitverstanden wird, verfolgt Ziem auch in seiner Analyse des Schlagwortes Globalisierung, das er als eine diskurssemantische Grundfigur im Sinne Busses auffasst: Als eine solche fungiere der Ausdruck dann, „wenn sich sowohl bestimmte lexikalische Bedeutungen als auch argumentative Verwendungsweisen derart eingeschliffen haben, dass sie im öffentlichen Sprachgebrauch präsupponiert werden können“ (Ziem 2014, 8). Ziem kombiniert eine Frame- und eine Topos-Analyse von Texten der globalisierungskritischen Organisation attac miteinander und will damit Bedeutungsaspekte herausarbeiten, „die in der Summe das Globalisierungs-Konzept ausmachen, in Texten [aber] oftmals nicht eigens thematisiert [werden], sondern […] nur implizit [sind] und […] somit auf einer textuellen ‚Tiefenebene‘ verortet“ (ebd.) werden können. Mit der Kombination beider Methoden zeigt er zum einen die argumentative Vereinnahmung der diskursiv geprägten Bedeutung des Schlagwortes und andererseits Bedeutungsaspekte, die weder durch rein wortsemantische Analysen noch durch isolierte Argumentationsanalysen in den Blick kämen: Ist also der Beitrag der verfestigten Bedeutungsaspekte im Kern darin zu sehen, die Argumentation plausibel zu machen, bleibt umgekehrt zu konstatieren, dass der lexikalische Gehalt fest eingebunden ist in bestimmten argumentativen Strategien, die hier mittels einer ToposAnalyse untersucht worden sind. (ebd., 19)
Ein solches integratives Konzept von Frame- und Topos-Analyse wird in der Studie von Kalwa (2013) ebenfalls umgesetzt, wobei die Ergebnisse eher additiv als in der von Ziem dargestellten Verschränkung präsentiert werden. Kalwa untersucht den Pressediskurs zum umstrittenen Bau einer Moschee in Köln aus dem Sommer 2007, ihr Ziel ist es herauszufinden, welches Konzept von „Islam“ in diesem Diskurs erkennbar wird. Über die Frame-Analyse werden […] zunächst die expliziten Prädikationen herausgearbeitet. Dies geschieht vorwiegend durch die Untersuchung der Prädikationen der Lexeme Islam und Moslem/Muslim. Mithilfe einer Toposanalyse werden schließlich einige implizite Prädikationen herausgearbeitet. (Kalwa 2013, 158)
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Als Ergebnis ihrer Analyse unterscheidet sie vier verschiedene Konzepte des Islam, von denen sich Konzept A, das den Islam als politische Ideologie und als nicht mit dem westlichen Wertesystem vereinbar versteht, und Konzept B, das den Islam als friedliche Religion sieht, diametral gegenüberstehen. In dem im Kölner Moscheebaudiskurs bei den Gegnern des Moscheebaus zutage tretenden Konzept A werden z. B. Prädikationen wie „Der Islam gibt mit dem Bau der Moschee ein Statement“ (ebd., 170), „Der Islam entgrenzt und rechtfertigt Gewalt“ (ebd., 174), „Im Islam existiert nach wie vor die Unterdrückung der Frau“ (ebd., 175) und „Der Islam passt nicht nach Deutschland, weil er nicht kritikfähig ist“ (ebd., 177) herausgearbeitet. Diese Filler für bestimmte Leerstellen des Frames ‚Islam‘ werden argumentativ funktionalisiert. Der Mehrwert der Topos-Analyse besteht demnach darin, die oft nicht explizit ausgesprochene argumentative Funktion von Aussagen feststellen zu können. Das Zusammenspiel beider Analyseansätze vermag methodisch klarer zu zeigen, wie Elemente der kognitiv verfestigten Bestandteile des Konzepts in Sprachhandlungen eingesetzt werden und funktionieren, um plausibel Überzeugungen zu generieren. Auf dieser Ebene impliziter Prädikationen in Form von Schlussregeln sind für Konzept A etwa der Gewalttopos („Weil dem Islam eine gewisse Neigung zur Gewalt nicht abzusprechen ist, ist er nicht in die deutsche Gesellschaft integrierbar“ (ebd., 191)), der Unterdrückungstopos („Weil im Islam nach wie vor die Unterdrückung der Frau vorherrscht, ist er nicht in die deutsche Gesellschaft integrierbar“ (ebd.)) oder der Widerspruchstopos („Weil der Islam im Widerspruch zum deutschen Grundgesetz steht, muss der Bau der Moschee verhindert werden“ (ebd.)) konstitutiv. Als dritte Ebene der Analyse werden Schlagwörter wie Islamismus, Parallelgesellschaft oder Kulturbruch in ihrem Gebrauch im Rahmen der herausgearbeiteten Argumentationsmuster dargestellt. So gelingt eine Mehrebenenanalyse, die besser als die je isolierten Einzelmethoden eine Vielzahl kollektiver Wissensbestandteile des Konzepts Islam in diesem Diskurs freilegen kann und der es auch gelingt, mit der Unterscheidung verschiedener Konzepte die Heterogenität des gesellschaftlichen Wissens (und Fühlens und Wollens) zum Islam herauszuarbeiten und nicht nur einen alles umspannenden islamfeindlichen Diskurs aus der Vielfalt der im Pressediskurs zu Wort gekommenen Stimmen zu vereinheitlichen. Weitere fruchtbare Anwendungen der Topos-Analyse als einer auf Diskurse, also auf transtextuelle Strukturen ausgerichteten Argumentationsanalyse liegen z. B. in Steinseifer (2005), Funken (2005), Görlach (2009), Mayer/Spang (2009) und Czachur (2011) vor. Meier verbindet die Topos-Analyse für die Analyse von OnlineDiskursen „mit dem Konzept der Multimodalität“. Er überträgt kontextabstrakte „Verwendungsmuster von Sprache-Bild-Bezügen“ (2008, 225), mit denen er sich auf Stöckl (2004) beruft, analog zum oben beschriebenen Vorgehen auf kontextspezifische Muster im Diskurs über die Wehrmachtsausstellung und untersucht deren argumentative Funktion für verschiedene Diskurspositionen.
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4 Topos-Analysen in der Kritischen Diskursanalyse Der Topos-Begriff steht auch in argumentationsanalytisch ausgerichteten Studien des sog. Diskurshistorischen Ansatzes (DHA) bzw. des „Wiener Ansatzes der Kritischen Diskursanalyse“ (Reisigl 2007b) im Mittelpunkt (zur Kritik daran vgl. Zagar 2011). M.W. zum ersten Mal begründet und angewendet wurde die Topos-Analyse in der Gemeinschaftsarbeit „Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität“ (Wodak u. a. 1998). Der dort verwendete Topos-Begriff beruft sich ebenfalls auf Kienpointners „Alltagslogik“: „Den Begriff des Topos verwenden wir in einem argumentationstheoretischen Sinn in der Bedeutung von ‚Argumentationsschema‘“ (ebd., 77, Anm. 67). Die in den untersuchten Texten aufgefundenen Topoi werden in einer tabellarischen Übersicht zwischen den Ebenen der diskursiven „Strategien“ und der sprachlichen „Realisierungsmittel“ aufgelistet. Z.T. handelt es sich dabei um formale Topoi in Anlehnung an Kienpointners Weiterentwicklung der traditionellen Topos-Kataloge: z. B. den „Vergleichstopos“, den „Autoritätstopos“, den „Definitionstopos“, die „illustrative Beispielargumentation“. Z.T. werden inhaltlich spezifiziertere Topoi wie der „Topos der kleinen Zahl“, der „Topos der veränderten äußeren Umstände“ oder der Katastrophen- und der „Heile-Welt-Topos“ als unterschiedliche Ausgestaltungen des Konsequenztopos benannt. In den Textanalysen wird der konkrete Stellenwert der Topoi für die Konstruktion nationaler Identität und für die Realisierung bestimmter diskursiver Strategien herausgearbeitet. Es handelt sich um eine Studie, die empirisch einen argumentationstheoretisch reflektierten Topos-Begriff fruchtbar macht, die aber nicht am seriellen Vorkommen einzelner Topoi in einem großen Textkorpus interessiert ist, sondern an der gründlichen Analyse von Einzeltexten. Diese werden aber als zentrale diskursive Ereignisse diskursanalytisch interpretiert. Dieser Untersuchung folgten weitere Studien, die in ähnlicher Weise mit dem Topos-Begriff die zentralen Argumentationsmuster österreichischer Debatten analysiert haben. Auch diese Studien der Wiener Kritischen Diskursanalyse kombinieren die Topos-Analyse mit weiteren Untersuchungskategorien, etwa mit der Untersuchung von Nominationen, Attributionen und Prädikationen, von Perspektivierungs-, Abschwächungs- und Verstärkungsstrategien (vgl. dazu Überblicke z. B. bei Wodak 2001, 73; Reisigl 2007b, 6–7) und in den letzten Jahren auch mit korpuslinguistischen Wortfrequenz- und Kollokationsanalysen (vgl. Baker et al. 2008) und können so als Mehrebenenanalysen verstanden werden. Herausgehoben seien hier die Analysen zur „Österreich zuerst“-Petition der FPÖ im Jahre 1992 (Reisigl/Wodak 2001, 144 ff.; Wodak 2001) sowie die Untersuchung von Fest- und Gedenkreden zum „österreichischen Millenium“ in den Jahren 1946 und 1996 (Reisigl 2007a). Wie schon in der 1998er-Publikation zeichnet sich das Kritische der Wiener Diskursanalysen auf der Ebene der Argumentation dadurch aus, dass nicht nur Topoi, sondern auch Trugschlüsse untersucht werden: Wengelers Zugang zur Analyse materialer, inhaltsbezogener Topiken ist für den Wiener Ansatz wichtig und anregend, er reicht für letzteren aber nicht aus, um auch dem kritisch-normativen
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Anspruch nachzukommen, schlüssige Argumentation von trugschlüssiger zu unterscheiden, wo dies möglich ist. (Reisigl 2013, 258)
Solche Trugschlüsse werden vor dem Hintergrund der Habermas‘schen Diskursethik und in Anlehnung an die Lehre von argumentativen Trugschlüssen, wie sie von van Eemeren/Grootendorst (2004) entwickelt worden ist, identifiziert und kritisiert. In Analogie zu den Topoi werden die Trugschlüsse als „Trugschluss des“ bzw. als „argumentum ad“ bezeichnet; so steht dem Geschichtstopos etwa das „argumentum ad historiam“, dem „Bedrohungs- bzw. Gefahrentopos“ das „argumentum ad baculum“ und dem Definitionstopos bzw. Topos der Namensdeutung das „argumentum ad nominem“ (Reisigl 2007a, 43) gegenüber. Das argumentum ad hominem als trugschlüssiger Personentopos beispielsweise wird von Reisigl/Wodak beschrieben als eine „attack on the antagonist’s personality and character (of her or his credibility, integrity, honesty, expertise, competence and so on) instead of argumentatively trying to refute the antagonist’s arguments“ (2001, 72). Das „argumentum ad populum“ als Variante des „argumentum ad verecundiam“ (Autoritätstopos) wird etwa in einer Analyse der populistischen Rhetorik zu den rumänischen Präsidentschaftswahlen von 2004 als Trugschluss in den Mittelpunkt gestellt, da es ein „unjustified appeal to popular sentiment or opinion“ (Ietcu-Fairclough 2007, 43) sei. Denn ein solcher Trugschluss verstößt demnach – wie alle Trugschlüsse – gegen eine oder mehrere „rules for rational disputes and constructive arguing“ (Reisigl/Wodak 2001, 70; vgl. auch Kienpointner 1996, 26 f.), die die normative Basis für einen „herrschaftsfreien Diskurs“ bilden, an denen bzw. an der der analysierte Diskurs kritisch gemessen wird. So kann z. B. der österreichische Milleniumdiskurs abschließend als „inadäquat“, „manipulativ“, als „politische Mystifikation“ und „suggestive Rhetorik“ (Reisigl 2007a, 254) bewertet werden, der es um „nationale Identifikation, Solidarisierung und Mobilisierung“ (ebd.) durch die Schaffung eines Gründungsmythos ging: Allen Reden gemeinsam war die trugschlüssige Beschwörung eines „950-jährigen“ oder „1000jährigen“ Österreichs, die auf der Verwendung dreier eng zusammenhängender nationalistischer Trugschlüsse beruht, dem Argumentum ad nominem, dem Argumentum ad antiquitam und dem Argumentum ad historiam. (ebd.)
5 Komplexe topische Muster in Diskursen Weniger an solchen Inhalten des Diskurses als vielmehr an den argumentativen Strukturen von Diskursen interessiert sind die rhetorischen Analysen Josef Kleins. Er versteht unter Diskurs – ähnlich wie in den bisherigen Ausführungen – „die tendenziell gesellschaftsweite kommunikative Behandlung eines einigermaßen abgrenzbaren Themenkomplexes in sprachlich-textuellen Formen“ (Klein 1995, 16), in der Argumentation und daher Topoi eine zentrale Rolle spielen. Über die bisher
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behandelten Topoi als „Schemata für den einzelnen Argumentationsschritt“ (Klein 2000, 623) hinaus umfassten Diskurse aber „meist etliche, oft viele Argumentationsschritte. Da liegt die Frage nahe, ob es nicht regelmäßig wiederkehrende Konfigurationen aus mehreren Topoi gibt, in denen sich – u. U. diskursdominierend oder textsortenprägend – Schemata höherer Ordnung manifestieren“ (ebd.). Für „solche Schemata des mehr- oder vielschrittigen, komplexen Argumentierens“ (1995, 34) verwendet Klein den Begriff des topischen Musters. Das komplexe topische Muster, das für Argumentationen in politischen Reden und Debatten sowie für den öffentlich-politischen Mediendiskurs (für Pressetexte) charakteristisch (vgl. Klein 2000) sowie „zeit- und kulturübergreifend, textintern und transtextuell“ (2011b, 291) aufzufinden sei, leitet Klein aus einer handlungstheoretisch motivierten Beschreibung ab: Politisches Handeln oder Handlungsforderungen werden durch Ziele/Zwecke argumentativ gestützt […]. Ziele/Zwecke werden vielfach durch Situationsbewertungen motiviert. Diese wiederum stützen die Argumentierenden einerseits auf Situationsdaten, andererseits auf Prinzipien/ Normen/Werte, die auch als Rechtfertigungsbasis für Ziele/Zwecke fungieren können. Dazu kommt häufig der (warnende oder empfehlende) Hinweis auf Konsequenzen, die sich entweder aus den Situationsdaten oder aus dem thematisierten politischen Handeln ergeben. (Klein 2002, 168)
Reformuliert in einer Topos-Terminologie ergebe sich in dem komplexen topischen Muster politischer Argumentation (1) bei Begründung durch Situationsdaten der ‚Datentopos‘, (2) bei Begründung durch Prinzipien (Normen/Werte) der ‚Prinzipientopos‘, (3) bei Begründung durch Situationsbewertung der ‚Motivationstopos‘, (4) bei Begründung durch Ziele/Zwecke der ‚Finaltopos‘ und (5) bei Begründung durch Hinweis auf Folgen/Auswirkungen der ‚Konsequenztopos‘. (ebd.)
Politisches Handeln, egal ob in einem ganzen Diskurs wie dem von Klein untersuchten Kolonialdiskurs, in einer Parlamentsdebatte wie der von ihm analysierten Asyl-Debatte von 1992 oder in Begründungsteilen von Gesetzentwürfen, ist nach dieser Konzeption „nicht durch den einen oder anderen Einzeltopos gekennzeichnet, sondern durch ein komplexes topisches Muster, das auf den Kategorien des Handelns beruht“ (Klein 2003, 1469). Wenn dem so ist, dann ist es aber für empirische Analysen gerade interessant zu untersuchen, ob in Einzeltexten oder bei einzelnen Gruppen bestimmte Positionen des Schemas nicht oder vermehrt gefüllt werden. Klein diagnostiziert z. B. in der parlamentarischen Asyl-Debatte von 1992 eine „Topik instrumenteller Orientierung“ (1995, 34) der Parteien CDU/CSU und SPD im Kontrast zu einer „Topik der normativen Orientierung“ (ebd., 41) bei den Grünen. Ebenso interessant ist es zu sehen, mit welchen kontextspezifischen Inhalten im Einzelfall die „Topoi“, die Positionen des Schemas gefüllt werden sowie ob und inwiefern in anderen Gebrauchsdomänen/Textsorten andere topische Muster
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genutzt werden. Letzteres zeigt Klein (2000) an christlichen Verkündigungstexten bzw. Predigten von der Bergpredigt bis zu einer Katholikentagspredigt sowie an zeitgenössischen „populären Lebenshilfebüchern“ (ebd., 647), die jeweils andere, im einen Fall durch den Autoritäts-Topos, im anderen durch den Exemplum-Topos dominierte topische Muster zeigen. Zudem verknüpft auch Klein die Analyse des topischen Musters mit anderen sprachlichen Ebenen und legt insofern eine Mehrebenenanalyse vor, wenn er zeigt, dass die Positionen des Musters in einem Diskurs mit zentralen Schlagwörtern gefüllt werden. Im neoliberalen Reformdiskurs der Jahre 1995 bis 2005 etwa werde der Datentopos u. a. mit dem Schlagwort Globalisierung, der Prinzipientopos mit Hochwertwörtern wie Freiheit, Eigenverantwortung und Wettbewerb, der Finaltopos durch die Schlagwörter Wettbewerbsfähigkeit und Sicherung des Standortes Deutschlands besetzt, die sich aus dem topischen Muster ergebenden Schlussfolgerungen werden in Schlagwörtern wie Reformen, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes oder Deregulierung der Wirtschaft kondensiert (vgl. Klein 2011a, 2011b). Zuljevic (2004) hat Kleins Ansatz auf den deutschsprachigen Jugoslawien-Diskurs in der Zerfallsphase Jugoslawiens angewendet und komplexe topische Muster für die Argumentation der beiden großen überregionalen Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung herausgearbeitet (ebd., 222 und 262–263), deren unterschiedliche Positionen zum Thema dadurch gut deutlich werden. Arendt (2010) verknüpft in ihrer Analyse von „Niederdeutschdiskurse[n]“ die komplexen topischen Muster Kleins mit Einzeltopoi, insofern diese Kleins Daten, Motivations- und Prinzipientopos in den untersuchten Texten je unterschiedlich ausfüllen. Auch David Römer verknüpft die „klassischen“ Einzeltopoi mit dem Klein’schen Modell der komplexen topischen Muster und nutzt dies für eine Weiterentwicklung des Modells. Es geht ihm um eine Verzahnung von diskursinhaltsbezogener und diskursstrukturbezogener Analyse, wie er die Analyse von Einzeltopoi auf der einen und von topischen Mustern auf der anderen Seite nennt. Letztere läge auch näher an der Bestimmung Foucaults von Diskursen als Formationssystem von Aussagen: So wie sich bei Foucault (in seiner frühen Diskurstheorie) „die Aussagen (énoncés) mit anderen Aussagen zu einem komplexen System [verbinden], dessen Struktur der ‚Archäologe‘ zu beschreiben hat“ (Spitzmüller/Warnke 2011, 69, Hervorhebung i.O.), verbinden sich die Äußerungen in argumentativer Funktion und kontextspezifischen Topoi, in denen sich die Aussagen im Sinne Foucaults materialisieren, zu einem Diskursmuster, das sich mittels diskursstrukturbezogener Analyse abstrakter Basistopoi beschreiben lässt. Jeder Basistopos eröffnet wiederum einen Katalog kontextspezifischer Topoi, die durch die diskursinhaltsbasierte Analyse der Argumentationsmuster beschreibbar werden. (Römer 2017, 123)
In der Konsequenz dieser Überlegung nennt Römer an Kleins topische Muster angelehnte diskursspezifische Muster „topologische Diskursformationen“:
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Die Analyse der topologischen Diskursformationen gibt Auskunft über die Diskursstruktur. Die Analyse der kontextspezifischen Topoi als Muster sprachlichen Handelns in argumentativer Funktion gibt Auskunft über die diskursiven Praxen, die systematisch den Gegenstand/das Wissen hervorbringen, über den/das sie reden, die aber wiederum eine Tiefenstruktur aufweisen, welche sich aus der Kohärenz der einzelnen sprachlichen Muster ergibt. (ebd., 127)
In der Verbindung beider mit dem Topos-Begriff arbeitender Diskursanalysen könne es gelingen, unausgesprochenes, argumentativ funktionalisiertes Wissen sowohl in seiner inhaltlichen wie in „seiner strukturellen Diskursbereichs-Spezifik“ (ebd.) zu erfassen und so einen größeren Ausschnitt einer Diskursanalyse im Foucault’schen Sinne abzudecken als mit einer rein inhaltsbezogenen Topos-Analyse. Mit diesem methodischen Rüstzeug gelingt es Römer, Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Wirtschaftskrisendiskurse der Bundesrepublik Deutschland seit 1973 herauszuarbeiten. Auf der Grundlage einer gleichbleibenden topologischen Grundstruktur als aussagen-generierender Diskursformation können die jeweiligen inhaltlichen Unterschiede deutlich werden. So unterscheidet sich etwa der Ölkrisendiskurs Anfang der 1970er Jahre vom Finanzkrisendiskurs der Jahre 2008/09 darin, dass in der „Ölkrise“ marktwirtschaftliche Maximen angeführt werden, deren Einhaltung zur Bewältigung der „Krise“ führten und nicht die oftmals als dirigistisch abgewerteten und damit semantisch in die Nähe zum negativ konnotierten Sozialismus/Kommunismus gerückten staatlichen Maßnahmen. In der „Finanzkrise“ dagegen gilt das in der „Ölkrise“ heilbringende Prinzip des „laissez faire“ als ursächlich, weil es zu Maßlosigkeit, Gier und Vertrauensbrüchen führt. Unter Betonung des Sozialen in der Marktwirtschaft werden in der „Finanzkrise“ staatliche Maßnahmen gerechtfertigt, denen in der „Ölkrise“ das marktwirtschaftliche Prinzip entgegengesetzt wurde. (Römer/Wengeler 2013, 286)
Mit dieser Verknüpfung der in den Kap. 3 und 5 vorgestellten argumentationsanalytischen Ansätze liegt ein vielversprechender und fruchtbarer neuer methodischer Ansatz für die Diskursanalyse vor.
6 Analyse prototypischer Argumente Neben dem bisher Dargestellten hat sich ein nicht mit dem Topos-Begriff operierender Ansatz der Argumentationsanalyse in der Diskurslinguistik etabliert, der noch stärker inhaltliche Aspekte der zu untersuchenden Diskurse fokussiert. Es handelt sich um die Analyse prototypischer Argumente, die Niehr 2004 in einer vergleichenden Arbeit über Migrationsdiskurse in Deutschland, Österreich und der Schweiz von den 1960er bis zu den 1980er Jahren entwickelt hat. Einer linguistischen Diskursanalyse müsse es, so Niehr, darum gehen, nicht die in Kienpointners „Alltagslogik“ erarbeiteten kontextabstrakten Argumentationsmuster/-topoi herauszuarbeiten, sondern „die je spezifischen Argumentationsweisen, die für ver-
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schiedene Diskurse charakteristisch sind“ (Niehr 2014, 117). Statt kontextspezifische Topoi zu formulieren, hält Niehr es, um der jeweiligen inhaltlichen Spezifik von Diskursen gerecht zu werden, für sinnvoller, dass die Vielzahl von im je einzelnen Diskurs vorkommenden Argumenten „auf einer bestimmten Abstraktionsstufe [prototypisch] reformuliert“ und dass dabei auch „die argumentative Zielrichtung“ (ebd.) berücksichtigt wird. Anders als bei den Topoi, deren Potentialitäts-Merkmal sie gerade pro und contra eine Fragestellung nutzbar macht, sollen prototypische Argumente jeweils als Pro- und als Contra-Argumente formuliert und hinsichtlich ihrer Vorkommenshäufigkeit untersucht werden. Solche für jeden Diskurs interpretativ aus den Texten herausgearbeitete prototypische Argumente könnten gerade für den Vergleich von Teildiskursen aussagekräftigere Ergebnisse zeitigen. Niehr bewegt sich somit auf einer „materialen, d. h. inhaltlich bestimmten Ebene […]. Nicht also ‚Denkstrukturen‘, sondern inhaltlich spezifizierte Argumente stehen zur Diskussion.“ (Niehr 2004, 144) Dennoch möchte auch er einen Beitrag leisten zur Analyse von „Mentalitäten“ als kollektiv verbreiteten Gewohnheiten des Denkens und Wollens bezüglich eines Themenfeldes bzw. von Teilaspekten eines Themenfeldes. Niehr vergleicht die Gastarbeiter- und Asyldiskurse in den deutschsprachigen Ländern in den Zeiträumen 1965 bis 1967, 1972 bis 1974 und 1979 bis 1983 miteinander und formuliert insgesamt 29 prototypische Argumente auf der Grundlage von mehr als 2200 Presseartikeln. Als Beispiele für die Formulierung prototypischer Argumente seien das Notwendigkeits-Argument pro und das Überfremdungsargument contra Einwanderung genannt: „Die Gastarbeiter erbringen eine Vielzahl von Leistungen, die für das Funktionieren der einheimischen Wirtschaft und die Aufrechterhaltung von Sozialleistungen unerlässlich sind.“ (2004, 127) „Durch den hohen Ausländeranteil verliert die Gesellschaft ihre Identität und gerät in existentielle Krisen.“ (2004, 120) Als ein Ergebnis des Vergleichs der Gastarbeiterdiskurse der 1960er Jahre ergibt sich beispielsweise, dass der bundesrepublikanische und der Schweizer Diskurs sich bezüglich der Pro-Argumente sehr ähnlich sind (es dominieren wirtschaftliche und ethische Aspekte), während die Contra-Argumente sich deutlich unterscheiden: „In der Bundesrepublik beruht die entscheidende Contra-Argumentation auf wirtschaftlichen Überlegungen (Kostenund Arbeitsplatz-Argument). In der Schweiz ist das zentrale Contra-Argument (‚Überfremdung‘) jedoch ein soziologisches.“ (2004, 317) Die Analyse prototypischer Argumente kann als diskursanalytisches Verfahren gelten, insofern sie aus einem großen Textkorpus musterhafte, serielle Vorkommen von Argumenten herausarbeitet und insofern es ihr um verbreitete Denkweisen zum Thema geht. Mit Niehrs Verfahren wurden auch erstmals systematisch thematisch gleiche Diskurse in verschiedenen Ländern untersucht, womit auch ein Grundstein für eine kontrastive Diskurslinguistik (vgl. dazu auch Czachur 2011) gelegt ist. Die Ergebnisse zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Diskursen der drei Länder werden von Niehr abschließend mit den politischen und historischen „Fakten“ in den einzelnen Ländern erklärt, d. h. „dass außersprach-
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liche Gegebenheiten sich sprachlich in der Verwendung von Argumenten niederschlagen“ (Spieß 2017, 870). Dieses Vorgehen steht allerdings dem sozialkonstruktivistischen Anspruch der meisten Diskursanalysen entgegen, die gerade den Eigenwert, den Einfluss des Sprachlichen auf das, was als „Faktum“ in der jeweiligen Zeit von verschiedenen Gruppen und Akteuren verstanden wird, betonen. Niehrs Methode ist u. a. in einer Analyse über die Debatte zu einem Auslandseinsatz der Bundeswehr im Libanon im Jahre 2006 (Hemicker 2010) und in einer diskursgeschichtlichen Untersuchung über den Flüchtlings- und Asyl-Diskurs Anfang der 1990er Jahre in Deutschland (Ryssel 2014) aufgegriffen und angewendet worden. Mit Einzelargumenten wie – stichwortartig gebündelt – „Deutsche Vergangenheit“, „Multilaterale Verpflichtungen“ oder „Gefährlichkeit des Einsatzes“ gelingt es Hemicker in enger Anlehnung an Niehrs Methode, den zeitlich eng umgrenzten Teildiskurs in Kontinuitäten und Diskontinuitäten deutscher sicherheitspolitischer Diskurse einzuordnen und die Methode als gute Grundlage für interdisziplinäre Fragestellungen, wie sie insbesondere auch die Politikwissenschaft verfolgt, zu empfehlen. So stellt Hemicker u. a. fest, dass der Diskurs ein Argument wie „Nie wieder Auschwitz“ einerseits – im Kontrast zum für die Debatte um die Rolle der Bundeswehr zentraleren Kosovo-Diskurs des Jahres 1999 – ausdifferenziert, insofern dieses vom vorangehenden Diskurs abweichend pro und contra eine deutsche Beteiligung eingesetzt wird, dass er andererseits mit dem Argument „Multilaterale Verpflichtungen“ in der Kontinuität des sicherheitspolitischen Diskurses seit den 1950er Jahren „bezüglich der starken Stellung und zentralen Bedeutung der multilateralen Grundausrichtung“ (Hemicker 2010, 125) der bundesdeutschen Sicherheitspolitik steht. Die Untersuchung Ryssels stellt auf der Grundlage von 1722 Pressetexten aus FAZ und SZ des Jahres 1992 eine empirisch gründliche und differenzierte Erweiterung der schon erwähnten Argumentationsanalysen des Migrationsdiskurses dar. Sie betrachtet dabei Niehrs für den internationalen Diskursvergleich entwickelte Methode als fruchtbar, um zwei gleichzeitig im Jahre 1992 die politische Agenda dominierende Diskurse miteinander zu vergleichen: Den Diskurs um die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem zerfallenden Jugoslawien und den Diskurs um die Änderung, sprich Einschränkung des Grundgesetzartikels 16, der politisch Verfolgten Asyl gewährte. Sie zeigt in ihrer Arbeit die „innerdiskursive Konkurrenz kontroverser Teildiskurse […] hinsichtlich ihrer Funktionen im übergeordneten Aufnahmediskurs“ (Ryssel 2014, 261). Ihre Analyseergebnisse zeigen, „dass die Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien 1992 in der Bundesrepublik Deutschland willkommen waren“ (ebd., 182) und dass gleichzeitig die Änderung des Artikel 16 des Grundgesetzes befürwortet wurde, um den Asylbewerbern die Aufnahme in Deutschland zu erschweren (vgl. ebd., 229–230). Dieser Widerspruch, so Ryssel, könne bezüglich des die Teildiskurse übergreifenden „Aufnahmediskurses“ dahingehend aufgelöst werden, dass eine sprachliche Differenzierung zwischen Asylbewerbern und (Bürgerkriegs-)Flüchtlingen vorgenommen worden sei. Während Letztere als „Menschen in Not“ wahrgenommen wurden, denen zu helfen sei, wur-
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den erstere „zu einer undurchsichtigen Gruppe aus ‚Asylschwindlern‘ und ‚Wirtschaftsflüchtlingen‘ zusammengefasst“ (ebd., 250), deren „Missbrauch des Asylrechts“ man sich zu erwehren hatte. Ein solches Ergebnis könne und solle, so Ryssel, zu einer „moderat-kritischen“ Bewertung des Diskurses führen. Diese betont die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch solche sprachlichen Mittel der Differenzierung von Hilfe suchenden Menschen im Rahmen eines politischen Kalküls, das Ryssel bezüglich des Grundgesetzänderungsdiskurses aufgezeigt hat. Damit nimmt Ryssel – wie viele jüngere Diskursanalysen – hinsichtlich der Dichotomie der auch hier getrennt dargestellten diskurskritischen und diskursbeschreibenden Ansätze eine vermittelnde Position ein, die „das kritische Moment“ als „eine unvermeidliche Nebenerscheinung, die aus der Analyse solcher gesellschaftlich brisanter Diskurse hervorgeht“ (Kalwa 2013, 11), aber nicht als das Hauptziel der Analyse ansieht. Es sollte deutlich geworden sein, dass die Argumentationsanalyse in unterschiedlichen Facetten im vergangenen Jahrzehnt zu einem zentralen diskurslinguistischen Werkzeug geworden ist, weil sie sich gerade für agonale, heterogene öffentliche Diskurse, in denen in demokratischen Gesellschaften um Richtigkeit und Wahrheit von Geltungsansprüchen, politischen Entscheidungen und Maßnahmen gestritten wird, als eine den Gegenständen angemessene Methode erwiesen hat. Zunehmend wird aber die Analyse der Argumentation mit anderen Analyseebenen wie der der Lexik oder der Metaphorik zu Mehrebenenanalysen verknüpft, aber auch die Kopplung mit korpuslinguistischen Verfahren wird inzwischen erprobt, auch wenn Argumentationsmuster oft gerade nicht unproblematisch auf der sprachlichen Oberfläche erkennbar sind. Andererseits aber sind auch reine argumentationsanalytische Untersuchungsdesigns weiterhin „erlaubt“ – wie es Römer (2017, 83) in Anspielung auf eine Rezension Dieckmanns (1989) zu Dietrich Busses „Historischer Semantik“ einfordert, und auch sie können zu interessanten Weiterentwicklungen bisher entwickelter methodischer Konzepte für die Diskurslinguistik führen.
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Philipp Dreesen
11. Diskurslinguistik und die Ethnographie des Alltags Abstract: Der Beitrag behandelt das Verhältnis von Diskurslinguistik und Ethnographie. Ausgehend von der Feststellung, dass die germanistische Diskurslinguistik fast ausschließlich thematische Diskurse in Massenmedien untersucht, wird aufgezeigt, dass ethnographische Vorgehensweisen die sprachwissenschaftliche Diskursforschung wesentlich erweitern können. In der Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den theoretischen Prämissen und Ausrichtungen von Diskursanalyse und Ethnographie zeigt sich insbesondere, dass sich beide u. a. durch methodische Offenheit auszeichnen und mit den Begriffen Sprachfunktion, Muster und Kontext operieren. Als mitunter problematisch in der Beziehung zueinander werden Rekonstruktion von Intentionalität und Kritische Wissenschaft benannt. Der Beitrag stellt dar, dass ethnographisch vorgehende Diskurslinguistik sowohl synchron die Kommunikation von Einzelpersonen und Gruppen in privaten bis öffentlichen Alltagsräumen analysieren als auch diachron sprachlich vollzogene Wissens- und Machtordnungen als Alltagsgeschichte rekonstruieren kann. Die Möglichkeit mikroanalytischer Untersuchungen situativer Generierungen und Praktiken sprachgebundenen Wissens ergänzt die bestehende makroanalytisch ausgerichtete Diskurslinguistik.
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Vorbemerkung Fachentwicklungen: Ethnographie, Text, Diskurs Entstehung und Programm der ,Ethnographie der Kommunikation‘ Desiderat Mikroanalyse: Ethnographische Diskurslinguistik und Alltag Diskurs und Ethnographie: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Theorien und Methoden Anwendungen ethnographischer Diskurslinguistik Desiderata und Ausblick Literatur
1 Vorbemerkung Bis zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine einheitliche, etablierte diskurslinguistische Ethnographie oder ethnographische Diskurslinguistik. Dies hat unterschiedliche Ursachen und Gründe. Der folgende Beitrag benennt diese und stellt prospektiv die Möglichkeiten des Forschungsverständnisses einer ethnographisch vorgehenden Diskurslinguistik dar, indem vor dem Hintergrund von fachgeschichtlichen Entwicklungen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Ethnographie und Diskurslinguistik dargelegt werden. Hierfür wird auf einzelne bereits existierende https://doi.org/10.1515/9783110296075-011
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empirische Untersuchungen eingegangen. Zum Schluss werden theoretische und methodische Aspekte einer ethnographisch vorgehenden Diskurslinguistik als Desiderata aufgeführt.
2 Fachentwicklungen: Ethnographie, Text, Diskurs Das Verhältnis der Diskurslinguistik zur Ethnographie zu betrachten (vgl. dazu auch Hammersley 2005; Ott/Langer/Macgilchrist 2014), ist für das Verständnis der Entstehung der Diskurslinguistik aufschlussreich; umgekehrt erklärt die Entstehung der Diskurslinguistik ihr Verhältnis zur Ethnographie. Die nachfolgende Darstellung der fachgeschichtlichen Entwicklung ist perspektivisch auf die Ethnographie als den Teil gerichtet, der hinsichtlich seiner theoretischen und methodischen Anschlussfähigkeiten an diskurslinguistische Prämissen beleuchtet wird (vgl. Warnke 2014, 233–234). Nachdem die sprachwissenschaftlich ausgerichtete Ethnographie in den USA Mitte der sechziger Jahre (vgl. Ethnography of Communication von Hymes 1964) an Einfluss gewann, setzte sie sich in den neunziger Jahren in der germanistischen Linguistik des deutschsprachigen Raumes durch. Für die Pragmatik wurde sie dort zu einer der wichtigsten Forschungsansätze (v. a. als Gesprächsforschung). In der Erweiterung der Möglichkeiten zur Untersuchung von Sprachgebrauch kann die Ethnographie als innovatives anwendungsbezogenes Methodeninventar der Datenerhebung und -auswertung kaum überschätzt werden. Sie ist zudem ein Impulsgeber für methodologische und theoretische Reflexionen über Gegenstandskonstituierung, Analyseadäquatheit und Erklärungsreichweiten. Die Diskurslinguistik bzw. die linguistisch ausgerichtete, (kritische) Diskursanalyse, wie sie sich heute in der Germanistischen Sprachwissenschaft darstellt, hat ihre maßgeblichen Begründungsreferenzen in Michel Foucaults Diskurstheorie/Diskursanalyse (1969; 1972). Anders als die Ethnographie ist die Diskursanalyse im Fach zunächst kaum als praktikabler Zugang zum gesellschaftlichen Sprachgebrauch denn als diachrone Sozialtheorie über den Sprachgebrauch aufgefasst worden. Im Zuge der Etablierung der Diskursanalyse als Diskurslinguistik im Fach traten sozialtheoretische Aspekte in den Hintergrund, und es entwickelten sich methodologische Überlegungen und methodische Vorschläge für empirische Untersuchungen (vgl. u. a. Spitzmüller/Warnke 2011). Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, könnte aus dem Erscheinungszeitraum der noch heute zitierten ersten einschlägigen Publikationen zur Ethnographie (vgl. Auer 1992; Schlobinski/Kohl/Ludewigt 1993, 38–68) und zur Diskurslinguistik (vgl. Busse 1987; Jäger 1993; Busse/Hermanns/Teubert 1994) innerhalb der germanistischen Linguistik geschlussfolgert werden, dass beide Forschungsansätze in etwa gleich alt sind. Tatsächlich ist die Ethnographie im Sinne der Ethnography of Communication (vgl. Abschnitt 3 unten) als spezifisch linguistisches Forschungsprogramm zu diesem Zeitpunkt bereits seit etwa dreißig Jahren etabliert.
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Demgegenüber besteht rückblickend die Diskursanalyse als eine mit geteilten Prämissen und Termini ausgestattete linguistische Forschungsrichtung frühestens seit Beginn der neunziger Jahre (vgl. die Arbeiten der Critical Discourse Analysis von Fairclough 1989; van Dijk 1993). Da die Diskurslinguistik jünger ist, hätte sie die Möglichkeiten gehabt, sich mit der Ethnographie intensiv auseinanderzusetzen. Warum dies größtenteils nicht geschah, liegt vermutlich an den fachgeschichtlichen Entwicklungen in der Germanistik. Die germanistische Linguistik war gegenüber der sukzessiven Entdeckung des sprachwissenschaftlichen Werts der foucaultschen Diskurstheorie zunächst äußerst kritisch. Infrage gestellt wurde bisweilen grundsätzlich die Notwendigkeit einer Ordnungsgröße jenseits des als etabliert betrachteten hierarchischen Aufbaus der Sprache vom Phon zum Lexem, später zum Text. Zudem wurde bezweifelt, ob v. a. die Kategorien ,Diskurs‘ und ,Aussage‘ operationalisierbar seien, d. h. ob sie eindeutig und nachhaltig definiert werden könnten. Dass dies auch etwas mit sehr fachspezifischen dominanten Denkstilen (Fleck 1935) zu tun hat, belegt ansatzweise die Tatsache, dass literaturwissenschaftliche Diskursanalysen kaum Schwierigkeiten hatten, in der Germanistik aufgenommen zu werden (vgl. die seit 1982 erscheinende Zeitschrift kulturRRevolution zeitschrift für angewandte diskurstheorie von Jürgen Link). Allerdings scheinen bei genauer Betrachtung weniger die sprachwissenschaftlichen Diskursanalysen selbst (z. B. die Historische Semantik/Mentalitätsgeschichte von Busse/Hermanns/Teubert 1994) denn die Referenz auf den ,diffus‘ bis ,unwissenschaftlich‘ erscheinenden Diskursbegriff im Allgemeinen und Foucaults Schriften im Besonderen Steine des Anstoßes gewesen zu sein. Der Verweis auf Foucaults Werk (vgl. 1975), in welchem thematisch übergreifend etwa juristische Akten und medizinische Abhandlungen sowie Gebäudegrundrisse zu einem Diskurs zusammengefügt werden, schien mit grammatischen, semantischen und auch mit pragmatischen Kategorien inkompatibel zu sein. Sicherlich auch deswegen, weil die Diskurslinguistik anfangs mit „wissenschaftsinternen Rechtfertigungszwängen“ (Warnke/Spitzmüller 2008, 3) konfrontiert war, musste sie sich an etablierten progressiven linguistischen Teildisziplinen orientieren, um im Fach anschlussfähig sein zu können. Ausgehend von den Begriffen engl. discourse/franz. discours/dt. Diskurs innerhalb der Linguistik, wären zwei Wege naheliegend gewesen: Im US-amerikanischen Strukturalismus bedeutet discourse ,Gespräch‘ sowie ,Text‘ (vgl. Warnke 2007a, 3–5). In der germanistischen Sprachwissenschaft im deutschsprachigen Raum setzte sich der Ausdruck Diskurs als Terminus der Gesprächsforschung durch. Die Entstehung der Diskurslinguistik mit Referenz auf das französische discours im Sinne Foucaults führte zu einer Bedeutungsverschiebung bzw. -veränderung des Diskursbegriffs im Fach. Der (mittelbare) Anschluss des foucaultschen Diskursbegriffs an die Gesprächsforschung wäre also in seiner Genese betrachtet nicht unwahrscheinlich gewesen. So allerdings sind mit der Abgrenzung vom gesprächslinguistischen Diskursbegriff auch inhaltliche Abgrenzungen hinsichtlich Gegenstandskonstruktion, Theorie und Methode vollzogen worden: Konkret rückten die ethnographischen Methoden in den
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Hintergrund; in den Vordergrund rückten Untersuchungsgegenstände, Theorien und Methoden insbesondere der Textlinguistik. Die Orientierung am Text wurde dadurch erleichtert, dass die Textlinguistik komplementär auch den Begriff Diskurs zur Erklärung textübergreifender Bezüge einführte (vgl. Heinemann/Heinemann 2002). Als sich der Diskursbegriff in der germanistischen Linguistik sukzessive etablierte, geschah dies wesentlich mittels Orientierung an einem textlinguistischen Medienbegriff, an einem thematischen Textbegriff sowie fast ausschließlich an der Schriftlichkeit (vgl. z. B. Busse/Teubert 1994; Jung 1994; Fraas/Klemm 2005; Warnke 2007b). Etwas anders verhielt es sich in der Critical Discourse Analysis etwa bei Fairclough (1995, 4) und bei van Dijk (1997, 3; Herv. i. Orig.), der die „spoken language or talk“ und „written texts“ als Untersuchungsgegenstände der Diskursanalyse nennt. So wichtig zunächst die germanistische Orientierung an der Textlinguistik zur disziplinären Etablierung und wohl auch Legitimierung war, so einseitig entwickelt sich die Diskurslinguistik als nunmehr eigenständige Teildisziplin. Es entsteht der Eindruck, Diskurslinguistik sei die Bezeichnung für thematisch zusammengestellte massenmediale Analysen (vgl. auch die Kritik von Roth 2008, 325– 354). Bock (2013a, 242) spricht deshalb in Bezug auf die dominanten Eigenschaften ,thematisch, öffentlich und massenmedial‘ von einem „Prototyp von Diskurs“ im Fach. Damit ist der Umstand angesprochen, dass sich unter den genannten Bezeichnungen von der Themenfindung über die Korpuserstellung bis zur Methodenwahl fast ausschließlich thematisch aufbereitete textuelle Zugänge zu Massenmedien finden, die als Öffentlichkeit konzeptualisiert werden. Demgegenüber gerät in Vergessenheit, dass eine der diskurslinguistischen Erklärungsstärken gerade darin besteht, unterschiedliche semiotische Ressourcen funktional zueinander zum Zweck des Nachweises von Mustern in Wissensordnungen in Beziehung zu setzen. Die Diskurslinguistik ist mittlerweile eine Teildisziplin des Faches. Theoretische, methodologische und methodische Operationalisierungen der Diskurstheorie(n) dauern an, ebenso die Adaptionen sowie Weiterentwicklungen geeigneter Theorien und Methoden anderer (Teil-)Disziplinen. Verstärkt wird dies nicht zuletzt dadurch, dass Foucault entgegen seiner vielzitierten Aussage (vgl. 1976a, 53) mit seinen Büchern weniger „kleine Werkzeugkisten“ denn grobe Anleitungen ohne Werkzeuge hinterlassen hat. Die Werkzeuge (d. h. die Methoden) sind für eine soziologische, literaturwissenschaftliche oder linguistische Diskursanalyse hinzuzufügen (vgl. Dreesen 2015, 48). Ethnographische Methoden sind derartige Werkzeuge.
3 Entstehung und Programm der ,Ethnographie der Kommunikation‘ Die Ethnographie (griech. éthnos ,Volk‘, und gráphein ,schreiben‘) als ,Völkerbeschreibung‘ ist eng verknüpft mit kolonialen europäischen Denkweisen und Praktiken (vgl. Saville-Troike 1982, 88–92; Hartfiel 1972, 165): Die zu beforschenden Un-
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tersuchungsobjekte sind stets ferne, fremde, ,exotische‘ Kulturen/Völker/Sprachen (v. a. sog. Naturvölker), die zu einer kaum reflektierten eurozentrischen Vorstellung von Kultur/Volk/Sprache als different wahrgenommen werden; durch die ethnographischen Studien wird das Bild von ,den Anderen‘ konstruiert und fixiert (vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2005, 83–89). Die kolonialen Traditionen ethnographischer, später ethnologischer und anthropologischer Forschungen schlagen sich auch in soziologischen Definitionen z. B. von Ethnie (vgl. Weber 1964, 305–311) nieder. Frühe Überlegungen zur Verbindung von Ethnographie und Sprachwissenschaft finden sich in Deutschland zu Beginn und Mitte des 19. Jahrhunderts z. B. bei W. v. Humboldt und Heymann Steinthal. Wegweisend für die Entwicklung der linguistisch ausgerichteten Ethnographie sind Franz Boas’ Studien zu den Kulturen und Sprachen der Native Americans (vgl. z. B. Boas 1897) sowie die Arbeiten zu Kultur, Sprache und Muster von Edward Sapir. Dieser hat zur Datenerhebung und der Auswertung ihrer Befunde für die Ethnographie grundlegend festgestellt: „Patterns are abstracted from an event; they are not a record of an event. The event [itself, the actual] situation, is the meeting of many patterns” (Sapir 1993, 54). Aus der europäischen Ethnologie und der amerikanischen anthropology entwickelte sich die Ethnographie als Sammelbezeichnung für empirische Forschungsansätze zu sozialen und kulturellen Aspekten des Sprachgebrauches (für eine kurze Einführung vgl. Hammersley/Atkinson 1995, 1–19). Wichtiger Impulsgeber für den sog. pragmatic turn Anfang der sechziger Jahren in den USA war die Gründung der einflussreichen Ethnography of Communication/ Ethnographie der Kommunikation. Dell Hymes verknüpft in seinem begründenden Essay The Ethnography of Speaking (Hymes 1962) das pragmalinguistische Interesse an der Sprachverwendung mit den bereits weitreichenden Überlegungen der möglichst holistischen Beschreibung von Kultur in der Ethnographie. Rückblickend erklärt er: My own purpose with the ethnography of speaking was […] to show that there was patterned regularity where it had been taken to be absent, in the activity of speaking itself (Hymes 2000, 314).
Nach Ethnography of Communication (Hymes 1964) bilden u. a. Beiträge von Dell Hymes, John Gumperz, Basil Bernstein und William Labov in Gumperz/Hymes (1972) ein umfassendes Bild der Ethnographie als soziolinguistische Methode. Bereits früh entwirft Hymes hierfür das umfassende Programm, das sich deutlich gegen den damals vorherrschenden Strukturalismus richtet. Der zitierte programmatische Wechsel enthält eine Reihe noch heute für die Ethnographie wesentlicher Begriffe und Selbstverständnisse: das Erkenntnisinteresse an der kommunikativen Bewältigung des Alltags unter spezifischen sozialen und kulturellen Bedingungen, die große Aufmerksamkeit auf die Funktionen des Sprachgebrauches im Kontext sowie die Vermeidung von monokausalen und -funktionalen Universalismen:
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[I]n regard to theoretical orientations, there must be changes of emphasis and primacy with respect to a number of traits of thought about language characteristic of linguistics and anthropology in much of this century: (a) the structure, or system, of speech (la parole), rather than that of the linguistic code (la langue); (b) function as warranting structure rather than function as secondary or unattended; (c) the referential function in terms of which the structure of the linguistic code is usually approached as but one among a plurality of functions; (d) the different functions as warranting different structural perspectives and organizations; (e) the functions themselves to be warranted in ethnographic context, rather than postulated or ascribed; (f) diversity, not universal identity, of the functions of language and other communicative means; (g) the community or other context, rather than the code, as starting point; (h) the appropriateness of formal elements and messages, rather than their arbitrariness, to receive primary attention; (i) in general, the place, boundaries, and organization, of language, and other communicative means in a community to be taken as problematic. (Hymes 1964, 11)
Innerhalb der Ethnologie bewirkt u. a. Clifford Geertz’ Essay Thick Description/ Dichte Beschreibung (Geertz 1973) Reflexionen über das Verhältnis von Forscher, Forschungsgegenstand und Erkenntnismethoden. Von linguistischer Bedeutung ist hier insbesondere der ,semiotische Kulturbegriff‘, demzufolge die Ethnologie als praktische Ethnographie aufzufassen ist (vgl. Geertz 1973, 9–10): „Ethnographie ist dichte Beschreibung“ (Geertz 1973, 15), verstanden als umfassende kulturkontextuelle Untersuchung der möglichen Bedeutungen und Funktionen von Zeichen. Dass auch der Alltag der eigenen Kultur (vgl. Geertz 1973, 22) als Untersuchungsobjekt lohnend ist und dass dies eine spezifische Vorgehensweise erfordert, haben ethnographische Forschungen in den vergangenen Jahrzehnten belegt. Die heutige Ethnographie der Kommunikation weist Bezüge u. a. zur Anthropologie, zur Psycholinguistik, zur Soziolinguistik sowie zur theoretischen und angewandten Linguistik auf; sie arbeitet mit kulturwissenschaftlichen Methoden, nutzt postkoloniale Theorien und umfasst differenzierte Methoden zur Datenerhebung und -analyse (vgl. Saville-Troike 1982, 6–8). Ethnographische Methoden werden in der germanistischen Linguistik insbesondere in der Gesprächsforschung eingesetzt, z. B. in der Erforschung der sog. Jugendsprache (vgl. Schlobinski/Kohl/Ludewigt 1993). In der Gesprächsforschung sind ethnographische Vorgehensweise auch bereits recht umfassend als Abfolge von Phasen im Forschungsprozess problemorientiert beschrieben (vgl. zum Folgenden Brinker/ Sager 2010, 23–37; Deppermann 2008): Die Datenerhebung beginnt mit Vorüberlegungen zur Ausrichtung der Arbeit (Forschungsfrage, Zielstellung). Das Feld der Sprecherinnen und Sprecher wird als Untersuchungsgebiet zugänglich gemacht, juristische und ethische Aspekte werden erörtert. Erforderliche technische Mittel und Methoden der Aufnahme und der Transkription werden vor dem Hintergrund von theoretisch-methodischen Problemen wie dem Beobachter-Paradox und der Reduktion von Wirklichkeit zumindest erwähnt. Auf linguistische Feldforschung (vgl. dazu Senft 2002) ausgerichtete Diskursanalysen können auf die genannten gesprächslinguistischen Grundlagen zurückgreifen.
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4 Desiderat Mikroanalyse: Ethnographische Diskurslinguistik und Alltag Ethnographisch-diskurslinguistische Ansätze beanspruchen nicht, gesamtgesellschaftliche Wissensordnungen zu untersuchen; sie beanspruchen, teilgesellschaftliche Wissensherstellungen und -verarbeitungen dadurch adäquater erfassen zu können, dass sie Sprachdaten alltagsbezogen erheben und mikroanalytisch auswerten. Teilgesellschaftlich bedeutet hier, stärker die spezifischen innerhalb der als allgemein angenommenen Produktionsbedingungen einer Gesellschaft zu berücksichtigen. Alltagsbezogen bedeutet hier, mit möglichst geringen Beschränkungen Sprachdaten nahe an der Lebenswelt der Produzentinnen und Produzenten zu erheben. Ethnographische Ansätze innerhalb der Diskurslinguistik können die enge Fokussierung auf Themen und massenmediale Texte/Öffentlichkeit erweitern. Eine solche Erweiterung zielt nicht primär auf grundlegende Theoriediskussionen, in denen linguistische Erkenntnisinteressen auf der einen und der Diskurs als theoretische Größe auf der anderen Seite in ein komplett neues Verhältnis gesetzt werden, wenngleich Fragen nach der Anwendungs- und Erklärungsreichweite diskurslinguistischer Ansätze durchaus mitberührt werden (vgl. Abschnitt 7 unten). Es geht bei der Erweiterung primär um mögliche Anwendungsbereiche der Diskurslinguistik auf neue Untersuchungsgegenstände und um hierfür angemessene Methoden. Ausgangspunkt ist (I) die Feststellung, dass die Untersuchungen massenmedialen Sprachmaterials nur bestimmte Aspekte von diskursiv erzeugtem Wissen berücksichtigen: (a) So durchlaufen massenmediale Texte (z. B. Zeitungsberichte, Parteiprogramme, Gesetzestexte) im Herstellungsprozess diverse juristische, ökonomische, normsprachliche u. a. (Sagbarkeits-)Filter, wodurch die Untersuchung bestimmter Themen (z. B. Subkulturen), Akteure (z. B. Personen mit mangelnden Deutschkenntnissen) oder Einstellungen (Extremismus) verunmöglicht oder zumindest verzerrt werden. Durch die Engführung auf bestimmte Kommunikationsformen (v. a. Zeitschriften, Zeitungen, TV, World Wide Web) sind andere Artikulationsorte (z. B. Straße, Arbeitsplatz), Materialitäten (z. B. bedruckte Kleidung, Flyer), Akteurskonstellationen (z. B. Nachbarschaften, Schulklassen) etc. von vorherein unbedacht; Warnke (2013a, 191) warnt deshalb vor einem „Newspaper Bias“ in der Diskurslinguistik. (b) Weil Massenmedien unser Wissen zwar wesentlich produzieren (vgl. Luhmann 1996, 9), aber selbst nicht den Stellenwert des Produzierten für die Rezipierenden festlegen (,two-step flow of communication‘, vgl. Lazarsfeld/Berelson/Gaudet 1944, 151), sollten Diskursanalysen so konzipiert sein, dass sie unterschiedliche Wissensproduktionen und -verarbeitungen berücksichtigen können. Für die Mikroanalyse bietet die Ethnographie hier die „situationsgebundene Realisierungsdynamik“ diskursiven Wissens in der personellen Interaktion, z. B. wie „Diskurswissen“ zwischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines Gespräches eingesetzt wird (Roth 2015, 124).
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(II) Mit Mikroanalysen können die Aussagen eines Diskurses als Praktiken untersucht werden, die in der Makro- und Mesoperspektivierung des Diskurses weitgehend unberücksichtigt bleiben. Zur Erforschung diskursiven zeichengebundenen Wissens gehören die vielfältigen Aspekte der Produktionsbedingungen von Aussagen: (a) Wer wie wo wann Zugang zu legalem, verbotenem oder tabuisiertem Wissen findet, wie mit Quellen, Zitaten und Stimmen umgegangen wird (z. B. im RapKonzert), ist dabei prinzipiell ebenso von Interesse wie die konkreten sprachlichen Muster der produzierten Äußerungen. (b) Zur Analyse des Diskurses gehören ferner dessen (latente) Funktionen, Effekte und Wirkungen. Eine ethnographisch ausgerichtete Diskurslinguistik ist in der Lage, die Äußerungen vor dem Hintergrund der diskursiven Umstände als musterhafte Aussagen zu bewerten, z. B. als Ironie oder als Zeichen politischen Widerstands. Zusammengefasst: Die ethnographisch ausgerichtete Diskurslinguistik verlagert die in der bisherigen Diskurslinguistik dominierende (gesamt-)gesellschaftliche Perspektive durch und auf Massenmedien hin zu vielfältigen Aussagentypen, die unter den Bedingungen des Alltags entstehen. Der Begriff Alltag (zu diskursiven Alltagspraktiken vgl. de Certeau 1980, 11–112) dient in der Diskurslinguistik (vgl. dazu auch Roth 2015, 88–90) v. a. der Abgrenzung gegenüber den oben genannten Kategorien ,massenmedial, thematisch, öffentlich‘ und ist nicht als absolute Grenzziehung zu verstehen. So ist Alltagskommunikation beispielsweise nicht notwendigerweise öffentlich, sie kann es aber sein: Die Öffentlichkeit der Straße ist ebenso Teil des Alltags wie der nicht-öffentliche Arbeitsplatz. Ferner ist die Untersuchung des Diskursiven im Alltag nicht gleichzusetzen mit der Untersuchung von Privatem, denn z. B. auch der Beruf und regelmäßige Arzt- oder Behördenkonsultationen gehören in diesem Sinn zum Alltag. Nach Alfred Schütz (1971) ist Alltag die durch die Erfahrung der wechselseitigen Perspektive intersubjektiv hergestellte Wirklichkeit (vgl. zum Folgenden Auer 1999, 117–122). Anhand des Grades an Mittelbarkeit bzw. Unmittelbarkeit zwischen den beteiligten Personen kann der jeweils vorliegende Beziehungstyp bestimmt werden: Das Verhalten einer Person als Kundin zu einem Verkäufer (Geschäftsbeziehung) unterscheidet sich vom Verhalten dieser Person als Partnerin zu ihrem Partner durch den zeitlichen Aspekt (die Geschichte der Beziehung), die Wiederholbarkeit, die Erwartungen, die Situation etc. Die jeweilige Erwartung an den Alltag hängt wesentlich von den Erfahrungen ab. Die als Alltag empfundene Normalität einer Gesellschaft wird täglich interaktiv, kommunikativ hergestellt. Dabei umfasst Alltag sowohl das Gewöhnliche wie auch das Außergewöhnliche (vgl. Geertz 1973, 21). Für die diskurslinguistische Untersuchung bedeutet die Analyse von sprachlichen Zeichen im Alltag, das an Themen und wissenschaftlichen Kategorien (z. B. Korpus) ausgerichtete Forschungsinteresse zurückzustellen: (I) Alltag ist apriori kaum zu bestimmen, da er je nach Untersuchungsgegenstand und Fragestellung unterschiedliche Ausprägungen hat: Der Alltag eines arbeitslosen Juristen in München unterscheidet sich vom Alltag einer zwölfjährigen Schülerin in Kapstadt. Um den Alltag bzw. das Alltägliche von Menschen/Institu-
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tionen erfassen zu können, ist es erforderlich, sich auf die Lebenswelt der Untersuchten einzulassen. (II) Alltag kristallisiert sich nicht in einer Debatte; er hat nicht ein Gesprächsthema oder Schlüsselwort, vielmehr besteht er aus einer Vielzahl an Handlungen, Praktiken und Interaktionen, die Themen enthalten. Der Alltag hat kaum inhaltliche Begrenzungen, denn prinzipiell kann alles zum Thema werden, z. B. in Gesprächen zwischen Freundinnen bzw. Freunden. (III) Alltag lässt sich nicht in einem Korpus (quantitativ) abbilden. Das Korpus wird auf die Funktion der Belegsammlung beschränkt.
5 Diskurs und Ethnographie: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Theorien und Methoden Diskurslinguistik und Ethnographie weisen in (I) Theorie und (II) Methode i. e. S. eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf (vgl. dazu auch Del Percio/ Zienkowski 2014, 564–777): (I) Zur Theorie: (a) Die Diskurstheorie Foucaults und die moderne Ethnographie von Hymes et al. verbindet neben der ungefähr gleichen Entstehungszeit vor allem Unbehagen gegenüber den vorherrschenden Wissenschaftsverständnissen ihrer Zeit. Foucault behauptet (1975, 43), „die Geschichte der Gegenwart zu schreiben“, indem er den dominanten Deutungen der europäischen Geschichte in den Diskursen die in seinem Verständnis ,positivistische‘ Lesart der Dokumente entgegensetzt (vgl. Foucault 1969). Analog misstrauen die Gründer der ethnographischen Linguistik den dominanten strukturalistischen Lesarten ihrer Zeit und versuchen, sich zunächst dem Sprachgebrauch selbst zuzuwenden (vgl. Hymes 1964: 2–3). Hymes macht hierin das zentrale Problem aus, für das die Ethnographie eine Lösung bietet: Die adäquate Beschreibung der Sprache kann nur erfolgen, wenn die Forscherinnen und Forscher die Daten dort erheben, wo sie überwiegend entstehen. Daraus folgt, dass die Sprachwissenschaft sich in die Lebenswelt der zu untersuchenden Textproduzentinnen und Textproduzenten begeben muss. Für die Diskursanalyse im Anschluss an Foucault stellt sich das Problem der Datenerhebung mit unter Umständen unauthentischem Material so gut wie nicht, da die Bedingungen der Äußerungen (Sagbarkeit, Funktion) und deren Überlieferungen (u. a. Speicherung, Distribution) mitanalysiert werden (vgl. Foucault 1969, 43 u. 159). (b) Diskurslinguistik und Ethnographie ermitteln Funktionen im Sprachgebrauch. Die materielle Existenz eines Zeichens erhält für Foucault (1969, 115–129) den Status der Aussage, wenn sie funktional in Relation zu äquivalenten Aussagen steht. Foucault spricht deshalb auch von „Aussagefunktion“ (128). Eine Aussage ist keine (semantische) Einheit, sondern eine Funktion: „Diese Funktion müssen wir jetzt als solche beschreiben, das heißt in ihrer Auswirkung, in ihren Bedingungen, die sie und das Feld, in dem sie sich bemerkbar macht, kontrollieren.“ (126–
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127). Dell Hymes (vgl. 1964, 6) übernimmt den Funktionsbegriff des Prager Strukturfunktionalismus für sein ethnographisches Programm, indem er diesen konsequent weiterdenkt: [E]mphasis and primacy of speech over code; function over structure; context over message; the ethnographically appropriate over the ethnologically arbitrary; but the interrelations always crucial, so that one can not only generalize the particularities, but also particularize the generalities. (Hymes 1964, 11)
Ethnographie und Diskurslinguistik gehen davon aus, dass nicht a priori einem Signifikant ein Signifikat (Wert/Funktion) zugeordnet werden kann, vielmehr diese Relationen im Sprachgebrauch (Sprachgemeinschaft oder Diskurs) entstehen. Grundprinzipien ethnographischer und diskursanalytischer Forschungen sind deshalb Kulturrelativismus (vgl. z. B. Saville-Troike 2004, 4) und Kontingenz. (c) In der Ethnographie werden kulturelle Ereignisse festgehalten, indem sie niedergeschrieben werden, wodurch sie einen anderen Status bekommen, z. B. vom Flüchtigen zum stets potenziell Präsenten (vgl. Geertz 1973, 28). Nach Geertz (30) gibt es drei Merkmale der ethnographischen Beschreibung: [S]ie ist deutend; das, was sie deutet, ist der Ablauf des sozialen Diskurses [Diskurs im Sinne von ,Sprachgebrauch‘; Ph. D.]; und das Deuten besteht darin, das ,Gesagte‘ eines solchen Diskurses dem vergänglichen Augenblick zu entreißen.
Diskurslinguistik zielt hingegen weniger auf die Fixierung des Flüchtigen denn auf die Hervorhebung des Regelhaften durch die Zusammenstellung von Aussagen zu einem Diskurs. (d) In Diskursanalysen wird versucht, sich weitgehend der Interpretation des Gesagten als Gemeintes zu enthalten, weil davon ausgegangen wird, dass die Bedeutung eines Signifikanten durch den Diskurs hervorgebracht wird (vgl. Foucault 1976b, 164). Im Gegensatz dazu stellt sich die Ethnographie überwiegend die Aufgabe der Interpretation des Gesagten. In Anlehnung an Max Weber spricht Geertz (vgl. 1973, 9) von der Kulturwissenschaft – im Gegensatz zur experimentellen Forschung – als einer interpretierenden, nach Bedeutung suchenden Wissenschaft. Geertz‘ Dichte Beschreibung zielt darauf ab, identische Signifikanten (z. B. das ernstgemeinte, das ironische, das nachahmende und das unbewusste Augenzwinkern) auf ihre unterschiedlichen kulturellen Funktionen und Bedeutungen hin zu untersuchen (vgl. 10–15): „Analyse ist also das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen […] und das Bestimmen ihrer gesellschaftlichen Grundlagen und Tragweiten.“ (15) Kultur ist Kontext und Rahmen von (semiotischen) Handlungen, wobei Kultur und Handlung nicht in kausalem Zusammenhang stehen (vgl. 21). Im Ansatz der Dichten Beschreibung, also der Analyse von semiotischen Bedeutungsund Funktionsstrukturen, decken sich ethnographisches und diskursanalytisches Vorgehen. In diesem Zusammenhang sind auch weiterführende Überlegungen zur „thick description“, wie der „thick participation“ und der „thick analysis“ zu nennen (vgl. Macgilchrist/Van Hout 2011, Absatz 3).
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(e) Foucaults Diskurstheorie liegt eine genealogische Konzeption des Subjekts zugrunde, wodurch die Individualität und Intentionalität von Akteuren kaum in den Fokus des Forschungsinteresses rücken. Mit dem Fokus auf die kulturellen Aspekte des Zusammenlebens steht Individualität auch in der Ethnographie nicht im Mittelpunkt. Anders verhält es sich mit den personellen Intentionen: Viele Richtungen in der anthropologischen und soziologischen Ethnographie sowie in der ethnographischen Gesprächsanalyse setzen für den Verstehens- und Interpretationsprozess des Handelns bei der intersubjektiven Erschließung von Intentionen an (vgl. dazu Deppermann 2008, 49–51, 79–84). (f) In der Diskurslinguistik wird mittlerweile davon ausgegangen, dass die Forscherinnen und Forscher Teil der Diskurse sind, die sie untersuchen. Es ist also notwendig, sich der diskursiven Ordnung des eigenen Arbeitens stets bewusst zu bleiben. In diesem Punkt stimmen Diskursanalyse und Ethnographie überein, etwa wenn von der absolut gesetzten Position der ethnographisch Forschenden gewarnt wird: „Experimental design which is based only on the researcher’s own cultural presuppositions has no necessary validity in a different speech community.” (SavilleTroike 1982, 7) Clifford Geertz (1973, 22; Herv. i. Orig.) geht noch einen Schritt weiter: Da aber bei der Untersuchung von Kultur die Analyse den Gegenstand selbst prägt – wir interpretieren zunächst, was unsere Informanten meinen, oder was sie unserer Auffassung nach meinen, und systematisieren diese Interpretationen dann –, wird die Trennungslinie zwischen (marokkanischer) Kultur als natürlichem Faktum und (marokkanischer) Kultur als theoretischer Einheit tendenziell aufgehoben.
Ihm zufolge sind ethnologische Schriften „selbst Interpretationen und obendrein solche zweiter und dritter Ordnung“ (Geertz 1973, 22–23): Sie sind Fiktionen, und zwar in dem Sinn, daß sie „etwas Gemachtes“ sind, „etwas Hergestelltes“ – die ursprüngliche Bedeutung von fictio –, nicht in dem Sinne, daß sie falsch wären, nicht den Tatsachen entsprächen oder bloße Als-ob-Gedankenexperimente wären. (23; Herv. i. Orig.)
Geertz (1986, 7) zufolge berichten Ethnographen durch Auswahl („[e]thnographic truths are thus inherently partly”) nicht nur über fremde Kultur, sondern auch über sich selbst. Deshalb ist der Schreibprozess der Forschenden Bestandteil der ethnographischen Methode, und aus diesem Grund auch zu reflektieren. Einige ethnographisch vorgehende Diskursanalysen setzen dies um (vgl. 6.1 unten). (g) Ein wesentlicher Unterschied besteht im Verhältnis zur kritischen Wissenschaft bzw. zur Wissenschaft als Kritik. Die Entstehung der sprachbezogenen Diskursanalyse und die Etablierung der Diskurslinguistik beruhte infolgedessen auf einem anfänglichen Antagonismus zwischen einer sich eher bis explizit kritisch und einer sich eher bis explizit deskriptiv verstehenden Wissenschaftsauffassung. Im Zuge der Annäherung zur Überwindung des Antagonismus wird für die Reflexion des eigenen Standpunktes plädiert, von dem aus geforscht wird (vgl. Meinhof/ Reisigl/Warnke 2013). So ergibt sich nun eher ein Spannungsfeld zwischen der eth-
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nographisch arbeitenden kritischen Diskursanalyse (vgl. 6.1 unten) und den traditionellen soziolinguistisch-ethnographischen Ansätzen, die den strikten Deskriptivismus betonen (vgl. Deppermann 2008, 82–83). (II) Zur Methode i. e. S.: (a) Der Untersuchungsgegenstand wird in der Diskurslinguistik zu Beginn des Forschungsprojekts durch Erschließung von Texten sukzessive konstruiert und zeichnet sich durch seine grundsätzliche Unabgeschlossenheit aus (vgl. Busse/Teubert 1994, 14–16). Die Diskurslinguistik stellt mehrheitlich formal-thematisch homogene Texte/Aussagen zusammen, während die Ethnographie Daten unterschiedlicher Quellen und Art miteinander kombiniert (vgl. Hammersley 2005, 8). Dies sind jedoch keine methodologisch zwingenden Standards, vielmehr sind diese Unterschiede aus der diskurslinguistischen Konzentration auf massenmediale Texte erklärbar (vgl. Anschnitt 2 oben); grundsätzlich ermöglicht die Diskurslinguistik die Analyse von höchst unterschiedlichen Datentypen. (b) Diskurslinguistische Verfahren geben keine zwingende Abfolge der Analyseschritte vor, weshalb sie auch mit unstrukturierten Daten arbeiten können (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, 121–201). Die ethnographische Datenerhebung und Auswertung von Alltagskommunikation verläuft ähnlich: Signifikanzen sind prinzipiell auf mehreren Sprachebenen erkennbar und entfalten ihren spezifischen Erkenntnisgewinn mitunter erst im Zusammenspiel mit komplexen kommunikativen Interaktionen. Aus diesem Grund weisen Ethnographie und Diskurslinguistik die Übereinstimmung der prinzipiellen methodischen Offenheit auf: Die Möglichkeit zur Entwicklung und Anwendung qualitativer Methoden ist ebenso möglich wie die Anwendung quantitativer Datenauswertungen.
6 Anwendungen ethnographischer Diskurslinguistik Inwiefern heute ethnographische und diskurslinguistische Methoden und Forschungsfragen integriert werden können, zeigen die folgenden Anwendungsbeispiele. Für diskurslinguistische Forschungen, die ethnographisch vorgehen, können ansatzweise zwei Wege unterschieden werden: die eher synchronen sozioethnographischen Ansätze (6.1) und die historisch-ethnographischen Ansätze (6.2).
6.1 Sozio-ethnographische Ansätze (a) John Swales hat in Other Floors, Other Voices die discourse communites unterschiedlicher Fachrichtungen einer Universität untersucht. Seine diskursanalytischethnographische Forschung nennt er „textography“, worunter er „something more than disembodied textual or discoursal analysis, but something less than full ethnographic account“ versteht (1998, 1). Dieser Forschungsrichtung folgen explizit
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Felicitas Macgilchrist und Tom Van Hout (vgl. 2011, Absatz 5). Sie untersuchen mikroanalytisch die (Re-)Produktion der diskursiven Hegemonie ,Bedrohung durch Russland‘ in Massenmedien. Ihr Forschungsprojekt umfasst fünf Phasen (vgl. Absatz 19–49), um sprachliche und nichtsprachliche diskursive Praktiken nachzuweisen: Die erste Phase ist Feldforschung in einer Brüsseler Zeitungsredaktion, um zunächst die Entstehung der Idee eines Finanzartikels über das Verhältnis von Russland, Gazprom und Gaz de France zu verstehen. Die zweite Phase besteht aus der Untersuchung des bereits vorherrschenden thematischen „threat discourse“ auf der einen und des „economic discourse“ auf der anderen Seite in europäischen und amerikanischen Medien (Absatz 25–26). In der dritten Phase wird softwaregestützt die Schreibpraxis eines Journalisten am Computer analysiert: Wortwahl, Verschiebung und Löschung im Text können hiermit diskursanalytisch als saliente Muster erfasst werden. In der vierten Phase wird der Journalist interviewt, um seine Perspektive im Schreibprozess verstehen zu können. Die fünfte Phase besteht aus dem Schreibprozess des wissenschaftlichen Artikels und zählt zum ethnographischen Vorgehen (vgl. Abschnitt 5 oben): Aus den Daten und Erkenntnissen wird ansatzweise ein narrativer Bericht. (b) Diskursanalytische Fragestellungen verknüpft Ruth Wodak u. a. mit ethnographischen Methoden in The Discourse of Politics in Action. Politics as Usual (2009). Mithilfe von Interviews mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments und Feldstudien in Institutionen der Europäischen Union zwischen 1996 und 2003 wird der Alltag in Straßburg und Brüssel beschrieben. Habitus, Routine und kommunikative Strategie beobachteter Vorgänge werden als ,Leitmotive‘ herausgearbeitet (114– 116). Wodak nutzt dabei die Ethnographie, um die in zuvor in textbasierter Diskursanalyse ermittelten Muster zu überprüfen und mit fiktionalen Darstellungen von Politik in TV-Serien kontrastieren zu können. Im Unterschied zum strikten Deskriptivismus der etablierten soziologisch-ethnographischen Ansätze und wesentlich stärker als Macgilchrist/Van Hout (2011) versteht Wodak ihre Arbeit als kritisch im Sinne der Wiener Critical Discourse Analysis. (c) Kersten Sven Roth (vgl. 2008, 327–329) plädiert in Anlehnung an die Critical Discourse Analysis für die Integration der Untersuchung ,interpersonaler Diskursrealisationen‘ in die Diskurssemantik. In seinem Verständnis ist der Diskurs nicht nur Produkt des Sprachgebrauches, sondern er ist mit Blick auf das Gespräch auch Interaktion (vgl. 348–349). Roth (2015, 63) spricht deshalb von Diskursrealisation und Diskurspragmatik. Sein Ziel ist es, die face-to-face-Kommunikation zu untersuchen, um z. B. Stereotype von Ost- und Westdeutschen oder das Verhandeln des Wissens über die Deutsche Bahn zu ermitteln. Statt Feldforschung i. e. S. schlägt Roth die Teilnahmeorientierte Realisation des Diskurses vor, in der Gespräche durch leichte Impulse von außen untersucht werden (vgl. 2015, 76; 2008, 350). (d) Interviews zur Gewinnung von Informationen über zeitlich zurückliegende Ereignisse sowie zur Ermittlung von Perspektiven, Bewertungen sowie Einstellungen sind nur zwei Anwendungsgebiete dieser Methode in der Ethnographie (vgl.
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Hammersley 2005, 9). Birte Arendt (2010) nutzt Interviews mit Privatpersonen, um Spracheinstellungen zum Niederdeutschen zu erhalten; diese Erhebung ist eingebunden in ein diskurslinguistisches Forschungsdesign, das die ethnographisch gewonnenen Daten mit massenmedialen Analysen zu ,Niederdeutschdiskursen‘ verschränkt. Eine Übersicht der Argumente gegen ethnographische Interviews und deren Kritik vor dem Hintergrund diskursanalytischer Forschung bietet Hammersley (2005, 9–15). (e) Einen anderen Bereich der Verbindung von diskurslinguistischem und soziologisch-ethnographischem Ansatz stellt die Linguistic Landscape dar (vgl. z. B. Scollon/Scollon 2003; Shohamy/Gorter 2009). Ingo H. Warnke (2013b, 167) verortet sich mit seiner diskurslinguistischen Forschung explizit in „linguistic fieldwork, grounded theory, and ethnography“. Er untersucht vor dem Hintergrund urbaner Eigenheiten ausgewählte Zeichen im öffentlichen Straßenraum als Teil des ,Gentrifizierungsdiskurses‘ (vgl. 2013a, b). (Sprachliche) Zeichen des Protestes gegen Gentrifizierung werden im Projekt fotografisch festgehalten und hinsichtlich ihrer Place-Making-Funktionen ,epigraphisch‘ (vgl. 2013b, 171) untersucht: „discursive place-making through urban inscriptions“ (165). Diesen Diskurs allein in Massenmedien zu untersuchen, greife zu kurz, weil Gentrifizierung insbesondere auch dort thematisiert und verhandelt werde, wo sie wirksam wird, so Warnke (201). Blommaert (2013, 118) macht darauf aufmerksam, dass ethnographische Linguistic Landscape Studies nicht als synchrone, sondern stets als historische Analysen zu betreiben sind, da Zeichen nur im „context“ und im „pre-text“ verständlich sind. Stillstand sei eine theoretische Annahme: „In an ethnographic project, therefore, simply nothing is really synchronic.“ (118; Herv. i. Orig.) Coulmas (2009, 14; Herv. i. Orig.) merkt zum starken Urbanitätsbezug an: „Linguistic landscape is really linguistic cityscape”.
6.2 Historisch-ethnographische Ansätze Das offensichtlich Unmögliche, sich als Forscherin und Forscher in eine zeitlich zurückliegende Sprachgemeinschaft zu begeben, um dort mittels Feldforschung Daten zu erheben, führt notwendigerweise zur Anpassung der ethnographischen Methoden für historisch ausgerichtete Forschungen. Seit den achtziger Jahren gibt es in der deutschen Geschichtswissenschaft den Ansatz Historische Anthropologie, später auch die Ansätze Alltagsgeschichte und Mikro-Historie (zur Übersicht vgl. z. B. Jordan 2009, 154–162; Steinacker 2009, 67–72). Diese Ansätze setzen den großen strukturhistorischen und sozialwissenschaftlichen Kategorien und Prozessen (z. B. Klasse, Milieu, Aufklärung, Industrialisierung) den Alltag v. a. aus Sicht der Beteiligten entgegen. Durch die Berücksichtigung der Perspektive von Einzelpersonen und sozialen Gruppen auf Geschehnisse und Handlungen in konkreten Situationen rückt die individuell-subjektive Seite des Geschehens verstärkt ins Zentrum von Geschichte und Geschichtsverständnis. In diesem Punkt stimmt der historisch-
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ethnographische Ansatz mit dem foucaultschen Forschungsparadigma (Foucault 1969) überein, die bestehenden „Einheiten“ zu dekonstruieren, um musterhafte Ordnungen jenseits der etablierten Sehweisen erkennen zu können. Dementsprechend vielgestaltig können die Daten sein, die als Untersuchungsgegenstand zusammengestellt werden: Autobiografische Berichte, Anekdoten, Interviews mit Augenzeugen (oral history), Fotografien u. Ä. werden zusammengestellt, um sprachliche Formen und Funktionen jenseits bisheriger Lesarten der Geschichte zu finden. Diese Daten sind bisweilen Daten aus zweiter oder dritter Hand, was Vorund Nachteile birgt; in jedem Fall ist die Diskursivität der übermittelten Daten zu berücksichtigen (vgl. dazu Dreesen 2015, 197–205). In der Alltagsgeschichte (vgl. Lüdtke 1989) die individuell-subjektive Seite stärker in den Blick zu nehmen, bedeutet nicht, die Analyse des Diskurses zu vernachlässigen. Vielmehr können durch die diskurslinguistische Untersuchung historischer Alltagsumstände die Strukturen und Ereignisse beschrieben werden, die für die Personen und Gruppen unmittelbar handlungsleitend sind: Denn das sind nicht notwendigerweise die großen Themen und Zäsuren (z. B. Kriegsbeginn, Regierungswechsel). Für die diskurslinguistische Forschung stellt sich die Frage, welche Strukturen des Sprachgebrauchs im Alltag in den zu untersuchenden Situationen als handlungsleitend bewertet werden können, um diskursive Bedingungen zu rekonstruieren: (a) Ulla Fix und Dagmar Barth gehen u. a. dieser Frage in Sprachbiographien (2000) mittels (Leitfragen-)Interviews zur Alltagskommunikation in der DDR sowie in der sog. Wendezeit nach. Die interviewten Personen berichten über nach ihrer Erfahrung alltägliches und außergewöhnliches kommunikatives Verhalten, über das diskursive Wissen der Verbote und Gebote des Sagbaren sowie ihre Lese-, Sprech- und Schreibgewohnheiten. (b) Bettina M. Bock (2013b) untersucht die von der DDR-Staatsicherheit zur Denunziation angelegten Berichte von Informellen Mitarbeitern hinsichtlich ihrer diskursiven Regeln. Eine Auswahl dieser Texte, die (sofern dokumentiert) „Handlungspraxis der Führungsoffiziere“ sowie weitere interne Vorschriften ermöglichen es, die konkreten Bedingungen, unter denen die Texte geschrieben wurden, zu rekonstruieren (7). Eine Besonderheit in der Berichtsproduktion stellt der Umstand dar, dass die Texte „musterlos“ (nach Luckmann) ohne vorhandenes Textmusterwissen verfasst wurden, wodurch unterschiedliche kommunikative Absichten transportiert werden konnten (72, 109). (c) Typen von kommunikativen Widerstandsformen auf den Straßen der DDR sind in Diskursgrenzen von Philipp Dreesen (2015) dargestellt. Mithilfe verschiedene Quellen (z. B. autobiografischen Berichten, Fotos der Staatssicherheit, Zeitzeugeninterviews) sind Grenzen des Gerade-nicht-mehr-Sagbaren im Diskursraum der Straße rekonstruierbar. Kommunikativer Widerstand im Alltag ist u. a. hinsichtlich des Spiels mit Bedeutungen, Zitaten und Subjektivierungen regelhaft. Kommunikative Grenzen im Alltag werden interaktiv hergestellt, erfahren, sind aber auch durch erlernte Praktiken verschiebbar.
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7 Desiderata und Ausblick Aufgrund der wenigen ethnographisch verfahrenden diskurslinguistischen Untersuchungen kann das Potenzial der ethnographischen Diskurslinguistik bisher noch nicht ermittelt werden. Als Desiderata und Ausblick können (I) allgemein zum einen Fragen zu theoretischen und methodischen Aspekten formuliert werden, die sich grundsätzlich aus der Verbindung von Diskurslinguistik und Ethnographie ergeben; (II) spezifisch können Fragen aus den bereits erschienenen Forschungsansätzen (6.1 und 6.2) abgeleitet werden. (I) Allgemein: (a) Welt-, Fach- und Alltagswissen existieren nicht einfach in einer Gesellschaft, sondern sie werden diskursiv erzeugt. Ethnographische und massenmediale Diskurslinguistik ergänzen sich hier sinnvollerweise in der Analyse sprachbasierter Wissensordnungen. Während die massenmedialen Diskursanalysen überwiegend die Ergebnisse der Genese bestimmter Wissensarten (z. B. Politik, Xenophobie, Religion) makroskopisch in den Blick nehmen, befasst sich die ethnographische Diskurslinguistik mit den mikroskopischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen (z. B. in Redaktionen, auf der Straße). Beide Forschungsrichtungen können als konzeptionelle Makro-, Meso- und Mikroebenen miteinander verschränkt werden. (b) Ungeklärt ist bislang die Zuordnung zwischen Ethnographie und Diskurslinguistik: Die Erforschung von Arbeitsanweisungen in Fabriken mittels der Analyse von Gesagtem und Nicht-Gesagtem kann sowohl eine ethnographische Untersuchung mit diskurslinguistischen Methoden als auch eine diskurslinguistische Untersuchung mit ethnographischen Mitteln sein. Vielleicht ist eine derartige Zuordnung als Ober- und Unterordnung aber auch gar nicht erforderlich. (c) Produktiv wären Diskussionen, in welcher Weise ethnographisches Vorgehen als zunächst deskriptive Methode des Verstehen-Wollens in Form von dezidiert kritisch ausgerichteter Diskursanalyse anzupassen ist. (d) Die diskurstheoretische Forschung hat bisher kaum auf die Entwicklungen von ethnographischen Ansätzen in der Diskurslinguistik reagiert. Zu klären sind zukünftig Begriffsverständnisse von z. B. Akteur, Archiv, Korpus, Kultur, Textualität, Materialität, diskursive Grenzen. (II) Für die soziologisch-ethnographischen Ansätze stellen sich forschungstheoretische und -praktische Fragen, inwiefern die Forschungsergebnisse (etwa auf Massenmedien, soziale Gruppen, Städte) erweitert werden können. Zudem stellt sich die Frage, inwieweit Standardisierungen bei der Erhebung und Analyse unterschiedlicher Daten sinnvoll sein können (z. B. Datentriangulierung, Mindestfallzahlen). Fragen zur historisch-ethnographischen Diskurslinguistik ergeben sich hinsichtlich des Verhältnisses zu den soziologisch-ethnographischen Ansätzen sowie zu den Forschungsrichtungen des New Historicism/Poetics of Culture.
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Warnke, Ingo H./Jürgen Spitzmüller (2008): Methoden und Methodologie der Diskurslinguistik – Grundlagen und Verfahren einer Sprachwissenschaft jenseits textueller Grenzen. In: Ingo H. Warnke/Jürgen Spitzmüller (Hg.): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene. Berlin/New York, 3–54. Weber, Max (1964): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Frankfurt a. M. 2005. Wodak, Ruth (2009): The Discourse of Politics in Action. Politics as Usual. 2. Aufl. Houndmills 2011.
Uta Papen
12. Discourse analysis and ethnographic fieldwork Abstract: Discourse analysts commonly focus their attention on one or more (spoken or written) texts and their identifiable features, such as their grammar or lexis. They have, however, always maintained that language needs to be studied in context, as social practice, and this has always put discourse analysts in proximity with ethnographers and their focus on culture and everyday social life. This chapter examines research into discourse that combines a more text-focused approach, as developed by linguists, with ethnographic methods that allow researchers to understand text production and text use in specific contexts. Beginning with brief definitions of discourse analysis, critical discourse analysis and ethnography, the chapter then illustrates published examples of research combining a close analysis of specific texts, their grammatical features and wording, with how and to what effect these texts are being used in particular social contexts. The final section of the chapter, drawing on the author’s own recent research into the discursive production of urban spaces, argues that an ethnographic perspective can offer discourse analysts deeper insights into the social situations out of which discourses emerges and in relation to which they impact on people’s thoughts and actions. 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Introduction Discourse and discourse analysis Critical discourse analysis Ethnography and linguistic ethnography Bringing together discourse analysis and ethnography Examples from published research The discursive production of urban space − combining multimodal discourse analysis with an ethnographic perspective Conclusions Bibliography
1 Introduction This chapter deals with combinations of discourse analysis and ethnography in research on language and society. The chapter discusses ways of bringing together methods of analysing texts with approaches to understanding how such texts are used and produced in specific situations and contexts. Discourse analysts have long since maintained that language is always to be understood as situated practice. This is to say that the views, ideas and forms of knowledge that are materialised in the form of written and visual discourse are always shaped by who, where https://doi.org/10.1515/9783110296075-012
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and in which specific situations these ideas are being pronounced. These situations, however, are not just influenced by the immediate communicative event, but by the wider contextual parameters its participants orient to. It is fair to say though that traditionally discourse analysts have focussed their efforts mostly on the close analysis of the text itself (written, oral or multimodal). While they take account of context, this is often conceived of in general terms and not with respect to the specific situations as part of which a text is produced, interpreted and used. The challenge this raises is to what extent the researcher can claim that their analysis of the text is likely to match what its author intended to convey and how different readers in actual social situations would interpret and make use of the text. Ethnographers, on the other side, while not ignoring language, do not always pay close enough attention to what is said, by whom, and how. This can leave them open to the charge of their work not taking sufficient account of the constitutive role language plays in social practice. In recent years, some researchers have begun to combine discourse analysis with ethnography as a way of building on the potential of each approach while at the same time seeking to address the limitations of either when applied on their own. This is happening in areas including education (Rogers 2011), European politics (Krzyzanowski and Oberhuber 2007, Wodak 2009), organizational decisionmaking (Kwon, Clarke et al. 2009) and news writing (Barkho 2011). The chapter will draw on these examples to illustrate key characteristics and potential difficulties research combining discourse analysis and ethnographic fieldwork may face. To illustrate this approach further, I will draw on my own recent work on the discursive production of urban spaces. The studies discussed in this chapter illustrate how discourse analysis and ethnography can merge in their orientation towards furthering our understanding of important social and political issues. When examining such issues, ethnography, with its focus on the insider perspective, can push discourse analysis towards the study of text production, reception and use, traditionally not its focus. Interviews with text authors may for example reveal that semiotic choices are made for reasons the text analyst is unlikely to have discovered had she not spoken to the author. Ethnography can also invite discourse researchers to understand a text’s meaning by looking not only at its chosen words and sentences, but by paying close attention to how the text and what it says figure in specific situations and events. This enables a deeper insight into why a text takes on certain meanings and why it privileges specific discourses and specific ways of expressing these. Ethnographic methods can also improve the researcher’s understanding of institutional rules and practices that compel writers to use specific discourses and particular lexis, for example in the context of news writing where journalists are bound by editorial rules (Barkho 2011). In that way, the researcher’s analysis of the text is based on their knowledge of actual production contexts and/or specific text functions, acknowledging that it is crucial to understand how the meanings of specific statements can change depending on when, where and by whom these were pronounced.
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2 Discourse and discourse analysis It is necessary to start the discussion of discourse analysis and ethnographic research with a few explanations setting out the understanding of discourse I draw on here. The term discourse is used in a variety of meanings across linguistics and other academic disciplines. We can think about discourse as having to do with the relationship between form and function in verbal and other forms of communication (Renkema 2004). Fairclough (2003) explains that discourse is used in two different ways, as an abstract and as a count noun. In the former, discourse refers generally to instances of language use. In the latter form, as a count noun, discourse means particular ways of understanding and representing specific aspects of the world. Wodak (2008) explains this further by saying that discourse in this second sense is ‘topic-related’ and she uses the example of a discourse on un/employment. There is no unanimous view on what exactly discourse analysis is or how it should be conducted. The phrase ‘discourse studies’ is also used widely, but again this refers to a bundle of approaches and perspectives all of which though have in common an interest in understanding ‘text’ (understood in the widest sense) and its role with regards to knowledge, social practice and identity. When discourse analysis or discourse studies are referred to, either of the two versions of ‘discourse’ can be implied. Many discourse analysts focus on verbal language, either written or spoken. Others though are particularly interested in multimodal forms of communication, focussing for example on how newspaper articles, websites or magazines combine visual and verbal text (Machin and Mayr 2012). Despite this lack of clarity in relation to what discourse analysis does or does not involve, most researchers whose work is associated with this approach share an important presupposition about the texts they look at: these are not to be seen in isolation but with regards to the context they are part of. The context here extends over several layers or levels, including an internal level (how parts of the text relate to each other and work together), an intertextual level (how a specific text is always linked to other texts), a context of use (the social interactions and practices as part of which the text is produced and used) and, finally, the wider socio-political and historical context to which the text belongs (Wodak 2008).
3 Critical discourse analysis Critical discourse analysis or CDA is specifically aimed at understanding the role of discourses in relation to power. For CDA researchers, discourse is an instrument of power. Language (as discourse) has a bearing on social practices and social structures. It is influential in the sense that specific forms of knowledge, specific identities and ideologies, put forward via discourse, can shape what people think
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and how they act. Of course, social practices and social structures also shape discourse and those already in power often find it easier to make their discourse listened to than those who are not. Norman Fairclough, a prominent proponent of critical discourse analysis, describes his work as belonging to the field of ‘critical social science’. This, he explains, is research that has as its goal to provide a ‘scientific basis’ (Fairclough 2003, 15) for examining aspects of social life in terms of social justice and power, raising moral and political questions (Chouliaraki and Fairclough 1999). As a critical discourse analyst, the particular contribution to such research he makes is to reveal how texts, both oral and written, use the power of words and grammatical structures to foreground specific ideas (while backgrounding others) and to present issues according to particular (and necessarily selective) perspectives. So CDA seeks to understand the suggestive power of texts which in advertising for example is used to manipulate readers into being attracted to certain goods or services. In declaring their research to be framed by critical social science, researchers such as Fairclough or Wodak (see below) position themselves in a tradition of research that is not unlike much contemporary ethnographic study (see next section). The important point here is that CDA, similar to ‘critical ethnography’ (Madison 2012), does not define itself as being tasked with making social practices more efficient and effective. CDA’s aims include explicit critique of current forms of language use and, on that basis, the development of ideas to change existing practices. Within the disciplinary realm of linguistics and applied linguistics, CDA’s specific orientation is thus to be distinguished from formal linguistics (descriptive but not critical) and from the more functional goals of much applied linguistics. While CDA occupies a prominent position within the wider field of discourse studies (see the authors cited here), less critical and more descriptive approaches to discourse analysis have continued to be developed and the boundaries between these different perspectives have remained porous (Spitzmüller and Warnke 2011).
4 Ethnography and linguistic ethnography Ethnography is a form of research that seeks to produce in-depths understandings of aspects of social life as they occur in real-life settings (Davies 2008, Heath and Street 2008, Madden 2010). With its roots in social anthropology and sociology, ethnography is known for studying social phenomena as actual practices − as they happen − not through experimental designs or in laboratory-like conditions. A key premise of ethnography is that researchers have to get ‘their hands dirty’ by seeking the close contact with those whose lives they are interested in. Ethnographers have to mix and mingle, or ‘hang out’ with the locals, an approach that is referred to as participant observation (PO). PO is widely seen as the distinctive data collection method of ethnography.
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However, despite sometimes being seen as such, ethnography is much more than a data collection technique. It is better understood as a methodology or a research paradigm. Its first epistemological premise is that ethnographers study social phenomena (including language) in context or as ‘situated’ practice. Ethnographers assert that social practices, values and identities are constructed through ongoing processes of meaning making and interaction. They see culture as a ‘verb’ (Heath and Street 2008) not as a static container for social life to happen within. Secondly, ethnographers privilege the emic or insider’s view: the ideas, values, actions and feelings of the people whose lives (or aspects thereof) they have set out to study. Hence, it is crucial for ethnographers to seek the direct encounter with this emic view and to expose their own ideas and assumptions (also called the etic view) to the ‘test’ (in a metaphorical sense) of the ethnographer’s encounter with the insiders’ perspective. This is the core of what is happening in the ethnographic ‘field’, where ‘fieldwork’, as ethnography is sometimes called, is taking place. While this field was once meant in an almost literal sense when the likes of Bronislav Malinowski and other members of the early generation of ethnographers entered the grassy fields of the ‘exotic places’ where their ‘natives’ lived, nowadays the field is a metaphor for the ethnographer’s study focus or topic (Madden 2010). With regards to language, ethnography suggests that speech and writing have to be studied ‘in use’ and from the perspective of its users. In the English speaking research context, this perspective is derived from the ‘ethnography of communication’ developed by Dell Hymes (Hymes and Gumperz 1972) and influenced by the tradition of linguistic anthropology associated with Duranti (2009) and others. Both these perspectives have fed into what in Britain is known as ‘linguistic ethnography’ (LE), a relatively new and interdisciplinary field which provides a home for a variety of approaches to the study of language, including discourse analysis. Linguistic ethnography brings together ‘linguistic analysis with ethnography, in order to probe the relationship between language and social life in more depth’ (Tusting and Maybin 2007, 576). There is an important caveat to the ethnographic task as described here: the insider’s view, which the ethnographer is seeking to understand, is not readily identifiable for the researcher. It is not simply ‘out there’ for the analyst to take hold of and grasp. Knowledge about the social world is in itself always socially and discursively constructed. So the ethnographer needs to pay attention to discourse, as a topic of investigation and as a means through which the investigation is conducted. Furthermore, in ethnography the researcher herself is the key medium for the development of insights. Knowledge is always constructed through a dialogue between the insiders’ views and the researcher’s outsider or etic view. In order for this to be a productive endeavour, the ethnographer has to foster reflexivity. The need for reflexivity is a key postulate of contemporary ethnography (Davies 2008). Reflexivity can be defined as a turning on oneself, a conscious process of examining one’s own positioning or stance and how it impacts on our interpretation of the data we gather. Reflexivity invites researchers to critically examine the
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processes of knowledge creation in research. Discourse analysts, we will see below, have at times been criticised for lacking in reflexivity.
5 Bringing together discourse analysis and ethnography While there has been some interest in recent years in combining discourse analysis and ethnographic research, ‘marriages’ between the two approaches remain a rarity within the wider field of discourse-oriented linguistics and social science research. When unions have been sought, these seem to have been forged by researchers with a critical orientation towards semiosis and its link with social practices and social relations. For these researchers, textual analysis has to be part of a multi-method approach to social research. Making the case for textual analysis to be combined with ethnography, Fairclough (2003) explains that meaning-making cannot be understood by drawing on text analysis alone. For sure, to do this, researchers need to look at the text itself. But they also need to examine how this text figures as part of specific activities and practices and how it is used and interpreted in the context of these practices (Fairclough 2003). To do this, they require ethnographic methods such as observations and/or interviews. Krzyzanowski suggests that ethnographic methods are useful for understanding the situatedness of discourse, what he also refers to as ‘in-depth contextualisations’ (2011, 232). This means to study not discourse/s as such, but their links with power and action: their power effects. The aim of such research is to identify the role specific discourses play in relation to the social and institutional practices they are part of and help maintain. To do this, researchers need to follow a specific discourse’s movements and re-instantiations across different social environments and events. Krzyzanowski (2011, 232), refers to this as ‘contextual-to-textual macromicro mediation’. We can see from the above that the combination of text analysis with ethnography requires a complex research design including a variety of data collection and analysis methods which need to be applied across different field sites. This may be part of the reason why the combination of discourse analysis with ethnographic research is not done more often. Other reasons are likely to relate to traditional disciplinary boundaries. Although discourse originally captured a broad philosophical idea, within linguistics, it developed into a text-focussed approach and this moved research on discourse away from ethnographic methods with their focus on situated practices and people’s actions. Discourse analysts, it is fair to say, use their analytical tools (for example their knowledge of grammatical features such as modality) to understand what interpretations of a text or utterance are most likely. They seek to understand regularities in the way discursive patterns are generated (Hammersley 2005). This also means
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that based on their analysis, they develop plausible assumptions about the author’s intentions, a reader’s reception thereof and a discourse’s impact in specific situations and on different people. What we can see from this is that discourse analysts and ethnographers are likely to differ in terms of how they research textcontext links and how they study the emic view. Discourse analysts appear to focus on the text (and the discourses it contains) and its context in a more general sense, i.e. they draw on available secondary sources to understand the wider social and institutional environment the text is associated with. Ethnographers, however, look at how a specific discourse is being deployed and what consequences this has. To do this they examine specific situations and actions as part of which discourses are called upon. Furthermore, ethnographers are interested in the interpretations of a text made by ‘real’ people (not researchers) in ‘real’ situations (not in the context of a researcher’s work at their desks and on their PCs). This may include the text author’s intentions or the text’s reception and use by specific readers or both. Ethnographers would typically try to understand these not by relying primarily on their own knowledge of how semantic choices and grammatical structures work but by asking the text’s author and its readers or by observing in-situ how a particular discourse, manifested in written or oral texts, operates in different social situations. Whether a researcher’s epistemological stance invites them to seek input from authors and specific readers and to capture situations or events of text use or not seems to be the essential difference between discourse analysis in its traditional and still more common version and an ethnography of texts. Here is an example to illustrate the latter approach. In an earlier study (Papen 2007, Papen 2010), I examined the role written texts such as invoices for public services (e.g. water or electricity bills) and credit agreements for consumer goods such as clothing or furniture played in the lives of ordinary Namibians. The people I worked with were not highly educated and they had limited knowledge of English, the country’s official language and the language the invoices and letters they received were written in. Although most of them had some form of employment or income, their financial means were very limited. While I drew on elements of CDA for my understanding of these texts, my priority was to interview their recipients. From these interviews, I learned that people dealt with these texts in different ways, some for example relying on their children or other relatives to understand them, others talking about their lack of money which compelled them to use credit schemes and invariably led to late payments. My text analysis showed very clearly that the credit conditions were often hidden (suppressed) in the letters and credit contracts by using financial jargon or small print. Some of the recipients though suggested that whether they understood how high the interest rates were or not didn’t matter. Being poor, they explained, they had no choice but to accept the conditions regardless of how exploitative they were. My focus here was on ‘real’ readers and situated, local and specific text interpretations. We can see from this brief example that from an ethnographic perspective, CDA risks being constrained by the analyst’s own interpretation of a text and there-
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fore limited in its ability to understand the situated nature of text and talk. An ethnographer, Slembrouck argues, would want to understand the ‘momentary aspects of practice’ (Slembrouck 2005, 624), or, as I would put it, differences in practices. In my Namibian study, I was able to uncover differences in the way the same or a similar text was received. I could see how ‘language operates differently in different environments’ (Blommaert 2005, 14). No doubt, as Fairclough (see above) acknowledges, linguistic analysis alone cannot provide us with deep insights into the dynamics of how texts, practices and contexts interrelate. Other researchers too have noted the potential pitfalls of discourse analysis when used in isolation, as any text can be interpreted in different ways (Widdowson 2004, Barkho 2011). There remains a further issue those combining discourse analysis and ethnographic research need to address. This concerns the question of reflexivity, a key premise of ethnography (see above). CDA has been criticized for being too driven by the researcher’s interests and interpretations which stem from particular ideological orientations. Machin and Mayr (2012) suggest that critical discourse analysts can be challenged for choosing specific texts for analysis without making it explicit why they consider these to be relevant. Reflexivity demands researchers to be transparent about their reasons for choice. Of course ethnographers would be wrong to believe themselves completely immune to the charge of selectively approaching research topics and fieldsites based on their own intellectual curiosities and ideological biases. The ethnographer’s open and insider-driven research design, however, requires them to pursue the issues that come up while fieldwork is conducted. Water and electricity bills for example took a prominent place in my research in Namibia not because I had any prior interest in them or was aware of how important they were in the context of people’s household finances, but because they were frequently mentioned by the people I worked with. Importantly, the need for reflexivity is a question of epistemology: how is knowledge about a text and its role in social practices to be gained and whose knowledge is it that counts in the construction of an authoritative account of a text’s meaning? Is the researcher’s voice automatically given interpretative legitimacy? Or can and does reflexivity have to be brought to specific instances of data analysis where it may cast doubt on the researcher’s handling of their interpretive tools and the insights they produce? Slembrouck (2005) suggests that because text analysts often by-pass authors, readers and users, they avoid these deeper epistemological issues. Ethnography, he continues, can provide researchers with the tools and the philosophical orientation that would allow for complications of what counts as the ‘ultimate’ insight into a text’s meaning and usefulness.
6 Examples from published research Rebecca Rogers, an education researcher from the University of Missouri–St.Louis, describes her own longitudinal study of the educational lives of one African-Ameri-
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can family as integrating critical discourse analysis and ethnography ‘at every stage and level’ of her project (Rogers 2011, 239). Rogers studied the experiences of Vicky Treaders, who in fifth grade (when she was 10 years old) was diagnosed to have learning difficulties resulting in her being sent to a self-contained special education unit. Rogers’ acquaintance with the Treaders, an African-American family, started when she met Vicky’s mother June in the adult education class she was teaching. Rogers’ work began as an ethnographic study of the way Vicky and June engaged with reading and writing in their everyday lives, drawing on two years (1997–1999) of observations in their home and in school, interviews with June, Vicky and their family and the collection of relevant documents. So in many ways this was an almost ‘model’ ethnography as defined in my earlier section. A later restudy (2007–2009) was conducted in a similar way. Rogers was particularly interested in the processes and practices through which Vicky was identified to require special education. As part of the study, two meetings, each having been decisive for Vicky’s school career, are analysed in detail. Rogers’ discussion of these meetings illustrates in a powerful way the insights to be gained from the combination of CDA with ethnography. In the first of these meetings, the school’s Committee on Special Education (CSE), drawing on Vicky’s test scores and other psychological reports about her learning, labelled her as ‘speech impaired’ and ‘multiply disabled’ with regards to learning. These labels, backed up by the psychological evidence, resulted in Vicky being placed in a special education class. In a second meeting, taking place a year later, Vicky’s two special education teachers praised her highly and described her as one of the best students in her class. The possibility of her moving into an integrated classroom is mentioned but at the end of the meeting it seems that Vicky, of her own accord, decides to remain in the special education class. Rogers’ analysis of these two meetings is based on her presence at both meetings, her recording of the entire conversation and her ongoing ethnographic study of the family, involving regular meetings with mother and daughter. Her interpretation of the meetings includes her observations of the seating, her analysis of turntaking and participation structures as well as a detailed examination of the discourses used by the education professionals and what knowledge and evidence these were based on. For example, Rogers shows that by using the label (i.e. the discourse) ‘multiply disabled’ Vicky is categorized as requiring special education. Vicky’s mother initially tries to resist this discourse, but as the psychologists draw on the assumed ‘scientific’ evidence of Vicky’s test scores she ends up accepting her daughter being placed in a self-contained special education class. Here, Rogers demonstrates how discourse, knowledge and identity are linked and lead to action that is decisive for Vicky’s entire school career. Based on test results, which are taken as evidence of Vicki’s low educational achievements, she is labelled as learning ‘disabled’, an identity that requires her to follow a specific school trajectory. What powerful effects the discourse of learning disability had on Vicky also became evident when, at a second meeting, taking place a year later, Vicky decided
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to stay in the special education classroom. At that meeting, the possibility of Vicky joining an integrated classroom (where she would still be categorized as a special education child, but taught within the context of a regular class) was discussed. Rogers (2002) interprets Vicky’s decision to be the result of her having acquired assumptions about herself not being clever enough to cope in a mainstream class. In other words, she identified at least to some extend with the discourse used to describe her. The wider social context to take account of here, as Rogers shows, relates to issues of race and the high proportion of children from African-American backgrounds being placed in special education with the consequences this has for their educational achievements and wider future. Rogers’ work, as my discussion shows, is driven by her intention to understand the powerful ‘textual devices’ (Fairclough 1992) that resulted in June and Vicky’s consent to her being placed in special education. How these textual devices achieved their effects, however, becomes fully clear only through the combined use of text analytical tools (including an attention to metaphors, modality and silences, in particular around the term ‘special education’, which in the meetings was repeatedly replaced by euphemistic phrases such as ‘15:1 program’) with Roger’s deep knowledge of the Treaders and their views on education. Rogers concludes that her ‘ethnography breathed life into the textual analysis’ (Rogers 2011, 242). My second example of a study combining discourse analysis with ethnographic research concerns the everyday politics of the European Parliament. The overall aim of this study was to understand the ‘discursive construction of politics as usual’ (Wodak 2009, 121). In other words, the study sought to understand what is going on behind the scenes that are presented to the media. This is where, as Wodak and her colleagues understood, real political work is happening. This, as Hamilton (2012) has argued too, is accomplished primarily through discourse, in the form of talk and text. Data collection in this study was achieved through a researcher accompanying an Austrian MEP, called Hans (a pseudonym) for three consecutive days from early in the morning until late at night. Hans had agreed to wear a tiny microphone and recorder so that all his conversations could be captured and later transcribed and analysed. The researcher, a member of Wodak’s team, also took detailed fieldnotes. This combination of participant observation with the recording and analysis of verbal data allowed for a number of insights which neither approach on its own would have been able to reveal. For example, having shadowed the MEP throughout the three days, Wodak and her colleagues drew on the concept of recontextualisation to show how in the various speeches, debates and meetings Hans took part in throughout the day he continued to elaborate on (in various discursive forms and genres) the same political goals which were key to his agenda as an Austrian social democrat. Having been present throughout Hans’ days, the researcher was able to see that the politician’s ability to pursue his political agenda and to present himself as a competent MEP with credible views relied heavily on Hans’ insider knowledge of the routines and rules of the committees he was a member of. He
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knew how to act and talk in these different contexts. Furthermore, the MEP’s expertise drew strongly on the work of his assistant, who – as the ethnography revealed – summarized various background documents, gathered essential information, briefed Hans on key policies and organised his schedule of meetings. The assistant played a key role in supporting the MEP’s discursive competence. Having recorded all of Hans’ conversations throughout three days, Wodak and colleagues were able to focus in on the speeches, lectures and discussions he had, examining in more detail his argumentation strategies. The detailed analysis of his discourse includes features such as his use of metaphor (e.g. the metaphor of ‘core’ and ‘periphery’ relating to the ‘old’ and ‘new’ members of the EU), the frequent use of presuppositions, insinuations and implicatures, or the ‘strategies of positive self and negative other presentation’ (Wodak 2009, 120) which he drew on repeatedly in his talk when referring to the EU Commission (Wodak 2009, 131). Wodak and her colleagues conclude that their ‘ethnography of backstage politics’ makes visible the way an MEP, through his daily activities, as a member of various committees, by giving speeches, in more informal lunch meetings with colleagues and through the ongoing work of sifting through policy proposals and background documentation, pursues his political goals, in this case relating to the enlargement of the EU. All this political work, much of which is accomplished discursively (in speeches, discussions and policy papers), offers a different picture of politics than the media’s tendency to focus on ‘grand politics’ (Wodak 2009, 154), personalised stories and scandal. The ethnographer’s work, combined with a sophisticated discourse analysis, produced deep and nuanced insights into how ‘real political work’ is accomplished (Wodak 2009, 127). The two studies summarized here both reveal how ethnography and discourse analysis can be combined to further our understanding of how specific discourses are realised (actualised, we might say) in specific social situations and what effect these then have, illustrating in a more powerful way than text analysis or ethnography on their own the direct links between language (as discourse), knowledge, identity and action (i.e. power).
7 The discursive production of urban space − combining multimodal discourse analysis with an ethnographic perspective My recent research into the discursive production of urban spaces takes as its example the neighbourhood of Prenzlauer Berg in Berlin (Papen 2012, Papen 2015). Built in the late 19th and early 20th century, beginning in the 1980s this originally working class area had become a niche for students, artists, squatters and those opposing the GDR regime. As the authorities paid little attention to the area, the
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old Gründerzeit houses, most of which survived World War II relatively unscarred, were left to decay. After reunification though, the derelict housing stock soon attracted investors and it was not long until Prenzlauer Berg experienced a steep process of gentrification turning it into a popular and expensive neighbourhood (Doerfler 2005, Holm 2006). I was interested in the role public texts, from shop signs, to protest posters, private notices and graffiti, played in the area’s economic and social renewal and in the creation of its new image and reputation. In terms of theoretical orientation, my starting point was interdisciplinary, drawing inter alia on a nowadays well established subfield of sociolinguistics known as ‘linguistic landscape’ (LL) research (Ben-Rafael, Shohamy et al. 2006). But my approach was also informed by recent work in human geography and urban studies (Lefebvre 1991, Harvey 2006, Soja 2010) drawing attention to the discursive production of urban spaces and the role images and discourses about a neighbourhood play in place making and marketing as well as with regards to spatial inequalities. Methodologically, as a linguistic ethnographer, I was guided primarily by what my initial explorations of the area brought to my attention. Walking through the streets of Prenzlauer Berg, sitting on the benches of its playgrounds and spending time in local cafes I had my first conversations with people of the neighbourhood, while at the same time reading up on its history and current politics. I soon realised that a lot of signs I saw on the streets, be they shop signs, graffiti tags or works of street art, were not easily interpretable to me or allowed for several possible readings. Thus I began to seek out shop owners and other sign producers or sign authors (Malinowski 2009) and asked them about their texts. I also became acutely aware of the need to examine these signs as multimodal texts, as images, colour and materiality play a key part in the construction of their message. To illustrate the approach I adopted in this study, I now discuss one particular text, the banner shown in Figure 1 below. In winter and early spring of 2010/11, I regularly visited Kastanienallee, surveying signs and interviewing local business owners as well as residents. Number 77 had caught my attention early on, as a large banner always adorned its façade. Throughout the winter and spring of 2010/11, residents and local businesses protested against the modernization of Kastanienallee. Located at the heart of Prenzlauer Berg, this popular street is best known for its lively shopping, entertainment and arts scene. Approved by the district council and assembly, the road was to be widened, a new cycle path and more car parking to be included, while the street’s much liked wide pavements were to be narrowed. The local community, residents and local businesses, opposed the planned modernization. While the protest was partly organised online, the street itself played a major role as a public space where the community’s ongoing opposition was displayed. Street manifestations were organised and posters, banners and graffiti slogans were placed on house façades, in shop windows and on lampposts all over Kastanienallee.
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Fig. 1: Protest banner, 77 Kastanienallee.
For several weeks in early spring 2011, the banner in Figure 1 was attached to the house at number 77 Kastanienallee. It was part of a series of protest banners put up by the residents. My analysis of the banner shown in Figure 1 is based on an interview with Herbert, the graphic designer who produced it and on three interviews with Lena (all names are pseudonyms), a member of the house community who jointly decided over the banner’s content. To this I added my own analysis of this and other banners the house community had used, drawing on the tools of multimodal discourse analysis (Machin and Mayr 2012). I also interviewed one of the leaders of the local neighbourhood association which coordinated the protests against the modernization of Kastanienallee and a resident of another house community, a few hundred meters away from No 77, and who also took part in the protests. In the early years after reunification, many empty houses in Prenzlauer Berg and other parts of East Berlin had been taken over by squatters. Number 77 Kastanienallee was one of them. Its occupants, a group of artists, had always used the building’s front as a canvas to express their views. This, Lena explained, had started on the day of their occupation of the house, when they installed a display centred on the theme of doctors saving this house that had been left to die. Since then, the residents, who have long since become legal owners of their flats and artists’
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workshops, have continued to use the façade as a form of ‘confession’, a direct way ‘to position themselves’. As former squatters, Lena added, the residents cared for the façade ‘being used for something’. The banner shown in Figure 1 was created by Herbert, a graphic designer and artist, whose workshop is located in No 77. He had discussed his ideas with several of the other residents. About 3 meters wide and 2 meters high, the banner is easily visible from the other side of the street. The text at the top, painted in red, means: ‘against the extension to four lanes’. If the local assembly’s plans were to go ahead, the road would be extended from two to four lanes. At the bottom, in blue letters, it says ‘petition now’, referring to a petition citizens were invited to sign. For such a petition to trigger a referendum in the local assembly, over 8000 signatures had to be collected. The banner was put up at a time when local activists had begun to gather people’s support for the petition. This is why, Herbert explained, they had mentioned it in the text. Sitting on a bench in front of the house, right underneath the banner, Herbert and I discussed the banner’s colour, font and images. When I suggested that the red and blue might have been chosen because on traffic signs red is used to signal what is not allowed, whereas blue indicates what is permitted, Herbert laughed and explained that he started with red at the top because he knew he had more red than blue paint left to produce this banner. He used simple wall colours, which he said work well on this type of canvas (a tarpaulin). But then he agreed with my interpretation, adding that red is a ‘signal colour’ and that people tend to look more at red than at blue. For the tram in the middle he chose yellow, because traditionally most trams in Berlin and other German cities were yellow. Although this has changed somewhat these days, Herbert explained that most people still associate yellow with trams. This is an example of colour choice related to established – but locally specific – colour codes (Kress and Van Leeuwen 2002). The writing, Herbert told me, is what he referred to as his ‘Transpi’, his way of writing on ‘Transparents’ (banners). The car’s green colour is intended to invite associations with the local Green Party. While Herbert had been working on the canvas, a house mate had jokingly suggested that a ‘green’, meaning a member of the Green Party, ought to drive the car. To the dismay and bewilderment of many local residents, Berlin’s Green Party, highly popular in Prenzlauer Berg, supported the council’s plans. To further develop the car’s association with the Green Party, its registration number is ‘B-90’. B 90 stands for Bündnis 90, a grouping of East German civil rights activists, which later merged with the Green Party, whose official denomination since then has been ‘Bündnis 90/Die Grünen’. The banner in Figure 1 was part of a series of protest documents the house community had designed and displayed on their façade. On a previous banner the residents had named the Green Party directly, accusing them of supporting the extension of the road allowing for more traffic and high speeding. The banner said
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in large letters ‘Greens kill pavements.’ (Grüne killen Bürgersteige.). A day after this banner had been put up, the local Green councillor visited the house seeking to get the banner removed. To see such a strong reaction to their banner, Lena remembers, was a surprise to them. When the councillor promised to support a movement in the district assembly to introduce a 30 km/h speed limit for the modernized street, the house community agreed to take off this particular protest text. But they continued to use their façade to protest against the planned extension. Every few weeks, they designed a new banner. Lena explained that they always tried to have a new slogan displayed shortly before the (regular) district assemblies, because the local media always reported on the conflict prior to an assembly. Because of the change in the Green’s position after the councillor’s visit to their house, the banner in Figure 1 no longer confronted the party directly. Visual resources such as the green colour allowed them to continue to challenge the party, but in a more subtle way. This is what Herbert and Lena told me about the banners and about the practice of using their house façade to take a stance on issues that concern them. Thanks to these conversations, I was able to understand the banners’ intended meanings and I learned about some of the reactions they received. To further my analysis, I drew on tools from multimodal discourse analysis. In the banner on Figure 1, the choice of bold and saturated colours, together with the simple font, enhances the text’s long distance visibility and, we can say, connotes the strength of the protest movement. The different colours segment the text into easily distinguishable but not disconnected parts. Font size, coupled with the flat and saturated colours, gives the text salience and draws attention to the important message contained in the writing at the top and the bottom. Given that the banner is attached to a house front and is intended to be visible from afar, these are important choices likely to enhance the banner’s impact. The word ‘jetzt’ (now), although not mentioned by Herbert, is likely to have been chosen to emphasize the immediacy of the concern addressed here. ‘Jetzt’ is written in slightly larger and bolder letters, highlighting the urgency of the message. In the writing at the top, size is used to highlight the word ‘Ausbau’, extension. For many of those living and working on Kastanienallee, Lena told me, this is the most controversial aspect of the plans. They do not want the street to become larger. Sandwiched in between the text at top and bottom, Herbert decided to paint a scene that draws attention to the effects of the plans residents and local businesses are most unhappy about. They fear, Lena, Herbert and the leader of the neighbourhood organisation campaigning against the plans told me, that Kastanienallee will become a major thoroughfare. The cyclist’s scared face connotes the dangers cyclists are likely to face when car traffic will increase and double lanes invite cars to speed and overtake. Cycling is popular in Prenzlauer Berg and Herbert and the other residents of Number 77 are regular cyclists. Speeding is visually indexed here by the rows of black smoke coming out of the car’s exhaust and the onomatopoeic writing of ‘vrooom’. Squeezed in
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between cars and trams cyclists risk getting trapped in the tram tracks (‘Schiene’). Pedestrians, Herbert had wanted to show, will struggle for space on the narrowed pavements and risk being pushed to the walls of houses. That the banner includes an image of a pram can only be understood with reference to the local context. Prams, in particular those recognizable as manufactured by certain expensive brands, are almost a symbol of Prenzlauer Berg. The neighbourhood is very popular with families with young children. At the time of my research, newspapers commented on branded pushchairs and prams as the identity markers of middle class parents. At the same time, they questioned the amount of space these take up on the neighbourhood’s pavements (Heymann 2010). Kastanienallee’s pavements were wide enough to allow everybody, mothers with prams and pushchairs and students and artists looking for their lattes and pizzas, to enjoy street life. The planned development of Kastanienallee would put an end to this and this was a key reason for local business people to object to it. On Herbert’s banner, visual and verbal modes work together, each adding different aspects to its meaning. The written text conveys the essential information required to understand the conflict and what can be done about it. The image adds an aesthetically appealing illustration of the plan’s main effects, as seen by its opponents. Its main affordance, I suggest, is that it requires less space than a verbal account of the feared scenario, while its artistic value and slightly comic depiction of the envisaged future scenario are likely to attract viewers. Herbert commented on the choice of this easily understandable scene. He explained that it resulted from their experience with a previous banner attached to No 77 earlier in the year. This banner had contained an ‘abstract image’ which was intended to show a person being run over by a tram, with a short text underneath (Teurer, Schneller, Breiter-More expensive, faster, wider). Nobody, Herbert told me, had understood this banner. This is why for their next banner he and the other housemates had chosen a narrative scene. We can see from the above discussion that the combination of interviews and ongoing observations of the protests with discourse analysis made it possible to give credibility not only to ‘my’ theoretically-informed analysis of the banner, but to understand the author’s intended meaning and to gain insights into text reception. Without talking to Lena and Herbert, I would not have known about the Green councillor’s visit to the house in reaction to the banner that openly challenged his party’s stance. I would not have been able to understand that the more indirect criticism of the Green party on the banner in Figure 1 was a reaction to the negotiations that had taken place between the house community and the local Green councillor. In the wider context of my Berlin research, the analysis of the different banners I found on the house in Kastanienallee nurtured by the insights the house members shared with me allowed me to get an insight into the role such texts played in the community’s protest practices and their identity as residents and activists.
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8 Conclusions Studies combining discourse analysis with ethnographic approaches remain a minority within the broad field of discourse studies. The two approaches are not unquestioningly compatible. Methodological hurdles and resource constraints may force researchers who combine both approaches to privilege one of them resulting in a neglect of the other. Where the ethnographic perspective has taken centre stage in the marriage of the two perspectives (for example Scollon and Scollon 2004), a systematic analysis of language may then be lacking. More text-oriented approaches such as by Fairclough, on the other hand, despite his declared interest in ethnography, are lacking in the latter perspective. An additional factor here is that what constitutes ethnography or what ‘counts’ as an ethnographic study is to some extent open to interpretation. Stroud and Mpendukana (2010) for example, studying advertising in a South-African township, appear to equate ethnography with an understanding of the township as a social and cultural context, based on secondary literature and their own experience of the place. Warnke, also working on Prenzlauer Berg, explains that it is essential for the researcher who studies writing in public places to move in person through this space, so that they can examine a text such as a sign in its local context and provide an ‘in-place’ analysis of its discourse (Warnke 2013, 177). The ethnographer’s stated aim of understanding texts in context can be ambitious, in particular if the goal is to include text production and reception. Reader reception is difficult to study. Participant observation is mostly not feasible (as reading is often an individual practice located in the person’s mind). We have to rely on the situated accounts which are produced in research interviews (Benwell 2005). Furthermore, readings of signs are context-dependent and different readers are likely to take different meanings of a text such as a protest banner (see Collins and Slembrouck 2007). There is therefore no authoritative text reception, but a range of possible interpretations. Text authors can often be consulted more easily. But this depends on the context of the study. In my Berlin research, several of the authors I wanted to talk to, including graffiti writers and street artists whose works I found in Prenzlauer Berg, were not identifiable. We can see from this that in addition to epistemological differences, pragmatic considerations are likely to contribute to the lack of popularity CDA-ethnography combinations experience. Long term ethnographies such as by Rogers are extremely time and resource demanding. Wodak has often worked in large interdisciplinary teams benefitting from substantial funding. A lone researcher would be unable to work at the level and detail she and her colleagues were able to do. And yet, despite these methodological complications and pragmatic hurdles, studies that combine ethnography and discourse analysis are undoubtedly worth pursuing. In Rogers’ case for example, the long term ethnographic work with the Treaders allowed her to see not only the immediate but also the long term effects
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of discursive silences happening in specific situations. Vicki never left special education and as a result she finished secondary education without a high school diploma, but with an attendance certificate only which did not give her access to college. Neither Vicki nor her mother had been aware of this consequence of her being a special education pupil. Without their backstage ethnography, Wodak and colleagues would have been left with the analysis of transcripts of conversations and speeches amputated from the events and contexts as part of which these were produced. A situated analysis of these texts would have been impossible while questionable generalisations about the deployment of specific discourses and discursive practices may have been unavoidable. In my own work, my interviews with Herbert, Lena and other residents provided key insights into the particular reasons and contexts out of which semiotic choices were made. In conclusion, what these and other examples show is that studies combining discourse analysis with ethnographic fieldwork can offer empirically grounded insights into the situated nature of talk and text. They reveal the changing and contested character of all discourses. This methodology also allows us to understand the power effects of different discourses, as these are dependent on the contexts within which they are deployed and thus not fully predictable when using textbased analysis alone.
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13. Diskurslinguistik und Grounded-TheoryMethodologie Abstract: Der Artikel gibt einen Überblick über Anwendungsmöglichkeiten der sozialwissenschaftlichen Grounded-Theory-Methodologie (GTM) in diskurslinguistischen Untersuchungen. Es handelt sich um einen qualitativen, korpusgesteuerten Forschungsansatz, der ausdrücklich Verfahren zur Erstellung qualitativer Korpora berücksichtigt. Es werden die theoretischen Grundlagen und die Passung dieser Kombination geklärt, Ähnlichkeiten und Differenzen dargestellt, sowie konkrete GTM-basierte Verfahren für den diskurslinguistischen Forschungsprozess und die Analysetätigkeit formuliert. Wie die linguistische Diskursanalyse spannt die GTM einen methodologischen Rahmen auf, der bestimmte methodische Vorgehensweisen begründet. Die Stärken der Kombination liegen insbesondere bei Verfahren zur Erstellung qualitativ auszuwertender Korpora, die bisher im Rahmen der Diskurslinguistik stark vernachlässigt wurden, außerdem bei den konkreten Methoden zur Reflexion und „Kontrolle“ der Interpretationen und der gesamten diskurslinguistischen Analysetätigkeit. Ein Grundprinzip der GTM ist die strikte empirische Verankerung des Analyse- und Erkenntnisprozesses. Die Theorie über den untersuchten Diskurs(ausschnitt) wird konsequent aus dem Untersuchungsmaterial entwickelt, Grundprinzip ist der Vergleich von Untersuchungsmaterial. Die Auswahl von Texten/Äußerungen erfolgt sukzessive und parallel zur Analyse. Die Auswertungsergebnisse und die sich entwickelnde Theorie bestimmen die Auswahl weiterer Texte (theoriegeleitetes Sampling). Es gelten die Prinzipien der Hypothesenlosigkeit (bzw. des Zurückstellens von Hypothesen) und Unvoreingenommenheit gegenüber dem Untersuchungsmaterial. Die Kombination von Diskurslinguistik und GTM kann insofern als qualitatives, korpusgesteuertes Verfahren innerhalb der Diskurslinguistik beschrieben werden.
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Grounded-Theory-Methodologie: Charakterisierung eines qualitativen Forschungsansatzes Das Verhältnis von Diskurslinguistik und GTM Kombination von GTM und Diskurslinguistik Anwendungsbeispiel Literatur
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1 Grounded-Theory-Methodologie: Charakterisierung eines qualitativen Forschungsansatzes 1.1 Qualitative Forschung Typisch für qualitative Forschungsmethoden ist ein interpretativ-(re)konstruktiver Zugriff auf den jeweiligen Gegenstand (zur Unterscheidung von qualitativer und rekonstruktiver Forschung vgl. Kruse 2015, 24–26). Im Unterschied zur qualitativ ausgerichteten linguistischen Sprach- und Textanalyse, die laut Spitzmüller/Warnke (2011, 33) „mit allen Plausbilitätsproblemen hermeneutischer Textinterpretation“ unausweichlich verbunden sei, gibt es in den Sozialwissenschaften eine stärkere Tradition, diese forschungspraktischen Probleme methodisch zu reflektieren und in den Griff zu bekommen und so die Plausibilität und Intersubjektivität qualitativer Forschungsergebnisse zu sichern. Ein entsprechendes methodisches Programm wurde am entschiedensten von Barney Glaser und Anselm Strauss in der von ihnen so genannten Grounded-Theory-Methodologie (GTM) ausgearbeitet. In ihrer 1967 veröffentlichten, ersten gemeinsamen Monografie The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research (Glaser/Strauss 2010) schlagen sie – wenngleich noch recht allgemein – ein Vorgehen zur regelgeleiteten und überprüfbaren „Entdeckung“ von Theorien aus Untersuchungsmaterial vor. Seit den 1960er Jahren hat sich die GTM immer weiterentwickelt. Auch ihre Gründungsväter haben sich seither auseinander entwickelt. Es gibt verschiedene Strömungen, sodass Mey/Mruck (2011, 12) anmerken, man müsse eigentlich von GroundedTheory-Methodologien sprechen. Bryant/Charmaz (2007, 10) sprechen von 3 Schulen, die man unterscheiden könne: einer GTM nach Glaser, einer GTM nach Strauss und Corbin und einer konstruktivistischen Schule (als deren Hauptvertreterin Kathy Charmaz gelten kann). Einen Überblick über verschiedene Ansätze und Sichtweisen geben außer Bryant/Charmaz 2007 auch Mey/Mruck 2011a, zu Differenzen zwischen Glaser und Strauss vgl. insbesondere Strübing 2011, zur Rezeption der GTM im deutschsprachigen Raum vgl. Mey/Mruck 2011b, 20–22. Bei allen Unterschieden lassen sich aber Grundelemente beschreiben, die von allen GTM-Vertretern mehr oder weniger geteilt werden. Gerade weil zu Recht kritisiert wurde, dass in (sozialwissenschaftlichen) Forschungsarbeiten immer wieder in undifferenzierter Weise oder jargonartig auf „Grounded Theory“ Bezug genommen wurde, um mit diesem rhetorischen Verweis das eigene empirische Vorgehen pauschal zu rechtfertigen (vgl. Kruse 2015, 95, 114–120), sollen die Bestimmungsmerkmale der GTM und mögliche Verzahnungspunkte mit linguistischen Methoden in diesem Beitrag ausführlich reflektiert werden. Bei qualitativen Forschungsdesigns muss die Auswahl des Untersuchungsmaterials stets theoretisch-systematisch und nicht zufällig erfolgen. Statistische Repräsentativität, bei der direkt von einer (hinreichend großen) Untersuchungsstichprobe auf eine Grundgesamtheit geschlossen werden kann, kann kein Ziel solcher
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Untersuchungen sein. Stattdessen spricht man in den Sozialwissenschaften von der Repräsentanz qualitativer Untersuchungsergebnisse (vgl. Kallmeyer 2005, 980; Lamnek 2005, 186–187; Strübing 2002, 335). Es geht darum, anhand einer begrenzten Anzahl von Fällen die Bandbreite an auftretenden Phänomenen darzustellen und bewusst auch seltene und extreme Fälle zu berücksichtigen. Vom Untersuchungsmaterial werden also wesentliche Eigenschaften abstrahiert (Kallmeyer 2005, 980), Existenzaussagen getroffen und Typen konstruiert. Die GTM ist als ein hermeneutischer Forschungsrahmen zu verstehen, der – genau wie die (linguistische und die wissenssoziologische) Diskursanalyse – gerade kein „Standardprogramm“ formuliert, das immer in einer bestimmten vorgeschriebenen Weise vollständig abgearbeitet werden soll. Die angebotenen Methoden sind konkret und dabei flexibel einsetzbar. Innerhalb der Sozialwissenschaften wird die Grounded-Theory-Methodologie mittlerweile als „Standard“ qualitativer empirischer Forschung bezeichnet (vgl. Truschkat/Kaiser-Belz/Volkmann 2011, 353). Titscher/Meyer/Wodak/Vetter (2003, 74, 215–219) haben in einer Untersuchung herausgearbeitet, dass die GTM in sozialwissenschaftlichen Publikationen die am häufigsten erwähnte und damit prominenteste Forschungsstrategie unter den qualitativen Ansätzen ist. Innerhalb der Linguistik dürfte sie in der Konversationsanalyse am verbreitetsten sein (vgl. Kap. 4.1.), was insofern nicht erstaunt, als diese der sozialwissenschaftlichen Forschung sehr nahe steht. Die qualitativ arbeitende Diskurslinguistik bezieht sich bereits in einzelnen Untersuchungen auf die GTM. Mey/Mruck (2011b, 22) sehen einen Grund für die Popularität und Verbreitung der GTM darin, dass sie in erster Linie einen besonderen Forschungsstil, eine bestimmte Forschungshaltung beschreibe und erst in zweiter Linie eine Auswertungsmethode. Eines der Grundprinzipien in der GTM ist Offenheit und Unvoreingenommenheit gegenüber dem Untersuchungsmaterial. Es werden Methoden bereitgestellt, um zum einen diese Offenheit zu bewahren und um zum anderen die (Interpretations- und Analyse-)Schritte des praktischen Forschungshandelns zu systematisieren und im Sinne ‚guter Forschung‘ zu kontrollieren. Im Folgenden sollen die Forschungslogik der GTM und ihre wichtigsten Grundelemente näher charakterisiert werden.
1.2 Zentrale Elemente der GTM 1.2.1 Was ist eine „Grounded Theory“? Eine Grounded Theory ist zunächst einmal eine empirisch begründete Theorie, die sukzessive und „aus den Daten heraus“, also im Falle linguistischer Untersuchungen: aus dem Sprachmaterial heraus, entwickelt wird (vgl. Strauss/Corbin 1996, 7). Andere übliche Übersetzungen sind: gegenstandsverankerte Theorie, empirisch
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verankerte Theorie, in den Daten begründete Theorie. Konstitutiv ist der gezielte Verzicht auf Hypothesenbildung im Vorhinein. Der Erkenntnisprozess ist auf „ergebnisoffene Prozessualität“ hin angelegt (Truschkat 2012, 80). Hypothesen zu bilden und im Verlaufe der weiteren Untersuchung zu überprüfen und zu modifizieren ist eine der zentralen Aufgaben im Forschungsprozess. Diese Unvoreingenommenheit erlaubt es, dass auch unerwartete „Zusammenhänge aus der Empirie heraus auftauchen und ‚befragt‘ werden“ können (Truschkat/Kaiser/Reinartz 2005, Abs. 9). Sowohl Glaser als auch Strauss haben die klassischen Testgütekriterien statistischer Analysen für die qualitative GTM reformuliert. In der ersten gemeinsamen Monografie von 1967 formulieren sie – in ausdrücklicher und kritischer Abkehr von der damals dominierenden quantitativen Forschungspraxis –, wiederholt Zweifel daran […], dass dieser strenge Kanon [der rigorosen quantitativen Verifikation für Sampling, Reliabilität, Validität, Indikatorbestimmung, Häufigkeitsverteilung etc., B. B.] als Kriterium zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Theorie, die auf flexibler Forschung beruht, in Anschlag gebracht werden kann. (Glaser/Strauss 2010, 236)
Stattdessen formulieren sie für Grounded Theories vier Gütekriterien (ebd., 249– 261): 1. Eignung/Passung: Die Theorie muss dem Gegenstandsbereich, auf den sie angewendet werden soll, bzw. den Daten, angemessen sein, und sie „passend“, geeignet widerspiegeln. 2. Verständlichkeit: Die Theorie soll auch für die untersuchten Personen und Praktiker des jeweiligen Bereichs grundsätzlich verständlich sein. 3. Allgemeingültigkeit: Eine Theorie sollte abstrakt genug sein, um auf eine Mehrzahl von Kontexten anwendbar zu sein, aber auch nicht so abstrakt, dass sie ihren sensibilisierenden Aspekt einbüßt. 4. Kontrolle: Die Theorie soll ihre Anwender (z. B. in der Praxis) in die Lage versetzen, „Alltagssituationen so weit zu kontrollieren, dass ihre Anwendung lohnend erscheint“, sie also die Situationsrealitäten u. a. verstehen und analysieren können (ebd., 257). Strauss/Corbin (1996, 217– 221) haben Leitfragen zur Prüfung der Qualität sowohl des Forschungsprozesses (darunter: Wie wurde die Ausgangsstichprobe gewählt?, Was waren einige der Hypothesen hinsichtlich konzeptueller Beziehungen?) als auch des Theoriebildungsprozesses (darunter: Ist ausreichend Variation in die GT eingebaut?, Wurde dem Prozessaspekt Rechnung getragen?) formuliert, die von wissenschaftlichen Veröffentlichungen – wenn auch nicht immer detailliert – beantwortet werden sollten.
1.2.2 Verzahnung von Erhebungs- und Auswertungsprozess Ein Hauptcharakteristikum der GTM ist, dass die Phase der Datenauswahl (Datenerhebung) und die Phase der Analyse und Theoriebildung nicht nacheinander und getrennt voneinander ablaufen, sondern von Anfang an parallel vonstatten gehen und eng verflochten sind. Bezogen auf linguistische Untersuchungen steht also
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beispielsweise zu Beginn weder der Umfang des Korpus fest, noch welche Texte oder Äußerungen in die Untersuchung einzubeziehen sind. Je nach der genauen Ausrichtung einer Analyse sind auch die Grenzen des interessierenden Diskurses (also des Gegenstandes) nicht von vornherein genau zu überblicken. Beides konkretisiert sich im Prozess der sukzessiven Auswahl und Auswertung: Die Auswahl neuer ‚Daten‘ bzw. (Sprach-)Dokumente wird von den Auswertungsergebnissen und der sich herausbildenden Theorie über den Untersuchungsgegenstand angeleitet. Die GTM bezeichnet dies als theoriegeleitetes Sampling (‚theoretical sampling‘) (s. Kap. 2.2.3.). Der Auswertungsprozess besteht in der GTM in den sog. Kodierverfahren, die nach bestimmten Prinzipien angewandt werden. Bei der Anwendung auf die Diskurslinguistik tut sich hier der größte Übersetzungsbedarf auf (ausführlicher diskutiert in Kap. 4.3 und 3.2). Strübing (2014, 29, 48) hat diese Verzahnung von Erhebungs- und Auswertungsverfahren als iterativ-zyklischen Forschungsprozess charakterisiert, bei dem der Forscher permanent zwischen den sukzessive, auf Basis der aufkommenden Auswertungsergebnisse auszuwählenden Daten und der sich entwickelnden Theorie hin und her pendelt. Theorie- und Hypothesenbildung beginnen bereits mit der Analyse des allerersten Materials, werden stetig weiterentwickelt und bestimmen die weitere Auswahl von Untersuchungsmaterial. Die Forschungsfrage wird in diesem Prozess genau wie der Gegenstand selbst immer weiter präzisiert bzw. konturiert. Charakteristisch für die GTM nach Strauss und Corbin ist eine abduktive Forschungslogik (vgl. Truschkat/Kaiser/Reinartz 2005, Abs. 9; Strübing 2014, 46–50) wobei auch induktiv ad-hoc-Hypothesen erarbeitet werden, die dann wiederum auf dem Wege der Deduktion auf die Daten bezogen werden usw. Fraas/Meier (2013, 147–150) unterscheiden in Bezug auf diskurslinguistische Untersuchungen in einem ähnlichen Sinne Top-Down- und Bottom-Up-Analysen.
1.2.3 Theoriegeleitetes Sampling und theoretische Sättigung Anders als in statistischen Untersuchungen sind in qualitativen Studien weder die Grundgesamtheit noch die Merkmalsverteilung einer solchen Grundgesamtheit bekannt. Statt zufälliger Datenerhebungsverfahren und der Festlegung einer Stichprobengröße zu Beginn, werden daher in der GTM theoriegeleitete Verfahren angewandt, d. h. es wird erst im Verlauf des Forschungsprozesses, parallel zur sich herausbildenden Theorie über den Gegenstand, festgelegt, nach welchen Kriterien weitere Dokumente auszuwählen sind. Grundlage dieses Auswahlprozesses ist der permanente Vergleich (von Äußerungen, Texten, Zeichen(komplexen), von Auswertungsergebnissen und neuen Daten etc.; vgl. Glaser/Strauss 2010, Kap. V). Es werden sowohl Daten aufgesucht, die den schon untersuchten sehr ähnlich sind (minimaler Vergleich), als auch solche, die den bereits ausgewählten Daten sehr unähnlich sind (maximaler Vergleich). Theoriegeleitetes Sampling ist insofern die
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Suche nach weiteren relevanten Daten, die grundsätzlich auf dem Vergleichsprinzip basiert und angeleitet wird vom jeweiligen (vorläufigen) theoretischen Wissensstand. Analyse und Vergleich beginnen bereits mit den allerersten Dokumenten. Das theoriegeleitete Sampling fordert also auch die Reflexion und Begründung von Kriterien zur Auswahl von Untersuchungsdaten im Forschungsprozess. Besonders geeignet ist dieses Vorgehen für noch weitgehend unbekannte, schwer überschaubare Untersuchungsfelder und solche, die schwer oder nicht direkt zugänglich sind (vgl. Anwendungsbeispiel in Kap. 4). In diskurslinguistischen Untersuchungen wird das zu erhebende Untersuchungsmaterial i. d. R. aus sprachlichen Äußerungen bzw. (multimodalen) Zeichen(komplexen) bestehen. Grundsätzlich kommt jegliches Material in Betracht, „das helfen kann, die Theoriebildung voranzubringen – von Glaser […] in dem Diktum ‚All is data‘ zusammengefasst“ (Mey/Mruck 2011b, 28). Strauss und Corbin (1996, 153–159) beschreiben drei Sampling-Verfahren, die sich auf die von ihnen unterschiedenen drei Auswertungsverfahren (s. Kap. 2.2.5) beziehen: 1. offenes Sampling, 2. Sampling von Beziehungen und Variationen (beim axialen Kodieren), 3. diskriminierendes Sampling (beim selektiven Kodieren). Insbesondere zu Beginn einer Untersuchung spielt das offene Sampling eine wichtige Rolle. Ziel ist es, relativ breit und mit größtmöglicher Offenheit nach Vergleichsfällen zu suchen. Dies entspricht der Phase des offenen Kodierens, in der zunächst relevant ist, möglichst viele Phänomene (Kategorien) aufzudecken (ebd., 153). Konkretisiert wird das Vorgehen des offenen Samplings in drei von Strauss und Corbin „Sampling-Techniken“ genannten Such- bzw. Findeweisen, die im Samplingprozess möglichst kombiniert werden sollen (ebd., 155; Anwendungsbeispiel s. Kap. 4: Der Forscher kann zum einen gezielt nach Vergleichsdaten suchen (ebd., 155), d. h. er wählt bewusst Dokumente aus, entscheidet sich für einen bestimmten Ausgangstext oder einen bestimmten Diskursausschnitt zu Beginn etc. Außerdem kann der Forscher beim offenen Sampling systematisch vorgehen (ebd., 155): Er wählt dann beispielsweise zunächst alle zu Anfang verfügbaren Dokumente aus und sucht darin nach Hinweisen für relevante Kategorien und Samplingkriterien, oder er erhebt zunächst Dokumente eines bestimmten Zeitabschnitts oder eines bestimmten Mediums, diskursrelevante Äußerungen eines bestimmten Ortes etc. Nicht zu vergessen ist schließlich, dass Daten auch „ziemlich zufällig auf[tauchen]“ (ebd., 156), d. h. man stößt unerwartet auf sie bei Recherche und Lektüre oder bei der Beobachtung. Die Fähigkeit, die analytische Bedeutsamkeit eines solchen Fundes zu erkennen, liegt in der GTM in der sog. theoretischen Sensibilität des Forschers begründet. Diese ist aber nicht nur während des offenen Kodierens, sondern im gesamten Forschungsprozess von Bedeutung (s. Abschnitt 2.2.4.). Das zweite Samplingverfahren, das mit dem sog. axialen Kodieren verbunden ist, zielt darauf, möglichst viel Variation und Unterschiede zu finden und bereits erarbeitete (Zwischen-)Ergebnisse zu validieren. Die Suche nach Vergleichsfällen kann hier deduktiv erfolgen, also ausgehend von den bereits erarbeiteten theoretischen Kategorien und Konzepten (ebd., 157). Der dritte Verfahrenstyp, das diskriminierende
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Sampling (ebd., 158), besteht darin, Dokumente gezielt auszuwählen, und zwar im Hinblick auf noch bestehende Leerstellen in der Theorie oder zum Verifizieren des gefundenen „roten Fadens“ (sog. selektives Kodieren). Diese drei Samplingarten sind nicht als streng in dieser Reihenfolge abzuarbeitende Schritte zu verstehen, sondern mehr als ein Orientierungsrahmen, der Perspektiven und Vorgehensweisen zusammenfasst, die im Forschungsprozess wechselnd eingenommen bzw. umgesetzt werden können (zu ihrer Übertragung auf diskurslinguistische Untersuchungen s. Kap. 4.3.). Im Forschungsverlauf ist es durchaus möglich, dass Konzepte und Kriterien, mit denen der Forscher in das Sampling eingestiegen ist, sich später als irrelevant herausstellen oder modifiziert werden. Die GTM legt Wert auf diese Prozessualität und auch darauf, sie in der Darstellung der Forschungsergebnisse offenzulegen. Wann genügend Daten ausgewählt sind, wann also das Untersuchungskorpus „geschlossen“ werden kann, wird ebenfalls nicht von vornherein festgelegt. Der Endpunkt von Analyse und Erhebung wird in der GTM durch das Konzept der sog. theoretischen Sättigung markiert: Sättigung heißt, dass keine zusätzlichen Daten mehr gefunden werden können, mit deren Hilfe der Soziologe weitere Eigenschaften der Kategorie entwickeln kann. Sobald er sieht, dass die Beispiele sich wiederholen, wird er davon ausgehen können, dass eine Kategorie gesättigt ist. […] Um die Sättigung zu erreichen, maximiert er die Differenzen in seinen Gruppen, d. h. er steigert die Verschiedenheit derjenigen Daten, die sich auf eine einzelne Kategorie beziehen. Auf diese Weise entwickelt er möglichst viele Eigenschaften seiner Kategorie. (Glaser/Strauss 2010, 69)
Theoretische Sättigung bedeutet also, dass der Einbezug weiterer Dokumente keinen substanziellen Wissenszuwachs in Bezug auf die entwickelte Theorie mehr bewirkt, und zwar weder in der Ausdifferenzierung einzelner Elemente dieser Theorie, noch in ihrer „Gesamtanlage“. Die Suche nach weiteren Vergleichsfällen ist an diesem Punkt abgeschlossen.
1.2.4 Theoretische Sensibilität und Vorwissen Der Samplingprozess soll in der GTM, ebenso wie der Prozess der Auswertung und Theoriebildung, vom Prinzip der Offenheit gegenüber dem Untersuchungsmaterial geprägt sein. Das ist durch kontrolliertes Forschungshandeln und durch Handlungsstrategien zu erreichen (wie sie bspw. die Samplingverfahren darstellen), aber natürlich sind Deutungen und Interpretationen letztlich immer auch von der Person des Forschers geprägt. Ein Prinzip der GTM, damit umzugehen, ist das Arbeiten in Forschungsgruppen und Interpretationsgemeinschaften (vgl. Mey/Mruck 2011, 34). Der jeweilige Arbeitsstand wird in Forschergruppen, in denen idealerweise ähnliche Themenfelder bearbeitet werden, diskutiert und somit eine gewisse Intersubjektivität hergestellt. Die bereits erwähnte theoretische Sensibilität ist ein weite-
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rer Ansatz, um das Vorgehen des Forschers zu reflektieren. Glaser und Strauss verstehen theoretische Sensibilität als die persönliche Fähigkeit des Forschers, sensibel gegenüber theoretischen Zusammenhängen zu sein, ein Bewusstsein für die Feinheiten im Erkennen der Relevanz von Daten zu haben, in der Lage zu sein, dem Untersuchungsmaterial Bedeutung zu verleihen usw. Sie zielt auf die reflektierte Aufrechterhaltung von Offenheit für das Untersuchungsmaterial, z. B. durch bewusstes „Zurücktreten“ und Neubetrachten und das Für-möglich-Halten anderer Deutungen im Forschungsprozess. Widmet der Soziologe sich ausschließlich einer vorab erschlossenen Theorie […], schränkt er seine theoretische Sensibilität zwangsläufig ein. Er wird dann zum Doktrinär und vermag weder zu der von ihm favorisierten noch zu sonst einer Theorie auf Distanz gehen. Er verliert die Sensibilität für Fragen, die seine Theorie in Zweifel stellen, oder er wird defensiv, er ist davon besessen, zu testen und zu modifizieren und alles aus einem festgelegten Blickwinkel zu betrachten. (Glaser/Strauss 2010, 54)
Glaser und Strauss sehen theoretische Sensibilität als eine Eigenschaft des Forschers, die es diesem überhaupt erst ermögliche, „eine aus den Daten hervorgehende Theorie [zu] konzeptualisieren und [zu] formulieren“ (2010, 54). Sie ist auch die konkret im Untersuchungsverlauf ausgebildete Fähigkeit, Einsichten (über den jeweiligen Gegenstand) zu haben, Zusammenhänge zu erkennen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen usw. Truschkat weist darauf hin, dass die theoretische Sensibilität in allen Varianten der GTM zwar ein festes Element, aber kein festgefügtes Konzept ist, das ein deduktives Forschungsvorgehen induzieren würde. Vielmehr ist damit eine bestimmte Haltung im oder auch Anleitung für den Analyseprozess gemeint (vgl. Truschkat 2012, 78). Insbesondere in den jüngeren konstruktivistisch orientierten Varianten der GTM wird die theoretische Sensibilität in ihrer Wirkung auf den Forschungsprozess reflektiert, vgl. z. B. Charmaz in Mey/ Mruck 2011a. Einer der wesentlichen Unterschiede der GTM nach Glaser und der GTM nach Strauss (und Corbin) besteht in der Frage, auf Basis welcher Quellen, welchen Vorwissens der Forscher theoretische Sensibilität im Forschungsprozess entwickeln könne (vgl. Mey/Mruck 2011, 31–32; Strübing 2011, 266–268). Einigkeit herrscht darüber, dass es „kompetenter Akteure“ bedarf, „die zwar wissend sind, mit ihrem Wissen aber – darin liegt die wesentliche Charakteristik theoretischer Sensibilität – dosiert, sachangemessen und kreativ umzugehen verstehen“ (Strübing 2011, 267). Der Streitpunkt ist, welche Arten von Vorwissen wann einbezogen werden dürfen (woraus auch unterschiedliche Kodierprozeduren resultieren). Während Glaser dazu auffordert, die Untersuchung mit so wenig vorgeprägten Ideen wie möglich zu beginnen und Fachliteratur erst einzubeziehen, wenn sich die wichtigsten theoretischen Kategorien herausgebildet haben (vgl. Mey/Mruck 2011b, 31), sind Strauss und Corbin (1996, 25–27) diesbezüglich liberaler: Die Kenntnis von Literatur (sowohl über theoretische Modelle als auch über den konkreten Untersuchungsgegenstand), persönliche Erfahrungen und Forschungserfahrung sowie die Erkenntnisse,
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die der Forscher im Verlauf seiner Untersuchung gewinnt, sehen sie auch in frühen Forschungsphasen als „legitime“ Einflussfaktoren an, die es allerdings offenzulegen gilt. Überhaupt erscheint es unmöglich, allein „die Daten sprechen“ zu lassen und Einflussfaktoren auf Seiten des Forschungssubjekts völlig auszuschalten. Strübing (2011, 267) kritisiert Glasers Auffassung dann auch als „naiven Induktivismus“, da er die „Selektivität unserer Wahrnehmung beim analytischen Zugriff auf die Daten, die sprachlichen Mittel zur vergleichenden Darstellung als relevant erachteter Eigenschaften der zu vergleichenden Indikatoren“ vernachlässige: All dies kommt ohne ein gewisses Maß an theoretischer Vorprägung nicht aus und steht somit der Idee reiner Emergenz von Konzepten aus Indikatoren-Vergleichen und von Theorie aus Empirie entgegen. (ebd.)
Kruse (2015, 94–108) spricht hier von einem generellen „induktivistischen Selbstmissverständnis“ qualitativer Forschung. Entscheidend ist in der Forschungspraxis letztlich, dass sich der Forscher (halb-bewusste) Vorannahmen und die Quellen seines Vorwissens so weit wie möglich bewusst macht und diese offenlegt.
1.2.5 Kodieren/Auswerten Die Analyse besteht in der GTM im Prozess des sog. Kodierens (zur Übertragung auf diskurslinguistische Analysen s. Kap. 4.3). Mey und Mruck charakterisieren das Kodieren als einen Prozess, in dem „empirisches Material in Sinneinheiten zerlegt wird und für diese Sinneinheiten Kodes vergeben werden, deren konzeptueller Gehalt über eine beschreibende Zusammenfassung des empirisch Vorfindbaren hinausgehen muss“ (Mey/Mruck 2011b, 24). Die grundlegende Operation, die allen Kodierschritten unterliegt, ist die „Methode des ständigen Vergleichens“ […] Vergleichsoperationen sollen während des gesamten Forschungsprozesses und auf allen Ebenen der Analyse angewandt werden (Mey/Mruck 2011, 27)
Bei Strauss/Corbin (1996) ist statt der ‚Methode des ständigen Vergleichens‘ nur noch von ‚Dimensionalisierung‘ die Rede, womit der „Prozeß des Aufbrechens einer Eigenschaft in ihre Dimensionen“ (ebd., 43) gemeint ist. Jedoch kommt dem Vergleichsprinzip neben dem Stellen von theoriegenerierenden Fragen auch bei Strauss und Corbin eine zentrale Bedeutung zu (vgl. ebd., 86). In sozialwissenschaftlichen Untersuchungen werden einzelnen Passagen von Dokumenten (z. B. Interviewtranskripten, Quellentexten) zunächst sog. Kodes bzw. Konzepte zugeordnet, die diese Textpassagen deutend charakterisieren. Konzepte definieren Strauss/ Corbin (ebd., 43) als „[k]onzeptuelle Bezeichnungen oder Etiketten, die einzelnen Ereignissen, Vorkommnissen oder anderen Beispielen für Phänomene zugeordnet werden.“ In der weiteren Analyse (des wachsenden Analysekorpus) und Relektüre werden diese gefundenen Konzepte kontinuierlich zueinander in Beziehung ge-
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setzt und verglichen (z. B. daraufhin, inwiefern mehrfach vergebene Konzept-Bezeichnung tatsächlich gleiche Phänomene fassen, oder als Vergleich mit weiterem empirischen Material) sowie zu abstrakteren, übergeordneten Kategorien, die mehrere Konzepte integrieren, zusammengefasst. Eine Kategorie ist bei Strauss/Corbin (1996, 43) eine „Klassifikation von Konzepten. Diese Klassifikation wird erstellt, wenn Konzepte miteinander verglichen werden und sich offenbar auf ein ähnliches Phänomen beziehen. So werden die Konzepte unter einem Konzept höherer Ordnung zusammengruppiert – ein abstrakteres Konzept, genannt Kategorie“. Diese Kategorien werden analytisch weiterentwickelt und vernetzt, und so wird auf diesem Weg sukzessive eine „dichte“ Theorie über den Gegenstand erarbeitet. Dabei kann die Maximierung von Differenzen durch die Erhebung von Kontrastfällen den systematischen Einbezug weiterer Kategorien und eine Auffaltung der sich entwickelnden Theorie ermöglichen, Minimalvergleiche erlauben eine Konsolidierung und Verfeinerung des bereits bestehenden Kategoriennetzes (Mey/Mruck 2011, 28).
In der Theoriegenerierung werden sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen: Während Strauss und Corbin (1996) die Wichtigkeit der Entwicklung einer Kernkategorie bei der Kodierung betonen, zielen stärker konstruktivistisch orientierte Varianten der GTM im Gegensatz auf die Herausarbeitung unterschiedlicher Positionen und heterogener Darstellungsweisen (vgl. Truschkat 2012, 81). Eine Arbeitstechnik der GTM ist es, den Analyseprozess regelmäßig zu unterbrechen und die Auswertungsschritte, inkl. Fragestellung, Hypothesen, Zwischenergebnissen, bestehenden theoretischen Leerstellen usw., in sog. Memos festzuhalten (Glaser/Strauss 2010, 121–122; für ein Anwendungsbeispiel s. die Untersuchung von Online-Diskursen von Fraas und Meier (2013).) Es werden verschiedene Memos unterschieden, darunter solche, die auf Methodenaspekte eingehen, solche, die den weiteren Forschungsprozess planen und solche, die die Schritte nachzeichnen, in denen sich die Theorie herausgebildet hat (inkl. der vorläufigen Konzepte und Kategorien etc.). Sie dienen zum Austausch in Forschergruppen und dazu, den Forschungsprozess explizit festzuhalten, sowie mögliche Leerstellen in späteren Stadien der Theoriegenerierung ausfindig machen zu können. Strauss und Corbin unterscheiden drei Kodierverfahren (auf die sich auch die drei Samplingverfahren beziehen): offenes Kodieren, axiales Kodieren und selektives Kodieren. Das offene Kodieren ist in allen Varianten der GTM enthalten. Es spiegelt sich darin die für diese Forschungsperspektive und Methodologie charakteristische „Quelle der Kontingenz der Erkenntnis“ (Truschkat 2012, 81). Es geht beim offenen Kodieren um ein erstes „Aufbrechen“ des Untersuchungsmaterials, um die erste Ordnung und Sinnzuordnung. Schon auf dieser Stufe spielen der kontinuierliche Vergleich von z. B. unterschiedlichen Texten und das gezielte Suchen von Gegenbeispielen zu bisherigen Erkenntnissen eine zentrale Rolle. Strauss/Corbin (1996, 77) beschreiben das offene Kodieren als Zerlegung der Daten in Teile und Wieder-Zusammenfügen in Form eines Bedingungsgeflechts.
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Im Verlauf der Auswertung wird das Kodieren zunehmend gezielter: Bereits gefundene Konzepte und Kategorien werden zueinander in Beziehung gesetzt, verknüpft und weiterentwickelt (axiales Kodieren; ebd., 75–93). Das selektive Kodieren zielt schließlich darauf, letzte Lücken in der Theorie zu schließen und eine Kernkategorie herauszuarbeiten bzw. „den roten Faden der Geschichte“ offenzulegen, wie es bei Strauss und Corbin heißt (ebd., 95). Auch wenn das offene Kodieren vor allem am Anfang von Untersuchungen eine Rolle spielt und das selektive Kodieren eher am Ende, sind die Kodierverfahren ebenfalls nicht im Sinne einer linearen Abfolge oder zeitlich klar getrennter Arbeitsphasen zu verstehen, sondern können wechselnd und überschneidend eingesetzt werden.
2 Das Verhältnis von Diskurslinguistik und GTM 2.1 Zwei Forschungsrahmen Wie die linguistische Diskursanalyse spannt die GTM einen methodologischen Rahmen auf, der spezifische methodische Vorgehensweisen begründet und nahelegt, dabei aber gerade nicht einen festen Ablauf, ein starres Vorgehen „vorschreibt“ (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, 135; Truschkat 2012, 83). Beide bieten in diesem Sinne ein theoretisch begründetes Forschungsvorgehen an, das gleichzeitig den Charakter eines offenen Forschungsrahmens hat. Das grundsätzliche Verhältnis zwischen Diskurslinguistik und GTM lässt sich als Verhältnis eines generellen qualitativ-heuristischen Rahmens mit einer spezifischeren, linguistischen Analyseperspektive kennzeichnen: Die GTM beschreibt das prinzipielle Vorgehen bei der Erforschung eines bestimmten empirischen Feldes, verbunden mit einer spezifischen Forschungslogik (Abduktion, zirkuläre „Verzahnung“ von Erhebung und Auswertung, Offenheit gegenüber dem Gegenstand: Rolle des Vorwissens, Verzicht auf Hypothesen, Kontrolle des Forschungsprozesses usw.), während die Diskurslinguistik die theoretische Grundlage vorgibt (Diskurs) und die konkrete Ausformung der (sprachwissenschaftlichen, sowohl transtextuellen wie intratextuellen) Analysetätigkeit beschreibt. Die „Übersetzung“ der GTM für diskurslinguistische Forschung, die im Folgenden geleistet werden soll, muss selektiv bleiben, schon deshalb, weil die Diskurslinguistik nicht homogen ist und es ‚die‘ Diskurslinguistik schlicht nicht gibt. Es sollen aber grundlegende Prämissen beider Forschungsrahmen gegenübergestellt und auf ihre (An-)Passungsfähigkeit hin überprüft werden. Zwar liegen bereits Anwendungen vor, in denen diskurslinguistische Analysepraxis und GTM kombiniert wurden (z. B. Sommer/Fraas/Meier/Pentzold 2013; Fraas/Meier 2013; Bock 2013) – viel länger ist dies bereits in der Wissenssoziologischen Diskursanalyse der Fall (Truschkat 2012; Keller i. d. Bd.; 2005) – eine ausführliche theoretische Reflexion der Grundlagen dieser Kombination steht jedoch weitgehend aus. Um das Verhältnis von Diskurslinguistik und GTM genauer zu klären, bedarf es zunächst einer Prüfung der Kompatibilität beider Forschungsrichtungen, sowohl
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im Hinblick auf die theoretischen Prämissen als auch im Hinblick auf forschungspraktische Verfahren. Außerdem muss die Frage beantwortet werden, welchen Mehrwert die GTM für qualitativ ausgerichtete diskurslinguistische Untersuchungen haben kann und welche Leerstellen sie zu füllen vermag. Insbesondere ist hier auf Verfahren zur Erstellung qualitativer Untersuchungskorpora einzugehen sowie auf Methoden zur Sicherung der Intersubjektivität, Plausibilität und – wie Glaser und Strauss es für die GTM ausgedrückt haben – Glaubwürdigkeit qualitativ-diskurslinguistischer Forschungsergebnisse, die sich nicht allein auf individuelle Interpretation und Introspektion verlassen kann.
2.2 Kompatibilität von GTM und Diskurslinguistik 2.2.1 Kontingenz und der forschungspraktische Umgang damit Eine wichtige Grundlage für die Kombination beider Methodologien ist der grundsätzlich übereinstimmende Blick auf das Verhältnis von Gegenstand und Analyse(tätigkeit): Ausgangspunkt der Foucault‘schen Diskursanalyse ist die Kritik an universellen, absoluten und notwendigen Wahrheitsansprüchen (Bührmann 1999, 59). Den Diskurs und seine Erforschung konstruiert Foucault dementsprechend „konsequent als singulär, kontingent und perspektivisch“ (ebd., 59–60). Vermeintliche Selbstverständlichkeiten im Wissen und Handeln einer Gesellschaft sollen als solche beschrieben und ergründet werden, weshalb sich sein Interesse besonders auf die ‚Bruchstellen‘ (in historischen Ereignissen) und die ‚Problematisierungen‘ richtet, gegenüber denen ‚das Normale‘ hervortritt. Foucaults Bewusstsein für Kontingenz kommt beispielhaft in der folgenden Passage zum Ausdruck, die im Zusammenhang mit seiner Beschreibung der Analyse diskursiver Formationen steht: Ich habe mich bei meiner ersten Suche bestimmter Gruppierungen bedient, die ziemlich matt, jedoch reichlich vertraut sind: Nichts beweist mir, daß ich sie am Ende der Analyse wiederfinden werde, noch daß ich das Prinzip ihrer Abgrenzung und Individualisierung finden werde. (Foucault 2008, 58)
Im Sinne Foucaults fordert die Erforschung des Diskurses also eine auf Ergebnisoffenheit und Unvorhersehbarkeit eingestellte Analysetätigkeit. Implizit wird in der zitierten Passage auch die Prozessualität des Analyse- und Erkenntnisvorgangs angesprochen. Konkrete Forschungsstrategien von Foucaults Diskursanalyse zu benennen, ist allerdings kaum möglich. Die Diskurslinguistik in der Folge Foucaults geht grundsätzlich ebenfalls davon aus, dass die Erforschung von Diskursen kontingent und perspektivisch ist, sie geht allerdings forschungspraktisch verschieden damit um. Während korpuslinguistisch arbeitende Diskursanalytiker die Möglichkeit zu induktiver, offen „beobachtender“ Herangehensweise an Untersuchungsmaterial als Vorteil herausstellen (vgl. Bubenhofer 2009, 91), der die Perspektiven-
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abhängigkeit von Diskursforschung relativiert, lehnen andere Autoren solche quantitativen, korpusgesteuerten Methoden gerade ab (vgl. Teubert 2013, 77). Bei Busse und Teubert (2013, 19) wird zwar theoretisch reflektiert, dass „sowohl der Diskurs wie auch das konkrete Textkorpus als Forschungsobjekt immer Ergebnis wissenschaftlicher Konstitutionsprozesse“ ist, weshalb die Begründung der Auswahlkriterien zentral für die Konstitution des Gegenstands bzw. Diskurszusammenhangs ist. Wie dem Kontingenz-Gedanken methodisch und in der Analysepraxis allerdings Rechnung zu tragen ist, reflektieren sie kaum (vgl. die knappen Hinweise bei Busse 2013a, 45; Busse 2013b, 163–164). Auch die Analyse beginnt bei manchen diskurslinguistischen Untersuchungen mit Setzungen (fokussierter Zugang i. S. v. Spitzmüller/Warnke 2011, 132), während andere gerade auf Hypothesenlosigkeit und Offenheit setzen (heuristischer Zugang, vgl. ebd.; zu diesen unterschiedlichen Ansätzen vgl. Kap. 3.2.2.). Zum Verhältnis von Gegenstand und Analyse in der wissenssoziologischen Diskursanalyse und der GTM vgl. Truschkat 2012, 71–73. Sie unterscheidet in ihrer Darstellung zwischen Analyseperspektive und Analysetätigkeit – eine Unterscheidung, die, soweit ich sehe, grundsätzlich auch für das Verhältnis Diskurslinguistik – GTM Gültigkeit beansprucht. Für die GTM stellen Unbestimmtheit und Kontingenz des (Forschungs-)Handelns zentrale Auslöser für die methodologischen Überlegungen dar (für eine ausführlichere Darstellung des Handlungsbegriffs der GTM vgl. Truschkat 2012, 72– 73). Die „Schulen“ der GTM haben dezidiert Forschungsstrategien entwickelt, um mit dieser Kontingenz in der Praxis produktiv umzugehen: Beispielhaft genannt seien hier die Prinzipien des Aufeinander-Beziehens von Erhebungs- und Entdeckungsprozess und des theoriegeleiteten Samplings, die Reflexion der Rolle des Vorwissens und der theoretischen Sensibilität sowie die Kontrolle des Forschungshandelns durch Analyseprinzipien wie den permanenten Vergleich, Kodierverfahren und -paradigmen. So systematisch, umfassend und auch methodologisch konsequent ist das im Vergleich in der Diskurslinguistik nicht geschehen. Zudem gibt es Aspekte, die in der Diskurslinguistik sehr wenig methodisch reflektiert wurden, während ihnen die GTM viel Aufmerksamkeit gewidmet hat (z. B. der Prozess der Korpuserstellung). Grundsätzlich erfordert Kontingenz bzw. das Auch-anders-denken-Können Flexibilität im Forschungsprozess: Sowohl Diskurslinguistik als auch GTM lösen dies ein, wenn sie ihre Methodologie gerade nicht als strenges Raster, sondern als ein an Gegenstand und Fragestellung anzupassendes Methodenrepertoire und als Rahmen verstanden wissen wollen.
2.2.2 Kompatibilität einzelner Elemente Bei manchen Elementen der GTM bleibt ein gewisser „Übersetzungsbedarf“ in Bezug auf diskurslinguistische Anwendungen. Im Folgenden können nur einige Aspekte in knapper Form diskutiert werden.
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Spitzmüller/Warnke (2011, Kap. 3) geben in ihrem Einführungsband einen Überblick über linguistische Zugänge zum Diskurs unter der Perspektive des Gegenstands, der Methoden und der Verfahrenspraxis, die die heterogene Analysepraxis zu systematisieren versucht. Hinsichtlich der Verfahrenspraxis seien diskurslinguistische Analysen mit einem „heuristischen“ und solche mit einem „fokussierten“ Zugang zu unterscheiden: „Während […] die ‚heuristische‘ Analysepraxis ergebnisoffen ist, interessiert sich die ‚fokussierte‘ Analyse für prädefinierte, etwa logisch-strukturelle Phänomene“, auf die sich die Untersuchung dann mehr oder weniger beschränkt (ebd., 132). Die Forschungslogik der GTM ist offensichtlich kompatibel mit dem ersten Zugang; der Kontingenz-Gedanke wird hier unmittelbar realisiert. Wie noch zu zeigen sein wird, muss aber auch das „fokussierte“ Herangehen der GTM nicht widersprechen. In einer früheren Beschreibung ihres „DIMEAN“-Modells heben Warnke/Spitzmüller (2008, 24–25) die unvoreingenommene Erstlektüre-Phase, in der aus dem Material heraus Fragen und relevante Analyseaspekte bestimmt werden, noch stärker hervor. Generell wird eine solche offene Haltung innerhalb der Linguistik für Textanalysen beschrieben, beispielsweise von Fix, die von der Haltung eines „naiven Lesers“ spricht, der zunächst alles registriert, was „beim ersten unbefangenen Lesen aufgefallen ist“ (Fix 2011: 397). Die auffälligen Stellen des Textes sind es dann, „die Verstehen und möglicherweise Interpretieren in Gang setzen“ (ebd., 397–398). Es kann allerdings im linguistischen Zusammenhang durchaus sinnvoll sein, eine Fokussierung auf bestimmte sprachliche Phänomene von vornherein vorzunehmen. Das schließt zum einen nicht aus, dass auch danach noch eine heuristische, „hypothesenlose“ Offenheit gewahrt werden kann (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, 133), zum anderen muss die Feststellung, dass ein bestimmtes Phänomen (wiederholt) vorkommt (und somit fokussiert werden kann), auch schon vom Untersuchungsmaterial ausgegangen sein. Das bedeutet, dass auch der von Spitzmüller und Warnke als „fokussiert“ bezeichnete Zugang m. E. durchaus kompatibel mit der GTM (nach Strauss und Corbin) sein kann. Auch Strauss/Corbin (1996, 152) beschreiben die Möglichkeit eines „anfängliche[n] Fokus“ in der Untersuchung, der sich gerade durch theoretische Sensibilität herausbilden kann. Dem Kontingenz-Gedanken wird weiterhin insbesondere in den sog. korpusgesteuerten (corpus-driven) Analyseverfahren Rechnung getragen. Gemeint sind damit empirische quantitative Verfahren, mit denen große Textmengen automatisiert ausgewertet werden können; sie arbeiten ausschließlich an der Textoberfläche und erfassen musterhafte Strukturen, die erst im Nachhinein klassifiziert werden (vgl. Bubenhofer 2009, 16, 91, 100). Im Unterschied zu den sog. korpusgestützten (corpus-based) Verfahren, bei denen vorgefasste Hypothesen und Kategorien am Korpus getestet und untersucht werden, wird bei den Corpus-driven-Verfahren vermieden, das Untersuchungsmaterial durch Vorannahmen vorzustrukturieren. Stattdessen ist es Ziel, „die linguistische Kategorienbildung strikt aus den empirischen
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Beobachtungen herzuleiten“ (ebd., 17). Von einer rein induktiven Forschungslogik kann allerdings auch bei diesen korpuslinguistischen Untersuchungen keine Rede sein. Das stellt auch Bubenhofer indirekt fest, wenn er bemerkt, dass etliche Parameter vor der Auswertung festgelegt werden müssten, um überhaupt Analysen zu ermöglichen (ebd., 310). Die GTM, die von einer grundsätzlich abduktiven Forschungslogik mit induktiven und deduktiven Bestandteilen ausgeht, dürfte das eigene Vorgehen hier realistischer und vollständiger beschrieben haben. In Formulierungen, die denen der GTM erstaunlich ähnlich sind, stellt Bubenhofer fest, dass Corpus-driven-Verfahren „die Daten zum Ausgangspunkt der Theoriebildung“ machen (ebd., 101), wobei der zirkulär angelegte Forschungsprozess von der (automatisierten) Sortierung, Filterung und Kontrastierung von Daten über die Interpretation der gewonnenen Muster hin zum Schritt zurück in die Daten führt (ebd., 150). Dieses Herangehen an sprachliche Äußerungen befolgt offensichtlich ganz ähnliche Maximen wie die GTM; zudem wird es auch theoretischen Grundsätzen der Foucault’schen Diskursanalyse gerecht. Allerdings handelt es sich hier ausschließlich um quantitative empirische Methoden. Einzeltextlektüren und qualitative Auswertungsmethoden sind nicht oder nur flankierend mitgedacht (die generierten Muster werden weiterer Deutung unterzogen, es ist vom Zusammenspiel induktiver und deduktiver Auswertungsweisen die Rede, vgl. ebd., 102, 150). Für qualitative diskurslinguistische Untersuchungen fehlt eine vergleichbare, kontextübergreifende Heuristik wie die von Bubenhofer (2009) entwickelte. Mithilfe von Prinzipien der GTM können die genannten theoretischen Grundsätze (Kontingenz, das Korpus/der Diskurs als Forscherkonstrukt, kontrollierte Offenheit) allerdings durchaus auch in qualitativ ausgerichteten diskurslinguistischen Untersuchungen realisiert werden, weshalb die Kombination aus GTM und Diskurslinguistik als qualitatives korpusgesteuertes Verfahren charakterisiert werden soll (s. Kap. 4). Die Aufgabe des Diskurslinguisten besteht grundsätzlich darin, Muster in der Fülle der diskursiven Ereignisse zu erkennen, also die Formationsregeln der Aussagepraxis spezifischer Diskurse zu identifizieren – Tätigkeiten, die, wenn sie nicht automatisiert erfolgen, interpretierend und deutend realisiert werden. In der Einführung von Spitzmüller und Warnke wird deshalb darauf hingewiesen, dass die analytischen Befunde „[i]m Mindesten […] plausibel sein und intersubjektiv geteilt werden [müssen], um einen Anspruch an wissenschaftliche Gültigkeit zu haben“ (Spitzmüller/Warnke 2011, 134). Die Anfänge der GTM haben genau hier angesetzt. In der (qualitativen) Diskurslinguistik fehlen allerdings Hinweise auf Mittel zur Herstellung von Intersubjektivität und wissenschaftlicher Gültigkeit. Das für die GTM zentrale Prinzip des Forschens in Gruppen ist für Diskurslinguisten nicht konstitutiv, kommt aber in der Praxis durchaus als gezieltes Mittel zur Herstellung von Intersubjektivität zum Einsatz. Spitzmüller/Warnke (2011, 133) erwähnen zwar individuelle und kollaborative Verfahrenspraxis der Analyse, unterscheiden damit aber einzeldisziplinäre vs. interdisziplinäre Diskursforschung. Busse hat deutlich gemacht, dass die abstrahierende Analyse von Argumentationsweisen immer ein
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hochgradig interpretativer Akt sei, dessen Ergebnisse „nur so verläßlich sind, wie die hermeneutisch erzeugte Interpretation unmittelbar evident ist“ (Busse 1987, 300). Wengeler leitet daraus für die Herausarbeitung kontextspezifischer Topoi in Diskursen ab, dass sich kohärente Kriterien für die Bestimmung nicht aufstellen ließen. Stattdessen sei empirisch durch Diskussion in Forschergruppen zu überprüfen, ob die Ergebnisse und Zuordnungen intersubjektiv nachvollziehbar seien (Wengeler 2003, 283–284). Ein gewisses Maß an intersubjektiver Übereinkunft besteht unter Diskurslinguisten von vornherein dadurch, dass – unabhängig vom Gegenstand und der theoretischen Perspektive – bereits Analysekategorien existierten, die die Diskurslinguistik gewissermaßen nur noch unter sich „versammeln“ musste (vgl. Kap. 4.3). Auch gibt es eine Übereinkunft über akzeptierte Anwendungsweisen dieser Analysewerkzeuge. Die Analyseprozeduren selbst sind dann mehr (z. B. Topos-Analyse) oder weniger interpretativ (z. B. Kohäsionsmittel, thematische Entfaltung) – und fordern dementsprechend mehr oder weniger intersubjektive Absicherung. Eine weitere Frage der Kompatibilität von GTM und Diskurslinguistik betrifft den Forschungfortgang: Während das prozesshaft-zyklische, wiederholt am selben Untersuchungsmaterial forschende Vorgehen konstitutiv für die GTM ist, gibt es für die diskurslinguistische Analysepraxis keine gleichermaßen klare methodische Übereinkunft. Bubenhofer sieht in quantitativen diskurslinguistischen Analysen die erneute Überprüfung an den Daten explizit vor (ebd., 150). Auch und besonders für qualitative Untersuchungen sollte gelten, dass eine „mehrstufige“ Analyse, mit mehrmaliger Lektüre und Auswertung ein und desselben Materials, mehr als nur „wünschenswert“ ist, wie es Spitzmüller und Warnke (2011, 134) formuliert haben.
2.2.3 Unterschiede: Gegenstände und Untersuchungsmaterial Ein gewisser Unterschied der beiden Methodologien besteht in dem, was sie untersuchen: GTM und Diskurslinguistik widmen sich schon aufgrund ihrer Verankerung in unterschiedlichen Fachdisziplinen teilweise unterschiedlichem Untersuchungsmaterial, vor allem aber haben sie einen unterschiedlichen Blick auf ihre Gegenstände. Diskurslinguistische Untersuchungen richten ihren Blick auf „transtextuelle Sprachstrukturen“ (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011) und das darin sichtbar werdende kollektive Wissen einer Gesellschaft oder eines Ausschnitts davon. Im Anschluss an Foucault untersuchen sie Texte (bzw. Äußerungen) von i. d. R. verschiedenen Akteuren in einem bestimmten Feld, und zwar im Hinblick auf deren sprachliche Form, kontextabhängige Bedeutungen etc. Sie fragen nach dem Diskurs (und seinen Regeln), der die Texte ermöglicht bzw. hervorgebracht hat. In diesem Sinne geht es um Aussageformationen von kollektiven Wissenskomplexen. Die Gegenstandskonstitution, also die Konturierung des untersuchten Diskurses und die Herausarbeitung seiner Merkmale, erfolgt innerhalb diskurslinguistischer
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Analysen häufig über die Ausrichtung auf Themen, beispielsweise aber auch über systematische Untersuchung spezifischer sprachlicher Merkmale (vgl. Spitzmüller/ Warnke 2011, 128–129) oder über Akteursgruppen. Mit der Fokussierung auf Themen ist häufig eine Vorab-Definition des Gegenstands, also die Setzung eines (thematisch bestimmten) Diskurses verbunden – was aber keineswegs eine zwingende Folge thematisch spezifizierter Untersuchungen ist. Im Sinne der GTM wäre hier eine sukzessive Herausarbeitung der Grenzen und Merkmale des Diskurses im Verlaufe der Untersuchung anzustreben. Ein (Ausgangs-)Thema wäre dann nur der Einstieg in ein bestimmtes Feld. Das Untersuchungsinteresse von GTM-Studien richtet sich auf „Prozesse der sozialen (Re-)Produktion von Bedeutung“ (Truschkat 2012, 72). Der Fokus liegt auf Handlungsprozessen und deren Bedeutungshorizonten sowie auf der Deutungsarbeit von einzelnen Akteuren (ebd., 74). Auch diese Untersuchungen zielen letztlich auf gesellschaftliche Wissensbestände, sie gehen aber den Weg über das Subjekt. Typischer Untersuchungsgegenstand sind (Einzelfall )Interviews (mit Personen, die nach jeweils relevanten Merkmalen wie Zugehörigkeit zu einer Institution etc. ausgewählt werden), die unter primär inhaltlichen Gesichtspunkten ausgewertet werden. Jan Kruse (2015) hat mit seinem integrativen Basisverfahren einen Ansatz vorgestellt, der die sprachlichen Merkmale ausdrücklich und ausführlich in Analyse und Interpretation einbezieht. Die GTM ist für ihn allerdings nur ein Bezugpunkt neben anderen. Je nach Fragestellung werden in der GTM auch Korpora aus Textdokumenten thematisch gesampelt und ausgewertet (für Themenbeispiele vgl. Truschkat/Kaiser/Reinartz 2005; Truschkat 2008), was diskurslinguistischen Vorgehensweisen sehr ähnelt, auch wenn die Auswertungsverfahren sich dann unterscheiden. Zusammenfassend könnte man formulieren, dass sozialwissenschaftliche Studien im Rahmen der GTM stärker (wenn auch nicht ausschließlich) auf die inhaltliche Dimension des jeweiligen Untersuchungsmaterials ausgerichtet sind und den Analysefokus auf das Subjekt, seine Deutungen und sein Handeln legen. Die diskurslinguistische Analyse rückt hingegen den Sprachgebrauch selbst stärker in den Mittelpunkt und nimmt diese zum Ausgangspunkt für darüber hinausgehende Schlüsse. Ihr vornehmliches Interesse liegt auf dem, was Kollektive wissen, wobei das Subjekt (das auch Foucault in seinen späteren Arbeiten wieder stärker „auftauchen“ ließ) im Sinne einer Akteursanalyse zunehmend in den Blick gerät (vgl. u. a. Spitzmüller/Warnke 2011, 172–187; Roth/Spiegel 2013). Während die GTM also über die Aufgliederung inhaltlicher (Teil-)Elemente zu ihren Deutungen gelangt und eher auf das Subjekt (als pars-pro-toto) fokussiert, geht die Diskurslinguistik stärker über die sprachliche Form, über Musterhaftes, Wiederkehrendes oder Auffälliges im Sprachgebrauch, und setzt mehr oder weniger direkt auf der Ebene des Kollektiven, der Ebene der Gesellschaft oder eines spezifischen Ausschnitts davon an. Diese grundsätzlichen Unterschiede sind bei der Kombination von Diskurslinguistik und GTM mitzubedenken, begründen aber m. E. keine Inkompatibilität.
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3 Kombination von GTM und Diskurslinguistik 3.1 GTM in der Linguistik Auf Verfahren der Grounded-Theory-Methodologie wird in der Linguistik schon länger zurückgegriffen, wenn auch nicht immer unter expliziter Bezugnahme auf das Forschungsprogramm oder deren „Gründungsväter“ und Vertreter in den Sozialwissenschaften. Eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses beider Methodologien stand bisher aus (s. Kap. 3). Am verbreitetsten ist der Ansatz der GTM sicherlich im Bereich der Gesprächsanalyse (vgl. die Überblicksdarstellung von Deppermann 2008), aber auch in der Diskurslinguistik nach Foucault wurde die GTM bereits im Rahmen umfangreicherer Untersuchungen genutzt (vgl. Fraas/Meier 2013; Sommer/ Fraas/Meier/Pentzold 2013; Bock 2013). Deppermann (2008, 10) spricht von einer Ergänzung des „konversationsanalytische[n] Gerüst[s]“ durch Prozeduren u. a. der GTM und sieht deren Bedeutung besonders bei der „fallübergreifenden Analyse“ (ebd., Kap. 6.5). Seine Darstellung der Gesprächsanalyse-Praxis ist in diesem Zusammenhang sehr deutlich von der GTM geprägt. Fraas und Meier (2013) sowie Fraas/ Meier/Pentzold/Sommer (2013) beziehen sich demgegenüber ganz explizit auf Vertreter der GTM und legen ihr (teilweise heterogenes) forschungspraktisches Vorgehen am Beispiel detailliert offen. Sie weichen teilweise von Grundprinzipien der GTM ab (z. B. Gegenstandskonstitution im Prozess, methodische Fokussierung). Als attraktiv und „brauchbar“ gelten linguistischen Untersuchungen offenkundig die Flexibilität und gleichzeitige Systematizität und Regelgeleitetheit des analytischen Vorgehens der GTM, die „einen systematischen und intersubjektiv nachvollziehbaren Forschungsverlauf“ (Fraas/Meier 2013, 137) garantierten. Auch die anfängliche strikte Offenheit gegenüber dem Untersuchungsfeld und die sukzessive Entwicklung einer Theorie in einem „spiralförmige[n] Prozeß der wechselseitigen Ausarbeitung von Gegenstandskonstitution (Was will ich wissen? Was sind der Gegenstand und der Phänomenbereich meiner Untersuchung?) und Gegenstandsanalyse (Welche Eigenschaften haben die untersuchten Daten? […])“ (Deppermann 2008, 94) werden als Forschungsprinzipien übernommen und je spezifisch für die Linguistik ausgearbeitet. Fraas und Meier heben in diesem Zusammenhang auch die besondere Eignung für die „Exploration und Erschließung unstrukturierter Forschungsfelder“ hervor (Fraas/Meier 2013, 144). Eine Lücke kann die GTM auch in Bezug auf Vorgehensweisen zur begründeten Erstellung von qualitativ auszuwertenden Textkorpora füllen (vgl. Kap. 4.2, 4.3). Hervorzuheben ist außerdem die Gegenstands- und Methodenoffenheit der GTM, die ein Anwendungspotenzial in Fächern außerhalb der Sozialwissenschaften eröffnet.
3.2 Ein qualitatives korpusgesteuertes Verfahren Ergänzen kann die GTM die diskurslinguistischen Verfahren besonders im Hinblick auf Methoden zur Reflexion und „Kontrolle“ der Analysetätigkeit (Setzungen und
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Vorannahmen des Forschers etc.) sowie zum Prozess der Entwicklung von Theorien aus der Empirie. Eine besonders deutliche Leerstelle tut sich in der Diskurslinguistik, wie bereits mehrfach erwähnt, hinsichtlich Methoden der qualitativen Korpuserstellung auf. Sowohl in Überblicksdarstellungen als auch in den meisten Analysen findet dieser Prozess, trotz seiner unbestrittenen Bedeutung für die Aussagekraft der Ergebnisse, kaum Erwähnung (s. Kap. 4.3). Im Folgenden soll dargestellt werden, wie Verfahren und Prinzipien der GTM diskurslinguistisch zu übersetzen sind. Es gilt das oben beschriebene Verhältnis zwischen beiden: Die GTM ist zu verstehen als der Gesamtrahmen des Forschungsvorgehens, der mit einer spezifischen Forschungslogik verbunden ist (zirkuläre „Verzahnung“ von Erhebung und Auswertung, Offenheit gegenüber dem Gegenstand: Rolle des Vorwissens, Verzicht auf Hypothesen, Kontrolle des Forschungsprozesses usw.). Die Diskurslinguistik liefert den theoretischen Rahmen und bestimmt die konkrete Ausformung und die Methoden der (sprachwissenschaftlichen, sowohl transtextuellen wie intratextuellen) Analysetätigkeit. Die Kombination aus Diskurslinguistik und GTM kann in Anlehnung an die in der Linguistik übliche Unterscheidung zwischen korpusgestützten (corpus-based) und korpusgesteuerten (corpus-driven) Analyseverfahren (vgl. Bubenhofer 2009, 100; Spitzmüller/Warnke 2011, 131) zunächst einmal als ein Verfahren der qualitativen Corpus-driven-Analyse bezeichnet werden. Als kennzeichnend für eine solche Forschungslogik können folgende Elemente gelten: Auswertungs- und Auswahlprozess laufen sukzessive und parallel zueinander ab, die gewonnenen Erkenntnisse leiten die Auswahl weiterer Texte/Äußerungen an, während die Theorie auf der Basis der ausgewählten Untersuchungsmaterialien kontinuierlich weiterentwickelt wird. Der Forschungsprozess gestaltet sich als wechselseitige Ausarbeitung von Gegenstandskonstitution und Gegenstandsanalyse. Den Endpunkt des Auswertungs- und Auswahlprozesses beschreibt die theoretische Sättigung. Ziel des Forschungsprozesses ist eine gegenstandsverankerte Theorie über den untersuchten Diskurs(ausschnitt), die konsistent und „dicht“ ist. Der Forscher geht möglichst offen an Untersuchungsmaterial und Untersuchungsfeld heran, Hypothesen werden maßgeblich im Verlauf der Untersuchung herausgearbeitet und fortlaufend überprüft und modifiziert. Der Gegenstand und seine Merkmale „taucht“ so aus dem empirischen Material heraus „auf“. Der kontinuierliche Vergleich zwischen Texten/Äußerungen bzw. einzelnen sprachlichen Merkmalen sowie Merkmalen auf Diskursebene ist das Leitprinzip des Auswertungs- und Samplingprozesses. Umfang und Art des Analysekorpus werden nicht zu Beginn der Untersuchung festgelegt, stattdessen wird sukzessive und in Abhängigkeit von der sich konkretisierenden Fragestellung und den Erkenntnissen des Analyseprozesses ausgewählt; die Auswahlkriterien gilt es offen zu legen. Auch die linguistischen Analysekategorien werden maßgeblich im Verlauf des Auswertungs- und Ausahlprozesses bestimmt.
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Die Untersuchung basiert nicht auf reiner subjektiver Introspektion, sondern integriert immer wieder Schritte der intersubjektiven Überprüfung (z. B. durch Diskussion der Zwischenergebnisse in Expertengruppen) und Handlungskontrolle auf Seiten des Forschers (z. B. durch Unterbrechen des Forschungsprozesses und Zwischenreflexionen). Die Beschreibung des Prozesses der Theoriebildung und seiner Zwischenschritte ist Teil der Foschungsdarstellung (z. B. in Publikationen).
3.3 Generelle Beschreibung: Auswahl- und Auswertungsverfahren Untersucht und erhoben werden in der Linguistik Korpora aus Sprachmaterial, in der Diskurslinguistik sind es i. d. R. Texte/Äußerungen. Es besteht Konsens darüber, dass der Erschließungsprozess und die Auswahl von Texten beeinflussen, welche Aussagen am Ende einer Untersuchung über den jeweiligen Diskurs getroffen werden können und was sich überhaupt als untersuchter Diskurs konstituiert. Trotz dieser zentralen Bedeutung wird Methoden zur Korpuserstellung in den gängigen Einführungen und Überblicksdarstellungen zur Diskurslinguistik (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011; Warnke 2007; Warnke 2008; Warnke/Spitzmüller 2008) kaum Aufmerksamkeit gewidmet, und wenn, dann höchstens in Form theoretischer Klärungen (vgl. Busse/Teubert 2013b). Auch der Band „Korpuspragmatik“ von Felder/ Müller/Vogel (2012) gibt keine generellen Hinweise auf methodische Aspekte und Verfahren der qualitativen Korpuserstellung. Eine fallspezifische Beschreibung der Erstellung eines qualitativen Korpus im Bereich Schulbuchforschung gibt Kiesendahl (2014). Niehr widmet Textkorpora in seiner Einführung zwar ein ganzes Kapitel, konkrete Verfahren beschreibt er aber über einen Einzelfall hinaus ebenfalls nicht; das Methodische an der Diskursanalyse beginnt auch für ihn erst „nach der Konstitution eines konkreten Textkorpus“ (Niehr 2014, 44). Auch in Analysen wird dem Prozess der Korpuserstellung meist wenig Raum in der Darstellung gewidmet; nicht untypisch sind allgemeine Bemerkungen wie die, dass ‚X einschlägige Artikel‘ das Korpus bildeten. Ein positives Gegenbeispiel ist die Untersuchung von GürŞeker, die Kriterien und Prozess der Datenauswahl ausführlich darstellt: Es sei nötig, „den Prozess der Korpuserstellung so transparent und nachvollziehbar wie möglich zu machen, um die Validität der zu erwartenden Ergebnisse zu gewährleisten“ (Gür-Şeker 2012, 84). Auch sie stuft die Nichtthematisierung der Korpuserstellung in den gängigen Einführungen und Überblicksdarstellungen als „defizitär“ ein (ebd., 100). Da in der (diskurs-)linguistischen Literatur kaum praktische Hinweise zur Erstellung qualitativer Korpora gegeben werden, füllen die Überlegungen aus der qualitativen Sozialwissenschaft eine echte Lücke. In diskurslinguistischen Überblickswerken ist in Bezug auf Korpora häufig verkürzend lediglich von quantitativen Auswertungsverfahren die Rede (vgl. exemplarisch Spitzmüller/Warnke 2011). Es scheint sinnvoll, diese Einengung wieder zu erweitern. Die Forschungshaltung
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der GTM basiert ebenso wie automatisierte, korpusgesteuerte Verfahren auf den Prinzipien der Hypothesenlosigkeit zu Beginn der Analyse, der unmittelbaren Entwicklung von Theorie aus Untersuchungsmaterial, und auch das Vergleichsprinzip ist zentral (vgl. Kap. 3.2.2). Diskurslinguistische Analysen, die sich auf GTM-Prinzipien stützen, wurden aufgrund dieser Ähnlichkeiten als qualitative korpusgesteuerte Verfahren eingeordnet. In unmittelbarer Bezugnahme auf die GTM werden im Folgenden Auswahl- und Auswertungsverfahren formuliert. Zunächst zu Verfahren der Datenauswahl für Korpora: Die Samplingverfahren der GTM (vgl. Kap. 2.2) können unmittelbar auf qualitative diskurslinguistische Korpora übertragen werden. Als diskurslinguistische Verfahren können sie folgendermaßen reformuliert werden: – offenes Auswählen von Texten/Äußerungen (entspricht dem offenen Sampling, vgl. S. 314): offener Einstieg in das Feld (den Diskurs), zielt auf das Aufdecken möglichst vieler unterschiedlicher Phänomene, drei Auswahlstrategien: systematische, gezielte Suche, zufälliges Auffinden (s. S. 328); – strukturierendes Auswählen von Texten/Äußerungen (entspricht dem Sampling beim axialen Kodieren, vgl. S. 315): Suche nach (eher ähnlichen und sehr unähnlichen) Vergleichsfällen, zielt auf das Aufdecken von Variation und die Validierung bereits erarbeiteter theoretischer Kategorien; – fokussierendes Auswählen von Texten/Äußerungen (entspricht dem Sampling beim selektiven Kodieren, vgl. S. 315): gezielte Suche nach Dokumenten, um offene Fragen zu klären, letzte Zusammenhänge herzustellen und noch bestehende Leerstellen in der erarbeiteten Theorie über den untersuchten Diskurs(ausschnitt) zu schließen. Diese Auswahlverfahren können den Kodier- bzw. Auswertungsverfahren (s. unten) zugeordnet werden, sind aber nicht unmittelbar daran gebunden und auch nicht als zeitliche Abfolge zu verstehen. Vielmehr stellen sie Prinzipien dar, die die Suche nach weiterem Material anleiten können und dabei unterschiedliche Suchperspektiven beachten. In Kap. 4 wird ihre praktische Anwendung ausführlich an einem Beispiel illustriert. Eine größere Übersetzungs- bzw. Adaptionsleistung ist bei den Auswertungsverfahren der GTM nötig. Das Kodieren kann in linguistischen Zusammenhängen nicht auf der Deutung und Theoretisierung vorrangig inhaltlicher Aspekte beruhen, wie es in den Sozialwissenschaften der Fall ist (vgl. Kap. 1.2, 2.2.3). Wenn man ‚Kodieren‘ allgemein als ein „Aufbrechen“ des Untersuchungsmaterials in Bedeutungselemente versteht, und der Kodiervorgang in der Markierung und deutenden Benennung analytisch interessanter Stellen besteht, die es mit anderen Stellen in Beziehung zu setzen gilt, dann muss in (diskurs) linguistischen Analysen vor allem die sprachliche Form des Untersuchungsmaterials „kodiert“ werden, d. h. relevante Aspekte auf lexikalischer, morphologischer, syntaktischer oder/und Textebene analysiert und in Relation zu thematisch-inhaltlichen (Spitzmüller/Warnke 2011,
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145–152 sprechen von propositionsorientierten Analysen) und je spezifischen außersprachlichen Aspekten (vgl. z. B. Spitzmüller/Warnke 2011, 172–183) gesetzt werden (Diskursebene). Kodieren, i. S. v. Auswerten, besteht also nicht nur in der linguistischen Analyse, sondern auch darin, alle Phänomene (Regelhaftes und Einzelfälle) in eine erklärende Theorie über den Diskurs zu integrieren. Welche Analysekategorien relevant sind, hängt von der Fragestellung ab und stellt sich auch im Laufe der Textauswahl und -auswertung heraus. Analysiert werden kann immerhin nur das, was auch im Untersuchungsmaterial auftritt. Das Repertoire an Analysemethoden, das ein Forscher beherrscht, ist Teil der theoretischen Sensibilität, mit der er an das Untersuchungsmaterial herangeht. Das ist ein Grund, weshalb es sein kann, dass unterschiedliche Forscher beim selben Gegenstand unterschiedliche Schwerpunkte setzen und zu alternativen, durchaus gleichermaßen gültigen Deutungen gelangen können. Durch die linguistischen „Analysewerkzeuge“ und Analysekategorien gibt es, anders als in den Sozialwissenschaften, bereits eine Art prädefinierten (und zweifellos sehr umfangreichen) Frage- oder Suchkatalog, mit dem der Forscher an Texte/ Äußerungen herantreten kann. Ähnliche Strukturierungsversuche haben in der GTM ihren Niederschlag in Kodierparadigmen (Strauss) bzw. Kodierfamilien (Glaser) gefunden (für einen kritischen Überblick vgl. Mey/Mruck 2011, 36–37, 40–41). Beide sollen den Prozess des Kodierens strukturieren und anleiten (und unterscheiden sich in ihrer Offenheit wesentlich voneinander). Letztendlich übernehmen die Analyseketagorien der (Diskurs-)Linguistik dieselbe Aufgabe. Insbesondere Spitzmüller und Warnke (2011; Warnke/Spitzmüller 2007; 2008) haben diesen Katalog erstmals systematisiert und um genuin diskurslinguistische Kategorien ergänzt. In der Forschungspraxis besteht die Problemstellung dann eher darin, die richtigen Fragen an den Text zu stellen, d. h. die relevanten, aussagekräftigsten Analysekategorien zu erkennen (theoretische Sensibilität). Im fortschreitenden Analyse- und Erkenntnisprozess werden – in Abhängigkeit vom jeweiligen Gegenstand, dem Erkenntnisinteresse, den Ergebnissen der kontinuierlichen Auswertung und Theoriebildung usw. – geeignete „intra-“ und „transtextuelle“ Analyseaspekte (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011) bestimmt und entsprechende Analysemethoden angewandt. Parallel zur sich im Forschungsprozess konkretisierenden Fragestellung werden also die Methoden (Stil-, Frame-, Textsorten-, Toposanalyse usw.) konkretisiert und festgelegt. Dies kann sich, wie schon an anderer Stelle erwähnt, durchaus unterschiedlich gestalten: Die Festlegung auf eine bestimmte Methode gleich zu Beginn (wie z. B. bei Fraas/Meier 2013 die Festlegung auf die Frame-Analyse) schließt Offenheit im weiteren Forschen innerhalb dieses Rahmens nicht völlig aus (vgl. ebd., 147, 149). Diese linguistischen Einzelbeschreibungen bleiben dann aber nicht als textlinguistische, lexikalische Beschreibung etc. für sich stehen. Sie bilden den Ausgangspunkt für die Suche nach Kookkurenzen und Musterhaftem im Diskurs(ausschnitt), aber auch nach Brüchen und Abweichungen sowie seltenen oder
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einzelnen relevanten Ereignissen (Vergleichsprinzip). Ziel ist die Integration und Verdichtung der Erkenntnisse zu einer einheitlichen Theorie (ggf. mit einer zentralen erklärenden Kernkategorie). In Kapitel 5 wird ein solcher Prozess, insbesondere das Ineinandergreifen von linguistischer Analyse und Diskursaspekten, nachgezeichnet. Als allgemeinste Prinzipien diskurslinguistischer Auswertung und Theorieentwicklung lassen sich nach den Samplingverfahren auch die Kodierverfahren von Strauss und Corbin (1996) diskurslinguistisch reformulieren bzw. übersetzen: 1. Das offene Auswerten (angelehnt an das offene Kodieren nach Strauss/Corbin 1996, 43–55) spielt insbesondere (aber nicht nur) in der Phase der Erstlektüre eine wichtige Rolle. Es geht darum, mit größtmöglicher Offenheit Auffälligkeiten der Texte zu registrieren und nach Charakteristika zu fragen, sowie gleichzeitig Methoden zu bestimmen, mit denen die interessierenden Eigenschaften des Untersuchungsmaterial erfasst, systematisiert und eingeordnet werden können. Ziel ist Variationsbreite statt vorwegnehmende Reduktion von Vielfalt. Eine erste Orientierung für mögliche Analyseperspektiven kann beispielsweise das „DIMEAN-Modell“ (Spitzmüller/Warnke 2011) geben. 2. Das strukturierende Auswerten (angelehnt an das axiale Kodieren, vgl. Strauss/Corbin 1996, 75–93) hat zum Ziel, die gefundenen sprachlichen und diskursiven Merkmale zueinander in Beziehung zu setzen und dabei musterhafte Zusammenhänge und Einzelphänomene herauszuarbeiten, sowie mögliche Abweichungen und Brüche zu erkennen. Für diskurslinguistische Untersuchungen ist wichtig, dass (entsprechend der jeweiligen Fragestellung) auch Verknüpfungen und Beziehungen zum außersprachlichen Kontext (Akteure und deren Merkmale, Wissens- und Machtverteilung etc.) sowie thematischinhaltliche Aspekte betrachtet werden: Inwiefern prägt der Diskurs die einzelnen Texte/Äußerungen und inwiefern bestimmen die Texte/Äußerungen den Diskurs? Ausgewertet werden sowohl neue als auch bereits ausgewählte Texte, die wiederholter Lektüre unterzogen werden. Das Prinzip des (minimalen und maximalen) Vergleichens (vgl. S. 309) kommt hier besonders zum Tragen. Einmal aufgedeckte Zusammenhänge oder Muster können sich im weiteren Forschungsverlauf als hinfällig herausstellen, neue Aspekte relevant werden. Die Fragestellung konkretisiert sich entlang des fortschreitenden Auswertungsprozesses. Beim strukturierenden Auswerten geht es letztlich darum, Eigenschaften und Auffälligkeiten des Untersuchungsmaterials immer differenzierter und genauer zu beschreiben, zueinander in Beziehung zu setzen und daraus eine Gesamttheorie zu entwickeln, sowie die Gültigkeit gewonnener Einsichten an (neuem und neu betrachtetem „alten“) Material zu überprüfen. 3. Beim fokussierenden Auswerten (angelehnt an das selektive Kodieren bei Strauss/Corbin 1996, 94–117) geht es schließlich darum, Eigenschaften auf Text- und Diskursebene, die sich als relevant für die Fragestellung erwiesen haben, in der Tiefe zu untersuchen und letzte Ausdifferenzierungen aufzu-
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decken (Variation von einzelnen Eigenschaften). Außerdem werden die gefundenen Merkmale, Einzelphänomene und Muster zu „einem roten Faden“ verknüpft, wie es bei Strauss/Corbin (1996, 94) heißt, sowie Deutungen nochmals am Material auf ihre Gültigkeit hin überprüft. Formuliert wird letztlich eine gegenstandsverankerte linguistische Theorie über den untersuchten Diskurs bzw. Diskursausschnitt, die die beschriebenen Einzeleigenschaften integriert und zu erklären vermag.
4 Anwendungsbeispiel Die grundsätzlichen Klärungen und Beschreibungen in den vorangegangenen Kapiteln sollen nun exemplarisch mit den konkreten Problemen einer Anwendung in der Praxis konfrontiert werden (vgl. auch Bock 2014): Wie sieht die Verzahnung von Erhebung und Auswertung und das „Pendeln“ zwischen Untersuchungsmaterial und Theorie konkret aus? Wie vollzieht sich im Einzelfall die theoriegeleitete Auswahl von Texten, wann ist das Korpus vollständig und wie werden linguistische Analysekategorien „gefunden“ und die Theorie über den Diskurs(ausschnitt) entwickelt? Exemplarisch soll dies an folgender Untersuchung verdeutlicht werden: In einer Studie (Bock 2013) wurden die Texte, die inoffizielle Mitarbeiter (IM) der DDR-Staatssicherheit für den Geheimdienst verfassten, im Hinblick auf diskursive Regelmäßigkeiten und Muster analysiert. Dazu musste Archivmaterial des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) ausgewertet werden, das allerdings weder in seinen sprachlichen Eigenschaften bekannt oder in seiner Gesamtheit zu überschauen ist, noch direkt für den Forscher zugänglich ist, da Behördenmitarbeiter die Unterlagen nur auf konkrete Aufträge hin zur Verfügung stellen. Man hat es also mit einem Feld zu tun, das zu Beginn weitgehend unstrukturiert und bis zu einem Grad „verschlossen“ vor einem liegt. Für diese Problematik findet man in der GTM gleich die ersten konkreten Hinweise: Strauss und Corbin empfehlen für solche Fälle die Kombination aus gezielten, systematischen und zufälligen Samplingstrategien (vgl. 1996, 155–156). Bevor das Vorgehen bei der Korpuszusammenstellung beschrieben wird, sollen jedoch Vorannahmen und Vorwissen als Ausgangslage der Untersuchung explizit gemacht werden (im Sinne der theoretischen Sensibilität nach Strauss/Corbin 1996, 25). Der Studie war eine erste textlinguistische Untersuchung vorausgegangen, die sich mit den IM-Texten einer einzelnen Personenakte (sog. Operativer Vorgang) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) befasst hatte. Aus dieser eng begrenzten Untersuchung war bekannt, dass es sehr unterschiedliche Textsorten und Textgestaltungen unter den IM-Texten gibt, dass die Schreiber unterschiedliche Strategien und Intentionen verfolgen und dass ein und dieselbe Person von unterschiedlichen IM sehr unterschiedlich dargestellt werden kann. Bekannt waren aus der Forschung außerdem die unterschiedlichen Arten personenbezogener Akten, in denen
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IM-Texte zu finden sind: Diese lassen sich in „Opfer-“ und „Täterakten“ unterscheiden. IM-Texte aus Operativen Personenkontrollen (OPK), Operativen Vorgängen (OV) und Allgemeinen Personenablagen (AP) (und ihre jeweiligen Vorläufer in den 50er und 60er Jahren) stehen ‚im Kontext einer überwachten Person‘: Hier finden sich IM-Texte unterschiedlicher Schreiber zu ein und derselben überwachten Person. IM-Texte aus sogenannten IM-Vorgangsakten stehen hingegen ‚im Kontext eines IM-Schreibers‘, der in mehreren Texten über verschiedene Personen und Themen schreibt. Daneben gibt es ZMA (Zentrale Materialablagen) in den MfSDiensteinheiten, in denen verschiedene Unterlagen (zu einzelnen Personen, Ereignissen, Gruppen etc.) gesammelt wurden. In der Phase der ersten Erkundung des Archivmaterials geschah die Textauswahl und -auswertung mit einer sehr offenen Fragestellung. Zur Gegenstandseingrenzung wurde festgelegt, dass nur die von nicht-hauptamtlichen inoffiziellen Mitarbeitern selbst verfassten Texte einbezogen werden. Texte von hauptamtlichen inoffiziellen Mitarbeitern (meist Observations-IM) wurden ausgeschlossen, da deren Status und ihre Einbindung in die Institution MfS eine grundlegend andere war. Die Auswahlkriterien, die für die Zusammenarbeit mit dem BStU-Mitarbeiter nötig waren, waren die folgenden: Es sollten Akten zu Personen (sowohl Überwachte als auch IM) aus möglichst unterschiedlichen sozialen Milieus einbezogen werden, weil erwartbar war, dass abhängig von Beruf, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, Interessen etc., sehr unterschiedliche Texte zu finden sein würden. Außerdem sollten IM-Texte aus möglichst allen DDR-Jahrzehnten vertreten sein. Für die Exploration des nicht direkt zugänglichen Archivmaterials waren die drei „offenen“ Samplingstrategien von Strauss und Corbin (1996, 155–156) eine gute Orientierung: Besonders am Anfang war das zufällige Sampling von Bedeutung. Viele Akten wurden nur basierend auf den sehr groben Vorselektionskriterien ausgewählt und nach der ersten Einsicht entweder aussortiert oder für eine weitere Analyse bestimmt. Systematisches Sampling fand statt, wenn in einer Akte eine weitere Person genannt wurde, zu der ebenfalls ein Vorgang vorlag, der für die Analyse interessant sein könnte. Teilweise wurde auf diese Weise ein bestimmtes Umfeld nach und nach erschlossen. Auch die angestrebte ausgewogene Repräsentation der vier Jahrzehnte im Untersuchungsmaterial zählt zum systematischen Vorgehen. Gezielt gesampelt wurde z. B., wenn der BStU-Mitarbeiter Hinweise zu relevanten Akten geben konnte oder in der Sekundärliteratur Hinweise auf wichtige Akten gefunden wurden (was insbesondere für das Auffinden der Textsorte Gutachten von Bedeutung war). Das Ziel der Auswertung in dieser Phase war es, die ausgewählten Texte offen nach auffälligen oder interessant erscheinenden sprachlichen Eigenschaften zu durchsuchen und geeignete linguistische Analysemethoden dafür bereitzulegen. Außerdem mussten die Strategien für die weitere Suche nach Texten erarbeitet wer-
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den. Die Ebene des Diskurses spielte für die Theorieentwicklung in dieser Untersuchungsphase noch eine untergeordnete Rolle. Grenzen oder Regelmäßigkeiten des untersuchten Diskurses wie auch die Sinnhaftigkeit, überhaupt von einem Diskurs zu sprechen, war in fortgeschritteneren Analysephasen von größerer Bedeutung. Im Laufe der anfänglichen Sichtung und Lektüre fand eine erste Fokusverschiebung in Bezug auf das Untersuchungsmaterial statt: Während die Suche ganz zu Beginn vor allem auf die sog. „Opferakten“ (vor allem OPK und OV) zielte, weil es aussichtsreich schien, die Analyse bei unterschiedlichen Darstellungen einer Person bei verschiedenen Schreibern anzusetzen, wurden bald auch IM-Vorgangsakten in den Blick genommen, um ein umfassenderes Bild der IM-Texte in ihrem jeweiligen Kontext zu bekommen: So war es möglich, sowohl z. B. unterschiedliche Darstellungen desselben Gegenstandes zu vergleichen, als auch individualstilistische Merkmale einzelner Schreiber und deren Entwicklung nachzuvollziehen. Des Weiteren konkretisierte sich die Fragestellung in zwei Richtungen: Zum einen lag der Fokus weiterhin auf den „Schreibprodukten“ der IM: Welche Eigenschaften weisen die Texte auf, was sind wiederkehrende Charakteristika bzw. Einzelvorkommnisse? Was ist das Gemeinsame dieser heterogenen Textmenge? Zum anderen wurde nun dem transtextuellen Zusammenhang dieser so unterschiedlichen Texte stärker Aufmerksamkeit gewidmet: Welche Regelmäßigkeiten auf der Ebene der Äußerungen (Texte) lassen sich feststellen und unter welchen Bedingungen wurden sie hervorgebracht? Wie lässt sich die Heterogenität der IM-Texte und ihre Andersartigkeit im Vergleich zu bspw. der öffentlichen Kommunikation in der DDR erklären? Um diese Fragen im Zusammenhang zu beantworten, erschien es aussichtsreich, sich auf die Kategorie des Diskurses zu beziehen und nach diskursiven Regelmäßigkeiten zu suchen und auch nach der Verteilung von Wissen und Macht zu fragen. Der ganz zu Beginn vornehmlich textlinguistisch ausgerichtete Blick wurde also in Richtung Diskurs methodisch und theoretisch erweitert. Ausgewertet wurden hierfür nicht nur die Personenakten, sondern weitere Archivunterlagen, die Auskunft zu Kommunikationssituation und -bedingungen geben, darunter Befehle des Ministers für Staatssicherheit, interne Richtlinien, Durchführungsbestimmungen und Dienstanweisungen, Unterlagen der „Juristischen Hochschule“ (der MfS-Hochschule) in Potsdam-Eiche, insbesondere Lehr- und Studienmaterialien, außerdem Doktor- und Diplomarbeiten von hauptamtlichen MfSMitarbeitern. Unterlagen dieser Art waren z. B. hinsichtlich Fragen der Praxis der Berichterstattung oder bezüglich Mustervorstellungen von Texten auf Seiten des MfS relevant und wurden in einem gezielten Suchprozess zusammengetragen (und inhaltlich, aber nicht hinsichtlich des Sprachgebrauchs linguistisch ausgewertet). Schon an der Formulierung der Fragen wird deutlich, dass es in dieser Phase der Untersuchung nicht mehr nur (aber auch) um das Aufdecken neuer Phänomene geht (offenes Auswerten und Auswählen), sondern um die Suche nach Zusammenhängen und die Ausdifferenzierung der gefundenen Phänomene und Bezüge (strukturierendes Auswerten und Auswählen). Orientiert an der fortschreitenden
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Textauswertung wurden die Analysemethoden bzw. Betrachtungsaspekte sukzessive gewählt. Einige, wie z. B. Struktur der Bewertungen, Sprachhandlungen, Textmuster und Toposanalyse, standen von vornherein im Mittelpunkt (als Ergebnis der Vorstudie). Andere, wie Muster- und Formelhaftigkeit (auf allen sprachlichen Ebenen), (Text-)„Musterlosigkeit“ und auch spezielle Themen wie Selbstdarstellungsstrategien, Klatsch, Wortschatzeinflüsse usw., stellten sich erst im Verlauf der Untersuchung als relevant heraus. Im Blick waren sowohl sprachlich-stilistische als auch inhaltlich-thematische Aspekte der Texte. Um die Heterogenität der Texte systematisch und im Zusammenspiel zu fassen, wurde die Zugehörigkeit zu verschiedenen Textsorten bzw. mustern zu einem wesentlichen Kriterium. Die Materialauswahl zielte auf die Suche nach unterschiedlichen Textsorten (maximaler Vergleich) und unterschiedliche Realisierungen von ein und derselben Textsorte (minimaler Vergleich). Mit dieser Perspektive zeigte sich auch, dass IM-Texte auftreten, die gerade keinem Textmuster zugeordnet werden können. Es wurde also die spezifische Klasse der „musterlosen“ Texte aufgemacht. Materialsuche und Auswertung wurden aber nicht auf diese Textsorten-Perspektive beschränkt, sondern die Aufmerksamkeit richtete sich weiterhin auch offen auf andere Zusammenhänge oder Musterhaftigkeiten. So wurden u. a. Selbstdarstellungsstrategien, Klatsch-Texte und sprachliche Strategien des Verbergens der „Autorschaft“ als Phänomene herausgearbeitet, die „quer“ zur Textsortenproblematik liegen. Auf der Diskursebene musste der Auswertungsstand der Textanalyse mit den Erkenntnissen über die Kommunikationsbedingungen und -regeln im Kontext der Institution Staatssicherheit zusammengebracht werden und die Frage nach ihrer gegenseitigen Bedingtheit verfolgt werden. Als zentraler Punkt stellt sich im Verlauf der Theorieentwicklung die Verteilung des Wissens (zwischen inoffiziellen Mitarbeitern und hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern) heraus, die auch die Verteilung der Macht widerspiegelt. Dies ging schließlich in die für die Gesamttheorie zentrale Kategorie der „Blindheit“ beim Schreiben ein. In der letzten Phase hatte die weitere Auswertung und Textauswahl das Ziel, die bisherigen Erkenntnisse zu differenzieren, Details herauszuarbeiten und zu überprüfen (fokussierendes Auswerten und Auswählen) und so die Theorie über den Gegenstand endgültig zu „verdichten“. Weiter dem Prinzip des permanenten Vergleichs folgend, wurden solche IM-Texte gesucht, die den bis dahin gefundenen entweder sehr ähnlich oder sehr unähnlich waren. Der Vergleich zwischen sehr unähnlichen Texten (maximaler Vergleich) erlaubte es, den Kern der jeweiligen Textgestaltungsart, des jeweiligen Stils, der jeweiligen Textsorte zu erfassen. Der Vergleich zwischen ähnlichen Texten (minimaler Vergleich) erlaubte es, die Variationsbreite an Textsortenrealisierungen, Detailunterschiede eines Stils oder einer Textgestaltungsart zu erkennen. Insgesamt wurden Texte aus 47 IM-Vorgängen, OPK, OV, AP und ZMA ausgewertet. Da die erhobene Textmenge ab einem gewissen Punkt zu groß war, um umfassendere und tiefergehende Einteltextanalysen zu ermöglichen, wurde in
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mehreren Schritten ein kleineres Korpus zusammengestellt: Zunächst wurden die ca. 3100 vorliegenden Seiten aus personenbezogenen Akten auf ein bearbeitbares Korpus von ca. 550 IM-Texten für eine feinere Analyse reduziert, wobei hier nicht jeder IM-Text unter jedem Analyseaspekt untersucht wurde. Das reduzierte Korpus hat den Anspruch, die wesentlichen aufgefundenen (Einzeltext-)Phänomene in einer gewissen Variationsbreite sowie die Ergebnisse auf Diskursebene, die Regeln des Diskurses, widerzuspiegeln. Etwa 50 IM-Texte des kleineren Korpus wurden unter allen als relevant herausgearbeiteten Analyseperspektiven betrachtet (fokussierendes Auswerten) und stützen wesentlich die Darstellung der Untersuchungsergebnisse in der Publikation (Bock 2013). Das Gesamtkorpus wurde auch bei der Feinanalyse immer wieder herangezogen. Zu ergänzen ist außerdem, dass die IMTexte nie isoliert vom Kontext analysiert wurden, sondern die verfügbaren Kontextinformationen aus der jeweiligen Akte (oder weiteren Akten) ebenso einbezogen wurden wie Kenntnisse, die aus anderen BStU-Unterlagen zur Kommunikationsund Handlungspraxis des MfS gewonnen wurden, sowie allgemeine Erkenntnisse der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu Staatssicherheit und DDR. Das immer wieder erwähnte Vergleichsprinzip ist also mitnichten als ein bloßer Vergleich zwischen linguistischen Merkmalen von IM-Texten zu verstehen. Grundsätzlich gilt für diskurslinguistische Untersuchungen, dass immer auch außersprachliche Merkmale berücksichtigt und „verglichen“ werden müssen. Da die Korpusgröße bei einer Untersuchung nach der GTM nicht von vornherein festgelegt ist, stellt sich die Frage, wann die Textauswahl beendet werden kann. In der hier beschriebenen Untersuchung wurde die Auswahl neuer Texte an dem Punkt beendet, an dem einerseits keine neuen Analysekategorien nötig wurden, um Charakteristika der Einzeltexte zu erfassen, und an dem andererseits keine Phänomene auftraten, die die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse über die Diskursregeln (Verhältnis zwischen IM und Führungsoffizier, Bedingungen der Textproduktion, Wissen der IM) umwälzten (theoretische Sättigung). Die Reduzierung des Korpus erfolgte theoriegeleitet und entspricht dem Vorgehen beim strukturierenden bzw. fokussierenden Auswerten und Auswählen (Ziel: Differenzierung des Erarbeiteten und weitere Prüfung von Hypothesen). Am Ende der Untersuchung stand schließlich eine Theorie, die als zentrale Kategorie die „Blindheit“ der inoffiziellen Mitarbeiter beim Schreiben ihrer Texte herausarbeitete: Gemeint ist damit der Umstand, dass den IM vieles Wissen, das eigentlich zum Verfassen von Texten nötig ist, strategisch vorenthalten wurde (was auch die Machtverteilung im Diskurs widerspiegelt), wobei ihnen gleichzeitig ein Freiraum bei der Gestaltung der Texte gelassen wurde, der individuell sehr unterschiedlich gefüllt bzw. genutzt wurde. Die Heterogenität der Texte wurde damit nicht nur detailliert beschrieben, sondern auch aus diskurslinguistischer Perspektive erklärt. Für eine detaillierte Darstellung vgl. Bock 2013.
Diskurslinguistik und Grounded-Theory-Methodologie
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III Dynamik und Varianz in der Diskurslinguistik
Constanze Spieß
14. Diskurs und Handlung Abstract: Der Beitrag gibt einen Überblick über das Verhältnis von Diskurs und Handlung aus einer linguistischen Perspektive. Ausgehend von einer sprachtheoretischen Fundierung handlungsorientierter Ansätze werden auf der Basis eines Handlungsmodells zentrale Faktoren (Kontext, Akteure, Handlungsebenen) handlungsorientierter Diskursanalyse vorgestellt. Dabei wird auf die Thematisierung der Faktoren in unterschiedlichen diskurslinguistischen Ansätzen eingegangen und auf unterschiedliche sprachliche Phänomene als diskursive Elemente verschiedener sprachstruktureller Ebenen Bezug genommen.
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Vorbemerkungen Sprachtheoretische Fundierung handlungsorientierter Diskursanalyse Handlungsmodell als Basis von Diskursen Akteure als Handlungsträger Handlungsebenen Literatur
1 Vorbemerkungen Diskurse werden in linguistischer Perspektivierung in vielen Fällen explizit als Handlungs- und Interaktionsräume aufgefasst (vgl. Gardt 2007, Spieß 2011, vgl. Roth 2014, Busse 1987). Sie stellen thematische Verbünde kommunikativer Praktiken und Aussagen dar, die im wechselseitigen Austausch mit nicht-sprachlichen Faktoren Sinn generieren und innerhalb derer sprachliche Handlungen einen besonderen Stellenwert haben. Den verschiedenen handlungsorientierten Ansätzen linguistischer Diskursanalyse liegen gemeinsame Annahmen zugrunde, die sich in etwa folgendermaßen bündeln lassen (vgl. Gardt 2007: 28–30, vgl. Busse/Teubert 2013): – Handlungsorientierung und damit verbunden Dynamik und Varianz von Sprachgebrauch in diskursiven Formationen – Fokussierung auf miteinander thematisch vernetzte sprachliche Einheiten (Texte, Gespräche, Äußerungen, kommunikative Praktiken etc.) – diskursive Ausbildung von text- und aussagenübergreifenden Mustern und agonalen Zentren (Argumentationsmuster, lexikalische Mehrworteinheiten, Schlüsselwörter, Metaphern) – Öffentlichkeit(en) als Rahmenbedingung – Gesellschaftlichkeit und Kulturalität als diskursive Bezugsgrößen – Diskursive Konstruktion von Wirklichkeit https://doi.org/10.1515/9783110296075-014
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Constanze Spieß
Im Folgenden möchte der Beitrag einen Überblick über das Verhältnis von Diskurs und Handlung geben, dabei werden die sprachtheoretischen Begründungen berücksichtigt sowie die handlungstheoretischen Annahmen für diesen Zusammenhang relevanter diskursanalytischer Arbeiten vorgestellt. Auf den Zusammenhang von Diskurs und Interaktion geht jedoch der Beitrag von Kersten Roth (in diesem Band) ausführlicher ein. Mit dem Wissen darum, dass es eine Vielzahl an Arbeiten gibt, die sich auf handlungstheoretische Konzepte beziehen, musste hier eine Auswahl getroffen werden. So werden hier in erster Linie Arbeiten herangezogen, die den Aspekt der sprachlichen Diskurshandlung explizit auf theoretischer Ebene thematisieren.
2 Sprachtheoretische Fundierung handlungsorientierter Diskursanalyse Eine handlungstheoretische Begründung linguistischer Diskursanalyse erfolgt zum einen durch den Verweis auf pragmatische Sprachtheorien und zum anderen durch die Integration des Foucaultschen Ansatzes in die sprachpragmatische Theoriebildung. Die Integration erfolgt dabei nicht einfach durch eine Übernahme des Foucaultschen Diskursbegriffes, sondern im Zentrum der verschiedenen Ansätze steht eine Operationalisierung spezifischer Aspekte des foucaultschen Diskursbegriffes und die Herausarbeitung von Anknüpfungspunkten (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, Spieß 2011, Busse 1987, Busse/Teubert 1994/2013). Die diskurslinguistischen Arbeiten, die eine Verortung der Diskursanalyse in die linguistische Pragmatik favorisieren und somit durch die Handlungsorientierung, Kontextualität, Dynamik und Varianz diskursiven Sprachgebrauchs in den Blick nehmen, beziehen sich dabei u. a. auf Wilhelm von Humboldt, Karl Bühler, Valentin Vološinov, Ludwig Wittgenstein, Ferdinand de Saussure und Charles Morris sowie auf die Wissenssoziologie Bergers und Luckmanns und bringen sie mit Foucaults Diskursbegriff in Verbindung. Nicht alle Arbeiten nehmen in gleichem Maße auf die genannten Theoretiker Bezug (vgl. hier z. B. Busse 1987, Wengeler 1993, 2003, Spieß 2011). In aller Kürze sollen hier zentrale Aussagen der Theorien im Hinblick auf das Verhältnis von Sprache und Handeln referiert werden.
a) Wilhelm von Humboldt Es sind wenigstens drei Aspekte in Humboldts Sprachauffassung, auf die in diskursanalytischen Arbeiten immer wieder verwiesen wird, wenn es um eine handlungstheoretische Begründung der Diskurslinguistik bzw. des linguistischen Diskursbegriffes geht. Humboldt konstatiert, dass zwar durch die subjektive Wahrnehmung der Gegenstände Welt sprachlich konstituiert wird, es aber einer inter-
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subjektiven Vermittlung bedarf. Gerade im Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft zeigt sich die Sozialität des Menschen und demzufolge die Sozialität von Sprache. Ein zweiter Aspekt, der mit Humboldt in diskursanalytischen Arbeiten in Verbindung gebracht wird, ist die Perspektivität von Sprache. Humboldt spricht von der „Weltansicht“ durch Sprache, was bedeutet, dass die Interpretation von Sachverhalten und von Welt wesentlich durch die Sprache bestimmt und kulturell abhängig ist. Jedes Verstehen, so Humboldt, ist zugleich ein Nicht-Verstehen, insofern die Kontextuniversen der Sprecher nicht identisch sind (vgl. Humboldt 1963: 223–224). In diesem Zusammenhang konzeptualisiert Humboldt Sprache als eine Tätigkeit. So schreibt er: Die Sprache in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia) […]. (Humboldt 1963: 418)
Damit stellt Humboldt in seiner Konzeption von Sprache die Aspekte des historisch Gewordenen und gesellschaftlich bzw. kulturell Bedingten als zentrale Merkmale von Sprache heraus.
b) Karl Bühler In Bühlers Konzeptualisierung von Sprache wird ebenfalls der Aspekt der Gemeinschaftlichkeit von Sprache hervorgehoben, insofern Sinnkonstituierung erst durch Intersubjektivität zur Geltung kommen kann (vgl. Bühler 31965 und 31999). Sprechen ist für ihn eine verstehens- und kommunikationsorientierte Verwendung sprachlicher Zeichen, wobei die Leistung von Sprache eine dreifache ist: Ausdruck, Darstellung und Appell. Bühler betrachtet Sprechen immer im Kontext von Hörer und Sprecher als ein interaktives und soziales Ereignis (vgl. Bühler 31999: 24–28). Deutlich macht er das zum einen am Relationsgefüge des Vierfelderschemas und zum anderen an der Ausformulierung des Deixis-Konzepts. Bühler konstatiert: „Das menschliche Sprechen ist eine Art, ein Modus des Handelns.“ (Bühler 21976: 59) Die Sprechhandlung selbst charakterisiert Bühler als prozessual. Er selbst bezeichnet sie als „Creszenz“ (Bühler 31999: 53) und „redendes Lösen“ (Bühler 31999: 53) von Problemen. Diese Aussagen finden sich später in sozialkonstruktivistischen und wissenssoziologischen Ansätzen wieder, etwa bei Luckmann (1988) oder Berger/Luckmann ( 202004). Luckmann definiert sprachliche Rede in Form von kommunikativen Gattungen als Muster zur Lösung kommunikativer Probleme, die Teil des „kommunikativen Haushalts“ einer Gesellschaft sind (vgl. Luckmann 1988).
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c) Valentin Vološinov In seiner Konzeption des sprachlichen Zeichens kommen insbesondere die Aspekte der Situationalität, Kontextualität und der Bedeutungsvagheit zur Geltung. So konzipiert er Sprache und Sprechen als Interaktion, Sprache ist demnach immer schon rückgebunden an soziale Kontexte und ist auf Wechselseitigkeit zwischen Sprecher und Hörer angewiesen, was an seiner Konzeption von Bedeutung deutlich wird. Ausgangspunkt sprachlichen Handelns ist das in soziale Kontexte eingebundene Subjekt. Die Bedeutung der Orientierung des Wortes auf einen Gesprächspartner ist ungeheuer groß. Eigentlich ist das Wort ein zweiseitiger Akt. Es wird in gleicher Weise dadurch bestimmt, von wem es ist, als auch für wen es ist. Es ist, als Wort, genau das Produkt der Interaktion von Sprechenden und Zuhörenden. (Vološinov 1975, 146, Hervorh. Im Original).
Bedeutung konstituiert sich demnach im sprachlichen Handeln durch die Beteiligung mehrerer Individuen, die wiederum sozial verortet sind. „Die Bedeutung ist die Wirkung der Interaktion zwischen Sprechendem und Hörendem im Material des gegebenen Lautkomplexes.“ (Vološinov 1975, 167–168, Hervorh. im Original). Das Konzept der Dialogizität, auf das auch von Gesprächslinguisten als theoretisches Konzept rekurriert wird, ist somit zentral für seine Auffassung von Sprache. Dass dieses Konzept nicht ausschließlich auf face-to-face-Interaktionen oder auf andere Formen von Gesprächen angewendet werden kann (und soll), bringt Vološinov selbst zur Geltung, indem für ihn das Buch eine komplexe sprachliche Handlung darstellt, die insofern dialogisch ausgerichtet ist, als es rezipientenorientiert ist und bereits eine Reaktion auf etwas Gesagtes oder Geschriebenes darstellen kann (vgl. Vološinov 1975, 157 ff.).
d) Ludwig Wittgenstein In diskurslinguistischen Zusammenhängen wird auf die Spätphilosophie Wittgensteins verwiesen, in der er Sprache als eine regelgeleitete Praxis konzipiert, die Intersubjektivität und damit Sozialität voraussetzt. Zugleich fasst er Bedeutung handlungsorientiert auf. Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes »Bedeutung« − wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. (Wittgenstein 1984; PU § 43)
Damit geht Wittgenstein davon aus, dass Sprechen eingebettet ist in weitere soziale Praktiken, die er unter dem Terminus Lebensform fasst. Zwischen dem Gebrauch sprachlicher Ausdrücke und selbstverständlichen Handlungen stellt Wittgenstein einen Zusammenhang her, wenn er formuliert, dass „das Sprechen einer Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (Wittgenstein 1984, PU § 23)
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Die kontextuelle Einbettung sprachlicher Tätigkeit in verschiedene andere soziale Praktiken und die damit verbundene kontextuelle und kulturelle Abhängigkeit kann durch den Sprachspielbegriff erfasst werden. „Ich werde auch das Ganze der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen.“ (Wittgenstein 1984, PU § 7, Hervorh. im Original) Damit rückt der Aspekt der Wirklichkeitskonstitution durch Sprache ins Blickfeld, der in sozialkonstruktivistischen Ansätzen dominant zur Geltung kommt.
e) Charles Morris Auch Morris hat einen Ansatz vorgelegt, auf den sich Arbeiten im Hinblick auf die handlungstheoretische Begründung der Diskurslinguistik stützen (vgl. Spieß 2011, Felder/Müller/Vogel 2011). Morris hat den Begriff Pragmatik als den Bezug zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer geprägt, wobei er von einem allgemeinen Zeichenbegriff ausgeht, der sich nicht nur auf sprachliche Zeichen bezieht. Pragmatik stellt er in seinem Modell der Semiose neben die Syntaktik und Semantik. Damit steht das Zeichen in einer dreifachen Relation. Unter Pragmatik fasst er die Verwendung von Zeichen. Dem Gebrauch von Zeichen misst Morris große Bedeutung bei. Vom Gebrauch her sind so auch die anderen beiden Zeichenrelationen zu bestimmen. Der Handlungsdimension kommt dementsprechend eine besondere Rolle zu. Deutlich wird der Stellenwert der Pragmatik, wenn Morris schreibt: Syntaktische Regeln determinieren die Zeichenbeziehungen zwischen Zeichenträgern, semantische Regeln korrelieren die Zeichenträger mit den übrigen Objekten; pragmatische Regeln geben die Bedingungen an, die der Interpret erfüllen muß, um einen Zeichenträger als Zeichen von etwas verstehen zu können. Jede Regel erscheint im aktuellen Gebrauch als eine Verhaltensweise und in diesem Sinn liegt in allen Regeln eine pragmatische Komponente. (Morris 2 1975, 59)
Die pragmatische Dimension des sprachlichen Zeichens bezieht den Zeichenbenutzer in die Konzeption mit ein.
f ) Ferdinand de Saussure Auch wenn Saussure als Begründer der Systemlinguistik und des Strukturalismus nicht so recht in die Reihe passt, Sprache handlungstheoretisch zu begründen, nehmen verschiedene diskurslinguistische Arbeiten auf Saussure Bezug (z. B. Wengeler 1992 oder Spieß 2011). Insbesondere der Aspekt der Sozialität und der Differenzialität des sprachlichen Zeichens ist für linguistische und handlungsorientierte Begründungen des Diskursbegriffes zentral. Der Wert eines sprachlichen Zeichens bestimmt sich nach Saussure durch die Differenz zu anderen sprachlichen Zeichen. Mit diesem Aspekt bringt Saussure den Kontext (wenn auch zunächst nur den
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Constanze Spieß
sprachlichen Kontext) ins Spiel, der sprachliche Zeichen festlegt und bestimmt. So formuliert Saussure: „[…] die Sprache [ist] ein System, dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen und in dem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen sich ergeben.“ (Saussure 32001, 136) Zum anderen wird die Bedeutung des sprachlichen Zeichens durch den Gebrauch intersubjektiv bestimmt, die beiden Ebenen langue und parole stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Dass Zeichen veränderlich sind, bestreitet Saussure nicht, vielmehr sieht er durch die soziale Gemeinschaft und den soziohistorischen Kontext das Veränderungspotenzial von sprachlichen Zeichen begründet (Saussure 32001, 83–93). So hat in seiner Systematik die Veränderung eines sprachlichen Zeichens (Wert) die Veränderungen anderer sprachlicher Zeichen zur Folge, da sich die Zeichen aus der Differenz zueinander bestimmen (vgl. Saussure 3 2001, 88).
g) Peter Berger und Thomas Luckmann Peter Berger und Thomas Luckmann widmen sich aus wissenssoziologischer Perspektive der Rolle der Sprache bei der Erfassung bzw. der Konstruktion von Wirklichkeit. Gesellschaft ist ihrer Ansicht nach eine objektive Realität, die sich aus Institutionen und verschiedenen Formen von Wissensbeständen zusammensetzt. Durch verschiedene soziale Praktiken sprachlicher und nichtsprachlicher Art wird Wirklichkeit durch Subjekte hervorgebracht. Sprache spielt bei der Konstruktion der Alltagswelt eine zentrale Rolle; sprachliche Muster z. B. stellen Formen typisierten Wissens dar etc. So schreiben Berger/Luckmann: „Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Alltagswelt wird also als ein kohärentes und dynamisches Gebilde von Typisierungen wahrgenommen.“ (Berger/Luckmann 2004, 36). Der Wissensvorrat einer Gesellschaft ist demnach sprachlich bedingt und konstituiert. Die sprachlichen Typisierungen entstehen v. a. durch sprachliche Interaktion, Objektivierung erfahren sie durch Institutionalisierung. Diskursakteure nehmen je nach Situation und Kontext unterschiedliche, typisierte Rollen ein. Einige linguistische Arbeiten beziehen sich, wenn es z. B. um Typisierungen und Rollen(verhalten) geht, auf den Ansatz von Berger/Luckmann und bringen ihn einerseits mit Foucault und andererseits mit der sprachpragmatischen Theorie in Verbindung (vgl. Spieß 2011).
h) Diskursives Handeln bei Michel Foucault Foucault spricht von der Formation diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken, bezieht aber aufgrund seines Sprachbegriffes die Sprache nicht in seinen Praxisbegriff mit ein. Busse (1987), Spitzmüller (2005) und Spieß (2011) haben darauf hingewiesen, dass Foucaults Sprachbegriff im Strukturalismus gründet und Foucault demzufolge Sprache als entkontextualisiertes, strukturelles Gebilde auffasst, was aber letztlich im Widerspruch zu seinem ganzen Diskursansatz steht. Diese linguis-
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tischen Arbeiten, die sich aufgrund der Betonung der Kontextualität sowie einer prozessualen Auffassung von Kultur als Praxis an Foucault orientieren und dementsprechend auf seinen Diskursbegriff referieren, haben sich demzufolge für eine Verknüpfung der foucaultschen Diskurstheorie mit einem pragmatischen Sprachkonzept eingesetzt und dieses auch umgesetzt. Foucault hat immer wieder von Diskurspraktiken gesprochen und geschrieben, demzufolge geht er davon aus, dass innerhalb von Diskursen gehandelt wird. Es handelt sich darum, die diskursiven Praktiken in ihrer Komplexität und in ihrer Dichte erscheinen zu lassen, zu zeigen, daß Sprechen etwas tun heißt – etwas anderes, als das auszudrücken, was man denkt, das zu übersetzen, was man weiß, etwas anderes auch, als die Strukturen einer Sprache spielen zu lassen […]. (Foucault 1981, 298)
Dieses Handeln auf Sprache zu beziehen, hat er jedoch nicht ausdrücklich nachvollzogen, auch wenn er an wenigen Stellen davon spricht, dass „Sprechen etwas tun heißt“ (Foucault 1981, 298). Dass Foucault einem strukturalistischen Sprachbegriff folgt, zeigt sich auch an folgender Aussage: Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben. (Foucault 1981, 74)
3 Handlungsmodell als Basis von Diskursen Diskurse lassen sich auf verschiedene Weise handlungstheoretisch begründen. Felder/Müller/Vogel (2011) koppeln diskursorientierte korpuslinguistische Arbeiten mit einem handlungsorientierten Diskursbegriff. Danach stehen sprachliche Einheiten immer schon im Wechselverhältnis mit Kontextfaktoren, die „die Dimensionen Handlung, Gesellschaft und Kognition [betreffen]“ (Felder/Müller/Vogel 2011, 5). Damit ist zugleich ein methodischer Zugriff auf die Diskurse als Handlungsrahmen/Interaktionsrahmen intendiert, der als korpuslinguistischer Zugriff sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Perspektive realisiert werden kann und der je nach Schwerpunktsetzung entweder die Kategorie Handlung, Gesellschaft oder Kognition hervorhebt (vgl. Felder/Müller/Vogel 2011). Ebenso sind die verschiedenen Ausprägungen der Kritischen Diskursanalyse (KDA) handlungsorientiert und gehen davon aus, dass innerhalb von Diskursen sprachlich gehandelt wird; die KDA setzt die Kategorie der sozialen Praxis zentral und betrachtet Diskurse als Formen sozialen Handelns (vgl. Reisigl 2013). Reisigl hebt hervor, dass die verschiedenen Ansätze der KDA „ihre sprachlichen Handlungstheorien an sozialwissenschaftliche – zumeist neo- bis postmarxistisch geprägte – Theorien anzuschließen versuchen.“ (Reisigl 2007, 27) Diskurshandlungen können als Handlungsstrategien erfasst werden, die sich – so Reisigl – in folgende Strategietypen differenzieren lassen: in referentielle, prädikative, argumentative
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Constanze Spieß
Strategien, Perspektivierungsstrategien sowie Verstärkungs- und Abschwächungsstrategien (vgl. Reisigl 2007). In der Ausprägung der Wiener Schule konzeptualisiert Reisigl (2007, 29) Diskurse als […] situationsgebundene sprachliche Formen sozialer Praxis. Sie sind Komplexe funktional und thematisch zusammenhängender – kontinuitärer, simultaner und chronologisch-sequentieller – mündlicher, schriftlicher oder sonst wie semiotisch manifester Sprachhandlungen und Sprachhandlungsabfolgen, oder weiter gefasst, semiotischer Tokens, die musterhaften semiotischen Types zugeordnet werden können.
Reisigl betont, dass für die Kritische Diskursanalyse in der Ausprägung der Wiener Schule der Handlungs- und Praxisbezug von Diskursen ausgesprochen relevant ist und ein inhärentes Moment von Diskursen darstellt (vgl. Reisigl 2013, 257). Theoretische Bezugspunkte dieser Form der KDA sind u. a. die Funktionale Pragmatik, die Diskurstheorie von Jürgen Habermas sowie Foucault (vgl. Reisigl 2007, 27 ff.). Auch Busses Ansatz einer Diskurssemantik (Busse 1987) geht davon aus, dass Diskurse Handlungsrahmen darstellen, die sich aus kleineren Handlungseinheiten (z. B. Texte) konstituieren. Busse (1988) konzeptualisiert kommunikative Handlungen als „soziale Interaktionen“, die verschiedene konstituierende Faktoren umfassen: a) Handlungssituation, b) Partnereinschätzung (Erwartungshaltung), c) Gesellschaftliches Wissen (Interpretations- und Handlungsmuster, als selbstverständlich Unterstelltes), d) Vorgeschichte (situativer und textueller Kontext), e) Relevanzbereich, thematischer Fokus, Diskurs, f) Handlungsziel (Motive bzw. Intentionen), g) Handlungsmittel (syntaktische, phonetische, grammatische Regeln etc.) (Busse 1988, 255)
Busse/Teubert (1994) orientieren sich an dem von Busse (1987 und 1988) modellierten kommunikativen Handlungsmodell. Die einzelnen Faktoren des Modells werden von Busse nur teilweise und unterschiedlich ausführlich erläutert (z. B. Handlungsmuster, Wissen). Hinsichtlich des Handlungsbegriffes schließt Busse an die angelsächsische Tradition an (vgl. hierzu Wright 1974), nach der sprachliche Handlungen konstitutiv für die Entstehung sprachlicher Bedeutungen sind. Nach Busse entsteht Bedeutung prozessual im Rahmen kommunikativer Handlungen, wobei die kommunikativen Handlungen immer schon diskursgebundene Handlungen sind, die sich innerhalb von Diskursen zu Mustern verfestigen und Auswirkungen auf bereits etablierte Muster haben (vgl. Busse 1987, 1988). Die Diskursakteure bedienen sich solcher Muster. Für die Verständigung sind sie notwendig (vgl. Busse 1988). Das Handlungsmodell Busses wird vornehmlich auf die diskursive Aushandlung von Bedeutungen bezogen, sodass Reisigl zu dem Schluss kommt, dass „anders als in der Funktionalen Pragmatik und in den meisten Varianten der kritischen Diskursanalyse […] von Busse und Teubert aber kein direkter Handlungsoder Praxischarakter von Diskursen behauptet [wird].“ (Reisigl 2013, 253) Spieß (2011) hat ihrem diskurslinguistischen Ansatz ebenfalls ein Handlungsmodell zugrunde gelegt, das sozialkonstruktivistische Faktoren der Wissenssoziologie mit einbezieht, wie z. B. Situationsrollen, -typen, Akteure, Kontext und Kon-
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Abb. 1: Handlungsmodell der Kommunikation (modifiziert nach Spieß 2011, Fix 2006, 2008, Busse 1987, 1988, Blommaert 2005).
textualisierungen. Im Zusammenhang der Weiterentwicklung von Diskursanalyse (z. B. Spitzmüller/Warnke 2011) ist es sinnvoll, dass die Faktoren Sprecher/Hörer in dem Begriff des Akteurs gefasst werden und der Aspekt der Kulturalität eine größere Relevanz erfährt (s. Abb. 1). Zudem bindet Spieß die Wissensebenen und -formen sowie die Partnerhypothesen (Rezipienten- oder Adressatenzuschnitt), Situationsrollen und -typen als handlungsbestimmende Faktoren in das Modell ein. Hinsichtlich der Konturierung der Kontextuniversen ist Blommaert heranzuziehen (s. u.). Er konstatiert, dass jeder Diskursakteur auf Kontextressourcen zurückgreift, die als Kontextuniversen zu fassen sind. Kontextuniversen der einzelnen Diskursakteure sind nie komplett identisch, sodass prinzipiell immer auch ein Nicht-Verstehen möglich ist. Sowohl Reisigl (2007, 2013) und Spieß (2011), bedingt auch Busse (1987, 1988) sehen im Kontext, den Kontextualisierungsverfahren und – hinweisen relevante Größen für die Bestimmung sprachlicher Handlungen. Wie in Abbildung 1 zu sehen ist, spielen die Kategorie des Kontextes und der damit in Verbindung stehenden Kontextualisierungsverfahren und -hinweise, mittels derer im Kommunikationsprozess Kontext aufgebaut wird (vgl. Auer 1986), sowie
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die verschiedenen Wissensebenen und -formen für die Konstitution von sprachlichen Handlungen eine wichtige Rolle, wenn nicht die zentrale Rolle. So schreibt Blommaert: „Perhaps the most basic principle we have to use is that we cannot do without context, that we absolutely need it in any kind of analysis.“ (Blommaert 2005, 40) Jede sprachliche Handlung ist angewiesen auf Kontext, ohne Kontext sind sprachliche Äußerungen nicht zu verstehen. Die Beschreibung von Kontext sowie Verfahren und Hinweisen der Kontextualisierung kann aus kognitiver als auch aus soziopragmatisch-kultureller Perspektive erfolgen, wobei sich beide Perspektiven ergänzen und aufeinander Bezug nehmen. Beide Perspektiven sollen hier zur Geltung gebracht und kurz skizziert werden. Auch Fairclough (2001) betont, dass die Beziehung zwischen Text und Kontext als eine wechselseitige Beziehung Beachtung finden muss, wobei sowohl die kognitive Ebene des Wissens wie auch die Ebene der sozialen Praxis, also des soziopragmatischen Hintergrunds eine Rolle spielen (vgl. Reisigl 2013: 73–74). Während Kontext zumeist als statische Größe konzeptualisiert wird, werden bei der Kategorie der Kontextualisierung die Aspekte der Dynamik und Prozessualität hervorgehoben. Kontext wird durch Kontextualisierungen, insbesondere durch bestimmte Verfahren der Kontextualisierung hervorgebracht, auf die durch Kontextualisierungshinweise verwiesen wird (vgl. Blommaert 2005, Gumperz 1992, Auer 1986). Nach Blommaert geschieht das unabhängig davon, ob die sprachliche Äußerung im Medium mündlicher oder geschriebener Sprache realisiert wird. The point to all of this is: what we often call ‚interpretation‘ or ‚understanding‘ (as in ‚I understand what you are saying‘) is the result of contextualisation processes in which text (utterances, statements, oral as well as written) are indexically ‚made to fit’ a particular (set of) context(s) by participants in the interaction. (Blommaert 2005, 42–43)
Jede sprachliche Äußerung evoziert Frames, die das Verstehen der Äußerung sichern und die Schlussprozesse indizieren. So konstatiert Gumperz, dass all understanding is framed understanding […] it ultimately rests on contingent inferences made with respect to presuppositions concerning the nature of situation […] (Gumperz 1992, 43–44; vgl. auch Eerdmans/Prevignano/Thibault 2003)
Und Auer spezifiziert: Unter Kontextualisierung wollen wir all jene Verfahren verstehen, mittels derer die Teilnehmer an einer Interaktion für Äußerungen Kontext konstituieren. (Auer 1986, 24)
Die Verfahren stellen sprachliche und nichtsprachliche Mittel (Zeichen) dar, die sich zugleich auf Hintergrundwissen, also Frames, beziehen. Auer (1986, 1992) bezieht diese Verfahren auf face-to-face-bzw. Gesprächs-Interaktionen. Sie können aber auch für schriftsprachliche, zerdehnte Äußerungen gelten (vgl. Blommaert 2005).
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Beim Aufbau von Kontext spielen innerhalb von Diskursen Handlungen eine zentrale Rolle, u. a. ist für das Verstehen einer Äußerung die Kontextebene des Handlungstyps von Relevanz und die damit zusammenhängenden Ebenen des Beziehungstyps, die u. a. Rollen, Partnerkonstellationen und Teilnehmerstatus der Kommunizierenden (z. B. Experte-Laie, Prominenz, Autorität etc.) umfassen. Die Kommunikationsteilhaber, also die Diskursakteure, verfügen dabei über unterschiedliche Kontextuniversen, die sich nicht unbedingt decken oder auch gar keine Schnittmengen aufweisen müssen. Wichtig ist, und hier kommt Derrida ins Spiel, dass Kontexte dadurch geschaffen werden, dass sprachliche Äußerungen im Prozess der Verwendung zunächst dekontextualisiert und dann in neue Kontexte gebracht, also rekontextualisiert werden (vgl. hierzu Derrida 2001, vgl. Blommaert 2005). Busse (2007) legt ein Kontextualisierungskonzept für Diskursanalysen vor, das sich von den Konzepten Gumperz’ und Blommaerts insofern unterscheidet, als er zum einen ausschließlich auf Texte und Diskurse (im Sinne Foucaults) Bezug nimmt und vom sprachlichen Zeichen ausgehend verschiedene Kontextualisierungsebenen annimmt, wie etwa die Kontextualisierung von Wörtern im Satzkontext, im Wortfeldkontext, im Prädikationsrahmen und im textweltbezogenen Wissensrahmen. Andererseits thematisiert er aber die Relevanz von Kontextualisierungen für den Handlungszusammenhang nur am Rande. Dabei nimmt er eine kognitive Perspektive ein und fasst Kontextualisierung als kognitiven Prozess, der aber durch soziopragmatische Faktoren bedingt ist. Die Ebene der Handlung kommt bei dieser Konzeption jedoch zu kurz und der Aspekt der Emergenz von Kontext im Sprachvollzug oder in der Rezeption von sprachlichen Äußerungen wird nur am Rande berührt. Anknüpfungspunkte an die Ansätze Gumperz’, Auers oder Blommaerts bietet Busse, wenn er schreibt, dass „Kontexte (hier verstanden als Lieferanten verstehensrelevanter Wissenselemente, ohne die ein sprachlicher Satz, ein Text, nicht richtig verstanden werden könnte) […] keine objektiven Daten [sind], sie sind nicht gegeben, sondern müssen gesucht, gefunden und hergestellt werden.“ Allerdings schränkt er zugleich ein, dass „Kontexte […] auch nicht nur oder nicht eigentlich dingweltliche Entitäten [sind], sondern es interessiert linguistisch wie epistemologisch letztlich nur ihre kognitive Repräsentation, hier als epistemische Größen, die das verstehensrelevante Wissen bilden.“ (Busse 2007, 102) Sinnvoll erscheint auch für die Beschreibung von Diskurskontexten eine Kombination von kognitiver Perspektive mit soziopragmatischen, kulturellen Faktoren, wie es bereits Gumperz für face-to-face- und weitere Gesprächs-Interaktionen durch einen Bezug auf Schemata als komplexe Wissensstrukturen realisiert hat (vgl. hierzu Auer 1986, 25). Für Blommaert stellen Kontexte Bedingungen für die Diskursproduktion dar; die Analyse je spezifischer kontextueller Verortungen von einzelnen diskursiven Äußerungen sollte, so Blommaert, der Ausgangspunkt sein, größere Einbettungsstrukturen, Muster oder Regularitäten zu eruieren (vgl. Blommaert 2005, 67). Zum Kontext gehört auch, dass sprachliche Handlungen in Situationen eingebettet sind, die gekennzeichnet sind durch Situationstypen und Situationsrollen.
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Jede Situation wird von den beteiligten Akteuren unbewusst definiert, insofern sie einem Situationstyp zugeordnet wird. Bei der Zuordnung von Situationen zu Typen werden die einen Fakten/Aspekte der Situation als mehr und andere als weniger relevant betrachtet. Voraussetzung für die Zuordnung von Situationen zu Typen sind überindividuelle, gesellschaftliche Klassifizierungen und Regelungen, in die jeder Mensch hineingeboren wird und die jeder Mensch während des Sozialisationsprozesses erlernt (vgl. Berger/Luckmann 202004). Diskursaktivitäten finden zu einem großen Teil vor dem Hintergrund eines gemeinsam geteilten, gesellschaftlichen Wissens statt, das kulturell bedingt ist. Dieses gemeinsame Wissen umfasst u. a. das Wissen um Situationsrollen und Situationsmuster bzw. -typen. Zwischen Rolle und Individuum besteht in der Regel ein prozessualer Zusammenhang, den Berger/Luckmann folgendermaßen beschreiben: Der Handelnde identifiziert sich in actu mit den gesellschaftlich objektivierten Verhaltenstypisierungen und stellt die Distanz zu ihnen wieder her, wenn er später über sein Verhalten nachdenkt. Diese Distanz zwischen dem Akteur und der Aktion kann das Bewußtsein bewahren und auf künftige Wiederholungen der Aktion projizieren. Das handelnde Selbst und der handelnde Andere werden so nicht als einzigartig, sondern als Typen empfunden. Diese Typen sind per definitionem austauschbar. Von Rollen können wir erst dann sprechen, wenn die Form der Typisierung sich innerhalb der Zusammenhänge eines objektivierten Wissensbestandes ereignet, der einer Mehrheit von Handelnden gemeinsam zu eigen ist. In solchem Kontext sind Typen von Handelnden Rollenträger. […] als Träger einer Rolle – oder einiger Rollen hat der Einzelne Anteil an einer gesellschaftlichen Welt, die subjektiv dadurch für ihn wirklich wird, daß er seine Rollen internalisiert. Im allgemeinen Wissensvorrat gibt es standardisierte Formen von Rollenspiel, zu denen alle Mitglieder einer Gesellschaft Zugang haben. Diese Allgemeinzugänglichkeit ist als solche Teil des Wissensvorrates. Man weiß nicht nur allgemein, was zur Rolle gehört, sondern man weiß auch, daß das allgemein gewußt wird. (Berger/Luckmann 202004, 78, Hervorh. im Original)
Eine solche Sichtweise lässt sich u. a. mit dem Konzept der Lebensform Wittgensteins in Verbindung bringen und ist natürlich in der Ausformulierung Bergers und Luckmanns nur denkbar, wenn man einen Akteursbegriff voraussetzt, der nicht Gegenstände und Objekte als Akteure definiert, da Gegenstände und Objekte keine Erwartungen an den Kommunikationspartner stellen können (s. Kap. 4). Blommaert (2005) macht darauf aufmerksam, dass das Wissen, vor dessen Hintergrund kommunikative, diskursive Handlungen vollzogen werden, nicht unbedingt ein geteiltes, gemeinsames Wissen sein muss. So basieren Konflikte nicht selten auf unterschiedlichen Wissenshintergründen oder Interpretationsmustern, Blommaert (2005) spricht von Kontextuniversen. Sie umfassen „complexes of linguistic, cognitive, social, cultural, institutional, etc. skills and knowledge which they use for contextualising statements […]“ (Blommaert 2005, 44). Diese Kontextuniversen treffen aufeinander und müssen von den Diskursakteuren nicht zwingend geteilt werden. Similarly, it is very often assumed that participants in communication share lots of common ground – language or language variety, referential and indexical meanings attributed to words,
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utterances or speech events, and so on. Again, this is a mistake: the meeting of contextualisation universes is not necessarily a meeting of similar contextualisation universes. On the contrary, it may be more productive to take the non-sharedness of contextualisation universes as our point of departure. (Blommaert 2005, 44–45)
4 Akteure als Handlungsträger Handlungen innerhalb des Diskurses werden in vielen Ansätzen an Konzepte des Akteurs/Diskursakteurs gebunden. Der Begriff des Akteurs ist dabei jedoch recht schillernd. In der Soziologie existieren unterschiedliche Akteurskonzepte und so ist in den verschiedenen Ansätzen nicht immer ganz klar, was unter einem (sozialen) Diskursakteur und unter Handlungen verstanden wird. Hier soll auf drei unterschiedliche Akteurskonzepte, auf die sich diskurslinguistische Studien beziehen, eingegangen werden: a) Liebert (2004) orientiert sich am Akteurskonzpt von Crozier/Friedberg (1993) b) Spitzmüller/Warnke (2011) nehmen Bezug auf die Akteurskonzepte von Goffman (1979), Levinson (1988) und Latour (2007) c) Spieß (2011) bezieht sich auf die Konzepte von Berger/Luckmann ( 202004) sowie auf die poststrukturalistischen Ausführungen von Butler (2006) und Derrida (2001) im Hinblick auf die Konturierung von Diskurshandlungen und Diskursakteuren Ein handlungsorientierter Diskursbegriff weist den Handelnden innerhalb von Diskursen eine bedeutende Rolle zu. Mit der Etablierung der Diskurslinguistik rückte die Kategorie der sprachlichen Handlung in den Fokus diskursorientierter Arbeiten (auch der Soziologie, vgl. hierzu u. a. Keller 2006). So entwarf Busse bereits 1987 ein handlungsfundiertes Diskurskonzept, das er mit Foucault, Wright und Wittgenstein begründete. Auf die Kategorie des Akteurs als Handelnder geht Busse in seinem Ansatz jedoch nicht explizit ein. Innerhalb von Diskursen wird der diskursive Zusammenhang durch sprachliche Handlungen hergestellt. Kommunikative Praktiken, Texte, Aussagen etc. stellen dementsprechend Handlungseinheiten des Diskurses dar, die durch Akteure konstituiert werden.
4.1 Akteure nach Crozier/Friedberg in der Diskurskonzeption Lieberts Liebert (2005) plädiert dafür, den handlungsorientierten Diskursbegriff mit der Konturierung des Akteursbegriffs durch Crozier/Friedberg (1993) zu begründen. Akteure sind demnach die zentrale Kategorie in Diskursen, da sie handelnd tätig sind. Zum einen prägen sie dadurch den Diskurs, zum anderen werden sie aber
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auch vom Diskurs und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst. So konstatiert Liebert (2005): In Abgrenzung zu den an Foucault angelehnten linguistischen Diskursbegriffen, ist der hier vorgeschlagene Diskursbegriff handlungstheoretisch orientiert. Ausgehend von einer Theorie kollektiven Handelns werden konkrete Akteure mit spezifischen Interessen identifiziert, die nach bestimmten Handlungsmustern handeln, also argumentieren, appellieren, Entwarnung geben, Maßnahmen empfehlen usw. Dieser handlungsorientierte Diskursbegriff kann durch den soziologischen Ansatz von Crozier/Friedberg (1993) und dessen Weiterentwicklung etwa bei Brentel (1999) gestützt werden. In diesem Ansatz wird die Auffassung vom Systemdeterminismus kritisiert und das Wechselspiel von System und Akteur zur Grundlage der Theorie sozialer Organisation gemacht (Liebert 2005, 14)
Der Ansatz von Crozier/Friedberg (1993) geht davon aus, dass sich Systeme aus Akteuren, d. h. Individuen, Gruppen, sozialen Akteuren entwickeln und konstituieren; die sozialen Akteure aber sind immer schon bezogen auf sie prägende Systeme, innerhalb derer sie aber bestimmte Spielräume haben. Keine einfache Gegenüberstellung einer handlungs- und systemtheoretischen Perspektive kann der Komplexität dieser Beziehung gerecht werden. Systeme sind keine fleischlosen Gebilde von Rollen, Funktionen und Informationsströmen. Sie bestehen und entwickeln sich nur über und durch die ihnen angehörigen Individuen und Gruppen, d. h. die sozialen Akteure, die allein sie tragen und ihnen Leben geben und die allein sie ändern können. Soziale Akteure ihrerseits existieren nicht im luftleeren Raum. Ihr Handeln findet immer in Systemen statt, aus denen sie ihre Ressourcen beziehen, die aber zugleich die ihnen verfügbare Freiheit und Rationalität umschreiben. (Crozier/Friedberg, 1993, 3)
4.2 Akteure in der Konzeption Spitzmüller/Warnkes In Spitzmüllers und Warnkes (2011) Ansatz nimmt der Diskursakteur ebenfalls eine zentrale Rolle ein. Hinsichtlich der Konturierung des Akteursbegriffs nehmen sie Bezug auf Goffman (1979) und Levinson (1988), aber auch auf Latour (2007), der einen sehr weiten Akteursbegriff entwickelt hat, der sich auch auf Objekte bzw. Gegenstände bzw. Nichtbelebtes erstreckt. Akteure als sozialwissenschaftliche Kategorie zur Erfassung der Initiatoren von Handlungen sind nicht zwangsläufig individuelle oder personale Größen, sondern Akteure können Gruppen wie Individuen, Gruppen von Individuen, Institutionen, Parteien, Medien, aber auch Gegenstände und Objekte (vgl. Latour 2007) sein. Mit seinem weiten Akteursbegriff schreibt Latour Objekten und Gegenständen Handlungscharakter insofern zu, als diese die Handlungsspielräume und Handlungen personaler Akteure beeinflussen oder beschränken und damit auch in gewisser Weise Handlungscharakter haben. Spitzmüller/Warnke (2011, 172–187) differenzieren in ihrem DIMEAN-Modell die diskurslinguistische Akteursanalyse in drei Ebenen: in die Medialität, die Diskurspositionen und in die Interaktionsrollen.
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a) die Kategorie Medialität bezieht sich auf die Frage, welches Medium, welche Kommunikationsformen und welche Handlungsmuster von den Akteuren verwendet werden, b) die Kategorie der Diskursposition bezieht sich auf die Stellung der Akteure im Diskurs. So geht es hier u. a. darum, ob der Akteur z. B. Experte oder Laie ist; oder aber darum, ob Akteure sich Gehör verschaffen können (Voice) oder Macht, Prestige oder Autorität besitzen, ob Akteure gemeinschaftlich agieren oder aber überhaupt die Möglichkeit haben, an bestimmten Dingen zu partizipieren, c) die Kategorie der Interaktionsrollen bezieht sich auf die sozialen Rollen, die Diskursakteure in Diskursen annehmen (können), wobei ein Akteur Träger verschiedener sozialer Rollen sein kann (vgl. Berger/Luckmann 202004, vgl. Goffman 42006). Spitzmüller/Warnke (2011) unterscheiden in Produzenten- und Rezipientenrollen.
4.3 Soziale Akteure und relative Intentionalität in der Diskurskonzeption bei Spieß In ihrem Ansatz handlungsorientierter Diskursanalyse geht Spieß (2011) davon aus, dass Diskursakteure (Hörer, Sprecher, Rezipienten, Produzenten) relativ intentional handeln und entweder menschliche Einzelakteure oder kollektive Akteure sind (vgl. zur Diskussion um den Akteursbegriff in der Soziologie Lüdtke 2011). Dabei bezieht sie sich auf die Wissenssoziologie Bergers und Luckmanns ( 202004) sowie auf die Konzeptualisierung des Subjekts bei Butler (2006) und Derrida (2001). Im Hinblick auf eine Verknüpfung von Wissenssoziologie und foucaultscher Diskursanalyse definiert Keller die Rolle von Diskursakteuren wie folgt: Die handlungs- und prozessorientierte Perspektive von Berger/Luckmann erlaubt gegenüber Foucault die Betonung der Rolle gesellschaftlicher Akteure in den Machtspielen des Wissens, ohne dabei in einen naiven Subjektivismus zu verfallen. Sie vermeidet gleichermaßen die in Diskurstheorien implizierte Essentialisierung bzw. Verdinglichung der Diskurse durch die Einführung eines Akteurskonzepts, mit dem soziale Akteure sowohl als diskursiv konstituierte wie als regelinterpretierende Handelnde, als aktive Produzenten und Rezipienten von Diskursen verstanden werden. (Keller 2013, 45)
Deutlich wird an den genannten Merkmalen des Akteurs, dass die Kategorie der Intentionalität relativiert werden muss. Objekten und Gegenständen kann sicher kein freier Wille unterstellt werden, ebenso sind personale Akteure nicht autonom in ihren Entscheidungen, sondern von einer Vielzahl an Faktoren abhängig. Schon allein dadurch, dass jede sprachliche Äußerung durch Iteration gekennzeichnet ist, ja im Prinzip auf Muster Bezug nimmt, ist der handelnde Akteur in seiner Wahl sprachlicher Mittel nicht autonom. Derrida (2001) spricht in diesem Zusammenhang von relativer Intentionalität:
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Könnte eine performative Äußerung gelingen, wenn ihre Formulierung nicht eine »codierte« oder iterierbare Äußerung wiederholte, mit anderen Worten, wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht als einem iterierbaren Muster konform, wenn sie also nicht in gewisser Weise als »Zitat« identifizierbar wäre? […] In dieser Typologie wird die Kategorie der Intention nicht verschwinden, sie wird ihren Platz haben, aber von diesem Platz aus wird sie nicht mehr den ganzen Schauplatz und das ganze System der Äußerung beherrschen können. Derrida (2001, 40)
Für Derrida besteht Handlungsmacht gerade in der Iterierbarkeit sprachlicher Zeichen. Denn darin liegt für ihn die Möglichkeit eines Bruches mit bereits bestehenden Kontexten. Das sprachliche Zeichen ist für ihn jederzeit in neue Kontexte überführbar und durch Kontextualität bedingt (vgl. Derrida 2001, 32; vgl. auch Butler 2006). Akteure sind Träger von sozialen Rollen, wobei ein einzelner Akteur Träger verschiedener sozialer Rollen sein kann entsprechend der jeweiligen Situation (vgl. Berger/Luckmann 2004, vgl. Lahire 2011, vgl. Spieß 2011). Lahire (2011) spricht in diesem Zusammenhang vom „plural actor“.
4.4 Handlungsspielräume So nachvollziehbar es ist, auch von nicht-personalen Akteuren auszugehen, hängt doch mit dem Akteursbegriff die Kontur des Handlungsbegriffes zusammen. Legt man also einen weiten Akteursbegriff (z. B. Latour) zugrunde, so muss den Objekten und Gegenständen (Architekturen wie z. B. Anlagen von Städten und Gebäuden, Viren etc.) Handlungscharakter zugesprochen werden. In diskurslinguistischen Arbeiten ist bislang jedoch weniger berücksichtigt und reflektiert worden, welche Auswirkungen auf den Handlungsbegriff und auf den Aspekt der Handlungsspielräume damit verbunden sind, wenn auf Latour Bezug genommen wird (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011). Latour selbst spricht im Zusammenhang seines Handlungsbegriffs von der untrennbaren Verflechtung von Mensch und Objekt. Der Intentionalitäts- und Subjektbegriff bekommt damit einen anderen Stellenwert bzw. spielt keine große Rolle in Latours Konzeption, vielmehr liegt sein Schwerpunkt auf dem Zusammenspiel menschlicher und nicht-menschlicher Faktoren/ Handlungen. Dieses Zusammenspiel der unterschiedlichen Faktoren ist auch bereits bei Foucault im Kontext seines Dispositivbegriffes thematisiert worden (vgl. Foucault 1978), auch wenn Foucault nicht von Akteuren spricht. Die Beschreibung der Verflechtungszusammenhänge verschiedener Akteure innerhalb von Diskursen am Beispiel sprachlichen Handelns ist aber für die Diskurslinguistik insofern von Relevanz, als sprachliche Diskursdynamiken von diesen Verflechtungszusammenhängen betroffen sind. Liebert (2005) sieht soziale Akteure zwar als von sozialen Systemen geprägt, aber er spricht ihnen Handlungscharakter innerhalb dieser Systeme zu, die die Akteure prinzipiell auch ändern können. Spitzmüller/Warnke (2011) gehen auf den Aspekt des Handlungsspielraums nicht ein.
Diskurs und Handlung
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Spieß sieht im Anschluss an Butler (2006) und Derrida (2001) den Handlungsspielraum für diskursives Handeln in der Möglichkeit, durch Iterationen auch Veränderungen vorzunehmen, die sich dadurch ergeben, dass sprachliche Äußerungen in der Wiederholung in neue Kontexte gesetzt werden, was Blommaert mit dem Terminus entextualisation bezeichnet (Blommaert 2005, 47) und Butler (2006) als Handlungsmacht eines postsouveränen Subjekts beschreibt.
4.5 Diskursive Handlungen und Handlungsmuster – Zur Handlungsdynamik von Diskursen Sprachliche Handlungsmuster sind sozial gefestigte Formen des Handelns, die Teil diskursiver Formationen sind. Akteure bedienen sich dieser Handlungsmuster, um kommunikative Probleme zu lösen. Handlungsmuster sind Teile des kommunikativen Haushalts einer Gesellschaft. (Vgl. Luckmann 1988) Busse (1988) knüpft an zentrale Thesen der Wissenssoziologie an, wenn er schreibt: Kommunikatives Handeln ist, als soziale Interaktion, nur möglich durch Anwendung gesellschaftlich verbreiteter Handlungsmuster. Die kommunikativen Handlungsmuster bilden in jeder vollzogenen Handlung eine Matrix, die sprachliche, kommunikative und soziale Konventionen, Sinn- und Funktionszusammenhänge, kognitive und epistemische Voraussetzungen so zusammenfaßt, daß sie ein Sinnganzes ergeben, welches dem Hörer im Nachvollzug des Handlungskalküls des Sprechers ermöglicht, den von diesem intendierten Sinn zu realisieren. (Busse 1988, 256)
Auf Handlungsmuster greifen Akteure innerhalb von Diskursen zurück, sie stellen eine „Handlungskategorie im Akteursfeld“ (Spitzmüller/Warnke 2011: 186) dar. Handlungsmuster stehen im Spannungsverhältnis von Medialität, Diskursposition, Interaktionsrolle und weiteren handlungsbedingenden Kontextfaktoren. Sie sind abhängig von den Diskursdimensionen Funktionalität, Semantizität sowie von der äußeren sprachlichen Gestalt, wobei hier auch Nichtsprachliches (wie z. B. Lokalität/Erscheinungsort und Materialität) eine Rolle für die Ausbildung und Bedeutung der jeweils generierten Handlungsmuster/Handlungen im Diskurs spielt (vgl. Fix 2008). Busse bemerkt hinsichtlich der kontextuellen und situativen Bedingtheit von Handlungsmustern, dass [d]ie aktuelle Erfahrung des Kontextes und der Situation […] auf dem Sinnhorizont allgemeiner Handlungserfahrungen [kontrastiert wird]. Diese sind als Handlungsmuster und Interpretationsmuster spezieller Teil des allgemeinen Wissens, und damit Teil des konkreten Handlungswissens. Handlungsmuster sind Erfahrungen mit Handlungsweisen, die als Abstraktion aus vergangenen Handlungsvollzügen Anleitungscharakter für künftiges Handeln haben. (Sie werden auch als ‚Konventionen‘ bezeichnet.) Interpretationsmuster sind Abstraktionen aus Weisen der Welt-Erfahrung, die als thematische kulturelle Konstanten Wahrnehmung und Interpretation von Welt und sozialer Interaktion steuern. Handlungs- und Interpretationsmuster stehen in engem Bezug zu sozialen Regeln. (Busse 1987, 156)
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Da Diskurse durch Serialität gekennzeichnet sind, d. h. zentrale diskursrelevante sprachliche Handlungen immer wieder auftauchen, bilden sich diese sprachlichen Handlungen zu diskursiven Mustern aus, die innerhalb von spezifischen Diskursen bestimmte Funktionen innehaben oder Bedeutungen generieren (vgl. hierzu Spieß 2011). Der Bezug auf Muster im Diskurs birgt aber immer schon zugleich eine geringfügige Veränderung des Musters schon aufgrund der Tatsache, dass Muster mit jeder Verwendung, also mit jeder sprachlichen Handlung, in neue Kontexte gestellt werden (vgl. Derrida 2001, vgl. Butler 2006, 249–250). Deutlich wird das u. a. an der Bedeutungsvarianz von Schlüsselwörtern, Metaphern und Argumentationsmustern. Mithilfe dieser Muster handeln Akteure und können durch die Inanspruchnahme von Interaktionsrollen z. B. ihre Diskurspositionen festigen (oder aber auch ändern). Dies geschieht durch sprachliche Strategien, die Diskursakteure einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Varianz sedimentierter Diskursmuster kann mit dem Prinzip der Transkriptivität erläutert werden (vgl. Jäger 2002). Wandel und Konstitution von Bedeutung geschieht demnach durch ein transkriptives Verfahren, in dem zwei Symbolsysteme aufeinandertreffen. Dabei kann es sich selbstverständlich auch um zwei Realisierungen eines Symbolsystems handeln, beispielsweise sprachliche Phänomene. Nach Jäger müssen Symbolsysteme, um verstanden zu werden, transkribiert werden, also lesbar gemacht werden. Transkripte sind in diesem Verfahren die symbolischen Mittel, die das symbolische System zur Transkription verwendet. Transkribierte Ausschnitte des symbolischen Systems bezeichnet Jäger als Skripte, das zugrunde liegende symbolische System selbst als Prätext oder Quelltext. Skript-Status erhalten Symbolsysteme oder Ausschnitte von diesen nur dadurch, daß sie transkribiert werden, also aus Prätexten in semantisch auf neue Weise erschlossene Skripte verwandelt werden. Tatsächlich stellt also jede Transkription die Konstitution eines Skripts dar, wiewohl das Verfahren zunächst auf ein schon vor seiner transkriptiven Behandlung existierendes symbolisches System trifft. (Jäger 2002, 30)
Jeder Text kann demnach Prätext-, Skript- und Transkript-Status haben. Transkription ist das Verfahren bzw. der Prozess der Bezugnahme auf den Prätext und der gleichzeitigen Neueinschreibung in neue Kontexte. Mit dem Verfahren der Transkription einher geht die Konstitution von Sachverhalten und Bedeutungen. Denn es handelt sich bei der Transkription als Hervorbringung transkribierter Skripte nicht um die Abbildung von Sachverhalten, die Prätexten entstammen, sondern um eine Form der Konstitution von Sachverhalten, insofern das Verfahren des Transkribierens aus einer bestimmten den Prätexten nicht inhärenten Perspektive erfolgt, das die Einbettung in neue Kontexte impliziert. Deutlich treten bei diesem Verfahren die Aspekte der Prozessualität und der Dynamik der Bedeutungs- und Strukturkonstitution hervor, die unabschließbar sind.
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Jeder stattfindende Musterbezug, also der Bezug auf einen Prätext, bedeutet für Jäger schon Divergenz zum Prätext, die er als transkriptive Verschiebung bezeichnet.
5 Handlungsebenen Abschließend sollen zum einen die Ebenen und zum anderen ausgewählte sprachliche Phänomene, die konstitutiv für diskursive Handlungen sind, Erwähnung finden. Spitzmüller/Warnke (2011) differenzieren in die transtextuelle Ebene, die intratextuelle Ebene und die Akteursebene als eine vermittelnde Zwischenebene zwischen trans- und intratextueller Ebene. Spieß (2011) unterscheidet zwischen einer diskursiven Ebene des Diskurses und einer intratextuellen Ebene, die die diskursive Ebene konstituiert. Dabei geht sie von Makro- und Mikrostrukturen aus, wobei die Makroebene auch die Rahmenbedingungen umfasst und die Mikroebene sich auf die textuellen, also sprachlichen Phänomene der Einzeltexte bezieht. Erst in der Zusammenschau der Phänomene des Einzeltextes ergibt sich die diskursive Ebene, wobei alle sprachlichen Phänomene als Elemente sprachlicher Handlungen aufzufassen sind, die im Dienst der diskursiven Ebene stehen. Die Analyse von Strukturen und Mustern der transtextuellen Ebene basiert auf der Analyse der intratextuellen Ebene bzw. der Ebene der einzelnen sprachlichen Äußerungen – sei es zerdehnter, schriftsprachlicher Art oder auch von face-to-face-, dialogischer und/oder Gesprächs-Interaktionen (vgl. hierzu Roth 2014). Liebert (2005) spricht von der für Diskurse relevanten Morphemebene, Lexemebene, Satzebene, Textebene und Diskursebene, auf denen verschiedene sprachliche Einheiten auftauchen. Einige sprachliche Phänomene, die in Diskursen handlungskonstitutiv sind, sollen im Folgenden näher skizziert werden (vgl. hierzu beispielsweise auch Busse 1987, Wengeler 2003, Spitzmüller/Warnke 2011, Spieß 2011).
a) Lexikalische Einheiten Eine wichtige sprachliche Ebene von Diskursen stellt die lexikalische Ebene dar, die die Verwendung von Einzellexemen oder Lexemgruppen umfasst. Die lexikalische Ebene als relativ kleine Ebene konstituiert die je höheren Ebenen und stellt diejenigen sprachlichen Mittel bereit, mit denen auch auf den größeren bzw. umfangreicheren Ebenen gehandelt wird. Relevant für Diskurse ist sie insofern, als auf dieser Ebene semantische Kämpfe ausgetragen werden, die jeweils in größere sprachliche Einheiten integriert sind, u. a. beispielsweise in komplexe Handlungen des Argumentierens. Das Konzept der semantischen Kämpfe steht für verschiedene Aushandlungsformen von Wort-
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bedeutungen (Bedeutungskonkurrenz) und für verschiedene Bezeichnungspraktiken (Bezeichnungskonkurrenz). Nicht selten sind einzelne Schlüsselwörter agonale Diskurszentren (vgl. Felder/Stegmeier 2012). Mittels lexikalischer Einheiten wird in Diskursen gestritten oder argumentiert; es wird versucht, bestimmte Diskurspositionen zu erreichen oder zu verteidigen etc. Mit der Verwendung lexikalischer Einheiten werden Konflikte ausgetragen.
b) Argumentationsmuster Die Ebene der Argumentationsmuster konstituiert sich aus komplexen argumentativen Handlungen, die im Diskurs zu Mustern sedimentieren/gerinnen können. Erfassen lassen sich diskursive Argumentationsmuster auf einer mittleren Abstraktionsebene, sodass die Diskursspezifik (d. h. die thematische Gebundenheit) der Muster zur Geltung kommt. Verorten lassen sich argumentative Muster auf der Ebene der Einzelhandlung innerhalb von kommunikativen Praktiken, Texten, Aussagen, Äußerungseinheiten oder Gesprächen etc. Wengeler (2003) hat im Anschluss an Kienpointner (1992) handlungskonstitutive Einheiten für den Migrationsdiskurs beschrieben. Die Muster orientieren sich in ihrer Grundstruktur am Argumentationsmodell Toulmins (1958), werden von Wengeler aber zudem mit dem Toposbegriff von Bornscheuer (1976) in Verbindung gebracht, sodass sie durch vier Merkmale gekennzeichnet sind: Habitualität, Intentionalität, Potentialität und Symbolizität (vgl. Wengeler 2003). Mithilfe solcher Argumentationsmuster werden Diskurshandlungen etabliert, sie konstituieren sich u. a. auch aus Schlüsselwörtern und Metaphern.
c) Metapher Metaphern stellen zwar ein eigenständiges sprachlich-kognitives Phänomen dar, liegen aber quer zu den verschiedenen sprachlichen Ebenen bzw. berühren verschiedene sprachliche Ebenen, weil sie unterschiedlich komplex sein können. So können Metaphern auf der lexikalischen Ebene als Lexemmetaphern erscheinen, aber auch komplexe (also satzübergreifende) Handlungen konstituieren. Kennzeichen von Metaphern ist, dass sie zwei Erfahrungsbereiche/zwei Konzepte bzw. semantische Bereiche, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, durch Projektionsprozesse in Bezug zueinander setzen (vgl. Lakoff/Johnson 1980). Dabei werden (im einfachen Fall) Aspekte aus dem Quellbereich partiell auf den Zielbereich projiziert. Im Prozess des Metaphorisierens werden diese Bereiche aufeinander bezogen und es entstehen neue Bedeutungen. Durch den Projektionsprozess werden bestimmte Aspekte hervorgehoben, andere dafür ausgeblendet, sodass Metaphern immer schon perspektivisch sind. Metaphern können dabei spezifi-
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sche Funktionen innerhalb von Diskursen einnehmen und handlungsleitend und -konstituierend sein (vgl. Spieß 2016, Spieß 2014a). Die hier genannten sprachlichen Phänomene verschiedener sprachstruktureller Ebenen sind innerhalb von Diskursen Elemente von Handlungsstrategien, die ebenfalls diskursspezifische Ausprägungen erfahren (vgl. hier Reisigl 2007).
d) Multimodale Handlungskonstitution Die hier vorgestellten sprachlichen Phänomene können auf den verschiedenen Diskursebenen Verbindungen mit nichtsprachlichen Kommunikationsformen eingehen. So können u. a. Bilder an der sprachlichen Handlungskonstitution beteiligt sein und durch das Text-Bild-Wechselspiel Diskurshandlungen hervorgebracht werden (vgl. hierzu Meier 2011). Solche Wechselverhältnisse betreffen noch weit mehr Zeichenmodalitäten als die mittlerweile etablierte Analyse von Text-BildBezügen in Diskursen; so sind z. B. Gesten, Geräusche, Musik etc. an der diskursiven Handlungskonstitution beteiligt (vgl. z. B. die Kommunikationsform Audioguide als Teil von Kunstdiskursen, hierzu Spieß 2014b). Und so werden „[m]usterhafte kommunikative Handlungen“ (Wengeler 2003) im Diskurs zu anderen Zeichenmodalitäten und Wissensformationen in Bezug gesetzt. Deutlich wird die multimodal bedingte Handlungskonstitution vor allem im Bereich der gesprochenen Sprache; dieser Bereich findet zunehmend auch bei Diskurslinguisten Beachtung (vgl. Müller 2015, vgl. Roth 2014), wobei die KDA seit jeher diese Bereiche bei der Beschreibung von Diskurshandlungen nicht ausgespart hat (vgl. Reisigl 2007, 2013).
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Kersten Sven Roth
15. Diskurs und Interaktion Abstract: Der Beitrag diskutiert das Verhältnis von Diskurslinguistik – insbesondere in ihrer Spielart als Diskurssemantik – und Interaktionslinguistik. Dabei steht im Vordergrund die Frage, welche methodologischen und methodischen Konsequenzen es hat, wenn die bislang primär auf monologisch-schriftliche Texte ausgerichtete linguistische Diskursanalyse auch dialogisch-mündliche Gespräche als Daten in ihre Untersuchungen einbezieht. Damit verbindet sich zum zweiten die Frage, was eine entsprechend notwendig stärker pragmatisch-interaktionale Methodik für die Erweiterung des theoretischen und forschungspraktischen Repertoires der Diskurslinguistik insgesamt bedeutet. An die Diskussion grundsätzlicher Aspekte wie dem interdisziplinären Charakter einer solchen interaktionalen Diskurssemantik, dem Status des Gesprächs als traditioneller Metapher für die intertextuelle Perspektive der Diskursanalyse und der Übertragbarkeit textorientierter Analysekategorien auf Gesprächsdaten werden konkrete Analyseebenen und -zugriffe einer mikrodiskursiven, interaktional-pragmatischen Analyse von teilnahmeorientierten Realisationen des Diskurses (TORs) aus natürlichen Gesprächen vorgestellt.
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Interaktionale Diskurslinguistik als interdisziplinäres Projekt Gespräch und Diskurs Mikrodiskursive Analyse Interaktional-pragmatische TOR-Analyse Literatur
1 Interaktionale Diskurslinguistik als interdisziplinäres Projekt Gegenstand dieses Beitrags ist das Verhältnis zweier linguistischer Konzepte, die disziplingeschichtlich betrachtet eher geringe Bezüge zueinander aufweisen: Diskurs – im Sinne einer Diskurslinguistik nach Foucault (vgl. Warnke 2007) – und Interaktion. Dabei richtet sich der Fokus auf die Frage, wie die Diskurslinguistik methodologisch und methodisch solchen sprachlichen Manifestationen des Diskurses gerecht werden kann, die nicht strukturell, semantisch und pragmatisch begrenzbare Texte darstellen, sondern Teil einer komplexen Interaktion, in der deutschsprachigen Terminologie also Beiträge zu einem Gespräch sind. Diese stellen deshalb eine besondere Herausforderung dar, weil sich die Diskurslinguistik in ihrer spezifischen Ausprägung innerhalb der germanistischen Sprachwissenschaft sehr stark aus der textlinguistischen Forschung heraus entwickelt hat (vgl. Heinehttps://doi.org/10.1515/9783110296075-015
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mann 2005; Warnke 2008). Zwar wurde dabei in der Regel nicht ausgeschlossen oder gar ausdrücklich behauptet, dass die entwickelten Forschungsfragen und Analyseansätze auch für Gesprächsdaten gültig seien (vgl. Warnke 2002, 11), die spezielle Rolle von Interaktionalität, die für letztere gilt, wurde aber im Methodendesign kaum berücksichtigt. Entsprechend haben innerhalb der germanistischen Linguistik auch nur solche Arbeiten Gespräche und Gesprächsbeiträge zum Gegenstand konkreter Analysen gemacht, die sich theoretisch an internationalen Schulen und Theorien – vor allen Dingen der Critical Discourse Analysis (CDA) – orientierten und innerhalb der Germanistik wiederum lange Zeit weniger akzeptiert waren (wie z. B. Jäger 2004). Von daher ist zu Beginn des Beitrags ein Seitenblick auf die Discourse Analysis, vor allen Dingen auf die CDA, sinnvoll. Im Weiteren wird dann jedoch unter Diskurslinguistik primär jene in ihrer Begründung stark an Foucault angelehnte Subdisziplin verstanden, der in der germanistischen Sprachwissenschaft vor allen Dingen Dietrich Busse (vgl. u. a. Busse 2005a) den Weg bereitet hat, und die zur Markierung dieser Begrenzung im Folgenden als Diskurssemantik bezeichnet wird. Da die Discourse Analysis aus Sicht der Germanistik eine sehr breit gefasste Metadisziplin ist, die das spezielle Interesse der Diskurssemantik umfasst, aber auch weit überschreitet, hilft dieser Seitenblick auch, den zweiten Aspekt zu erhellen, der in diesem Beitrag eine Rolle spielt: den Impuls, den die Integration von Gesprächsdaten in die diskurssemantische Forschungspraxis im Rückschluss für eine stärker pragmatisch-interaktionale Ausrichtung der Diskurssemantik insgesamt leisten kann.
1.1 (Critical) Discourse Analysis Discourse Analysis ist eine im gesamten angelsächsischen Publikationsraum und damit international gebräuchliche Disziplinbezeichnung, bei der Discourse für das parole-orientierte Gegenkonzept zur langue-orientierten linguistisch-grammatischen Beschreibung abstrakter grammatischer Strukturen steht. Ihr Forschungsgegenstand sind damit alle denkbaren Aspekte, die sich aus der grundlegenden Einsicht ergeben, „(…) that people do many (…) things while engaging in text and talk“ (van Dijk 2000, 2). Damit ließe sich die Bezeichnung Discourse Analysis zunächst einmal in etwa gleichsetzen mit dem Ausdruck Pragmatik in seinem weiteren Gebrauch in der deutschsprachigen Terminologie. Gleichzeitig weisen viele Arbeiten im Bereich der Discourse Analysis und insbesondere alle Analysen der CDA eine besondere Ausrichtung auf den Zusammenhang von sprachlichen und gesellschaftlichen Realitäten auf, die von der diesbezüglich vollkommen neutralen Bezeichnung ‚Pragmatik‘ nicht mehr erfasst würde. Während die dezidiert pragmatische Ausrichtung der Discourse Analysis der diskurssemantischen Perspektive auf Strukturen, die ober- bzw. außerhalb des Handelns Einzelner liegen, eher entgegensteht, bedeutet ihr spezifisch soziolinguistisches Interesse einen entscheidenden Berührungspunkt zwischen beiden. Dies gilt umso mehr, als gerade die CDA
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dabei unter anderem auf die Repräsentation (Fairclough 2003) von (in einem neutralen Sinne verstandenen) Ideologien (van Dijk 2001) und anderen Konstruktionen von Wissen in und durch Sprache fokussiert. Mit diesem Interesse für den Zusammenhang von Diskurswissen (Roth 2009) und Sprache entsprechen sie weitgehend dem Anspruch der Diskurssemantik, „Architekturen des Wissens“ (Busse 2005b) zu rekonstruieren, die kollektiv-sozial gebildet werden und in sprachlichen Manifestationen zum einen abgebildet, zum anderen aber auch konstituiert werden (vgl. Gardt 2007). Die innerhalb der germanistischen Linguistik weit verbreitete Ablehnung der für die CDA zentralen machtkritischen Aspekte (vgl. Wichter 1999, 273; Warnke 2002, 9) – die in dieser speziellen Ausprägung jedoch auch von anderen Vertretern der Discourse Analysis geteilt wird (vgl. Blommaert 2005) – steht dem mit Blick auf die Forschungsresultate nicht grundsätzlich entgegen. Forschungspraktisch entscheidend ist dagegen vielmehr die oben bereits zitierte gleichwertige Analyse von monologisch-textförmigen, in aller Regel schriftlich realisierten Daten (text) und interaktional realisierten, dialogisch und typischerweise mündlich realisierten (talk). Hierin wird eine grundsätzlich andere Disziplingeschichte sichtbar, die die in der Germanistik prägende Dichotomie von Textlinguistik und Gesprächslinguistik nicht kennt. So sehr auch dort ein Bewusstsein davon herrscht, dass Texte und Gespräche (bzw. Gesprächsbeiträge) im Sinne von Discourse als kommunikative Praktiken gemeinsam die Realisierungsformen von Sprache darstellen (vgl. Stein 2011), so schwer wiegt in der germanistischen Sprachwissenschaft doch der umfangreiche Ertrag einer über Jahrzehnte hinweg getrennten Kategorienbildung in beiden Teildisziplinen. Darin liegt ein Vorzug hinsichtlich einer Differenzierungsfähigkeit bei der Analyse konkreter Diskursrealisationen, an der es Arbeiten aus dem Bereich der Discourse Analysis bisweilen vermissen lassen, wenn sie die ganz unterschiedlichen pragmatischen Bedingungen von Texten und Gesprächen nicht ausreichend würdigen und beide auf gleicher Ebene behandeln. Andererseits stellte die textlinguistische Verwurzelung der germanistischen Diskurslinguistik (und auch im Speziellen der Diskurssemantik) eine große Hürde für die Berücksichtigung von Gesprächen in der diskurssemantischen Forschung dar. Damit aber ging lange Zeit auch ein sehr weitgehender Verzicht auf eine pragmatischinteraktionale Perspektive auf diskurssemantische Fragestellungen einher, die der grundsätzlich pragmatisch ausgerichteten Discourse Analysis von Beginn an selbstverständlich war (Roth 2013a). Will man die, wenn auch letztlich nur heuristische, so dennoch erkenntnisgewinnende Differenzierung von Texten und Gesprächen, die sich in der Germanistik etabliert hat, nicht aufgeben, gleichzeitig aber Gesprächen als Gegenständen und der interaktional-pragmatischen Perspektive als generelle Ausrichtung einen Platz in der diskurssemantischen Forschung geben, stellt sich dies also innerhalb der germanistischen Sprachwissenschaft als eine interdisziplinäre Aufgabe dar.
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1.2 Diskurssemantik und Interaktionslinguistik Die Gesprächs- oder in einem eher auf das Erkenntnisinteresse als die Gegenstände ausgerichteten Sinne: Interaktionslinguistik befasst sich seit längerem eingehend mit semantischen Fragen und bietet der Diskurssemantik von daher ein großes Kooperationspotenzial. Dabei sind insbesondere im Kontext der neueren ‚Mannheimer Schule‘ Konzepte entstanden, die insbesondere von ihrer Auffassung von Bedeutung und Bedeutungskonstitution her wesentliche Berührungspunkte mit der Diskurssemantik aufweisen, andererseits aber in wesentlichen Aspekten auch von ihr abweichen (vgl. Roth 2015). Ihr Einbezug in die Methodologie der Diskurssemantik wird von daher nicht nur eine Erweiterung, sondern auch eine Modifikation bedeuten, so wie dies für die Ausweitung auf Gesprächsdaten als Objekte selbst auch schon dargestellt wurde. Zu den grundlegenden Übereinstimmungen zwischen Interaktions- und Diskurslinguistik gehört die konstruktivistische Grundlegung der Semantik. Bedeutung wird in beiden Disziplinen als etwas betrachtet, das sprachlichen Zeichen nicht – etwa im strukturalistischen Sinne – inhärent ist, sondern das im Gebrauch der Zeichen erst sekundär entsteht (vgl. Nothdurft 2002; Deppermann 2007). Damit wiederum hängt weiterhin zusammen, dass Bedeutungskonstitution durch Sprache in jedem Falle zusammenfällt mit Wirklichkeitskonstitution, dass also Sprache nicht als etwas aufgefasst werden kann, das lediglich auf eine vorhandene Wirklichkeit referiert, sondern als das wichtigste Mittel verstanden werden muss, mit dem Menschen diese Wirklichkeit überhaupt erst herstellen. So entscheidend diese gemeinsame Überzeugung von Interaktions- und Diskurslinguistik ist, so gewichtig ist gleichzeitig die Differenz zwischen beiden Theorietraditionen, die in diesem Punkt hinsichtlich der Geltungsreichweite dieser Wirklichkeitskonstitution besteht. So geht die Interaktionslinguistik zunächst einmal davon aus, dass die Zuschreibung von Bedeutung zu bestimmten sprachlichen Zeichen unterschiedlicher Komplexität stets Ergebnis einer lokalen Aushandlung zwischen den Interaktanten in einer konkret gegebenen Situation ist (Semantisierung). Sie ist dabei nicht das Ziel der Interaktion, sondern Ressource des sprachlichen Handelns, über die die Sprecher – wenn auch nicht bewusst, so doch ihren Interessen entsprechend – verfügen können (Handlungsorientierung). Der Geltungsraum ist damit durch die Aufhebung der jeweils vorübergehend geltenden Situationsbedingungen begrenzt. Die diskurssemantische Perspektive gründet dagegen auf der Annahme, dass die Wirklichkeitskonstitution durch Sprache zwar durchaus in konkretem Sprachhandeln wurzelt, dann aber übersituational gültig und den Sprechern in einer konkreten Situation als Rahmen ihrer semantischen Handlungsmöglichkeiten weitgehend vorgegeben ist (vgl. dazu ausführlicher Kap. 3). Da der situative Kontext in interaktionslinguistischer Sicht selbst nur in geringem Maße von äußeren Bedingungen bestimmt ist, sondern im Wesentlichen ebenfalls Ergebnis einer permanenten Aushandlung zwischen den lokal miteinander
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kooperierenden Interaktionspartnern ist, ist auch die Gültigkeit bestimmter Situationsregeln keineswegs zwingend auf ein ganzes Gespräch bezogen. Diese wandeln sich vielmehr im Zuge eines Gesprächsverlaufs regelmäßig in dynamischer Weise. Dadurch wird auch Bedeutungszuschreibung zu einem flüchtigen Phänomen und werden Dynamik und Flexibilität zum Kennzeichen der Semantisierung im Gespräch. Dies widerspricht zunächst einmal der diskurslinguistischen Vorstellung, nach der die im Diskurswissen gespeicherten epistemischen Strukturen eben gerade nicht jederzeit zur Disposition stehen, sondern ihre Wirkung im Gegenteil durch ein hohes Maß an Stabilität erhalten. Würde man also Bedeutung, wie sie sich in der Interaktionalität von Gesprächen beschreiben lässt, als etwas betrachten, das bis auf ein Mindestmaß an denotativem Kern flüchtig und den Interaktanten frei verfügbar ist, ließe sich ein diskurssemantischer Zugriff damit kaum vereinbaren. Dem ist aber auch in interaktionslinguistischer Sichtweise nicht so. Auch wenn Lokalität und Dynamik als Grundprinzipien nicht in Frage stehen, haben sich verschiedene interaktionslinguistische Arbeiten doch auch mit der Tatsache beschäftigt, dass sowohl Stabilität als auch Stabilisierung von Bedeutung eine funktionale Rolle in Gesprächen spielen. So ist das lokale Aushandeln von Bedeutung angesichts der Beschränkung der von den Interaktanten einzusetzenden sprachlichen Ressourcen, ohne die zwischenmenschliche Kommunikation von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre, nur dann denkbar, wenn sie über das Aufrufen und das lokale Relevantsetzen von Bedeutungsaspekten erfolgt, die zuvor in der Diskursgeschichte (vgl. z. B. Spiegel 1996, 279) schon vorgekommen und damit a priori sind. Bei diesen Bezugspunkten (Spranz-Fogasy 1992) aus dem überlokalen Diskurs, die die Gesprächsbeteiligten als präsituatives Wissen mit in die lokale Situation bringen, handelt es sich um eben jenes Diskurswissen, das die Diskurssemantik im Blick hat. Die Schwierigkeiten, die sich etwa im Bereich der interkulturellen Kommunikation dann im Gespräch einstellen können, wenn solche gemeinsamen diskursgeschichtlichen Erfahrungen nicht vorliegen, belegen die Wichtigkeit dieses Berührungspunktes. Gewissermaßen aus verschiedenen Erkenntnisrichtungen, aber letztendlich plausibel kompatibel gerät hier Stabilität von Bedeutung zwischen Diskurs und Interaktion in den Blick. Hinzu kommen schließlich Prozesse der Stabilisierung von Bedeutung im Gespräch selbst. In diesem Zusammenhang hat etwa Nothdurft (1996) grundlegend beschrieben, wie ein sprachlicher Ausdruck im Zuge einer Interaktion von den Beteiligten zum Schlüsselwort gemacht wird. Aus diskurslinguistischer Sicht ist dies besonders aufschlussreich, da lexikalische Analysen, unter anderem zu Schlüsselwörtern von Diskursen, dort traditionell große Bedeutung haben und sich forschungspraktisch als besonders praktikabel erwiesen haben. Das interaktionslinguistische Interesse für komplexe Ausdrucks-/ Bedeutungs-Strukturen, verstanden als Resultat von Interaktion, kann von daher für die Verstehenstiefe der Diskurssemantik von solchen Strukturen, verstanden als vorfindliche Fakten, nur anregend sein. Die interdisziplinäre Kooperation zwischen Diskurssemantik und Interaktionslinguistik erweist sich damit aufgrund einer Verzahnung von gemeinsamen Grund-
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überzeugungen auf der einen, und differierenden Perspektiven auf der anderen Seite als durchaus naheliegend. Dies gilt ohnehin für eine Diskurssemantik, die Gesprächsdaten berücksichtigt oder diese – was angesichts ihrer lebenspraktischen Bedeutung letztlich naheliegt – gar in den Mittelpunkt rückt. Es ist aber auch relevant für die traditionell auf monologische Texte bezogene diskurssemantische Forschungspraxis, wenn diese stärker ihrer von Beginn an vorhandenen Annahme gerecht werden will, dass auch die Texte eines Diskurses den Gesetzmäßigkeiten der Interaktionalität folgen.
2 Gespräch und Diskurs 2.1 Gespräch als Diskursmetapher Die textlinguistische Tradition der germanistischen Diskurslinguistik hat die Natur des Diskurses von Beginn an im Sinne eines Textnetzes aufgefasst und damit das Textualitätskriterium der Intertextualität (vgl. Heinemann 1997) zu einem ihrer wesentlichen Ausgangspunkte gemacht. Damit stand zwar die unverzichtbare Aufeinanderbezogenheit von Texten, die sich zu einem Diskurs zusammenfassen lassen, im Raum, dies jedoch vor allen Dingen in einem semantischen Sinne. Das Kriterium der Intertextualität ist dann erfüllt, wenn verschiedene Texte sich auf der Bedeutungsebene – worunter zentral die Konstitution des gemeinsamen Diskursthemas gehört – gleicher Konzepte bedienen (so auch früh bei Busse/Teubert 1994). Eine pragmatische Perspektive, bei der nicht die Texte selbst als aufeinander bezogen zu betrachten sind, sondern vielmehr die Produzenten dieser Texte, und die Texte selbst als Werkzeuge einer intentional gesteuerten Interaktion, geriet dagegen eher in der soziologischen Diskursanalyse mit ihrem traditionell starken Interesse für Akteure und Akteursgruppen (vgl. Keller 2008) in den Blick als in der linguistischen Diskurssemantik. Auch wenn in jüngerer Zeit unter Rückgriff auf Grundlagentheorien der linguistischen Pragmatik der prinzipielle Handlungscharakter von Diskursrealisationen Beachtung findet (vgl. Spieß 2011), führt dies noch nicht zu einer im eigentlichen Sinne interaktionalen Perspektive, wie sie hier relevant wäre. In gewisser Weise bedeutete die Entwicklung des Diskurskonzepts damit sogar einen theoretischen Rückschritt in der linguistischen Wahrnehmung des Phänomens Text, dessen grundsätzlich pragmatische Qualität im Sinne einer kommunikativen Praktik in Analogie zu mündlich realisierten kommunikativen Praktiken in der Textlinguistik seit langem akzeptiert war. Tatsächlich wurde diese Tatsache von der Diskurslinguistik in ihren Anfängen auch nicht geleugnet, sondern lediglich ausgeblendet, da sie für das vordringliche Interesse irrelevant war, das eben gerade nicht auf das individuelle Handeln mit Texten gerichtet war, sondern auf die gemeinsame semantische Basis, durch die der Spielraum dieses Handelns begrenzt ist. Dafür, dass das Bewusstsein von der großen Bedeutung, die der Inter-
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aktionalität für eine umfassende Beschreibung der Diskurse zukommt, von Beginn an vorhanden war, steht als Indiz, dass das Gespräch stets eine vielfach verwendete Metapher für den Diskurs selbst war. Eine solche Verwendung liegt etwa in Hermanns Definition des Diskurses als Zeitgespräch vor (Hermanns 1995, 88). Vor allen Dingen Wichter (1999) hat mit dem Gespräch als allegorischer Folie den Charakter des Diskurses bestimmt und dabei eine ganze Reihe von Parallelen herausgestellt: Dabei geht er zunächst davon aus, (a) dass sowohl im realen Gespräch zwischen einander bekannten und idealtypisch raumzeitgleich physisch kopräsenten Interaktionspartnern als auch beim durch semantisch miteinander verknüpfte Texte gebildeten Diskurs „eine Gruppe von Kommunikationspartnern“ (ebd., 274–75) existiere. Davon ausgehend definiert er dann (b) die einzelnen Texte oder Teiltexte als Gliederungseinheiten des Diskurses in einem Gesellschaftsgespräch und bezeichnet diese in Analogie zum Gesprächsschritt (Turn) in der gesprochensprachlichen Interaktion als Diskursschritt. Er unterstellt schließlich, dass (c) das kommunikative Handeln, das sich im Gespräch als „linear produzierte Hierarchie von Sprechakten“ (ebd. 275) darstellt, im Diskurs durch eine „Serie von Texthandlungen“ (ebd.) seinen Ausdruck findet. Schon wenn man sich auf diese zentralen Aspekte beschränkt, mit denen Wichter neben anderen seine GesprächsDiskurs-Analogie begründet, wird deutlich, wie grundsätzlich hier von der Interaktionalität des Diskurses ausgegangen wird. Gleichzeitig halten die behaupteten Parallelen einer näheren empirischen Überprüfung im Einzelnen kaum Stand, sodass sie nicht als reale Beschreibung dessen aufgefasst werden können, was linguistische Diskursanalysen untersuchen. So ist (a) für den Diskurs die Identifikation der an ihm beteiligten Kommunikationspartner eben gerade nicht möglich, da Diskursbeteiligte alle sind, die von der Gültigkeit des in ihm konstituierten Wissens betroffen sind. Dabei spielt es anders als beim Gespräch vom theoretischen Gesichtspunkt her keine Rolle, ob diese Mitglieder der Diskursgemeinschaft jemals (im Sinne des Sprecher-Hörers mündlich-lokaler Interaktion) Produzent von Diskursbeiträgen waren oder auch nur sein konnten oder wer intendierter Adressat dieser Diskursbeiträge war. Indem der Diskurs als die semantische Voraussetzung alles sprachlichen Handelns in einem bestimmten thematischen Kontext nicht an eine lokale Situation gebunden sein kann, lassen sich auch Kommunikationspartner, die Teil dieser Situation sind, nicht bestimmen. Selbst wenn man Diskurse in einem sehr engen Sinne als Textnetze definiert, die um einen initialen Diskurstext herum entstehen (vgl. z. B. Girnth 1996), kann der Kreis der Kommunikationspartner bestenfalls auf der Seite der Textproduzenten benannt werden. Gerade weil die Wirkungsmacht von Diskursen aber der Kontrolle von Textproduzenten entzogen ist, weil also konkrete kommunikative Akte in Diskursen gewissermaßen ‚nachhallen‘, ist es auch (b) nicht plausibel, den einzelnen Text als Diskursschritt aufzufassen. Das Bild des Schritts setzt eine lineare Entwicklung voraus, einen Weg, auf dem Schritte gegangen werden, wie dies für das zeitlich-lineare Voranschreiten des Gesprächs, vor allen Dingen aber für die klare Bestimmung von Beginn und Ende des
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zu beschreibenden kommunikativen Phänomens gilt. Eine solche Linearität ist im Diskurs nicht gegeben. Dies schon deshalb nicht, weil es für den Turn des natürlichen Gesprächs konstitutiv ist, dass das Rederecht – mit Ausnahme kürzester Überlappungsphasen, die der Gesprächsorganisation geschuldet sind –, stets nur bei einem Sprecher liegt. Diskurse entwickeln sich dagegen grundsätzlich komplex, ungesteuert und prinzipiell ungerichtet. Die semantischen Bezüge zwischen den Texten, die es möglich machen, eine Textmenge als Diskurs zu identifizieren, sind damit nicht als eine funktionale Folge von einem Diskursbeitrag zum nächsten zu lesen, sondern eben als Knotenpunkte eines Netzes, die aus und in verschiedene Richtungen des Diskurses geknüpft sind. Das Fehlen von Linearität beinhaltet schließlich, dass (c) im Diskurs auch keine Serialität vorliegt. Insgesamt lässt sich die Idee kooperativen kommunikativen Handelns, die hier unterstellt wird, in Ansätzen bestenfalls dann übertragen, wenn man Diskurse ganz eng auf die Realisationen privilegierter Textproduzenten (wie Autoren der ‚Qualitätspresse‘ in bestimmten gesellschaftlichen ‚Debatten‘) begrenzt. Da jedoch auch dabei letztlich nicht nur die Wissenskonstitution bei diesen Textproduzenten selbst für die Diskurssemantik relevant wäre, sondern vor allen Dingen auch die bei einem beliebig großen Kreis von Diskursteilnehmern, die nicht selbst als Sprecher agieren, kann auch eine solche Begrenzung nicht überzeugen. Die Konzeptualisierung des Diskurses als Gespräch bleibt damit letztlich also rein metaphorisch und dient dazu, auf die grundsätzliche Relevanz von Interaktionalität für das Verstehen von Diskursen zu verweisen. Dass diese aber grundsätzlich anderer Natur als die Interaktionalität im Gespräch ist, kann der diskurssemantischen Methodologie gerade dann besonders deutlich werden, wenn sie umgekehrt die Manifestation und Konstitution von Diskurswissen in der Interaktion des realen Gesprächs zum Gegenstand macht. Voraussetzung dafür, dass dieses Potenzial auf den interaktionalen Charakter des Diskurses selbst, in der Integration interaktionslinguistischer Perspektiven in die Diskurssemantik erkannt und beschrieben werden kann, ist jedoch, dass die textlinguistisch geprägte Terminologie und Kategorik der Diskurslinguistik an den spezifischen Gegenstand des Gesprächs angepasst wird.
2.2 Zugriffsebenen von Gesprächsdaten Die von Warnke und Spitzmüller (2008) in ihrer Synopse zur diskurslinguistischen Mehrebenen-Analyse (DIMEAN) zusammengestellten Zugriffsebenen auf Realisationen des Diskurses gelten, obgleich in erster Linie für monologische, schriftsprachlich manifestierte Texte entwickelt, grosso modo auch für Analysen von Gesprächsdaten. Schließlich wird unterstellt, dass hier zwar verschiedene Realisationsbereiche zu unterscheiden sind, die zu ihrer Analyse in gewissem Maße auch unterschiedliche Operationen erforderlich machen, dass aber nicht verschiedene Diskurse vorliegen. Die epistemischen Strukturen, die im Zuge von Gesprä-
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chen oder Gesprächsbeiträgen zu einem bestimmten Diskursthema beschreibbar sind, sind dieselben wie diejenigen, die in Texten greifbar werden. Unterschiede sind lediglich auf der Ebene der sprachlichen Oberfläche und der Selektionsregeln dessen zu erwarten, was situativ sagbar ist. Damit lassen sich zunächst einmal die beiden grundsätzlichen Analyseebenen entsprechend DIMEAN übernehmen, die sich daraus ergeben, dass konkrete diskurslinguistische Analysen letztlich um die Untersuchung von Einzeltexten nicht herumkommen, dabei aber stets auf das Verstehen eines virtuellen Korpus zielen (vgl. Busse/Teubert 1994), das in der Konsequenz aus allen Äußerungen zum jeweiligen Thema besteht: die intratextuelle und die transtextuelle Ebene (vgl. Warnke/ Spitzmüller 2008). Während die transtextuelle Ebene auch im Falle von Gesprächsdaten der Gesamtheit des Korpus entspricht – in der Forschungspraxis der Summe der konkret verwendeten Daten –, ist die intratextuelle Ebene dann mit der Analyse eines einzelnen Interaktionsereignisses gleichzusetzen, also idealtypisch eines Gesprächs. Die Anwendung des Terminus Text ist hier freilich zumindest problematisch, weil gesprochensprachliche Interaktion eben stets ein komplexer Kooperationsprozess von zumindest zwei Interaktanten ist und somit hinsichtlich der zu unterstellenden Kohärenz, aber auch der funktionalen Eindeutigkeit nicht dem monologisch-schriftlichen Text eines allein handlungsmächtigen Autors entspricht. Auf der anderen Seite ist die Beschreibungsebene des konkreten Gesprächsereignisses natürlich durchaus relevant, da für dieses jeweils bestimmte situative Bedingungen (im Hinblick auf die beteiligten Akteure, die funktionale Einbettung, die Themenentfaltung usw.) gelten, die für andere Gesprächsdaten des Korpus niemals in gleicher Weise gültig sein können. Es ist also angebracht, auch diese Ebene zu übernehmen, dabei sollte jedoch auf den für gesprochensprachliche Interaktion unangemessen auf Kohärenz und Hermetik zielende Wortbestandteil intra- verzichtet werden, sodass neben die transtextuelle Ebene die textuelle Ebene tritt. Anders als bei schriftlichen Texten sind Gespräche darüber hinaus durch eine weitere, überaus relevante Zugriffsebene charakterisiert, die unterhalb derjenigen des komplexen Interaktionsereignisses liegt und die sich gerade aus dem Mangel an Kohärenzverpflichtung in der gemeinsamen Kooperation der Interaktanten ergibt: Für die Gesprächsanalyse ist die Sequenz die entscheidende Beschreibungseinheit (vgl. Deppermann 2001), wobei es sich dabei eher um eine analytische, als um eine faktisch identifizierbare Einheit handelt. Die Tatsache, dass sich Gespräche in der Zeit entwickeln und prozesshaft organisiert sind, macht es grundsätzlich sinnvoll, zeitliche Verlaufseinheiten zu segmentieren, die im Hinblick auf eine jeweils konkret gestellte Untersuchungsfrage als kohärent und abgrenzbar erscheint. Dies gilt auch für diskurssemantische Analysen, wodurch auch hier die Sequenz als eine Folge funktional, mitunter aber gerade auch semantisch eng aufeinander bezogener Gesprächsbeiträge zur operational wichtigsten Beschreibungsebene konkreter Untersuchungen wird. Hier ist in Anlehnung an die DIMEAN-Terminologie von der infratextuellen Ebene zu sprechen. Es ergibt sich damit eine Dreigliedrigkeit
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der Untersuchung, bei der – wie schon bei der Zweigliedrigkeit der DIMEANSynopse – gilt, dass der Erkenntniswert nach oben hin zunimmt, während die eigentliche Analyse in der Regel auf den unteren Ebenen beginnen muss. So lassen sich etwa lexikalische Untersuchungen anhand von Gesprächsdaten in analoger Weise zu Analysen auf der Basis von Textkorpora vornehmen, und sie werden dabei beispielsweise zunächst das Vorkommen bestimmter Metaphern in einzelnen Sequenzen (infratextuell) beschreiben, dann untersuchen, ob sich daraus Metaphernfelder innerhalb des gesamten Interaktionsereignisses rekonstruieren lassen (textuell) und schließlich nach der Präsenz dieser Metaphernfelder in einem größeren Korpus von Gesprächsdaten (transtextuell) fragen. Diese Angewiesenheit auf einen Bottom-up-Zugriff besteht bei Gesprächsdaten noch mehr als bei Textdaten, da computergestützte Untersuchungen, die corpus-driven vorgehen (Bubenhofer 2008), hier weitgehend ausscheiden, weil die dafür erforderlichen großen Datenmengen forschungspraktisch kaum umsetzbar sind.
3 Mikrodiskursive Analyse Das Objekt der Diskurssemantik, der Diskurs als übereinzeltextliches Konstrukt sprachlich konstituierten Wissens, ist auf einer außerordentlich abstrakten Ebene angesiedelt. Er liegt in der an Foucault angelehnten Perspektive der germanistischen Linguistik auf einer gewissermaßen vorsprachlichen Ebene, bei der der einzelnen Realisation des Diskurses in einer konkreten, sprachlich getätigten Äußerung ein gleichsam zufälliger Status zukommt. Das eigentliche Interesse der Diskurssemantik zielt, wie weiter oben ausgeführt, nicht auf die situationalen Bedingungen dieser Äußerungen oder auf ihre Einbettung in konkret gegebene Ziele eines als handlungsmächtiges Subjekt verstandenen Sprechers, sondern auf den von diesem Sprecher nicht überschreitbaren Möglichkeitsrahmen, in dem die Äußerung zustande kommt. Orientiert man sich an der aus der Soziologie entlehnten Dichotomie einer Mikro- und einer Makroebene der Beschreibung sozialer Phänomene (vgl. Habscheid 2000), so ist die Diskurssemantik in ihrem Erkenntnisweg eine eindeutig makroanalytische Disziplin. Ihr Anspruch ist es, in der Erfassung und Auswertung möglichst großer Textmengen zu rekonstruieren, welches Wissen in einer gegebenen Diskursgemeinschaft möglich ist oder war und wie dieses in welchen sprachlichen Formaten konstituiert, konfirmiert und modifiziert wurde. Das bedeutet, dass die konkreten Analysen einem inventaristischen Konzept folgen, das darauf zielt, möglichst umfassend das Inventar an Möglichkeiten auf der jeweiligen Untersuchungsebene zu erfassen. Eine Metaphernanalyse beispielsweise erfüllt dann den Anspruch der Disziplin, wenn sie alle Metaphern ermittelt und gewissermaßen ‚auflistet‘, die in einem bestimmten thematischen Zusammenhang verwendet wurden, und diese in ihren semantischen Implikationen beschreibt. Diese Beschreibung wird tatsächlich erst dort relevant, wo sie von Zufälligkeiten der
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lokalen Bedingungen, unter denen ein Nachweis im Korpus zustande kam, bereinigt, also transtextuell gültig ist. Diskurssemantik beschäftigt sich damit also analog zur Makrosoziologie dezidiert nicht mit den Handlungsspielräumen von Individuen, sondern mit den Strukturen, die diese Handlungsspielräume regelhaft beschränken. Nach der Unterscheidung von Blommaert (2005) zwischen einem Interesse an Sprache als Choice (Handlungsspielraum) und Sprache als Determination (Begrenzung des Spielraums) erhellt dieser inventarisierende Zugriff der Diskurssemantik also determinierende Aspekte. In einem weiten Sinne des Terminus Grammatik, der alle strukturellen Regelmäßigkeiten umfasst, die von Sprachbenutzern selbst dann, wenn sie sie in ihrem lokalen Sprachhandeln ignorieren, in ihrer Gültigkeit nicht grundsätzlich außer Kraft gesetzt werden können, kann man diesen dominierenden Ansatz der Diskurssemantik auch als einen diskursgrammatischen bezeichnen. Der Einbezug von Gesprächsdaten macht demgegenüber aus grundsätzlichen methodologischen Gründen heraus einen Perspektivenwechsel auf die Mikroebene des Diskurses erforderlich. Indem Gespräche Prozesse sind, die, außer in Ausnahmefällen, wie sie für arrangierte Mediengespräche (Interview, Talkshow o. ä.) oder im Wortprotokoll fixierte Verhandlungen (etwa vor Gericht) gelten mögen, ihre Relevanz anders als produkthafte Texte nur in einer bestimmten raumzeitlichen Konstellation haben, rücken eben diese besonders in den Fokus der Analyse. Die Interaktionspartner, die an einem konkreten Gespräch teilnehmen, gehen davon aus, dass ihre Äußerungen im Sinne der weiteren Diskursgeschichte in aller Regel folgenlos bleiben und ihre Gültigkeit nur im gegebenen Moment und nur in Bezug auf die Interaktionszwecke der lokalen Situation haben. Zu dieser Situation gehören auch die beteiligten Interaktionspartner selbst, die von den Sprechern als die ausschließlichen Rezipienten ihrer flüchtigen und damit auch unaufwändig revidierbaren Äußerungen betrachtet werden. Gerade diese Tatsache der Kontrollierbarkeitsvermutung hinsichtlich der Teilnehmer an der Interaktion kennzeichnet Gesprächsdaten mit Blick auf diskurssemantische Analyse sehr stark. Gesprächsdaten als Objekte der Diskursanalyse sollen von daher als teilnahmeorientierte Realisationen des Diskurses (TORs) bezeichnet werden (vgl. Roth 2013b, 2014). Das Entscheidende ist nun, dass Interaktionsprozesse nicht wie Texte geplant sind und auch keiner übergeordneten Intentionalität folgen, sondern lediglich einem – ebenfalls lokal auszuhandelnden – Kooperationsziel. Damit aber lassen sich die einzelnen Äußerungen auf der prädestinierten infratextuellen Zugriffsebene nicht angemessen beschreiben, wenn es nicht gelingt, das komplexe pragmatischinteraktionale Geschehen zu rekonstruieren, in das diese jeweils eingebettet sind. Eine solche Analyse rückt damit nicht den Möglichkeitsrahmen einer abstrakten Diskurssemantik und überlokal existenter epistemischer Strukturen in den Mittelpunkt des Interesses, sondern betrachtet umgekehrt diskurssemantische Strukturen zunächst einmal als eine Ressource, die handelnde Sprechersubjekte in einer konkreten Situation und mit konkreten Handlungszwecken verbunden nutzen. Die
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Analyse zielt nicht in erster Linie darauf, diskursgrammatisch Inventare diskursiver Strukturen und ihrer typischen Formatierungen aufzustellen – wenngleich auch diese Möglichkeit ergänzend besteht –, sondern darauf, die konkreten interaktionalen Bedingungen zu erfassen, unter denen es zu diesen Realisationen des Diskurses kommt (und die, unter denen es nicht dazu kommt). Erst diese Verschiebung der Perspektive auf eine pragmatische Mikroebene verschafft dem Einbezug von TORs in die diskurssemantische Forschung im Übrigen einen entscheidenden Mehrwert, da eben auf großflächigen Daten (eines thematisch konstituierten Korpus) basierende Analysen forschungspraktisch hier undenkbar sind. Ganz im Sinne des Mikro-Makro-Problems ergänzen sich dabei jedoch beide Perspektiven und können diese nur gemeinsam betrachtet werden, auch wenn die Prozesse der Transmission zwischen beiden weitgehend ein Black Box-Phänomen bleiben: Die inventarisierende Beschreibung der diskursiven Möglichkeiten im diskursgrammatischen Zugriff macht erst deutlich, worin die Determinationen des Handelns bestehen, denen die scheinbar frei agierenden Sprecher in der lokalen Situation unterliegen, und erst der mikroanalytische, diskurspragmatische Blick auf dieses konkrete Handeln der Interaktanten macht sichtbar, wann und warum welche dieser Möglichkeiten von wem tatsächlich ausgewählt und damit der Analyse überhaupt erst zugänglich werden. Obwohl also TOR-Daten in besonderer Weise zu einem solchen pragmatischinteraktionalen Zugriff zwingen, beschränkt sich dessen Relevanz nicht auf sie. Auch die bislang in der diskurssemantischen Forschung präferierten massenmedialen Realisationen der verschiedenen Diskurse (MMRs) lassen sich natürlich stärker unter pragmatischen Gesichtspunkten beschreiben, als dies bisher geschieht. Zwar gilt etwa für alle Texte der Qualitätspresse als Objekte einer Diskursanalyse eine ganze Reihe entscheidender gemeinsamer pragmatischer Bedingungen, dennoch ließe sich jeweils genauer gerade das in den Blick nehmen, was von Text zu Text differiert. Dies betrifft nicht zuletzt auch die multimodalen Aspekte der graphischen Oberfläche, die in jüngster Zeit stärker das Interesse der Linguistik erfahren (vgl. Spitzmüller 2013). Wichtig ist die Einsicht, dass eine solche pragmatische Mikroanalyse keineswegs eine Abkehr, sondern vielmehr die konsequente Fortführung des diskurssemantischen Erkenntnisprojekts darstellt. So ist es für die Rekonstruktion der Strukturen diskursiv konstruierten und gespeicherten Wissens nicht ausreichend, die Existenz bestimmter Episteme und ihrer sprachlichen Formatierungen festzustellen. Mindestens ebenso entscheidend ist es, beschreiben zu können, welcher Stellenwert ihnen in diesen Strukturen zukommt, wie sie eingebettet sind, wie präsent sie sind, mit welchen anderen Epistemen sie verknüpft sind. Eben dies macht eine pragmatisch-interaktional ausgerichtete Analyse zugänglich, zu deren Begründung die systematische Analyse von TORs als notwendig interaktional zu beschreibenden Daten entscheidend beitragen kann.
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4 Interaktional-pragmatische TOR-Analyse Die diskurssemantische Analyse von TOR-Daten stellt die Existenz eines geeigneten Korpus voraus. Die Tatsache, dass dabei in aller Regel ein thematisch konstituiertes Korpus benötigt wird, stellt eine große forschungspraktische Hürde dar. Anders als im Falle von schriftlich-monologischen Texten, insbesondere massenmedial realisierten Texten, liegen hier Daten üblicherweise nicht vor, sondern müssen elizitiert werden. Hierfür kommen klassische Verfahren wie Leitfadeninterviews in Frage oder auch indirekte Stimulationsverfahren wie die Arbeit mit Fotos als stummen Impulsen, soweit dies thematisch möglich ist (vgl. z. B. Holly 2002). Das im Folgenden verwendete Beispiel entstammt einem Korpus, bei dem verschiedene Sprechergruppen ohne weitere Erläuterungen den Auftrag erhielten, einen pointierten Kurzvortrag zum Thema Die deutsche Bahn zu halten und diesen innerhalb von zwanzig Minuten gemeinsam vorzubereiten. Untersucht wurde jeweils nur diese zwanzigminütige Arbeitsphase (Roth 2015). Der Vorteil eines solchen Verfahrens ist es, dass das Gespräch empraktisch eingebettet ist und die Sprecher mit Blick auf ein gemeinsames Kooperationsziel agieren müssen. Anhand der Sequenz aus dem so entstandenen Korpus lassen sich fünf verschiedene Ebenen einer pragmatischinteraktionalen TOR-Analyse exemplifizieren, die nicht zwingend als vollumfassend, aber als universal relevant zu betrachten sind. Die Darstellung fokussiert damit im Folgenden auf die unterste, die infratextuelle Zugriffsebene, da textuelle und transtextuelle Analysen, die darauf aufbauen müssten, eine Auseinandersetzung mit dem Gesamtkorpus notwendig machen würden, die hier nicht geleistet werden kann (zum Folgenden ausführlich: Roth 2015). Beispieltranskript die börse (.) würd mir jetzt noch einfallen 0046 Karin: 0047 Martina: börse was ist das (.) mit geld ja mit dem börsengang der deutschen bahn war ja in 0048 Karin: letschter zeit in [diskussion ] 0049 0050 Martina: [ach so ] und da hab ich zuletscht im fernsehen gesehen dass se da 0051 Karin: zwei dreizehnjährige mädchen aus_m zug geworfen ham weil se keine fahrkarte dabei hatten also zwei (–) 0052 David: [das wird immer mehr] 0053 0054 Stefanie: [((lacht)) ] [ich hab nur von einem ] 0055 David: 0056 Martina: [geworfen ] [gehört ] 0057 David:
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Karin:
Martina: Karin: Martina:
0064 Eva: 0065 Martina:
[ja also (.) ohne fahrkarte man ] darf ja heute gar nicht mehr in_n zug einsteigen [ohne (.) fahrkarte ] [ja ja des is (für die schaffner) ] dann wird man muss man gleich zahlen also und dann vielleicht auch die deutsche äh bahn mal verglichen mit andern (.) verkehrsmöglichkeiten mhm also man kann ja auch autofahrn oder fliegen
4.1 Sektorenanalyse Die erste relevante Frage ist: Worüber wird im Korpus gesprochen? Die Untersuchung der in den Transkripten eines TOR-Korpus berührten subthematischen Aspekte des gewählten Diskursthemas wird auf der Ebene der Sektorenanalyse geleistet. Diese basiert auf der Annahme, dass sich jeder Diskurs aus thematischen Teilaspekten zusammensetzt, die von den Diskursteilnehmern in einer konkreten Interaktionssituation berührt werden können oder nicht, dass diese Auswahl jedoch nicht rein zufällig und allein den jeweiligen situativen Bedingungen geschuldet ist. Neben der noch eher inventarisierenden Frage danach, welche Aspekte sich im Korpus (transtextuell), in einem bestimmten Gespräch (textuell) oder hier zunächst in einer Sequenz (infratextuell) manifestieren, steht hier also besonders das nur transtextuell zu befriedigende Interesse an so etwas wie einer Kartierung der Sektorenstruktur im Vordergrund, die etwas über den Status der verschiedenen Sektoren in den Architekturen des Wissens aussagt (zur hierzu notwendigen Aufbereitung der Daten vgl. Roth 2015). So werden in der gegebenen Sequenz zwei, möglicherweise drei subthematische Sektoren berührt. (Die analytische Konstitution von Sektoren aus einem Korpus ist ein interpretativer Akt, der stets heuristisch bleiben muss, da häufig erst die Analyse selbst erweisen kann, ob ein bestimmter Aspekt sinnvoll als eigener Sektor betrachtet werden kann oder nicht; vgl. zur notwendigen Aufbereitung der Daten für die Sektorenanalyse: Roth 2015). Es handelt sich dabei um die Sektoren: Börsengang, (Kinder ohne Fahrkarte) und Vergleich der Bahn mit anderen Verkehrsmitteln. Mit Blick auf die Kartierung des Diskurses in der transtextuellen Zusammenschau wäre nun die Einordnung dieser drei Sektoren hinsichtlich dreier Parameter zu leisten: 1.) Der Sektor ist danach zu charakterisieren, wie empirisch häufig (und damit abstrakt wie wahrscheinlich) er von Teilnehmern der Diskursgemeinschaft im Rahmen des Diskursthemas ‚Deutsche Bahn‘ berührt wird. Dies beschreibt die Zentralität des Sektors. 2.) Zu beschreiben ist außerdem, wie hoch empirisch belegbar der interaktive Aufwand (zu bestimmen als das Verhältnis von aufgewendeter Turnzahl im Verhältnis zur Gesamtturnzahl des Gesprächs) ist, mit dem sich die Sprecher dem Sektor widmen. Dies beschreibt die wissenssemantische Komplexität des Sektors. Schließlich ist 3.) zu erfassen, wie
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früh in den verschiedenen Gesprächen der jeweilige Sektor berührt wird, was eine Aussage darüber zulässt, wie klein oder groß die pragmatischen Hürden sind, die die Interaktanten zu überwinden haben, wenn sie ihn als Ressource der lokalen Interaktion verwenden wollen. Mit Bezug auf die zeitlich-prozessuale Entwicklung von Gesprächen ist hier von der Sequentiellen Position zu sprechen. Die so vorzunehmende Sektorenkartierung erlaubt Analysen, die aus den im Korpus gesammelten interaktionalen Verläufen den Status einzelner Sektoren innerhalb der Strukturen des überlokalen Diskurswissens rekonstruieren. So kann beispielsweise heuristisch davon ausgegangen werden, dass ein Status mit hoher Zentralität und auffällig früher sequentieller Position, der gleichzeitig durch geringe Komplexität gekennzeichnet ist, zu den stark gesicherten Wissensbeständen von Diskursgemeinschaften gehört. Diese Interpretation ergibt sich aus der interaktionslinguistisch begründeten Annahme, dass solche Sektoren offenbar nur geringe Hürden bereiten bei der Zugänglichkeit im kooperativen Handeln, gleichzeitig aber auch wenig Potenzial für eine – beispielsweise kontroverse – Aushandlung bieten. Zusätzlich zur Kartierung kann wiederum zunächst infratextuell, davon abgeleitet dann auch transtextuell untersucht werden, wie ein in Frage kommender Sektor von den Interaktanten jeweils zum ersten Mal ins Gespräch eingeführt wird. Auch dies verweist auf den erforderlichen pragmatischen Aufwand und damit auf die Zugänglichkeit des Sektors. Dabei lässt sich eine Reihe von Dichotomien zur Typologie dieser lokalen Sektorenkonstitution heranziehen (vgl. Roth 2015): Ein Sektor kann eingeführt werden 1. indem deduktiv zunächst ein Schlagwort beziehungsweise ein Bezeichnungsetikett eingeführt wird, das dann kooperativ semantisch gefüllt werden muss, oder indem er induktiv mit semantischen Operationen vorgestellt und erst in der Folge (oder gar nicht) bezeichnet wird, 2. mit absoluter oder mit interaktiv hergestellter Akzeptanz, d. h. in einer Weise, bei der die Relevanz und der diskurssemantische Gehalt des eingeführten Sektors von den anderen Interaktanten mit Signalen der Verstehensdokumentation (vgl. Deppermann 2008) unmittelbar akzeptiert werden oder nicht (wobei die Frage nach tatsächlichem Verstehen im interaktionslinguistischen Sinne irrelevant ist), 3. in evaluativer Form, bei der der Sektor in Verbindung mit expliziten oder impliziten Mitteln der Wertung eingeführt wird oder nicht-evaluativ, wenn diese fehlen, 4. mit Mitteln des Hedging (also beispielsweise propositional oder illokutionär distanzierender Wörter wie eigentlich oder irgendwie oder konjunktivischen Formeln wie ich würde sagen) oder ohne, 5. in abstrahierter Form oder mit explizitem Bezug auf eigenes Erleben und subjektiv erworbenes Wissen, also in personalisierter Form, 6. in isolierter Form, also ohne semantischen Bezug auf den sequentiellen Verlauf, der der Sektoreneinführung vorausgeht (in der Regel nach Gesprächspausen oder mit Diskursmarkern eingeleitet, die einen Themenwechsel anzeigen) oder semantisch vom Gesprächsverlauf abgeleitet.
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Nutzt man diese Dichotomien etwa um die Einführung des Sektors Börsengang im Beispieltranskript interaktional zu charakterisieren, ergibt sich, dass diese isoliert erfolgt, indem Karin in der Brainstormingphase, in der die Sequenz angesiedelt ist, deduktiv das Schlagwort börse gibt, ohne dass Bezüge zum sequentiellen Vorlauf bestehen. Sie markiert dies mit der konjunktivisch abgesicherten Formel würd mir jetzt noch einfallen, eine Evaluation erfolgt – wie dies bei deduktiven Einführungen typisch ist – erst in späteren Turns durch die Verknüpfung des Schlagworts mit der Erzählung vom Umgang des Bahnpersonals mit Kindern ohne Fahrkarte. Am auffälligsten ist wohl, dass die Akzeptanz des Sektors nicht absolut ist, sondern, eingeleitet durch die vage Nachfrage durch Martina im für die Verstehensdokumentation wichtigen Second Turn, interaktiv hergestellt wird, ohne dass im Zuge dieser Sequenz eine abschließend plausible semantische Elaboration erfolgt ist, als in Turn 63 die Einführung des nächsten Sektors Vergleich der Bahn mit anderen Verkehrsmitteln erfolgt. Eine solche infratextuelle interaktionale Analyse kann den Sektor Börse als einen eher wenig gesicherten Sektor im Gefüge des Diskurswissens erfassen, dessen lokale Konstitution zahlreiche pragmatische Hürden bedeutet. Von hier aus kann dann im transtextuellen Vergleich über das Korpus hinweg untersucht werden, ob sich diese Interpretation als musterhaft erweist. Ähnlich relevant für einen diskurspragmatischen Zugriff wie die Sektorenkonstitution ist auch die Analyse der Sektorenverknüpfung, des interaktiven Weges also, mit dem die Gesprächsteilnehmer von einem Sektor zum nächsten wechseln. Dabei ist es möglich, dass 1. von einem Sektor auf einen thematisch allgemeineren, hyperothematischen Sektor gewechselt wird, semantisch also eine Extension vorliegt, 2. von einem Sektor auf einen thematisch spezifischeren, hypothematischen Sektor gewechselt wird, semantisch also eine Reduktion vorliegt, 3. von einem Sektor auf einen anderen gewechselt wird, zu dem es semantische Bezüge gibt, die einander aber weder unter- noch übergeordnet sind, damit also eine Kombination vorliegt, 4. von einem Sektor auf einen anderen gewechselt wird, der damit seinen im bisherigen Interaktionsverlauf bestehenden semantischen Status ändert, also zum Beispiel von einem hyperothematischen Sektor zu einem hypothematischen wird, was sich semantisch als Verschiebung, als Shift bezeichnen lässt. Die Analyse solcher interaktionaler Verknüpfungen kann, auf der transtextuellen Ebene verglichen, Aufschlüsse über die Verhältnisse verschiedener Sektoren innerhalb der Strukturen des Diskurswissens einer gegebenen Diskursgemeinschaft zueinander verschaffen. Dabei zeigt sich gerade hier die Stärke eines interaktionalpragmatischen Zugriffs, diskurssemantische Phänomene in ihrer Flexibilität und Dynamik zu beschreiben. So liegt im Beispieltranskript infratextuell zunächst einmal eine Reduktion vor, indem vom abstrakten und allgemeinen Sektor Börsengang auf den als Exempel hierfür eingeführten hyperothematischen Sektor Kinder ohne
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Fahrkarte gewechselt wird. Im weiteren Verlauf des Gesprächs erhält letzterer jedoch einen ganz eigenständigen Status und wird unabhängig von semantischen Bezügen zum Thema Börsengang noch mehrfach wieder aufgegriffen und kooperativ bearbeitet. Es liegt dann also ein Shift vor, der dazu führen muss, den Sektor Kinder ohne Fahrkarte diskurssemantisch anders einzuordnen, als dies die Analyse allein dieser Sequenz nahelegen würde. Da sich Diskurssemantik für Wissen gerade im Sinne der unausgesprochenen Gewissheiten interessiert, die dem sprachlichen Handeln einer Diskursgemeinschaft als unbewusste Begrenzung ihres Handlungsspielraums zugrunde liegen, ist für die diskurspragmatische TOR-Analyse von besonderer Bedeutung, welche Sektoren textuell und transtextuell nicht oder wenig berührt werden. Damit ein solcher möglicher, aber kaum aufscheinender Sektor in diesem Sinne als relevant identifiziert werden kann, ist es natürlich notwendig, diese Selbstverständlichkeit interpretativ nachzuweisen. Dies ist Aufgabe einer Latenzanalyse (vgl. auch Roth 2013b), die an der genauen Untersuchung des interaktionalen Geschehens dort anzusetzen hat, wo sich im Korpus vereinzelte Berührungen des Sektors eben doch manifestieren. Gerade für den diskurspragmatischen Ansatz gilt damit, dass Frequenz keine ausreichende Kategorie für die Analyse von Diskursen ist. Die Sektorenanalyse ist für eine diskurspragmatische TOR-Analyse vorrangig, weil sie ein Korpus in einer Weise aufzubereiten ermöglicht, die es auch für die folgenden Analyseebenen zugänglich macht. In der einen oder anderen Weise hängen darüber hinaus auch die meisten Befunde, die auf den folgenden Analyseebenen denkbar sind, zunächst einmal von einer vorläufigen sektoralen Einordnung der für eine Fragestellung relevanten Sequenzen ab. Die Darstellungen zu den weiteren Analyseebenen sind von daher nur kursorisch gehalten, um ihren jeweiligen Erkenntnisfokus deutlich zu machen. Methodologisch sind sie offen, jeder pragmatisch-interaktionale Zugriff auf die Daten ist angepasst an die konkrete Forschungsfrage denkbar.
4.2 Aussagenanalyse Die Beschreibung von Aussagen im Sinne der Foucaultschen énoncé sind das zentrale Erkenntnisziel der Diskurssemantik. Es handelt sich dabei um abstrakt beschreibbare Konzepte, die sich in Bezug auf einen bestimmten Diskursgegenstand ermitteln lassen und die in den konkreten Äußerungen der Sprecher nur realisiert werden (Jung 1996, 459–462). Dieses Verhältnis von Äußerung und Aussage ist nun unter diskurspragmatischer Perspektive von besonderem Interesse, da es sich im Falle von TORs grundsätzlich anders darstellt als etwa im Falle der in der diskurssemantischen Forschung bislang präferierten MMRs. So ist ein wichtiger Untersuchungsgegenstand der Aussagenanalyse von TORs die argumentative Inkonsistenz von Aussagen in gesprochensprachlich-kooperativen Interaktionen. Bei schriftlichen Texten, zumal bei massenmedial publizierten, ist
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aufgrund ihrer Produkthaftigkeit im Regelfall von einem hohen Maß an argumentativer Kohärenz auszugehen. Dies gilt sogar transtextuell, insofern man Texte eines Autors oder aber auch nur einer bestimmten Gruppe von Diskursteilnehmern untersucht, deren Texte normalerweise auch bestenfalls einem allmählichen und jeweils argumentativ-rhetorisch abgesicherten Wandel in den realisierten Aussagen unterliegen, der diskursgeschichtlich zu beschreiben ist. In natürlicher gesprochensprachlicher Interaktion gibt es dagegen mehrere Faktoren, die einem solchen Prinzip argumentativer Konsistenz entgegenstehen: Zum einen sorgt die Flüchtigkeit im Prozess des lokalen Aushandelns, die mit einem sehr geringen Grad an argumentativer Verpflichtung über die lokale Situation hinaus korrespondiert, dafür, dass die Möglichkeit der Aussagenkontrolle sehr erschwert ist. Zum anderen dominiert bei der Interaktion im Gespräch das Ziel der gelingenden Kooperation deutlich alle anderen Ansprüche, sodass Interaktanten eine tendenziell gesichtsbedrohende und damit kontrakooperative Reparaturforderung im Falle argumentativer Inkonsistenz so weit wie möglich meiden. Im Falle des Gesprächs, aus dem die Beispielsequenz stammt, zeigt sich eine argumentative Inkonsistenz beispielsweise in Bezug auf die Erzählung von den Kindern ohne Fahrkarte. Während in der Sequenz selbst Karin das Verhalten des Zugpersonals als Beleg für die ökonomische Ausrichtung des Unternehmens einführt, berichtet sie im weiteren Verlauf des Gesprächs von der Entlassung eben dieses Zugpersonals und wertet nun wiederum diese als Beleg für die soziale Härte des Unternehmens. Dass sich daraus ergibt, dass der Umgang mit den Kindern offenbar nicht, wie zuvor unterstellt, dessen Prinzipien entspricht, wird als argumentative Inkonsistenz weder von der Sprecherin selbst eingeräumt noch von den Interaktionspartnern eingeklagt. Belege wie diese zeigen, dass sich die häufig sehr statisch und stabil gedachten Strukturen des Diskurses dort, wo seine Realisationen unter der Perspektive interaktionaler Ressourcen betrachtet werden, als überaus dynamisch und damit auch in sehr komplexer Weise kombinierbar erweisen. Eine weitere Forschungsfrage auf der Ebene der Aussagenanalyse kann die nach der Zugänglichkeit von Aussagen sein. Dabei ist zu untersuchen, welche Aussagen von den beteiligten Interaktanten als einvernehmlich geteilt betrachtet werden, also als gesichertes Wissen, und welche sich schwerer vertreten lassen. Auch hierfür ist der diskurspragmatische Ansatz der TOR-Analyse prädestiniert, weil er anders als die Analyse von Texten und MMRs Sprache stets in der Produktion betrachten kann. So kann der interaktive Aufwand (an Begründungshandeln, an Hedging-Strategien u.ä.), den Interaktionsteilnehmer bei der Realisation einer Aussage leisten, hier ebenso Hinweise geben, wie der Zeitpunkt im Gesprächsverlauf, zu dem bestimmte Aussagen typischerweise realisiert werden. So dominieren etwa im Deutsche Bahn-Korpus evaluativ-negative Aussagen zum Diskursgegenstand (in Bezug auf Verspätung, hohe Preise u.ä.) und finden sich insbesondere zu Beginn der Gespräche ausschließlich solche. Obgleich dies ausnahmslos auf ein hohes Maß an Akzeptanz durch die anderen Interaktionspartner trifft (diese Aussagen
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also offenbar zu einer leicht zugänglichen Aussagenschicht gehören), finden sich genauso ausnahmslos im späteren Verlauf der Gespräche immer auch dezidiert positive Aussagen. Diese werden jeweils mit größerem interaktiven Aufwand eingeleitet, treffen dann aber stets ebenfalls auf Zustimmung. Daraus lässt sich ableiten, dass es sich keineswegs um kontroverse, sondern lediglich um schwerer zugängliche Aussagen handelt. Eine diskursgrammatisch-inventarisierende Analyse kann aufschlussreiche strukturelle Zusammenhänge wie diese nicht registrieren.
4.3 Formatanalyse Diskurssemantik zielt primär auf die Beschreibung von Konzepten, nicht auf die ausdrucksseitiger Phänomene. Feste Ausdrucks-Bedeutungs-Verbindungen sind dabei nicht vorgesehen. Dennoch bleiben sie, nicht nur im diskurspragmatischen Zugriff, der sich in besonderer Weise für die konkreten Realisationsbedingungen interessiert, für eine linguistische Analyse stets das eigentliche Objekt der Untersuchung. Die TOR-Analyse kann dabei selbstverständlich all jene Gegenstände untersuchen, die in der Diskurssemantik insgesamt etabliert sind (wie z. B. Lexemfelder oder Metaphern). So wäre etwa die etwas antiquierte Bezeichnung schaffner in Turn 61 auffällig, die im offiziellen Sprachgebrauch der Bahn und anderer deutscher Verkehrsunternehmen seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr gebräuchlich ist. Befunde dieser Art ließen sich transtextuell fortführen und interpretieren. Auch dabei ist weniger die Inventarisierung entscheidend als die interaktionale Interpretation. Diese erfolgt auf der Ebene der Formatanalyse. Der Vorzug der diskurspragmatischen TOR-Analyse auf dieser Ebene besteht abermals darin, dass die kooperative Interaktion im Gespräch auch hier in vielfacher Weise komplexer und dynamischer ist, als dies für Texte gilt. Gerade das weitaus geringere Maß an Kontrolle, das schon auf der Ebene der Aussagenanalyse besondere Aufschlüsse zu den komplex-flexiblen Strukturen des Diskurswissens ermöglicht, bietet auch für die Formatanalyse ein großes Potenzial. Dabei können auch solche ausdrucksseitigen Elemente von Interesse sein, die in diskurssemantischen Untersuchungen traditionell eher wenig Beachtung finden. So zeigt im Falle des Beispieltranskripts der Gebrauch des Personalpronomens sie/se in Turn 51 eine ambige Semantik, die dem Funktionieren des Gesprächs im Sinne einer ökonomischen Kommunikation förderlich ist, diskursanalytisch aber gleichzeitig einen aufschlussreichen Einblick in die Uneindeutigkeit bestimmter Kategorien gibt. Karin bezieht sich satzintern mit dem Pronomen sie/se auf das Personal des Zugs in der Erzählung von den Kindern ohne Fahrkarte. Unabhängig von der Frage, ob es sich dabei tatsächlich um mehrere Bahnangestellte gehandelt hat, wie die Pluralform es ausdrückt, ist dies insofern inkohärent, als die Erzählung ja zur argumentativen Stützung der Aussage von der ökonomischen Konzernpolitik im Zusammenhang mit dem Börsengang dient. Das Pronomen sie/se ist damit also ambig auf das konkret im Einzelfall handelnde Personal und auf die Konzernverantwortlichen bezo-
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gen. Die transtextuelle Analyse zum gesamten Korpus zeigt schließlich, dass diese Ambiguität musterhaft ist und damit eine Identifizierung von Personal und Konzernleitung ein Aspekt des Diskurswissens zum Thema ‚Deutsche Bahn‘ von hoher Stabilität ist (vgl. Roth 2015).
4.4 Handlungsanalyse Im Fokus einer pragmatisch-interaktionalen Diskurssemantik stehen naturgemäß immer Handlungen. Dennoch ist eine Ebene der TOR-Analyse anzusetzen, auf der im engeren Sinne die Zwänge in den Blick zu nehmen sind, die sich aus dem interaktionalen Handlungsdruck ergeben, der in dieser unmittelbaren Form in der schriftlichen und massenmedialen Kommunikation nicht vorliegt. Die Handlungsanalyse kann sich dazu an einem konversationsanalytischen Modell orientieren, das die gemeinsame Kooperationsaufgabe der Teilnehmer an einem Gespräch auf sechs Ebenen ansiedelt (hier nach Spiegel/Spranz-Fogasy 2001): – Gesprächsorganisation (bezogen auf die formale Abwicklung, z. B. Sprecherwechsel) – Handlungskonstitution (bezogen auf gemeinsame Handlungsziele und -zwecke; im Falle des Beispieltranskripts etwa das Vorbereiten eines Kurzvortrags) – Sachverhaltsdarstellung (bezogen auf Gesprächsthemen und Inhalte) – Soziale Identitäten und Beziehungen (bezogen auf die Definition interaktiver Rollen und des gegenseitigen Verständnisses) – Interaktionsmodalität (bezogen auf die Art der Beteiligung; z. B. Spaß und Ernst) – Reziprozitätsherstellung (bezogen auf Formen der Kooperation wie Verständnissicherung) Alle diese Aufgaben werden in der Interaktion des Gesprächs gleichzeitig bearbeitet. Diese komplexe Gleichzeitigkeit an Anforderungen macht verständlich, dass der Bearbeitung eines Diskursthemas, die zunächst einmal auf der Ebene der Sachverhaltsdarstellung angesiedelt werden könnte, im Rahmen der lokalen interaktiven Kooperation eine eher marginale Rolle zukommt. Daraus wiederum folgt, dass der Status einer Aussage, die im Zuge eines solchen Gesprächs realisiert wird, nur dann erfasst werden kann, wenn die infratextuellen Bedingungen rekonstruiert werden, unter denen es zu der Äußerung kommt. Es ist dabei davon auszugehen, dass manche Aussagen, die innerhalb des Diskurswissens zu den eher unfraglichen Gewissheiten zählen, unter sehr unterschiedlichen pragmatischen Konstellationen ‚sagbar‘ sind, während andere nur dann realisiert werden, wenn ganz bestimmte pragmatische Bedingungen gegeben sind, die deren kommunikativ aufwändigere Realisation als für die lokalen Handlungszwecke ‚lohnend‘ erscheinen lassen. In dieser Weise können Interpretationen auf allen Ebenen der Interaktionskonstitution diskurspragmatisch aufschlussreich sein. So stellt etwa die Einfüh-
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rung der Erzählung von den Kindern ohne Fahrkarte durch Karin im Beispieltranskript zum einen natürlich einen ganz bestimmten evaluativen Zuschnitt des subthematischen Aspekts Börsengang dar, indem dieser allein durch die Verknüpfung mit der Anekdote als Ausdruck von sozialer Kälte durch die Konzernverantwortlichen perspektiviert wird. Diese Wirkung auf der Ebene der Sachverhaltsdarstellung korrespondiert jedoch auf der anderen Seite mit einer Selbstdarstellungsstrategie auf der Ebene der Identitäten und Beziehungen, mit der sich Karin im Verhältnis zu ihren lokalen Interaktionspartnern als empathiefähige Person präsentiert. Dieser Effekt mag – dies wäre textuell weiter zu verfolgen und zu stützen – im Falle dieser Realisation sogar im Vordergrund gestanden haben, sodass diese Aussage möglicherweise eben nicht realisiert und damit nicht nachweisbar geworden wäre, wenn sie nicht in dieser spezifischen Konstellation für diesen ganz bestimmten Zweck der Sprecherin eine wertvolle Ressource dargestellt hätte. In dieser Hinsicht bietet die Reaktion des Interaktionspartners David eine interessante Kontrastfolie. Während aus dessen Beiträgen in den Turns 52 bis 57 eindeutig hervorgeht, dass auch er über Wissen in Bezug auf die Erzählung von den Kindern ohne Fahrkarte verfügt, stilisiert er sich eher zu einer sachlich-rationalen Person, die Dramatisierungen skeptisch gegenüber steht und den Rückgriff auf eben dieses Wissen in der konkreten Situation dementsprechend eher gemieden hätte. Er markiert dies mit einem Wechsel ins Ironische, der auf der Ebene der Interaktionsmodalität zu beschreiben wäre. Detaillierte Analysen zum interaktionalen Handeln, die naturgemäß primär auf der infratextuellen Ebene angesiedelt sind, darauf aufbauend aber auch zur Grundlage der Suche nach Musterhaftem auf der textuellen und der transtextuellen Ebene werden können, erlauben in besonderem Maße einen Zugang zu Einsichten, die inventarisierend-diskursgrammatische Analysen nicht zulassen. Sie helfen die Frage zu beantworten: Unter welchen Bedingungen kommt es zur Realisation bestimmter Aussagen im konkreten sprachlichen Handeln von Mitgliedern der Diskursgemeinschaft – und was sagt diese Bedingungskonstellation über den Status der Aussage in den diskursiven Wissensstrukturen?
4.5 Interferenzanalyse Die diskurspragmatische Perspektive lässt sich nicht nur auf TORs anwenden. Wenngleich dort der Einfluss sehr spezifischer pragmatischer Bedingungen besonders groß ist, unterliegen freilich doch auch MMRs (gleich ob in Print-, audiovisuellen oder digitalen Medien) pragmatischen Bedingungen, die in diskurssemantische Untersuchungen einzubeziehen wären. Von besonderem Interesse aber ist die Frage, inwieweit das in MMRs realisierte Diskurswissen mit dem korrespondiert, das sich in TOR-Korpora zum gleichen Diskursthema nachweisen lässt. Über eine solch rein komparatistische Perspektive hinaus ist schließlich vor allen Dingen zu untersuchen, wie die Realisationen im Bereich der TORs von denen im Bereich der MMRs
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beeinflusst werden. Prinzipiell ist hier auch die umgekehrte Einflussrichtung denkbar; da jedoch Diskurswissen im Kern knowledge by description ist (Russel 1911), muss davon ausgegangen werden, dass vieles, das sich davon in TORs manifestiert, aus massenmedialen Quellen stammt. Forschungspraktisch stellt eine solche Interferenzanalyse eine große Herausforderung dar, weil sie zunächst einmal zwei in sich gut erforschte Korpora zum selben Diskursthema voraussetzt. Sofern diese Voraussetzung erfüllt ist, sind jedoch zahlreiche Analyseansätze vorstellbar, von denen die Untersuchung von expliziten Interferenzspuren zu den praktikabelsten zählt. Das Beispieltranskript bietet einen Beleg hierzu: Die Erzählung von den Kindern ohne Fahrkarte basiert, von Karin unter Nennung des Mediums Fernsehen explizit so markiert, auf einer massenmedial verbreiteten Anekdote. Die eingehende interaktionale Analyse der Funktion und der interaktiven Wirkung, die solche Bezüge zum massenmedialen Realisationsbereich des Diskurses erfüllen, würde nicht nur Kontinuitäten sichtbar werden lassen, bei denen sich Elemente des Diskurswissens im MMR- und im TOR-Bereich decken, sondern auch zu verstehen helfen, wie solche Elemente aus dem MMRBereich innerhalb der pragmatisch vielfach komplex eingebetteten TORs an lokale Bedürfnisse angepasst (Adaption) und damit ständig flexibel verändert (Modifikation) werden. Zu unterstellen ist, dass solches modifiziertes Diskurswissen, sofern es aufgrund bestimmter pragmatischer Leistungen, die es als Ressource wiederkehrend erfüllt, musterhaft wird, auch rückwirkt auf den massenmedialen Realisationsbereich (vgl. Roth 2011).
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16. Diskurslinguistik und Vertikalität: Experten und Laien im Diskurs Abstract: Unter Diskursvertikalität lässt sich die kommunikative Variation und Modifikation von Wissen zwischen Experten und Laien in öffentlichen Diskursen verstehen. Die skalierbare Ausdifferenzierung in diskursive Experten- und Laienformationen gehört folglich in den Fokus von Diskurssemantik und Diskurslexikologie. Experten- und Laienstrukturierungen können als Wissens- und Sprachhorizonte Diskurse durchziehen. Gleichermaßen können auch ganze Diskurse vertikale Kommunikationsroutinen darstellen, die Wissen vermitteln, modifizieren oder manipulieren. Resultate diskursiver Experten-Laien-Kommunikation sind parallel existierende Wissenssystematiken oder -positionen, die ihrerseits als Resonanzraum für vertikal differente Kommunikationssysteme fungieren. Vor diesem Hintergrund stellt der Beitrag Regularitäten diskursiver ExpertenLaienkommunikation dar und entwirft eine vertikalitätsorientierte Beschreibungssystematik, die Vertikalitätsregularitäten wie den Öffentlichkeitscharakter, diskursive Persuasion und Progression sowie lexikalische Strategien in einen wissenssystematischen Horizont rückt und mit der Analyse von Grounding-Prozessen sowie diskursiver Risikokommunikation verbindet.
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Diskurse als Raum der Experten-Laien-Kommunikation Öffentlichkeit und Experten-Laien-Vertikalität Wissenskonstellationen: Experten- und Laien-Wissensordnungen im digitalmedialen Diskursuniversum Transferspezifik: Diskursives Grounding und Wissensvermittlung Experten-Laien-Kommunikation und Diskursprogression Persuasion in der Experten-Laien-Kommunikation Lexikalische Vertikalität: Experten- und Laienwortschätze Fazit und Analyse-Checkliste Literatur
1 Diskurse als Raum der Experten-LaienKommunikation Kein Diskurs ohne Experten-Laien-Vertikalität. Unter Diskursvertikalität lässt sich die kommunikative Variation und Modifikation von Wissen, Sprache und Kommunikation zwischen Experten und Laien in öffentlichen, meist massen- und digitalmedial geführten Diskursen verstehen (vgl. Busch 2004). https://doi.org/10.1515/9783110296075-016
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Der Vertikalitätsbegriff stammt ursprünglich aus der Fachsprachenforschung, wo mit Vertikalität traditionell die sprachliche Spanne zwischen Experten und Laien eines Faches, z. B. der Germanistik, gemeint ist. Dem korrespondiert in der Fachsprachenlinguistik das Konzept der Horizontalität als dem mehr oder weniger präzise abgrenzbaren Nebeneinander von Fächern und Teilfächern, etwa des Maschinenbaus und der Medizin mit ihren fachsprachlichen Inventaren. Einen Überblick hierzu liefert Wichter (1994). Während das Horizontalitätskonzept mit Blick auf diskursive Kommunikation mehr und mehr an analytischem Potenzial verliert, weil massenmediale Diskurse nicht nach Fächern systematisiert werden, ist die Experten-Laien-Strukturierung, also das Vertikalitätsprinzip, konstitutiv für diskursive Kommunikation. Diese skalierbare Ausdifferenzierung in diskursive Experten- und Laienformationen gehören als spezifische „soziale Routinen des Sagens und Meinens“ (Warnke 2013, 105) in den Fokus von Diskurssemantik und Diskurslexikologie. So entstehen vertikale „Routinen des Sagens“ innerhalb von Diskursen, aber auch ganze Diskurse können ihrerseits vertikale Kommunikationsroutinen darstellen, etwa wenn sie darauf ausgerichtet sind, Wissen zu vermitteln, auf Wissensdefizite hinzuweisen oder diese z. B. zu persuasiven Zwecken zu nutzen. Resultate diskursiver Experten-Laien-Kommunikation sind parallel existierende Wissenssystematiken oder -elemente (Experten- und Laienwissensordnungen), die, teilweise unabhängig von Richtigkeits- und Wahrheitsansprüchen, gleichwertige diskursive Geltungsansprüche erheben, also kommunikativ gleichwertig wirken und aufeinander verweisen. Insbesondere die erfolgte Akzent- und Parallelsetzung von kommunikativer Konstruktion und diskursiver Konstruktion (vgl. Keller 2013, 24) belegt, dass das wissenssoziologisch-diskurslinguistische Interesse an Fragen nach der (eben auch vertikalen) Beschaffenheit diskursiver Wissenssysteme und ihrer Entstehung im Diskurs steigt. Aus einer anderen Tradition stammend, kommen die Erforschung von ,social cognition᾽(Fiske/Taylor 2013) und eine Revision der Frame-Semantik (Busse 2012) zu Ergebnissen, die ihrerseits zur Beschreibung diskursiver Experten-Laien-Konstellationen beitragen können. So lassen sich diskursvertikale Formationen als Wissenskonstellationen auffassen, deren interne vertikale Organisation und soziokognitive Vernetzung ein „Gefüge aus epistemischen Relationen“ (Busse 2012, 563, Kursivdruck im Original) darstellen.
1.1 Diskurs: Interaktion von Experten und Laiensemantiken Wenn man im Sinne einer „Diskurslinguistik mit offenem Diskursbegriff“ Diskurse als „transtextuelle Sprachstrukturen“ auffasst (Spitzmüller/Warnke 2011, 197, 25) und sie damit als Komplexe „seriell repräsentierter topikalisch kohärenter, kollektiver kommunikativer Akte [begreift], die von einer Gruppe von Diskursbeteiligten
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realisiert und textuell bzw. medial heterogen repräsentiert werden“ Kämper (2012, 21), stellen sich angesichts des diskursiven Miteinanders von Experten und Laien zwei Fragen. 1. Wie lassen sich die kommunikativen Wechselwirkungen, die zu einem Diskursgegenstand existieren, angemessen abbilden, wie also ist der gemeinsame „Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang“ (Busse/ Teubert 1994, 14) zwischen Experten- und Laienbedeutungskontinua adäquat zu repräsentieren? 2. Wie ist die Entwicklung solcher Experten- und Laiensemantiken mit all ihren Facetten in diskursiven Analysen adäquat zu berücksichtigen? Um vertikalitätsadäquate Diskursanalysen durchzuführen und die wichtigsten Regularitäten der heterogenen, teilweise inkompatiblen diskursiven Wissens- und Wortschatzkonstellationen in den Blick zu nehmen, kann das folgend skizzierte Raster verwendet werden, das im Sinne einer Vertikalitätsheuristik für konkrete Diskurse die Kategorien vorgängiger Modellierungen, etwa die des DIMEAN-Modells (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011), mit einer weiteren analytischen Dimension versieht. – Öffentlichkeitsstatus und Experten-Laien Vertikalität – Wissenskonstellationen und Experten-Laien Vertikalität – Transferspezifik in der Experten-Laien Kommunikation – Diskursprogression und Experten-Laien Vertikalität – Persuasion in der Experten-Laien Kommunikation – Lexikalische Vertikalität
2 Öffentlichkeit und Experten-Laien-Vertikalität Busses Diktum von der Öffentlichkeit als „Raum der Diskurse“ (Busse 1996: 347) gilt nach wie vor. Seine Bedeutung ist durch die Entwicklung der elektronischen Medien und dem Entstehen einer digitalen Öffentlichkeit deutlich unterstrichen worden. Öffentlichkeit bildet unter heutigen massen- und digitalmedialen Bedingungen nicht nur „die Grundlage der Demokratie“ (Schiewe 1989, 186), sondern stellt auch die wichtigste Voraussetzung für die Existenz von Experten-Laien-Diskursen dar (vgl. Busch 2004, 17). Sie erst ermöglicht das massen- und digitalmediale Miteinander von Experten- und Laiensemantiken. Generell bedürfen Diskurse „des Raums der Öffentlichkeit als Plattform und der Medien als Vermittlungsinstanzen“ (Spieß 2011, 128) und bilden auf diese Weise öffentliche wissensvertikale Kommunikationsräume, in denen thematisch fokussierte mehrfachadressierte, ggf. multimediale Diskurshandlungen (vgl. Spieß 2011 und Busch 2004, 51–56) zur Aushandlung von Diskurspositionen, und das impliziert selbstredend auch wissensdifferente Diskurspositionen, miteinander konfrontiert werden. Hierzu ist von verschiedener lin-
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guistischer Seite auf wichtige Charakteristika hingewiesen worden, von denen die folgenden auch für vertikalitätsorientierte Fragestellungen besonders wichtig sind: – Öffentlichkeit stellt, so (Schiewe 2004, 281) mit Blick auf grundlegende Partizipationsmöglichkeiten, eine bestimmte „Formation der Gesellschaft dar, in der sich Meinungen bilden“. Dies impliziert auch eine vertikale Formation verschiedener Wissensniveaus, die auf öffentlicher Bühne miteinander interagieren. Das Resultat können, durchaus auch im politischen Feld, Experten- und Laienmeinungen zu bestimmten Gegenständen sein. Gerade mit Blick auf die demokratietheoretischen Fragestellungen wird dies deutlich, denn hier ist Wählermeinung mehrheitlich oft Laienmeinung und so kann Laienmajorität Wählermajorität bedeuten. – Öffentlichkeit sichert die „prinzipielle Zugänglichkeit von Kenntnissen, Themen, Meinungen, Fakten, Institutionen, Kompetenzen usw.“ (Schiewe 2004, 281). Diese „prinzipielle Zugänglichkeit“ sagt indes noch nichts über die Wissensbindung der Kenntnisse, Meinungen, Fakten usw. aus. Sie können beispielsweise zugunsten persuasiver oder medialer Zwecke verformt und im fachlichen Sinne qualitativ unzureichend sein, ohne dass Laien das Ausmaß dieser Modifikationen im Diskurs ausreichend erkennen könnten. Damit stellt die diskursiv nicht hintergehbare Niveauverschiedenheit von Wissen das Pendant der Zugänglichkeit dar. – „Öffentlichkeit bedeutet Offenheit der Kommunikation vor einem prinzipiell unabgeschlossenen Publikum“ (Spieß 2011, 130). Ihre „Transparenzfunktion, Validierungsfunktion und Meinungsbildungs- bzw. Orientierungsfunktion können im System der Massenmedien unterschiedlich anspruchsvoll eingelöst werden“ (Spieß 2011, 133). Die hier benannte prinzipielle Unabgeschlossenheit signalisiert eben auch die prinzipielle Laienzugänglichkeit. Historisch betrachtet machte der „gesellschaftliche Wandel im 19. und 20. Jahrhundert […] zunächst bestimmte Schichten, dann bestimmte Institutionen und Funktionsträger zu Begründern und Beherrschern von Kommunikationsräumen“ (Schiewe 2004, 14). Durch die Entwicklung elektronischer Medien inkl. WWW und Social Media entwickeln sich mehr und mehr auch Laien- oder Laiengruppen zu „Begründern und Beherrschern von Kommunikationsräumen“. Diese vergleichsweise neuen Öffentlichkeits- und Diskursakteure bringen in der Digitalität ihre eigenen Umgangsweisen mit Wissen und Sprache in den Diskurs ein, die historisch nahezu beispiellos sind. Schlagwortartig: Die aktuelle Spanne des Strukturwandels der Öffentlichkeit (vgl. Habermas 1962/1990; Schiewe 2004) reicht von den traditionellen Formen bis zu Shitstorm, Twitter und Facebook. Diese digitale Medialität verändert in hohem Maße auch die Konfrontation von Experten- und Laiensystemen, wie insbesondere Pscheida (2010) diskutiert.
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3 Wissenskonstellationen – Experten- und LaienWissensordnungen im digitalmedialen Diskursuniversum Im digitalmedialen Diskurs treffen diverse vertikale Wissensordnungen, also die „Kenntnisse und Fähigkeiten, die Individuen zur Lösung von Problemen einsetzen“ (Probst/Raub/Romhardt 1999, 46), aufeinander. Sie umfassen nach Einschätzung der Wissensmanagementtheorie „sowohl theoretische Erkenntnisse als auch praktische Alltagsregeln und Handlungsweisen.“ Dabei stützt sich Wissen immer „auf Daten und Informationen, ist im Gegensatz zu diesen aber immer an Personen gebunden.“ (Probst/Raub/Romhardt 1999, 46). Dieses an Personen gebundene Wissen weist vielfältige Formen auf, egal, ob dessen Ordnung nun als „Wissenstreppe“ (North 1998), „Wissenspyramide“ (Brixler/Greulich/Wiese 2005, 8) oder als „Komplexbegriff“ (Gottschalk-Mazouz 2007: 21) heuristisch greifbar gemacht wird. Die diskursiven Oberflächen verweisen im massenmedialen und besonders im digitalen Diskurs auf folgende Wissensarten, die hier in kühner Mischung geradezu gleichberechtigt miteinander auftreten, ohne dass es eine akteursübergreifend anerkannte Validierungsinstitution gäbe: – Experten-Wissensordnungen – Laien-Wissensordnungen (individuelles Wissen) – Kollektive Wissensordnungen (oft zu Stereotypen and social cognitions geronnen) – Interkulturelle Wissensordnungen – Mediale Wissensordnungen – Fachwissensordnungen: explizites Wissen – implizite Wissensordnungen (tacit knowledge) (vgl. Fiske/Taylor 2013; Antos 2001; Wichter 1994, 1995, 2011; Konerding 2008, 2010; Brixler/Greulich/Wiese 2005; Weber/Antos 2009). All diese diskursiv repräsentierten Wissensarten sind in unterschiedlichem Maße standardisiert und in fachlichen wie diskursiven Rahmen gesichert. Soweit es sich um fachliche Wissensordnungen handelt, kann in der Regel noch der traditionell taxonomische Ordnungsbegriff herangezogen werden, der die Begriffs- und Terminologiesysteme in treppenartiger Überordnung (Superordo), Ordnung (Ordo) und Unterordnung (Subordo) anzuordnen vermag. Im Falle von fachexternem oder Laienwissen wird man eher von Misch- und Teilordnungen, also spezifischen Infraordines, ausgehen müssen, deren fachliche Richtigkeit aber für den Kommunikationserfolg bei Laienbeteiligung weitgehend unerheblich sein kann. In weiten Bereichen beeinflussen sich diese eher fachnahen und die fachfernen Wissens- und Wortschatzsysteme gegenseitig, sodass eine klare terminologische Trennung von fachlichen Begriffssystemen und Allgemeinsprache, wie sie Felber/Budin (1989)
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postulieren, keine diskursive Relevanz zugestanden werden kann. Wenn sie aus streng terminologisch argumentierender Perspektive gut nachvollziehbar postulieren, dass „ein Begriffssystem […] sich durch seine definierten Begriffe von den semantischen Netzen der Allgemeinsprache“ unterscheide und dass „semantische Netze für Wissenssysteme und -netze ungeeignet“ seien, so trifft dies nicht mehr auf die heutigen Möglichkeiten maschineller Fachlexikographie und die Abbildung von diskursiven „semantische[n] Netze[n] für Wissenssysteme und -netze“ Felber/ Budin (1989, 30) zu. Auch ist die Trennung von rein terminologischen Systemen und fachtranszendierenden wie fachexternen Wissenssystemen (vgl. Roelcke 2005; Busch 1994) kaum mehr haltbar, denn es „ist bekannt, dass das Wissen einer Domäne umfangreicher ist als der durch den Domänenwortschatz repräsentierte Inhalt“ (Felder 2005, 136) und dass „nicht oder nur unzureichend bzw. willkürlich zwischen Wissen und Wortschatz (bzw. enzyklopädischem und lexikalischem Wissen) oder Sprach- und Weltwissen unterschieden werden“ (Felder 2005, 136) kann. Überdies wirken Fach- und Diskurswissen und ihre lexikalischen Inventare sowohl in Verfachlichungs- als auch in Entfachlichungsprozessen wechselseitig aufeinander ein (vgl. Busch 2004), eine Interdependenz, die in digitaldiskursiven Räumen deutlich verstärkt wird. Während fachliche Positionen zum Wissenstransfer aus einem Fach heraus häufig auf dem Boden einer Transfervorstellung argumentieren, die von dem Bedürfnis stabilen Fachwissens und dessen unverfälschten Transfer ausgeht, lässt sich im digitalmedialen Diskurs deutlich beobachten, dass die Vorstellung von derart stabilen und fachlich abgesicherten Wissenssystemen neben dem mehr oder minder routinierten Umgang mit Nichtwissen in wissenschaftlichen Feldern einem weitgehend reflektierten Umgang mit Wissensvagheiten und instabilem Wissen im fachlichen und nichtfachlichen Bereich gewichen ist. (vgl. Janich/Nordmann/Schebeck 2012 sowie Reichenberger 2010, 163–184). Nach Diskursen über Informationsflut, Wissensexplosion und Krise des Wissens (vgl. Antos 2001 und Mittelstraß 1998) wird aktuell der bewusste Umgang mit der Instabilität diskursiv konstruierten Wissens als Resultat des sich gegenwärtig vollziehenden „wissenskulturellen Wandels“ sichtbar, eines Wandels „im Kontext von Internet und Web 2.0, der zudem in einer gewissen analogen Relation zu jenem der frühen Neuzeit steht“ (Pscheida 2010, 20). Im „Wikipedia Universum“ (Pscheida 2010: 23) bereitet es Produzenten wie Rezipienten kaum Probleme, nicht mehr mit festem gesicherten und in wuchtigen Werken kodifiziertem Wissen umzugehen, sondern mit Wiki-Wissen, also hoch dynamischen Wissensversionen, deren Veränderungsmechanik in elektronischen Paratexten dokumentiert ist. Auch gesichertes Fachwissen wird, Stichwort Open Access und Google Books, künftig in sehr viel höherem Maße als Digitalmedium zur Verfügung stehen. Offen, aber angesichts dieser Entwicklungen erwartbar ist, dass sich im Digitalmedium „Online-Denkkollektive“ mit eigenen „Online-Denkstilen“ als Resultat ge-
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richteter Laien-Wahrnehmung zu Denkkollektiven addieren (vgl. Fleck 1935) und dass sich bereichs- und wissensniveaubezogen spezifische „Konstellationen von Gruppenpositionen“ (Kuhn 1961, 193) als charakteristische Formen digitaler Laiensysteme herausbilden. Dies ist erwartbar, da Wissensentwicklungen traditionell neue Denkstile auch fachlicher Natur hervorbringen (vgl. Ylönen 2011; Fix 2010; Vogler 2008), die ihrerseits in ihrer diskursiven Repräsentationsform gut als Framekonstellationen greifbar sind, und die auch digitalmedial „als Format der Organisation wie auch der Rekonstruktion des verstehensrelevanten Wissens aufgefasst werden können“ (Busse 2012, 539). Busse (2012) belegt ausführlich und methodisch weitreichend, dass „Frames als das Format schlechthin der Strukturen des Wissens selbst“ aufgefasst werden können und dass die Frame-Semantik auch ein „ausgezeichnetes Instrument“ darstellt, im Rahmen von Experten-Laien-Analysen die „Granulierungen und Ausdifferenzierungsgrade des verstehensrelevanten Wissens theoretisch und methodisch angemessen zu erfassen“ (Busse 2012, 623).
4 Transferspezifik: Diskursives Grounding und Wissensvermittlung Die diskursiven Wissensasymmetrien bilden für jede Art von laienorientierter Kommunikation eine komplexe und unsichere Grundlage: So treffen beispielsweise im individuellen Arzt-Patient-Gespräch wie in der überindividuell-diskursiven Internetkommunikation vom Chat bis zur zertifizierten Medizinhomepage fachliche Informationen auf die subjektiven Theorien und Bedeutungspotenziale der Laien und Laiengruppen verschiedener Niveaus. Hierzu hat die Wissensmanagement- und -transferforschung wichtige und häufig linguistisch fundierte Vermittlungsstrategien beschrieben (vgl. Niederhauser 1999; Ballodt 2001; Göpferich 2008 sowie Wichter/Antos 2001, 2005). Bei aller Skepsis, die man hinsichtlich des zugrunde liegenden Kommunikationsmodells haben darf, verdeutlicht der von Bromme/Jucks/Rambow (2004, 179) visualisierte Grundgedanke vom common ground (nach Clark/Brennan 2001) als Schnittmenge zwischen den Wissenssystemen von Experten und Laien, dass fachexterne Kommunikation generell eines wissensmäßigen common grounds bedarf, damit kommuniziert werden kann. Was hier indes fehlt, ist die Integration der Aushandlungs- und Vergewisserungsprozesse, die die Kommunikation erst erfolgreich machen können, denn die Bezugsframes von Experten und Laien treffen aufeinander und werden kommunikativ über verschiedene Vergewisserungsroutinen solange abgeglichen, bis die Kommunikationspartner den Eindruck haben, dass eine gemeinsame Wissensbasis hergestellt ist. Dieser Prozess des groundings wird in direkter mündlicher Kommunikation, wie z. B. in der Arzt-Patient-Kommunikation, mit verbalen Mitteln wie
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Perspektivenwechsel
Subjektiver Bezugsframe Person 1 Geteilter
Subjektiver
Bezugsframe
Bezugsframe Person 2
(common ground) Person 2 Person 1 Wechselseitiger Austausch von Bedeutungen
Abb. 1: nach Bromme/Jucks/Rambow (2004, 179).
turn-taking, back-channel-behavior oder mit Mimik und Gestik vollzogen. In digitalmedialen Diskursräumen gibt es durch Suchroutinen und Verlinkung sowie interaktive Formen wie Chats, Foren oder E-Mail, die Möglichkeit der schriftlichen Nachfrage und damit auch noch die Möglichkeit des direkten groundings, so etwa auch in der zunehmenden Praxis, E-Mail-Beratung als authentischen Bestandteil in die Arzt-Patient-Kommunikation zu integrieren. Auf den medial nicht interaktiven Ebenen eines Diskurses, etwa in Printmedien, ist ein solches direktes grounding nicht möglich, weil der unmittelbare Kontakt von Rezipienten und Produzenten fehlt. Dennoch finden auch hier grounding-Prozesse statt. So versuchen Laien mithilfe von Nachschlageinstanzen ihr Wissen so zu erweitern, dass sie die angebotenen Diskursbeiträge mit subjektivem Sinn füllen können, bzw. dazu eine subjektive Theorie aufbauen und diese in der weiteren Kommunikation auch über andere ggf. interaktive Quellen validieren. Das Ergebnis solcher Prozesse wird indes inhomogen sein. Common grounding kann somit auf den verschiedenen horizontal und vertikal stark diversifizierten Akteurs- und Wissenskonstellationen fachlicher Wissens- und Kommunikationsfelder jeweils Unterschiedliches bedeuten. Darüber hinaus wirkt sich im Diskurs aus, dass eine Art grounding-frame durch rezeptive Laienerwartungen aufgespannt wird, d. h. fachliche Laienwissensordnungen, z. B. zu Gesundheit und Krankheit existieren nicht nur individuell, sondern bilden ggf. auch einen Rezeptions- und Adressierungsraum. Die Fachlaien kommunizieren eigenständig, z. B. in medizinischen Diskursen, sei es als Patienten
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oder gesundheitsorientierte Zeitgenossen, die zumindest rezeptiv an medizin- und gesundheitsorientierten Diskursen beteiligt sind und als Rezeptionszielgruppen auch die medizinischen Autoreninstanzen beeinflussen. So tragen Autoren in der fachexternen und popularisierenden Fachkommunikation, sei sie online oder offline geführt, erheblich zur Verwissenschaftlichung und Pseudo-Verwissenschaftlichung von Alltagswissensbeständen bei, auf die Fachlaien zurückgreifen, um medizinische Sachverhalte zu verstehen In all diesen Fällen schlägt das Prinzip der kommunikativen Adäquatheit das Prinzip der fachlichen Richtigkeit, man könnte sagen: Diskursive Verständigung zwischen Experten und Laien ist ohne fachliche Richtigkeit und ohne Richtigkeitsanspruch möglich.
5 Experten-Laien-Kommunikation und Diskursprogression Diskursgegenstände bzw. Diskursthemen werden kommunikativ und zwischen Experten und Laienorientierungen konstruiert, verhandelt und weiterentwickelt. Insofern bedeutet Diskursprogression Serialität: Diskursive Text- und Kommunikatsinventare „erscheinen seriell als Ereignisse“ (Spieß 2011, 135), zwischen denen „thematisch bestimmte Kohärenzbeziehungen“ bestehen, die sich „durch ein gemeinsames Thema oder einen gemeinsamen Themenkomplex […] hinsichtlich ihrer thematischen Konstitution Rahmen-geleitet miteinander vergleichen und aufeinander beziehen“ lassen (Konerding 2008, 125, 135–136). Als Arten der Beziehungen identifiziert Konerding thematische Kongruenz, Variation, Elaboration und Kontrastierung. Derartige Serialitäts- und Kohärenzbeziehungen zwischen den Kommunikaten motivieren eine diskursive Entwicklung von Diskursen, die auch in Experten-LaienHinsicht die Entwicklung von Diskursen charakterisiert, denn die benannten Kohärenzbeziehungen sind je nach Vertikalitätsperspektive different, bei klar konturierten Unterschieden kann man gewissermaßen die Expertenstruktur eines Diskurses von der Laienstruktur abheben. Somit integrieren Diskurse ganze Bündel von Einzelthemen, die je nach Akteursbedarf und Themensetzungserfolg ausdifferenziert werden. Dabei werden manche Themen singularisiert und dominant weiterverfolgt (diskursives Priming), andere Themen außer Beachtung gesetzt und ggf. zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen. Vertikalitätsorientierte Analysen habe hierzu verschiedene diskursprogressive Regularitäten herausgearbeitet, die diskursübergreifend und ELK-differenzierbar vorfindbar sind. Regularitäten von Diskursverläufen lassen sich (a) deduktiv im Sinne einer Archäologie des Wissens nach Foucault (vgl. Busch 2004, 67–75) identifizieren und (b) empirisch über Diskursanalysen ermitteln:
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Tab. 1: Progressionsbestimmende diskursive Regularitäten. Deduktiv: Regularitäten von Diskursverläufen
Empirisch: Regularitäten von Diskursverläufen
gemäß Foucault (1997, 224–252)
gemäß Busch (2004, 2007)
– „einzelne Konfigurationen“: Begrenzung auf ein Wissensgebiet – „archäologische Isotopie“: Kommunikative und wissensmäßige Gemeinsamkeiten verschiedener Diskurse – „archäologische Verlagerungen“: ein und derselbe Begriff bzw. ein und dasselbe Lexem decken zwei wissensmäßig verschiedene Elemente ab. – „archäologische Korrelationen“: Subordinations- und Komplementaritätsbeziehungen zwischen Wissensitems.
– Stabilität/Konstitution – thematisch: Ein Themenfeld/Thema bleibt für längere Zeiträume im Diskurs – Bezeichnungsstabilität/ onomasiologische Stabilität: Ein Thema oder Konzept wird im Diskurs weitgehend unter der- bzw. denselben Bezeichnung(en) adressiert und lexikalisiert – Bedeutungsstabilität/semasiologische Stabilität: Ein konstant im Diskurs repräsentiertes Thema oder Konzept bleibt stabil, die Bezeichnungen dafür aber wandeln sich im Diskursverlauf – Bezeichnungskonkurrenz (Ein Thema wird im Diskurs durch konkurrierende Bezeichnungen adressiert.) – Übergang (Themen- und Konzeptübergang von einer Diskursperiode zur anderen) – Vertikale Umdeutung zentraler Konzepte im Diskursverlauf – Reaktivierung (zwischenzeitlich obsoleter Konzepte) – Proliferation (Übertragung diskursiver Thematisierungen in weitere Bereiche) – Eliminierung (Ein Thema oder Themenfeld verschwindet dauerhaft aus dem Diskurs)
Diese diskursprogressiven Regularitäten sind in hohem Maße medial geformt, man denke allein an die Effekte von Agenda Setting, Wissenskluft und Schweigespirale und weitere prominente Resultate der Kommunikations- und Medienpsychologie (vgl. Six/Gleich/Gimmler 2007). Bezogen auf den Diskursgegenstand ist es wichtig, verschiedene Bezugsbereiche voneinander zu trennen. Pointiert man die Gemeinsamkeit, dass die gängigen linguistischen Diskursbestimmungen in der Regel darauf abheben, dass Diskurse im Wesentlichen durch Diskurshandlungen zu einen gemeinsamen Oberthema konstituiert werden, kann man hierbei jeweils vom X-Diskurs sprechen, wobei das X als Variable für die Bezeichnung eines Diskursgegenstandes steht, sei dies nun im jährlichen Grippediskurs die Grippe, im Computerdiskurs die Computertechnologie oder im Atom(kraft)diskurs die Atom- oder Kernenergie. Diese Ebene der Bezeichnung eines Diskursgegenstandes ist neben den bezeichneten außersprachlichen
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Tab. 2: Ebenenstruktur diskursiv verhandelter außersprachlicher Sachverhalte. Thematische Einheit
Ausdrucksschema
Inhaltsschema/Frames
Diskursgegenstand
Teildiskursübergreifende
Diskursframes: Frameensemble
lexikalische Einheiten mit
auf Ebene des Gesamtdiskurses
interdiskursiven lexikalischen
mit übergreifenden Bezügen auf
Bezügen auf andere ggf.
Matrixframes.
übergeordnete Positionen (Diskurse) im Diskursuniversum. Teildiskursthemen
Teildiskursspezifische
Teildiskursframes:
lexikalische Einheiten mit
Frameensemble auf Ebene
interdiskursiven lexikalischen
eines Teildiskurses mit Bezügen
Bezügen auf andere ggf.
zu Diskursframes.
übergeordnete Positionen (Diskurse) im Diskursuniversum. Textthemen von
Textspezifische lexikalische
Textframes: Frameensemble auf
Diskursbeiträgen
Einheiten mit interdiskursiven
Ebene eines Diskursbeitrages/
(Einzeltextebene oder
lexikalischen Bezügen auf andere Textes mit Bezügen zu Diskurs-
kommunikative Reihen)
ggf. übergeordnete Positionen
und Teildiskursframes.
(Diskurse) im Diskursuniversum.
Sachverhalten zu trennen von der Bezeichnung einzelner Teildiskurse und deren Themenspektrum sowie der Ebene der Textthemen, die als Diskursbeiträge, oder mit Jäger (2006, 99) formuliert, als „Diskursfragmente“ Geltung beanspruchen. Jeder dieser Ebenen kann eine andere Ebene der Bezeichnungen und Wissensframes zugeordnet werden, wobei sich die lexikalische und die Wissensebene jeweils heuristisch in Ausdrucksschema und Inhaltsschema mit einer je eigenen Vertikalitätsmarkierung auf einer Experten-Laien-Skalierung ausdifferenzieren lassen. Für die Progressionsanalyse ist neben der meist trivialen Identifizierung des Vorliegens eines medial verhandelten Diskursthemas die Konzentration auf ein Ausdrucksschema im Sinne der Schematheorie sowie des korrespondierenden Inhaltsschemas (vgl. Wichter 1994, 1995) und Busch (2004, 2007) als linguistisch fassbarem Faktum sinnvoll. Die diskursiv dargebotenen Wortschatznetze des Ausdrucksschemas stellen das lexikalische Korrelat der dahinter liegenden Experten und Laienframes dar und sichern die Zugänglichkeit zur diskursiven Frame-Struktur, für deren Analyse ebenfalls linguistisch gefestigte praxisnahe Methoden etwa von Ziem (2008) entwickelt worden sind. Eine weitere vorzügliche Möglichkeit, die Progressionsregularitäten von Diskursen zu erfassen, bietet Wichters Reihentheorie (2005, 2011). Sie geht generell davon aus, dass es sich bei Diskursen stets um Kommunikationsreihen handelt:
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Der Diskurs, aufgefasst als Gesellschaftsgespräch im Sinne der Kommunikation einer Gesellschaft über ein Thema, erfüllt alle Bedingungen für den Status einer gesellschaftlich übergreifenden Reihe. Der Diskurs als Gesellschaftsgespräch ist darum identisch mit der gesellschaftlich übergreifenden Reihe. Der Diskurs hat damit seinen Oberbegriff erhalten: Der Diskurs ist eine Reihe. (Wichter 2011, 302)
Mithilfe der Reihentheorie lässt sich die thematisch fokalisierte Progression von Kommunikaten wie etwa Printtexten, Gesprächen, Chatbeiträgen, Blogs, Tweets oder Fernsehsendungen als interkommunikative Folge von kommunikativen Reihen, Ketten und Akten untersuchen; eine einführende Übersicht zur komplexen Theorie findet sich bei Busch/Stenschke (2014, 248–249).
6 Persuasion in der Experten-Laien-Kommunikation Die Diskurspersuasion (vgl. Busch 2004), also die Überredung, Überzeugung und Manipulation im und mithilfe von Diskursen, umfasst ein großes Spektrum kommunikativer Techniken, etwa – manipulative lexikalische Strategien – manipulative Ikonizität – semantische Kämpfe – diskursive Argumentationen: Topoi – persuasive Risikokommunikation. Zu ihrer Analyse müssen die Methoden der Diskursforschung (Überblick in Spitzmüller/Warnke 2011 und Keller 2011) und der Bild-Linguistik (vgl. Große 2011; Diekmannshenke/Klemm/Stöckl 2011; Stöckl 2004) ebenso eingesetzt werden wie das Inventar der Kritischen Diskursanalyse nach Jäger/Jäger (2007), Wodak (2002) und Fairclough (1998) als auch die Instrumente der Politolinguistik (vgl. Schröter-Carius 2008 und Girnth 2002), der Toposanalyse (Wengeler 2003/2013) sowie die Analyse deontischer Kommunikations- und Diskurselemente nach Hermanns (2012). Neben manipulativer Lexik und beeinflussender Bildlichkeit sind es bis in die fachsprachlichen Felder hinein oft „semantische Kämpfe“ (Felder 2006: 13), die das Diskursgeschehen zwischen Experten und Laien prägen. Gekämpft wird hier fachintern wie fachextern, so finden sich in Medizindiskursen beispielsweise: 1. Kampf um das Etablieren von Interpretationen 2. Kampf um Praxisstandards 3. Kampf um Systematiken 4. Kampf um die Zuordnung von Erst-Entdeckungen 5. Kampf um Anerkennung alternativer Verfahren 6. Kampf um Fördermittel
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7. Kampf um fachexterne Anerkennung 8. Kampf um Konzepte (vgl. Busch 2006) Nicht nur im Rahmen solcher semantischen Kämpfe kommen diskursive Topoi zum Ausdruck, die im Sinne sozialer Kognitionen aufgefasst werden können als „Manifestationen einer verbreiteten, habituellen Denkweise, mithin eines Wissenssegments im Sinne einer kollektiv verankerten Sichtweise dessen, was man für wahr, für richtig hält“ und die die Merkmale der „Habitualität, Potentialität, Symbolizität und Intentionalität“ (Wengeler 2013, 145) aufweisen. Sie sind damit immer relativ zu differenten Wissensniveaus von Experten und Laien aufzufassen. Daneben spielt für die Diskurspersuasion zwischen Experten und Laien die Risikokommunikation eine besonders wichtige Rolle, weil die mediale Darstellung von Risiken häufig die unterschiedlichen Risikowahrnehmungen von Experten und Laien ausbeuten. Während Risiken für Experten Entitäten darstellen, die nach Auftretenswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß vergleichsweise objektiv definiert werden können, werden sie von Laien häufig als individuell zu bewertende Bedrohungen wahrgenommen. So wie Laien subjektive Theorien zu Fachgegenständen ggf. nach eigenen Wissensmaßstäben entwickeln, so bewerten sie Risiken ebenfalls nach anderen Kriterien als Experten und schätzen Risiken, mit denen sie diskursiv konfrontiert werden, nach Kriterien wie Schrecklichkeit, individueller Kontrollierbarkeit und Unbekanntheit ein (vgl. Renner/Panzer/Oeberst 2007). Auch sind die Regularitäten, nach denen „wissenschaftliche, mediale und individuelle Risikokonstrukte erstellt werden“ (Schütz/Peters 2002, 40) höchst unterschiedlich: Während die wissenschaftlich-technische Sicht primär auf Risikoabschätzung ausgerichtet ist, nehmen Medien die wissenschaftlichen Risikobeschreibungen in ihre Narrative auf, „in denen sie die Öffentlichkeit warnen und aufrütteln, Fehlverhalten von Staat, Wirtschaft und Verbänden aufdecken, ihre Leser aufklären und beraten oder politische Vorgänge erläutern.“ (Schütz/Peters 2002, 41) In der Folge werden Risiken sozial-diskursiv konstruiert, was erklärt, wie das Social-Amplification-Modell zu erfassen sucht, „why seemingly minor risks or risk events often produce extraordinary public concern and social and economic impacts“ (Kasperson et al. 1988, 187). Kultivierungsthese und Medienwirkungsforschung (vgl. etwa Bonfadelli/Friemel 2011) zeigen, wie sehr solche diskursiv gebildeten Risikokonstrukte in dominante Realitätsbilder integriert werden können. Sowohl die professionelle Risikokommunikation als auch mediale Transformationen und Panikmache belegen, dass diskursive Risikodarstellungen als Instrument zu weiteren Zwecken von Verhaltensänderungen bis zu Emotionalisierung und Kaufanreizen genutzt werden.
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7 Lexikalische Vertikalität: Experten- und Laienwortschätze Die prominenteste weil sichtbarste Vertikalitätsdimension ist die lexikalische. Das diskursive Miteinander von „Experten- und Laienwortschätzen“ (Wichter 1994) ist integraler Bestandteil öffentlicher Diskurse. Alle diskurslinguistischen Arbeiten beschäftigen sich explizit oder implizit mit der Beschaffenheit von Diskurslexik im Spannungsfeld diskursiver Auseinandersetzungen vor dispersem Publikum. Deshalb richtet sich die Perspektive einer vertikalitätsorientierten Diskurslexikologie (vgl. Busch 2004, 1–44) besonders auf die vertikale Variation lexikalischer Diskursinventare. Der zwischen Experten und Laien verwendete Wortschatz unterliegt vielfacher Modifikation und Bedeutungsveränderung und gewinnt einen sehr spezifischen Charakter, der mit einfachen Popularisierungsanalysen nicht adäquat erfasst werden kann. Der diskursvertikale Zugang zu Wortschätzen deckt hingegen eine Vielzahl von lexikalischen Regularitäten auf, die die meisten Diskurse prägen und diese Prägungen werden in digitalmedialen Diskursen deutlich verstärkt. Prominente lexikalische Vertikalitätsregularitäten sind: 1. Vertikale Polysemierung (Experten und Laien ordnen einem Lexem unterschiedliche Bedeutungen zu) 2. Stereotypisierung (Experten und Laien haben unterschiedliche Bedeutungsstereotype zu diskursiven Konzepten) 3. Verfachlichung und Entfachlichung (Fachlexik dringt in die Gemeinsprache ein und umgekehrt verändert gemeinsprachliche Diskursivierung Fachwortschatz) 4. Keine fachgebundene Horizontalität (Während der Wortschatz in Fächern an die Differenzierung nach Fächern und ihren Fachsprachen gebunden ist, existiert in der Diskurskommunikation dieses Prinzip nicht.) 5. Lexikalischer Konzeptwechsel (Dominante Bezeichnungen und Konzepte für Diskursphänomene können wechseln.) 6. Vertikale Differenzen von Wortfeldern und -familien 7. Fachinterne vs. fachexterne Metaphorik
8 Fazit und Analyse-Checkliste Wie wird vor diesem Hintergrund nun die Diskursvertikalität analytisch zugänglich? Sie muss quer zur diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse (Spitzmüller/ Warnke 2011, 201) oder den von Gardt (2007, 30–35) zusammengestellten „Ebenen des Sprachsystems“ untersucht werden, da jede der dort vorgestellten Ebenen einen eigenen Vertikalitätscharakter aufweisen kann. Dazu stellt die folgende Übersicht Vertikalitätsdimensionen und Analysefragen zusammen.
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Tab. 3: Vertikalitätsdimensionen und Analysefragen. Öffentlichkeitsstatus
– Welcher Öffentlichkeitstatus dominiert den jeweiligen zu analysierenden Diskurs? – Welche Auswirkungen hat die jeweilige Form der Öffentlichkeit auf die Kommunikation von Experten und Laien?
Wissenskonstellationen
– Welche medialen Charakteristika prägen die zu untersuchende diskursive Experten-Laien-Kommunikation? – Wie sind die beteiligten Wissensordnungen und Framekonstellationen von Experten und Laien konfiguriert?
Transferspezifik
– Welche Wege der Wissensvermittlung werden zu welchem Zweck von welchen Akteuren mit welchem Effekt gewählt? – Welche Grounding-Strategien werden zu welchem Zweck von welchen Akteuren mit welchem Effekt angewendet?
Diskursprogression
– Welche Diskursgegenstände werden zu welchem Zweck von welchen Akteuren mit welchem Effekt wie konfiguriert, im Diskursverlauf dominant gesetzt, modifiziert, getilgt oder in vertikal spezifische Teildiskurse ausgegliedert? – Welche Diskurskonzepte werden im Diskursverlauf zu welchem Zweck von welchen Akteuren mit welchem Effekt vertikal verändert oder umgedeutet?
Diskurspersuasion
– Welche persuasiven Strategien werden unter Nutzung der Vertikalität zu welchem Zweck von welchen Akteuren mit welchem Effekt angewendet? – Welche lexikalischen und ikonischen Persuasionsstrategien, welche semantischen Kämpfe, Topoi und Methoden der Risikokommunikation, die das Wissensgefälle zwischen Experten und Laien ausnutzen, lassen sich belegen und in ihrer Funktion bestimmen?
Lexikalische Vertikalität
– Welche Unterschiede zwischen Experten- und Laienwortschätzen lassen sich bestimmen? – Welchen Charakter haben die lexikalischen Strategien wie z. B. die vertikale Polysemierung, die Stereotypisierung oder vertikale Differenzen von Wortfeldern und -familien?
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17. Diskurslinguistik und sprachliche Innovationen Abstract: Sprachwandelphänomene unterschiedlicher Art können für die Diskurslinguistik relevant sein, beispielsweise die Entwicklung diskursspezifischer Konstruktionen, Bedeutungswandel bzw. die Veränderung von Frames, Gebrauch von Metaphern, Entwicklung oder Entstehung von Textmusterkonventionen etc. Die genannten Phänomene lassen sich als Innovationen und deren Diffusion beschreiben. Innovationen kann es als solche nicht unabhängig von diskursiven Praktiken geben, da (sprachlichen oder nicht-sprachlichen) Handlungen stets nur in Bezug auf existierende, historisch gebundene Diskurse ihre innovative Qualität zugeschrieben wird. Wenn andererseits ein Diskurs das Sprechen und Schreiben reguliert, stellt sich die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen des Auftretens von Innovationen, nach ihrem Status und ihrer Weiterentwicklung.
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Einleitung Diskurstheoretische Bedeutung von Wandel Sprachwandel und Diskurswandel Status von Innovationen im Diskurs Literatur
1 Einleitung Obwohl die Diskurslinguistik im deutschsprachigen Raum als Weiterentwicklung der Historischen Semantik gelten kann und diskurslinguistische Studien ebenso wie schon die paradigmatischen Arbeiten Michel Foucaults überwiegend historischen Diskursen, deren Herausbildung und Veränderungen im Laufe der Zeit gewidmet sind, gibt es kaum Ansätze zu einer Theorie des Diskurswandels. Der von dem Historiker Achim Landwehr herausgegebene Band „Diskursiver Wandel“ (Landwehr 2010) demonstriert die Relevanz des Themas, beinhaltet aber nur wenige sprachwissenschaftliche Beiträge. Innerhalb der Sprachwissenschaft sind vor allem die Arbeiten von Heidrun Kämper zu nennen, die Aspekte von Wandel (Umbruch) auch konzeptionell und terminologisch einbeziehen (vgl. Kämper in diesem Band). Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Diskurslinguistik und das Problem diskursiven Wandels aus der Perspektive der Sprachwandeltheorie. Hierbei spielt das Konzept (sprachlicher) Innovationen eine zentrale Rolle. In einem ersten Schritt (Abschnitt 2) wird erläutert, inwiefern die Idee von Wandel dem Diskursbegriff inhärent ist und warum entsprechend ein reflektierter https://doi.org/10.1515/9783110296075-017
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Wandelbegriff für eine Diskurstheorie relevant ist. Im Einzelnen betrifft dies die Annahme, dass Diskurse als solche nur durch (auch zeitlich bestimmbare) Differenzen in den Blick kommen und historisch gebunden sind. Schließlich sind in einer Diskursanalyse stets auch Kontinuitäten zu erfassen, die nicht unabhängig von Wandelprozessen beschreibbar sind. Abschnitt 3 gibt zunächst einen knappen Überblick über sprachwandeltheoretische Grundannahmen, die in der Diskurslinguistik anschlussfähig sind. Insbesondere ist dies der Innovationsbegriff, insofern Innovationen nicht in einem trivialen Sinne als Neuerungen verstanden werden. Im Folgenden wird dann die bisherige diskursanalytische Forschung in Hinblick auf deren Umgang mit Wandelphänomenen sowie deren Konzeptualisierung von Wandel betrachtet. Im abschließenden Teil (Abschnitt 4) geht es um den Status von Innovationen im Diskurs. Ein handlungstheoretischer Terminus wie Innovation muss mit den eher an Makrostrukturen interessierten Diskursanalysen erst in Einklang gebracht werden, was ohne den Einbezug von Akteuren nicht möglich ist. Die Diskurslinguistik kann dann allerdings die diskursive Gebundenheit sprachlicher Innovationen herausarbeiten und zeigen, welches die Bedingungen für die erfolgreiche Ausbreitung einer Innovation waren.
2 Diskurstheoretische Bedeutung von Wandel Im Rahmen dieses Beitrags können nicht alle relevanten Diskursbegriffe erörtert und voneinander abgegrenzt werden, erst recht soll hier keine allgemeingültige Definition gegeben werden (vgl. zur „Unmöglichkeit der begrifflichen Fixierung von ,Diskurs‘“ Spitzmüller/Warnke 2011, 18). Verschiedene theoretische und forschungspraktische Ansätze betrachten den Diskurs etwa als einen Aspekt umfassenderer sozialer Praktiken (vgl. Keller 2010), als ein selbstorganisierendes System (vgl. Hopfer 1994), als die Gesamtheit aller – auch nicht-sprachlicher – Äußerungen zu einem Thema (vgl. Kämper/Scharloth/Wengeler 2012, 2) oder als ein virtuelles Korpus (vgl. Busse/Teubert 1994). Angesichts häufig zu lesender Hypostasierungen von ,Diskurs‘ soll für das Folgende allerdings zumindest die begriffliche Festlegung getroffen werden, dass es sich bei Diskursen „um analytische, nicht um ontische Einheiten handelt“ (Landwehr 2010, 377). Auch wenn Diskurse etwa häufig als Gesamtheit von Äußerungen zu einem Thema definiert werden, ist noch keineswegs selbstverständlich, worin eine thematische Einheit von Äußerungen besteht, woran man eine solche erkennt, und was überhaupt ein Thema ist. Der thematische Zusammenhang von Äußerungen kann dennoch als eine Grundbedingung dafür gelten, die entsprechenden (sprachlichen) Äußerungen als zu einem Diskurs gehörig zu betrachten, was immer der Diskurs dann sonst (noch) sei. Da sich thematisch zusammengehörige Äußerungen implizit oder explizit auf-
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einander beziehen müssen, sind sie notwendig chronologisch strukturiert (vgl. Jung 22006, 36–37). Das bedeutet: Der Diskurs hat eine diachronische Dimension. Ein großer Teil beschäftigt sich mit dem, was zuvor gesagt worden ist. Neue Beiträge beziehen sich gewöhnlich direkt oder indirekt auf frühere; sie greifen auf, was andere gesagt haben. (Teubert 2013, 74)
2.1 Differenz Diachronie ist nicht zu verwechseln mit Wandel, wohl aber zwangsläufig mit Wandel verbunden. Wie alle bekannten sozialen Phänomene bleibt auch das diskursiv gebundene Sprechen oder Schreiben nicht über zeitliche Abstände hinweg stabil (vgl. Busse/Teubert 1994, 24). Diese nur scheinbar triviale Feststellung ist die Voraussetzung für die Rede von Diskontinuitäten und Brüchen, die bekanntlich ein besonderes Interesse Foucaults am Diskurs ausmachen. Den diachronen Aspekt benennt Foucault in seinem Begriff der ,Serie‘; er schreibt: Eine diskursive Formation spielt also nicht die Rolle einer Figur, die die Zeit anhält und für Jahrzehnte oder Jahrhunderte einfriert; sie determiniert eine zeitlichen Prozessen eigene Regelmäßigkeit; sie setzt das Artikulationsprinzip zwischen einer Serie von Ereignissen, von Transformationen, von Veränderungen und Prozessen fest. Sie ist nicht zeitlose Form, sondern Entsprechungsschema zwischen mehreren zeitlichen Serien. (Foucault 1981, 109)
Man hat Foucault für seine „Ablehnung von Fragen nach dem Warum und Wie“ (Keller 42011, 17) des Wandels von Wissensordnungen kritisiert. Tatsächlich geht es Foucault – zumindest in dieser Phase seines Werks – um anderes: Statt die lebendige Kraft der Veränderung zu bemühen (als wäre sie ihr eigenes Prinzip), und statt deren Ursachen zu erforschen (als wäre sie zu keiner Zeit etwas anderes als schlicht und einfach Wirkung), versucht die Archäologie das System der Transformationen aufzustellen, worin die ,Veränderung‘ besteht; sie versucht, diesen leeren und abstrakten Begriff zu erarbeiten, um ihm das analysierbare Statut der Transformation zu geben. (Foucault 1981, 246)
Es lässt sich festhalten, dass zeitlich beschreibbare Differenzen dem Diskursbegriff inhärent sind, unabhängig davon, ob man von Veränderungen, Wandel oder Transformationen spricht (Foucault wendet sich explizit gegen irreführende Metaphern wie „Bewegung, Strömen, Evolution“, vgl. Foucault 1981, 246). Mehr noch: Nur aufgrund der Feststellung einer Veränderung (Differenz) ist es überhaupt möglich, von Diskursen zu sprechen. Erst in ihrer Differenz zu hier und jetzt fraglos gültigen Praktiken, Sprechweisen oder Kategorien werden Diskurse als solche in ihrer Wirkung bemerkbar. [D]er opake Konstruktionscharakter von Diskursen [wird] ex post durchschaubar. Die repräsentationale Praxis des Symbolgebrauchs wird als Konstruktionsform in historischer Differenz deutlich. (Warnke 2013, 107)
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2.2 Historizität Aus der Praxis der Bezugnahme von Texten bzw. Äußerungen aufeinander entstehen die Regularitäten, die einen Diskurs erst konstituieren. In diesem Sinne regelt ein Diskurs als eine soziale Praxis, was die Diskursobjekte sind, was darüber gesagt werden kann und wie es gesagt werden kann. Da Sprechen zwangsläufig auch ein Sprechen über bzw. von etwas ist, gibt es kein Sprechen außerhalb von Diskursen. Wer sich also über einen Diskurs äußert, tut auch dies im Rahmen diskursiver Praktiken. Daraus folgt, dass jede Äußerung über einen zeitgenössischen Diskurs selbst Teil dieses Diskurses ist. Aus diesem Problem ist für deskriptiv-analytisches Arbeiten in der Diskursforschung vielfach die Forderung abgeleitet worden, sich ausschließlich mit abgeschlossenen Diskursen zu befassen. Demnach müssen Diskurse, die man analysieren will, ohne selbst dabei zum Diskursakteur zu werden, in ihrer historischen Differenz bestimmt werden (vgl. Ruoff 22009, 34; Palfner 2010, 64; Spitzmüller/ Warnke 2011, 130). Der methodisch angemessene historische Abstand wird in diskurslinguistischen Studien häufig dadurch zu erreichen versucht, dass man für das Korpus nur Daten bis zu einem definierten Zeitpunkt in der Vergangenheit heranzieht. Die zeitliche Eingrenzung ist für die Erstellung eines Korpus ohnehin notwendig, für historische Distanz sorgt sie im Falle von Atomenergie-, Bioethik-, Migrations- oder Wirtschaftskrisendiskursen allerdings nicht automatisch, da diese Diskurse immer noch oder immer wieder aktuell sind bzw. werden. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass die Untersuchung vergangener Diskurse bzw. Diskursausschnitte auf diese Weise nicht möglich und sinnvoll ist. Methodologisch könnte trotzdem folgende Überlegung interessant sein: Auch ein Korpus für synchron angelegte Untersuchungen besteht aus Texten, die innerhalb eines gewissen Zeitraums produziert wurden und folglich chronologisch geordnet werden könnten – wie es Jung ( 22006) für Diskurse postuliert, woraus er ableitet, dass im Diskurs die „Trennung von Längsschnitt- und Querschnittperspektive (Diachronie und Synchronie in der traditionellen linguistischen Diskussion) […] prinzipiell aufgehoben“ (Jung 22006, 37) sei. Die Kritik an einer einseitigen Konzentration auf Synchronie oder Diachronie ist zwar berechtigt, allerdings stellt sich dennoch das Problem, ab wann man nicht mehr von (synchroner) Variation bzw. der Heterogenität von Daten – den Kontroversen und Agonalitäten im Diskurs gilt ja in der Regel ein prominentes Erkenntnisinteresse der Diskursforschung –, sondern schon von (diachroner) Veränderung (Wandel, Transformation) reden möchte. Es handelt sich hierbei zwangsläufig um Setzungen, die umso schwieriger sind, je geringer der historische Abstand zu dem vermeintlich so nicht mehr aktuellen Diskurs ist. Angesichts der Ungleichzeitigkeiten in einem Diskurs und der verschiedenen Geschwindigkeiten, in denen diskursive Prozesse parallel ablaufen (vgl. Blommaert 2005, 126–137), sollte heuristisch gelten, dass erst Zeiträume von mehreren Jahrzehnten überblickt werden müssen, um überhaupt gültige Aussagen über einen Diskurswandel treffen zu können.
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2.3 Kontinuität Die Feststellung von Wandel oder auch von bloßen Differenzen setzt grundsätzlich auch ein gewisses Maß an Kontinuität des betreffenden Gegenstands voraus. Totale Differenz müsste zur Unmöglichkeit sinnvoller Vergleiche führen und jedenfalls könnte man nicht über die Veränderungen ein und desselben Gegenstands reden. Nach Rudi Keller muss „die Identität dessen, wovon behauptet wird, es habe sich gewandelt, gewährleistet“ (Keller 32003, 132) sein. Eine solche Forderung nach Identität mag angehen auf einer sehr abstrakten Ebene, auf der man etwa über die deutsche Sprache redet. In Anbetracht von einander niemals identischen Konstellationen von Zeitpunkt, Akteuren und Kontext, in deren Rahmen Diskurse sprachlich reproduziert werden, wäre es allerdings angemessener, von Kontinuitäten zu reden. Reinhart Koselleck, an dessen Konzept von Begriffsgeschichte sich die diskurstheoretisch informierte Historische Semantik bis heute abarbeitet, spricht in diesem Zusammenhang von der repetitiven Struktur der Sprache. Er schreibt: Man kann Begriffsgeschichte(n) als Wandel von Bedeutungen und Pragmatiken nur thematisieren, wenn man weiß, daß eine ganze Menge anderes sich gleich bleibt und also repetitiv ist. Nur auf dem Hintergrund semantisch und pragmatisch repetitiver Strukturen lassen sich Innovation und geschichtlicher Wandel in Semantik und Pragmatik denken, wahrnehmen und messen. […] Die repetitive Grundstruktur der Sprache und des Verstehens, ihre Wiederholungsstruktur ist Voraussetzung dafür, daß Neues aussagbar wird. (Koselleck 2010, 60)
Die dem Wandelbegriff implizite Kontinuität dürfte unstrittig sein. Es ist allerdings irreführend zu schreiben, dass etwas „sich gleich bleibt“. Vielmehr muss betont werden, dass im Falle einer Kontinuität individuelle oder kollektive Akteure bestimmte Aussagen und Strukturen in hinreichender Ähnlichkeit reproduzieren, wo sie (theoretisch, nicht praktisch) ebenso gut diese Aussagen und Strukturen hätten modifizieren können (vgl. Cherubim 1980, 127; Becker 1996, 124). Dieser Fall ist demnach prinzipiell nicht weniger erklärungsbedürftig als die Diskontinuitäten, was Foucault auch sehr deutlich schreibt: Die Archäologie hält das Kontinuierliche nicht für die erste und letzte Gegebenheit, die über das übrige Aufschluß geben soll; sie meint im Gegenteil, daß das Gleiche, das Wiederholte und das Ununterbrochene nicht weniger Probleme stellen als die Brüche; für sie muß man das Identische und das Kontinuierliche nicht am Ende der Analyse auffinden; sie erscheinen im Element einer diskursiven Praxis; auch sie werden von den Formationsregeln der Positivitäten beherrscht; weit davon entfernt, diese fundamentale und beruhigende Trägheit aufzuweisen, auf die man die Veränderung so gern zurückführt, werden sie selbst aktiv und regelmäßig gebildet. (Foucault 1981, 248)
Kontinuitäten und Diskontinuitäten treten stets in einem Mischungsverhältnis auf; eine Veränderung im Diskurs vollzieht sich weder abrupt, noch sind davon alle Diskursteilnehmer und Teildiskurse gleichermaßen betroffen (vgl. Blommaert 2005, 132–133). Die Reflexion darüber, welchen Grad an Diskontinuität man tolerie-
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ren und dennoch von dem Diskurs X sprechen möchte, oder welche Kontinuitäten man umgekehrt vernachlässigen kann zugunsten der Betonung einer spezifischen Diskontinuität, ist daher grundlegend für jede diskursanalytische Arbeit. Für die meisten Diskursforscher zieht die Beobachtung sich wandelnder Diskurse die Fragen nach dem Warum und dem Wie des Wandels nach sich (vgl. Keller 4 2011, 17; Landwehr 2010). Die Frage nach den Ursachen von Diskurswandel wird in Abschnitt 3.2.2 diskutiert, es sei aber bereits hier erwähnt, dass diese Frage von allgemeinerer theoretischer und methodologischer Relevanz für die Diskursforschung ist. In etwa analog der Unterscheidung von internen und externen Faktoren von Sprachwandel führt die Frage nach den Ursachen nämlich im Falle des Diskurswandels zu der Grundsatzfrage, ob es sinnvoll ist, einen Bereich des NichtDiskursiven zu bestimmen. Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, wird in diskursanalytischen Studien mit unterschiedlichen Beschreibungsebenen gearbeitet, deren Wechselbeziehungen Wandel erklären können. Auf die verschiedenen Ebenen des Wandels geht Abschnitt 3.2.1 ein. Die entsprechenden Fragen und Probleme haben Konsequenzen für die theoretische Fassung des Diskursbegriffs sowie für forschungspraktische Fragen wie etwa der Erstellung eines geeigneten Korpus. Wandel ist also von grundlegender Bedeutung für jede analytische Objektivierung eines diskursiven Arrangements. Hierbei geht es nicht um Beschreibungsadäquatheit in einem absoluten Sinne: Da es sich bei Diskursen nun einmal um analytische, nicht um ontische Einheiten handelt […], stellt sich auch die Frage nach dem diskursiven Wandel zunächst als ein konzeptionelles Problem. (Landwehr 2010, 377)
Die Abschnitte 3.2.1 bis 3.2.3 widmen sich den unterschiedlichen Lösungen für dieses konzeptionelle Problem, wie sie in der aus einem Foucault’schen Diskursbegriff entwickelten Diskursforschung vorgeschlagen und diskutiert werden.
3 Sprachwandel und Diskurswandel Wandelphänomene sind seit der Zeit der Junggrammatiker ein etablierter Gegenstand der Sprachwissenschaft, in der jüngeren Forschung gilt das Interesse etwa dem Abbau bzw. der Renaissance von Dialekten, Grammatikalisierungsprozessen oder den Auswirkungen der sogenannten Neuen Medien. Die Diskurslinguistik hat sich innerhalb der Germanistik aus der Historischen Semantik entwickelt (vgl. Busse/Teubert 1994), die historisch-diachrone Dimension war also auch der diskurslinguistischen Forschung schon eingeschrieben. Zugleich wirkt sich dieser fachgeschichtliche Hintergrund allerdings bis heute in einem Bias für semantischlexikalische Phänomene aus. Erst in den letzten Jahren zeigen sich Entwicklungen (beispielsweise Arbeiten aus dem Projekt „Deutsche Sprache und Kolonialismus“,
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vgl. Warnke/Karg 2013), die dem – auf Tagungen formulierten – Vorwurf einer Syntaxvergessenheit der Diskurslinguistik widersprechen. Vor diesem Hintergrund stellen sich grundsätzliche Fragen sowohl nach dem Zusammenhang von Sprachwandel und Diskurswandel als auch nach dem Verhältnis von (allgemeiner) Sprachwandeltheorie und Diskurslinguistik. Können etwa bestimmte Sprachwandelphänomene (auch) durch Diskurswandel erklärt werden? Sind umgekehrt Entwicklungen von Diskursen, die als sprachlich sich manifestierende Praktiken beschreibbar sind (vgl. Warnke 2013, 113), ohne Veränderungen im Sprachgebrauch überhaupt vorstellbar? Wäre Diskurswandel dann nur eine Ergänzung auf dem Feld disziplinärer Zuständigkeiten (neben morphologischem Wandel, semantischem Wandel, syntaktischem Wandel, Textsortenwandel, etc.) oder sollten vielmehr alle Bereiche von Sprachwandel (auch) aus der Perspektive der Diskurslinguistik beschreibbar sein?
3.1 Sprachwandeltheorie In seiner Genfer Antrittsvorlesung im November 1891 macht Ferdinand de Saussure sehr deutlich, dass die „Wissenschaft der Sprache […] eine historische und nichts als eine historische Wissenschaft“ (Saussure 1997, 248) sei. Er führt aus: Je mehr man die Sprache [›langage‹] studiert, um so mehr kommt man dazu, sich von der Tatsache zu überzeugen, daß alles in der Sprache [›langue‹] Geschichte ist, das heißt, daß sie ein Gegenstand historischer und nicht abstrakter ‹Analyse› ist, daß sie aus Tatsachen und nicht aus Gesetzen besteht, daß alles, was in der Sprache [›langage‹] organisch scheint, in Wirklichkeit kontingent und völlig zufällig ist. (Saussure 1997, 248)
Bekanntlich wurde für die Linguistik nach Saussure eine scharfe Trennung von Synchronie und Diachronie prägend, wie sie in dem nicht von Saussure, sondern von Albert Sechehaye und Charles Bally verantworteten „Cours de linguistique générale“ (vgl. Jäger 2010, 164) vorgestellt wird. Die strukturalistische Sprachwissenschaft bevorzugte entgegen der theoretischen Überzeugungen de Saussures (vgl. Jäger 2010, 183–186) die synchrone Beschreibung von Sprache als einem abstrakten System und marginalisierte die diachrone Dimension. Gegen eine „Synchronie der Positivitäten“ (Foucault 1981, 236) wendet sich dann auch Foucault. Er fordert einen genaueren Blick auf Veränderungen und Transformationen; in seinem archäologischen Programm gibt [es] also wohl […] eine zeitweilige Aufhebung zeitlicher Folgen − genauer gesagt der Zeitrechnung der Formulierungen. Aber diese Aufhebung verfolgt genau den Zweck, Beziehungen erscheinen zu lassen, die die Zeitlichkeit der diskursiven Formationen charakterisieren und die sie in Serien gliedern, deren Überschneidung die Analyse nicht behindert. (Foucault 1981, 237)
Innerhalb der Sprachwissenschaft hatte sich allerdings mittlerweile die sogenannte Pragmatische Wende vollzogen und die Soziolinguistik etabliert. Diese hatten so-
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wohl eine Abkehr von der traditionellen synchron-strukturalistischen Sprachbeschreibung zur Folge als auch Konsequenzen für die Sprachgeschichtsschreibung. Das Standardwerk „Deutsche Sprachgeschichte“ (v. Polenz 1991) stellt Sprachwandel gerade nicht als Abfolge von Synchronien dar, sondern betreibt Sprachgeschichte als „Beitrag zur Sozial- und Kulturgeschichte“ (Busse/Teubert 1994, 11). Sprachgeschichte bzw. -wandel lassen sich offensichtlich nicht angemessen beschreiben ohne die Berücksichtigung des Sprachgebrauchs in seinen sozialen und historischen Kontexten. Rudi Keller legt 1990 eine Sprachwandeltheorie vor (vgl. Keller 32003), die die Makroebene des überindividuellen Sprachsystems mit der Mikroebene des intentionalen sprachlichen Handelns einzelner Akteure in Verbindung bringt und in dieser Hinsicht bis heute wegweisend ist. Keller beschreibt die sprachlichen Strukturen, die das sprachliche Handeln reproduziert bzw. modifiziert, als eine nicht intendierte, kausale Folge aus einer Vielzahl individueller Handlungen, als ein Ergebnis eines „Invisible-Hand-Prozesses“ (vgl. Keller 32003, 92–93 u. 101). Mit einer Formulierung von Haspelmath (2002, 263) könnte man auch sagen: „Grammatik entsteht als Nebenprodukt des Sprechens in der sozialen Interaktion.“ Dass sich etwa bekommen zu einem Passivauxiliar entwickeln konnte, war von keinem Sprecher intendiert. Es ergab sich als kausale Konsequenz aus einer Vielzahl von Verwendungen, in denen unter anderem der Interpretationsspielraum von Partizipformen für Implikaturen ausgenutzt wurde (vgl. Szczepaniak 2 2011, 155). Die Notwendigkeit zur Berücksichtigung sowohl der Mikro- als auch der Makroebene wird deutlich etwa bei einer Beschreibung des öffentlich-politischen Wortschatz[es], bei dem es um Durchsetzung von Wirklichkeitsinterpretationen und um Einflüsse auf den Wortgebrauch geht. (Wengeler 2002, 83)
Der Ansatz der Invisible-Hand-Erklärung betont die „Nichtsteuerbarkeit der Sprache, ohne das soziale Element auszuklammern“ (Jung 1994, 212). Trotz dieser Anschlussmöglichkeiten wird die Sprachwandeltheorie von Rudi Keller innerhalb der Diskursforschung vergleichsweise wenig rezipiert (vgl. Warnke 2000; Wengeler 2002). Jüngst formuliert Wolfgang Teubert die Anschließbarkeit explizit: Der Diskurs sei ein ,Phänomen der dritten Art‘, weder den Naturgesetzen noch menschlicher Agentivität unterworfen, wie es schon Rudi Keller […] in seiner Theorie des Sprachwandels formuliert hat. (Teubert 2013, 55)
Die Metapher der unsichtbaren Hand ist mit Recht kritisiert worden (vgl. v. Polenz 1995, 61; Ladstätter 2004, 81), doch die Herausforderung bleibt auch für die Diskursanalyse, weder die Eigenmächtigkeit des Diskurses noch die Einflussmöglichkeit des einzelnen Akteurs zu überschätzen (vgl. Jung 1994, 239). Beide Aspekte in angemessener Weise zu verbinden, führt bei der Beschreibung von Wandel fast zwangsläufig auch zu einer Auflösung der Trennung von Synchronie und Diachronie, weil die Momentaufnahme sprachlicher (oder diskursiver) Strukturen nur als
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historisches Ergebnis individueller Handlungen erfasst und die einzelne Handlung nur vor dem Hintergrund ihrer vorgängigen Möglichkeitsbedingungen gesehen werden kann. Der Begriff der Innovation hat sich als brauchbar erwiesen für die Beschreibung komplexer Wandelprozesse, da Innovationen zwischen Mikro- und Makroebene vermitteln. Der Terminus Innovation wird in vielen sprachwandeltheoretischen Arbeiten gebraucht (vgl. Coseriu [1958] 1974, 58; Cherubim 1980, 139; Keller 3 2003, 140; Girnth 2000, 53), allerdings zumeist nur vage bestimmt. Innovationen können in einer sehr allgemeinen Verwendung des Terminus als Ausgangspunkt von Veränderungen gelten. Sprache ist veränderbar, weil sie grundsätzlich auch innovativ benutzt werden kann: Zur Sprachkompetenz der Sprachbenutzer gehört – neben der Fähigkeit zur Anwendung des gespeicherten üblichen Sprachinventars – auch eine Fähigkeit zum kreativen und phantasievollen Sprachgebrauch. (v. Polenz 1991, 37)
Da ein innovativer Gebrauch von Sprache (Mikroebene) noch lange kein Sprachwandel (Makroebene) ist, muss zwischen dem innovativen (sprachlichen) Handeln, dessen Wahrnehmung und Rezeption als einer Innovation sowie schließlich der (modifizierenden) Verbreitung bzw. Diffusion unterschieden werden (vgl. v. Polenz 1995, 45–46; Albert 2013, 14–31). Im Gegensatz zu Fehlern können innovative Handlungen motiviert sein und müssen, um tatsächlich zu einer Innovation zu werden, von den rezipierenden Akteuren positiv sanktioniert werden. Innovativität ist demnach eine Qualität, die einem Sprachgebrauch – etwa einer Wortbildung oder auch der bereits erwähnten Verwendung von bekommen als Passivauxiliar – erst zugeschrieben wird und sich dann in der Diffusion bestätigt. Innovationen, verstanden als positiv rezipierte und anschließend verbreitete Abweichungen vom konventionalisierten Sprachgebrauch, können prinzipiell auf allen linguistischen Beschreibungsebenen Sprachwandel erklären und sind nicht auf die Semantik und Lexik beschränkt. Eine sprachliche Innovation setzt eine formale oder eine semantische bzw. funktionale Abweichung im Sprachgebrauch voraus. Eine solche Abweichung kann auch in der Übertragung bereits existierender Formen oder Verwendungsweisen aus anderen Kontexten bestehen. Für Sprachwandel besonders relevant sind hier der Transfer zwischen Standard und Nonstandard (z. B. Dialekt), zwischen Fachsprache und Alltagssprache, zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie zwischen verschiedenen Nationalsprachen. Um rezipierbar zu sein, muss eine Innovation grundsätzlich ein Mischungsverhältnis von Bekanntem, Wiederholendem einerseits und Abweichendem andererseits aufweisen.
3.2 Wandelkonzepte in der Diskursforschung Aus Arbeiten, die sich implizit oder explizit mit diskursiven Wandelphänomenen befassen, lassen sich Konzeptualisierungen von Wandel ableiten, die unterschied-
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liche Beschreibungsebenen und potentielle Ursachen für Wandel betreffen. Schließlich stellt sich die Frage nach möglichen Periodisierungen oder Differenzierungen des heterogenen, diachronen Gegenstands Diskurs.
3.2.1 Ebenen des Wandels Politische Systeme, soziale Werte, wirtschaftliche Marktbeziehungen, Mode oder sprachliche Strukturen verändern sich und beeinflussen sich auch gegenseitig in ihren Entwicklungen. Der Sprache kommt hierbei eine besondere Rolle zu, da auch die nicht-sprachlichen sozialen Phänomene nur sprachlich vermittelt erfassbar sind. Um daher nicht jedes menschliche Handeln dem sprachlichen Handeln unterzuordnen, fordert etwa Koselleck (2010, 33), Sprache und Geschichte analytisch voneinander getrennt zu halten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der Diskurs als ein weiteres Element neben Politik, Geschichte, Mode, etc. eingereiht werden kann. In diesem Sinne argumentiert Keller (2010, 69–70): Anschließend nähere ich mich dem Thema des Wandels durch Diskurse anhand des Verhältnisses von Diskurs, Ereignis und sozialen Akteuren. Eine solche Ausrichtung der Diskursperspektive impliziert, die schwierige, aber analytisch hilfreiche Unterscheidung von Diskursivem und Nicht-Diskursivem beizubehalten und nicht das Soziale selbst zum Diskurs zu hypostasieren.
Damit ist die Grundsatzfrage (vgl. Landwehr 2010, 383) angesprochen, ob ein Bereich des Nicht-Diskursiven bestimmbar ist bzw. ob nicht-diskursive Ursachen für Diskurswandel in Frage kommen. Die Unterscheidung von Diskurs und Nicht-Diskurs führt zu unterschiedlichen Bestimmungen dessen, was dem Diskurs gegenüberzustellen sei. Bei Keller (2010) sind dies Ereignisse und soziale Akteure. Diese Unterscheidung ist deshalb so schwierig – wie Keller selbst schreibt –, weil ein Geschehen nur innerhalb einer diskursiven Praxis zum Ereignis werden kann (vgl. Keller 2010, 82), indem es benannt und somit objektiviert und in der Folge sprachlich bearbeitet wird. In ähnlicher Weise gilt für „soziale Akteure“, dass sie sozial nur handeln können, insofern und indem sie kommunikativ handeln. Ihren Handlungsspielraum aber erhalten Akteure durch ihre Subjektivierung (,Unterwerfung‘) innerhalb einer diskursiven Ordnung (vgl. Butler 1998, 9; siehe auch Albert 2008, 166–167). Viele diskurslinguistische Arbeiten unterscheiden analytisch – wie es auch Koselleck einfordert – zwischen politischer Geschichte und Diskurs (vgl. Kämper 2005), manchmal ist auch nur vage von „Randbedingungen“ oder „Kontextbedingungen“ die Rede, die selbst nicht zum Diskurs gehören (vgl. Hopfer 1994, 125; Angermüller/Scholz 2013, 294). Schäfer (2010) unterscheidet eine diskursive, institutionelle, körperliche und eine materielle Dimension. Diese Trennungen von diskursiven und nicht-diskursiven Aspekten komplexer Zusammenhänge mögen im
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Einzelfall sinnvoll sein, um etwa semantische Kämpfe nachzuzeichnen, bei denen es um die Benennung und Deutung ,derselben‘ Sache geht. Lotto-Kusche (2016, 258) kann beispielsweise zeigen, dass eine lexikalische Veränderung (Sinti und Roma verdrängen den Ausdruck Zigeuner) nicht automatisch mit einer besseren Wahrnehmung oder Behandlung der entsprechend bezeichneten Personen einhergeht. Zu bedenken bleibt allerdings: Was außerhalb des Diskurses ist, hat keine Bedeutung. Wir können den Sinn, den unsere erlebte Wirklichkeit für uns hat, nur erfassen, wenn wir sie in Diskursen, in die wir eingebunden sind, dingfest machen. Denn Sinn entsteht nur, indem wir ihn gemeinsam vereinbarten sprachlichen Zeichen zuschreiben. (Teubert 2013, 57)
Nimmt man dieses epistemologische Bekenntnis ernst, wird eine Bestimmung des Nicht-Diskursiven problematisch – allein schon deswegen, weil man über das Nicht-Diskursive gar nicht sprechen kann. Wenn sprachliche Ausdrücke nicht – wie es eine naive Repräsentationstheorie modellieren würde – unabhängig existierende Gegenstände in der Welt bezeichnen, dann gibt es auch keine Ereignisse oder Akteure unabhängig von ihrer sprachlichen und somit diskursiv gebundenen Bearbeitung. An Foucault anschließend formuliert das Warnke (2013, 101) so: Aussagen verweisen also in ihrer diskursiven Gebundenheit nicht nur auf sogenannte außersprachliche Wirklichkeiten, sondern sie schaffen diese.
Demnach ist eine Trennung von Diskurs und Nicht-Diskurs nicht durchzuhalten (vgl. auch Palfner 2010; Teubert 2013, 63). Für Sozial- und Geschichtswissenschaftler hat das die (vielleicht unangenehme) Konsequenz, dass sie mit denselben Problemen von Objekt- und Metasprache konfrontiert sind wie Sprachwissenschaftler auch. Der Verzicht auf eine Bestimmung des Nicht-Diskursiven darf nicht mit einem radikalen Relativismus gleichgesetzt werden, demzufolge alles ,nur‘ Diskurs sei. Es ist letztlich die einfache methodologische Konsequenz aus der Entscheidung, mit dem Terminus Diskurs zu operieren, wie ihn Foucault geprägt hat: Wenn ,Diskurs‘ der Name ist, den wir derjenigen Analyseeinheit geben, mit der historisch bestimmbare und soziokulturell geprägte Formen des Wissens und der Wirklichkeit erfasst werden, dann ist nach meinem Dafürhalten nicht einzusehen, wo und wie man einen Bereich bestimmen könnte, der nicht dazu beitrüge, diese Wissensformen und diese Wirklichkeiten zu formen. Praktiken tun dies ebenso wie Gegenstände oder Texte. (Landwehr 2010, 383)
Wandel von oder in Diskursen lässt sich demnach sinnvoll nur auf der Ebene des Diskurses selbst beschreiben. Praktiken, Ereignisse, Handlungen, etc. müssen dann in ihrer diskursiven Konstituiertheit und in ihrem diskursiven Kontext betrachtet werden. Für die sprachwissenschaftlich orientierte Diskursforschung kann somit gelten:
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Einen Diskurs als soziale Praxis jenseits der Sprache gibt es nicht. Diskurslinguistik untersucht daher die sprachliche Positivität der sozialen Praxis des Diskurses. (Warnke 2013, 113; vgl. auch Koselleck 2010, 62)
Ohne eine Ebene des Nicht-Diskursiven, die Wandel erklären kann, bleibt nichts anderes übrig als der Versuch, die Emergenz (vgl. Bänziger 2010) von Wandel aus den diskursiven Konstellationen und Heterogenitäten selbst zu erklären (vgl. auch die Abschnitt 3.2.3 und 4).
3.2.2 Ursachen für Wandel Falls man einen Bereich des Nicht-Diskursiven annimmt, liegt es nahe, auch dort die Ursachen für diskursiven Wandel zu suchen. Dass äußere Tatsachen einen Diskurswandel kausal verursachen, ist ein intuitiv plausibles, einfaches Modell. Als solche äußeren Faktoren kommen historisch-politische oder soziale Ereignisse (vgl. Kämper 2005; Hopfer 1994; Keller 2010; Piwoni 2012) oder einfach die beteiligten Akteure (vgl. Groh/Groh 1997; Keller 2010; Link 2012) in Frage. Bereits in der traditionellen Sprachgeschichtsschreibung ohne diskurstheoretischen Hintergrund geht man wie etwa die Forschergruppe um Georg Stötzel von Wechselbeziehungen zwischen Sprachentwicklung und politischer Geschichte aus – Wie diese Wechselbeziehung aber genau zu bestimmen ist, muß weitgehend offen bleiben. […] Sprachliche Phänomene werden eher als Indikatoren für politische Entwicklungen und Einstellungen von politisch Handelnden gesehen, als daß politische Diskurse als Indizien für Sprachveränderungen interpretiert würden. (Wimmer 1996, 405)
Beispiele für politische oder soziale Faktoren für Diskurswandel finden sich in einer Vielzahl empirischer Studien. Keller (2010, 78–85) weist die Generierung neuer Institutionen wie dem Pfand, dem „Grünen Punkt“ und den Weltklimagipfeln als Auslöser für eine Veränderung der Umwelt- und Risikodiskurse aus. Das Auftreten von Nicht-Regierungs-Organisationen als neuen Diskursakteuren hat einer Studie von Bänziger (2010) zufolge den Aids-Diskurs der 1980er Jahre beeinflusst. Wissenschaftliche Ereignisse wie die „Entdeckung“ eines neuen Gens (vgl. Palfner 2010), gesellschaftspolitische Ereignisse wie die politische Wende von 1989 (vgl. Hopfer 1994), die Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945 (vgl. Kämper 2005) oder die 1968er-Bewegung (vgl. Kämper/Scharloth/Wengeler 2012, 6) können Diskurse neu ausrichten und neu ordnen. Zum Status solcher Wandelauslöser schreibt Foucault (1981, 238): Die Archäologie leugnet nicht die Möglichkeit neuer Aussagen in Korrelation zu ,äußeren‘ Ereignissen. Ihre Aufgabe ist zu zeigen, unter welcher Bedingung es zwischen ihnen eine solche Korrelation geben kann und worin sie genau besteht (welches ihre Grenzen, ihre Form, ihre [sic] Kode, ihr Gesetz der Möglichkeit sind).
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Für die Diskurslinguistik ist hier relevant, welche Rolle die Sprache in solchen Korrelationen spielt, wie Sprachwandel und Diskurswandel zusammenhängen, und welche konkreten sprachlichen Merkmale auf welche Weise betroffen sind. Die bisherige Forschung hat dabei ihren Schwerpunkt auf die semantisch-lexikalische Ebene und, seltener, auf Textsortenwandel gelegt (vgl. Busse/Teubert 1994; Kämper 2008; Kämper/Scharloth/Wengeler 2012; Angermüller/Scholz 2013). Veränderungen des Sprachsystems und des Sprachgebrauchs können ohne Annahmen über einen Bereich des Nicht-Diskursiven in eine Diskursanalyse integriert werden, sie finden im Rahmen diskursiver Praktiken statt. Manifeste Veränderungen im Sprachgebrauch sind aber in der Regel nicht als Ursachen für Diskurswandel, sondern als Merkmal desselben zu interpretieren. Einzelne Sprachzeichen können ohnehin keine dynamischen Wirkungen entfalten, sondern „vielmehr der Streit um sie“ (Jung 1994, 234). Wie auch bei der Diskussion anderer möglicher Ursachen (Akteure, Ereignisse) besteht bei der Konzentration auf lexikalische „Ereignisse“ eine gewisse Gefahr monokausaler Erklärungsansätze. Zu Recht stellt Schäfer (2010, 125) heraus: Es kann keine im strengen Sinne ursächlichen Erklärungen für Wandel geben, sondern immer nur Beschreibungen von lokalen Transformationen und relativen Innovationen.
Innovation ist eine handlungstheoretische Kategorie. Von einer bloßen Neuerung unterscheidet sich die Innovation einerseits dadurch, dass sie auf eine positive Wahrnehmung (Rezeption) angewiesen ist, andererseits durch die Verbreitung (Diffusion), die sie in jedem Fall erfahren muss, damit von Innovation gesprochen werden kann (vgl. Abschnitt 3.1). Innovationen kann es nicht geben ohne handelnde, d. h. einerseits innovative Akte vollziehende sowie andererseits etwas als Innovation rezipierende Akteure. Als Diskurssubjekte sind die Akteure daher sicher mehr als „dezentralisierte Relaisstationen“, die laut Teubert (2013, 55) den Diskurs durch ihre symbolischen Interaktionen vorantreiben. Das Unergründliche ihrer inneren Verfassung ist ursächlich für einen Output, der die Elemente des Inputs unvorhersehbar permutiert, rekombiniert und variiert und so immer Neues schafft.
Die Unergründlichkeit des Inneren von Diskurssubjekten sollte nicht dazu führen, den Diskurs selbst als Agens zu hypostasieren. Vielmehr ist der dialektische Charakter von Diskurs zwischen Praxis und Arrangement anzuerkennen (vgl. Warnke 2013, 107). Eine solche Konzeptualisierung von Diskurs ist ohne weiteres anschlussfähig an die Unterscheidung von Mikro- und Makroebene bei Rudi Keller und setzt sich nicht dem Vorwurf aus, die „Eigenmächtigkeit [von Akteuren] gegenüber den strukturellen Bedingungen zu behaupten“ (Bänziger 2010, 32). Eine differenzierte Auffassung der Handlungsmacht von Akteuren beinhaltet, dass Akteure Wandel anstoßen und auslösen, nicht aber durchsetzen können (vgl. LotzHeumann 2010, 287).
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3.2.3 Theoretische Integration von ,Wandel‘ in der Diskursforschung Die Wandelbarkeit von Diskursen ist von theoretischer Bedeutung auch für diskursanalytische Studien, die sich nicht explizit mit Wandelphänomenen befassen (vgl. Abschnitt 2). Die (auch diachrone) Heterogenität von Diskursen wirft die Frage nach Binnendifferenzierungen auf. Zur terminologischen Differenzierung sind Bezeichnungen wie Diskursstrang, Diskursphase, diskursive Formation, Teildiskurs und Gegendiskurs gebräuchlich (vgl. u. a. Siehr/Seidel 2009; Schäfer 2010; Dreesen 2012; Lenz 2012). Dass solche Differenzierungen nicht trivial sind, zeigt beispielhaft die Arbeit Wengeler/Ziem (2010, 349), wo „in beiden Diskursen“ das „semantische Feld ‚Wachstum‘“ nachgewiesen wird, nachdem unmittelbar zuvor vom Wandel „des“ Krisen-Diskurses die Rede war. Es wäre verfehlt, in Bezug auf diskursive Arrangements von einem simplen Vorher und Nachher auszugehen (vgl. Landwehr 2010, 378). In Saussures Notizen zu seiner Genfer Antrittsvorlesung findet sich folgende Überlegung zum Verhältnis von Französisch und Latein: Wir stellen uns dann sehr gerne vor, daß es zwei Dinge gibt, von welchen das eine die Nachfolge [›succession‹] des andern übernommen hat. Nun, daß es Nachfolge gibt, das ist unzweifelhaft, aber daß es zwei Dinge gibt ‹in dieser Wissenschaft›, das ist ‹falsch, radikal› falsch und ‹gefährlich falsch, wegen all der Auffassungen, die daraus folgen›. (Saussure 1997, 252)
Saussure entwirft daraufhin die Metapher einer sehr langen Straße, der man einen einzigen Namen geben oder sie in unterschiedlich benannte Strecken aufteilen könne. Die unterschiedene Existenz jeder dieser Teilstrecken ist natürlich etwas rein Nominales und Fiktives; es ist also nicht angebracht, zu fragen, wie der Boulevard Y zum Boulevard X wird, ‹noch ob der Boulevard Y plötzlich oder unmerklich zum Boulevard X wird›, denn zunächst gibt es nirgends einen Boulevard Y oder Boulevard X, es sei denn in unserem Geist. (Saussure 1997, 267–268)
Akzeptiert man diese Überlegung, so kann es nicht darum gehen, durch intensive Analyse des Diskurses herauszufinden, wann genau und aufgrund welcher Texte der Diskurs in seiner Totalität ein anderer geworden ist. Es ist allerdings sinnvoll, eine Binnendifferenzierung in Abhängigkeit von den jeweiligen Untersuchungsinteressen vorzunehmen, um so etwa den agonalen Charakter eines Diskurses oder die spezifisch politischen und sozialen Dimensionen seiner historischen Entwicklung zu rekonstruieren. Hierfür sind Kriterien der Differenzierung notwendig, die sich auf die Materialität des Diskurses beziehen sollten, was prominent sprachliche Äußerungen aller Art, aber auch Bilder, Videos, Architektur, etc. einschließt. In Arbeiten, in denen tatsächlich von einem einzelnen, binnendifferenzierten Diskurs statt von mehreren aufeinanderfolgenden Diskursen ausgegangen wird, analysiert man veränderte Begriffsbeziehungen, semantische Netze, Lexembedeutungen und Aussagengefüge, den Wandel von Textsorten und Themen sowie die Konstellation
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der Diskurssubjekte bzw. Subjektpositionen und kann diese auf einzelne Diskursphasen oder -stränge beziehen (vgl. Busse/Teubert 1994; Kämper 2008). Eine einfache Modellierung (wie etwa das Würfelmodell, vgl. Jung 22006) erweist sich insofern als problematisch, als sich Teildiskurse niemals trennscharf bestimmen lassen und es immer zu Überschneidungen kommt (vgl. Lenz 2012, 49) – die Straße kann nur willkürlich in verschieden benannte Boulevards eingeteilt werden. Dies hängt zusammen mit der bereits erwähnten Heterogenität von Diskursen. Im Diskussionswortschatz einer pluralistischen Gesellschaft kommt es notwendigerweise zu komplexen, widersprüchlichen Prozessen von Vereinnahmung und Polarisierung, Differenzierung und Ausgleich, Ab- und Aufwertung, Abnutzung und Wiederbelebung, kreativer Bedeutungsübertragung und fachorientierter Re-Terminologisierung, die im engen Zusammenhang mit außersprachlichen, allerdings verbal vermittelten Ereignissen stehen. (Jung 1994, 198)
Multiperspektivität und Instabilität sind konstitutiv für Diskurse, weshalb auch agonale und anachronistische Elemente terminologisch ein und demselben Diskurs zugerechnet werden sollten. Die Berücksichtigung der Heterogenität trägt der Wandelbarkeit und dem faktischen Wandel von Diskursen Rechnung, ist aber umgekehrt auch ein plausibler Ansatz zur Erklärung von Diskurswandel. Sozialer Wandel vollzieht sich im Diskurs. Er kann sich entfalten, wenn der Diskurs plurivokal, vielstimmig ist. Denn jeder neuerliche Beitrag verweist dadurch, dass er rekurrente Textsegmente benutzt, auf bereits Gesagtes und fügt diesem durch die Einbettung in einen neuen Kontext etwas so bisher nicht Gesagtes hinzu. (Teubert 2013, 69)
Die Beiträge, wie Teubert sie nennt, werden von Akteuren produziert, die Subjekt eines bestimmten Diskurses sein müssen, damit ihre Äußerungen im jeweiligen Diskurs als Beitrag rezipiert werden können. Akteure sind aber in aller Regel nicht nur Subjekt eines Diskurses, sondern nehmen unterschiedliche Subjektpositionen in mehreren Diskursen ein (z. B. in Alltags- und Fachdiskursen). Dies ist ein entscheidender Faktor dafür, dass ein Diskurs nicht nur perpetuierend reproduziert wird, sondern sich tatsächlich entwickelt (vgl. Albert 2008, 159). Aus dem kontingenten Zusammentreffen verschiedener Perspektiven in einem Diskurs resultiert Dynamik (dazu genauer Abschnitt 4). Man könnte diesen Aspekt als Interdiskursivität bezeichnen. Integriert man eine solche Überlegung in die Diskurstheorie, lassen sich Erklärungen vermeiden, die darauf abstellen, dass es nicht zum Diskurs gehörige bzw. nicht vom Diskurs geprägte Elemente gäbe, die den Diskurs „von außen“ beeinflussen.
4 Status von Innovationen im Diskurs Die Gegenüberstellung von Sprachwandel und Diskurswandel zeigt, dass in beiden Fällen der Terminus Innovation als ein Schlüsselbegriff dienen kann. Sprachliche Innovationen treten grundsätzlich in Diskursen auf, da jedes Sprechen diskursiv
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gebunden ist. Somit haben sprachliche Innovationen prinzipiell auch ein innovatives Potential in Bezug auf die Ordnung des Diskurses, in dem sie hervorgebracht werden. Hier wird man von vorneherein Entwicklungen sprachlicher Formen, die lediglich morphologische Strukturen betreffen, hinsichtlich ihrer diskursiven Relevanz eher vernachlässigen können. Für den Diskurs sind in erster Linie lexikalische, syntaktische, semantische und pragmatische Innovationen von Bedeutung. Doch was qualifiziert die angenommene Neuheit gegenüber einer ebenso vorausgesetzten alten Ordnung? Oder anders formuliert: Was konkret wandelt sich in welcher Intensität und wodurch charakterisiert sich ,das Neue‘? (Palfner 2010, 53)
Der Diskurs bedarf seiner ständigen Reproduktion: „Er hat irgendwann begonnen und hört erst auf, wenn es keine neuen Beiträge mehr gibt“ (Teubert 2013, 138). Der größte Teil diskursiver Hervorbringungen besteht aus Wiederholungen, die nur unwesentliche Variationen von bereits Geäußertem darstellen. Für Foucault sorgt dieses Prinzip nicht nur für Reproduktion und somit auch Ausdehnung des Diskurses, sondern stellt zugleich ein Prinzip der Verknappung dar. Die offene Vielfalt und das Wagnis des Zufalls werden durch das Prinzip des Kommentars von dem, was gesagt zu werden droht, auf die Zahl, die Form, die Maske, die Umstände der Wiederholung übertragen. Das Neue ist nicht in dem, was gesagt wird, sondern im Ereignis seiner Wiederkehr. (Foucault 2003, 20)
Nichtsdestoweniger sind es diese Wiederholungen, die prinzipiell die Möglichkeit von Veränderung und langfristig Wandel in sich bergen. Die Reproduktion stabilisiert den Diskurs und setzt ihn zeitlich fort, doch sie muss als Äußerung in einem spezifischen Kontext immer auch modifizierend sein, sei es auch in einem noch so geringen Maße. Daher lässt sich sagen, dass jeder Diskurs „prekär stabilisiert“ (Keller 2010, 83) ist. Man hätte es ansonsten ja mit historischen Konstanten zu tun, was gerade nicht das ist, was eine Diskursanalyse in der Regel zeigt. Zu dieser diachronen Instabilität kommt der Aspekt der Variabilität hinzu, der sich aus der Beteiligung vieler unterschiedlicher Subjektpositionen ergibt: Daraus folgt, dass ebenso wenig wie eine Gesellschaft homogen sein kann, auch deren Diskurs in vielen Stimmen spricht. Tut er das nicht, dann hat er seine evolutionäre Kraft verloren. (Teubert 2013, 69–70)
Wie können aber einzelne Stimmen zum Motor für Wandel (vgl. Landwehr 2010, 16) werden? Offenbar bedarf es für Wandel einer anderen innovativen Qualität als jener, die in den modifizierenden Reproduktionen eines Diskurses ohnehin gegeben ist. Hierfür ist die Figur des Umbruchs vorgeschlagen worden. Umbruch ist ja sozusagen gerade das Gegenteil von Epoche oder Periode. Umbruch setzt Entwicklungen in Gang, ist als Beginn, als Anstoß, als Motiv von Prozessen zu verstehen, der die Phänomene solcher Entwicklungen und Prozesse noch gar nicht aufweisen und bewerten kann. (Kämper 2005, 111)
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Die Sprachgebrauchsweisen, die einen solchen Umbruch realisieren, müssen „einerseits erstmals auftreten“ und „andererseits die nachfolgende sprachliche Wirklichkeit nachhaltig prägen“ (Kämper 2005, 487). Beide Kriterien sind nicht von den Intentionen eines Diskurssubjekts abhängig, das eine Äußerung produziert, wohl aber vom Handeln einer kritischen Masse von anderen Subjekten – den Rezipienten (vgl. Teubert 2013, 74). Die Rezeption einer Äußerung oder einer Handlung innerhalb eines Diskurses entscheidet über deren Status als einer Innovation in eben diesem Diskurs, mithin auch über deren Potential, einen Umbruch zu realisieren und langfristig zu einem Wandel beizutragen. Für eine Innovation gilt analog, was Keller (2010, 82) von einem Ereignis feststellt: „Ein Geschehen wird zu einem gesellschaftlichen Ereignis immer im Rahmen eines existierenden Diskursuniversums“. Setzt man diesen Gedanken konsequent fort, so heißt das nicht, dass es jenseits des Diskurses nichts gibt. In kognitiven Kategorien erfassbar, handlungsrelevant, potentiell diskursverändernd wird etwas aber immer erst in und durch einen Diskurs. Es gibt daher keine historischen, politischen oder sozialen Ursachen von Diskurswandel, die außerhalb von Diskursen auf diese wirken – vielmehr können sie selbst bzw. deren sprachliche Bearbeitung innerhalb des Diskurses als innovativ rezipiert werden und in der Folge zu Diskurswandel führen. Es ist daher grundlegend, einen Diskurs nicht nur als bloße Aneinanderreihung von Äußerungen (diachrone Intertextualität), sondern auch als ein interaktives Geschehen zu begreifen: Innovative Ideen sind nicht selten das Ergebnis kontingenter Interaktion. Sie mögen uns individuell anfliegen; aber ob sie tragfähig sind, zeigt sich ausschließlich in ihrem Erfolg, also darin, ob sie und wie sie von nachfolgenden Gesprächsbeiträgen aufgenommen werden. Was sie erfolgreich macht, können wir nicht wissen. (Teubert 2013, 55–56)
Da die Wahrnehmung der Akteure diskursiv geprägt ist, stellt sich die Frage, wie in dem steten Strom von sowohl fortsetzender als auch modifizierender Reproduktion jemals eine Äußerung als innovativ rezipiert werden bzw. wieso nicht jede Reproduktion einfach im etablierten Rahmen und ohne anschließende Diskursveränderung wahrgenommen werden kann. „In Diskursen erscheinen also Substrate verfestigten Wissens neben innovativen Konzepten“ (Warnke 2013, 106). Woher kommt der Input für innovative Konzepte? Schließt man die Konstruktion eines Bereichs des Nicht-Diskursiven innerhalb einer Diskursanalyse aus, ist das „Außen“ eines Diskurs leicht zu bestimmen: Es sind andere Diskurse. Akteure handeln als Subjekte in unterschiedlichen diskursiven Zusammenhängen (vgl. Abschnitt 3.2.3), Diskurse kreuzen sich in der Regel mit anderen Diskursen. Aufgrund dieser Interdiskursivität können Zusammenhänge hergestellt, Vergleiche gezogen oder Übertragungen vorgenommen werden, die im jeweiligen Diskurs als innovativ wahrgenommen werden und diesen Diskurs verändern. Die Frage nach der objektiven Neuheit dessen, was in einem Diskurs den Status einer Innovation erhält, stellt sich nicht. Das Neue ist ein Diskurseffekt.
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Interdiskursive Dynamik und intradiskursive Instabilität sind angemessene Konzepte zur Vermeidung von monokausalen Erklärungsansätzen für Diskurswandel und kommen ohne Annahmen über einen Bereich des Nicht-Diskursiven aus. Instabilität und Variabilität des plurivokalen Diskurses sind die Möglichkeitsbedingungen für Innovationen. Die Innovation kommt erst aufgrund ihrer Rezeption zustande, wobei eine Diskursanalyse zu beschreiben hat, was in einem spezifischen Diskurs in welcher diskursiven Konstellation und in welchem Sinne als innovativ rezipiert wurde. Die sich anschließende Diffusion und Modifikation der Innovation kann in der Folge als ein Aspekt von Diskurswandel beschrieben werden, allerdings sollte man nicht davon ausgehen, dass eine Innovation den Wandel des gesamten Diskurses direkt verursacht (vgl. Schäfer 2010, 125). Wandel entsteht in gewissem Sinne tatsächlich aus dem Diskurs selbst heraus und nicht aufgrund äußerer, nicht-diskursiver Ursachen. Allerdings emergiert Wandel nicht aus einem einzelnen Diskurs, sondern ergibt sich als Folge von Interdiskursivität.
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Stefan Meier
18. Diskurslinguistik und Online-Kommunikation Abstract: Der vorliegende Beitrag macht deutlich, inwiefern diskurslinguistische Forschung von Online-Kommunikation den spezifischen medialen Bedingungen digitaler und vernetzter Medialität theoretisch sowie methodisch Rechnung tragen sollte. Er stellt zunächst die immer stärker werdende Rolle der Online-Kommunikation in gesellschaftlichen Diskursen und damit in der kollektiven Wissenskonstituierung dar. Im nächsten Schritt zeigt er die methodischen Herausforderungen auf, die mit der diskurslinguistischen Beschäftigung mit Online-Kommunikation erwachsen. Darauf aufbauend macht er methodologische Vorschläge ihrer Bewältigung, während er diese an einem konkreten Diskursbeispiel anschließend exemplifiziert. Abschließend fasst er weitere Herausforderungen für die Zukunft einer linguistischen Online-Diskursforschung zusammen.
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Einleitung: Mediatisierung und Online-Diskurspraxis Methodologische Herausforderungen Multimodale Online-Diskursanalyse Analyse Fazit Literatur
1 Einleitung: Mediatisierung und Online-Diskurspraxis Der vorliegende Beitrag stellt einen Ansatz für die Analyse von Diskursen in vernetzten und digitalen Mediensettings vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese so genannten „Online-Diskurse“ (Fraas/Meier/Pentzold 2013, 7) nicht isoliert von gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozessen zu betrachten und als solche analysierbar sind. Online-medial vermittelte Kommunikation ist vielmehr fester Bestandteil einer fortschreitenden Verknüpfung gesamtgesellschaftlicher und medialer Transformationsprozesse (ebd., 7–14). Sie ist der Motor der Informations- und Mediengesellschaft (Castells 2001), verfolgt und verbindet gesellschaftliche Themen sowie soziale Aktivitäten transmedial (Couldry 2012) und konvergenzkulturell (Jenkins 2006). Konsequenz ist eine starke Verflechtung der Mikro-, Meso- und Makro-Ebene gesellschaftlicher Diskurse auch in ihrer medialen Präsens und Wahrnehmbarkeit. Interpersonale Kommunikation in sozialen Online-Medien sowie diskursive Posihttps://doi.org/10.1515/9783110296075-018
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tionen von subpolitischen Organisationen und NGOs besitzen durch die OnlineKommunikation ein direktes Sprachrohr in die digitalen und massenmedialen Öffentlichkeiten. Massenmediale Berichterstattung nutzt neben ihren klassischen Kanälen ebenfalls immer stärker soziale Online-Medien, um Inhalte innerhalb der Netzwelt zu etablieren. Unter dem Stichwort partizipativer Journalismus verschwimmt zunehmend die Grenze zwischen klassischem Journalismus und produktiver sowie rezeptiver Netz-Kommunikation. Professionell-journalistische sowie vermeintliche Laien- oder Selfmade-Diskursakteure nutzen die sozialen OnlineKommunikationsformen wie (Micro-)Blogs, Videochannels und soziale OnlineNetzwerke wie Facebook, Google+ oder Instagram auf gleicher Ebene. Sie stehen in gegenseitiger Konkurrenz um die digitale Aufmerksamkeit sowie in ständigem Austausch und unter Bewertungsdruck mit und gegenüber ihren Rezipienten. Angesichts dieser Entwicklungen hat der digitale Strukturwandel von Öffentlichkeit längst die utopistischen Erwartungshaltungen einer libertären digitalen Diskursgemeinschaft hinter sich gelassen und ist geprägt von einer machtdurchdrungenen Aufmerksamkeitsökonomie (vgl. Franck 1998). (Multimediale- bzw. -modale) Spektakularität und kommunikative Aktivität sind algorithmisch durch Suchmaschinen wie Google verkoppelt und konstituieren eigene Formationen von Diskursöffentlichkeiten (vgl. Machill/Beiler 2007, Meier 2008, 182–190). Angesichts dieser strukturellen Verschränkung von Kultur-, Gesellschafts- und Medienwandel, katalysiert durch die fortschreitende Digitalisierung der Kommunikation und Vernetzung der Diskurs-Akteure auf der Meso-Ebene, erscheint es zunehmend problematisch, dass linguistische Diskursanalysen weiterhin hauptsächlich auf Zeitungs- und Print-Journal-Korpora beruhen. Ingo Warnke (2013, 191) sieht darin einen Genrereduktionismus, der bestimmte Diskursformationen kaum noch berücksichtigen kann. Demgegenüber muss allerdings auch auf die mittlerweile starke transmediale Wanderung von Diskurspositionen hingewiesen werden. On- und Offline-Diskurse sind konvergenzkulturell verschränkt (vgl. Fraas/Meier/ Pentzold 2010), sodass im massenmedialen Offline-Bereich online-spezifische Praktiken in Form von Aneignungen und Verweisen immer stärkere Berücksichtigung finden. Außerdem fungiert der Online-Bereich weiterhin als (zugegeben eigendynamischer) Resonanzraum massenmedialer Diskursthemen. Dennoch bleibt anzumerken, dass eine Diskurslinguistik, die mit ihrem Bezug zur Sozialtheorie Foucaults den Anspruch formuliert, „menschliche Erkenntnis und Erkenntnisfähigkeit, und das Verhältnis von Sprache, Gesellschaft und ›Wirklichkeit‹ grundlegend neu zu denken“ (Spitzmüller/Warnke 2011, 1), damit auch die linguistische Analysierbarkeit von Gesellschaft beansprucht. Eine solche Zielrichtung muss den starken Einfluss von Medien und aktuell insbesondere von digitalen und vernetzten Medien verstärkt in den Blick nehmen. Denn die diskurslinguistische Überzeugung, dass gesellschaftliches Wissen auf kommunikativ konstituierten Diskursen beruht, darf ebenfalls deren spezifische Materialisierung durch Medien theoretisch und methodisch nicht außer Acht lassen. Diskursfrag-
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mente sind mittels Medien produziert, distribuiert, rezipiert und archiviert. Sie sind bei jeder der genannten Diskurspraktiken durch die Eigenlogik der zur Anwendung kommenden Medien geprägt. Dabei ist nicht nur die medientechnologische Infrastruktur gemeint, sondern auch die machtdurchdrungenen Strukturierungen institutioneller Medienproduktionsprozesse, was im Interdependenzverhältnis auch unter dem Schlagwort Mediendispositiv gefasst werden kann (vgl. Dreesen/Kumięga/ Spieß 2012). Online-Diskurse als Bestandteile von konvergenzkulturellen Diskursformationen müssen somit als online-medienspezifische Diskurspraktiken betrachtet werden. Ich folge dabei der Argumentation von Jürgen Spitzmüller (2013, 61) und Sven Kersten Roth (2013), die weniger für eine Diskurssemantik als für eine Diskurspragmatik plädieren. Eine Diskurspragmatik richtet verstärkt den Fokus auf den Handlungscharakter von Diskursfragmenten. Bezogen auf den Gegenstandsbereich Online-Diskurse, macht sie deutlich, dass die diskursive Bedeutungskonstituierung in struktureller Verbindung mit der kommunikativ-medialen Art und Weise dieser Konstituierung steht. In Anlehnung an Reckwitz (2008) schreiben Fraas, Meier, Pentzold und Sommer (2013, 125), dass Foucault mit der Fokussierung von Formationsregeln im Diskurs nicht nur die symbolisch verfassten Aussagesequenzen im Blick hatte, sondern auch die Formationsregeln des diskurskonstituierenden (und damit auch medienabhängigen) Reproduzierens und Transformierens. Reckwitz (2012, 43–45) plädiert des Weiteren für eine stärkere Verschränkung praxis- und diskurstheoretischer Ansätze, um aktuelle Subjekt-Modellierungen zu erreichen, denn „Subjektmodelle sind in sozialen Praktiken implizit enthalten und werden in Diskursen explizit repräsentiert.“ Reckwitz‘ praxeologischer Auffassung nach sind Diskurse spezifische „soziale Praktiken der Produktion von geregelten Repräsentationen“ (ebd.) Ohne an dieser Stelle die Ambivalenz des Repräsentationsbegriffs diskutieren zu wollen, erwächst aus dieser Perspektive ein überaus online-medienadäquates Diskursverständnis. Der Blick fällt auf den Akt der Herstellung und des Verstehens digitaler, online-medialer, multimodaler sowie kommunikativ genutzter Artefakte als Diskursfragmente. Nicht die rein semantische Bedeutungskonstruktion durch Sprache erscheint im Analysefokus, sondern die multimodale Zeichenformierung als ganzheitliche kommunikative Handlung im Diskurszusammenhang. Es lässt sich die Sag- und Zeigbarkeit im Diskurs bearbeiten sowie deren diskurs- und medienspezifische Darstellungsweise. Mit dieser Perspektivierung besteht ein starker Konnex zum vierten Teil dieses Bandes, denn die Analyse von Online-Diskursen ist nicht ohne die besondere Berücksichtigung ihrer digitalen Materialität und Netzstruktur zu untersuchen. Der vorliegende Beitrag wird deshalb zunächst auf die methodischen Herausforderungen eingehen, die durch die Medialität der Online-Diskurse erwächst. Er wird im zweiten Schritt die methodologischen Grundannahmen zusammentragen, die sich in einer linguistischen Diskursanalyse von Online-Kommunikation herausgebildet haben. Im dritten Abschnitt macht er das Vorgehen der Korpuserstellung
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und der Analyse einer Online-Diskursanalyse deutlich, wie es im Chemnitzer DFGProjekt Online-Diskurse (vgl. Fraas/Pentzold 2008, Fraas/Meier 2012) entwickelt wurde. Abschließend folgt ein kurzer Ausblick auf mögliche neue Ansätze der digital discourse analysis (vgl. Thurlow/Mroczek 2011) im Vergleich zur vorgestellten Verfahrensweise.
2 Methodologische Herausforderungen Online-Diskurse stehen in zweifacher Hinsicht unter dem besonderen Einfluss der medialen Infrastruktur ihrer Materialisierung und Verbreitung. Zum einen unterliegen sie einer besonderen Netzstruktur und Dynamik, zum anderen verfügen sie potentiell über ein Maximum an multimodaler Zeichenvariation. Hans-Jürgen Bucher bestimmt diese „Merkmale webbasierter Formen der Kommunikation“ wie folgt: – ihre Hypertextualität, mit der die Strukturen der kommunikativen Verknüpfung von Kommunikationseinheiten beschreibbar sind; – der Netzwerk-Charakter, in dem sich die soziale Dimension der Online-Kommunikation ausdrückt; ihre multimodale Orchestrierung mit verschiedenen semiotischen Ressourcen, wie Fotos, Text, Video, Audio, Ikons, Logos, Design, Farben, statischen und dynamischen Grafiken; – die Interaktivität, in der sich die dialogische Struktur der Online-Kommunikation manifestiert (die reale und die unterstellte); – die spezifische – thematische und soziale – Kommunikationsdynamik, die einerseits durch die Interaktivität und anderseits durch den Netzwerk-Charakter der Online-Kommunikation bedingt ist.“ (Bucher 2013, 58–59.) Er spricht von einer „Entgrenzung des ›Textes‹“ (ebd.) in semiotischer und intertextueller Hinsicht, was methodische Zugriffe der Multimodalitätsanalyse ebenso vonnöten macht wie neue Formen der Korpuserstellung und linkorientierten Konnektivitäts- oder Netzwerkanalyse. Damit wird die Diskursanalyse zur adäquaten Methode zur Erfassung von Kommunikation im Netz, da deren Dynamik und Hypertextualität nicht auf die Analyse isolierter und monokodierter Web-Angebote beschränkt bleiben kann (vgl. Herring 2010, Androutsopoulos 2013). Eine differenzierte Auflistung der Herausforderungen zur Analyse OnlineMedien vermittelter Kommunikation liefert Martin Welker und andere (2010, 11–14): – Flüchtigkeit, Dynamik und Transitorik – Medialität, Multimedialität bzw. Multimodalität – Nonlinearität/Hypertextualität – Reaktivität/Personalisierung/Hybridität der Kommunikationsformen – Digitalisierung/Maschinenlesbarkeit – Quantität
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Da Online-Inhalte ständig neu erstellt, verändert oder gelöscht werden, stellen erhobene Diskursfragmente häufig nur eine flüchtige Momentaufnahme dar. Auch die Anbieter archivieren zumeist ihre Online-Kommunikation nicht lückenlos und systematisch, sodass diese für die Analyse nur fragmentarisch zur Verfügung steht. Die Digitalität des Online-Mediums lässt eine maximale Vielfalt an unterschiedlichen Zeichenträgern (digitale Bild-, Video-, Audio-Formate für unterschiedliche Ausgabegeräte: Bildschirm, Home-Entertainment-Station, mobile Endgeräte etc.) und Zeichenmodalitäten bzw. -systeme (Film, Bild, mündliche/schriftliche Sprache, Design/Layout) zu. Dies führt zu einer potenziell hohen Komplexität multimodaler Zeichenensembles mit ihren spezifischen Affordanzen (vgl. Kress 2010, 79–83). Wahrscheinlich liegen die meisten Online-Inhalte in einer nicht-linearen Struktur vor. Sie sind zu Textnetzen verlinkt, die von einer Webseite (im Sinne einer scrollbaren Seite) auf eine andere verweisen und so komplex-kommunikative Einheiten ergeben. Sie formieren sich zu geplanten oder emergenten Netzwerken mit unterschiedlicher Linktiefe. Dadurch sind die Grenzen zwischen den verschiedenen Diskursfragmenten nicht immer klar bestimmbar. Beschränkt man sich auf eine Webseite, auf eine multimodale Texteinheit, auf eine hypertextuelle Sinneinheit oder auf eine gesamte Website (im Sinne eines Web-Auftritts)? Eine besondere Ursache in der Dynamik und Inkonsistenz der Webinhalte ist in der Reaktivität und Personalisierung der Webinhalte begründet. Aufgrund personalisierter Browser-, Profil-, Angebots-, Software oder Hardwareeinstellungen können Online-Kommunikate und damit Diskursfragmente in den individuellen Anwendungen auf PC, Notebook, Tablet oder Smartphone recht modifizierter Aktualisierung unterworfen sein. Datenbankgenerierte Contentangebote samt individuell realisierter Suchabfragen bewirken ihr Übriges. Account-Angebote in Communitys und Portalen, individuelle Navigation durch die Online-Angebote etc. sowie mögliche Interaktivität, die eine kollektive bzw. usergestützte Inhaltsproduktion in Foren, Blogs etc. realisieren, schaffen permanente Modifikation der Diskursfragmente. Damit verbunden ist das Vorkommen ganz unterschiedlicher online-spezifischer Kommunikationsformen, die zu ganz eigenen Diskurspartizipationsformen, Kollaborationen sowie Abgrenzungen führen können. Unter Kommunikationsformen sind in Anlehnung an Christa Dürscheid (2005) und Werner Holly (2011) medienbedingte und zeichenbasierte Kommunikationsfunktionen in ihrer (medien-)dispositiven Prägung thematisiert. Sie fokussieren die medientechnologischen und soziokulturellen Bedingtheiten von Kommunikation, ihre zugrundeliegende interaktive Prozesshaftigkeit und ihre sinnhafte materiale Formung als kulturelle Praktiken (Holly 2011, 155–157). Im Bereich Online-Kommunikation können beispielsweise Kommunikationsformen wie Blogs, Chats, Foren, Bildergalerien und einfache Websites unterschieden werden. Diese lassen sich in Genres wie bei Blogs in Warblogs, Reiseblogs, Beautyblogs usw. unterteilen. Die Komplexität in der Beschreibung dieser Kommmunikationsformen steigt, wenn man sich Hybridformen zuwendet wie Video-, Nachrichten-, Service-Portale sowie Anwendungen in sozialen
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Netzwerken. Hierbei ist man nicht selten mit einer Fülle aufeinander bezogener Kommunikationsformen konfrontiert, was den diskursanalytischen Umgang mit diesen erheblich erschweren kann. Die Digitalität der Online-Diskursfragmente macht darüber hinaus eine besondere elektronische Verarbeitung für quantitative und qualitative Diskursanalysen möglich. Dadurch scheint ein großer Vorteil gegenüber Print-Korpora zu bestehen, die für eine solche Bearbeitung zunächst aufwendig digitalisiert werden müssen. Für beide Korpora besteht jedoch weiterhin eine besondere Herausforderung im analytischen Umgang mit Multimodalität. Automatisierte Bildererkennung erreicht zwar eine immer anwendungsnähere Qualität, jedoch bleibt insbesondere die multimodale Korrespondenz innerhalb der Diskursfragmente eine kaum zu bewältigende Hürde. Schließlich ist die enorme Quantität des Korpus für eine aussagekräftige Analyse zuweilen kaum erfassbar. Das Internet speichert gigantische Mengen an Inhalten und stellt diese zum Abruf bereit. Aufgrund der weiteren Entwicklung der Speichermedien, Datenübertragungskapazitäten und neuer Inhalte nimmt diese Menge rasant zu. Dies mag die Auswahl einschlägiger Diskursfragmente eher erschweren als verbessern. Im Zuge neuer Big-Data-Forschungen sind hier allerdings weitere Fortschritte zu erwarten, die jedoch kritisch-methodenreflexiv zu begleiten sind (vgl. Mahrt/Scharkow 2014).
3 Multimodale Online-Diskursanalyse Online-Diskursanalyse untersucht diskursive Praktiken sozialer Konstruktion von multimodalen Deutungsmustern anhand aller online-medienabhängig zum Einsatz kommender Zeichenressourcen. (Meier 2011, Fraas/Meier/Pentzold/Sommer 2013). Sie beschäftigt sich mit allen Formen des Zeichenhandelns, die auf ein bestimmtes Diskursthema oder eine Aussagenformation bezogen sind. Nach sozialsemiotischem Verständnis unterliegen dabei alle kommunikativ zur Anwendung kommenden Phänomene drei semiotischen Metafunktionen (vgl. Halliday 1978, Kress/Leeuwen 2001, 2006), die es in den Analysen zu ermitteln gilt: erstens einer repräsentierenden Funktion (representational/ideational function), die die Sachverhalte, aber auch Begriffe und Konzepte mittels multimodaler Zeichenensembles darstellen lässt. Dabei müssen die denotativen Bildinhalte genauso beschrieben werden wie symbolhafte oder metaphorische Verweisfunktionen und konnotative Stilpraktiken zur Markierung von Identität und Zugehörigkeit. Die entsprechenden Analysefragen lauten: – Wer oder was ist dargestellt? (Frage nach möglichen Diskursakteuren und Gegenständen sowie ihre diskursiv-repräsentierende Funktion) – Welche sozialen Rollen lassen sich anhand der dargestellten Personen und ihres kommunikativen Verhaltens und Aussehens rekonstruieren? – Was ist dargestellt? (Frage nach möglichem Thema, Ereignis, Situation)
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Welche Begriffe und Konzepte liegen diesem multimodal konstituierten Inhalt zugrunde? (Frage nach der Art der Bezugnahme auf diskursive und kulturelle Wissensbestände) Welche kommunikativen Handlungen werden mittels vorliegender multimodaler Zeichenkorrespondenzen realisiert?
Die zweite semiotische Funktion lässt die interaktionale Beziehung zwischen Rezipient und den dargestellten Inhalten mittels sprachlicher Handlungen im Zusammenspiel mit Bildausschnitt und Perspektive in den Fokus treten (interactional/ interpersonal function). Hiermit werden inhaltliche Inszenierungspraktiken thematisiert, die den Rezipienten als Diskursbeteiligten involvieren. So legt beispielsweise ein Bild ikonisch vermittelt eine Quasi-face-to-face-Situation mit einem Diskursakteur oder eine simulierte Zeugenschaft eines diskursiven Ereignisses nahe. Dies geschieht durch die zeichenspezifische Wahrnehmungsnähe des Bildes (vgl. SachsHombach 2003). Das Bild spricht ähnliche kognitive Modelle des Rezipienten an, als sei er dem Bildsujet real gegenübergestellt (vgl. Stöckl 2011). In Kombination mit Sprache und/oder diskursivem Wissen des Rezipienten wird diese Wahrnehmungsnähe im Diskurs verortet und stiftet so diskursmotiviert handelnde Bedeutung wie Appellierung, Emotionalisierung, Dokumentierung etc. Unter Berücksichtigung des kombinierten Sprachtextes und frameorientierten (s. u.) Kontextes wird die Bildkommunikation anhand folgender Fragen analysiert (Meier 2011, 518–520): – Welche Kameraeinstellung bzw. Perspektive ist gewählt und welche (Nähe) Beziehung ergibt sich daraus zur dargestellten Szenerie (Frage nach Totale/VogelPerspektive, Halbtotale, Detail- oder Nahaufnahme und der damit verbundenen Beobachterrolle als unbeteiligt Überblickender, stark angesprochener Augenzeuge, Beteiligter etc.)? – Welche Ansicht auf Bildobjekte, deren Inszenierung und räumliche Positionierung zeigt der Bildausschnitt und welche Beziehung lässt sich so untereinander unter Hinzuziehung sprachlicher Ko-Texte und diskursiver Kontexte aufbauen? Bezogen auf die dritte semiotische Funktion (compositional/textual function) wendet sich die Betrachtung auf die Komposition der Elemente im Bild und layouttechnisch auf deren kommunikative Einbindung in das multimodale OnlineDiskursfragment. Hiermit wird insbesondere die gestalterische Praxis analysiert, die visuelle Zugehörigkeiten, Abgrenzungen und Hierarchien der einzelnen Bildkomponenten durch bestimmte Bildstrukturen erreicht (framing), die bestimmte Teilbereiche z. B. mit Schärfeverteilung, Lichtführung, Vordergrund-Hintergrund-Inszenierung visuell heraushebt (salience) bzw. ihnen Prägnanz verleiht und die den einzelnen Elementen durch die Verteilung auf der Fläche bestimmte Funktionen zuschreibt (information value). Hiermit sind folgende Analysefragen angeregt: – Welche Bewegungen bzw. Dynamiken lassen sich durch bestimmte Linienführungen (Vektoren) im Bild erkennen?
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Wie ist die vermeintliche Beziehung zwischen dargestellten Akteuren durch angedeutete (Verbindungs-)Linien, Körperhaltung, Größenverhältnisse und Positionierungen auf der Fläche begründbar? Wie organisiert die realisierte Formung der Bildobjekte sowie Nähe und Distanz auf der Fläche Zugehörigkeiten und Abgrenzungen? Welche Dominanzen, Betonungen und Aufmerksamkeitsorganisationen sind durch Kontrastverwendungen (hell-dunkel, groß-klein, verschwommen-scharf, grell-matt, monochrom-farbig, Vordergrund-Mittelgrund-Hintergrund) erreicht? Wie ist das Verhältnis zwischen Bildobjekten und szenischem Kontext organisiert und welche Bedeutungen lassen sich daraus ableiten?
Wichtig ist, dass alle Analysefragen im engen Bezug zum sprachlichen Kontext bzw. zum virulenten Diskurswissen plausibel gemacht werden, da sich hierdurch erst die Multimodalität der Diskursfragmente erfassen lässt. Dies ermöglicht eine Reduktion der Mehrdeutigkeit bildlicher Zeichen sowie deren kommunikative Verortung im diskursiven Zusammenhang. Im Chemnitzer Ansatz einer multimodalen Diskursanalyse wird das sozialsemiotische Herangehen mit Konzepten der linguistischen Frame- und der wissensoziologischen Diskursanalyse trianguliert. Vorteil ist, dass man dadurch auf einer höheren Abstraktionsebene die unterschiedlichen Zeichenmodalitäten zu multimodalen Deutungsmustern zusammenbringen kann. Frames werden dabei als Wissensordnungen verstanden, die Verstehens- und Interpretationsprozesse diskursabhängig strukturieren. Sie sind „nicht als invariante Cluster einer begrenzten Zahl von Frame-Elementen [zu verstehen], sondern als Strukturen, die datengeleitet rekonstruiert werden können und auf systematische Weise mit diskursiven Prozessen korrespondieren.“ (Fraas/Meier/Pentzold/ Sommer 2013, 114). Diese Perspektive schließt konzeptuell an die erfahrungs- und verstehensrelevante Frame-Semantik Fillmores (1982) an und forschungspraktisch an das von Minsky (1975) initiierte Konzept (vgl. Ziem 2013), das Frames als dynamische Slot-Filler-Struktur begreift. Deutungsmuster gelten demgemäß als die im gesellschaftlichen Wissensvorrat vorhandenen kollektiven Bedeutungskonstruktionen im Sinne typisierender Interpretationsschemata, die sich über ereignisbezogene Deutungsprozesse in wahrnehmbaren kommunikativen Handlungen äußern. Sie organisieren sowohl individuelle als auch kollektive Erfahrungen und implizieren Vorstellungen situationsangemessenen Handelns. Sie bilden damit nicht individuelle Kognitionsprozesse, sondern gesellschaftlich konventionalisierte Deutungsfiguren, die Orientierung bei der Interpretation von Phänomenen geben. Das Konzept der Deutungsmuster wurde von Keller (vgl. 2008 und in diesem Band) als wesentliches Element des Interpretationsrepertoires in die von ihm entworfene wissenssoziologische Diskursanalyse eingeführt. Weiterhin ergeben sich methodologische Konsequenzen für die Datenerhebung. Angesichts der online-medialen Bedingungen (siehe Abschnitt 2) ist es kaum
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sinnvoll, eine Online-Diskursanalyse mit einem vorab festgelegten Analysekorpus durchzuführen. Weder ist eine Grundgesamtheit online-medialer Diskursfragmente zu erschließen, noch lässt sich darauf aufbauend ein quantitativ repräsentatives Analysekorpus mit validen Stichproben erheben. Als online-adäquater erscheint vielmehr der von Dietrich Busse und Wolfgang Teubert in ihrer mittlerweile als legendär zu geltenden diskurslinguistischen Programmatik von 1994 (wiederveröffentlicht 2013, 17): Bei der Zusammenstellung des Korpus ist es sinnvoll, beispielsweise Redundanzen zu vermeiden und vornehmlich solche Texte aufzunehmen, die die Struktur und den Verlauf des Diskurses maßgeblich beeinflußt haben; das heißt aber auch, daß die Zusammenstellung des Korpus nicht unabhängig sein kann von einer zuvor erfolgten ersten Inaugenscheinnahme der Texte und einer – schon im Hinblick auf die Untersuchungsziele erfolgenden – Prüfung der Eignung der einzelnen Texte.
Die Herangehensweise ist getragen von qualitativ inhaltlichen Aspekten ohne quantitativem Repräsentativitätsanspruch. Damit macht sie eine vermeintliche Grundgesamtheit nicht zum Bezugspunkt, was der Dynamik online-medialer Diskursund Archivierungspraktiken entgegenkommt. Allerdings gibt der Ansatz dem Diskursanalysierenden keine Kriterien an die Hand, wonach sich seine inhaltliche Auswahl richten könnte. Ferner bleibt der Ansatz auf inhaltliche Aspekte reduziert, während in Online-Diskursen, wie gezeigt, die Fokussierung der unterschiedlichen diskursiven Praktiken mittels unterschiedlicher online-medialer Kommunikationsformen eine große Rolle spielen. Und nicht zuletzt geht er weiterhin von einer Korpuserstellung vor dem eigentlichen Analyseprozess aus. In der online-diskursanalytischen Forschungspraxis hat sich demgegenüber ein zirkuläres Vorgehen der Datenerhebung und Auswertung bewährt. Der Chemnitzer Ansatz verfolgt dies in Anlehnung an das Vorgehen der Grounded Theory (vgl. auch Bock in diesem Band). Dabei laufen die Prozesse der vergleichend vorgehenden Datenerhebung und -analyse in wechselseitig funktionaler Abhängigkeit ab (vgl. Strübing 2008, Strauss/Corbin [2005] 1996). Das heißt, dass sich Erhebung und Analyse abwechseln und gegenseitig bestimmen: die Auswahl, Analyse bzw. Kodierung und konzeptuelle Verdichtung der Daten bildet − geleitet von den auf die Forschungsfrage abgestimmten Kriterien − die Grundlage für die Auswahl weiterer Fälle, die wiederum kodiert zu Konzepten bzw. Deutungsmustern verdichtet werden. Diese Erhebungs- und Auswertungslogik ist gerade für die Analyse von Online-Diskursen zielführend, denn anders als bei der Rekonstruktion massenmedialer Diskurse kann hier nicht von Beginn an auf archiviertes Forschungsmaterial zurückgegriffen werden. Dieses Verfahren des theoretischen Sampling erlaubt es, sich flexibel im Forschungsfeld zu bewegen und trotz der Dynamik und Dezentralität des Materials regelgeleitet und durch systematische Kriterien motiviert ein Korpus zu erstellen (vgl. Meier/Pentzold 2010). Ziel dabei ist das fortschreitende Konzeptualisieren der Daten zu Kategorien, das im Prozess der Kategorienbildung durch Zuweisung von Eigenschaften und deren Dimensionierung vollzogen wird.
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(Vgl. Strauss/Corbin 1996, 50–54). In dem hier vorgestellten Ansatz leitet dieses Vorgehen die Rekonstruktion multimodaler Deutungsmustern an. Zusammenfassend lässt sich anhand der Abbildung 1 folgendes Analysevorgehen visualisieren:
Abb. 1: Analysevorgehen.
Die hierfür benötigten Frame-Elemente werden auf der Grundlage des FrameNetProjekts der Universität Berkeley hergeleitet (vgl. Fillmore, C./Johnson/Petruck 2003). Dabei wird davon ausgegangen, dass in (geschriebenen wie gesprochenen) Texten Schlüsselausdrücke bestimmte Schlüsselkonzepte und damit Frames aktivieren, die die Interpretation dieser Ausdrücke leiten können. Die Frame-Elemente, welche die Struktur der Frames bilden, stehen für Einheiten „which may or must be present in any instance of a given frame“ (Fillmore, C. J./Baker 2010, 324). FrameNet stellt ein hierarchisch aufgebautes semantisches Netz dar, in dem FrameElemente von abstrakteren Frames auf weniger abstrakte übertragen und zum Teil zu eigenen Frames entfaltet werden können. Augrund dieser in der Struktur angelegten semantischen Beziehungen zwischen den Frames und Frame-Elementen können Schlüsselkonzepte, die für die Konstituierung diskursiver Sinnstrukturen eine zentrale Rolle spielen und dementsprechend mit Hilfe sprachlicher oder visueller Zeichen materialen Ausdruck finden, auf übergeordnete Frames zurückgeführt werden. Diese übergeordneten Frames stellen die Slot-Struktur für die Frames konkreter Ausdrücke zur Verfügung. In aktuellen Verwendungssituationen können diese kontextuell gefüllt werden. Anders als in der klassischen Frame-Semantik wird das beschriebene Frame-Konzept jedoch nicht nur auf inhaltliche Aspekte an-
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gewandt, sondern mit Bezug auf ein performatives Frame-Verständnis in der Tradition von Erving Goffman werden ebenfalls bedeutungsgenerierende kommunikative Praktiken aufgenommen (vgl. Fraas 2013). Das weitere Vorgehen wird im folgenden Abschnitt am konkreten Diskursbeispiel dargestellt. Es entstammt ebenfalls dem Chemnitzer Projekt für OnlineDiskursforschung.
4 Analyse Anhand des juristischen und erinnerungskulturellen Online-Diskurses um den KZAufseher John Demjanjuk werden diskursive Strukturen von Multimodalität verdeutlicht (vgl. Meier/Sommer 2012). Ziel der hierbei verfolgten Triangulation frameund multimodalitätsanalytischer Verfahren ist es, ein adäquates Instrumentarium der Online-Diskursanalyse samt ihrem prozessuralem Vorgehen vorzustellen. Es handelt sich dabei um den Forschungsstand von 2013 im Chemnitzer DFG-Projekt Online-Diskurse (vgl. Meier/Sommer 2012; Fraas/Meier/Pentzold/Sommer 2013, Sommer/Fraas/Meier/Pentzold 2013). Das Projekt verfolgt die These, dass Multimodalität im Online-Diskurs eine akteursabhängige (Neu-)Kombination verschiedener Zeichenressourcen ist, die bereits in vorherigen Diskursfragmenten des entsprechenden Diskursthemas relevant gesetzt wurden. Je nach zu markierender diskursiver Position werden diese frameorientiert in der Folgekommunikation neu zusammengefügt. Die multimodale Diskurspraxis ist somit dadurch gekennzeichnet, dass sie im Diskurs virulente Deutungsmuster anhand frameorientierter Bedeutungszuschreibungen von Sprache und Bild-Elementen abstrahieren lässt. Dabei liefern die sprachlichen Einheiten je nach diskursiver Position Einordnungen in das Themen-, Raum-, Zeit- und Kausalgefüge, während visuelle Zeichengebilde Diskursakteure- und -Gegenstände als pars pro toto exemplifizieren, ihre Existenz belegen, ihr Aussehen vor Augen führen und anderes nicht Gezeigtes aussparen. Es handelt sich bei dem hier behandelten Beispieldiskurs um einen Ausschnitt der öffentlichen Debatte über den ehemaligen KZ-Aufseher John Demjanjuk, wie er in Teilen im Word Wide Web präsent war. Initiiert wurde der Diskurs durch das Ermittlungsverfahren der zentralen Stelle der bayerischen Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Sie sah es als erwiesen an, dass John Demjanjuk in dem nationalsozialistischen Vernichtungslager Sobibor an der Ermordung Zehntausender Menschen mitgewirkt hat. Dieses Ermittlungsergebnis veranlasste die Münchener Staatsanwaltschaft, einen internationalen Haftbefehl zu beantragen. Demjanjuk wurde daraufhin im Mai 2009 von den USA nach Deutschland ausgeliefert. Über die Auslieferung und den sich daran anschließenden Prozess im November desselben Jahres entspann sich im Netz eine Auseinandersetzung. Vorläufig abgeschlossen wurde der Prozess am 12. Mai 2011 vom Land-
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gericht München II durch die Verurteilung Demjanjuks wegen Beihilfe zum Mord und der Verhängung einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Jedoch wurde das Urteil bis zum Tod Demjanjuks am 17. März 2012 nicht rechtskräftig. Als erster Zugang zum Online-Diskurs dient ein als einschlägig ausgewählter Einstiegstext. Dieser muss nicht mit dem vermeintlichen Initiierungstext übereinstimmen. Er dient als erster Zugriff auf die Diskursformation und schließt den Diskurs für die Analyse auf. Er muss allerdings wesentliche Inhalte, sprachliche Ausdrücke, bildliche Elemente, favorisiert beteiligte Akteure sowie für das Feld übliche Inszenierungs-, Repräsentations- und Distributionspraktiken enthalten. Dadurch kann er einen ersten Zugang zu spezifischen Diskurspraktiken liefern sowie erste Schlüsselkonzepte bestimmen lassen. Die Schlüsselkonzepte sind die ersten Anker für die folgenden Sampling- und Auswertungsschritte. Es handelt sich bei dem hier ausgewählten Einstiegstext um einen Videobeitrag aus dem Online-Archiv von tagesschau.de (vgl. tagesschau.de: Mutmaßlicher NS-Verbrecher Demjanjuk wird nach Deutschland ausgeliefert: http://www. tagessschau.de/multimedia/video/sendungsbeitrag1798.html, 01. 08. 2015). Er wurde ebenso in der damals aktuellen Fernsehnachrichtensendung gesendet, wodurch die Konvergenz zwischen On-Offline-Diskurs deutlich wird. Seine Verwendung eignet sich, da er als öffentlich-rechtlich finanzierter Beitrag von journalistisch-professioneller Qualität zu gelten hat, die um eine ausgewogene und ordentlich recherchierte Darstellung bemüht sein muss (vgl. Meier 2008, 293–295). In diesem Sinne stellt er überblicksartig dar, worum es in der öffentlichen Auseinandersetzung geht, stellt einige Akteure vor und berichtet über wichtige Ereignisse zu dem entsprechenden Diskurszeitpunkt. Außerdem verfügt der online abrufbare Beitrag über ein Maximum an Zeichenvarianz, sodass die ersten Schlüsselkonzepte bereits in ihrer multimodalen Ausprägung ermittelt werden können. Als erstes Schlüsselkonzept lässt sich DEMJANJUKS BEIHILFE ZUM MORD bestimmen. Dies wird sprachlich als Ursache für den Haftbefehl angegeben. Bildlich spielt der Tageschau-Beitrag Schwarz-Weiß-Filmsequenzen ein. Es handelt sich um Frontalansichten von KZ-Häftlingen zur Zeit ihrer Befreiung und um Aufnahmen des Bahnhofs von Sobibor (vgl. Sommer u. a. 2013, 262). Weitere mögliche Schlüsselkonzepte sind JOHN DEMJANJUK, AUSLIEFERUNG DEMJANKUS, MUTMASSLICHER NS-VERBRECHER, LAGER SOBIBOR, SS-DIENSTAUSWEIS etc. Das Schlüsselkonzept DEMJANJUKS BEIHILFE ZUM MORD wurde in der Chemnitzer Beispielstudie als Ausgangspunkt für das offene theoretische Sampling gewählt. Es dient als erste Eingabe in die Suchmaschinen, um weitere einschlägige Online-Diskursfragmente zu erhalten. Man macht sich dabei unter anderem den Google Algorithmus PageRank zunutze, der Relevanzen im Netz unter anderem anhand von Stichwortdichte und Verlinkungen sowie Abrufen ermittelt. Damit folgt man der Informationsstrukturierung, der auch viele Internetnutzer folgen. Man trägt einer anderen Öffentlichkeitsformation Rechnung, die so, verglichen mit der Offline-Diskursanalyse, nicht nur den Leitmedien bzw. ihren Dependancen im
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Netz folgt, sondern die in die Breite und Tiefe geht, um auch vermeintlich randständige Positionen in das Analysekorpus aufzunehmen. Diese können jedoch durch Klickzahlen und Verlinkungen etc. durchaus zu relevante Diskursgrößen werden. Aus der Suchmaschinenindexierung zum ersten Schlüsselkonzept wurde in dieser Studie im Sinne des qualitativen Samplings der Grounded Theory (vgl. Bock in diesem Band) zunächst eine kontrastierende Auswahl zum Einstiegstext getroffen. Es folgen weitere minimale und maximale Kontrastierungen, um ein breites Spektrum des Diskursfeldes einzusammeln. Gleiches geschieht im Laufe des Analyseprozesses mit den weiteren Schlüsselkonzepten des Einstiegstextes. Neben diesem inhaltlichen Sampling kommen auch Praxis-, Zeichen- und an Akteursrollen orientierte Kriterien zur Anwendung. So sollte minimal sowie maximal kontrastierend zwischen verschiedenen online-spezifischen Kommunikationsformen gewechselt werden (z. B. zwischen Microblogging und Nachrichten-Magazin), zwischen dominanten Zeichenmodalitäten (z. B. Film und geschriebener Sprache) und jeweiligen Diskursbeteiligten (z. B. Sympathisanten- und Gegnergruppen) (vgl. Meier 2008, 297–383.) Aufgrund der Flüchtigkeit der Daten und der inkonsistenten Archivierung der Anbieter ist es wichtig, die ausgewählten Diskursfragmente dauerhaft verfügbar abzuspeichern. Sie sollten dabei in ihrer ursprünglichen multimodalen Qualität erhalten bleiben. Das umfasst Grafik, statisches und bewegtes Bild, typografisierte und mündliche Sprache sowie Sound ebenso wie deren layouttechnische Einbindung und Verlinkung. Olga Galanova und Vivien Sommer schlagen deshalb ein so genanntes ‚Screencapturing‘ vor (2011, 172–173). Es handelt sich dabei um eine Software, die die visuellen und akustischen Signale der Grafik- und Soundkarte im Moment der Nutzung als Videodateien aufnimmt. Der Einstieg in die Phase der offenen Kodierung des gespeicherten Datenmaterials orientiert sich ebenso wie das offene Sampling an den Schlüsselkonzepten des Einstiegstextes. Diese werden auf Frames bezogen, deren Slots (Frame-Elemente) einen ersten analytischen Zugang zu den Daten zur Verfügung stellen (vgl. Fraas/ Meier/Pentzold/Sommer 2013). Das Schlüsselkonzept DEMJANJUKS BEIHILFE ZUM MORD bezieht sich nach Maßgabe des online verfügbaren Angebots von FrameNet (siehe https://framenet2.icsi.berkeley.edu, aufgerufen am 23. 07. 2015, Fraas/Meier 2012) auf den Frame MISDEED (Verbrechen), der die Elemente frequency (Häufigkeit), injured party (Geschädigte), judge (Richter), manner (Art und Weise), means (Handlung/Maßnahme), place (Ort), purpose (Absicht), severity (Schweregrad), time (Zeitpunkt) und wrongdoer (Täter) enthält. Die Frame-Elemente lassen für das weitere offene Kodieren Analyseparadigmen entwickeln, die aus den Definitionen und Beschreibungen aus FrameNet abgeleitet werden können. Dies ist möglich, da die Definitionen auf einem riesigen Korpus von Sprachdaten beruhen und somit relativ sichere Defaultwerte für konventionalisierte Slot- und Filler-Strukturen konkreter Frames anbieten können. Aus den Definitionen lassen sich somit Analysefragen ableiten, die die Schlüsselkonzepte datengestützt aufschlüsseln lassen.
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Während es sich bei den Frame-Elementen des Frames MISDEED um von außen an das Material herangetragene Top-down-Kodes handelt, werden im weiteren Verlauf der Analyse aus den Fillers heraus weitere Kodes aus dem Datenmaterial heraus Bottom-up generiert. Die hierdurch bestimmten Kodes bilden die Grundlage für die Erarbeitung von Kategorien im Sinne der Grounded Theory (vgl. Bock in diesem Band). Man bewegt sich also in der ersten Phase der Analyse zwischen den Top-down-Kodes der Slots (Frame-Elemente) und den aus den Fillers generierten Bottom-up-Kodes hin und her. Eine Übersicht über die Kodes liefern Sommer und andere (2013, 267–268) in Tabelle 1. Im Chemnitzer Ansatz wird davon ausgegangen, dass bestimmte sprachliche oder visuelle Äußerungen in situativen Kontexten auf bestimmten Frames beruhen. In der vorliegenden Studie hat beispielsweise der Frame MISDEED in den Bottomup-Kodierungen den Kode NS-KRIEGSVERBRECHEN generiert. (Sommer/Fraas/ Meier/Pentzold 2013, 266). Er ordnet sich ein in den Top-Down-Kode wrongdoer und wurde unter anderem aus folgender Äußerung hergeleitet: Wer nicht überzeugt war, den Opfern das Leben zur Hölle zu machen, der kam nicht zu den Trawnikis, weil die der SS nahe standen und die SS brauchte nur »zuverlässige« Leute, also kannst du davon ausgehen, dass diejenigen, die durch die Ausbildung kamen auch genug kriminelle Energie hatten, erbarmungslos durchzugreifen. (Beitrag eines Users im Forum »ThePhora«, zitiert nach Sommer/Fraas/Meier/Pentzold 2013, 268, Quelle: http://thephora.net/forum/showthread.php?t=67181 [13. 03. 2012])
Im vorliegenden Online-Diskurs gibt es in den unterschiedlichen Diskursfragmenten zudem intensive Auseinandersetzungen über den Gesundheitszustand Demjanjuks, wobei es um die Frage geht, ob der gebürtige Ukrainer gesundheitlich noch in der Lage sei, einen Prozess in Deutschland durchzustehen. Alle Sequenzen zu dieser Frage wurden zunächst dem Slot MANNER zugeordnet. Aus dem entsprechenden Filler wurde der Kode DEMJANJUKS GESUNDHEITSZUSTAND generiert. Zum Frame-Element MEANS sind vor allem Darstellungen der Gewalthandlungen, die Demjanjuk in Sobibor verübt haben soll, erhoben worden. Aus diesen Sequenzen entsteht der Bottom-up-Kode TATEN_SOBIBOR. Das Vernichtungslager Sobibor wird auch in den Filler des Slots PLACE inhaltlich aufgenommen, da im Diskurs Demjanjuks Taten in diesem Lager diskutiert werden (Bottom-up-Kode: EINSATZ ORT _NS-VERNICHTUNGSLAGER_SOBIBOR). Ein sehr wichtiges Frame-Element im untersuchten Diskursausschnitt ist PURPOSE. Die Filler zu diesem Slot behandeln vor allem die Frage, warum sich Demjanjuk als SS-Hilfswilliger, als sogenannter ‚Trawniki‘, rekrutieren ließ und sich damit an den Morden im Lager beteiligen konnte. Als Motive werden vor allem das Entfliehen aus der Kriegsgefangenschaft (Bottom-up-Kode: MOTIVE_GEFANGENSCHAFTENTFLIEHEN) und das Sichern des eigenen Überlebens (Bottom-up-Kode: MOTIV_ ÜBERLEBEN) thematisiert. Den Schweregrad der Verbrechen Demjanjuks verdeutlichen die Diskursakteure durch Gegenüberstellungen mit anderen Taten. Dabei wird seine Tat häufig als harmlos eingestuft (Bottom-up-Kode: VERGLEICH_
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NSKRIEGSVERBRECHER _HARMLOSER), nicht zuletzt weil er als Trawniki in der Hierarchiestufe der SS sehr weit unten stand, während andere Taten, die nicht im Kontext des Holocaust stehen, als schwerwiegender eingeschätzt werden (Bottomup-Kode: VERGLEICH_MASSENMÖRDER_SCHWERWIEGENDER). Zudem lassen sich Filler finden, die zum Vergleich Taten heranziehen, die zumindest im juristischen Sinne nicht als Verbrechen gelten, sondern moralisch mit anderen Vergehen auf eine Stufe gestellt werden. Demjanjuks Taten werden so beispielsweise mit vermeintlichen Übergriffen der Juden an den Palästinensern in Beziehung gesetzt und in der Schwere als gleichwertig bestimmt (Bottom-up-Kode: VERGLEICH_»VERBRECHEN»_JUDEN). Es verwundert daher nicht, dass sich zu dem Frame-Slot WRONGDOER neben den Sequenzen, die den gebürtigen Ukrainer als schuldig charakterisieren (Bottom-up-Kode: DEMJANJUK_NS-KRIEGSVERBRECHER_SCHULDIG), auch Filler finden lassen, die ihn als unschuldig darstellen (Bottom-up-Kode: DEMJANJUK _NS-KRIEGSVERBRECHER_UNSCHULDIG). Um von der Analyse sprachlicher Modularität zur Untersuchung multimodaler Diskurspraktiken zu gelangen, müssen die oben entfalteten sozialsemiotischen Metafunktionen in das beschriebene Kodierparadigma eingearbeitet werden. Ziel dabei ist es, multimodale Deutungsmuster zu rekonstruieren. Dies geschieht, indem die sozialsemiotischen Metafunktionen in Form entsprechender operationalisierender Analysefragen (s. o.) als Orientierung für die offene Kodierung der visuellen Daten herangezogen werden. Sie sind inhaltlich ebenfalls an dem Frame MISDEED (Verbrechen) mit seinen Elementen ausgerichtet. Datengemäß stehen hierbei die Slots injured party (Geschädigte), judge (Richter), manner (Art und Weise), wrongdoer (Täter) und vor allem place (Ort) im Vordergrund. Bei der Erfassung dieser Bild-Kommunikation sollte neben der denotativen Bildinhaltsebene auch die konnotativ wirksame Bildgestaltung analysiert werden. Kontextabhängige Bildbedeutungen werden so nicht nur durch das Was, sondern auch durch das Wie, durch den visuellen Stil, also die Art der Darstellung generiert (vgl. dazu die visuelle Stilistik von Meier 2014). In der vorliegenden Chemnitzer Studie gibt es im Zusammenhang mit der sprachlichen Thematisierung von Demjanjuks Taten in Sobibor beispielsweise schwarz-weiße Videoaufnahmen von Häftlingsgruppen in Konzentrationslagern, die am Lagerzaun stehen (OBJEKT/ KONTEXT – textual metafunction). Die Nähe der mageren und verletzlichen Gestalten zum eisernen Zaun bildet darüber hinaus einen inhaltlichen Kontrast, der die Grausamkeit ihrer Gefangenschaft konnotiert. Die Häftlinge schauen direkt in die Kamera. Sie sind in Normalperspektive dem Betrachter diesseits des Zaunes gegenübergestellt (KAMERA-EINSTELLUNG – interpersonal metafunction). Das Bild legt dadurch eine starke Involviertheit des Betrachters nahe. Er ist Quasi-Zeuge ihres Zustandes und hat keinen distanzierenden Überblick über die Szenerie, sondern er wird gleichsam selbst zu ihrem Bestandteil. Die Gefangenen stehen dicht an dicht. Sie haben im Bildraum keinen Platz, erscheinen (weiterhin) in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und somit bildmetaphorisch in anhaltender Gefangenschaft.
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Die Gefangenen sind zugleich nicht als Individuen erkennbar, sondern zeigen sich in der anonymen Masse aufgehenden entpersonalisierenden Haftsituation. Die Aufnahme hat nachweislich nicht das Vernichtungslager Sobibor zum Inhalt, denn dieses ist nicht von den Alliierten befreit worden, sondern wurde noch vor Kriegsende von den Nationalsozialisten aufgegeben. Eine Verbindung zu Sobibor wird jedoch mit einem zweiten dem Diskursfragment beigefügten Bild hergestellt. Es zeigt historische Wegweiser mit der Aufschrift Sobibor, dient damit also als bildlicher Beleg für das ehemalige Vorhandensein des Lagers. Beiden Bildern kommen in der Zusammenschau unterschiedliche Funktionen zu. Das erste stellt nicht die Grausamkeit der Gefangenschaft in einem konkreten Vernichtungslager dar, sondern wird in dem vorliegenden Kontext zu einem Symbolbild. Es veranschaulicht die Haftbedingungen in NS-Vernichtungslagern allgemein und damit auch die vermeintlichen in Sobibor. Das zweite Bild ist in diesem Zusammenhang ein indexikalischer Hinweis auf die ehemalige Existenz des Vernichtungslagers Sobibor, in dem der Angeklagte seinen Dienst tat. Authentisch inszeniert wird diese Behauptung durch die historisch wirkenden Wegweiser, die in Ermangelung anderer darstellbarer historischer Bauteile des Lagers als indexikalische Spur in die Zeit des Nationalsozialismus genutzt werden. In der Deutungsmusteranalyse geht es darum, die diskursiven Deutungen der sozialen Akteure im Diskurs herauszuarbeiten. Es wird rekonstruiert, was diskursiv als Ursache, Kontext und Konsequenz für ein diskursives Ereignis von diesen bestimmt wird. Dabei liegt der Fokus auf der denotativen und konnotativen Verschränkung der verschiedenen Zeichenebenen und wie sie musterhaft in den verschiedenen Diskursfragmenten manifestiert sind. Forschungspraktisch geschieht dies mit Blick auf die verschiedenen semiotischen Modalitäten im multimodalen Zusammenspiel hinsichtlich ihrer repräsentierenden, interpersonalen und textuellen Funktion. In der Chemnitzer Beispielstudie formieren sich die beiden konträren diskursiven Positionen über die Schuld bzw. Unschuld Demjanjuks ebenfalls in bestimmten multimodalen Deutungsmustern. So lässt sich ein Deutungsmuster anführen, das Demjanjuks Prozessunfähigkeit vertritt, indem sprachlich auf seinen bedenklichen Gesundheitszustand hingewiesen wird. Bildlich wird der Angeklagte hilfsbedürftig im Notarztwagen, im Rollstuhl und auf einer Trage liegend gezeigt. Auch wenn hierdurch nicht seine historische Schuld oder Unschuld direkt thematisiert wird, so geht es bei diesem Deutungsmuster doch um seine aktuelle (Nicht-)Straffähigkeit. Die Bilder eines Youtube-Videos, das von AP am 04. 04. 2009 hochgeladen wurde, zeigen beispielsweise den Sohn des Beschuldigten, wie er sprachlich den schlechten Gesundheitszustand seines Vaters und damit seine Prozessunfähigkeit beschreibt. Die Einspielungen einzelner Bild-Sequenzen stellen Demjanjuk selber dar, der seufzend und nur mit großer Mühe und Hilfe ins Bett gelangen kann. Diese Bilder sind in multimodaler Korrespondenz zu den Erklärungen des Sohnes an das Mitgefühl für einen gebrechlichen Mann gerichtet, der anscheinend schon durch seinen Gesundheits-
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zustand gestraft genug zu sein scheint (vgl. Videoausschnitt aus dem YoutubeVideo Demjanjuk’s Son Declares Father’s Innocence: http://www.youtube.com/ watch?v=Eg8l87yXJkM, 05. 08. 2015). Auch die Münchener Oberstaatsanwaltschaft bedient dieses Deutungsmuster DEMJANJUKS_GESUNDHEITSZUSTAND_SCHLECHT im Slot MANNER von anklagender Seite: Oberstaatsanwalt Anton Winkler: ‚Wir wollen innerhalb der nächsten Wochen Anklage erheben, sofern Demjanjuk gesund bleibt, sollte der Prozess noch in diesem Jahr stattfinden. Demjanjuk leidet angeblich unter einer Form von Leukämie‘. (Zitiert nach Sommer/Fraas/Meier/Pentzold 2013, 267, Original: http://www.bild.de/BILD/ news2009/05/13/iwan-demjanjuk-anklage/iwan-demjanjuk-die-anklage-des-grauens.html, 13. 07. 2009)
Die multimodale Online-Diskursanalyse verdichtet somit die einzelnen grafischen, bildlichen und sprachlichen Kodes zu multimodalen Deutungsmustern. Damit vollzieht sich nach Logik der Grounded Theory ein zunehmend abstrahierendes (offenes, axiales, selektives) Kodieren, das es erlaubt, von der Mikro-Ebene zur MakroEbene des Online-Diskurses zu gelangen. Semantische sowie layouttechnische Korrespondenzen bzw. Junktoren (vgl. Wetzchewald 2012) bilden framebezogen multimodale Schlüsselkonzepte und diskursive Praktiken, die Ausdruck latenter Deutungsmuster sind, welche bestimmte diskursive Positionen im Diskurs markieren. Ein Ende findet die Analyse im Sinne der theoretischen Sättigung, wenn bei weiterer minimaler und maximaler Kontrastierung keine weiteren Deutungsmuster zu ermitteln sind.
5 Fazit Macht die Diskurslinguistik Online-Kommunikation zu ihrem Analysegegenstand, so ist sie besonderen theoretischen und methodischen Herausforderungen gegenübergestellt. Ziel dieses Beitrages war es, diese Herausforderungen zu skizzieren und Vorschläge für deren methodische Bewältigung zu präsentieren. Demnach sind Online-Diskurse multimodale Praktiken einer kollektiven sowie interpersonalen (Netzwerk-)Kommunikation, die konvergenzkulturell mit Offline-Diskursen verknüpft sind. Sie sind durch die Dezentralität, Hypertextualität, die unterschiedlichen und hybriden Kommunikationsformen sowie die maximale Multimodalität und Dynamik geprägt, worauf das diskurslinguistische Instrumentarium abgestimmt werden muss. Analysekorpora sind in Anlehnung an Busse/Teubert (1994/ 2013) demnach nicht repräsentativ zu erstellen, sondern unterliegen qualitativen Auswahlverfahren. Um diese systematisch und transparent zu gestalten, wurde das qualitative Sampling der Grounded Theory vorgestellt, das ein zirkuläres Vorgehen der Erhebung und Analyse von Daten ermöglicht, um der Publikations- und Kommunikationsdynamik im Netz forschungspraktisch entgegenzukommen.
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Ziel des vorgestellten Analysevorgehens war es, beispielhaft die Rekonstruktion von multimodalen Deutungsmustern zu zeigen, die in den unterschiedlichen Kommunikationsformen und online-diskursiven Praktiken manifest sind. Die Praktiken selbst bilden dabei akteursabhängige (Neu-)Kombinationen verschiedener Zeichenressourcen, die bereits in vorherigen Diskursfragmenten des entsprechenden Diskursthemas relevant gesetzt wurden. Je nach zu markierender diskursiver Position werden diese in der Folgekommunikation frameorientiert subjektiv zusammengefügt, woraus sich multimodale Deutungsmuster abstrahieren lassen. Diese multimodale Diskurspraxis ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass die im Diskurs relevant gesetzte Bildlichkeit je nach zu markierender diskursiver Position sprachlich aktualisierte Bedeutungszuschreibungen erfährt. Das Bild vermittelt in allen gezeigten multimodalen Diskursfragmenten gemäß seiner ikonischen Wahrnehmungsnähe einen sinnennahen Eindruck von den Diskursakteuren und den diskursrelevanten Ereignissen. Dabei werden sie junktorengestützt (vgl. Wetzchewald 2012) mit den kopräsenten sprachlichen Texten zu multimodalen Diskursfragmenten und framegestützt mit den diskursiven Kontexten bedeutungsstiftend in Bezug gesetzt. Die Auswahl des Bildphänomens und die Art der Bezugnahme lassen sich dabei als Ergebnisse einer subjektiven Positionierung des Akteurs im vom (Online-)Diskurs aufgespannten Praxisfeld verstehen. Online-diskursive Praxisfelder bestehen aus mikro- (z. B. Foreneinträgen), meso- (z. B. Wikiartikeln) und makrokommunikativen (z. B. Nachrichtenbeiträge auf tagesschau.de) Diskursfragmenten. Diese werden einerseits algorithmisch durch Suchmaschinen und andererseits durch kommunikativ intendierte Verlinkungen in Beziehung gesetzt. Damit besteht ein komplexes Geflecht verschiedener Öffentlichkeitsebenen, das neben der online-medienspezifischen Multimodalität der Diskurslinguistik eine weitere Herausforderung bietet. Die internationale digital-discourse-Forschung begegnet diesem Umstand häufig mit der Fokussierung auf kleine Diskursausschnitte (vgl. die Beiträge bei Thurlow/Mroczek 2011). Dabei stehen bestimmte diskursive Praktiken wie das (Micro-)Blogging, das Instant Messaging oder die Profil-Kommunikation außerhalb und innerhalb von sozialen Online-Netzwerken im Vordergrund. Eine Ursache für diese Auswahl mag in der Forschungstradition der discourse analysis liegen, die schon vorher eher die interpersonale und weniger die gesellschaftliche Kommunikation im Blick hatte. Diskurslinguistische Herangehensweisen mit Blick auf gesellschaftliche Wissenskonstituierungen müssen jedoch die Analyseperspektive auf alle diskursrelevanten Kommunikationsformen im Netz ausweiten samt ihrer Verlinkungspraktiken. Während das Chemnitzer Projekt als methodische Antwort neben inhaltlich orientierten Samplings auch die Akteursrollen und Eigenschaften der zum Einsatz kommenden (Online-)Kommunikationsformen zur Entwicklung von Auswahlkriterien nutzt, plädiert Hans-Jürgen Bucher (2013) für eine Einbeziehung netzwerkanalytischer Verfahren in die Diskursanalyse. Damit wird verstärkt der Netzstruktur von OnlineDiskursen mitsamt ihren machtabhängigen Konzentrierungen Rechnung getragen.
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Diese in eine integrative Beziehung zu den bedeutungskonstituierenden Praktiken zu bringen, bleibt jedoch weiterhin eine besondere methodische Herausforderung für die Zukunft.
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IV Diskurskodierungen
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19. Diskurslinguistik und Transsemiotizität Abstract: Der Handbuchartikel skizziert die Möglichkeiten, das Konzept des Diskurses, wie es im Anschluss an Foucault in die Linguistik aufgenommen worden ist, für die Analyse von Aussagen- und Wissenszusammenhängen fruchtbar zu machen, die nicht allein zwischen sprachlichen Äußerungen, sondern auch zwischen diesen und semiotischen Phänomenen unterschiedlichster Art bestehen bzw. zu vermuten sind. Damit wird ein transsemiotisches Diskurskonzept konturiert, das insbesondere im Rahmen einer kulturanalytischen Linguistik, d. h. für diskurslinguistische Untersuchungen, die nach der sozialen und kulturellen Bedingtheit und Wirkmächtigkeit von Sprache und Zeichen, Sprachgebrauch und Zeichengebrauch fragen, hilfreich erscheint. Darüber hinaus könnte es auch jenseits der Linguistik für diskursanalytische Studien des kulturellen Zusammenhangs, der kulturellen Voraussetzungen und Konsequenzen von Ensembles zeichenhafter Prozesse und Produkte ganz verschiedener Materialitäten bzw. Modalitäten verwendet werden.
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Einführung ‚Diskurs‘ und Transsemiotizität Transsemiotische Diskurslinguistik – Möglichkeiten ihrer Umsetzung Beispiel: ‚Spezies‘-Grenzen zwischen Mensch und Tier Fazit: Transsemiotische Diskurslinguistik und Wissen Literatur
1 Einführung Für unsere folgenden Überlegungen können wir nur sehr bedingt auf direkte Vorarbeiten im linguistischen Kontext zurückgreifen; Aufbau und Inhalt des vorliegenden Handbuchartikels sind entsprechend weniger auf die Zusammenführung und übersichtliche Darstellung vorhandener theoretischer Überlegungen und bereits vorgelegter Untersuchungsergebnisse ausgerichtet als vielmehr auf den Entwurf und die Exemplifizierung eines Diskurskonzepts, das wir als ein transsemiotisches anlegen. Gleichwohl ist das Konzept des transsemiotischen Diskurses sowohl auf diskurstheoretische Überlegungen Michel Foucaults wie auf neuere diskurslinguistische Diskussionen rückbeziehbar. Wir gewinnen unser Konzept folglich aus a) der Anknüpfung an und begründeten Abgrenzung von dem breiten Spektrum von Theorien, Methoden und Haltungen (vgl. die Formulierung bei Gardt 2007, 44), die sich derzeit dem diskurslinguistischen Feld zuordnen lassen (vgl. dazu die Übersichten Bluhm u. a. 2000; Gardt 2007; Spitzmüller/Warnke 2011, 78–117; https://doi.org/10.1515/9783110296075-019
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Reisigl 2013; Reisigl/Ziem 2014), und aus b) einer auswählenden und gewichtenden Lektüre der Texte Michel Foucaults, in denen er seinen Diskursbegriff maßgeblich entwickelt und besonders explizit beschreibt (vorrangig Foucault 1981 und Foucault 2003). Dementsprechend versuchen wir, im folgenden, zweiten Abschnitt zunächst den Begriff des ,transsemiotischen Diskurses‘ näher zu bestimmen und einzuordnen. Im dritten Abschnitt werden die grundsätzlichen Möglichkeiten diskutiert, mit einem solchen Diskursbegriff empirische Zeichenensembles zu untersuchen. Konkretisiert werden diese Möglichkeiten im vierten Abschnitt, der sich exemplarisch mit zeichenhaften Praktiken auseinandersetzt, die sich auf (Haus-)Tiere beziehen und die wir versuchsweise als Elemente eines transsemiotischen Diskurses lesen. Der letzte, fünfte Abschnitt widmet sich der Frage nach den epistemologischen Konsequenzen des transsemiotischen Diskurskonzepts, d. h. einerseits der Frage nach den empiriebasierten Erkenntnissen, die sich damit gewinnen lassen, andererseits derjenigen nach den Implikationen für die theoretische Konzeptualisierung von Sprache, Zeichen, Wissen und deren Zusammenhang. Vor allem in den theoretischen Abschnitten greifen wir auf Überlegungen aus Linke 2015 zurück. Wir elaborieren, präzisieren und exemplifizieren diese in unserem Beitrag und kommen entsprechend auch zu weiterführenden Schlussfolgerungen.
2 ‚Diskurs‘ und Transsemiotizität 2.1 Ein Definitionsversuch Unter einem ,Diskurs‘ verstehen wir ein dynamisches Netz von soziokulturell zeichenhaften Phänomenen, die vom selben Formationssystem geprägt sind. Diese vordergründig sehr einfache Bestimmung erfordert einige Erläuterungen: 1. Dass ein Diskurs ein Netz von Phänomenen ist, bedeutet, dass in einen Diskurs immer eine Vielzahl empirisch vorhandener, sinnlich wahrnehmbarer Entitäten eingehen. Eleganter könnte man formulieren, dass ein Diskurs eine Positivität bildet (vgl. Foucault 1981, 42 und 145–147; Foucault 2003, 10, 35 und 38). Bei den für einen Diskurs konstitutiven Phänomenen kann es sich sowohl (a) um unreflektierte, unabsichtliche wie um voll bewusste, strategisch eingesetzte Handlungen, Vorgehensweisen, Praktiken oder, allgemeiner, Momente menschlichen Verhaltens handeln als auch (b) um dauerhaftere materielle, gegenständliche Ergebnisse oder Produkte menschlicher Tätigkeit als auch (c) um solche prozessualen Vorkommnisse oder materiellen Gegebenheiten, die zwar unabhängig von menschlicher Produktion oder menschlicher Einwirkung entstanden sind, aber Objekte gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und Deutung bilden. 2. Dass ein Diskurs ein Netz von zeichenhaften Phänomenen ist, impliziert, dass den entsprechenden Phänomenen über ihr positives Sein hinaus eine semiotische
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Qualität oder Signifikanz zukommt. Dies gilt in besonders augenfälliger Weise für sprachliche Äußerungen, grundsätzlich jedoch für Phänomene ganz unterschiedlicher Art, z. B., um nur einige wenige zu nennen, für Musikstücke, Spielzeug, Lebensmittel, Bilder, Möbel, Architektur, Kleidung, Kommunikationsapparate und für die Prozesse von deren Produktion und Rezeption bzw. des Umgangs mit ihnen. Mit Blick auf die Sprache ist herauszustreichen, dass die diskursive Signifikanz eines – mehr oder weniger komplexen – sprachlichen Ausdrucks nicht notwendig mit dessen semantischer Bedeutung zusammenfällt und unter Umständen nur indirekt mit dieser verbunden ist. 3. Dass ein Diskurs ein Netz von soziokulturell zeichenhaften Phänomenen ist, heißt, dass die entsprechenden Signifikanzen nicht nur Gegenstand bzw. Ergebnis individueller Deutungsprozesse sind, sondern dass ihnen gesellschaftliche Relevanz zukommt, dass also die Phänomene kollektiv bekannt sind und von vielen Individuen ähnlich ,gelesen‘ bzw. verstanden werden. 4. Dass wir mit Blick auf die den Diskurs konstituierenden soziokulturell zeichenhaften Phänomene von einem dynamischen Netz sprechen, signalisiert unser Verständnis von Diskursen als nicht additiv oder summativ zu begreifenden und nicht statischen Ganzheiten, sondern als assoziativ-integrativ zu denkenden, in ständigem Wandel befindlichen Assemblagen. 5. Dass ein Diskurs schließlich ein dynamisches Netz von soziokulturell zeichenhaften Phänomenen ist, die vom selben Formationssystem geprägt sind, soll – mit deutlichem Rückbezug auf Foucault (vgl. 1981, vor allem 108–112 und 165– 171) – besagen, dass die Elemente eines Diskurses in Bezug zu einem kohärenten Set mentalitärer Prämissen, zu einem Set von Verhaltensmöglichkeiten und -neigungen, Konzeptualisierungen, Überzeugungen, Wertungen, Affektdispositionen usw. stehen. Dabei haben wir ein anderes, breiteres Verständnis von Mentalität als Foucault selbst (vgl. dazu Foucault 1981, 34, 92 und 176), das vielmehr demjenigen von Fritz Hermanns (vgl. 1995, 72–79) entspricht. Das Set mentalitärer Prämissen wird, der Soziokulturalität der Diskursphänomene entsprechend, von einer kleineren oder größeren Kommunikationsgemeinschaft geteilt, d. h. es ist immer an ein menschliches Kollektiv gebunden. Das Formationssystem ist nicht direkt beobachtbar, es wird erst im bzw. als Diskurs manifest. Als Set mentalitärer Prämissen, die ineinander greifen, ist das Formationssystem zudem nicht losgelöst von dem zu verstehen, was außerhalb der Köpfe und Körper der Akteure ist – wozu u. a. Machtstrukturen, materielle Lebensbedingungen und, nicht zu vernachlässigen, andere Diskurse gehören. Das Formationssystem stiftet die Einheit eines Diskurses und macht die Phänomene, die Elemente des Diskurses sind, zu dessen ,Aussagen‘, insofern sie alle als Indikatoren und Wirkungsfaktoren des Formationssystems fungieren. Das Formationssystem bildet die Existenzbedingung dieser Phänomene als Phänomene eines Diskurses, es prägt oder, wie aus der Bezeichnung hervorgeht, es formiert sie; es wird aber auch seinerseits durch diskursive Phänomene konstituiert und, da sinnlich wahrnehmbar gemacht, zugleich stabilisiert. Diskurs(e) und
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Formationssystem(e) bedingen sich also gegenseitig und sind insofern gleichursprünglich. Die Vorstellung, dass Formationssysteme gegenüber Diskursen vorgängig sind oder gar eine eigenständige Existenz unabhängig von diskursiver Konkretisierung haben, erscheint uns als unzutreffend.
2.2 Diskussion Das umrissene Diskurskonzept deckt sich in vielen Punkten mit Diskursverständnissen, die in der gegenwärtigen linguistischen Forschung vertreten werden. Wertet man eine exemplarische Textauswahl aus – etwa die klassischen Referenztexte Busse/Teubert 1994 (14–16) und Hermanns 1995 (86–91), die Metastudien Gardt 2007 (27–30) und Reisigl 2013, die Einleitungen bzw. Einführungen in aktuelle Sammelbände Warnke 2007 (9) und Busse 2013 (38–39), die neueren Dissertationen Faulstich 2008 (4, 24 und 30–33) und Spieß 2011 (110–115) sowie die kürzlich erschienene Einführung Niehr 2014 (29–32) –, dann erscheinen diese Diskursverständnisse trotz ihrer Uneinheitlichkeit in vieler Hinsicht als kompatibel miteinander. Besonders häufig wird die Auffassung vertreten, dass ein Diskurs ein Ensemble von 1) tatsächlich gemachten 2) sprachlichen Äußerungen oder Texten zu 3) einem Thema oder Themenkomplex ist. Diskussionswürdiger als die Gemeinsamkeiten sind für uns die Unterschiede zwischen dem im Folgenden näher zu charakterisierenden transsemiotischen Diskurskonzept und dem, was wir als diskurslinguistische ,Mehrheitsmeinung‘ ausmachen. Die Abweichungen liegen aus unserer Sicht vor allem in zwei Bereichen, die sich mit den Stichwörtern Thematizität und Transtextualität bezeichnen lassen. Sie hängen direkt mit der von uns postulierten Transsemiotizität von Diskursen zusammen. Wenn wir nun genauer auf diese Abweichungen eingehen und sie begründen, so ist dies nicht mit der Absicht verbunden, die Nützlichkeit, gar die Berechtigung anderer Diskurskonzepte infrage zu stellen. Im Gegenteil: Wir sind der Auffassung, dass in der Disziplin der linguistischen Diskursanalyse (oder, hier von uns synonym gebraucht, Diskurslinguistik) parallel mit verschiedenen – reflektierten, gekennzeichneten und begründeten – Diskurskonzepten gearbeitet werden sollte, insofern sich diese in ihrem Erkenntnispotenzial gegenseitig vervollständigen. In diesem Sinne ist das transsemiotische Diskurskonzept als eine Ergänzung des existierenden Spektrums von Diskurskonzepten gedacht, eine Ergänzung, die soziokulturell bzw. gesellschaftlich relevante Aussagen- und Wissenszusammenhänge in nochmals anderer, spezifischer Weise sichtbar machen und ausleuchten könnte.
Thematizität Dass in der obigen Bestimmung von ,Diskurs‘ das Stichwort ,Thema‘ nicht fällt, verweist bereits ex negativo auf eine Abweichung vom derzeitigen diskurslinguisti-
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schen ,Mainstream‘. Die Thematizität von Diskursen, dass Diskurse also aus Äußerungen oder Texten zu einem Thema oder Themenkomplex bestehen, ist – auch wenn es abweichende Positionen gibt (vgl. etwa Warnke 2007, 18; Schröter 2011, 6; Linke 2015, 71–73) – im Kontext linguistischer Diskursanalyse ein zentrales Definiens des Gegenstands. Insofern kommt der linguistische Diskursbegriff dem alltagssprachlichen, zumindest aber dem des Feuilletons recht nahe: auch dieser ist deutlich thematisch fokussiert. Mit Ausdrücken wie ,Atomausstiegsdiskurs‘ oder ,universitärer Exellenzdiskurs‘ ist dort meist so viel wie ‚alle Beiträge zur gesellschaftlichen Diskussion für und wider den Atomausstieg‘ bzw. ‚alles, was derzeit zu universitärer Exzellenz gesagt und geschrieben wird‘ gemeint. ,Diskurse‘ erscheinen dadurch als Summen thematisch bestimmter Äußerungen, als thematisch bestimmte sprachliche Totalitäten, als „Zeitgespräch“, um Hermanns’ (1995, 88) Erklärung des Ausdrucks ,Diskurs‘ zu zitieren. Die Einheit eines Diskurses über ein Thema und damit in erster Linie semantisch zu bestimmen, ist nicht zuletzt methodisch bzw. forschungspraktisch von Vorteil, da ein solcher Diskursbegriff relativ leicht zu operationalisieren ist. So erleichtert der thematische Zugriff u. a. die Zusammenstellung des Untersuchungsmaterials – über die Eingabe entsprechender Stichwörter lassen sich rasch diejenigen Äußerungen bzw. Texte in digitalen Korpora auffinden, die das gewählte Thema betreffen und damit zu dem Diskurs gehören, der untersucht werden soll. Entsprechend setzen viele diskurslinguistische Analysen semantische Schwerpunkte: Dass Niehr (2014, 70) in seiner Einführung die „drei Analyseebenen“ der „Lexik, Metaphorik und Argumentation“ genauer thematisiert, reflektiert den Umstand, dass diese sich, wie er schreibt, „bei der Erforschung von Diskursen aus linguistischer Perspektive als zentral erwiesen haben“. Wenn wir hier dennoch von einer thematischen Bestimmung von Diskursen absehen, so zum einen, weil uns nicht nur die kritische Analyse, sondern auch die Entdeckung von Diskursen interessiert. Die diskurslinguistische Beschäftigung mit thematisch definierten Diskursen setzt deren Existenz aber immer schon voraus. Häufig gilt sie Diskursen, die in der gesellschaftlichen, politischen, massenmedialen Diskussion bereits mit einem ,Label‘ versehen und damit ,gesetzt‘ sind, etwa dem ,Migrationsdiskurs‘ (vgl. Jung u. a. 1997; Jung u. a. 2000; Wengeler 2003), dem ,Krisendiskurs‘ (vgl. Wengeler 2013; Wengeler/Ziem 2014), dem ,Sterbehilfediskurs‘ (vgl. Felder/Stegmeier 2012) usw. Die Entdeckung von Diskursen gehört deshalb bislang nicht zum diskurslinguistischen Kerngeschäft. Zum anderen ist ausschlaggebend, dass sich ‚Thema‘ als traditionell sprachbezogener Begriff nicht ohne Weiteres auf nicht-sprachliche zeichenhafte Phänomene wie etwa Körperpraktiken oder Artefakte anwenden lässt. Zumindest in einem klassisch semantisch begründeten Verständnis kann er folglich nicht im Zentrum eines transsemiotischen Diskurskonzepts stehen. Dasjenige, was einen Diskurs ,im Innersten zusammenhält‘, was ihm Kohärenz verleiht und was es ermöglicht, einen Diskurs trotz unscharfer Grenzen und deren
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permanenter Verschiebungen überhaupt als solchen zu identifizieren, ist dem transsemiotischen Diskurskonzept zufolge das Formationssystem. Das Konzept lehnt sich damit eng an Michel Foucaults Entwürfe an: Wohl nicht zuletzt auch in der Absicht, eine thematisch-semantische oder allzu konkret-gegenstandsbezogene Bestimmung zu vermeiden, beschreibt Foucault ,Diskurs‘ als „Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören“ (Foucault 1981, 156, vgl. 58, 70–71, 105, 108 und 170). Entsprechend schließt er an unterschiedlichen Stellen mehr oder weniger explizit aus, dass ein Diskurs von den Äußerungen zu einem „Objekt“, „Gegenstand“ oder „Thema“ (Foucault 1981, 49, 50 und 54) konstituiert wird – diese werden für ihn gerade umgekehrt erst vom Diskurs konstituiert. Aus dem Verständnis des Formationssystems als Set mentalitärer Prämissen, als Set von Verhaltensmöglichkeiten und -neigungen, Konzeptualisierungen, Überzeugungen, Wertungen, Affektdispositionen etc., also als ,Wissen‘ im weiteren und formenden Sinne, folgt allerdings – mehr oder weniger zwingend – die Gerichtetheit oder Bezogenheit des Formationssystems, insofern die Konzeptualisierungen, Überzeugungen, Wertungen usw. immer schon Überzeugungen, Wertungen, Konzeptualisierungen von etwas sind. Formationssysteme wären also jeweils auf eine Art Bezugspunkt gerichtet, dem die Phänomene des zugehörigen Diskurses aber nur indirekt, über ihre Prägung durch das Formationssystem, verpflichtet sind. Die Bezeichnung eines Bezugspunkts mag derjenigen eines Themas ähneln, ist aber nicht damit identisch. So lassen sich etwa die in Abschnitt 4 exemplarisch diskutierten sprachlichen wie nichtsprachlichen Praktiken allesamt als Momente einer Veränderung von mentalitären Prämissen verstehen, deren Bezugspunkt die soziale Relation zwischen Mensch und (Haus-)Tier ist. Der entsprechende Diskurs verhandelt diese Relation, ohne dass seine Elemente jedoch dieser Relation thematisch verpflichtet wären.
Transtextualität Es ist ebenfalls kein Zufall, dass im obigen Definitionsversuch nicht davon die Rede ist, dass ein Diskurs eine ,transtextuelle‘ Größe sei, obwohl zahlreiche diskurslinguistische Arbeiten ex- oder implizit von einem transtextuellen Verständnis von Diskurs ausgehen. Besonders prominent haben Jürgen Spitzmüller und Ingo Warnke das Stichwort im Titel eines Sammelbandes und ihrer Einführung in die Diskurslinguistik platziert (vgl. Warnke/Spitzmüller 2008; Spitzmüller/Warnke 2011). Grundsätzlich lassen sich zwei Lesarten von ,transtextuell‘ unterscheiden, die allerdings in der Regel nicht ausdrücklich getrennt werden. Die erste Lesart siedelt den Diskurs als sprachlichen Rang oder sprachliche Ebene oberhalb des Textes an. In dieser – sehr häufig anzutreffenden – Modellierung sind Diskurse transtextuelle Größen im Sinne eines virtuellen Textkorpus, welches methodisch reflektiert auf eine überschaubare Menge repräsentativer Textexemplare reduziert und auf diese Weise in einen konkreten Untersuchungsgegenstand überführt werden kann. In
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seiner Einführung in die Diskurslinguistik zählt Thomas Niehr (2014, 29) dementsprechend genau diese Form von Transtextualität zu den definitorischen Merkmalen von ,Diskurs‘, „auf die sich linguistische Diskursforscher wohl einigen könnten“. Die Auffassung des Diskurses als ausgreifende und komplexe sprachliche Ebene jenseits des (Einzel-)Textes ist gut kompatibel mit dem Verständnis von Diskursen als thematischen Einheiten, insofern sich das Thema als dasjenige Kriterium denken lässt, das eine Reihe von Texten oder von Elementen aus diesen zu einem größeren Ganzen verbindet. Zugleich liegt diese Sichtweise sprachwissenschaftsgeschichtlich nahe: Dass die Textlinguistik wesentlich aus der Einsicht heraus entstanden ist, dass es eine sprachliche Einheit jenseits von Sätzen gibt, zu der sich diese in systematischer Weise verbinden, begünstigt die Vorstellung, dass Diskurse eine systematische Größe jenseits von Texten sind, in welche diese wiederum eingehen (zur Verbreitung dieser Ansicht auch in der Textlinguistik vgl. Warnke 2007, 7; zur „Einbindung des Diskurses in die Konstituentenstruktur der Sprache“ samt kritischer Hinterfragung vgl. außerdem Spitzmüller/Warnke 2011, 22–25, hier 25). Den Diskurs am oberen Ende der klassischen Aszendenz sprachlicher Ränge zu verorten, die von ,Laut‘ bzw. ,Buchstabe‘ über ,Wort‘ und ,Satz‘ zu ,Text‘ bzw. ,Gespräch‘ führt, hat den Vorteil, die Kategorie des Diskurses gleich in doppelter Weise linguistisch zu disziplinieren: Dem Diskurs wird ein wohldefinierter ‚Ort‘ in einer bestehenden disziplinären Architektur zugewiesen, und die Diskurslinguistik kann damit einen gleichberechtigten Platz neben den anderen linguistischen Teildisziplinen (wie Phonologie, Morphologie, Syntax, Textlinguistik) beanspruchen. Gegenüber dieser ‚architektonischen‘ Lesart von Transtextualität geben wir jedoch der zweiten möglichen den Vorzug, in der ein Diskurs nicht oberhalb, sondern durch die Größe des Textes hindurch existiert. Wenn sich ein Diskurs aus sprachlichen und nicht-sprachlichen zeichenhaften Phänomenen ergibt, lässt er sich sinnvoll nur als eine Analyseeinheit denken, welche die Ebene des Textes kategoriell transgrediert, nicht aber als eine Einheit, die die Ebene des Textes aufgrund ihrer Komplexität bzw. als eine zusätzliche Organisationsstufe (à la ,mehrere Sätze ergeben einen Text, mehrere Texte ergeben einen Diskurs‘) überschreitet. Wir denken den Diskurs stattdessen als eine quer zur Aszendenz von Laut, Wort, Phrase, Satz und Text liegende Größe, welche die Systematik sprachlicher Ränge nicht ergänzt oder erweitert, sondern sprengt, weil sie auf allen sprachlichen Rängen und darüber hinaus greifbar werden kann. Diskursanalyse als transtextuelle Analyse wäre damit nicht mehr in der Architektur der klassischen Analyseebenen anzusiedeln. In diesem zweiten Verständnis von Transtextualität lassen sich Diskurse zwar ebenfalls (und unter Umständen vorrangig) in Wörtern, Sätzen und Texten erfassen, sie sind aber kategoriell nicht an sprachliche Prozesse und Produkte gebunden. Mit anderen Worten: Auch wenn Diskursanalysen auch und gerade sprachliche Phänomene in Texten bzw. Ko- und Kontexten berücksichtigen können und sollen, kommt der Textebene nicht von vornherein ein privilegierter Status zu.
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Transsemiotizität Unser a-thematisches und in der zweiten beschriebenen Lesart transtextuelles Verständnis von Diskurs eröffnet also die Möglichkeit, Aussagen von Diskursen nicht nur in sprachlicher Form (gebunden an sprachliche Äußerungen), sondern in den unterschiedlichsten semiotischen Ausdrucksformen zu erkennen, beispielsweise in fotografischen Darstellungen, Hygienepraktiken, Schulstrukturen, Tanzformen oder wissenschaftlichen Apparaturen – auch wenn diese semiotischen Phänomene, um eine Reformulierung Foucault’scher Gedanken durch Gilles Deleuze aufzugreifen, „ohne gemeinsames Maß, ohne jede Reduktion oder diskursive Äquivalenz“ sind (Deleuze 1992, 34; vgl. hierzu auch Rabinow/Dreyfus 1994, 70). Transtextualität in der zweiten Lesart geht deshalb eng mit unserem im Folgenden näher zu erläuternden Verständnis von Transsemiotizität zusammen. Analog zu ,transtextuell‘ verstehen wir unter ,transsemiotisch‘ so viel wie ,quer durch sprachliche Äußerungen und semiotische Phänomene aller anderen denkbaren Arten hindurch‘. Dass Diskurse, wie wir bereits formuliert haben, nicht nur als transtextuelle, sondern auch als transsemiotische Größen gedacht werden können, lässt sich durch das theoretisch kaum je thematisierte, lebensweltlich aber recht selbstverständliche Faktum stützen, dass es uns im Alltag im Normalfall keinerlei Mühe macht, in der semiotischen Vielfalt und Heterogenität der uns umgebenden Welt Kohärenzen wahrzunehmen und Ordnungen auszumachen, die sowohl Wörter als auch Handlungen und Dinge in ihrer jeweiligen Zeichenhaftigkeit umfassen. Innerhalb der Linguistik ist es demgegenüber immer noch weitgehend selbstverständlich, dass Diskurse ausschließlich aus sprachlichen Äußerungen bzw. Texten bestehen, und selbst die nicht-linguistische Diskursanalyse ist erstaunlich sprachfixiert (vgl. dazu etwa die aktuellen Übersichtsartikel zur Diskursforschung in unterschiedlichen Disziplinen und Interdisziplinen in Angermüller u. a. 2014). Allerdings wendet sich die linguistische Diskursanalyse in letzter Zeit vermehrt auch dem Nicht-Sprachlichen, insbesondere dem Bildlichen zu. So enthalten etwa aktuelle diskurslinguistische Sammelbände auch Beiträge, die Nicht-Sprachliches zum Gegenstand machen bzw. zumindest für dessen Einbezug in die Analyse plädieren (vgl. vorrangig Meier 2008; Fraas/Meier 2013; Karg 2013; Klug 2013; Meier 2013; Spieß 2013; Spitzmüller 2013; Warnke 2013; Wengeler 2013). Zu fragen ist, inwieweit in diesen Beiträgen vor allem an solche nicht-sprachlichen Zeichenphänomene gedacht ist, die direkt auf Sprachliches bezogen sind, also etwa an Bilder, die „bestimmte Aussagen, Argumente etc. verstärken und selbst eine argumentative Funktion im Diskurs einnehmen“, wie Constanze Spieß formuliert (Spieß 2014, 197). Ähnlich fordert etwa Stefan Meier in einem Beitrag aus sozial- bzw. bildwissenschaftlichem Kontext heraus zwar, „diskursive Praxis als multimodale Kommunikation zu verstehen“ (Meier 2011, 508), doch geht er in der Konkretisierung dieser Forderung nicht über das hinaus, was in der multimodalen Textanalyse bereits geleistet wird, d. h. es wird in erster Linie der direkte gegenseitige Bezug von bildli-
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chen und sprachlichen Aussagen im Kontext von printmedialen oder filmischen Kommunikaten berücksichtigt. Dass es gegenwärtig gleichwohl zu einer Öffnung des Diskursbegriffs auf Nicht-Sprachliches hin kommt (vgl. etwa Warnke 2007, 16; Warnke/Spitzmüller 2008, 5 und 8–14; Roth/Spiegel 2013, 10; Reisigl/Warnke 2013, 8), ist unserer Einschätzung nach auf drei allgemeinere wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen zurückzuführen: erstens auf die vermehrte Beachtung von Akteuren in der Diskurslinguistik (die mit der Aufmerksamkeit auf deren nichtsprachliches Handeln einhergeht), zweitens auf die Sensibilisierung für die Multimodalität mündlicher wie schriftlicher Kommunikation in der Linguistik ganz allgemein (die die Verzahnung von Sprache und anderen semiotischen Ressourcen in den Fokus geraten lässt) und drittens auf das zunehmende Interesse am Konzept der Praktik sowohl in der Gesprächslinguistik als auch in den benachbarten Sozialund Kulturwissenschaften (das gerade auch materielle Objekte und Infrastrukturen als Partizipanden von Praktiken ins Zentrum rückt). Das hier vorgestellte transsemiotische Diskurskonzept sieht sich in der Fortsetzung dieser Entwicklungslinien. Mit anderen Worten: Wir wollen das Konzept ‚Diskurs‘ nicht linguistisch disziplinieren, sondern es dazu nutzen, aus der Linguistik heraus neues analytisches Terrain zu erschließen. Dies bedeutet auch, dass wir die schon bei Foucault angelegte Chamäleonhaftigkeit des Begriffs nicht bedauern, sondern uns produktiv zu eigen machen. So finden sich einerseits viele Formulierungen Foucaults, die eine gewisse ‚Sprachfixierung‘ seines Diskurskonzepts zu stützen scheinen: Es geht für ihn, wie er schreibt, in erster Linie um „sprachliche Performanzen“ (Foucault 1981, 168, Hervorhebung AL/JS, vgl. auch 167–169 und 182); ja Sprache selbst „existiert nur als Konstruktionssystem für mögliche Aussagen“, und das „Feld der diskursiven Ereignisse“ ist für ihn „stets die endliche und zur Zeit begrenzte Menge von allein den linguistischen Sequenzen, die formuliert worden sind“ (Foucault 1981, 124, 42, Hervorhebung AL/JS, vgl. weiterhin 41 sowie Foucault 2003, 10). Andererseits erklärt Foucault Diskurse aber auch semiotisch offener als „Mengen von Zeichenfolgen“ (Foucault 1981, 156), und er postuliert mit der Aussage (frz. énoncé) (vgl. Foucault 1981, 41, 115–117 und 170) eine Grundeinheit, die er explizit von der Bindung an traditionelle sprachliche Kategorien löst: „Man findet Aussagen ohne legitime propositionelle Struktur; man findet Aussagen dort, wo man keinen Satz erkennen kann; man findet mehr Aussagen, als man Sprechakte isolieren kann“ (Foucault 1981, 122). Aussagen seien „keine Einheit neben – über oder unter – den Sätzen oder den Propositionen“, sie seien vielmehr „in Einheiten dieser Gattung eingehüllt oder sogar in Zeichenfolgen, die nicht ihren Gesetzen gehorchen“ (Foucault 1981, 161, vgl. 126 und 154). Diese (und andere) Formulierungen sind zwar auch, aber wohl nicht nur als Ausdruck eines Bemühens um Abgrenzung von der damaligen Sprachwissenschaft zu lesen (zum mehr als ambivalenten Verhältnis Foucaults zu dieser Sprachwissenschaft vgl. Busse 1987, 242–245). Foucaults strikte Differenzierung zwischen Aussagen und Äußerungen (frz. énonciations) (vgl. Foucault 1981, 148) wie ebenso seine Betonung, dass die Aussagen eines Diskurses „in ihrer Form verschieden“ und „in der Zeit verstreut“ sind
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(Foucault 1981, 49), legen gleichfalls ein transsemiotisches Verständnis des Diskurskonzepts nahe. Zudem scheint gerade die geistige Bewegung der Transgression, die für Foucaults Denk- und Schreibstil insgesamt typisch ist, als im Diskursbegriff und in der mit ihm verbundenen Absicht, die mentalitären Prämissen historischen Denkens und Handelns aufzuspüren, angelegt. Das Hinausgehen über bislang übliche Untersuchungseinheiten, die Betrachtung von Gegenständen quer zur traditionellen Sichtweise, das Aufspüren von Verbindungen, die sich zwischen scheinbar vollkommen Disparatem zeigen (bei Foucault etwa zwischen Formeln und Graphiken, aber auch Organisationen, Wirtschaftsformen und sozialen Relationen: vgl. Foucault 1981, 120 und 235), das Überschreiten disziplinärer Grenzen – all das macht die analytische Arbeit sicher unübersichtlicher, birgt aber auch die Möglichkeit, bislang Unbemerktes zu entdecken. Die Bändigung des Diskursbegriffs im Käfig der sprachlichen Zeichenwelt kann deshalb zwar je nach analytischer Absicht durchaus sinnvoll sein, sollte aber nicht zum Grundsatz diskursanalytischer, auch nicht diskurslinguistischer Untersuchungen gemacht werden. An diesem Punkt drängt sich die Frage auf, ob nicht Foucaults Begriff des Dispositivs – über den in letzter Zeit in kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen vermehrt nachgedacht worden ist (vgl. z. B. Agamben 2008; Caborn Wengler u. a. 2013), der allerdings bis jetzt durchaus unterschiedlich gebraucht wird (vgl. etwa Bührmann/Schneider 2013, 22–23 oder Caborn Wengler u. a. 2013, 8–9 und 13) – dem transsemiotischen Diskurskonzept, wie es hier entworfen wird, sehr nahe kommt. Wenn Foucault in „Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit“ ,Dispositiv‘ explizit als „Netz“ zwischen „Elementen“ definiert, die „ein entschieden heterogenes Ensemble“ bilden, „das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl [sic] wie Ungesagtes umfaßt“ (Foucault 1978, 119–120, vgl. für seine weiteren Ausführungen 119–125), dann zielt er offenbar gerade auf die semiotische Aufladung von Verhaltensweisen und Artefakten sowie die Sinn-Beziehungen zwischen materiell sehr unterschiedlichen menschlichen Hervorbringungen ab. Jedoch fügt Foucault hinzu, dass es sich beim Dispositiv um eine „Formation“ handle, „deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion“ (Foucault 1978, 120, Hervorhebung im Original). Durch diesen Bezug zum Kalkül und damit implizit auch zu hegemonialen gesellschaftlichen Kräften und deren Bemühungen um Macht(erhalt) weicht das Foucault’sche Dispositiv von unserem transsemiotischen Diskurskonzept letzten Endes doch deutlich ab. Zudem spielt der Dispositivbegriff in den Arbeiten Foucaults, die den Diskursbegriff zentral setzen und auf die wir uns hier vorrangig beziehen, praktisch keine Rolle (vgl. Foucault 1981; Foucault 2003; vgl. dagegen Spieß 2013, die einen Vorschlag zur Integration des Dispositivbegriffs in die Diskurslinguistik macht, der auf die Berücksichtigung von Nicht-Sprachlichem zielt).
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3 Transsemiotische Diskurslinguistik – Möglichkeiten ihrer Umsetzung Wenn man das beschriebene transsemiotische und zugleich a-thematische Diskurskonzept für eine konkrete Diskursanalyse nutzen möchte, stellt sich zunächst die Frage, wie man einen Diskurs überhaupt erkennt. Wo soll man Ausschau halten, wenn man annimmt, dass ein Diskurs aus semiotisch unterschiedlichen und raumzeitlich gestreuten Phänomenen besteht, die in sehr verschiedenen Kontexten erscheinen können und nicht zwangsläufig semantisch resp. thematisch aufeinander bezogen sind? Die wiederum vordergründig einfache Antwort lautet: dort, wo zwei oder mehr semiotische Phänomene sich als potenzielle Aussagen desselben Diskurses identifizieren lassen, weil sie sinnlich wahrnehmbare Gemeinsamkeiten haben oder, wie Michel Foucault formuliert, weil sie „Träger einer gewissen Regelmäßigkeit“ sind (Foucault 1981, 206, vgl. 170 und 205–206). Die Gemeinsamkeiten können durchaus unterschiedlicher Art sein. Sie liegen irgendwo auf einer langen Achse, die von unmittelbar evidenten Ähnlichkeiten der äußeren Erscheinung (bei sprachlichen Phänomenen können es unter Umständen tatsächlich thematisch-semantische Gemeinsamkeiten sein, die sich in Formulierungsähnlichkeiten äußern) bis hin zu diskreten, aber aufdeckbaren ‚unsinnlichen Ähnlichkeiten‘ (vgl. die Formulierung bei Benjamin 1977, passim) bzw. Homologien entweder der inneren Struktur oder der Position innerhalb einer umfassenderen Struktur reicht. Solche Gemeinsamkeiten erlauben die Hypothese, dass die entsprechenden Phänomene durch dasselbe Formationssystem geprägt sind. Wie oben schon angesprochen, ist die Rede vom ,Formationssystem‘ dabei ganz wörtlich zu nehmen: Die Bedingungen, aus denen ein Formationssystem besteht, formieren Phänomene, indem sie deren sinnlich wahrnehmbare Gestalt, deren innere Struktur und deren strukturelle Position beeinflussen. Die Formation hinterlässt nicht immer, aber in aller Regel beobachtbare Spuren, so die Annahme. Je mehr Phänomene zu finden sind, die einerseits empirische Gemeinsamkeiten haben – die also ein semiotisches Muster bilden – und die sich andererseits glaubhaft auf dasselbe postulierte Set mentalitärer Prämissen zurückführen lassen, desto plausibler ist es, dass sich in ihnen ein Diskurs materialisiert, der von diesem Formationssystem bestimmt wird. Den Anstoß dazu, die Welt um uns herum nach solchen Ähnlichkeiten abzutasten, können Irritationserlebnisse geben. Irritationserlebnisse lassen sich zwar nicht systematisch suchen oder gar intentional erzeugen, bilden unserer Ansicht nach aber aussichtsreiche Hinweise auf Diskurse, die sich gezielt überprüfen lassen. Wir fassen eine Vielzahl von Momenten des ,Sich-gestört-Fühlens‘ darunter: das Stutzen über Beobachtungen im Alltag, das Innehalten angesichts von Vorkommnissen, die in unserem Erwartungshorizont nicht unterzubringen sind, wie auch das Bemerken von Kohärenzbrüchen in Handlungsfolgen, von Unvereinbarkeiten zwischen Ereignissen und deren Kontexten oder von stilistischen Unstimmigkeiten. Vielversprechend sind solche Irritationen gerade dann, wenn vorderhand unklar
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ist, was genau denn befremdet oder überrascht, in welcher Weise also Erwartungen enttäuscht und eingespielte Deutungsmuster verunsichert werden, und wenn sie sich nicht an einem als singulär identifizierbaren Einzelfall festmachen, sondern gerade darin gründen, dass das in Frage stehende Phänomen uns mit dem Anspruch einer gewissen Normalität entgegentritt bzw. sich in einer gewissen Systematizität zeigt – erst Serialität, Regelmäßigkeit oder Musterhaftigkeit erlaubt den Schluss auf ein zugrundeliegendes (neues oder sich veränderndes) Formationssystem. Solche Erlebnisse – so unsere Hypothese – können auf diskursive Veränderungen, auf die Auflösung älterer und/oder auf die Bildung neuer diskursiver Zusammenhänge verweisen. Dabei ist mit Gilles Deleuze davon auszugehen, dass sich diskursive Veränderungen „nicht auf einen Schlag, in einem Satz oder einem Schöpfungsakt, sondern stückweise, mit Überbleibseln, Verschiebungen, Reaktivierungen früherer Elemente“ (Deleuze 1992, 36) vollziehen. Der Sinn einer Diskursanalyse, die von solchen Irritationen ihren Ausgang nimmt, wäre es, die (Re-)Formierung von Diskursen aufzudecken und deren transsemiotische Reichweite sowie den damit verbundenen gesellschaftlichen ‚Impact‘ zu verstehen. In jedem Fall ist es in einer transsemiotischen Diskursanalyse erforderlich, zum einen das vermutete semiotische Muster durch zeitlich, räumlich und sozial angelagerte kulturelle Prozesse und Produkte hindurch zu verfolgen und zum anderen den Bedingungen nachzugehen, die für die Prozesse und Produkte, in denen sich das Muster zeigt, als Formationssystem fungieren könnten. Jede transsemiotische Diskursanalyse bedarf also der empirischen Exploration und der soziokulturellen Informiertheit – ohne die Auseinandersetzung mit ganz unterschiedlichem empirischen Material und ohne die Kenntnisnahme von Forschungsergebnissen auch aus Nachbardisziplinen wie der Kunstwissenschaft, Literaturwissenschaft, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Philosophie, Religionswissenschaft, Volkskunde usw. wird es nicht gehen. Dabei wird man, wenn man die Gemeinsamkeiten zwischen diskursiven Aussagen unterschiedlicher semiotischer Qualität beschreiben und erklären will, einerseits mit Gewinn auf Analysekategorien der genannten Fächer zurückgreifen, andererseits immer wieder die Last bzw. das Vergnügen haben, neue Analysekategorien zu entwickeln, die den gewählten Untersuchungsgegenständen optimal angepasst sind. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass diskursanalytische Untersuchungen nicht-sprachlicher Phänomene, wenn sie von Linguisten durchgeführt werden, unprofessionell werden können (vgl. Warnke/Spitzmüller 2008, 4–5). Diese Gefahr besteht tatsächlich. Sie trifft jedoch jede Disziplin, welche sich über den eigenen methodisch-theoretischen Tellerrand hinaus diskursanalytisch betätigen möchte und scheint gewissermaßen der Preis dafür zu sein, sich mit einem Phänomen zu befassen, das sich nicht in den jeweils geltenden Grenzen akademischer Disziplinen verorten lässt. Was dann allerdings auch heißt, dass die Ergebnisse transsemiotischer Diskursanalysen zwar als fundierte, aber modifizierbare Hypothesen, d. h. als linguistischer Vorschlag, der zur interdisziplinären Diskussion gestellt wird, zu verstehen sind.
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4 Beispiel: ‚Spezies‘-Grenzen zwischen Mensch und Tier Wir exemplifizieren im Folgenden in aller notwendigen Kürze und Skizzenhaftigkeit, was es heißen könnte, ausgehend von einem Moment der Irritation eine transsemiotische Diskursanalyse zu entwickeln. Dabei wollen wir auch illustrieren, dass materiell und semiotisch so unterschiedliche Phänomene wie sprachliche und körperliche Handlungsmuster, onomastische Tendenzen, kulturelle Institutionen oder massenmediale Kommunikate als Aussagen eines Diskurses verstanden werden können. Den Ausgangspunkt unseres Beispiels bildet eine Irritation, von der eine Bekannte einer der Autorinnen berichtete: Sie habe für ihre Katze in der Tierarztpraxis einen Ausweis erhalten, in welchem der Rufname der Katze als ,Katzenvorname‘ und der Nachname der Besitzerin als ‚Katzennachname‘ aufgeführt sei – analog zu Ausweisen für Menschen. Das irritierende Moment ist hier also ein sprachliches, ist aber nicht an das Sprechen oder Schreiben über das Thema ,Tiere‘ gebunden: Haustieren wie Hunden und Katzen werden in unserer Kultur im Normalfall nur Rufnamen gegeben, lediglich bei speziellen Rassezüchtungen sind komplexe Namensmuster üblich. Die Übertragung des Nachnamens der Besitzerin auf ihre Katze rückt Letztere ,namenssemiotisch‘ in einen familiären und damit genealogischen Bezug zu Ersterer, stellt also auf sprachlicher Ebene eine Überschreitung von ‚Spezies‘-Grenzen dar. Ausgehend von dieser Irritation haben wir nach sprachlichen wie nicht-sprachlichen Phänomenen gesucht, die eine Ähnlichkeit mit dieser aufweisen. Viele davon sind für uns ebenfalls in doppeltem Sinne ,merkwürdig‘: Die Vergabe von Namen für Haustiere, vor allem für Hunde und Katzen, hat sich in den letzten ca. 30 Jahren allgemein verändert: Erstens gleichen sich die beliebtesten (Vor-)Namen für Haustiere und für Menschen auffallend an – beispielsweise rangieren im Jahr 2013 Ben, Paul, Max, Emma und Lilly sowohl unter den 20 beliebtesten Namen für Hunde wie auch unter den 20 beliebtesten Namen für Kinder (vgl. etwa http://www.beliebte-vornamen.de sowie http://www.brigitte. de/wohnen/tiere/beliebtesten-hundenamen-1148074/; solche Listen sind zwar je nach Erhebungsmethode mehr oder weniger verlässlich, der angesprochene Trend ist aber mehrfach belegt; vgl. dazu auch Schaab 2012 sowie Anward/Linke 2015). Zweitens nähert sich offenbar ebenso der Entscheidungsprozess bei der Namenwahl für Haustiere demjenigen für Kinder an, was sich daraus schließen lässt, dass sich seit den 1990er Jahren umfangreiche Listen mit möglichen Hunde- und Katzennamen sowohl in Buchform wie auf einschlägigen Internetseiten mehren (vgl. z. B. die Bücher „1000 Katzennamen“ Linke-Grün 2003 oder „80 000 Hundenamen: Von Aabukir bis ZZ Top. Von Aabdea bis Zyriana. Der passende Namen für jeden Hund“ Klingen 2010). Entsprechende Listen mit Namen für Kinder sind bereits länger verbreitet. Auf Elternforen werden im Internet Erzählungen über Schwangerschaften und Geburten ausgetauscht. Gleichzeitig kursieren im Internet aber auch Erzählungen
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von Schwangerschaft und Geburt bei Haustieren, wobei letztere oft verblüffende Ähnlichkeit mit ersteren haben (vgl. http://www.golden-retriever-moers.de/Welpen/ B_Wurf/geburt_b_wurf.htm oder auch http://www.vom-burgtroll.de/geburtsberichtc-wurf; zu den menschlichen Schwangerschafts- und Geburtserzählungen im Internet vgl. Tienken 2013). In der Presse werden Hunde und Katzen in ,Human-Touch-Geschichten‘ über prominente und weniger prominente (menschliche) Zeitgenossen in den letzten Jahren häufig explizit als deren ,Familienmitglieder‘ bzw. als ,zur Familie gehörig‘ bezeichnet oder aber – nur durch die Angabe der Rassezugehörigkeit überhaupt als Tier identifizierbar – in der Reihe der Familienmitglieder aufgeführt, etwa in Wendungen wie ,… mit Ehemann Frederik, den Kindern Emma und Linus und Cockerspaniel Freddy‘ (vgl. hierzu ausführlicher Anward/Linke 2015). Haustiere werden nicht mehr nur in Fernsehsendungen, Filmen, Büchern und Comics, sondern zuletzt zusehends auch in nicht-fiktionalen Texten und Kommunikationsformen ‚animiert‘, d. h. sie treten dort als sprechende bzw. schreibende Wesen auf. So sind z. B. diverse internetbasierte soziale Netzwerke entstanden, auf denen Haustiere ein eigenes Profil unterhalten (vgl. „my social petwork“: http://www.mysocialpetwork.com/start; „cutest“: https://www.cutest.de/; „dogSpot“: http://www.dogspot.ch/; „catSpot“: http://www.catspot.ch/ usw.). In gewisser Hinsicht als extreme Variante solcher ‚Animation‘ können zudem die (noch?) vereinzelten Fälle gelten, in denen Tiere in Todesanzeigen in der Reihe der trauernden Hinterbliebenen aufgeführt werden. In einer französischsprachigen Todesanzeige in der Neuen Zürcher Zeitung etwa wird in der Liste der Trauernden die Katze der Verstorbenen als erste genannt: „Fatzli, son chat et fidèle compagnon“ (NZZ, 29. 10. 2013). Kleine Hunde (nicht nur junge Hunde) werden zunehmend habituell wie kleine Kinder auf dem Arm getragen. Entsprechende (trendsetzende?) Bilder vor allem von weiblichen Prominenten mit ihren Hunden lassen sich in den Printmedien sowie auf Internetseiten in großer Zahl finden, so z. B. bei einer Google-Suche mit den Stichwörtern ,Hund Paris Hilton‘. Viele dieser kleinen Hunde sind zudem mit Jacken, Pullovern, Hemden oder Halstüchern bekleidet (siehe Abb. 1). In den vergangenen Jahren sind auffällig viele Friedhöfe und Krematorien für Haustiere und entsprechend auf Tierbestattungen spezialisierte Unternehmen gegründet worden (vgl. u. a. Brandes 2009; für das mediale Echo des Trends zur Tierbestattungen vgl. beispielsweise NZZ, 28. 07. 2009: https://www.nzz.ch/in_rti_ entsteht_ein_krematorium_fr_tierkadaver-1.3216665). Diese versprechen in ihrer Werbung mitunter „Bestattungen in Würde“ (vgl. etwa die Anzeige des Bestattungsinstituts „an-imals“: http://www.an-imals.de/?gclid=CLeDsO_F1MACFQv4cgod0WEApQ). Alle genannten Phänomene sind öffentlich und iterativ, d. h. sie lassen sich nicht (mehr) als Einzelfälle, gar als privater ,Spleen‘ oder individuelle Verhaltensauffälligkeit abtun, sondern sind als kulturelles Phänomen zu betrachten. So haben zwar immer schon einzelne Tierbesitzer ihren Haustieren ein Grab im Garten
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Abb. 1: Paris Hilton mit ,Hundekindern‘ (http://www.starlounge.de/specials/ paris-hilton-hunde-sind-kein-spielzeug44027/).
angelegt, die Einrichtung von Haustierfriedhöfen als einer der Öffentlichkeit angebotenen und zugänglichen Institution überführt solche Einzelfälle jedoch in eine unmarkierte kulturelle Praxis. Es fragt sich nun, ob und in welcher Weise sich diese fraglos erweiterbare Kollektion semiotisch unterschiedlichster Phänomene als Manifestation einer diskursiven Verschiebung verstehen lässt und wie diese allenfalls zu beschreiben wäre. An dieser Stelle sei noch einmal auf die oben bereits getroffene Unterscheidung hingewiesen: Untersuchungen, die sich einem thematisch-textuell bestimmten Diskurs wie etwa dem ,Klimadiskurs‘ widmen (vgl. Janich/Simmerling 2013), setzen mit der Wahl des Themas zum einen die Existenz des entsprechenden Diskurses, zum anderen das einheitsstiftende Moment dieses Diskurses voraus. Ihre Absicht und Leistung besteht darin, ideologische Stoßrichtungen, argumentative Logiken und gesellschaftliche Implikationen des spezifischen Diskurses kenntlich zu machen und kritisch zu diskutieren. Im Gegensatz dazu geht es einer transsemiotischen Diskursanalyse zunächst einmal darum, das Bestehen eines Diskurses, d. h. die Zugehörigkeit von Phänomenen zu einem Diskurs, sowie das die Phänomene prägende Formationssystem, also das kohärente Set mentalitärer Prämissen, das für ihre Gemeinsamkeiten verantwortlich ist, plausibel zu machen und zu beschreiben. Wenn man dies mit den oben aufgelisteten Beobachtungen versucht, liegt es nahe, diese auf eine – in ihren Grundzügen nicht neue, sich aber offenbar intensivierende und in neuen Ausdrucksformen auftretende – Vermenschlichung von Haustieren zurückzuführen. Unserer Ansicht nach greift diese Deutung jedoch zu kurz und verstellt den Blick auf den eigentlichen diskursiven Charakter wie das
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zugrundliegende Formationssystem der Phänomene. Wir schlagen vor, die genannten Phänomene vielmehr als Indikatoren und Wirkungsfaktoren einer Verschiebung bzw. Perforation der geglaubten, gedachten, gefühlten, wahrgenommenen, praktizierten, also der in einem weiten Sinne ,gewussten‘ ‚Spezies‘-Grenzen zwischen Mensch und Tier zu begreifen – mit der ‚Spezies‘ zunehmend weniger im Sinne einer biologisch-genetisch fundierten, sondern mehr im Sinne einer auf kultureller Zusammengehörigkeit basierenden Klasse konzipiert wird. Das Aufkommen und die Verbreitung der angeführten Phänomene kann als semiotisches Korrelat eines sich wandelnden Sets von Konzeptualisierungen, Überzeugungen, Wertungen und Affektdispositionen bezüglich des Verhältnisses, insbesondere bezüglich der Grenze zwischen Mensch und (Haus-)Tier gelten, mit dem Tiere in neuartiger Weise ,familienfähig‘ werden (zum Familienkonzept vgl. weiterführend Linke 2001 und van der Woude 2011, hier insbesondere Kapitel 8 und 10). In Zusammenhang stehen könnte diese Modifikation des Weiteren mit der ,Evolution‘ von Maschinen, die menschenähnlicher operieren als je zuvor – eine Entwicklung, durch welche die ‚Spezies‘-Grenzen sozusagen ‚von der anderen Seite her‘ latent in Frage gestellt werden. Mögen diese Entwicklungen auch sehr heterogen sein – beide lassen Tiere und Menschen stärker als zuvor als in ihrer Kreatürlichkeit miteinander verbunden erscheinen. Dass nicht zuletzt der Umgang mit der Geburt und dem Tod von Tieren in besonderem Maße vom Wandel betroffen ist – das suggeriert wenigstens unsere Beispielliste –, stützt die Annahme dieser Zusammenhänge. Der postulierten Verschiebung des transsemiotischen Diskurses, dessen Bezugskern die Abgrenzung der ‚Spezies‘ Mensch und Tier voneinander wäre, lassen sich schließlich weitere gegenwärtige Veränderungen zuordnen, die zumindest partiell auch als thematisch-textuelle Diskurse, d. h. als Diskurse im üblichen linguistischen Verständnis, charakterisiert werden können. Es handelt sich dabei zum einen um die momentan in neuer Intensität geführte Diskussion darüber, ob Tiere Grundrechte haben sollen, welche im Gesetz festzuschreiben wären (als viel rezipierten Beitrag dazu vgl. exemplarisch Donaldson/Kymlicka 2013, im englischen Original 2011 erschienen), zum anderen um den aktuellen Trend zum Veganismus, der sich nicht nur verhaltenspraktisch, sondern auch in der verstärkten massenmedialen Thematisierung dieser Praxis sowie in entsprechenden Institutionalisierungen zeigt (vgl. etwa die 2011 erfolgte Gründung der Veganen Gesellschaft Schweiz (VGS): http://www.vegan.ch/die-vgs/). Darüber hinaus ist an die rasche rezente Etablierung der Human-Animal Studies in den Kulturwissenschaften zu denken, für die unterdessen eine ganze Reihe von Einführungs- und Übersichtswerken vorliegt (vgl. u. a. DeMello 2012; Gross/Vallely 2012; Marvin/McHugh 2014) und die gerade dadurch, dass sie nach dem heutigen und historischen sozialen und kulturellen Status von Tieren fragen, ein Indiz dafür sind, dass dieser Status in einem größeren Wandel begriffen ist. In den drei genannten diskursiven Bereichen wird das Verhältnis von Mensch und (Haus-)Tier weniger ‚performativ‘ bestimmt als in den
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oben aufgelisteten Beobachtungen. Vielmehr wird dieses Verhältnis explizit thematisiert, wobei es in allen drei Bereichen in erster Linie um die (alltagspraktische, rechtliche, moralische) Haltung des Menschen gegenüber dem Tier geht. Insofern auch sprachliche Phänomene mit thematisch-semantischen Gemeinsamkeiten zu den Elementen eines transsemiotischen Diskurses gehören können, sehen wir die angesprochenen drei Diskussionszusammenhänge als Signifikanzen des von uns angenommenen transsemiotischen Diskurses.
5 Fazit: Transsemiotische Diskurslinguistik und Wissen Mit dem transsemiotischen Diskurskonzept steht ein begriffliches Werkzeug für einen analytischen Zugriff auf sinnliche und unsinnliche Ähnlichkeiten bereit, die nicht nur Sprachliches unterschiedlichster Systematik, sondern auch Sprachliches mit der Welt des nicht-sprachlichen Handelns und der Welt der Dinge verbinden. Welches Wissen lässt sich damit gewinnen? Die allgemeinste Antwort, die sich geben lässt, lautet: ein Wissen über Zusammenhänge, und zwar auch und gerade über Zusammenhänge, die den Menschen, die in ihnen agieren, selbst nicht (explizit) bewusst sind und die zwischen empirischen Phänomenen und zwischen Lebensbereichen bestehen, die im kulturellen Bewusstsein nicht notwendig ‚zusammengedacht‘ werden und die – mit Blick auf wissenschaftliche Analysen – traditionell von verschiedenen Disziplinen erforscht werden. Transsemiotische Diskurslinguistik kann nicht-evidente synchrone und diachrone semiotische Muster und kulturelle Interdependenzen aufzeigen und erfüllt, wenn sie dies leistet, einen der wichtigsten Grundaufträge der Geisteswissenschaften überhaupt. Besonders wichtig daran ist, dass die Phänomene, die sich als Aussagen eines Formationssystems identifizieren lassen, nicht nur Indikatoren dieses Formationssystems, sondern auch Wirkungsfaktoren dessen sind. Sie verstärken und verfestigen die mentalitären Prämissen, von denen sie geprägt sind, d. h. sie verselbstverständlichen das Wissen, das sie formiert. Das gilt fraglos für sprachliche Äußerungen, denen sich eine Proposition zuweisen lässt. Noch mehr aber trifft es wohl auf sprachliche Bezeichnungen, Handlungen und komplexere Kommunikationsmuster, auf nicht-sprachliche Bilder, Objekte oder Alltagspraktiken zu, die keine propositionale Struktur haben. Was keine Proposition hat, ist nämlich nicht negierbar: Es ist nicht möglich, propositionslose semiotische Phänomene zu bestreiten, zu sagen, dass sie falsch oder unzutreffend sind, und sich dadurch von ihnen abzugrenzen oder zu distanzieren. Während man bei sprachlichen Äußerungen, in denen man nicht oder nicht ohne Weiteres eine oder mehrere Propositionen erkennen kann, in vielen Fällen immerhin noch deren Implikationen und Präsuppositionen argumentativ anzweifeln kann, ist selbst diese Distanzierungsoperation
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bei nicht-sprachlichen Phänomenen oft nicht ohne Schwierigkeiten möglich. Die einzigen Optionen für abwehrende, widerständige, ,negative‘ Reaktionen auf sie sind häufig affektiv-evaluative Positionierungen wie ,Etwas-blöd-Finden‘ oder ,Sich-über-etwas-lustig-Machen‘. Nicht-negierbare semiotische Produkte und Prozesse haben folglich eine besonders ausgeprägte Suggestiv- oder Prägekraft, so scheint es. Transsemiotische Diskurslinguistik könnte diese Kraft sowohl empirisch aufzeigen als auch theoretisch genauer ausarbeiten und dadurch einen wichtigen Beitrag zu einer kulturanalytischen Linguistik leisten, die sich mit der kulturellen Wirkmächtigkeit von Sprache und Zeichen, Sprachgebrauch und Zeichengebrauch auseinandersetzt.
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Ulla Fix
20. Diskurslinguistik und Stil Abstract: Die Kategorie ‚Stil‘ ist in pragmatisch orientierten, handlungs- und textbezogenen sowie semiotischen Stilauffassungen längst als eine theoretische Perspektive akzeptiert. Dennoch dominiert außerhalb dieser Stilauffassungen auch heute noch der Bezug auf ‚Stil‘ als Beschreibungskategorie, gestützt auf einen reduktionistischen Stil- und damit auch Textbegriff. Diese Beschränkung findet sich auch – soweit Stil überhaupt berücksichtigt wird – in diskurslinguistischen Arbeiten. Sie soll in diesem Beitrag aufgehoben werden, indem gezeigt wird, dass der Blick auf Stil in verschiedener Hinsicht eine Perspektive diskurslinguistischer Auseinandersetzung eröffnet, also einen theoretisch wie analytisch praktikablen Zugang auf Diskurse als Textverbünde. Damit wird auch die Möglichkeit, wenn nicht sogar die Notwendigkeit deutlich, sowohl die Grenzen des Sprachlichen hin zum allgemein Zeichenhaften zu überschreiten, als auch die Grenzen der Disziplin hin zum Transdisziplinären auszuweiten. Stil wird in seinem Wert für ein diskurslinguistisches Vorgehen unter folgenden Gesichtspunkten erörtert: Stil als Gestaltetheit und Wahrnehmungskategorie, Stil als sichtbar gemachter sozialer Sinn, Stil als Element der Handlung von Akteuren, Stil als Musterhaftes, das Vergleichbarkeit gewährt (Ausdruck von Zeitstil, Epochenstil, Gattungsstil und Personalstil), Stil als Element eines um das Semiotische erweiterten Textbegriffs, Stil als transdisziplinäre Kategorie, Stil aus argumentations- und gestaltbezogener Perspektive als Denkstil.
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Ausgangssituation Historische und aktuelle Stilauffassungen unter diskurslinguistischem Aspekt Stil als Diskursphänomen Resümee Literatur
1 Ausgangssituation Um das Verhältnis von Stil und Diskurs, von Stilistik und Diskurslinguistik diskutieren zu können, muss man sich zunächst fragen, welchen Stellenwert die Stilistik und ihr Gegenstand, der Stil, in der Linguistik, speziell in der Diskurslinguistik gegenwärtig haben. Ist die Stilistik als Fach nur soweit im Blick und akzeptiert, wie sie ‚Stil‘, ‚Epochenstil‘, ‚Stilfigur‘ und andere geläufige begriffliche Vorstellungen als reine Beschreibungskategorien behandelt und sie gewissermaßen als nützliche Instrumente zur Verfügung stellt? Oder nimmt man die Stilistik auch als Urhehttps://doi.org/10.1515/9783110296075-020
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ber von Konzepten wahr, in denen es um Stil als theoretisches Problem geht? Letzteres wäre eine Perspektive, die Einsichten in einen bestimmten Bereich kulturell geprägten Handelns vermittelte, nämlich in die Art und Weise, wie mit Stil funktionale Ordnung hergestellt und kulturelle Prägung hervorgebracht und ausgedrückt werden kann. Die Antwort auf diese Fragen: Auch heute noch dominiert der Blick auf ‚Stil‘ als Beschreibungskategorie. Immer noch bezieht man sich auch in der Diskurslinguistik, wenn von ‚Stil’ die Rede ist, vorwiegend auf das traditionelle Instrumentarium rhetorisch-stilistischer Kategorien und hat dessen rein deskriptiven Gebrauch bei der Textanalyse im Blick. Die herkömmliche Vorstellung vom als schematisch wahrgenommenen traditionellen Gebrauch rhetorisch-stilistischer Kategorien und Verfahren im Dienste einer formalen Textbeschreibung mag der Grund dafür sein, dass die Untersuchung des Stils als vernachlässigbares Vorgehen bei der Auseinandersetzung mit Text und Diskurs angesehen wird. Diese Vorstellung mag auch dafür stehen, dass die theoretische Dimension von Stil nicht erkannt und daher der Kategorie kein Erkenntniswert zugestanden wird. Auffassungen, die Stil lediglich als Analyseinstrument ansehen und ihren handlungs- und texttheoretischen sowie semiotischen Bezug gar nicht wahrnehmen, binden sich selbst an einen aus heutiger Sicht reduktionistischen Stilbegriff, der zwangsläufig einen ebenfalls reduktionistischen Textbegriff impliziert. So wird z. B. bei der Bestimmung des Phänomens lediglich davon ausgegangen, dass Stil eine „Auswahl von typischen wiederkehrenden Formen sprachlicher Mittel“ (Wengeler 2009, 1631) sei. Die pragmatischen, semiotischen, kulturellen Aspekte, die aktuelle Stilkonzepte ausnahmslos bei der Beschreibung des Wesens und der Funktion von Stil einbeziehen, sind nicht im Blick. So bleibt es bei einer konventionellen und nach heutigem Wissen der Komplexität des Phänomens nicht genügenden Bestimmung, dass es „in Rhetorik und Stilistik auf der Rede- und Textebene um das Auffinden und um das Analysieren des ‚richtigen‘, des passendsten, angemessensten Wortes“ (ebd., 1634) gehe. Die „wirklichkeitskonstituierende Leistung“ (ebd., 1634) sprachlicher Mittel, hier der Wörter, dagegen werde nicht betrachtet. Das sei die Aufgabe der Diskurslinguistik. Die in diesem Fall zu bemerkende Selbstzentriertheit der Diskurslinguistik verhindert die Wahrnehmung, dass Stil in pragmatisch-semiotisch orientierten Stilauffassungen längst als eine theoretische Perspektive im Blick ist. Dem heutigen Stand sowohl der Stiltheorie als auch der daraus erwachsenden pragmastilistisch-empirischen Arbeit mit Texten wird diese Einordnung daher nicht mehr gerecht. Möglichkeiten der textlinguistischen und diskurslinguistischen Erschließung von Textkonglomeraten sind damit verschenkt. Allerdings kündigen sich Änderungen im Blickwinkel an, so in Spitzmüllers Aufsatz „Diskurslinguistik und Stilistik. Gemeinsame Wege zur sozialen Praxis“ (2013). Spitzmüller betrachtet darin die Bezugnahme auf Stil als einen diskurslinguistisch relevanten Schritt, der die Überwindung eines reduktionistischen Textbegriffs möglich mache. Es heißt bei ihm:
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Ulla Fix
Ein solcher Stilbegriff gründet auf der Prämisse, dass kommunikative Varianten sozialsemiotisch kodiert sind, dass die Kommunikationsakteure also bestimmten kommunikativen Varianten bestimmte soziale Werte zuschreiben. Dies wiederum setzt voraus, dass es so etwas wie ein kollektiv geteiltes ‚Wissen‘ über die Sozialsymbolik kommunikativer Varianten sowie über deren Verwendung und Interpretation gibt. (Spitzmüller 2013, 63)
Spitzmüller verweist auf eine Reihe von Erkenntnissen der Stilistik und Textlinguistik, die durchaus nicht im Widerspruch zu diskurslinguistischen Einsichten stehen, sondern diese im Gegenteil sehr gut ergänzen und stützen können. Dazu gehört u. a. der Hinweis auf einen neu entwickelten, erweiterten Textbegriff, der zum einen von der Untrennbarkeit von Text und Stil ausgeht, Stil also als eine Textqualität betrachtet (s. u.), und der zum anderen nichtsprachliche konstitutive Elemente von Texten einbezieht, also solche, die Medialität, Materialität und Ortsbezug des Textes betreffen. Er verbindet damit einen kritischen Hinweis auf den (unnötigerweise) rein sprachbezogenen, die nichtsprachlichen Elemente von Texten vernachlässigenden und insofern reduktionistischen Textbegriff der Diskurslinguistik. Diese Einengung haben Textlinguistik und Stilistik schon seit einiger Zeit überwunden. Daher wäre zu prüfen, wie sich die Möglichkeiten der Stilistik im diskurslinguistischen Modell der Mehr-Ebenen-Analyse (DIMEAN: Warnke/Spitzmüller 2008, Spitzmüller/Warnke 2011) unterbringen ließen. Spitzmüller geht die Ebenen durch und schlägt vor, auch auf der intratextuellen Ebene, auf der die Einzelphänomene angeordnet sind, die „visuelle Textstruktur“ unter Stil-Aspekt (Spitzmüller 2013, 67) zu berücksichtigen. Auf der Ebene der Akteure kann, so Spitzmüller, die Stilistik den Blick auf Prozesse der sozialen Sinnkonstruktion sowie auf die kommunikative Konstruktion sozialer Rollen lenken (ebd.) und auf der transtextuellen Ebene kann sie Anregungen geben für Untersuchungen von „Sozialsymbolik und indexikalischen Ordnungen“ sowie für „die sozialen Evaluationen […] spezifischer kommunikativer Formen und Handlungen“ (ebd., 68). Dies sind Aufgaben, der sich pragmatisch-semiotische Stilauffassungen stellen: […] eine stilistisch geschulte Diskurslinguistik (ebenso wie eine diskurslinguistisch geschulte Stilistik) [kann] durchaus zentrale Aspekte des alltäglichen ‚tatsächlichen‘ Sprachgebrauchs erhellen. Sie kann nämlich zeigen, wie sozialer (und mithin sozial relevanter) ‚Sinn‘ interaktiv mithilfe einer Kombination verschiedener kommunikativer Mittel und auf der Grundlage eines historisch und gesellschaftlich verankerten, in der kommunikativen Praxis aber selbst stets wieder der sozialen Evaluation unterliegenden Wissens hergestellt wird […] Eine stilistisch geschulte Diskurslinguistik kann somit […] helfen, den alltäglichen Sprachgebrauch als Teil einer sozialen, sozial geordneten und sozial ordnenden Praxis zu verstehen […]. (Spitzmüller 2013, 68)
Dies wird im Folgenden unter 3. wieder aufgegriffen und ausgebaut werden. Zuvor soll nach einem knappen Rückblick auf frühere Stilauffassungen ein genauerer Einblick in die Potenzen aktueller Stilkonzepte mit ihren diskurslinguistisch interessanten Ideen gegeben werden, auf die sich auch Spitzmüller bezieht.
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2 Historische und aktuelle Stilauffassungen unter diskurslinguistischem Aspekt ‚Stil‘ gilt gemeinhin, sowohl in der Sprach- als auch in der Literaturwissenschaft, als eine „altmodische“ Kategorie. Man assoziiert mit ihr die ebenfalls lange Zeit − bis zu ihrer Wiederentdeckung als New Rhetoric − für gestrig gehaltene und als der Manipulation dienend abgewertete traditionelle Rhetorik. Oder man verbindet mit der Kategorie ‚Stil‘ die Erinnerung an neo-idealistisch orientierte Analysen literarischer Texte, wie sie vor allem mit Spitzer (1961) verbunden werden, wobei gemeinhin übersehen wird, dass dieses Vorgehen bereits auf einem sehr modernen Grundgedanken beruht, nämlich dem, Stilbetrachtung in einem ganzheitlichen Ansatz strikt auf den Gesamttext zu beziehen. Oder man denkt an positivistisches ‚Metaphernsuchen‘ – eine möglicherweise von Erfahrungen mit einem konventionell schematischem Deutschunterricht geprägte Vorstellung, die aber in dieser Zugespitztheit für die Stilauffassungen der Sprachwissenschaft kaum jemals zutreffend gewesen ist. Die unter Sprachwissenschaftlern, soweit es sich nicht um Vertreter der Stilistik selbst handelt, wohl am meisten verbreitete Variante auch heute noch aktueller Vorstellungen von Stil ist die zwar nicht falsche, aber doch unvollständige, um Wesentliches reduzierte Vorstellung von Stil als „subjektive Gestaltbarkeit der Aussage“ (Spitzmüller/Warnke 2011, 155), die Spitzmüller allerdings, wie oben schon gezeigt wurde, revidiert hat, die aber sonst noch als die vorherrschende Auffassung angesehen werden muss. Das folgende Zitat, das Stilistik und Diskurslinguistik ins Verhältnis setzt, zeigt das Problem und weist am Ende auf Ansätze zu dessen Lösung hin. Festgehalten sei, dass Rhetorik in all ihren weiten Verzweigungen und ihren Überschneidungen mit der Stilistik und Textlinguistik […] die Diskurslinguistik unmittelbar angeht und dass eine Berücksichtigung rhetorischer wie auch stilistischer Sprachbeschreibungen für die intratextuelle Analyse nutzbringende Präzisierungen ermöglicht, dass Diskurslinguistik aber andererseits mit ihrem grundlegenden Interesse an transtextuellen Strukturen von Sprache weit über eine Vorstellung von subjektiver Gestaltbarkeit der Aussage durch rhetorische und stilistische Mittel hinausgeht, weil sie nach den Möglichkeitsbedingungen sprachlicher Formen ebenso fragt, wie nach dem Konstituierungscharakter von Aussagen. Diskurslinguistik ist nicht identisch mit rhetorisch-stilistischen Analysen von Texten. Gleichwohl ist anzumerken, dass die moderne linguistische Stilistik ebenfalls einen transtextuellen, sozialen Stilbegriff entwickelt hat, und insofern partiell ähnliche Ziele verfolgt wie die Diskurslinguistik. (Spitzmüller/ Warnke 2011, 154–155)
Hier werden die (unbestreitbar existierenden) Grenzen zwischen Stilistik/Textlinguistik und Diskurslinguistik dort gezogen, wo es um Intra- bzw. Transtextualität geht. Die stilistische Sprachbeschreibung sei geeignet, so die Annahme, mit intratextueller Analyse die individuelle Gestalt eines Textes (oder mehrerer Texte) zu erfassen. Und dies, so wird vorausgesetzt, sei die genuine Aufgabe der Stilistik. Was darüber hinausgeht, also transtextuell angelegt ist, könne von der Stilistik
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bzw. Textlinguistik nicht geleistet werden, sondern müsse diskurslinguistisch betrachtet werden. Dem setzt die moderne Stilistik − stellvertretend sei zunächst einmal Sandigs 2006 erschienene „Textstilistik des Deutschen“ genannt − mit ihrem dezidierten Diskursbezug ein ganz anders geartetes Verständnis entgegen, nämlich das eines In- und Miteinanders von Stil- und Diskursbetrachtung, das − wahr- und ernst genommen − Anlass wäre, Stil als Beschreibungskategorie sowohl auf der intratextuellen als auch auf der transtextuellen Ebene (sowie auf der Akteursebene) dezidiert in das DIMEAN-Modell aufzunehmen, z. B. indem man, Spitzmüllers Vorschlag ergänzend, die ‚textorientierte Analyse‘ des Modells um die Nennung von ‚Stilanalyse‘ erweitert und von ‚text- und stilorientierter Analyse‘ spricht. Hier könnte zu Recht eingewandt werden, dass dies nach modernen textbezogenen Stilvorstellungen tautologisch ist. Ein Text kann nicht ohne Stil existieren und Stil gibt es nur im Zusammenhang des jeweiligen Textes, d. h. ‚Stil‘ muss nicht gesondert genannt werden, er ist, indem man von ‚Text‘ spricht, immer schon da. Da aber bisher dieser Text-Stil-Zusammenhang nicht zur allgemeinen Vorstellung von Stil gehört, scheint mir eine explizite Nennung von ‚Stilanalyse‘ (im Zusammenhang mit ‚Textanalyse‘) doch nötig zu sein. Dass man die Gründe und Ziele einer Aufnahme dieser Kategorie in das DIMEAN-Modell (Warnke/Spitzmüller 2008, Spitzmüller/Warnke 2011) richtig einordnet, setzt allerdings voraus, dass Stil nicht nur als Beschreibungskategorie, sondern auch als eine Perspektive der theoretischen Auseinandersetzung in die Diskurslinguistik einbezogen wird. Mit der Vorstellung, dass das Wesen von Stil allein bzw. bevorzugt der Ausdruck von Individualität sei, d. h. die jeweils vom Einzelnen geleistete und daher individuelle Umsetzung von Inhalten und Intentionen in Sprache, hat die Stilistik schon in den 70er Jahren (wenn nicht eher) aufgeräumt. Zum einen ist das die Leistung von Sandig (1978). In ihrer Begründung einer pragmatischen Stilistik heißt es, für die damaligen Rezipienten sicher noch überraschender als für heutige: Eine linguistische Stilistik hat m. E. das Regelhafte, das Konventionelle zu ihrem Gegenstand zu machen. Das Individuelle sollte, sofern es vom Linguisten einbezogen wird, unter dem Gesichtspunkt des Regelhaften beschrieben werden. (Sandig 1978, 5)
Diese Position war revolutionär in einer Zeit, in der man noch von Spitzers Blick auf das Individuelle eines jeden (künstlerischen) Textes geprägt war und sich mit dessen These (Spitzer 1961, 502) konfrontiert sah, dass „Sprache vor allem sozial“, „Kunst vor allem Ausdruck“, also Ästhetisches, sei und die Sprache des Einzelnen, also der künstlerische Text, vor der „Allgemeinsprache“ als ein Durchschnitt von Individualsprachen den Vorrang habe; „denn alle Neuerung geht von schöpferischen Einzelnen aus“ (Spitzer 1961, 517). Sandig, damals von einem pragmatischen sprechakttheoretischen Ansatz ausgehend, kehrte die traditionelle Perspektive um: Sie betrachtete vor allem die − in Spitzers Formulierung – „soziale“ Seite der Sprache. Ihr Gegenstand waren in erster Linie Sachtexte, und dies unter dem Aspekt ihrer Musterhaftigkeit. Literarische Texte ließen sich, so Sandig, nur vor dem Hintergrund nichtliterarischer Texte un-
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ter dem Gesichtspunkt des Abweichens betrachten. Sie stellte das sozial bedingte und kulturell bedeutsame Musterhafte und Typisierte von Stil in den Vordergrund. Der Blick auf Typen und Muster (Textmuster, Textmusterstile, Stiltypen, Stilverfahren, Handlungsmuster u. a., Sandig 1978, 1986, 2006) brachte notwendigerweise Transtextualität ins Spiel. Musterhaftes und Typisches existieren ja nur, weil/wenn sie an mehreren Phänomenen derselben Art gleichermaßen zu beobachten sind. Sie prägen und binden ganze Textfelder kulturell und formal aneinander. Es handelt sich bei ihnen um Angebote von Symbolisierungssystemen und Formen, die eine Gemeinschaft entwickelt, um sich über ihre Probleme und Bedürfnisse verständigen und sie lösen zu können. Auf der einen Seite haben wir kognitive Muster, nämlich Wissens- und Bedeutungssysteme. Auf der anderen Seite geht es um Handlungsorientiertes, nämlich Formen, Routinen und Verfahren, die eine Gemeinschaft hervorgebracht hat, um miteinander handeln und sich verständigen zu können. Dazu gehören an vorderer Stelle die Text- und Stilmuster. Texte sind Realisierungen von Textsorten nach deren jeweiligen Mustern. Stile sind textbezogene Umsetzungen von Stiltypen nach deren jeweiligen Mustern. Der Einzeltext gewinnt seinen Text-, Textsorten- und Stilcharakter immer vor dem Hintergrund seiner Muster. Warnke betrachtet dieses Phänomen auf der diskurslinguistischen Ebene. Man sieht den Zusammenhang zwischen Stilistik, Text- und Diskurslinguistik, wenn es um die Kategorien des Musterhaften bzw. des Seriellen geht. Das Prinzip der Reproduktion gehört zum Kernbestand der poststrukturalistischen Theorien […] Für die Textlinguistik [und Stilistik, U.F.] besagt das Prinzip der Reproduktion, dass die Musterzugehörigkeit eines Textes [und seines Stils, U.F.] also im Kern aus seiner diskursiven Einbettung resultiert. Texte sind eben keine singulären Phänomene, sondern sie sind Repräsentanten einer seriell organisierten diskursiven Praxis. (Warnke 2002, 133)
Die Feststellung, dass man mit rein formbezogenen textstilistischen Analysen dem, was die Textoberfläche für einen Text bedeutet, nicht auf die Spur kommen könne, hat die Stilistik schon in den Anfängen ihrer pragmatisch-sprechakttheoretischen Fundierung (Sandig 1978) getroffen (und sie ist in der weiteren Entwicklung dabei geblieben), indem sie Stilbilden als „sozial relevante Art der Handlungsdurchführung“ (Sandig 2006, 9), als das Befolgen von kulturell hervorgebrachten Mustern des Herstellens von Textoberflächen mit jeweiliger sozialer und − unter Umständen − auch ästhetischer Funktion betrachtet. Eine Sichtweise, die eine viel umfassendere Problemstellung aufzeigte und ein viel weiteres Kriterienraster in die Analyse eingebracht hat, als es bisher zur Verfügung stand. Die unterschiedlichen Arten, wie man einen Text (gleich welcher Art) formuliert, gelten als bedeutsam für die Aufrechterhaltung bzw. Veränderung sozialer Ordnung (ebd., 16). Sie dienen der Selbstdarstellung des Textproduzenten, der Gestaltung der Beziehung zum Rezipienten, der Markierung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe bzw. zu einem Milieu und sind in Kommunikationsbereichen besonders relevant, in denen soziale Rollen einen hohen Stellenwert haben. Der kulturelle Ansatz, der mit diesem Herangehen verbunden ist, wird 2006 von Sandig programmatisch formuliert:
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Stile lassen sich nicht nur über sprachstilistische Eigenschaften beschreiben, sondern sie sind auch […] kulturell geprägt: über ihre relevanten Inhalte, Diskurse, oder die institutionellen, sozialen bzw. Handlungsbereiche, in denen sie verwendbar sind; ebenso die Zeichentypen, die konventionell zusammen mit Sprache verwendet werden: Bilder und Bildtypen, Symbole, Musik, Farben usw. (Sandig 2006, 17)
Stilen als variierenden, sich aber gerade in der Variation auf Muster beziehenden Sprachverwendungen werden von den Beteiligten je nach Verwendungszwecken und Verwendungssituationen „bestimmte sozial und kommunikativ relevante Bedeutungen zugeschrieben“ (Sandig 2006, 2). Wenn man Sandig darin folgt, dann wird klar, dass ein transtextueller Ansatz die notwendige Voraussetzung für das adäquate Erfassen von Stilfunktion und -bedeutung ist, sodass aus der Sicht der pragmatischen Stilistik eine traditionelle rhetorisch-stilistische Analyse längst nicht mehr genügen kann. Vielmehr geht es um das Erfassen von Stilen in ihrer Funktion für „die Aufrechterhaltung bzw. Veränderung der sozialen Ordnung“ (Sandig 2006, 16) und dies unter Beachtung der gesamten Zeichenhaftigkeit des Textes, also mit einem semiotischen Ansatz: „Unterschiedliche Stile zeigen kulturrelevante Differenzierungen an, haben sich als solche herausgebildet; sie haben Funktionen für die soziale Ordnung.“ (ebd., 16–17). Ein zweiter Ansatz, der mit der auf die individuelle Leistung, auf das ‚Schöne‘ orientierten Stilvorstellung Schluss gemacht und sich ebenfalls auf Sachtexte konzentriert hat, war die an den Prager Strukturalismus mit seinem Konzept der Funktionalität anknüpfende Auffassung der Funktionalstilistik, begründet von Riesel (1959, 1975), aufgegriffen und fortgesetzt von Fleischer/Michel (1975), Fleischer/ Michel/Starke (1993). Hier wird Stil als die einer außersprachlichen Aufgabe dienende und einer Situation angemessene Ausdrucksweise, als eine Angelegenheit des Gebrauchs also, verstanden, davon ausgehend, dass es einen korrelativen Zusammenhang gibt zwischen Außersprachlichem (Kommunikation- bzw. Tätigkeitsbereiche) und für dieses typische sprachliche Gebrauchsweisen (Funktionalstile). Damit kommen soziokulturelle Bezüge ins Spiel. Nach der Art der außersprachlichen Korrelationen werden Funktionalstile unterschieden, die die Mittel und Verfahren ausmachen, die den jeweiligen Funktionszusammenhang zu präsentieren geeignet sind. Es sind der Stil der öffentlichen Rede, der Stil der Wissenschaft, der Stil der Presse und Publizistik, der Stil der Alltagsrede und der Stil der schönen Literatur. Diese Auffassung ist in erster Linie auf das gesellschaftliche, soziale Funktionieren hin orientiert. Wenn die Einteilung in diese Bereiche aus heutiger Sicht auch als unvollständig angesehen werden muss − was ist z. B. mit der Sprache sakraler Bereiche oder mit der Sprache der Unterhaltung/des Spiels? − so wurde doch ein Tor zur soziokulturellen Betrachtung von Stil aufgestoßen. Es ist ein Gebot der Zeit, die stilkundliche Forschung auf alle Bereiche der Sprache auszudehnen, zu untersuchen, inwieweit außerlinguistische Faktoren (Kommunikationsbereich der Aussage, Mitteilungsfunktion; soziale, berufliche, nationale und territoriale Zugehörigkeit […] die Redeweise beeinflussen. (Riesel 1975, 6)
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Die Stilistik […] befaßt sich in erster Linie mit den funktionalen Verwendungsweisen der Sprache, d. h. mit der komplexen Ausdrucksgestaltung, die aus der gesellschaftlichen Spezifik der einzelnen größeren und kleineren Kommunikationsbereiche erwächst. Ausgangspunkt der Funktionalstilistik ist nicht der Individualstil, sondern der sog. Funktionalstil und seine Substile, die funktionalen Gattungs- oder Genrestile im System wie in den entsprechenden schriftlichen und mündlichen Texten (Textsorten). (ebd., 7; Hervorh. im Orig.)
Neu ist also auch hier, dass nichtliterarische Texte in die Betrachtung einbezogen werden. Stil wird ebenfalls nicht mehr einseitig als ästhetische Erscheinung gesehen, sondern als eine von außersprachlichen, gesellschaftlichen, sozialen Belangen gesteuerte Sprachverwendung. Mit der Einteilung der sprachlichen Wirklichkeit in die fünf genannten Funktionalstile wurde, modern ausgedrückt, eine Spielart pragmatischer Stilistik entwickelt, die dem Zusammenhang von Funktion und Form eines Textes und seiner Zugehörigkeit zu sozial bestimmten Verwendungsweisen von Sprache gerecht wird. Dass etwa im selben Zeitraum zwei sich parallel entwickelnde neue Auffassungen von Stil bestimmend wurden: im Westen die sprechakttheoretisch, später auch gestalttheoretisch angelegte pragmatische Stilauffassung von Sandig, im Osten die funktionalstilistische Auffassung Riesels, Fleischers und Michels, zeigt deutlich, dass die traditionelle innersprachlich und individualistisch bestimmte Sicht auf Stil angesichts neuerer sprachwissenschaftlicher Entwicklungen einer Ablösung bedurfte. Mit dem Strukturalismus der Prager Schule und der sich daran anschließenden, in gewissem Sinne sozial orientierten Funktionalstilistik und mit der an die Sprechakttheorie anschließenden pragmatischen Stilistik wurden zeitgemäße text- und situationsbezogene Theorien entwickelt, die schon im Blick haben, dass wir uns auch in der Art unseres Sprechens in Diskursbeziehungen bewegen, wenn auch nur ansatzweise. In einer dritten, heute aktuellen Richtung werden kulturelle Bezüge zum Drehund Angelpunkt der Stilbetrachtung. Das Phänomen ist interdisziplinär zu beobachten, z. B. in der Soziologie (Soeffner 2000), ebenfalls in der kulturorientierten Literaturwissenschaft (Gumbrecht/Pfeiffer 1986) und in strukturalistisch-semiotischen Stilauffassungen (Lotmann 1973, Mukarovsky 1982). Zunächst aber einmal gilt: Stil ist per se ein kulturelles und damit ein diskursbestimmtes und -bestimmendes Phänomen. Ganz gleich, ob man ‚Stil‘ aus historischer, d. h. rhetorisch bzw. neo-idealistisch hermeneutisch orientierter Perspektive betrachtet oder aus aktueller pragmatisch-textlinguistisch-semiotischer Sicht, man kann ihn nicht denken und erörtern, ohne dabei das Phänomen ‚Kultur‘ im Blick zu haben. Die Erscheinung ‚Stil‘ lässt sich aus dem kulturellen Bedingungsgefüge, dem sie ihre Existenz verdankt, nicht lösen. Die Art und Weise, wie etwas gedacht, wie das Gedachte mit sprachlichen und anderen Zeichen zum Ausdruck gebracht und zur Rezeption angeboten wird, wie sich das soziale Subjekt dabei notwendigerweise selbst darstellt, also die Hervorbringung von Denk- wie Artefaktstilen, darunter auch Sprachstilen, ist soziokulturell und soziosemantisch gebunden (Sornig 1981,
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Hess-Lüttich 2004). Der kulturelle Bezug findet sich – mehr oder weniger ausgeprägt, direkt oder indirekt, in der Perspektive durchaus nicht einheitlich – in allen Stilauffassungen wieder, von der szientistisch-strukturalistischen einmal abgesehen. Explizit gemacht und dezidiert in stiltheoretische Überlegungen einbezogen wird Kulturalität von Stil aber erst in neuerer Zeit. So zunächst in dem ausgeprägt kulturalistischen Ansatz der strukturalistisch-semiotischen Schule Lotmans (1973) und Mukarovskys (1982). Sie berufen sich auf Kultur als hierarchisch organisiertes Zeichensystem. An Zeichen sind kulturelle Bedeutung und sozialer Wert gebunden. Sprachliche Äußerungen werden erst durch diese besondere kulturelle Signifikanz zum Text. Dieser Ansatz lebt fort in Stilistiken, die von der Zeichenhaftigkeit des Stils ausgehen (pragmatische und semiotische Auffassungen: Sandig 2006; Lerchner 1984; Fix 2007) und Stil als eine sekundäre, über die Form konstituierte Bedeutungsebene des Textes betrachten. Mit der kulturanalytischen Richtung der Sprachwissenschaft (vgl. Linke 2009) wird Kultur als ein Netz von Bedeutungssystemen dann zum Bezugspunkt auch textlinguistisch-stilistischer Analysen (Fix 2007, 2008). Linke stellt die Kollektivstile ins Zentrum. Kollektivstile, so sagt sie, seien „immer − unabhängig von der Beschaffenheit ihres Trägermediums, unabhängig von ihrer jeweiligen medialen (materialen oder praxeologischen) Verankerung − als kulturelle Stile zu lesen“ (Linke 2009, 1136; Hervorh. im Orig.). Ihre Analyse sei eine Form von Kulturanalyse. Kultur wird in diesem Zusammenhang verstanden als: [ein] differenzierte[s] System sowohl sprachlicher als auch nichtsprachlicher Zeichen, anhand dessen sie [gesellschaftliche Gruppen] sich die Welt und ihre Situation in ihr deuten und ihr Handeln orientieren Auf dieses aus mehreren Teilsystemen bestehende System, unter denen Sprache eine herausragende Rolle spielt, bezieht sich der moderne Begriff von Kultur […] Nach dieser Auffassung weisen Kultur und Sprache wesentliche Gemeinsamkeiten (Zeichenhaftigkeit, Sozialität, Historizität, Selbstreferentialität) auf, die einen Vergleich geradezu herausfordern. (Gardt/Zumkehr/Roelcke 1999, 2)
Wenn man Kultur versteht als das, was Menschen in einer Gemeinschaft handelnd hervorbringen und womit sie ihre Welt deuten, so ist das eine Auffassung von Kultur als Prozess sozialen Konstruierens. Das sozial Konstruierte bzw. gemeinsam Hervorgebrachte sind (die oben schon genannten) Angebote von Symbolisierungssystemen, nämlich Wissens-, Bedeutungs- oder Sinnsysteme, ohne die wir uns nicht verständigen könnten, und Orientierungsmuster, die uns das Handeln ermöglichen bzw. erleichtern, also die Muster, Routinen, Formen, Verfahren, die eine Gemeinschaft für ihr Existieren hervorgebracht hat. Im Bereich der Sprache sind das unter anderem Stile und Textsorten. Allerdings muss die Perspektive erweitert werden; denn „Texte [sind] eben keine isolierten Größen, sondern stehen im Verbund koexistierender Texte, sie sind Teile von Diskursen“ (Warnke 2002, 131), also „transtextuelle oder besser metatextuelle Größen“ (ebd., 127). So müssen Texte im Diskurszusammenhang und Diskurse unter dem Textaspekt als „Verbünde koexistierender Texte in gesellschaftlich realen Interaktionsformen“ gesehen werden
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(ebd., 11). Aus beiden Perspektiven wird deutlich: Sie haben eine gesellschafts- und wissenskonstituierende Funktion. […] so kann doch allgemein festgehalten werden, dass Diskurs den Verbund, die abstrakte Struktur von Texten meint, die über das Gleiche sprechen und dabei unter Umständen auch formale Übereinstimmungen aufweisen. M. Foucault selbst kennzeichnet den Diskurs wiederholt als eine über einzelne Texte hinausgehende kommunikative Größe, die die Einzeltexte als Repräsentanten gleicher Formationssysteme bestimmt. (Warnke 2002, 131) M. Foucault ist nicht an der kulturwissenschaftlichen Einordnung von singulären Texten gelegen, er behandelt die Frage, wie bestimmte Denkschemata, die eine Epoche prägen und die Perspektive auf die Welt bestimmen, entstehen […]. (Warnke 2002, 132)
So zeigt sich, dass es einen Zusammenhang zwischen den hier vorgestellten Auffassungen von Kultur und Diskurs gibt. In beiden geht es (auch) um Wissen und Denkwege. Das Wissen, die Denkschemata, die den Diskurs ausmachen und die durch ihn hervorgebracht werden, sind zum einen „kulturell, historisch und sozial verankert“ (Spitzmüller/Warnke 2011, 77). Zum anderen wirkt der solcherart geprägte Diskurs auf die kulturelle Situation zurück. So muss Diskursbetrachtung zwangsläufig immer auch Betrachtung von Kulturellem sein und so muss sich kulturanalytisches Herangehen immer innerhalb von Diskursen bewegen, wobei aber für die Kulturanalyse, anders als in der Diskursanalyse, das Denken in seriellen Folgen, speziell in Textverbünden, nicht zu den Bedingungen gehört. Kulturanalytische Betrachtungen von Sprache, Mustern, Texten sind in vieler Hinsicht diskurslinguistischen Prämissen vergleichbar, nicht aber, was die Festigkeit, das Gewordensein von Wissens- und Symbolstrukturen betrifft. Die Diskurslinguistik ist in ihrer Vorstellung von Wissen nicht auf Festigkeit, Stabilität, sondern auf Beweglichkeit und Veränderung hin angelegt. Der Diskursanalyse erscheint das Wissen […] gerade nicht als eine verlässliche, fixierbare Größe, sondern als Resultat der fortlaufenden Aushandlung, Anerkennung und Ablehnung von Erkenntnissen in diskursiver Praxis. (Spitzmüller/Warnke 2011, 42–43)
Dennoch geht nicht nur die Kulturanalyse, sondern auch die Diskursanalyse, wie das DIMEAN-Modell zeigt, von zumindest zeitweise fixierten Phänomenen, also von Texten (in Zusammenhängen) aus, die man sehr wohl als Bestehendes analysiert, anders ginge es ja gar nicht. Aber das geschieht in dem aus der Erfahrung mit Produkten kommunikativen Aushandelns gewonnenen Wissen, dass diese Beständigkeit instabil ist, dass mit Veränderungen immer gerechnet werden muss.
3 Stil als Diskursphänomen Dass der Blick auf Stil, wie wir gesehen haben, in diskurslinguistischen Betrachtungen kaum eine Rolle spielt, wird, wie ebenfalls zu sehen war, der Sachlage nicht gerecht. Ein möglicher Erkenntnis- und Analysezugang wird der Diskurslin-
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guistik so verstellt. Mit der Zurkenntnisnahme bzw. Aktivierung des Wissens um die angesprochenen handlungs- und texttheoretischen bzw. semiotischen Stilauffassungen aber wird die Erkenntnis- und Analysepotenz der Kategorie ‚Stil‘ und der Wert, den sie für ein diskurslinguistisches Vorgehen hat, einsichtig. Darum soll es im Folgenden gehen. Die Kategorie ‚Stil‘, so wie sie heute in der stil- und textlinguistischen Diskussion erörtert wird, soll unter allen relevanten Aspekten, die sie bietet, auf ihre diskurslinguistische ‚Brauchbarkeit‘ hin geprüft und dargestellt werden. (Ich beziehe mich in den folgenden Ausführungen auf Fix 2014). Dabei wird noch einmal die bereits angesprochene Tatsache aufgegriffen werden, dass das Phänomen Stil eine – nicht nur naheliegende, sondern in keinem Fall hintergehbare – theoretische Perspektive auf den Gegenstand ‚Diskurs‘ bietet. Weiter wird es darum gehen, dass ‚Stil‘ eine praktikable und notwendige Beschreibungskategorie für die Darstellung von Diskursen sein kann. Und schließlich wird zu zeigen sein, dass ‚Stil‘ eine für ein transdisziplinäres Vorgehen geeignete, ja genuine Kategorie darstellt – das Transdisziplinäre entspricht seinem Wesen – und welcher Art der transdisziplinäre Ansatz ist, den die Kategorie bietet. Es geht dabei um ein Verständnis von Stil als Bedeutung, als Handeln und als Gestalt. Zunächst wird zwischen einem sprachbezogenen und einem übersprachlichen und damit transdisziplinär potenten Stilbegriff unterschieden. Wir finden diesen Begriff nicht nur in der Sprachwissenschaft, sondern auch in anderen Disziplinen – von der Kunstgeschichte über die Literaturwissenschaft bis hin zur Soziologie. Grundsätzlich ist Stil als zeichenhaft, gestalthaft und handlungsbezogen zu betrachten, ganz gleich, ob er sich sprachlich realisiert, in Sprachtexten also, wobei immer auch nichtsprachliche zeichenhafte Elemente wie Typografie, Papierqualität, Anordnung des Textes auf dem Papier u. a. mit im Spiel sind, oder ob Stil nichtsprachlich, in Artefakten anderer Bereiche, z. B. Architektur, Mode, Musik umgesetzt wird. Stil gibt durch seine Art zeichenhafter Gestaltung immer etwas zu verstehen. Die Schlüsse, die sich aus dieser Auffassung ergeben, werden ebenso betrachtet, wie die Potenzen eines Denkstilbegriffs für die Diskurslinguistik angesprochen werden. Mit dem Denkstilbegriff wird eine Kategorie eingeführt, die die Form des Denkens in den Blick nimmt. Ob man Sprachstil (und Artefaktstil) oder Denkstil im Blick hat, es geht immer darum, in welcher Form sich Prozesse vollziehen und in welcher Form Resultate erscheinen, sowohl wie ein Text gestaltet, als auch wie ein Denkweg geformt ist. Es werden nun im Folgenden die mir relevant erscheinenden Aspekte eines pragmatisch-semiotischen Stilbegriffs vorgestellt und in der Bedeutung, die sie für ein diskurslinguistisches Denken und Vorgehen haben könnten, erörtert. Zunächst geht es um den wieder aktuell gewordenen Blick auf Stil als Gestaltetheit. In dem Zusammenhang ist noch einmal der Rückblick auf die traditionellrhetorische Darstellung von Stil als „Schmuck der Rede“ oder als „Kleid der Gedanken“ nötig. Beides − Schmuck und Kleid − wäre entbehrlich. Man kann den Schmuck weglassen bzw. das Kleid abwerfen. Stil dagegen ist ein unentbehrliches
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und unvermeidbares Element jedes sprachlich-kommunikativen Handelns. Jede gedankliche Hervorbringung, die unsere Sinne aufnehmen sollen, muss, um wahrnehmbar zu sein, eine Form haben. Alles, was inhaltlich erfasst, mitgeteilt und rezipiert werden soll, ist also auf eine solche sinnlich wahrnehmbare Darbietung angewiesen. Dieses sinnlich wahrnehmbar (und zugleich Sinn vermittelnde) Gestaltete ist der Stil eines Artefakts. Die jeweilige Darbietung ist nicht zufällig, sondern unterliegt einem Gestaltungswillen; denn etwas soll so und gerade so wahrgenommen werden. Insofern ist Stil eine Wahrnehmungskategorie. Die Diskurslinguistik widmet sich der Beschreibung des Wahrnehmbaren, wenn sie als Analyseebenen die intratextuelle (Wort, Satz-, Textebene) und die transtextuelle Ebene (Grundfiguren, Topoi, Medialität, Textmuster u. a.) ansetzt. Bereits hier ist also die Beziehung zum diskurslinguistischen Vorgehen gegeben. In einem nächsten Schritt wird die Tatsache beleuchtet, dass die der Wahrnehmung dienende Gestalthaftigkeit eine zusätzliche Funktion hat, nämlich die der Sinnvermittlung. Über die Gestalt wird kultureller, sozialer und ästhetischer Sinn sichtbar und so den Rezipienten zugänglich gemacht. Auch hier wird deutlich: Stil ist nicht das ‚Etui‘, in das man die Inhalte steckt. Er ist vielmehr eine den Inhalt der Äußerung, das Was der Mitteilung, überlagernde und strukturierende zusätzliche Mitteilung. Mit der Form, in der man etwas äußert, teilt man − gewollt oder ungewollt − zusätzlich zum ‚Primärsinn‘, dem Was der Sachinformation, einen ‚Zweitsinn‘ mit, d. h. die schon angesprochene, über die Form, das Wie, vermittelte Information kultureller, sozialer und teilweise auch ästhetischer Art. Durch die Form des Textes, über seine Wahrnehmbarkeit und über diese hinaus verweisend, vermittelt Stil Sinn. Er dient z. B. der Selbstdarstellung und Beziehungsgestaltung, indem mit sprachlichen Mitteln z. B. Hierarchien, Machtpositionen, Nähe oder Distanz ausgedrückt werden. Man geht bei der Rezeption über die Gestalt eines Textes niemals uninformiert hinweg zum ‚eigentlichen‘ Inhalt, sondern man nimmt intuitiv oder bewusst wahr, dass auch das Gestalthafte für das Verstehen von Bedeutung ist. Das gilt umso mehr für thematisch zusammenhängende Textverbünde, also Diskurse, sofern sie auch stilistisch seriell angelegt sind. Wenn Texte nach ihrem Stil (Wortwahl, Bildlichkeit, Satzbau) erschlossen und diskurslinguistisch ausgewertet werden sollen, dann muss „aus dem seriellen, regelhaften Vorkommen solcher Einheiten“ immer der „Stellenwert dieser stilistischen Mittel für den Diskurs plausibel [gemacht werden können]“ (Wengeler 2009, 1632). Das betrifft vor allem − und das ist für die diskurslinguistische Betrachtung von Stil bisher neu − die für die Erfassung von Diskursen eigentlich unentbehrliche Ermittlung vom stilistischen Sinn ganzer Textverbünde. Damit gerät der bisher schon oft angesprochene, aber noch nicht erläuterte pragmatische Charakter von Stil in den Blick. Stil ist rezeptionssteuernd. Er ist die spezifische Art von Textgestalt, die ein Sender bzw. ein Kollektiv von Sendern hervorbringen, um bei Adressaten eine bestimmte Wirkung zu erreichen. Er gibt Hinweise darauf, wie ein Text gelesen werden ‚will‘, welcher Textsorte er zuzuordnen,
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in welchem Licht er zu rezipieren ist. Je nach Form des Textes stellen sich Leser auf bestimmte Rezeptionsweisen ein: literarische, alltägliche und fachliche. Vom Stil eines Textes werden die Erwartungen und Lesarten des Adressaten in Richtung einer bestimmten Textsorte mit ihren kulturellen Implikationen gelenkt. Aus dieser pragmatischen Perspektive ist Stilbilden als Handlung zu betrachten. Die Leistung von Stil ist hier, diskurslinguistisch betrachtet, Beziehung herzustellen zum Handlungs- und Akteursaspekt, zu den Interaktionsrollen (Autor, antizipierte Adressaten) und zu Diskurspositionen, wie sie im DIMEAN-Modell der Diskurslinguistik auf der Akteursebene angesiedelt sind. Habscheid (2009, 21–23) sieht solche sozial relevanten Stilausprägungen kleinräumig als Mittel der Beziehungskommunikation und großräumig im Kontext der kritischen Diskursanalyse als Beschreibung der Eingebundenheit in gesamtgesellschaftliche Diskurse, Strukturen und Prozesse. Auf letzteres kommt es im Zusammenhang dieses Beitrags an. Neu im Blick auf Stil ist seine Textgebundenheit, genauer gesagt, die gegenseitige Bestimmtheit von Text und Stil. Einerseits kann es Stil ohne das Gesamt des Artefakts, ohne Text, nicht geben. Stilmittel existieren nicht ‚an sich‘‚ sie bekommen ihren Stilwert erst im Textzusammenhang und können daher außerhalb des Textes als solche nicht erkannt, geschweige denn zu- und eingeordnet werden. Der Stil braucht den Text. Andererseits ist die reale Existenz eines Textexemplars auch vom Vorhandensein eines einheitlichen Stils abhängig. Der Text braucht den Stil. Ohne diesen sind die Textualität eines Textes und dessen Textsortenzugehörigkeit nicht zu erkennen. Brüche in Textsortenstilen erschweren die übliche, also textsortenbezogene Rezeption. Man liest einen Text, auf die Spur gesetzt durch seinen Stil, z. B. als wissenschaftlichen, sakralen, institutionellen oder journalistischen. Über die Einzeltextbezogenheit hinaus zeigt sich an Textsorten, dass Stil Kontingenz stiftend wirken kann. Kommunikationsbereiche (z. B. Schule, Institutionen, Kirche) sind durch gemeinsame Stilmerkmale ihrer Texte aneinander gebunden. Dieses Faktum ist auch für die diskurslinguistische Analyse von Bedeutung. Sozial hervorgebrachte Muster wie z. B. Kollektivstile, Stiltypen, Stilregister, Rollenstile und Textsortenstile können an der Herstellung von Textverbünden maßgeblich beteiligt sein. Sie leisten ihren Beitrag zur Herstellung des Zusammenhangs von Textverbünden auf der Textoberfläche. In Kommunikationszusammenhängen vermitteln immer auch andere als sprachliche Zeichen Sinn. Der Stil eines Textes ist daher ein übersprachlicher Zeichenkomplex. Neben den sprachlichen − digitalen, verallgemeinernden − Zeichen, die man als textkonstituierend voraussetzt, haben wir es mit der schon genannten Erscheinung zu tun, dass Texte sinnlich wahrnehmbar gemacht werden müssen. Das geschieht ebenfalls zeichenhaft – bei einem gedruckten Text durch Papier, Typografie, Proportionen, Farben u. Ä., die alle auch etwas mitteilen, – also durch analoge, nichtbegriffliche Zeichen, die über die direkte Anschauung wirken. So ist ein Text immer ein Komplex aus Zeichen verschiedener Art. Bei jeder Textstilanaly-
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se muss daher das Zusammenwirken der Zeichen verschiedener Kodes betrachtet werden. In der Folge dieser Einsicht wird der bisher angesprochene Sprachstilbegriff erweitert zum semiotischen Stilbegriff. Die Kategorien ‚Medialität‘ und ‚visuelle Textstruktur‘ des DIMEAN-Modells können dazu in Beziehung gesetzt werden. Der Stilbegriff wird nicht nur von der rein sprachbezogenen zur semiotischen, also übersprachlichen Kategorie erweitert, er wird mittlerweile auch in seiner disziplinenübergreifenden Verwendung zur Kenntnis genommen. Stil gilt nun als eine transdisziplinäre Kategorie. Es ist für die aktuelle Auseinandersetzung von Bedeutung, dass die Kategorie ‚Stil‘ von vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen verwendet wird, u. a. von Soziologie, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte und philosophischer Ästhetik. Die Fächer brauchen die Kategorie für die Verfolgung ihrer Erkenntnisziele. Was sie für alle brauchbar macht, ist eine Schnittmenge gemeinsamen Wissens. Es geht um übereinstimmende Vorstellungen von Gestalt als Mittel des Wahrnehmbarmachens und des Lenkens von Sinn-Sehen, es geht um soziales oder ästhetisches Anpassen und Abheben mittels der Gestalt eines Artefakts. Als Grundmuster soziologischer und kulturwissenschaftlicher Arbeiten z. B. kann die Vorstellung von Stil als Mittel des Anpassens an Kollektive wie des Abgrenzens von ihnen gelten (Bourdieu 1970, 1982; Schulze 1995; Soeffner 1986, 2000). Individuen verweisen mit ihren kollektiven ästhetisierenden Stilisierungshandlungen zum einen auf eine soziale Zugehörigkeit, zum anderen zeigen sie aber auch ihre individuelle Stellung gegenüber der eigenen Gruppe an (Soeffner 2000, 82). In der Literaturwissenschaft gehört Abweichen bereits zu den ästhetischen Voraussetzungen eines Textes, oft wird es als ein konstitutives Element von Literatur schlechthin betrachtet. Auch hier geht es um Wahrnehmung, nämlich um den Wechsel im Wahrnehmungsangebot, also in der Gestalt. Und auch hier ist das Lenken von Sinn-Sehen im Blick. Das Gemeinsame ist also, kurz gesagt, der Blick auf Gestalt, auf Wahrnehmungslenkung und Sinn. Die Tatsache, dass es eine Schnittmenge von Stileigenschaften gibt, die Stil für einige Disziplinen als Erkenntnisinstrument interessant sein lassen, sein transdisziplinärer Charakter also, müsste ihn für die Diskurslinguistik insofern interessant machen, als ein Diskurs niemals rein innersprachlich erfasst werden kann, sondern Wissen anderer Bereiche wie z. B. Soziologie, Zeit- und Ideologiegeschichte, Kommunikationswissenschaft, Literaturwissenschaft hinzugezogen werden muss und in einigen Fällen zumindest, wie z. B. Soziologie und Literaturwissenschaft, auf ein relativ übereinstimmendes Kategorienverständnis zurückgegriffen werden kann. Über das Sprachliche, Semiotische, Disziplinenübergreifende hinaus, das Stil immer auf materialisierte, demnach wahrnehmbare Gestaltungen bezieht, z. B. als ‚Sprachstil‘, als ‚Epochenstil‘, als ‚Zeitstil‘, wird Stil auch als eine auf Denkvorgänge und Denkresultate bezogene Kategorie, als Denkstil verstanden. Hier geht es nicht mehr um die Art und Weise, in der sprachliche und andere Zeichen gebraucht werden, sondern um die Wege des Denkens, die sich im Kopf vollziehende, nicht unbedingt wahrnehmbare Art und Weise, wie Gedanken entwickelt werden. Dies
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gilt nicht nur für Sozial- und Kulturwissenschaften, sondern auch für Naturwissenschaften, Mathematik und Medizin. Die Vorstellung, dass Denkwege, Denkergebnisse und auch Diskurse von Denkstilen bestimmt sein können, gehört noch nicht zu den Fragestellungen der Diskurslinguistik. Eine solche hätte aber hier ihren Platz, wenn man an den mentalitätsgeschichtlichen Ansatz der Diskurslinguistik, dem es um die Gesamtheit von Gewohnheiten des Denkens, Fühlens und Wollens geht, denkt. Es wäre zu fragen, ob es Denkstile innerhalb von Diskursen gibt, wie sie zu erfassen und zu beschreiben sind. Weiter ginge es in der Auseinandersetzung mit konkreten Denk- und Sprachstilen um die Nutzung von Anschlussmöglichkeiten zwischen beiden, z. B. durch die Analyse von Argumentationsstilen, Topoi und Wortsemantiken. Gemeinsam ist Sprachstil und Denkstil die Tatsache, dass Hervorgebrachtes eine Gestalt haben muss, dass Denken wie Formulieren der Gestaltung unterliegen. Auch was gedacht wird, wird in einer bestimmten Form gedacht. Es geht in beiden Fällen immer darum, wie etwas seine Gestalt bekommt: sowohl darum, wie ein Text gestaltet, als auch wie ein Denkweg geformt ist. Beide Vorgänge gehen ineinander über. Im ersten Fall geht es um die Wahl der sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen des Textes im Interesse der Sinnvermittlung und Wahrnehmungslenkung. Im zweiten Fall handelt es sich im selben Interesse um die Wahl der fokussierten Gegenstände und die damit verbundene Ausblendung anderer. Dies gibt dem Denken Form. Der Gebrauch der Kategorie ‚Denkstil‘ bezieht sich auf Fleck, der sie in den wissenschaftstheoretischen Diskurs eingeführt hat. ‚Denkstil‘ ist für ihn ein „gerichtetes Wahrnehmen“, „das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln“ (Fleck 1980, 85), womit gemeint ist, dass wir, wenn wir das eine in den Blick nehmen, das andere notwendigerweise ausblenden müssen. Eine solche Gerichtetheit evoziert und bestimmt die erkannten Tatsachen. Wir erkennen nur die, die wir nicht ausgeblendet haben. Das ist gestaltetes, d. h. gerichtetes Denken im Sinne Flecks. Von zentraler Bedeutung ist für ihn, dass sich das ‚Sinn-Sehen‘, also das Erkennen, als gerichteter und damit ‚gestalteter‘ Prozess vollzieht. Dieser kann nur „in Abhängigkeit von seiner jeweiligen sprachlichen Form gedacht [werden]“ (Fehr 2005, 27). Eine Frage, die sich hier für die Diskurslinguistik stellt, ist, ob und wie ganz konkret Stile diskursformierend wirken, wie sie Denkwege, Formen und Strukturen vorgeben und damit aufgrund ihrer Paradigmenspezifik selbst einen wissenskonstituierenden Beitrag zur Herstellung von Faktizität leisten können. Bei der Zusammenführung der beiden Gestaltvorstellungen, wie sie im Denkstil und im Sprachstil zu erkennen sind, rückt das Verhältnis von Sprache und Denken in den Blick. Die Frage ist, wie sich beim Finden, Konturieren und Formulieren von Wissensgegenständen das Zusammenwirken von Gedankenentwicklung und sprachlicher Darbietung der Gedanken gestaltet. Beides greift im Kleist’schen Sinne der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“ ineinander. Denken ist an Sprache gebunden. Es geht nicht um einen von einer Seite allein bestimmten
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Vorgang, nicht um schon vorhandenes Denken, das durch Sprache fixiert oder in Sprache übersetzt werden muss, sondern es geht um eine gemeinsame Hervorbringung. Bei der Arbeit mit den sprachlichen Symbolen eröffnen sich Möglichkeiten […] und ergeben sich Zwänge […], an die der Autor, solange er auf einer anderen Bearbeitungsspur tätig war, nicht gedacht hat […] – dadurch, dass der Inhalt während des Sprechens und Schreibens sowie durch das Sprechen und Schreiben entwickelt wird. (Ortner 2000, 59–60; Hervorh. im Orig.)
Sprachgebunden ist auch die Mitteilung des Gedachten. Der Denkstil als „innere Ordnung eines Geschehens“ wird wahrnehmbar gemacht durch den Sprachstil, die äußeren Merkmale (Topoi, Argumentationsstile, Wortsemantik). Für die Diskurslinguistik könnten unter dem Vorzeichen der Rolle des Denkstils für den Diskurs Gemeinsamkeiten diskursbestimmter Denkstile und der sie wahrnehmbar machenden Sprachstile, z. B. als gemeinsame Topoi und Argumentationsmuster, von Bedeutung sein.
4 Resümee Stil ist in verschiedener Hinsicht eine Perspektive wissenschaftlicher Auseinandersetzung sowohl mit dem Text als auch – notwendigerweise – mit dem Diskurs, sofern man diesen als Textverbund auffasst. Neben seinen theoretischen Potenzen sollte man die Leistung von Stil, Analysekategorien für makro- und mikrostilistische Text-und Stil-Analysen bereitgestellt zu haben, nicht unterschätzen. Mit dem vorliegenden Beitrag wurde versucht, die aus meiner Sicht wichtigsten Anschlussmöglichkeiten zwischen Stiltheorie und Diskurslinguistik aufzuzeigen. Es gibt solche Möglichkeiten zur Genüge. Sie wahrzunehmen und zu nutzen könnte sowohl innerdisziplinären als auch transdisziplinären Gewinn bedeuten. Folgende Fragen müssten als Voraussetzung für eine das Stilistische einbeziehende Diskurslinguistik beantwortet werden: – Kann Stil als Perspektive gelten, die quer durch alle Ebenen des DIMEAN-Modells eingenommen werden sollte, nämlich als Zugang zu allen Phänomenen, die der zeichenhaften Darstellung dienen? – Kann sich die Diskurslinguistik auf das Verständnis von ‚Text‘ als semiotischem Phänomen einigen? Damit wäre der transdisziplinäre Zugriff auf die Untersuchungsgegenstände nicht nur zur Möglichkeit, sondern zur Bedingung geworden. – Wie lässt sich die Auffassung von Stil als sozial relevanter Handlungsdurchführung diskurslinguistisch, also akteursbezogen, bei der Betrachtung der Prozesshaftigkeit sozialer Sinnkonstruktion umsetzen? – Ist die Einbeziehung der Kategorie des ‚Denkstils‘ in ein diskurslinguistisches Konzept wünschbar und machbar oder gar unvermeidbar?
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Kann die Diskurslinguistik neben der Untersuchung mehr oder weniger umfangreicher Textkorpora auch die Untersuchung repräsentativer oder besonders wirksam gewordener Einzeltexte als diskurslinguistisches Verfahren akzeptieren? In welchem Verhältnis stehen beide Vorgehensweisen zueinander?
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Andreas Rothenhöfer
21. Diskurslinguistik und Emotionskodierung Abstract: Der Beitrag vermittelt die Bedeutung des Emotionskonzepts als integrativer anthropologischer, semiotischer und soziopragmatischer Erklärungsansatz für diskursiv erzeugte und manifestierte Gefühlsäußerungen. Darüber hinaus wird die Funktion von Emotionen als ebenenübergreifender Mechanismus der sozialen Koordination und Bewertung im verbalen und multimodalen Diskurs herausgestellt. Dabei werden unterschiedliche zeichenhafte, funktionale und kommunikativ referenzierbare Aspekte von Emotionalität aufgezeigt. 1 2 3 4 5 6 7
Emotion, Diskurs, Kodierung Emotionssemiotik Emotionssemantik Emotionspragmatik und Emotionsfunktionen Ebene, Modalität und Medium Emotionen als Diskursmuster Literatur und Online-Ressourcen
1 Emotion, Diskurs, Kodierung Die Wörter Emotion, Diskurs und Kodierung nehmen Bezug auf einen Bereich des Alltagswissens, der im Zentrum menschlichen Erlebens, Kommunizierens und Interagierens steht. Dieser Bereich umfasst Phänomene des individuellen, situativen, zwischenmenschlichen sowie im Diskurs formierten und dabei z. T. habitualisierten und konventionalisierten Thematisierens und Äußerns von Gefühlen, von Handlungsmotivationen und Bewertungsperspektiven. Emotionale Aspekte kommunikativen Handlungswissens spielen zugleich eine zentrale Rolle in Prozessen der Aufmerksamkeitssteuerung, der persuasiven Beeinflussung sowie der Einstellungsund Handlungskoordinierung und sind daher als bedeutsame Machtfaktoren anzusehen. So wie mit dem Machtbegriff verbundene Fragestellungen zu wesentlichen Leitfragen einer Diskurslinguistik gerechnet werden, sind emotionsanzeigende, emotionsbeschreibende und emotionserregende Mittel der Kommunikation als relevante und aufschlussreiche Objekte einer machtbezogenen diskurslinguistischen Analyse anzusehen.
1.1 Emotionen als Zeichen, Kode oder Botschaft Zieht man den Terminus Kodierung zur Modellbildung und Analyse emotionsgeprägter Sprachmittel im Diskurs heran, so kann das Verhältnis der Termini Diskurs, Kode, sowie Emotion auf unterschiedliche Weise bestimmt werden. Zu klären ist, https://doi.org/10.1515/9783110296075-021
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was bei dieser Modellierung jeweils als ‚Nachricht‘ und was als ‚Kode‘ verstanden werden soll, sowie welche Zuschreibungen von Affekten, Einstellungen, Bewertungen, kommunikativen Absichten, Kontrolle oder Verständlichkeit im Begriff ‚Kodierung‘ mitzuverstehen sind. Aufgrund der relationalen Polyvalenz des Determinativkompositums Diskurskodierungen (vgl. Warnke 2015, 238–239) liegen drei Interpretationen nahe: (1) Diskurs als Objekt einer Kodierung; (2) Diskurs als Subjekt bzw. Agens einer Kodierung; sowie (3) Diskurs als Ort der Kodierung. Die Auffassung von Diskurs als inhaltsbezogenes Objekt, d. h. als zu kodierende Botschaft, eröffnet eine deskriptive Perspektive auf ein in der Öffentlichkeit manifestiertes Untersuchungsobjekt, was der an Foucaults (1981) Archäologie des Wissens orientierten Definition als ‚Textnetz und Aussagenformation‘ (vgl. Warnke 2015, 227) entspräche. Eine zweite Interpretationsmöglichkeit versteht ‚Diskurs‘ hingegen als Subjekt bzw. Agens einer Kodierung (im Sinne eines Instruments, eines Agenten oder konstitutiven Mediums), welche dem anthropomorphisierenden und hypostasierenden Sprachgebrauch vom Diskurs als der „Macht, deren man sich zu bemächtigen versucht“ (Foucault 2007, 11) in der Ordnung des Diskurses entspräche. Weniger handlungsrollenspezifisch ist hingegen die ebenso plausible lokative Lesart (‚Kodierung im Diskurs‘). Auch das Verhältnis von Emotion und Kode ist mehrdeutig. Mit der Formulierung, dass Emotionen in Äußerungen „kodiert“ werden, lässt sich zunächst die Existenz einer Emotion als Sache, die vom Kode zu unterscheiden ist, unterstellen. Dieser Kode ermöglicht einem Emotionssubjekt, gegenüber einer anderen Person eine Emotion zum Ausdruck zu bringen. So wird ‚Emotion‘ als Zeicheninhalt, Referenzgegenstand oder Botschaft innerhalb des Kommunikationsvorgangs perspektiviert. Neben natürlichsprachlichen Kodierungen werden in der emotionspsychologischen Forschungspraxis zudem standardisierte Kodifizierungssysteme zur Transkription von mimischen Emotionsausdrücken eingesetzt. Inhaltlich geht Ekman (1992, 169) hierbei von universellen Basisemotionen aus, die er als evolutionär entwickelte Bewältigungsroutinen für grundlegende Lebensaufgaben auffasst. Als universelle Beschreibungskriterien werden dabei die in einem „Facial Action Coding System“ zusammengefassten muskulären „action units“ (vgl. Ekman 1988, 181–224) herangezogen. Sozialkonstruktivistische Ansätze halten der Universalitätsthese vor allem die Bedeutung sozialer Normen und Regeln entgegen, „die das Ausdrucksverhalten an soziale Gegebenheiten und Erfordernisse anpassen und kontrollieren“ (von Scheve 2010, 351). Legt man allerdings die Etymologie von Emotion zugrunde, so wird deutlich, dass Emotionen bereits eine Zeichenhaftigkeit sui generis zugeschrieben werden kann und die Trennung von ‚kommunikativem Kode‘ und ‚emotionaler Botschaft‘ weder alternativlos noch selbstverständlich ist:
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Emotion f. ‘Aufregung, Gemütsbewegung’, Entlehnung (um 1700) von gleichbed. frz. émotion, bis ins 19. Jh. auch ‘Volksbewegung, Empörung’ (daher im Dt. ebenfalls gelegentlich in diesem Sinne). Frz. émotion, mfrz. esmotion ist nach dem Vorbild von frz. motion, afrz. mocion ‘Bewegung’ (lat. mōtio, zu lat. movēre, mōtum ‘bewegen, erregen, erschüttern’) gebildet zu frz. émouvoir, afrz. esmovoir ‘in Bewegung setzen, erregen’, aus lat. exmovēre, Nebenform von häufigerem lat. ēmovēre ‘hinaus-, wegschaffen, entfernen, erschüttern’. emotional Adj. ‘aus Emotionen folgend, gefühlsmäßig’ (Ende 19. Jh.). (DWDS/Etymologisches Wörterbuch nach Pfeifer)
Die metaphorische Konstitution des Emotionsbegriffs als Präfixbildung (emovere, emotio, emotum) ‚Herausbewegung‘ präsupponiert einen konzeptuellen Behälter (Container). Dieser Befund stimmt überein mit der von Lakoff/Johnson (1980) postulierten konzeptuellen Metapher „DER KÖRPER IST EIN BEHÄLTER“ und einem konzeptuellen Metaphernfeld EMOTIONEN SIND (HEISSE) FLÜSSIGKEITEN IN EINEM BEHÄLTER. (vgl. Kövecses 1990, 144–159) Unter Konstituierung eines quasibehavioristischen „Black-Box“-Modells wird hierbei eine sinnlich wahrnehmbare Gefühlsregung als Anzeichen für etwas gedeutet, das dem externen Beobachter verschlossen bleibt. Voraussetzung für die Inbezugsetzung physiologischer, gefühlsmäßiger und kognitiver Merkmale von Emotionen ist ihre handlungstypologische Rückbindung an emotionalisierte Individuen in prototypischen Erlebensprozessen und die mit diesen Erlebensprozessen verbundenen Gefühls- und Erregungszustände. Je nach Beschreibungsansatz können andere Aspekte, wie z. B. (Un-)Lustgefühl, Psychophysiologie, Kognition, Situation, Ausdruck, Motivation, Bedürfnissicherung, Funktionsstörung (vgl. Kleinginna und Kleinginna 1981; Battachi et al. 1997, 16–17) in den Vordergrund treten. Im Kontext textorientierter und multimodaler Diskursanalysen bieten sich syndromische Definitionen an, die eine Vielzahl kommunikationsanalytisch relevanter Aspekte integrieren. SchwarzFriesel (2007, 55) schlägt hierzu folgende Arbeitsdefinition vor: Emotionen sind mehrdimensionale, intern repräsentierte und subjektiv erfahrbare Syndromkategorien, die sich vom Individuum ichbezogen introspektiv-geistig sowie körperlich registrieren lassen, deren Erfahrenswerte an eine positive oder negative Bewertung gekoppelt ist und die für andere in wahrnehmbaren Ausdrucksvarianten realisiert werden (können). (Schwarz-Friesel 2007, 55)
Wie der o. g. Definition zu entnehmen ist, gibt es einerseits auf konkrete Erlebensprozesse eines Individuums bezogene und andererseits abstrakte und überindividuell typisierbare Zusammenhänge emotionaler Kommunikation. Aus kommunikationsontologischen Erwägungen sollten somit folgende Beschreibungsebenen unterschieden werden: a) psychophysiologische Prozesse, die als Auslöser, Gegenstände oder Effekte in der Kommunikation registriert, wahrgenommen oder (mit)verstanden werden können. b) Typen von Zeichen(komplexen) mit emotionsbezeichnendem, emotionsausdrückendem (expressivem) und emotionserregendem (evozierendem) Potential.
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c) situative Manifestationen der in (b) genannten Zeichen(komplexe) im Diskurs, Gespräch bzw. Text, welche als Indikatoren (Indices) für (a) oder (b) angesehen werden können. Die genannten Unterscheidungen korrespondieren in psychophysiologischer Hinsicht mit der Annahme einer modularen Emotionsverarbeitung, wie sie Hielscher (2003a, 678) überblickshaft darstellt. Hielscher unterscheidet … … ein frühes, subkortikal in Strukturen des limbischen Systems zu verortendes Modul grundlegender Bewertungs- und Regulationsmechanismen […], hier bezeichnet als affektiv-regulatives System für schnelle emotionale Reaktionen, und zwei Module expliziter Wissensrepräsentation […]. Das „Implikationale Bedeutungssystem“, das mit dem bewussten, subjektiven Erleben von Emotionen in Verbindung zu bringen ist (hot emotion); und das „Propositionale Bedeutungssystem“, das für begriffliches, sprachnahes Wissen über Emotionen und für konnotative Bewertungen zuständig ist (cold emotion). (Hielscher 2003a, 678)
1.2 Intrasubjektive Prozesse der Emotionsverarbeitung: ‚Heiße‘ und ‚kalte‘ Routinen Der Begriff der Kodierung lässt sich im modularen Verarbeitungsmodell vor allem vertreten, wo diskrete Repräsentationen emotionsbezogenen Wissens in Prozessen verarbeitet werden, die dem sprachgestützten propositionalen Bedeutungs- bzw. Erkenntnissystem zugerechnet werden. (s. o.) Dieser Bereich wird als cold emotion bezeichnet. Hier geht es um konventionalisiertes, symbolisch und kognitiv sedimentiertes, nicht per se affektbegleitendes Wissen. Vor allem in Situationen persönlicher Betroffenheit, Vertrautheit, kommunikativer Ko-Präsenz und multimodaler Interaktion sind „heiße“ Verarbeitungsprozeduren unter Beteiligung implikationaler Repräsentationen emotionalen Erlebens konstitutiv für die Formen der Kommunikation. Emergente Gefühlsregungen werden hier über unterschiedliche Körperfunktionen indiziert. Wie bereits ausgeführt wurde, legt die Etymologie von Emotion eine per se zeichenhafte Qualität nahe, welche letztendlich eine notwendige Voraussetzung für die Wahrnehmbarkeit, Verständlichkeit und Kommunizierbarkeit von Emotionen ist. Fries (2008, 297) plädiert dafür, Emotionen als „semiotische Entitäten“ anzusehen, während er Gefühle im Unterschied dazu als „Entitäten unseres Alltagswissens oder als komplexe wissenschaftliche Entitäten“ ansieht. (ebd.) Im Sinne der o. g. semiotischen Lesart von Emotion, der wir uns anschließen wollen, können unterschiedliche Zeichenrelationen von Emotionen im Diskurs untersucht werden. Es wird hier nicht strikt zwischen beiden alltagsprachlich oft synonym verwendeten Termini geschieden, der Ausdruck Gefühl aber – in Übereinstimmung mit Fries (2008) und Schwarz-Friesel (2007) – tendenziell eher für konkret kontextualisierte Emotionen verwendet.
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1.3 Intersubjektive und diskursive Emotionsverarbeitung Menschliche Interaktion kann Emotionen hervorbringen oder spiegeln. Die so genannte emotionale Ansteckung (vgl. Hatfield/Carpenter/Rapson 2014) entspricht einer analogen Übertragung emotionalen Verhaltens zwischen empathischen Kommunikationspartnern. Diese wird ermöglicht durch neuronale Spiegelsysteme (vgl. Arbib 2013, 451–466; Buck/Powers 2011, 186–191) sowie durch ein geteiltes kulturellkommunikatives Erfahrungswissen (von Scheve 2010, 356–357). Darüber hinaus werden interaktiv bzw. kommunikativ konstituierte Rollenmuster zu Auslösern bestimmter emotionaler Reaktionsskripts zwischen den Akteuren (vgl. Oatley/Johnson-Laird 1996, 94; s. auch Abschnitt 4.3).
2 Emotionssemiotik Die vielfältigen semiotischen Aspekte von Emotionen können mit den triadischen Zeichentypen und Relationen nach Peirce (CP 2.243; vgl. Nagl 1992, 42–43) beschrieben werden: Als Repräsentamen (Manifestation/Signifikant), als Objekt und als Interpretant (Zeichenbedeutung/Signifikat). Mit dem Begriff der Emotionsmanifestation folge ich Fiehler (1990, 96–99). Nach Peirce können die Zeichenrelationen des Objektbezugs (CP 2.275) als Ikon (beruht auf Analogie), Index (beruht auf Kausalität) und Symbol (beruht auf Konvention), den Zeicheneigenschaften (CP 2.245– 246) als Qualizeichen (Möglichkeit), Sinzeichen (Wirklichkeit) und Legizeichen (Gesetz) sowie den Zeichenwirkungen (den Typen von Interpretanten als Gefühlsreaktion, Handlung oder logischer Schlussfolgerung) (CP 8.337) näher systematisiert werden. Schiewer (2007) entwickelt eine Kreuzklassifikation aus den Sprachfunktionen Bühlers und den Objektrelationen von Peirce und setzt die kalte Option mit dem Symbol und die heiße mit dem Index gleich. In Anlehnung daran dienen die Peirce’schen Relationen des Objektbezugs (Index, Ikon und Symbol) einer ersten Emotionsmanifestation (Repräsentamen)
Auslöser/Träger/Objekt/Ereignis der Emotionalisierung bzw. Manifestierung
Emotionsbedeutung (Interpretant)
Abb. 1: Emotionssemiotisches Dreieck in Anlehnung an Peirce.
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Unterscheidungsebene von Emotionszeichen. Dabei konstituiert die triadische Zeichentypologie keine absoluten Gegensätze, sondern sich kontextspezifisch überlagernde Prinzipien der Zeichenkonstituierung.
2.1 Indexikalische Emotionsmanifestation Indexikalische Zeichen im Sinne von Peirce repräsentieren einen Sachverhalt nicht als Stellvertreter, sondern weisen auf seine Ursächlichkeit mittels einer wahrnehmbaren Folgeerscheinung hin. Emotionen werden bei der so genannten „heißen“ Verarbeitung (insbes. in der face-to-face-Kommunikation) anhand quasi-universeller (vgl. Ekman 1992) Körperreaktionen emotionalisierter Individuen wahrnehmbar. Zu diesen Emotionsindikatoren gehören insbesondere Veränderungen von Stimme, Gesichtsausdruck und Gesichtsfarbe, Körperhaltung und Gestik, sowie bestimmte affektgesteuerte Aspekte der (para-)verbalen Sprachverwendung. Zugleich können bei empathischen Rezipienten entsprechende Spiegelreaktionen ausgelöst werden. Charakteristische Körperreaktionen werden in vielen Kulturen versprachlicht und dienen dabei der metonymischen Indizierung emotionaler Zustände und Reaktionen (vgl. Kövecses 1990, 70–73).
Tab. 1: Metonymische Konzeptualisierung von Gefühlen nach Kövecses (1990) anhand von Körperreaktionen. Körperreaktion als Basis einer konzeptuellen Metonymie
Sprachliche Beispiele
Körpertemperatur
Er blieb ganz kühl Ihm wurde siedend heiß Ihm schwoll das Blut in den Adern Sie zitterte vor Angst Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her Seine Knie wurden ganz weich/schlotterten Mein Herz stockte, als ich das Geräusch hörte Sie hatte kalten Schweiß auf der Stirn Bei der Vorstellung traten ihm Schweißperlen auf die Stirn Sie bekam feuchte Hände Er wachte schweißgebadet auf Er wurde knallrot Er wurde ganz bleich Sie war blind vor Wut Er wusste nicht mehr, wie ihm geschah Ich bekam eine Gänsehaut Mir sträuben sich die Haare Sie war starr vor Angst Er machte sich in die Hose
Blutdruck Körperspannung/ Bewegung Herzschlag Schweiss
Gesichtsfarbe Wahrnehmungsstörung Hautreaktion Haarmuskelreaktion Reaktionsunfähigkeit Stoffwechsel
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Im Kontext der Zeichenverwendung wird die Verbindung von Ausdrucksverhalten und Gefühlszustand auch durch kulturelle Normen – sog. Displayrules bzw. Manifestationsregeln (vgl. Fiehler 1990, 78–79) – gesteuert. Eine Entkopplung von ‚Gefühl‘ und konventionellem ‚Gefühlszeichen‘ ermöglicht dabei eine strategische Inszenierung oder Maskierung von Gefühlen – entweder in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Angemessenheits- bzw. Sagbarkeitsregeln, oder aber zur Erreichung rhetorisch-persuasiver Zwecke. Von Möglichkeiten der bewussten Inszenierung kann insbesondere im Rahmen der schriftsprachlichen Kommunikation, wie z. B. bei der fiktionalen Figurengestaltung im Film oder Roman, Gebrauch gemacht werden. Potentiell emotive Aspekte des Kommunizierens verweisen in diesen Fällen als Indizes höherer Ordnung (vgl. Silverstein 2003) nicht mehr auf authentische Gefühle der Emittenten, sondern auf soziale Normen sowie auf Mitteilungs- und Gestaltungsabsichten. Insbesondere im Bereich der multimodalen Kommunikation (vgl. Abschnitt 5) können Inkohärenzen des multimodalen Ausdrucks als Indikatoren kontrafaktischer Inszenierung gedeutet werden. Die indexikalische Interpretation emotiver Zeichen im Diskurs kann also einerseits auf individuelle „heiße“ Gefühlszustände bzw. Affekte eines Sprechers oder Schreibers verweisen, zum anderen aber auf sozial und kontextuell etablierte Routinen und Muster emotionalisierter Kommunikation.
2.2 Ikonische Emotionsmanifestation Ikonische Zeichen weisen eine Ähnlichkeit zwischen Repräsentamen und Objekt auf, sie sind daher (unter Vermittlung normativer Schematisierungen und kulturspezifischer Darstellungs- und Deutungstraditionen) analog kodiert. Ikonische Zeichen können im Sinne von Peirce als Images, Metaphern oder Diagramme auftreten. Bildliche Repräsentationen (Images) von emotionalisierten Menschen bzw. menschlichen Gesichtern sind aufgrund alltäglicher Wahrnehmungskorrelationen zwischen externen und internen Emotionssymptomen sehr intuitiv verständlich. Sie ermöglichen im Bereich der Emotionsmanifestationen (z. B. in der Werbekommunikation, in Comics oder im Film) eine Übermittlung indexikalischer Merkmale in einer mehr oder weniger naturalistischen Analogie zur Face-to-FaceKommunikation. Dabei können Stimmungen und Gefühle nonverbal angezeigt und zur Handlungskoordination oder Sympathielenkung eingesetzt werden. In sozialen Netzwerken fungieren Smileys, Emotikons, Emojis, Avatare oder Memes als Repräsentationen emotionsanzeigender Gesichtsausdrücke, Gesten oder Körperhaltungen. Dabei vermitteln sie nonverbale Zusatzinformationen, dienen als Sprechaktindikatoren oder Implikaturhinweise. Standardisierte ikonische Images sollen in der Distanzkommunikation handlungsdesambiguierende Sprecher- und Hörersignale ersetzen. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der internetbasierten Kommunikationsmedien hinsichtlich Verarbeitungs- und Übertragungsgeschwin-
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GRINNING FACE
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GRINNING FACE WITH SMILING EYES FACE WITH TEARS OF JOY SMILING FACE WITH OPEN MOUTH
1F602 1F603
1F610
1F611 1F612 1F613 1F614
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NEUTRAL FACE – used for the West Wind in some Mahjong annotation EXPRESSIONLESS FACE UNAMUSED FACE FACE WITH COLD SWEAT PENSIVE FACE
Abb. 2: Emoticon-Zeichentabelle des Unicode-Konsortiums (Auszug) mit verbalisierter Ausdrucksnormierung und Bedeutungszuschreibung.
digkeit, Echtzeitreaktion und Speicherung ermöglicht dabei eine Entwicklung von ursprünglich schematisch-abstrakten, aussagekommentierenden Interpunktionszeichen [„:-)“ „;-)“ „:-(“] hin zu naturalistischen, emotionstypologisch ausdifferenzierten Ausdrucksgestalten. Kontinuierlich weiterentwickelte internationale Zeichenkonventionen erlauben eine Standardisierung emotiver Ausdruckstypen. Dabei erfolgt die plattformübergreifende Unicode-Typisierung in erster Linie über die verbale Kodifizierung diskreter Merkmale. (vgl. Abb. 3) Bemühungen zur Vereinheitlichung werden z. T. durch immer nuanciertere Darstellungsrealisierungen konterkariert. Die Typologie wird kontinuierlich erweitert, zugleich gewinnen Ton, Bild- und Filmübertragungsmöglichkeiten in sozialen Netzwerken an Bedeutung und erweitern so die Möglichkeiten einer ikonisch-indexikalischen Emotionsübertragung und Rückkopplung zwischen Sender und Empfänger, die zunehmend auch in Echtzeit erfolgt. Metaphorische Ikonizität betrifft die Repräsentation einer Zieldomäne durch semantische Analogiebildungen zu einer Quelldomäne. Im Sinne der kognitiven Metapherntheorie handelt es sich um grundlegende kognitive und kulturgeprägte Strukturmodelle des Alltagsverstehens. Im Anschluss an Lakoff/Johnson (1980) untersuchen Lakoff/Kövecses (1983) und Kövecses (1990) die Struktur kognitiver Metonymien und Metaphern im Bereich der Thematisierung und des Ausdrucks von Emotionen. Während emotionstypische Körpersymptome metonymisch versprachlicht werden können (Kövecses 1990, 51–52), wird für die Konzeptualisierung von Emotionen im Englischen die Zentralität der sogenannten ContainerMetapher („DER KÖRPER IST EIN BEHÄLTER“) herausgestellt. (Kövecses 1990, 144–159) Als Spezifizierungen des Basiskonzepts können die Metaphernkonzepte „EMOTIONEN SIND FLÜSSIGKEITEN IN EINEM BEHÄLTER (vgl. Kövecses 1990, 146) und EMOTIONEN SIND (HEISSE) FLÜSSIGKEITEN IN EINEM BEHÄLTER (vgl. Kövecses 1990, 148–150) angesehen werden. Sie finden bei der Konzeptualisierung von Wut vorrangig Verwendung (WUT IST EINE HEISSE FLÜSSIGKEIT IN EINEM BEHÄLTER). Dabei wird der Körper als Gefäß von Emotionen vorgestellt, wobei eine Intensitätszunahme der Gefühle metaphorisch als Ansteigen oder als Drucksteigerung bis hin zu einer gewaltsamen Druckentweichung konzeptualisiert wird.
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Tab. 2: Metaphorische Konzeptualisierung von Gefühlsreaktionen nach Kövecses (1990). Konzeptuelle Metapher
Beispiele
Wut ist eine erhitzte Flüssigkeit in einem Behälter
Er war voller Zorn Sie kochte/schäumte vor Wut Mir wird siedend heiß Ich spürte die Wut in mir aufsteigen Er konnte seine Wut nicht mehr kontrollieren Er platzte vor Wut Er muss Dampf ablassen Er brennt nach Rache Er brannte vor Wut Er drehte durch vor Zorn Er kämpfte gegen die Wut an. Seine Wut war nicht zu bändigen Seine Wut war zügellos
Wut ist Feuer Wut ist wahn Wut ist ein Gegner Wut ist ein gefährliches Tier
Diagrammatische Ikonizität betrifft die Analogie von Manifestation und Interpretant bezüglich abstrakter Relationsdimensionen (Quantität, Sequenzialität, Proximität). Im Sinne des Quantitätsprinzips kann die Reduplikation (Hilfe, Hilfe!) als Prinzip der Intensivierung gewertet werden. Auch der gesteigerte Bezeichnungsaufwand durch evaluative Adjektive, Präfixoide oder Intensitäts-/Gradpartikeln kann auf ein Mehr an emotionaler Intensität verweisen. In der gesprochenen Sprache können paraverbale phonetische Merkmale wie das Stimmvolumen oder die Stimmhöhendynamik als quantitative Intensitätsindikatoren gewertet werden, in (para)typographischer Hinsicht können vergrößerte Schriftschnitte (Laufweite, Schriftbreite, Schriftstärke, Versalierung) als Intensitätsmarkierungen gewertet werden. Diese Mittel werden beispielsweise in der Comicsprache, der Werbung oder der Chatkommunikation vielfach eingesetzt und mehr oder weniger intuitiv gedeutet. (vgl. Marx/Weidacher 2014, 146–152)
2.3 Symbolische Emotionsmanifestation Je zerdehnter und symbolisch-mediatisierter Kommunikation organisiert ist, desto schwerer können Kommunikanten „heiße“, primärindexikalische Aspekte von Emotionalität wechselseitig einschätzen, desto stärker können Formen der fiktionalen, konventionellen bzw. strategischen Inszenierung und Maskierung von Affekten in den Vordergrund treten. Symbolisch-konventionalisierte Verarbeitungsund Kommunikationsroutinen betreffen z. B. Emotionsmanifestationen, die in bestimmten Kontexten zu Handlungsnormen und Routinen erstarrt sind. Dazu gehören lexikalisierte Emotionsbezeichnungen, formelhafte Mehrworteinheiten und textsortentypische Expressivformeln wie Gruß- oder Abschiedsroutinen im Brief. Gerade in hochemotionalen Lebensbereichen wird die Kommunikation durch Ma-
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nifestationsregeln und Angemessenheitserwartungen kontrolliert. So findet man auf Kondolenzkarten wiederkehrende, konventionalisierte Gefühlsformeln aufgedruckt: … in stiller Trauer …//… in stiller Anteilnahme …//… in aufrichtiger Anteilnahme …//… in tiefem Mitgefühl … Die erstarrte Formelhaftigkeit bestimmter Textmuster kann der Erwartung an authentische Emotionsbekundungen zuwiderlaufen. So lässt sich bei der hochfrequenten Emotionsformel Herzliches Beileid! in diachronen Korpora eine Tendenz beobachten, die Formulierung zunehmend nicht mehr wörtlich zu verwenden; es besteht ein Kontinuum zwischen situationsadäquat adaptierten Gefühlsäußerungen auf der einen Seite und einer remotivierten und rekontextualisierten Formelsprache auf der anderen. Wie die Folgenden Belege aus DeReKo zeigen, wird die Kondolenzformel Herzliches Beileid in informellen Textsorten mittlerweile als bewusstes Mittel der (hyperbolischen) Ironisierung eingesetzt (vgl. Belege (4)–(6)). Auf der Handlungsebene kann diese Verwendung als Ausdruck freundschaftlicher Neckerei bis hin zum Ausdruck dezidierter Schadenfreude gedeutet werden: (4) … wenn ich mit meinen 16 Monate alten Zwillingen unterwegs bin, reichen die Kommentare meiner deutschen Mitbürger von „Ach die viele Arbeit“, „Da haben Sie aber viel Arbeit“ über „Arme Mutter“, bis zu „Herzliches Beileid“. (Braunschweiger Zeitung, 01. 04. 2006) (5) … Er nannte die Wahl in Polen eine „Wahl“, und die in der Schweiz einen „Urnengang“. Herzliches Beileid, ihr Alpenländler! (Braunschweiger Zeitung, 24. 10. 2007) (6) … ganz herzliche Gratulation zu ihrer Wahl – und herzliches Beileid. Sie sind offensichtlich ein unbelehrbarer Idealist … (St. Galler Tagblatt, 28. 10. 2014, S. 44)
3 Emotionssemantik Eine für die linguistische Diskursanalyse relevante Emotionssemantik fragt nach einem in der Diskursgemeinschaft eingespielten Bezug von natürlichsprachlichen Zeichen zu möglichen Interpretanten, also nach den Bedeutungs- und Funktionsrelationen kommunikativer Emotionsmanifestationen. In der psychologischen Forschung werden Bedeutung und Referenz von Emotionsbezeichnungen hingegen oft als quasi ontische Gegebenheiten behandelt, indem dekontextualisierte Einzelwörter oder Wortäquivalenzlisten ohne Bedeutungsdifferenzierung als Repräsentationen von Gefühlskategorien, als Stimuli zur Probandenbefragung oder als Deskriptoren in Antwortskalen eingesetzt werden. Problematisch sind hier insbesondere sprach- und kontextübergreifende Generalisierungen. (vgl. 3.2) Selbst wenn der erkenntnis- und sprachtheoretische Status einiger Kategorienkonzepte nicht hin-
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reichend expliziert wird, so lassen sich emotionspsychologische Modelle doch in vieler Hinsicht gut an (diskurs-)linguistische Methodologien anschließen. Der folgende Abschnitt ist daher auf einen Wissens- und Methodentransfer ausgerichtet.
3.1 Deskriptive, emotive und deontische Ausdrücke Traditionelle sprachwissenschaftliche Semantikkonzepte beziehen sich auf Wortbedeutungen als relationale oder repräsentationale Zeichenaspekte. Analog zum Konzept der Bedeutungsdimensionen (vgl. Hermanns 2008) und zur Unterscheidung der Denotation bzw. deskriptiven Bedeutung (vgl. Cruse 2008) als einer ‚konstante[n] begriffliche[n] Grundbedeutung‘ und ‚Bezeichnung‘ (vgl. Bußmann 2002, 152) gegenüber der Konnotation als einer ‚subjektiv variablen, emotiven Bedeutungskomponente‘ (ebd.), muss in der Emotionssemantik zwischen emotionsbezeichnenden und emotiven Emotionsmanifestationen unterschieden werden. Emotionsbezeichnungen, Emotionsbegriffe oder Emotionswörter (vgl. Hermanns 2008, 356; Diller 2005, 1578–1584) wie Liebe, sich ängstigen, wütend oder freudig referieren auf einen Emotionssachverhalt, ohne zugleich eine wertende Stellungnahme des Produzenten auszudrücken. Emotive Ausdrücke bringen hingegen eine expressive Bewertungshandlung zum Ausdruck. (vgl. Hermanns 2008, 360–362) Sie indizieren dabei eine emotive (Nebenbei-)prädikation (vgl. Linke/ Nussbaumer 2008, 440–441). Zur emotiven Lexik gehören Interjektionen oder interjektionsähnliche expressive Ausdrücke wie Aua, Igitt, Pfui, Hurra, Scheiße, Verben wie leugnen, gammeln oder glänzen (in der Bedeutung ‚herausragend abschneiden‘), Adjektive wie goldig, schlampig, geil, toll, ausgezeichnet, schädlich, dämlich, Substantive wie Liebling, Schatz, Köter, Trottel, Mist, Murks oder Arschloch, wertende Affixe und Affixoide wie Bomben-, Hammer-; Super-, -ling, un-, -widrig, -fremd. Wie diese Differenzierung verdeutlicht, fungieren emotive und deontische Ausdrücke nicht nur als Referenzausdrücke, sondern bringen zugleich lexikalisch verdichtete Sprechhandlungen zum Ausdruck. (vgl. Abschnitt 4.2)
3.2 Prototypikalität, Universalität und Relativität Im Bereich der alltagssprachlichen Kategorienbildung hat die Verbindung von linguistischen, wahrnehmungs- und kognitionspsychologischen Forschungen (vgl. Berlin/Kay 1969, Rosch 1975) neue Impulse erbracht. Die am Beispiel der Farbkategorisierung entwickelten Theorien zu den Fokalfarben wurden zum Ausgangspunkt einer Semantik der Alltagssprache, die bei der Kategorienbildung eine Orientierung an alltäglich vertrauten, prototypischen Gattungsvertretern annimmt, denen prototypische Kategorienmerkmale zugeordnet werden. Bei kulturübergreifenden Vergleichen erweist sich die mittlere Spezifizierungsebene oder Basisebene als besonders stabil. Im Bereich der Emotionsbezeichnungen würde dieser Ebene
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das Lexem Angst (Basis) statt Gefühl (übergeordnet) oder Lampenfieber (untergeordnet) entsprechen. In der evolutionären Emotionspsychologie werden ebenfalls kulturübergreifende Basisemotionen postuliert. Auch hier handelt es sich um Prototypenmodelle, bei denen saliente Ausdrucksgestalten mit Basiskonzepten korreliert werden. Ausgehend von Ausdrucksvarianten des Muskelapparats führte z. B. Ekman (1988, 188–224) in literalen und nicht-literalen Kulturen vergleichende Untersuchungen mit Gesichtsaufnahmen durch, die von Probanden anhand von Wortlisten oder kontextualisierenden Beispielgeschichten klassifiziert werden sollten. Prototypensemantische Untersuchungen von Emotionswortschätzen (vgl. Fehr 1988, Fehr/ Russell 1984, 1991) stützen die These einer annähernd analogen kultur- und sprachübergreifenden Organisation von basalen Emotionskategorien hinsichtlich alltagsprachlicher, morphologisch einfacher und kognitiv schnell zugänglicher Basislexeme. (vgl. Fontaine 2013, 41) Während die frühe Prototypentheorie noch von universalistischen Annahmen ausgeht, werden perzeptionelle Universalien (Gestaltprinzip, prototypische Effekte) in späteren Erweiterungen (vgl. Kleiber 1998, 113–130) mit sprachspezifischen kognitiven Modellbildungen (ICMs) verbunden. Im Bereich der Emotionssemantik nehmen u. a. Untersuchungen von Kövecses (1990) und Izard (2007) kulturspezifische Prototypikalitätseffekte an. Sprachvergleichende Untersuchungen emotionaler Alltagskonzepte haben sowohl Vergleichbarkeiten als auch Unterschiede zutage gefördert. Im Sinne einer emotionalen Universalie geht z. B. Wierzbicka (1999, 36) davon aus, dass alle Sprachen über lexikalisierte Ausdrücke für Gefühlszustände verfügen und dass sich die lexikalisierten Bedeutungskonzepte in bestimmten Bereichen überlappen, was für die jeweiligen Bedeutungsentsprechungen der engl. Adjektive angry, ashamed und afraid nachgewiesen wurde. (Wierzbicka 1999, 36) Weitere Übereinstimmungen betreffen die Beobachtung, dass es die Möglichkeit gibt, emotionale Zustände mithilfe analoger Alltagskonzeptualisierungen (Körpermetonymien bzw. -metaphern; vgl. 2.1–2.2) auszudrücken (Orgakova 2013, 51–2), dass es systematische Übereinstimmungen hinsichtlich dimensionaler Beschreibungsparameter gibt (Orgakova 2013, 52) und dass es auf der prototypischen Basisebene auch bei typologisch entfernten Sprachen vergleichbare Emotionskategorien gibt. (ebd.) Kontrastive Detailuntersuchungen belegen jedoch, dass einzelsprachspezifische Lexikalisierungen mit unterschiedlichen formalen und semantisch-funktionalen Differenzierungen einhergehen. Besonders gut erforscht ist der Konzeptbereich zu ‚Wut, Zorn, Ärger‘. Weigand (1998) geht in einem dreisprachigen Wortfeldvergleich von einer Basisemotion anger aus, die sie in kontrastiven Äquivalenzclustern des Deutschen, Englischen und Italienischen untersucht. Dabei werden Lexeme mithilfe von Dimensionsprädikaten (moral, minimization, curbed, intensification) sortiert und nach syntaktisch-konstruktionellen „ways of use“ gegliedert. (Weigand 1998, 50–65) Ähnlich verfährt Dem’jankov (1998) mit dem Vokabular zu ‚Ärger‘ im Deutschen und Russischen, das er nach semantischen Kriterien gruppiert und dabei
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neben synchronen und konstruktionellen auch diachrone und pragmatische Aspekte berücksichtigt. Westheide (1998) analysiert die abweichende Idiomatik von ‚Ärger‘-Lexemen im Niederländischen und Deutschen anhand von Textbelegen und geht insbesondere auf die genealogische Verbindung der Sprachen bei gleichzeitiger Trennung der Sprachgemeinschaften ein, die zu etymologisch verwandten aber funktional nicht-äquivalenten Ausdrücken führt: In Dutch erger is the comparative form of Dutch erg, equivalent German schlimm/sehr, […] and etymologically related to German antiquated arg. In most cases, namely 18 times, German Ärger is translated witch Dutch woede, 14 times Dutch problemen is supposed to be equivalent. 12 times irritatie “irritation”, irritant or geïrriteerd is used, and 11 times ergernis “annoyance”. (Westheide 1998, 123)
Durst (2001) stellt die onomasiologischen Felder des Deutschen und Englischen im Detail gegenüber und kommt zu dem Schluss … … none of the three most frequent ‘anger’ words in German [i.e. Wut/Ärger/Zorn] matches the meaning of the English word anger. […] each of them has its own semantic structure, determining their ranges of use and their restrictions in certain contexts […] (Durst 2001, 142)
Kövecses (1995) vergleicht metaphorisch-metonymische Alltagskonzeptualisierungen für anger in den typologisch weit auseinanderliegenden Sprachen Englisch, Ungarisch, Chinesisch und Japanisch. Trotz sprach- und kulturspezifischer Unterschiede werden in allen Fällen vergleichbare Metonymien und Metaphern postuliert, die ein kausalistisches Ursache-Kraft-Ausdruck („cause-force-expression“)Modell beinhalten und mit der Behälter-unter-Druck-Metapher (vgl. 2.1–2.2) in Verbindung stehen.
3.3 Typen, Komponenten und Dimensionen Der interdisziplinäre Transfer zwischen Sprachwissenschaftlern und Psychologen über alltags- und fachsprachliche Kategorienbildungen erfolgt in vielen Fällen nur wenig differenziert. Einerseits müssten Expertenkonzepte oft konsequenter von alltagssemantischen Konzepten unterschieden werden; andererseits werden alltägliche Emotionsbezeichnungen immer wieder kontextfrei als Stimuli oder Bewertungsvorgaben in psychologischen Testszenarien eingesetzt (vgl. Fontaine 2013, 31; Soriano 2013, 76); darüber hinaus werden sprachübergreifende Basisemotionen (vgl. 3.2) zur Stützung anthropologisch-kognitiver Universalien herangezogen und i. d. R. durch nicht weiter (lesartspezifisch) explizierte (englische) Alltagslexeme repräsentiert. Immerhin gibt es im Bereich der Basisemotionen inzwischen empirisch gesicherte Vergleichsuntersuchungen, die gewisse Verallgemeinerungen erlauben. Demnach können die Konzepte JOY ‚Freude‘, SADNESS ‚Trauer/Traurigkeit‘, ANGER ‚Wut/Zorn‘ und FEAR ‚Angst/Furcht‘ mit einiger Plausibilität als universell angenommen werden:
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Applying hierarchical cluster analyses to similarities between emotion terms reveals four clusters that stably emerge across languages and cultural groups: joy, anger, sadness and fear. […] Depending on the sample and the language, more clusters can emerge. […] when it comes to meaning, the basic emotions approach has revealed at least four universal basic emotion clusters, joy, sadness, anger, and fear. (Fontaine 2013, 40)
Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist die Semantik alltagssprachlichen Emotionsbezeichnungen sprachspezifisch organisiert. Nach einer methodologischen Weiterentwicklung der Wortfeldtheorie durch Lutzeier (1981, 1983, 1995) können strukturierte Wortfelder in einem abduktiven Prozess ermittelt werden und als Interpretationsschlüssel von Alltagssemantiken dienen. Dazu werden wortartspezifische Wörter-Paradigmen nach einem übergreifenden Inhaltsaspekt zusammengestellt, nach Relationen der Hyperonymität und Inkompatibilität binnengegliedert und anhand binärer Dimensionsprädikate in Teilmengen zerlegt. Lutzeier (1983) ermittelt im „Feld der Stimmungen im Deutschen“ zwei diskrete Wortcluster, die entlang der positiven und negativen Bewertungsvalenz unterschieden werden. Schwarz-Friesel (2007, 49–55) nutzt Testsätze, um die deskriptiven Termini Empfindung, Affekt, Instinkt und Motiv kompetenzbasiert zu unterscheiden. Die Ansätze von Lutzeier und Schwarz-Friesel zeigen, dass man mit sprachwissenschaftlichen Methoden Wissen über Emotionskategorien in ihren alltagssemantischen Interpretationen offenlegen kann. Allerdings verfährt Lutzeier idiosynkratisch, wenn er das Dimensionsmerkmal ‚hat mit Erwartungen zu tun‘ vom Merkmal ‚Vorhandensein von Angst‘ trennt. (vgl. Lutzeier 1983, 61–62) Nach emotionspsychologischen Modellen (vgl. Ortony et al 1988, 22) handelt es sich bei ‚Angst‘ um eine negativ bewertende erwartungsbasierte Emotion, die sich damit als untergeordnete Spezifizierung von ‚hat mit Erwartungen zu tun‘ analysieren ließe. Hier wird deutlich, wie sehr eine besser integrierte interdisziplinäre Forschung wünschenswert wäre. Auch in der Emotionspsychologie werden Kriterien zur Abgrenzung und Identifizierung von Emotionskonzepten diskutiert. (vgl. Fontaine 2013) Während Komponentenmodelle multifaktorielle und multimodale Teilaspekte emotionaler Prozesse unterscheiden, gehen dimensionale Skalenmodelle i. d. R. von axialen Beschreibungsprädikaten aus, die als polare Gegensatzpaare konzipiert sind. Je nach Beschreibungsansatz werden zu den Beschreibungsdimensionen die Bewertungsvalenz (positiv-Lust/negativ-Unlust), der Grad an Kontrolle/Macht und der Grad an Erregung/Aktivierung/Intensität gerechnet. (vgl. Fontaine 2013, 32–39) Es gibt viele unterschiedliche Varianten dieser Dimensionsmodelle, die eine quantitative Einstufung bzw. Skalierung emotionaler Szenen nach Maßgabe mehrerer Dimensionspole ermöglichen. Kontinuierliche Skalenmodelle lassen sich jedoch nur schwer zu einer replizierbaren, validen Methodologie operationalisieren. Im Unterschied dazu können binäre Dimensionsprädikate, die disjunkte Klassen bilden, gut für die semantische Analyse von Emotionskonzepten operationalisiert werden. Ein Klassifizierungsansatz, der sich an trennscharfen Kriterien orientiert, ist das Emo-
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Tab. 3: Dimensionale Klassifikation von Emotionen (Ortony et al. 1988, 15–25, adaptiert nach Reisenzein et al. 2003, 137–139). 1.
Ereignisfundierte
2.
Emotionen 1.1
Wohlergehens-
2.1
mit Selbstbezug
emotionen
2.1.1
E. des Selbstlobs
(z. B. Freude, Leid) 1.2
Empathieemotionen
(z. B. Stolz) 2.1.2
(z. B. Mitfreude,
1.3
Schadenfreude, Neid,
2.2
Missgunst)
2.2.1
Erwartungsfundierte E.
1.3.1
Handlungsfundierte Emotionen
Ungewissheits-
E. d. Selbstvorwurfs
3.
Objektfundierte Emotionen
3.1 positive objektfundierte E. (z. B. Zuneigung, Liebe) 3.2 negative objekt-
(z. B. Schuld)
fundierte E.
mit Bezug auf andere
(z. B. Abneigung, Ekel)
E. des Lobs (z. B. Bewunderung)
2.2.2
E. des Vorwurfs (z. B. Empörung)
emotionen (z. B. Hoffnung, Furcht, Angst) 1.3.2
E. der Erwartungsbekräftigung (z. B. Befriedigung, bestätigte Furcht)
1.3.3
E. der Erwartungsentkräftigung (z. B. Enttäuschung, Erleichterung)
tionsstukturmodell von Ortony, Clore und Collins (1988; als deutsche Adaptation vgl. Mees 1990, 42–163 und Reisenzein et al. 2003, 137–139). Auch wenn sich die Autoren explizit von einer wortbezogenen Interpretation distanzieren (vgl. Ortony, Clore, Collins 1988, 2), lässt sich der Ansatz mit einiger Plausibilität als onomasiologische Feldstruktur von Emotionsmanifestationen (re-)interpretieren (vgl. Tab. 3). Die semantische Interpretation des Ansatzes lässt sich damit begründen, dass die im Modell angesetzten Dimensionsprädikate – (A) Ereignisframe/Stimulustyp, (B) Bewertungsvalenz [± positive Bewertung], (C) Personaldeixis [± Eigenbezug], (D) temporaldeiktischer Bezug [± zukünftiges Ereignis] – in den Strukturen vieler Sprachen systematisch grammatikalisiert und anhand von grammatischen bzw. morphosyntaktischen Indikatoren zum Ausdruck gebracht werden. Somit ist auch mit hermeneutischen Zugängen eine eindeutige und intersubjektiv wohlbegründete Klassifizierung von Emotionsmanifestationen möglich. Entsprechend können die in Tabelle 3 dargestellten disjunkten Untergruppierungen wie folgt mit den genannten (diskurs-)grammatischen Kriterien unterschieden werden:
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(A) Ereignisframe nach Stimulustypen (Ereignisproposition/Handlungsproposition/Individuum) → Ermöglicht die Untergruppenbildung 1. vs. 2. vs. 3.: 1. Experiencer + Stimulus[Ereignis] 2. Experiencer + Stimulus[Handlung] 3. Experiencer + Stimulus[Individuum] (B) Bewertungsvalenz (positive/negative Wertprädikation): → Ermöglicht die Untergruppenbildung 1.1 Zufriedenheit vs. Unzufriedenheit; 1.2 Sympathie vs. Antipathie; 1.3 positive vs. negative Erwartung; 3.1 vs. 3.2 sowie 2.1.1 vs. 2.1.2 und 2.2.1 vs. 2.2.2 und eine weitere mögliche Differenzierungsebene unterhalb von 1.3.1, 1.3.2 und 1.3.3. (C) Personaldeixis (Unterscheidung Ego bzw. Sprechergruppe vs. Alter bzw. Hörergruppe bzw. Referenz auf Dritte): → Ermöglicht die Untergruppenbildung 1.1 vs. 1.2; 2.1 vs. 2.2. (D) Temporaldeixis (Unterscheidung Vorzeitigkeit/Nachzeitigkeit): → Ermöglicht die Untergruppenbildung 1.3.1 vs. 1.3.2/1.3.3.
3.4 Propositionale Strukturen und Satzsemantik Der semantische Aussagegehalt eines Satzes, die Proposition, wird in der Sprechakttheorie traditionell von der propositionalen Einstellung oder Sprechereinstellung unterschieden. (vgl. 4.4) Diese Sprechereinstellung ist in emotiven Äußerungen grundsätzlich mitenthalten, wird dabei jedoch in vielen Fällen nicht explizit, sondern implizit-konnotativ (vgl. 3.1) kodiert. Schwarz-Friesel (2007, 178–189) stellt heraus, dass explizite Emotionsäußerungen wie im Satzgefüge (7) die Struktur einer Doppelproposition (8) aufweisen. Diese Doppelproposition setzt sich aus einer Einstellungsproposition (EP) im einleitenden Hauptsatz und einer Sachverhaltsproposition (P) im Objektsatz zusammen. Dabei bildet die Sachverhaltsproposition den Skopus einer Bewertung: (7) Ich hoffe, dass Werder das Spiel gewinnt. (8) EP (Hoffen dass ((P) (gewinnen, Werder, das Spiel)) Die Einstellungsproposition beinhaltet als Referenz jeweils eine Emotionszuschreibung an ein Erlebnissubjekt oder Experiencer, bei emotiven Äußerungen ist dieses mit dem Sprecher bzw. Schreiber identisch. Das Verb hoffen expliziert eine erwartungsfundierte Emotion (vgl. Abschnitt 3.3), bei der die Einstellungsproposition eine (positive) Bewertung eines potentiellen oder zukünftigen Ereignisses zum Ausdruck bringt. Der Inhalt von (7) ließe sich sinngemäß auch mit einer konditional verknüpften Handlungsemotion ausdrücken, bei der – wie im Beispiel (9) – der Sachverhalt im Korrelat des Pronominaladverbs darüber wiederaufgenommen wird:
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(9) Wenn Werder das Spiel gewinnt, freue ich mich darüber. (10) P (gewinnen, Werder, das Spiel) → EP (sich freuen über (P (gewinnen, Werder, das Spiel) In (11) wird im Unterschied zu (8) keine Einstellungsproposition formuliert, sondern die im Verb hoffen zum Ausdruck gebrachte epistemische Erwartung eines potentiellen, zukünftigen Ereignisses durch die konditionale Verknüpfung zweier Sachverhalte ausgedrückt: (11) Wenn Werder das Spiel gewinnt, bin ich glücklich. (12) P1 (gewinnen, Werder, das Spiel) → P2 (glücklich sein, ich)
3.5 Psychische Verben und semantische Rollen Verbsemantik und kognitive Verbvalenzaspekte (vgl. Gansel 2008) spielen bei der diskursiven Konstituierung von Emotionssituationen eine zentrale Rolle. Mit der Wahl eines so genannten psychischen Verbs oder Psychverbs (vgl. Primus 2004; Kutscher 2009; Engelberg 2015) in einem bestimmten Konstruktionsmuster legt der Sprachproduzent nicht nur einen Emotionstyp fest, sondern auch spezifische Geschehensmodalitäten und Beteiligtenrollen im Hinblick auf kausale Ursachen und Folgen, (Un-)Bewusstheit und Absicht, Macht/Kontrolle und Manipulation, Besitz und Eigentum. Fries (2008, 302) nennt neun Konstruktionsmuster psychischer Verben des Deutschen mit ihren charakteristischen Experiencer (Exp) − und Stimulusrollen (Stim). Psychische Verbstämme wie -schreck- können in alternierende Konstruktionsmuster eingebunden sein, wie es die Internetbelege (13)–(16) verdeutlichen. Während in (13) eine Objekt-Experiencer-Konstruktion und in (14) eine intransitive Subjekt-Experiencer-Konstruktion vorliegt, zeigt (15) eine reflexive Konstruktion, bei der Stimulus und Experiencer identisch sind und (16) ein Funktionsverbgefüge mit Experiencer im Dativ: (13) Ein freilaufender Boxer hat die kleine Enkelin […] im Essener Lührmannwald angesprungen und erschreckt […]. (http://www.derwesten.de/staedte/essen/ freilaufender-hund-erschreckt-kleinkind-im-luehrmannwald-in-essenid7743279.html#plx493377221 ) (14) […] Plötzlich rannte ein großer Hund […] vor mir auf die Straße wodurch ich erschrak und stark bremste und dabei stürzte. (http://www.frag-einenanwalt.de/Motorradsturz-durch-Erschrecken-vor-freilaufendem-Hund--f101447.html ) (15) […] Milow […] erschreckt sich aus irgendeinem Grund und […] und war dann total aufgewühlt. Wie löst Ihr das, wenn sich euer Hund vor etwas erschreckt,
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was keinen Grund dafür bietet, also aus heiterem Himmel […] (http://www. english-bulldogforum.de/allgemeine-fragen/wie-macht-ihr-das-wenn-sicheuer-hund-erschreckt-t1397.html ) (16) Teddy (Hund) hat mir einen Schrecken eingejagt. Als im Wald Rehe vorbeiliefen riss die Leine. Ich sagte sofort „bleib“ und „sitz“, und er gehorchte. […] https://plus.google.com/+HansErikGa%C3 %9Fner/posts/JgaTRZdA3aq
Im Unterschied zu prototypischen Handlungsverben im Deutschen, bei denen eine klare Hierarchie zwischen maximal agentivisch-salientem Subjekt-Agens und minimal agentivisch-salientem Objekt-Patiens (Primus 2004, 279–389) besteht, ist bei psychischen Verben das Verhältnis zwischen semantischen Rollen und Verbergänzungen vielschichtiger. Mit Dowty (1991) und Primus (2004) können Experiencerund Stimulusrollen auf einer Agentivitätsskala zwischen einem Protoagens und Protopatiens verortet werden. Dabei können beide Rollen prototypische Agensmerkmale (Kontroller, Ausübender, Verursacher, Bewegungsträger, über einen psychischen Zustand Verfügender, Besitzer) (Primus 2004, 379) als auch prototypische Patiensmerkmale (Kontrollierter, Manipulierter, psychisch Erfasster, Besitz) (Primus 2004, 379– 380) aufweisen. Nach Croft (1991) und Kutscher (2009) konstituieren psychische Verben gerade keine eindimensionale Kausalkette vom handlungsauslösenden Subjekt zum passiven Objekt, sondern eine kausale Bidirektionalität zwischen den hybriden Rollen des Empfindungsauslösers als Bewertungsobjekt (= Stimulus) und dem Bewertungsverursacher, der einer psychischen Zustandsveränderung unterworfen wird. (= Experiencer) „Welche Argumentrealisierung der Basiskonstruktion ein Psychverb lexikalisiert, ist lediglich Ausdruck der spezifischen Perspektive, die ein Psychverb auf die Repräsentation eines Empfindungssachverhalts wirft.“ (Kutscher 2009, 110) Mit der Wahl einer bestimmten Verbkonstruktion können Sprachproduzenten somit emotionale Szenen in differenzierte Verantwortungszusammenhänge stellen, eine abgestufte Opfer-Täter-Konstellation konstruieren, implizit Schuldverhältnisse gewichten oder indirekte Vorwurfshandlungen indizieren.
3.6 Framesemantik Verben und ihre Ergänzungen sind an der Konstitution gestalthaft-stereotypischer Emotionszenen beteiligt, die in der Tradition Bartletts, Minskys und Fillmores als Frames bezeichnet und als schematische Repräsentationen des sprachgebundenen situationsbezogenen Erfahrungswissens definiert werden. Framesemantische Ansätze können strukturelle Beteiligtenslots in bestimmten Emotionssituationstypen abstrakt modellieren und Relationen der Unterordnung, Kombination und Integration von abstrakten Schemata und konkreten lexikalischen Elementen auf unterschiedlichen Ebenen beschreiben. Eine frame-ähnliche Beteiligtenheuristik zu As-
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pekten der Erlebensthematisierung schlägt bereits Fiehler (1990, 128–129) vor. Er nennt folgende thematisierbare Aspekte des Erlebens: den Träger des Erlebens (P); die Art des Erlebens (E = unspezifisch/A = spezifisch). Weitere Aspekte sind: I (= Intensität des Erlebens): D (= Dynamik des Erlebens): O (= Objekt des Erlebens): G (= Grundlagen d. Bewertung): (V) (= Veranlasser d. Erlebens): (K) (= Lokalisierung im Körper): (AUS) (= Ausdruckserscheinungen): (vgl. Fiehler 1990, 129)
Ich freue mich wahnsinnig. Meine Freude wächst. Ich freue mich über das schöne Wetter. Das Geschenk kann ich sehr gut gebrauchen. Ich freue mich darüber. Du machst mir große Freude. In meinem Herzen ist große Freude. Ich strahle vor Freude.
Aus emotionssemantischer Sicht ist (sprachspezifisch oder sprachvergleichend) zu untersuchen, ob man für das Emotionskonzept eine oder mehrere FrameStrukturen ansetzen muss, wie seine Subframes strukturiert und mit welchen lexikalischen Elementen besetzbar sind und ob sich ein Emotionsframe einer übergeordneten Framestruktur zuordnen lässt. Konerding (1993) hat für die lexikographische Beschreibung der Substantivsemantik des Deutschen abstrakte Hyperonymtypen mit ihren usuellen Prädikatorenschemata ermittelt. Am Beispiel der Emotionsbezeichnung Glück (in der Lesart ‚Freude, Heiterkeit, Gelöstheit‘) wird die Zuordnung zu einem Matrix- bzw. Minimalframe Eigenschaft/Zustand mit der charakteristischen Prädikatorenklasse der Entität des Eigenschaftsträgers (‚Menschen und andere Lebewesen‘) exemplifiziert, weitere Prädikatorenklassen betreffen Erscheinungsformen, Zusammenhänge, Handlungen, Rollen/Funktionen und vergleichbare Eigenschaften/Zustände. Je nach sprachlicher Perspektivierung können Emotionen jedoch auch als Ereignis konzeptualisiert werden. Hier werden Ereignisphasen bzw. Teilereignisse sowie kausale Bedingungen und Folgen profiliert. Die abstrakten Matrixframes verdeutlichen die Zustands-/Ereignis-Ambiguität des Emotions- bzw. Gefühlsbegriffs und seine i. d. R. relationale Konstituiertheit. In einer konkreteren Fassung eines Gefühlsframes könnten z. B. die Elemente (bzw. Prädikatorenklassen) Emotion, Zustand, Grad, Experiencer, Topic, Expressor (Ausdrucksmittel), Bewertung und Ursache angesetzt werden. (Vgl. Soriano 2013, 73) Im FrameNet Project der Universität Berkeley (https://framenet.icsi.berkeley.edu ) wurde eine Datenbank zu alltagssemantischen Framestrukturen des Englischen entwickelt. Im Frame-Index finden sich sieben emotionsbezogene Frametypen, die jeweils formlos definiert werden, oft einen wortartspezifischen Geltungsbereich haben und durch standardisierte Frameelemente, Relationen zu anderen Frames und lexikalische Einheiten spezifiziert werden. In dem von FrameNet abgeleiteten Projekt „German Frame Semantik Online Dictionary“ (G-FOL) der University of Texas wird ein übergeordneter Frame Experiencing Emotions angenommen, dem die Subframes Positive/Negative Feeling sowie Like/Dislike/ Interest zugeordnet werden. Prinzipiell unterschieden werden kausative und
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nicht-kausative Emotionssituationen. Dabei soll die Stimulus-Rolle in die Rollen Stimulus, Content und Topic ausdifferenziert werden: (17) Direkt ausgelöste Emotionen (Stimulus) Du[Stimulus] ärgerst mich[Experiencer] (18) Emotionen ohne Auslöser
(Content)
Ich[Experiencer] mag dich[Content]
(19) Unspezifische Emotionen (Topic) Ich[Experiencer] beneide dich[Topic] (vgl. http://coerll.utexas.edu/frames/taxonomy/term/73#Content ) Der framesemantische Ansatz bietet – in seinen unterschiedlichen theoretischen Ausprägungen und Modellszenarien – Chancen zur systematisch-vergleichenden Untersuchung von Emotionssituationen in unterschiedlichen Kontexten und Sprachen, zur Ausdifferenzierung von Lexem- und Konstruktionsbedeutungen sowie zur maschinellen Übersetzung und Annotation großer Textmengen. Als diskurslinguistisches Analyseinstrument bieten sich vielfältige Einsatzmöglichkeiten.
4 Emotionspragmatik und Emotionsfunktionen Für die Diskursanalyse sind die handlungsbezogenen Aspekte von emotionalen Prozessen und Emotionsmanifestationen besonders relevant. Dazu zählt die Frage, welche Handlungsmotive und Einstellungen emotional agierende Diskursteilnehmer erkennen lassen, welche kommunikativen und sozialen Effekte mit der Kommunikation von Emotionen erzeugt werden und welche politisch-strategischen Absichten im emotionalisierten Diskurs begünstigt oder unterdrückt werden. Vaňková (2014, 13) referiert mit dem Oberbegriff Emotionalität auf ein an Bühler angelehntes triadisches Funktionsmodell, das zwischen (i) dem Ausdruck von Emotionen, (ii) dem Sprechen über Emotionen und (iii) dem Erregen von Emotionen unterscheidet, dabei aber zwischen einer mitteilungsbezogenen (illokutionären) und einer wirkungsbezogenen (perlokutionären) Perspektive wechselt. Im vorliegenden Ansatz werden zunächst (intrasubjektive) kognitive (siehe Abschnitt 4.1) von (intersubjektiven) kommunikativen Funktionen unterschieden. Kommunikative Funktionen von Emotionsmanifestationen können dann mitteilungsbezogen (siehe Abschnitt 4.2) oder wirkungsbezogen (siehe Abschnitt 4.3) analysiert werden. Die im Folgenden vorgenommene Heuristik ignoriert zunächst die im Diskurs wirksamen Übergänge zwischen intrasubjektiv erzeugten Emotionsindizes, ihrer konventionellen oder inszenierten Verwendung (vgl. Abschnitt 2) und der empathiebedingten „Ansteckungswirkung“ auf Rezipienten. (vgl. Abschnitt 4.2) Insofern sind „kognitive“ Funktionen emotionaler Prozesse in vieler Hinsicht zugleich relevante Aspekte von intersubjektiven Diskursen. Umgekehrt sind intrasubjektive Funktionen nicht notwendig in kommunikative Handlungen eingebettet, sie werden jedoch von diskursiv etablierten längerfristigen Wertstrukturen („Dispositiven“) beeinflusst.
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4.1 Intrasubjektive kognitive Funktionen: Salienz, Erinnerung, Entscheidung Wenn man emotionale Prozesse als „Bewältigungsroutinen für grundlegende Lebensaufgaben“ (Ekman 1992, 169) ansieht, so wird deutlich, dass sie eine Bedeutung für die alltägliche Aufmerksamkeitsselektion haben. Gil (2015) schlägt hierfür den Begriff der Salienz vor, den er wie folgt ausführt: „Gefühle […] fokussieren und richten unseren Empfindungs- und Wahrnehmungsapparat so aus, dass wir Relevantes in der Welt entdecken können. […] Elemente, Aspekte, Eigenschaften, Dimensionen dieser externen Welt werden durch Gefühle selektiert und als wichtig perzipiert. [Sie] erhalten somit eine hervorstechende, ‚vorspringende‘ Stellung“ (Gil 2015, 86–87). Eine besondere Form der Salienzmarkierung durch emotionale Reaktionen ist die Gedächtnisfunktion. Der Zusammenhang zwischen emotionalem Erleben sowie der Nachhaltigkeit und dem Detailreichtum des Erinnerns ist in der Gedächtnispsychologie gut erforscht (vgl. Hertel/Reisberg 2004). So können wir uns an Details freudiger oder schockierender Erlebnisse (z. B. die Begegnung mit der ersten großen Liebe oder die äußeren Umstände der Kenntnisnahme von den Terroranschlägen des 11. September 2001) genau erinnern, während wir häufig nicht mehr wissen, wo wir vor ein paar Stunden beiläufig den Schlüsselbund abgelegt oder das Auto geparkt haben. Emotionale Stimmungen beeinflussen das Erleben, die Konstitution von Gedächtnisinhalten und das Erinnern (Parrott/Spackman 2000). Diese Erinnerungsfunktion, das emotionsgesteuerte Selektieren, Konservieren und Rekonstruieren von Erlebnisgestalten ist ein zentraler entwicklungspsychologischer Mechanismus der Identitätskonstruktion (vgl. Haviland-Jones/Kahlbaugh 2000). Die individuelle Perspektive korreliert mit der medial und diskursiv erzeugten kollektiven Ebene. Diskursive Narrative können in Kollektiven nach Lévi-Strauss (1962, 309) identitätsfundierend oder zum Inzentiv einer revolutionären Mythomotorik (vgl. Assmann 1992, 80) werden. Letzteres gilt vor allem, wenn die Narrative kontrapräsentisch und kontrafaktisch sind (vgl. Assmann 1992, 79). Während individuelles emotionales Erleben die biografische Erinnerung stützt, können im Diskurs tradierte kollektive Geschichtsnarrative emotionale Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen in der Gegenwart erzeugen (vgl. Halperin 2014; Rothenhöfer 2011, 51–54). Eng verknüpft mit Salienzerzeugung und Bewertungsfunktion (vgl. Abschnitt 4.6) ist der Beitrag von Emotionen zur kognitiven Entscheidungsbildung, die auch als Handlungsimpuls fungiert: „Gefühle und Emotionen können als Bereitschaft gedeutet werden, eine bestimmte Handlung auszuführen. Sie haben häufig einen impulsiven Dringlichkeitscharakter. […] Durch Gefühle und Emotionen werden Aspekte, Elemente und Eigenschaften der Umwelt für entscheidende und handelnde Individuen relevant“ (Gil 2015, 86). Je nach Intensität und Valenz können Emotionen auf die subjektive Handlungsmotivation eine aktivierende oder retardierende Wirkung haben, was in der persuasiven Kommunikation eingesetzt
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wird. Isen (2000) beschreibt die entscheidungsfördernde Wirkung positiver Emotionen für kreative und riskante Handlungsziele.
4.2 Intersubjektive mitteilungsbezogene Funktionen: Thematisierung, Ausdruck, Bewertung Mitteilungsbezogen können Emotionssachverhalte referentiell thematisiert bzw. behauptet oder aber direkt oder indirekt ausgedrückt werden. Die Evozierung von Emotionen wird zu den wirkungsbezogenen Funktionen gerechnet, die in Abschnitt 4.3 behandelt werden. Werden Emotionen im Gespräch oder Text thematisiert, steht nicht ihr sprecherperspektivischer Ausdruck im Vordergrund, sondern die Bezugnahme auf und prädizierende Charakterisierung von abstrakten Gefühlsund Erlebenskategorien einerseits sowie konkreten referentiellen Gefühls- und Erlebenssachverhalten andererseits. Dabei können assertive Thematisierungen expressive Sprachhandlungen indirekt mitausdrücken. Der Ausdruck von Emotionen ist nicht gleichzusetzen mit einer direkten Reaktion eines Erlebnissubjekts auf einen Stimulus (vgl. Abschnitt 2.1), sondern mit Verhaltensweisen, die „im Bewusstsein, dass sie mit Emotionen [des Emittenten, A. R.] zusammenhängen, in interaktionsrelevanter Weise manifestiert und/oder gedeutet werden“ (Fiehler 1990, 100). Der Emotionsausdruck wird dabei unter anderem durch kulturspezifische Manifestationsregeln und Konventionen (vgl. Fiehler 1990, 78–79) kontrolliert. Im Rahmen der Sprechakttheorie führt Searle die Klasse der Expressives ein, die sich in ihrem Handlungsgehalt gegenüber anderen Illokutionsklassen dadurch auszeichnet, dass ihre Vertreter den psychologischen Zustand zum Ausdruck bringen, der in den Aufrichtigkeitsbedingungen auf den referentiellen Sachverhalt bezogen ist (vgl. Searle 1979, 15). Darüber hinaus postuliert Searle (ebd.) bei Expressives das Fehlen einer Anpassung von Wort und Welt. Als Beispiele für expressive Handlungen nennt er ‚sich bedanken‘, ‚sich entschuldigen‘, ‚Beileid bezeugen‘, ‚verurteilen ‘ oder ‚willkommen heißen‘. Demnach diene die Entschuldigung, jemandem auf den Fuß getreten zu haben, weder der Feststellung des propositionalen Ereignisses, noch seiner Bewirkung. (ebd.) Wagner (2001) argumentiert auf der Grundlage eigener Korpusuntersuchungen für eine zweite Sprechaktklasse im Bereich des Gefühlsausdrucks und unterscheidet emotive von expressiven „Gefühls-Klassen“ (Wagner 2001, 158). Demnach weisen emotive Sprechakte als „Gefühls-Äußerungsakte“ (ebd.) im Unterschied zu expressiven als „Gefühls-Ausdruckshandlungen“ keine Mitteilungsabsicht auf. Wagner (2001, 160) unterscheidet 58 emotive und 59 expressive Typen, die er nach Bewertungsvalenzkriterien (positiv/negativ/neutral) und Objekt- bzw. Stimulusbezug (Person, keine Person) in Felder gliedert. Emotive Sprechakte bringen als semi-illokutive Klasse die psychischen Zustände des Sprechers ohne Mitteilungsabsicht zum Ausdruck, verweisen den Hörer aber indexikalisch auf den Gefühlszustand des Sprechers (vgl. Wagner 2001, 158–159). Schwarz-Friesel (2010) betont, dass die Übermittlung
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expressiver Bedeutungen nicht nur explizit, sondern häufig durch indirekte Sprechakte erfolgt. Indirektheit kann zur Gesichtswahrung oder zur Wahrung von Interpretations- und Handlungsspielräumen beitragen. Dabei muss der expressive Bedeutungsaspekt im assertiven Sprechakt (20) durch so genannte E(xpressive)Implikaturen erschlossen werden, wie sie im Beispielsatz (22) explizit ausformuliert sind. (20) In meiner Suppe ist eine Fliege. (21) Bringen Sie sofort eine neue Suppe! (22) Es ist ekelhaft/unerhört/widerwärtig, dass in meiner Suppe eine Fliege ist. Diese E-Implikaturen seien notwendige Verständnisvoraussetzungen zur Erschließung der I(llokutiven)-Implikaturen und damit zur Erschließung der eigentlichen Mitteilungsabsicht des Sprechers, wie sie in (21) als Imperativsatz direkt ausformuliert wird. Das emotive Bewerten ist zum einen ein kognitiver Funktionsaspekt, der eng mit der Entscheidungsfunktion verbunden ist, zum anderen ein Verhaltensaspekt emotionalisierter Individuen sowie ein zentraler Aussagegehalt expressiver Kommunikation. Neben direkten Objekt- und Sachverhaltsbewertungen können Akteure über kausale Handlungsbeziehungen im Sinne von Schuld- und Verantwortungszuschreibungen (Vorwurfs- oder Dankbarkeitsemotionen, vgl. Abschnitt 3.3) indirekt mitbewertet werden. Die Bewertungsvalenz kann als übergreifende Merkmalsdimension von Emotionskategorien (vgl. Abschnitte 3.2–3.3) angesehen werden. Der zugrundeliegende Wertbegriff ist ein erlebnisperspektivischer, insofern jeder Emotionsverarbeitung eine hedonische Valenzzuschreibung zugrunde liegt (positive Emotion/Lustempfinden vs. negative Emotion/Unlustempfinden). Emotives Bewerten spielt in Entscheidungsbildung und Handlungsmotivation eine zentrale Rolle; Neben indirekten emotiven Bewertungshandlungen (vgl. Wagner 2001, 158–159) wie hoffen, sich begeistern, sich freuen, jubilieren, Angst haben, gibt es Sprechakttypen des expressiv-wertenden Stellungnehmens (vgl. Wagner 2001) wie loben, Dank sagen, gratulieren, sich beschweren oder tadeln. Zillig (1982) entwickelt eine Mehrebenentypologie von kommunikativen Bewertungsmustern und deren Untermustern, in der er zwischen (i) Bewerten, (ii) Bewertungsbewerten, (iii) Sprechaktbewerten und (iv) implizitem Bewerten unterscheidet. Nach Zillig charakterisiert z. B. ‚klagen‘ eine Untergruppe der Negativbewertungen und ‚loben‘ eine der Positivbewertungen, (ii) ‚demütigen‘ eine Negativ-Negativ- und ‚beschönigen‘ eine Positiv-Negativbewertung, (iii) ‚faseln‘ oder ‚lügen‘ jeweils eine Untergruppe der Sprechakt-Negativbewertungen. Dubois (2007) modelliert den Vorgang des bewertenden Stellungnehmens (engl. stancetaking) als kommunikatives „stance triangle“ zwischen zwei Subjekten und einem Objekt. Dabei wird „Stancetaking“ nicht allein durch kognitive und kommunikative Wertzuschreibungen, sondern zu-
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gleich durch Teilaspekte sozialindexikalischer Positionierungs- und Anpassungshandlungen (positioning + alignment) charakterisiert und dabei die Bedeutung der kollektiven Ausrichtung an geteilten Werten und Symbolen für die Gruppenkonstitution und Handlungskoordination (vgl. Abschnitt 4.2) hervorgehoben. Martin/ White (2005), die sich im Paradigma der Systemic Functional Grammar verorten, entwickeln ein Repertoire an Beschreibungsprädikaten und skalierbaren Analysemodellen für Bewertungsprozesse (evaluation/appraisal). Der Bereich der emotiven Bewertung wird als affect dem Oberbegriff attitude zugeordnet und als Übergangsbereich zwischen judgement als diskurssemantisch vermitteltem ethischen Bewertungssystem und appreciation als kulturell etabliertem ästhetischen Wertesystem definiert. Stancetaking bezieht sich nach Martin/White auf die textsortenspezifische Vermittlung von Einstellungen. Ähnlich wie in den bereits behandelten dimensionalen Emotionstaxonomien (vgl. Abschnitt 3.3) entwickeln Martin/White Beschreibungsdimensionen für die evaluativ-bipolaren Affektbereiche (dis-)inclination, (un-)happiness, (in-)security und (dis-)satisfaction.
4.3 Intersubjektive wirkungsbezogene Funktionen: Evozierung, Koordinierung, Agitierung Die wirkungsbezogene Grundfunktion wird bei Vaňková (2014, 13) als das „Erregen“ bzw. als „Evozierung von Emotionen“ bezeichnet. In der emotionspychologischen Literatur ist meist vom Elizitieren die Rede. Prozess und Ergebnis werden darüber hinaus generalisierend mit dem (akt-/objekt-ambigen) kausativen Verbalabstraktum Emotionalisierung umschrieben. In vielen Fällen beruht die emotionalisierende Wirkung von Äußerungen, Texten und Medien (z. B. in der Werbung) auf dem Prinzip der (positiven oder negativen) Evaluation kommunikativer Stimuli aus der Erlebnisperspektive. Darüber hinaus werden emotionale Reaktionen aber auch empathisch, durch Formen der intersubjektiven „emotionalen Ansteckung“ (vgl. Hatfield/Carpenter/Rapson 2014) erzeugt, wo emotionale Stimmungen und Einstellungen unter Vermittlung geteilten Kontext- und Erfahrungswissens (von Scheve 2010, 356–357) und neuronaler Spiegelsysteme (vgl. Arbib 2013, 451–466) analog übertragen werden. Ähnlich verhält es sich auch mit Mechanismen der empathischen Identifikation von Rezipienten und mediatisierten Figurenkonstruktionen. (vgl. Buck/Renfro Powers 2011, 188) Evaluative Identifikations- und Distanzierungshandlungen können im Zusammenspiel von Körpersignalen (Blicke, Gesten), emotivem Sprachgebrauch, Mitteln der deiktischen oder metonymischen Gruppenkonstitution (vgl. Wodak u. a. 1998) und weiteren Aspekten narrativer Sympathielenkung elizitiert werden. Schwarz-Friesel (2007, 212) spricht von textuellem Emotionspotential, das von der rezipientenseitigen Emotionalisierung zu unterscheiden ist. Rothenhöfer (2011) operationalisiert Identifizierungs- und Evaluationsindikatoren zu einem einstellungsindexikalischen Analyseraster.
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Auf der Mikroebene des Einzelgesprächs können implizite Emotionsmanifestationen zu einer gesichtswahrenden, indirekten Handlungskoordination beitragen. (vgl. Schwarz-Friesel 2010) Hier kommen bereits die aus dem Stancetaking-Modell (vgl. Abschnitt 4.2) bekannten Aspekte des Sich Positionierens (positioning), Bewertens (evaluation/appraisal) und Sich Anpassens (alignment) zur Geltung. (vgl. Dubois 2007) In ihrer „Communicative Theory of Emotions“ stellen Oatley/Johnson-Laird (1996; vgl. auch Schiewer 2007, 243) eine allgemeine, dispositiv-beziehungsrollenkonstitutive Funktion von Emotionen heraus. Auf der gesellschaftlichen Makroebene sind emotionale Interaktionen am Herausbilden sozialer Ordnungen beteiligt. (von Scheve 2010) Fiehler (1990, 77–93) beschreibt diese Ordnungen als interagierende soziale Regelsysteme (Emotionsregeln, Manifestationsregeln, Korrespondenzregeln, Kodierungsregeln). Emotionale Interaktionen fungieren dabei als System der Wertekoordination und als Sanktionierungsmechanismus. (vgl. Hess/Kirouac 2000) Die kommunikativen Strategien der Emotionsevozierung, der sozialen Koordinierung und emotionalen Ansteckung werden planmäßig in politischer Agitation und Propaganda verknüpft. Diskursstrategien der kollektiven Referenzierung und der Ausgrenzung, des sich Positionierens, der Auf- und Abwertung von Eigen- und Fremdgruppe und des persuasiven Konstruierens von individuellen Identifikations- und Betroffenheitsbezügen sind in Verbindung mit kollektiven Handlungsappellen die zentralen Bausteine einer agitativen Diskurskoordination. Im Sinne einer machtfundierenden Erzählung kontrollierte Emotionen können in der Diskursgemeinschaft als quietive Stabilisatoren fungieren, kontrafaktisch und kontrapräsentisch auf aktuelle Ordnungen gerichtete Emotionen hingegen als Inzentive von Macht- und Systemveränderung. (vgl. Assmann 1992, 66–86; Protevi 2014) Insbesondere die Konstruktion kollektiver Bedrohungen als Angststimuli und Heldennarrative werden zum Erreichen politischer Ziele eingesetzt (vgl. Altheide 2011)
5 Ebene, Modalität und Medium In ihrer Körperlichkeit, Gestalthaftigkeit, Kontextbezogenheit und intersubjektiven Reproduzierbarkeit weisen Emotionsmanifestationen ein indexikalisches, ikonisches und symbolisches Zeichenbildungspotential auf, das sich auf den verschiedenen Ebenen der verbalen, paraverbalen und nonverbalen Kommunikation in modalitätsspezifischen Ausdrucksmustern und Schematisierungen konstituiert. Kontext, Medium und verfügbare Kommunikationskanäle bedingen die Möglichkeiten direkter oder indirekter Emotionsübertragung. Hinsichtlich der Unterscheidung von Nähe- und Distanzkommunikation als den polaren Prototypen verbaler Kommunikationsbedingungen (vgl. Koch/Oesterreicher 1985, 23) kann nähesprachliche Kommunikation, die i. d. R. durch die Merkmale Dialogizität, Vertrautheit der Partner, face-to face-Interaktion, freie Themen-
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entwicklung, Privatheit, Spontaneität, Involvement und Situationsverschränkung geprägt ist (ebd.), als charakteristischer Ort emotionalisierter und expressiver Kommunikation angesehen werden. Emotionen können sich auf allen diskurslinguistischen Beschreibungsebenen (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, 135–201) durch sprachliche Indikatoren manifestieren. Intratextuell können sie als referenzielle Gegenstände thematisiert oder emotiv als propositionale Einstellungen im Sprachgebrauch prädiziert werden. Die Einstellungsindizierung kann sich jeweils auf intradiegetische (Figurenebene) und extradiegetische (Autorebene) Sprachverwender beziehen. (vgl. Genette 1998) Emotive Prädizierungen können auf allen Sprachsystemebenen zum Ausdruck kommen: Paraverbal in Schrift- bzw. Aussprache durch typographische bzw. phonologische Salienzmarkierung (Emphase, Intonation); in der Morphologie durch Formen der Gefühls- und Einstellungsprädikation (Diminutivbildungen, pejorisierende oder meliorisierende Affixe oder Affixoide wie z. B. un-, a-, grotten-, miss-, -sal, -ling) an den Sprecher bzw. Schreiber; durch sprechereinstellungsanzeigende Interjektionen, Modalpartikeln und Modaladverbien; durch affektive Adjektive, Substantive und Verben (vgl. Hermanns 1995a, 147–151), parteilich und überparteilich wertende Lexik (vgl. Burkhardt 1998, 103) sowie deverbale kausative Adjektive wie entzückend, reizend, nervtötend, aufregend, empörend, erheiternd. (vgl. Hermanns 1995a, 149) Auch deontische Sollensprädizierungen beinhalten emotive Wertungen. Auf syntaktischer Ebene sind u. a. Exklamativund Optativsätze, sowie Emotionsmetaphern und -metonymien charakteristische Formen sprachlicher Emotionsmanifestation. Deiktische Marker der Sprechergruppenperspektive (Personaldeixis, Possessivkonstruktionen) indizieren Erlebnis-, Betroffenheits- und Zugehörigkeitsaspekte. Emotionsspezifische Gesprächs- oder Textsorten wie Wutrede (vgl. Meier 2016), Liebesbrief (vgl. Wyss 2014) oder unspezifische Textsorten der Persuasion oder Nähekommunikation (z. B. Wahlkampfrede, Tagebucheinträge, Partnergespräche) weisen in der Regel charakteristische Muster sprachlicher Emotionalität auf. Musterhafte Emotionsmanifestationen werden in Akteursgruppen sprachlich koordiniert und im Diskurs sozialsymbolisch reproduziert. In der face-to-face Kommunikation, aber auch in der mediatisierten multimodalen Kommunikation werden neben verbalem Kode vor allem indexikalische Körpersignale wie Gesichtsausdruck, Blickrichtung, Gestik, Körperhaltung und Stimmtönung übermittelt. Diese Ausdrucksmittel tragen – im Sinne von Gumperz (1982) – zur Kontextualisierung interpersoneller Einstellungsrelationen bei. Nonverbal indiziert werden Freundlichkeit vs. Feindseligkeit; Dominanz/Überlegenheit vs. Unterwerfung/Unterlegenheit; Herzlichkeit/Wärme vs. Kälte; Kooperationsbereitschaft vs. Verweigerung; Zuneigung vs. Abneigung; Förmlichkeit vs. Formlosigkeit. (vgl. Ricci Bitti 2014, 1343) Mimische Ausdrucksvarianten werden von Ekman und Friesen in einem „Facial Action Coding System“ (FACS) nach der Beteiligung muskulärer „action units“ (vgl. Ekman/Friesen 1988, 191) analysiert. Dabei sind verbale und nonverbale Indikatoren in unterschiedlichem Maß der kognitiven Kontrolle und
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Inszenierung zugänglich: „Facial expressions of emotion are not easy to control. Most people manage their facial expressions, but far from perfectly. People are more practiced in lying with words than with faces (and more practiced with faces than with body movement)“ (Ekman/Friesen 2003, 135). Im multimodalen Zusammenspiel kann der verbale mit dem nonverbalen Emotionsausdruck übereinstimmen oder sich im Gegensatz bzw. Widerspruch befinden. Neben unmittelbar affektiv-regulierten Gesichtsausdrücken gibt es koverbale mimische Mittel, die zusammen mit der verbalen Ebene eine Gesamtaussage konstituieren. (vgl. Ricci Bitti 2014, 1346) Koverbale mimische Ausdrucksmuster können hier grammatischpropositionale Funktionen (modaladverbiale Funktion, Funktion der Sprechaktindikation, Funktion der Negationsindizierung) im Zusammenspiel mit verbalen Aussagen wahrnehmen.
6 Emotionen als Diskursmuster Wenn man Emotionsäußerungen als abstrakte Sprachgebrauchsmuster (vgl. Bubenhofer 2009) auf eine transtextuelle, soziale Formationsebene von Aussagekomplexen skaliert, werden habitualisierte Salienzsetzungen von Konflikten, von Personen-, Sachverhalts- und Dingbewertungen, Schuldzuschreibungen, Opfer- und Täterrollenzuweisungen erkennbar. In der Archäologie des Wissens thematisiert Foucault (1981) am Beispiel der Sexualität die Zentralität der Stance-Konstitutiven (und dabei emotionsanzeigenden und -elizitierenden) Diskursfunktionen des Sich Positionierens, Bewertens und Sich Anpassens, die letztlich ein ethisches Wertefundament einer Diskursgemeinschaft erkennbar werden lassen: Wie die Verbote, Ausschlüsse, Grenzen, Aufwertungen, Freizügigkeiten, Grenzüberschreitungen der Sexualität, alle ihre sprachlichen oder nichtsprachlichen Manifestationen an eine determinierte diskursive Praxis gebunden sind. Sie würde eine gewisse „Sprechweise“ gewiß nicht als letzte Wahrheit über Sexualität, sondern als die eine der Dimensionen, in denen man sie beschreiben kann, erscheinen lassen; und man würde zeigen, wie diese Sprechweise nicht in wissenschaftlichen Diskursen, sondern in einem System von Verboten und Werten angelegt ist. (Foucault 1981, 275 f.)
Zeichengebundene Diskursroutinen und intersubjektive emotionale Ansteckungseffekte lassen sich nicht in eine gerichtete Kausalbeziehung bringen, sie konstituieren sich gegenseitig. So besteht ein indexikalisches Wechselverhältnis zwischen der emotionselizitierenden Wirkung von Diskursen und der diskurselizitierenden Wirkung von Emotionen, gleichsam der beiden metaphorischen Diskursmodelle Foucaults, des unsichtbaren kollektiven Machtakteurs und der archäologisch zu entschlüsselnden Botschaft. Im Sinne der zweiten Möglichkeit stellt der Sprachgebrauch auch für die linguistische Mentalitätsgeschichte im Sinne von Hermanns (1995b) die Untersuchungsgrundlage dar und wird zum Ausgangspunkt einer Ana-
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lyse emotiver Dispositionen im Diskurskontext. Diskursakteure, die als Betroffene agieren und kommunizieren, bringen Gefühle und Einstellungen zum Ausdruck, positionieren sich gegenüber anderen Diskursakteuren, ihren Argumentationen oder Absichten. Dies kann als konstitutiv für „die Aushandlung und Hervorbringung von Wissen in Diskursen“ (Spitzmüller/Warnke 2011, 43) angesehen werden, darüber hinaus aber gerade auch für die Markierung sozialer Macht- und Werteordnungen. Die spezifischen Emotionsmanifestationen „Agonaler Zentren“ (vgl. Felder 2012b, 136) verweisen somit auf das Vorhandensein sozialer, diskurselizitierender Antagonismen und daraus resultierender Diskurse. Bei der korpuslinguistischen Methodenwahl müssen induktive und deduktive (corpus-driven und corpus-based) Verfahrensschritte sorgfältig auf Untersuchungsfragestellung, Textsortenspezifik und Akteursrolle abgestimmt werden. (vgl. Rothenhöfer 2015) Die Analyse kontextindexikalischer und kontextindizierter Emotionalität steht somit, wenn auch oft nicht explizit, im Zentrum linguistischer Diskursanalysen, sie ermittelt Indikatoren für Bindekräfte und Treibmittel sozialer Kohäsion und Dynamik. Dabei können sowohl Phänomene des intimen, mediatisierten (vgl. Marx 2014) als auch des politischen (öffentlich/privaten) Diskurses (z. B. Berner 2014, Schwittala 2014) in den Fokus rücken. Der emotionsbasierte Erklärungsansatz liefert für zahlreiche funktionale Phänomene diskursgeprägter Interaktion ein interdisziplinär fundiertes, ebenenübergreifendes Modell. Seine heuristischen Teilaspekte und Zeichenbezüge integrieren und komplementieren dabei auf sinnfällige Weise das etablierte Methoden- und Modellrepertoire der linguistischen Diskursanalyse.
7 Literatur und Online-Ressourcen Altheide, David L. (2011): Creating fear. Transforming terrorist attacks into control and consumption. In: Katrin Döveling/Christian von Scheve/Elly A. Konijn (Hg.): The Routledge Handbook of Emotions and Mass Media. London/New York, 259–272. Arbib, Michael A. (2013): Mirror systems and the neurocognitive substrates of bodily communication and language. In: Cornelia Müller u. a. (Hg.): Body – Language – Communication. An International Handbook on Multimodality in Human Interaction. Berlin/ New York, 451–466. Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und Politische Identität in frühen Hochkulturen. München. Battachi, Marco W./Thomas Suslow/Margherita Renna (1997): Emotion und Sprache. Frankfurt a. M. Berlin, Brent/Paul Kay (1969): Basic Color Terms: Their Universality and Evolution. Berkeley. Berner, Elisabeth (2014): Von der Schwierigkeit, einer Stadt eine Kunsthalle zu schenken – Strategien der Emotionalisierung in einem aktuellen kommunalpolitischen Diskurs. In: Lenka Vaňková (Hg.): Emotionalität im Text. Tübingen: Stauffenburg, 230–248. Bubenhofer, Noah (2009): Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskursund Kulturanalyse. Berlin/New York.
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22. Multimodalität und Materialität im Diskurs Abstract: Der Artikel nähert sich seinem Thema von zwei Seiten. Einerseits fragt er, inwieweit Diskurse „multimodal“ und „materiell“ sind, andererseits diskutiert er aber auch, inwiefern Multimodalität und Materialität selbst diskursive Phänomene sind. Somit werden die Wechselwirkungen von Materialität/Multimodalität und Diskurs als bidirektionale beschrieben: Die materielle Welt, die uns umgibt, bestimmt ebenso unsere Diskurse wie sie selbst diskursiv formiert ist. In diesem Sinne wird die ,Entdeckung‘ der Materialität und Multimodalität durch die Diskursanalyse nicht nur im Sinne einer Forschungsgeschichte, sondern auch als Diskursgeschichte erzählt, als Beispiel, wie sich eine Wissenschaft ihre Gegenstände immer auch „schafft“. Der Artikel bietet andererseits aber auch eine Einführung und Orientierung in die Praxis multimodal-materieller Diskursanalyse. Auch dies geschieht aus beiden skizzierten Perspektiven: Einerseits werden Methoden und Konzepte zur Beschreibung von Materialität und Modalitäten im Diskurs vorgestellt, andererseits aber auch Ansätze zur Beschreibung der diskursiven Konstruktion von Materialität und Multimodalität.
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Einleitung Materialität und Multimodalität des Diskurses: Option oder Obligation? Diskursivität der Materialität und Multimodalität: Das Sichtbarwerden der Sichtbarkeit Methoden und Konzepte der multimodal-materiellen Diskursanalyse Kommunikative Epistemologie und kommunikative Ideologie Fazit, Ausblick und Desiderata Literatur
1 Einleitung Dass Diskurse nicht auf sprachliche Äußerungen reduziert werden können, kann in der Diskursforschung wohl als unbestritten gelten; schließlich hat schon Michel Foucault, welcher der Forschung als zentrale Referenzfigur dient, selbst mehrfach vorgeführt, dass auch nichtsprachliche Artefakte diskursanalytisch sehr ertragreich sind (das berühmteste Beispiel ist wohl seine Analyse des Velásquez-Gemäldes Las Meninas zu Beginn des Buchs Die Ordnung der Dinge; vgl. Foucault [1966] 1974, 31–45; vgl. weiterhin auch Foucault [1967] 2001d). Die Diskurslinguistik jedoch hat in ihren Analysen lange Zeit ausschließlich sprachliche Äußerungen im engeren Sinn fokussiert, sieht man von einigen bemerkenswerten Ausnahmen ab (vgl. etwa https://doi.org/10.1515/9783110296075-022
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bereits Maas 1984 sowie insbesondere die Arbeiten der aus der Critical Discourse Analysis hervorgegangenen Sozialsemiotik, die weiter unten ausführlicher besprochen wird). Mehr noch: Ob Non- und Paraverbales in linguistischen Diskursanalysen eine Rolle spielen sollte oder müsste, wurde jahrelang überhaupt nicht diskutiert. Dies bedeutet nicht zwingend, dass diese Aspekte nicht als diskursrelevant angesehen wurden, vielmehr hat es vor allem mit der Frage zu tun, wie das Fach insgesamt (die Linguistik) und auch die Disziplin (die jeweilige Variante der Diskurslinguistik) ihren Gegenstand und ihren Kompetenzbereich eingrenzen. Und genau dies hat sich in den vergangenen Jahren, sowohl im Fach insgesamt als auch in einzelnen Disziplinen, deutlich geändert. Während para- und nonverbale Aspekte in der Gesprächslinguistik schon lange als relevante Phänomene angesehen wurden (vgl. Auer/Selting 2001; Sager 2001), hat die Textlinguistik solche Aspekte unter dem Einfluss der neu entstandenen Textstilistik (vgl. Sandig 2006), des die Literaturwissenschaft prägenden Materialitätsparadigmas (vgl. Gumbrecht/Pfeiffer 1988; Köhler/Metzler/Wagner-Egelhaaf 2004) sowie insbesondere der bereits erwähnten Sozialsemiotik (vgl. etwa Kress/van Leeuwen 2001; für die deutschsprachige Forschung Stöckl 2004b; Held/Bendel 2008) erst im Verlauf des letzten Jahrzehnts intensiver zu diskutieren begonnen (vgl. etwa Fix 1996, 2008; Hausendorf/ Kesselheim 2008; Wienen 2011; vgl. zur Forschungsgeschichte ausführlich Spitzmüller 2013b, 81–167). In diesem Zusammenhang wurde mehr noch als der aus dem Materialitätsparadigma stammende, eher philosophisch geprägte Materialitätsbegriff, welcher die Stofflichkeit sinnlich wahrnehmbarer Phänomene betont, der von der Sozialsemiotik prominent gemachte, zeichentheoretisch und systemisch-funktional fundierte Multimodalitätsbegriff, welcher auf verschiedenen Zeichensystemen beruhende Kommunikate charakterisiert, breit adaptiert. Kress/van Leeuwen (2001, 21) definieren modes als „semiotic resources which allow the simultaneous realisation of discourses and types of (inter)action“, multimodality als „the use of several semiotic modes in the design of a semiotic product or event“ (Kress/van Leeuwen 2001, 20). Die stark textorientierte und von der Textlinguistik geprägte Diskurslinguistik, vor allem die in der Germanistik verbreitetste Variante, hat diese Entwicklung nicht sofort mitvollzogen. Inzwischen, mit einigen Jahren Verzögerung, ist die „multimodale Wende“ (Bucher 2012, 54) aber auch in dieser Disziplin angekommen, und so setzt sich nun auch in der Diskurslinguistik zunehmend die Auffassung durch, dass Diskursanalysen nichtsprachliche oder parasprachliche Aspekte mit berücksichtigen sollten (vgl. Meier 2008, 2011; Friedrich/Jäger 2011; Spitzmüller/Warnke 2011a, 166–171; Spitzmüller 2013a; Tereick 2014). Noch ist die Disziplin über anfängliche Überlegungen, programmatische Aufrufe und erste Versuche, Nonverbales (vor allem Bilder) und Multimodales (vor allem Text-Bild-Kombinationen) in die Analysen miteinzubeziehen, nicht hinausgekommen, wobei einzelne Varianten wie die der Sozialsemiotik nahe stehende Critical Discourse Analysis aus Gründen, die in Abschnitt 2 dargelegt werden, in ihren Überlegungen weiter sind als andere. Daher kann auch dieser Artikel nicht
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auf eine breite Forschungstradition und auf weithin erprobte Verfahren verweisen. Stattdessen werden hier, dem Forschungsstand gemäß, eher Visionen skizziert, wie denn eine multimodale Diskurslinguistik aussehen könnte. Es werden methodische Probleme benannt und erste Ansätze diskutiert, wie diese zu lösen sein könnten. Weiterhin werden Desiderate und mögliche Anschlussstellen an die Diskurstheorie sowie an andere Teildisziplinen, die sich mit Multimodalität und Materialität befassen, aufgezeigt. Darüber hinaus wird das Verhältnis von Multimodalität und Diskurs aber auch von einer anderen Seite betrachtet, indem die Frage diskutiert wird, inwiefern Multimodalität und Materialität selbst (und auch das derzeitige disziplinenübergreifende Interesse an ihnen) diskursive Phänomene und somit auch nicht zufällig in den letzten Jahren auf der Forschungsagenda erschienen sind. Der Artikel wird im ersten Teil (Abschnitt 2) die Materialität und Multimodalität des Diskurses in den Blick nehmen und diskutieren, inwieweit Materialität und Multimodalität den Diskurs prägen und somit für die Analyse relevant sind. Im zweiten Teil (Abschnitt 3) wird die Perspektive umgedreht und der Artikel geht der Frage nach, inwiefern Materialität und Multimodalität als diskursiv (also diskursgeprägt) zu betrachten sind. Der dritte Abschnitt stellt Methoden und Konzepte zur Beschreibung von Multimodalität und Materialität im Diskurs vor, der vierte wiederum in Umkehrung der Perspektive Ansätze und theoretische Überlegungen zur Beschreibung der Diskursivität von Materialität und Multimodalität.
2 Materialität und Multimodalität des Diskurses: Option oder Obligation? Die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit Diskurse selbst ‚materielle‘ Phänomene sind, hängt wesentlich vom zugrunde gelegten Diskursverständnis ab. Versteht man Diskurse als abstrakte Formationen, die Wissen organisieren, als „Ebene zwischen den Ebenen der Sprache und des Denkens […], de[n] Bereich, in dem das gesellschaftliche Wissen als gesellschaftliches geprägt und gelenkt wird“ (Busse 2013, 149 unter Berufung auf Foucault [1971] 1997, 32; Herv. i. Orig.), dann sind sie selbst nicht materiell. Allenfalls können diese Formationen sich in materiellen diskursiven Praktiken (Texten, Bildern, nonverbalem Handeln, Architektur usw.) manifestieren. Versteht man den Diskurs jedoch selbst als „eine Praxis, die Regeln gehorcht“ (Foucault [1969] 2001c, 982), als „language-in-action“ (Blommaert 2005, 2), dann sind Diskurse per definitionem materielle Phänomene. Die Frage, was man nun am Ende als Diskurs bezeichnet, die Praxis oder die Strukturen, welche die Praxis formieren, mag sophistisch erscheinen, sie kann aber für die Bedeutung, die man der Materialität zuweist, entscheidend sein. Das hat auch mit wissenschaftsgeschichtlichen Traditionen zu tun, mit denen diese beiden Sichtweisen jeweils in Verbindung stehen.
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Die Konzeption von Diskurs als abstrakter Struktur nämlich folgt der gerade für die Linguistik des 20. Jahrhunderts so prägenden „Zwei-Welten-Ontologie“ (Krämer 2001), die in aller Regel mit einer Priorisierung des Abstrakten (dem System, der Kompetenz usw.) gegenüber dem Konkreten (der Parole, der Performanz usw.) verbunden ist. Das Konkrete, die kommunikative Praxis, ist hier vor allem Mittel zur Rekonstruktion des Abstrakten, dessen Beschreibung eigentliches Ziel ist. Im Fall der Diskurslinguistik ist dieses Abstrakte in der Regel das kollektive (und bezeichnenderweise vor allem auch das nichtartikulierte) Wissen bzw. die Episteme (vgl. bspw. Busse 2000, 43). Die Konzeption von Diskurs als Praxis hingegen folgt eher einem handlungstheoretischen Verständnis von Sprache, in welchem dem sprachlichen Handeln selbst performative und somit wirklichkeitskonstitutive Kraft zugesprochen wird (vgl. etwa Fairclough 1992, 64; Jäger 1999, 23; Scollon 2001, 3). Die zentrale Frage ist hier, was Akteure konkret tun, wenn sie kommunikativ handeln, und dieses Handeln und seine Konsequenzen sind, auch wenn hier ebenfalls Abstraktionen (etwa in der Beschreibung von Handlungsmustern) vorgenommen werden, zentraler Gegenstand einer solchen Betrachtungsweise. Im Fall der Diskurslinguistik wäre ein solch konkretes und folgenreiches Handeln beispielsweise Machthandeln bzw. institutionelles Handeln in konkreten sozialen Kontexten. Wenn auch die Zuordnung diskurslinguistischer Varianten zu einem dieser Paradigmen keineswegs eindeutig vorgenommen werden kann – im Gegenteil berufen sich ja gerade aktuelle diskurstheoretische Verortungen häufig darauf, beide Perspektiven berücksichtigen zu wollen (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011a) –, so sind doch tendenzielle Orientierungen eher in die eine oder andere Richtung vielfach deutlich auszumachen, und diese gehen nicht zufällig auch mit unterschiedlichen Relevanzsetzungen von Materialität und Multimodalität einher. So kann es kaum Zufall sein, dass die Critical Discourse Analysis, die den Performanzaspekt und die kontextuelle Einbindung von Diskursen betont, sehr früh schon multimodale Analysen vorgenommen und auf die diskursive Bedeutung und kontextualisierende Funktion der Modalität und Materialität hingewiesen hat (vgl. Hodge/Kress 1988; Kress/van Leeuwen 2001; Scollon/Scollon 2003; Maasen/Mayerhauser/Renggli 2006; Parr 2007; Johnson 2007; Richardson/Wodak 2009), während die von der Diskurssemantik geprägte germanistische Diskurslinguistik weiterhin vor allem (text-)korpusbasiert arbeitet und in den letzten Jahren sogar noch stärker die Nähe zu einer Korpuslinguistik gesucht hat, für die Texte nicht in ihrer Materialität interessant sind, sondern nur als Mittel, um abstrakte Muster herausarbeiten (oder gar ‚berechnen‘) zu können, die in aller Regel bei der Korpuskonstitution sämtliche Spuren der Textmaterialität und Multimodalität tilgt (bzw. der Analyse entzieht) und Kontexte auf Kotexte bzw. die syntagmatische Dimension reduziert (vgl. etwa Scharloth/Eugster/Bubenhofer 2013, 349–350). Eine solche struktur- oder musterorientierte Sicht auf Diskurse schließt zwar keinesfalls multimodale Analysen aus. Allerdings gesteht sie der Multimodalität
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(und erst recht der Materialität) keinen konstitutiven Status zu. Mit anderen Worten: Genauso wie aus schriftlichen Texten kann man zwar auch aus Bildern, Gesten, Architekturen und jedem anderen semiotischen Artefakt ‚Äußerungen‘ oder ‚Wissenssegmente‘ abstrahieren. Insofern stehen all diese Modalitäten auch einer strukturorientierten Analyse offen (und sie lassen sich ja auch, wenn auch die Annotationsverfahren hierfür noch nicht sehr elaboriert sind, korpuslinguistisch nutzbar machen; vgl. dazu unten Abschnitt 4). Allerdings ist es am Ende nicht von Bedeutung, wie (d. h. in welcher Modalität und mit welchem Material) die Äußerungen realisiert wurden. Dies steht in der Tradition der strukturalistischen Trennung von Stoff und Form, in deren Zusammenhang ja bereits im Cours konstatiert wird (vgl. dazu ausführlich Spitzmüller 2013b, 88–95): Das Material, mit dem die Zeichen hervorgebracht werden, ist gänzlich gleichgültig, denn es berührt das System nicht […]; ob ich die Buchstaben weiß oder schwarz schreibe, vertieft oder erhöht, mit einer Feder oder einem Meißel, das ist für ihre Bedeutung gleichgültig. (de Saussure [1916] 1967, 143)
So wie die Autoren des Cours hier Materialität als konstitutiven Faktor von Bedeutung dadurch ausschließen, dass sie Bedeutung auf systeminhärente Kontiguität (den valeur) reduzieren, wodurch die zitierte Aussage auch absolut folgerichtig wird (denn für den Systemwert eines Zeichens spielt seine materielle Realisierung in der Tat keine Rolle), so kann man mit gleichem Recht sagen, dass die Materialität, in welcher der Diskurs erscheint, für die diskursive Bedeutung nicht relevant ist, wenn man die diskursive Bedeutung als Beziehungsgefüge erfasst, in dem abstrakte Aussagen (nicht konkrete Äußerungen; vgl. Busse 1987, 227–232; Busse 2013, 150) und Sagbarkeiten stehen. Eine bildlich oder durch Text-Bild-Kombination getätigte Äußerung wäre damit zwar nicht weniger bedeutsam als eine rein schriftlich geäußerte, für die diskursive Bedeutung wäre es aber irrelevant, ob eine Aussage als bildliche oder schriftliche Äußerung vorliegt. Eine solche medienindifferente Sicht ist in der Diskurstheorie schon bei Foucault durchaus angelegt, dessen Diskurskonzept, ungeachtet seines Insistierens darauf, kein Strukturalist zu sein (vgl. etwa Foucault [1966] 1974, 15), nicht unerheblich vom Strukturalismus und insbesondere dem Konzept des valeur geprägt ist (vgl. Foucault [1969] 2001b; vgl. zur Medienindifferenz Foucaults auch Parr/Thiele 2007). Einen ganz anderen Status erlangen Multimodalität und Materialität hingegen dort, wo lokale Kontextualisierungen als bedeutsam erachtet werden, wo die Frage relevant erscheint, wie eine diskursive Handlung vollzogen wurde, wo sie vollzogen wurde und von wem. Dann nämlich gelangt die soziale Bedeutung der Materialität und Modalität selbst in den Blick – der Wert also, der bestimmten medialen Formen und materiellen Artefakten in bestimmten Kontexten zugewiesen wird. Und dass es einen solchen Wert gibt, ist aus lokaler Perspektive offensichtlich: Eine Messingplakette auf einem öffentlichen Platz hat einen anderen sozialen Wert als ein geklebter Zettel, eine Messingplakette auf einem öffentlichen Platz aber
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auch einen anderen als eine Messingplakette in der privaten Wohnung (vgl. Scollon/Scollon 2003, 2–6; Blommaert 2013, 39–48). Nicht jeder ist legitimiert, den öffentlichen Raum mit jedem beliebigen Kommunikat zu bestücken, und nicht jeder hat die Mittel dazu. Insofern sind beispielsweise großflächige Werbeplakate, deren Inhalt, Form und Autorschaft immer sozial reglementiert sind, Ausdruck und Konstituens gesellschaftlicher Strukturen und von Ideologie: Sie sind Teil der sozialen Ordnung, schaffen ihrerseits aber auch Raum für auf diese Ordnung bezogene ‚Gegendiskurse‘ (vgl. Hodge/Kress 1988, 8–12). Solche ‚Gegendiskurse‘ sind ihrerseits an Materialität und Lokalität gebunden: Ein Graffito, das die hegemoniale Ordnung infrage zu stellen versucht, indem es ‚illegitime‘ Orte (wie einen Zugwaggon oder auch ein Werbeplakat) okkupiert, hat einen anderen sozialen Wert als ein Graffito an der städtischen Wall of Fame. Solche ‚Okkupationsversuche‘ allerdings sind ihrerseits gerade dadurch, dass sie ‚Illegalität‘ als soziales Kapital nutzen wollen, auf die hegemoniale Ordnung angewiesen, sie sind insofern konstitutiver Teil des Diskurses, der die soziale Wirklichkeit schafft, und sie stehen gerade nicht ‚außer‘ ihm und ‚gegen‘ ihn, sondern ‚in‘ ihm (vgl. auch dazu bereits Hodge/Kress 1988, 2–5). Wenn man solche empraktischen (Bühler [1934] 1999, 52) Diskurse beschreiben will, geraten also Multimodalität, Materialität und Lokalität – das „symphysische Umfeld“ (Bühler [1934] 1999, 159) – notwendigerweise in den Blick, da für die konkrete Interpretation von „discourses in place“ (Scollon/Scollon 2003) eben auch der ‚place‘ (als sozial konstituierter und regulierter Raum) beschrieben werden muss, in dem bestimmte soziale Akteure bestimmte mediale Ressourcen in einer bestimmten Art und Weise aktiv nutzen (können) und andere nicht: […] individuals, with their social histories, socially shaped, located in social environments, using socially made, culturally available resources, are agentive and generative in sign-making and communication. (Kress 2010, 54; Herv. i. Orig.)
Ob man all das für relevant hält, ist wie gesagt abhängig davon, welches Erkenntnisinteresse man verfolgt. Beide Konzeptionen von Diskurs und beide Perspektiven auf den Diskurs sind gleichermaßen legitim – sie stellen schlicht unterschiedliche Fragen und sind an verschiedenen Phänomenen interessiert. Für die Bedeutung der Multimodalität und Materialität im Diskurs bedeutet das, dass eben auch sie je nach Erkenntnisinteresse sehr unterschiedlich sein kann. Stellen Multimodalität und Materialität aus der einen Perspektive eine mögliche (aber nicht zwingend notwendige) Erweiterungsmöglichkeit des Untersuchungsfeldes (der Datenbasis) dar, eine Option, so drängen sie sich aus der anderen fast zwingend (als nicht zu vernachlässigender Teil der Praxis, die man analysiert) auf, als Obligation. Die Antwort auf die Gretchenfrage nach der Multimodalität und Materialität des Diskurses ist also perspektivengebunden, sie ist selbst diskursgeprägt. Wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll, gilt dies aber gleichermaßen bereits für die Frage selbst.
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3 Diskursivität der Materialität und Multimodalität: Das Sichtbarwerden der Sichtbarkeit In Relativierung ihres eigenen Diktums, demzufolge jeder Text multimodal sei („[a]ll texts are multimodal“; Kress/van Leeuwen 1998, 186) halten Kress und van Leeuwen fest, dass Multimodalität durchaus als historisches Phänomen zu verstehen sei: For some time now, there has been, in Western culture, a distinct preference for monomodality. The most highly valued genres of writing (literary novels, academic treatises, official documents and reports, etc.) came entirely without illustration, and had graphically uniform, dense pages of print. Paintings nearly all used the same support (canvas) and the same medium (oils), whatever their style or subject. In concert performances all musicians dressed identically and only conductor and soloists were allowed a modicum of bodily expression, The specialised theoretical and critical disciplines which developed to speak of these arts became equally monomodal: one language to speak about language (linguistics), another to speak about art (art history), yet another to speak about music (musicology), and so on, each with its own methods, its own assumptions, its own technical vocabulary, its own strengths and its own blind spots. More recently this dominance of monomodality has begun to reverse. Not only the mass media, the pages of magazines and comic strips for example, but also the documents produced by corporations, universities, government departments etc., have acquired colour illustrations and sophisticated layout and typography. And not only the cinema and the semiotically exuberant performances and videos of popular music, but also the avant-gardes of the ‚high culture‘ arts have begun to use an increasing variety of materials and to cross the boundaries between the various art, design and performance disciplines, towards multimodal Gesamtkunstwerke, multimedia events, and so on. (Kress/van Leeuwen 2001, 1)
Auch wenn die teleologische Linie, die die Autoren hier implizieren, einer genaueren historischen Betrachtung nicht standhält, so ist dieser Punkt doch wichtig: Multimodalität spielt nicht in jeder Zeit (und in jeder Kultur) dieselbe Rolle (vgl. dazu auch Bucher 2011, 125–127, der von „Multimodalisierung“ spricht). Doch ist es keinesfalls nur so, dass sich die mediale Landschaft so verändert hat, dass die Wissenschaft an einer Beschreibung multimodaler Kommunikation nicht mehr vorbei kommt. Vielmehr ist es so (und Kress und van Leeuwen implizieren dies zumindest auch, wenn sie auf Prestige-Genres verweisen), dass Multimodalität nicht zu jeder Zeit die gleiche soziale Bedeutung zugeschrieben wird. Ein Blick auf metapragmatische Diskurse etwa zur Rolle der Typographie verdeutlicht dies (vgl. dazu ausführlich Spitzmüller 2010; Spitzmüller 2013b, 29–58). Typographie wurde spätestens seit Beginn des Buchdrucks und dominant bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ausschließlich in den Dienst der ‚Lesbarkeit‘ gestellt (vgl. dazu auch König 2004), sie sollte demzufolge auch möglichst nicht auffallen, sondern ‚unsichtbar‘ sein, ein transparentes ‚Fenster‘ zum ‚Inhalt‘ des Textes (vgl. für diese Auffassung bspw. den prägnanten Text von Warde [1932] 1991). Dieses „Transparenzdispositiv“ (Spitzmüller 2013b, 29) hat nicht nur die praktische Gestaltungsarbeit wesentlich
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geprägt, es ist auch mit anderen kommunikativen Ideologien verbunden. Ein domänenspezifisches Beispiel dafür ist das Konzept des ‚plain style‘, welches die Vorstellung von Wissenschaftssprache bis heute prägt (vgl. Kretzenbacher 1995) und dessen visuelle Seite das Ideal ‚transparenter‘ Wissenschaftstypographie ist (vgl. Spitzmüller 2013b, 419–429). Darüber hinaus und auf einer grundsätzlicheren Ebene ist das Transparenzdispositiv eng an ein Medienkonzept gekoppelt, das Medien als Behälter oder Boten ansieht, die idealerweise die zu übermittelnde Botschaft nicht ‚stören‘ (vgl. Spitzmüller 2013b, 53–56) und an ein Kommunikationskonzept, welches Kommunikation ebenfalls als möglichst störungsfreie Übermittlung von Gedanken von einem Kopf in einen anderen ansieht (dezidiert modelliert im informationstheoretischen Kommunikationskonzept von Shannon/Weaver 1949, durchaus aber auch prägend für das Saussure’sche Zeichenmodell, das bekanntlich auf dem „Kreislauf des Sprechens“ aufbaut; vgl. de Saussure [1916] 1967, 14). Das Transparenzdispositiv ist ein diskursives Phänomen, das die Kulturgeschichte der Neuzeit vermutlich nachhaltig geprägt hat (vgl. dazu auch Kittler 2003) und das erst im Lauf des 20. Jahrhunderts (zunächst in der Avantgarde und in der mit der Avantgarde eng verbundenen Werbung) infrage gestellt wurde, und zwar so weit, dass Lesbarkeit zuweilen überhaupt die Relevanz abzusprechen versucht wurde, was aber seinerseits wohl nur die Dominanz dieses Dispositivs bestätigt (vgl. dazu Spitzmüller 2013b, 40–53; Ganslandt 2012). Immerhin jedoch hat sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wohl nicht zufällig gleichzeitig mit der Entdeckung parasprachlicher und nonverbaler Kommunikation durch die Linguistik, in der Gestaltungstheorie weitgehend die Auffassung durchgesetzt, dass die Textgestaltung ein konstitutives Element der Bedeutungsgenese ist: Schrift nimmt Bezug zum Inhalt, jede Schriftwahl ist Interpretation, ‚neutrale‘ Schriften kann es nicht geben. (Willberg/Forssman [1997] 2005, 72; Herv. i. Orig. fett) Invisible typefaces do not exist. (Unger [1992] 2003, 110)
Zwar hat dieser kommunikationsideologische Wandel sicher auch die Erscheinungsweise der Kommunikate geprägt, doch sind es auch die Kommunikationsideologien selbst, von denen es abhängt, ob Multimodalität als relevant wahrgenommen wird, ob Visualität also ‚sichtbar‘ und Haptik ‚spürbar‘ wird, oder ob sie im Gegenteil als Epiphänomene ausgeblendet werden. Dass nun die Linguistik – und die Geisteswissenschaften insgesamt – diesen Faktoren plötzlich so hohe Bedeutung zusprechen, nachdem sie zuvor jahrelang problemlos als ‚irrelevant‘ aus dem Fokus genommen werden konnten, hat also wohl nicht nur mit der veränderten ‚Welt‘ zu tun, sondern sehr wesentlich auch mit einer veränderten Wahrnehmung (bzw. diskursiven Konstruktion) dieser Welt. Die ‚materielle‘ und ‚multimodale‘ Wende ist also ihrerseits eine Folge diskursiver Prozesse. Multimodalität ist aber nicht nur in diachroner Hinsicht dynamisch. Wer sich mit Interpretationen multimodaler Texte befasst, merkt recht schnell, dass die Interpretation paraskripturaler Phänomene wie der Typographie oder auch von Text-
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Bild-Kombinationen durchaus stark variiert. Und nicht nur das: Auch schon, ob diese Phänomene überhaupt wahrgenommen und/oder als interpretierbar eingeschätzt werden, differiert zwischen verschiedenen Akteuren hochgradig. Die Wahrnehmbarkeit und Interpretierbarkeit materieller Phänomene sind ihrerseits von Kommunikationsideologien abhängig, von kommunikativem Wissen und von sozialen Zuschreibungen von Bedeutung zu Form (vgl. dazu grundsätzlich Antos/Spitzmüller 2007; Spitzmüller 2013b, 183–208). ‚Zeichenhaftigkeit‘ ist diesen Phänomenen also nicht inhärent, sie wird ihnen von sozialen Akteuren auf der Basis von deren kommunikativem Wissen zugeschrieben bzw. verliehen. Auch Zeichenhaftigkeit ist also ein diskursives Phänomen. Daher sind Produktanalysen von multimodalen Texten, die die gruppenspezifischen Rezeptionsprozesse und das sozial stratifizierte kommunikative Wissen der Akteure nicht berücksichtigt, problematisch, weil sie höchstens die (wenn auch häufig sehr informierte) Interpretation des Analysierenden im Sinne einer Introspektion beschreiben können – also eine „Art ‚Armchair-Linguistik‘ der Multimodalität“ (Spitzmüller 2013b, 436) betreiben –, niemals aber die divergierende Fülle möglicher Kontextualisierungen und Lesarten (vgl. dazu auch Bucher 2007, 56–57; Wienen 2011, 93). Für eine Diskurslinguistik, die sich mit Multimodalität und Materialität befasst, bedeutet das, dass sie Multimodalität und Materialität nicht einfach exodiskursiv voraussetzen kann, sondern dass sie sie selbst als diskursiv begreifen muss. Multimodale und materielle Phänomene sind also nicht einfach nur kommunikative Fakten, die eine Diskurslinguistik zu beschreiben hat. Sie sind diskursive Produkte. Daher muss nicht zuletzt auch der (häufig heterogene) Umgang der Akteure mit ihnen, es müssen die diskursiven Zuschreibungen, die diese Phänomene erfahren, von der Analyse erfasst werden. Abschnitt 5 stellt Ansätze hierfür vor. Zunächst einmal jedoch sollen Methoden und Konzepte der multimodal-materiellen Diskursanalyse diskutiert werden, die in der Regel nicht so sehr von der Diskursivität von Multimodalität und Materialität ausgehen als von der Multimodalität und Materialität des Diskurses.
4 Methoden und Konzepte der multimodalmateriellen Diskursanalyse Methodisch kann eine an Multimodalität und Materialität interessierte Diskurslinguistik vor allem auf Verfahren der Textstilistik zurückgreifen, also etwa auf Ansätze zur Beschreibung von Bildern und Text-Bild-Kombinationen (vgl. Kress/van Leeuwen 2006; Fix/Wellmann 2000; Stöckl 2004a; Schmitz/Holly/Hoppe 2004; Schmitz 2007), Typographie (vgl. Wehde 2000; Stöckl 2004b; Spitzmüller 2012b), gesamthafter Textgestaltung (vgl. Sandig 2006; Hausendorf/Kesselheim 2008; Ehrenheim 2011) und lokaler Textverortung (vgl. Scollon/Scollon 2003; Fix 2008;
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Jaworski/Thurlow 2010; Blommaert 2013; Warnke 2013). Mit Hilfe dieser Verfahren können zunächst die Bedeutung nichtsprachlicher Elemente und die Rolle von nichtsprachlichen Elementen im multimodalen Gesamtkontext bestimmt werden. Viele dieser Verfahren lassen sich sehr einfach in das bestehende Programm diskurslinguistischer Analyse einbinden, da in der Textstilistik häufig semantische Phänomene, die in der Diskurslinguistik ohnehin zentral sind, einfach auf andere Modalitäten übertragen werden. Stöckl (2004a) etwa operationalisiert Bilder stilistisch unter anderem als visuelle Metaphern und Metonymien, er zeigt, wie sie Phraseologismen visualisieren und Frames evozieren, wie zwischen Text und Bild rhetorische Interrelationen (Parallelismen, Analogien, Antagonismen usw.) hergestellt werden und wie durch Text und Bild Textkohärenz geschaffen wird. All diese Phänomene sind, wenn auch rein sprachbezogen, Kernbestand des diskurslinguistischen Objektbereichs (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011a, 121–201; Niehr 2013, 66–126). Dass eine diskurslinguistische Anwendung der genannten text-bild-linguistischen Konzepte im Sinne einer solchen Integration in das bestehende Gegenstandsfeld fruchtbar ist, zeigt Tereick (2014; vgl. außerdem auch bereits Demarmels 2009). Tereick analysiert unter anderem in Rückgriff auf Stöckls Konzepte visuelle Metaphern (wie die Erdkugel mit Fieberthermometer) und Metonymien (wie den Eisbär auf schmelzender Scholle als Repräsentanten der Klimawandelfolgen) im Klimawandeldiskurs. Für eine solche Operationalisierung muss der Skopus der Analyse freilich vom Einzeltext auf Korpora erweitert werden, und dies stellt die Analysierenden vor nicht unerhebliche technische Schwierigkeiten. Tereick zeigt in ihrer Studie, dass einige dieser Schwierigkeiten durchaus lösbar sind, allerdings sind die technischen Möglichkeiten im Vergleich zu Textkorpora noch beschränkt. Bei der Recherche etwa greift Tereick unter anderem auf die Möglichkeit der Bildähnlichkeitssuche von Suchmaschinen zurück und experimentiert mit Tools zur Bildähnlichkeitssuche wie ImgSeek, stellt dabei aber fest, dass die Algorithmen noch nicht sehr zuverlässig sind (vgl. Tereick 2014, 89–90), sodass viel manuelle Zusatzarbeit nötig ist. Auch die Annotation muss vor allem manuell erfolgen, das heißt, verlässliche automatisierte oder teilautomatisierte Annotationsverfahren, wie sie für Textkorpora auch in der Diskurslinguistik inzwischen verwendet werden (vgl. Bubenhofer 2009, 325–337), gibt es für nichtsprachliche Modalitäten (noch) nicht. Tereick annotiert ihr Bildkorpus manuell mit Hilfe einer separaten Metadatendatei, nutzbar wären alternativ aber auch Datenbanken oder QDA-Programme, welche inzwischen teilweise ebenfalls Bild- und Videotagging erlauben. Freilich sind all diese Techniken nur mit vergleichsweise kleinen Korpora nutzbar und zeitaufwändig. Auch für genuin transtextuelle Phänomene, also musterhafte nichtsprachliche Phänomene, gibt es Konzepte, auf die die Diskurslinguistik zurückgreifen kann. Hinsichtlich Mustern der Textgestaltung (Textsorten oder Genres) etwa bietet sich das von Wehde (2000, 119–133) vorgeschlagene Konzept der typographischen Dispositive an, das musterhafte makrotypographische Gestaltung von Textsorten konzep-
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tionell fasst (vgl. für eine diskurslinguistische Weiterentwicklung Spitzmüller 2013b, 237–280). Was Bilder betrifft, erweist sich unter anderem Pörksens (1997) Konzept der Visiotype, wie auch Tereick (2014, 229–238) zeigt, als hilfreich. Darunter versteht Pörksen denotativ entleerte, aber konnotativ hochgradig geladene „Schlagbilder“ (Pörksen 1997, 27), die im Diskurs musterhaft mit deontischer Zielrichtung eingesetzt werden (Pörksen selbst führt als Beispiele u. a. die Doppelhelix und den blauen Planeten an). In eine ähnliche Richtung zielt auch Links Konzept des Kollektivsymbols (vgl. etwa Link 1983), das zwar zunächst mit Blick auf sprachliche Bilder (bspw. Metaphern) entwickelt wurde, sich aber auf ikonische Bilder übertragen und mit Pörksens Konzept kombinieren lässt (vgl. dazu Friedrich/Jäger 2011, Thiele 2011 sowie ausführlicher die medienwissenschaftliche Arbeit von Nohr 2014). Auch die Analyse von sozialikonisch gewordenen Bildmotiven, die etwa historisch saliente Szenarien (wie Flüchtlingsströme) zeigen oder Szenen, die Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden sind (wie die amerikanischen Soldaten, die ihre Landesflagge auf Iwojima errichten, oder die 1848er-Revolutionäre, die die schwarzrotgoldene Flagge tragen), erweist sich diskurslinguistisch als vergleichsweise leicht durchführbar und als interessant (vgl. etwa Johnson 2007 sowie Diekmannshenke 2011, welcher ebenfalls von „Schlagbildern“ spricht). All diese Arbeiten sind im Kern ikonographisch ausgerichtet, eine Auseinandersetzung mit der kunstwissenschaftlichen Ikonographie ist hier also geboten. Während die genannten Arbeiten alle mehr oder weniger der oben skizzierten Perspektive folgen, aus den zumeist als Entitäten wahrgenommenen nichtsprachlichen Elementen oder den Kombinationen von sprachlichen und nichtsprachlichen Elementen abstrakte diskursive Aussagen abzuleiten, gehen die sozialsemiotischen Arbeiten in der Nachfolge von Kress/van Leeuwen (2006) einen anderen Weg. Sie versuchen, in systemisch-funktionaler Ausrichtung, nichtsprachliche Elemente analog zur sprachlichen Analyse in Konstituenten zu zerlegen, die durch Verknüpfungsregeln zusammengehalten werden. So ist es zu verstehen, wenn Kress/van Leeuwen (2006) von einer ‚Grammatik des visuellen Designs‘ sprechen: Analog zur sprachlichen Grammatik sollen hier nichtsprachliche Elemente nicht nur als holistische Einzelzeichen (im Sinne einer Lexik) verstanden werden, sondern es sollen auch Verknüpfungsprinzipien (Syntax) und Handlungsmuster (Pragmatik) bestimmt werden, die jeweils zur Aussage eines multimodalen Texts beitragen. Solche Verknüpfungsprinzipien sehen die Autoren bei Bildern etwa in Form von Rahmungen (Framing) gegeben, sowie durch Vektoren, die einzelne Elemente untereinander sowie die Elemente mit den Rezipierenden verbinden, weiterhin durch semiotisch bedeutsame Kompositionsstrukturen. Die Sprachanalyse dient dabei als Modell. So stellt etwa das Konzept der Composition, das bestimmten Zonen auf einer Seite Informationswert zuspricht (given/new, ideal/real etc.), ganz offensichtlich den Versuch einer Übertragung des Thema-Rhema- bzw. Satztopik-Konzepts auf die Visualität dar, visuelle Salienz entspricht dem syntaktischen Fokus usw. Bildstrukturen werden mit temporalen, topographischen und topologischen Struk-
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turen sowie mit Kategorisierungsstrukturen in Verbindung gebracht, womit dem Design eine argumentative Dimension zugesprochen wird. Eine Entsprechung zur syntaktischen Modalität finden Kress und van Leeuwen in der visuellen Modalität (Farbsättigung, Detailgrad, Farbpalette usw.) wieder. Durch all diese ‚syntaktischen‘ Elemente werden nach Auffassung der Autoren auf der pragmatischen Ebene schließlich Handlungs- und Bewertungsaufforderungen an die Betrachtenden ausgesendet. Erklärtes Ziel dieser Betrachtungsweise ist es, grundsätzliche Prinzipien der Bedeutungskonstitution (des meaning-making) benennen zu können, die modalitätsübergreifend gelten, auch wenn sie von einzelnen Modalitäten unterschiedlich umgesetzt werden (vgl. Kress/van Leeuwen 2001, 2). Diese Prinzipien sind nach Kress’ und van Leeuwens Verständnis diskursiv, das heißt, sie greifen auf kulturell verankerte, historisch gewachsene und sozial bedeutsame Vorstellungen zurück. Die zunächst an Bildern entwickelte Konzeption ist mittlerweile auf viele andere Modalitäten übertragen worden, etwa auf Typographie (Stöckl 2004b; van Leeuwen 2005), auf Musik und Geräusche (Stöckl 2007), auf komplexe Texte und Genres (Kress/van Leeuwen 1998; Bateman 2008) sowie auf semiotische Landschaften (Scollon/Scollon 2003; Jaworski/Thurlow 2010). Diskurslinguistisch sind sie unmittelbar anschließbar, da sie ja auch in einem diskurslinguistischen Paradigma entstanden sind, auch wenn die korpuslinguistische Operationalisierbarkeit noch geleistet werden muss (Überlegungen hierzu finden sich bei Bateman 2008). Der Gewinn dieser Arbeiten ist zweifellos, dass sie einen neuen Blick auf multimodale Texte gewähren und Phänomene in den Fokus rücken, die zuvor kaum beachtet waren. Allerdings ist kritisch eingewendet worden, dass die Konzepte der empirischen Prüfung sehr häufig nicht standhalten (vgl. v. a. Bucher 2012) und dass sie den eigenen theoretischen Anspruch der Sozialsemiotik, die Konstruktion von Bedeutung im Kontext beschreiben zu wollen, durch die generalisierende Stoßrichtung und die Vernachlässigung der Rezeptionsperspektive konterkarieren (vgl. Antos/Spitzmüller 2007; Spitzmüller 2013b, 183–208; Bucher 2007, 56–57; Wienen 2011, 93). Eine Gefahr, die ganz zweifellos besteht (wie man auch bereits an Kress’ und van Leeuwens eigenen Analysen sehen kann), ist, dass die Konzepte die Interpretation von Kommunikaten unnötig präformieren, wenn etwa die vorgeschlagenen Informationswerte von Seitenzonen vorschnell auf die Daten projiziert werden. Das größte Defizit dieser Betrachtungsweise (die allerdings die anderen in diesem Abschnitt skizzierten Zugänge ebenfalls betrifft), ist, dass es eine allgemein gültige Bedeutung multimodaler Gestaltung impliziert, die dann aus der Sicht des Analysierenden beschrieben wird (häufig gepaart mit produzenten- und rezipientenseitigen Intentionalitäts- und Interpretationsunterstellungen, die nicht empirisch gestützt sind). Wie multimodale Kommunikate im Diskurs selbst wahrgenommen und interpretiert werden (und auch, ob sie überhaupt wahrgenommen und interpretiert werden), wird weitgehend ausgeblendet. Der Ansatz, der im nun folgenden Abschnitt skizziert wird, versucht genau dies (zu Lasten freilich der Produktanalyse) in den Fokus zu rücken.
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5 Kommunikative Epistemologie und kommunikative Ideologie Wenn Multimodalität und Materialität selbst diskursive Phänomene sind, dann muss eine diskurslinguistische Analyse, die Multimodalität und Materialität im Blick hat, auch deren diskursive Bedingungen in den Blick nehmen. Das heißt, sie muss der Frage nachgehen, welche Bedeutung multimodalen und materiellen Elementen von Diskursakteuren zugeschrieben wird, ob diese Bedeutung stabil ist und welchen Dynamiken die Zuschreibungen unterliegen. Um dies zu tun, müssen neben multimodalen Texten auch reflexive Diskurse zur Multimodalität in den Blick rücken, metapragmatische Diskurse also. In solchen Analysen rücken die Kommunikate selbst in den Hintergrund, und der Fokus liegt auf kommunikativem Wissen (es handelt sich also um eine kommunikative Epistemologie) sowie auf kommunikativen Wert- und Bedeutungszuschreibungen (also auf kommunikativen Ideologien). Diese Perspektive propagieren die Arbeiten von Spitzmüller (vgl. Antos/ Spitzmüller 2007; Spitzmüller 2012a, 2013b), der mit Blick auf die Graphie mit graphischem Wissen die Summe aller Annahmen über den Gebrauch und den ‚Sinngehalt‘ graphischer Elemente bezeichnet, die in einem bestimmten Kollektiv (zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt) unter bestimmten kommunikativen Voraussetzungen als ‚gegeben‘ angesehen werden bzw. die, mit Foucault ([1990] 1992, 32) gesprochen, auf einem bestimmten soziopragmatischen Feld „akzeptabel sind“ (Spitzmüller 2013b, 203).
und daran anknüpfend, im Anschluss an die Definition von Sprachideologien durch Silverstein (1979, 193), unter Graphie-Ideologien die Menge der Annahmen und Werthaltungen, welche von Kommunikationsakteuren als Begründung oder Rechtfertigung für den Gebrauch oder den Nichtgebrauch bestimmter graphischer Mittel/Varianten, als Begründung für die Bewertung von Akteuren, welche diese Mittel/Varianten gebrauchen oder nicht gebrauchen, sowie hinsichtlich Sinn und Bedeutung dieser graphischen Mittel/Varianten geäußert werden. (Spitzmüller 2013b, 286; i. Orig. kursiv)
Im Anschluss an Konzepte der interpretativ-ethnographischen Soziolinguistik nehmen die Arbeiten dann in den Blick, wie bestimmte multimodale Formen (etwa gebrochene Schriften in der Popkultur oder auch ‚neutrale‘ Typographie in Seminararbeiten) in verschiedenen diskursiven Arenen (Internetforen, Stylesheets usw.) bewertet und diskutiert werden. Dabei wird deutlich, dass die Zuschreibungen erheblich variieren, aber auch, dass bestimmte Gestaltungsformen für manche Akteure hochgradig brisant und relevant sein können, während andere nicht diskursrelevant zu sein scheinen. Die Analysemethodik ist dabei im Wesentlichen eine klassisch diskurslinguistische: Es werden über explizite Bewertungsakte, über Nominationen, Argumentationen (Präsuppositionen, Implikationen), metaphorische Benennungen sowie über die Art des Gebrauchs (etwa in Form von Stilisierungen
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bzw. Parodien) ideologische Zuschreibungen zu bestimmten multimodalen Formen und Zuschreibungsprozesse von Formen zu bestimmten typisierten Akteursgruppen ermittelt und insbesondere auch Auseinandersetzungen um die ‚richtige‘ Bedeutung bestimmter multimodaler Formen in den Blick genommen. Daher ist diese Perspektive auch an die bestehende Diskurslinguistik ohne weiteres anschließbar. Letztlich lässt sie sich als klassische Diskursanalyse (einfach mit metapragmatischer Thematik) durchführen. Die Analysen sind insofern limitiert, als sie nur solche multimodalen und materiellen Phänomene in den Blick nehmen (können), die auch diskursiv verhandelt werden, und sie sagen weniger über die multimodalen Texte selbst als über ihre diskursive Perzeption aus. Allerdings zeigen sie, dass generalisierbare Aussagen zur Bedeutung multimodaler und materieller Formen problematisch sind, dass Diskurse nicht nur aus materiellen Entitäten bestehen, sondern diesen auch Bedeutungen und Funktionen zuweisen. Insofern stellen metapragmatische Analysen (neben Rezeptionsstudien mit Hilfe etwa von Blickaufzeichnungsverfahren, die aber diskurslinguistisch bislang noch nicht fruchtbar gemacht wurden; vgl. Bucher 2007) eine notwendige Ergänzung zu den stark produktorientierten Analysen multimodaler Diskurse dar, welche die noch in den Kinderschuhen steckende Forschung zu Multimodalität und Materialität im Diskurs zurzeit dominieren.
6 Fazit, Ausblick und Desiderata Der Gegenstandsbereich ‚Multimodalität und Materialität im Diskurs‘ ist, wie die Ausführungen gezeigt haben, noch in vielerlei Hinsicht unterentwickelt. Zwar haben sich viele Arbeiten im Verlauf der letzten Jahre der Thematik angenommen, doch unterscheidet sich ihre Zielrichtung bisweilen erheblich. Auch gründen die Arbeiten, wie die Ausführungen deutlich gemacht haben, auf sehr unterschiedlichen Diskurskonzepten, sodass sie nicht ohne weiteres aneinander anschließbar sind. Die zugrunde liegenden kommunikationstheoretischen Annahmen sind zum Teil diskussionsbedürftig, was aber häufig nicht der Diskurslinguistik anzulasten ist, sondern eine Folge der medienindifferenten Tradition der Linguistik ist, die insgesamt noch nicht zu einem wirklich befriedigendem Konzept von Multimodalität und Materialität gelangt ist. Konzeptionell ist sicher also noch Grundlagenarbeit zu leisten, bevor die Diskurslinguistik solide multimodale Analysen vornehmen kann. Eine sehr große Baustelle ist die korpustechnische Operationalisierung. Hier ist über wenige, eher unbeholfene Versuche hinaus noch kaum etwas geleistet worden. Wer multimodale Texte diskurslinguistisch analysieren will, ist also auf Handarbeit und die eigene Kreativität angewiesen. Blickt man auf die Entwicklungen der Bilderkennung und automatischen Bildkategorisierung, so ist hier für die Zukunft durchaus Besserung zu erwarten. Bis die multimodale Korpusprozessierung aber
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auf dem Stand ist, auf dem die sprachbezogene Korpusprozessierung heute steht, dürften noch Jahre vergehen. Die Diskurslinguistik ist hier jedenfalls, wie dies bereits bei Sprachkorpora der Fall war, auf die Mithilfe der Computerlinguistik angewiesen. Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass der multimodalen Diskursanalyse vielfach ein reflexiver Zugang zum Gegenstand und zur eigenen Methodik fehlt. Die generalisierenden Bedeutungsunterstellungen, die in produktorientieren Analysen häufig vorgenommen werden, bezeugen dies in einem mitunter erstaunlichen Ausmaß. Insbesondere aber der Umgang mit den Daten ist vielfach in bedenklichem Maße unreflektiert. Vor allem fehlt häufig jegliche ethnographische Basis. So werden multimodale Texte aus ihren Praxiszusammenhängen isoliert, ohne dass die involvierten Akteure und Akteursgruppen oder auch nur die Lokalität der Kommunikation berücksichtigt werden. Semiotic-Landscape-Untersuchungen, die ja gerade „discourses in place“ (Scollon/Scollon 2003) beschreiben wollen, präsentieren Fotografien von Orten als Daten, ohne zu bedenken, dass die Fotografien eben gerade nicht die Daten, sondern allenfalls Transkriptionen der Daten darstellen (es sei denn, das Ziel ist eine Bildanalyse und keine Landscape-Analyse). Solche Analysen – „just press a button, download, insert, and it’s done“ (Blommaert 2013, x) – können nur an der Oberfläche bleiben, weil sie die empraktische Rahmung, den Kontext multimodaler Kommunikation, sowie auch die Prinzipien der Kontextualisierung ignorieren: Der Kontext (im Sinne eines interpretativen Rahmens) ist nach mittlerweile kaum mehr bestrittenen linguistischem Verständnis ja nicht die Summe aller „bits and pieces of the material environment such as might appear if we had an audio and video recording of a speech event with all the sights and sounds surrounding the utterances“ (Halliday 1978, 29), sondern die Summe dessen, was von den Akteuren relevant gemacht wird, wozu nicht alles gehört, was man auf Audio- und Videoaufnahmen sieht, und wozu auch Phänomene gehören, die man auf Audio- und Videoaufnahmen gerade nicht sieht (vgl. Halliday 1978, 29). Wie es Agha pointiert formuliert: Things convey identities through acts in which they are emblematic for those connected to each other through those acts. A necktie is a thing. A car. A hat. A sideways glance. An accent. A sob. All things. All perceivable. Too many things. But […] let us note that things by themselves are not to the point. It’s the emblematic functions they have through acts that connect people; that’s the point. Although emblems are embodied in diacritics, a single diacritic can yield different emblematic readings under different conditions […]. Our focus therefore needs to be not on things alone or personae alone but on acts of performance and construal through which the two are linked, and the conditions under which these links become determinate for actors. (Agha 2007, 235)
Gerade dieser letzte Aspekt, die diskursive Einbettung und Verknüpfung von (multimodaler) Form und (diskursiver) Bedeutung und die Rolle, die den Akteuren dabei zukommt, ist in der multimodalen Diskursforschung noch zu wenig reflektiert. Versuche einer ethnographischen Fundierung (vgl. Blommaert 2013) sowie auch
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metapragmatische Analysen (vgl. Abschnitt 5) versuchen dem entgegenzutreten; allerdings ist dieser Weg bislang noch nicht systematisch genug beschritten worden. Trotz (und gerade aufgrund) dieser Defizite lohnt es sich für die Diskurslinguistik jedoch, das Thema weiter zu bearbeiten. Multimodalität und Materialität mögen im Rahmen des diskurslinguistischen Gesamtprogramms vergleichsweise problematische, da theoretisch und konzeptionell noch nicht hinreichend solide fundierte Gegenstände sein (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011b, 80). Dass es sich dabei aber um wichtige, analytisch interessante und – wenn Diskurs als soziale Praxis betrachtet werden soll – vielleicht sogar essentielle Gegenstände handelt, diese Erkenntnis wird sich in der Diskurslinguistik als einer der letzten soziopragmatisch orientierten linguistischen Disziplinen in den nächsten Jahren, auch aufgrund der hier skizzierten Entwicklungen und Arbeiten, aber hoffentlich weiter durchsetzen.
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23. Diskurslinguistik und Kodierung von Gewissheiten Abstract: Die Annahme von Wissensfixierung als Prozess und fixiertem Wissen als Stasis ist eine zentrale Denkfigur der Diskurslinguistik nach Foucault. In diesem Sinne ist sprachliche Kommunikation im Diskurs Kommunikation vor Hintergründen, die als Gewissheiten sowohl feste Grundlage als auch disponible Bezugsgröße des Sprechens bilden. Der Beitrag diskutiert, wie das originär philosophische Konzept der Gewissheit auf die Theorie der Diskurslinguistik bezogen und wie es methodologisch für linguistische Wissensanalyse nutzbar gemacht werden kann. Dabei geht es erstens um die Reflexion des Gewissheitsbegriffs in der Erkenntnistheorie. Zweitens wird die theoretisch-methodologische Frage nach der linguistischen Wendung des Gewissheitskonzeptes fokussiert und eine dreifache Definition sprachlicher Gewissheiten vorgeschlagen. Drittens bietet eine exemplarische Untersuchung von Diskursdaten Orientierungspunkte für Verfahren der linguistischen Analyse von Gewissheiten und ihren Kodierungen im Diskurs. 1 2 3 4 5
Gewissheit als ungewisser Terminus Ein linguistischer Gewissheitsbegriff Kodierung, Analyse und Repräsentation von sprachlichen Gewissheiten Resümee Quellen und Forschungsliteratur
1 Gewissheit als ungewisser Terminus Die Diskurslinguistik als Analyse von sprachlich distribuierten und konstituierten Wissensbeständen in transtextueller, gesellschaftlicher Kommunikation ist, so soll hier argumentiert werden, im Kern ihrer disziplinären Perspektivik an G e w i s s h e i t e n interessiert. In einem vorterminologischen Verständnis des Ausdrucks Gewissheit sind damit weiterführende Assoziationen verbunden, wie eine einfache Kookkurrenzanalyse in einem großen Korpus deutlich machen kann (Dies bezieht sich auf eine Suchanfrage nach lemmatisierten Kookkurrenzen von Inhaltswörtern zum Ausdruck Gewissheit/Gewißheit mit möglichen Flexionsformen mit der COSMAS-Software des Instituts für Deutsche Sprache im „Archiv der geschriebenen Sprache“, online unter http://cosmas2.ids-mannheim.de .). Man spricht von trauriger, schrecklicher, tröstlicher Gewissheit, von endgültiger, unumstößlicher, Anmerkung: Dieser Text ist entstanden im Rahmen des exzellenzgeförderten Projektes „Koloniallinguistik – Language in Colonial Contexts“ der Universität Bremen. https://doi.org/10.1515/9783110296075-023
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unerschütterlicher Gewissheit, man sieht Grundlagen für Gewissheit in Ausdrücken wie DNA, Obduktion, Glauben, Gewissheiten sind absolut, hundertprozentig, felsenfest. Insofern Diskurslinguistik also an Wissen interessiert ist, stellen Gewissheiten für sie einen wichtigen Untersuchungsgegenstand dar, da sie offenbar ein z w e i f e l s f r e i e s Wissen sind. Das Merkmal der Zweifelsfreiheit von Gewissheiten – Wingert (2007, 914) spricht auch von „Irritationsfestigkeit“ – lässt sich nun aber nicht nur in signifikanten Kookkurrenzen im Wortgebrauch erkennen, sondern ist zuerst in der erkenntnistheoretisch orientierten Philosophie postuliert worden, wie der Blick in einschlägige philosophische Enzyklopädien zeigt: Gewissheit […] ist ein Ausdruck der Alltagssprache, der Philosophie und der Wissenschaften, mit dem ein auf natürliche oder moralische Sachverhalte bezogenes sicheres Wissen bezeichnet wird, bei dem unterstellt wird, es sei vor Zweifel, Skepsis und Relativismus geschützt. (Sandkühler 2010, 909)
Die philosophische Begriffsgeschichte der Gewissheit von Platon und Aristoteles über die mittelalterlichen Scholastiker bis zur prominenten neuzeitlichen Behandlung in Ludwig Wittgensteins letzter Schrift Über Gewißheit ([1950/51] 1989; vgl. Halbfass 1974; Sandkühler 2010) führt zu einer terminologischen Relationierung von Wissen und Gewissheit, die eine konsensuelle Definition des Wissensbegriffs, nämlich dass Wissen „gerechtfertigte wahre Überzeugung“ sei (Sandkühler 2009, 23), problematisiert. So schreibt Wittgenstein: Der Unterschied des Begriffs ‚wissen‘ vom Begriff ‚sicher sein‘ ist gar nicht von so großer Wichtigkeit, außer da, wo „Ich weiß“ heißen soll: Ich kann mich nicht irren. […] Denn „Ich weiß…“ scheint einen Tatbestand zu beschreiben, der das Gewußte als Tatsache verbürgt. Man vergißt eben immer den Ausdruck „Ich glaubte, ich wüßte es“. (Wittgenstein [1950/51] 1989, 120–121, Hervorhebung im Original)
Es scheint also ein begriffliches Netz von Relationen zwischen den Begriffen W i s s e n, G e w i s s h e i t, Ü b e r z e u g u n g und G l a u b e n zu geben, das jedoch nicht nur durch definitorische Gleichsetzung (etwa Gewissheit = zweifelsfreies Wissen; Wissen = gerechtfertigte wahre Überzeugung; usw.), sondern außerdem durch systematisierende Unterordnung gekennzeichnet ist. So weist Sandkühler (2010, 910) darauf hin, dass „[d]ie traditionelle, auf Platon zurückgehende Unterscheidung von Modi und Graden der G[ewissheit] – Meinung (doxa), Glaube (pistis), Wissen (episteme) – […] noch heute den Horizont der Erkenntnis- und Wissenstheorie dar[stellt]“. Diese alte Unterscheidung von Graden der Gewissheit führt hin zu einem Verständnis des Gewissheitsbegriffs, das ihn für das diskurslinguistische Erkenntnisinteresse fruchtbar macht, denn Wittgenstein hält fest: Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide. (Wittgenstein [1950/1951] 1989, 139)
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Hinsichtlich einer Konzipierung von Diskursen als Kontextualisierungszusammenhängen (Busse 2007) rückt damit der von Wittgenstein angesprochene „überkommene Hintergrund“ in den Mittelpunkt der Betrachtung. Diesen Hintergrund aus „Wahrnehmungen und Erfahrungen, Beobachtungen und Experimenten, Überzeugungen, (Re-)Präsentationen und Wissen“ bezeichnet Sandkühler (2009, 68) als „Wissenskultur(en)“ und bezieht dies direkt auf sprachliche Wissensbildung: Meine Sätze gehören schließlich zu einer transindividuellen interpersonalen und intersubjektiven Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft; sie gehorchen einer Grammatik und Semantik der Kommunikation in einer Wissenskultur. (Sandkühler 2009, 87–88, Hervorhebungen im Original)
Sandkühler (ebd., 88) kennzeichnet diese wissensbezogene Rahmung von Sprache dann explizit als „Kontextualisierungsproblem“. Dies ist einerseits direkt anschließbar an die diskurslinguistische Konzeption von Diskursen als Kontext(ualisierung)en, andererseits kann Sandkühlers Rede davon, dass seine Sätze einer kommunikativen Grammatik und Semantik „gehorchen“ und zu einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft „gehören“, bezogen werden auf das Foucault’sche Diktum von Diskursen als Praktiken, die „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981, 74). Das bedeutet, dass aus einer diskursanalytischen Perspektive davon auszugehen ist, dass Gewissheiten in demselben Maße, wie sie in kommunikativer Zeichenverwendung reproduziert werden, auch im Sprachgebrauch konstituiert werden. Wir wollen im weiteren Verlauf davon sprechen, dass Gewissheiten einerseits durch kommunikative Zeichenverwendung i n d i z i e r t werden (i. S. von Peirce 1974, 315) – es wird also auf sie referiert –, andererseits werden durch sie Gewissheiten als solche explizit oder implizit d e k l a r i e r t (i. S. von Searle 1995, 28; diese theoretische Anleihe verdanke ich dem Herausgeber des vorliegenden Handbuchs) – sie werden also konstituiert. Durch Rekurs auf diese Dialektik gerät man in den Skopus der wissensbezogenen Theorie von Sprache und damit zur Notwendigkeit eines linguistischen Gewissheitsbegriffs.
2 Ein linguistischer Gewissheitsbegriff Den vielversprechendsten Berührungspunkt von philosophischer und einer zu entwickelnden (diskurs-)linguistischen Gewissheitskonzeption finden wir in der Kategorie des impliziten Wissens („tacit knowledge, subconscious knowledge“, Sandkühler 2009, 87, Hervorhebung im Original), das gerade deswegen gewiss ist, weil es sich hierbei um Überzeugungen handelt, die r e c h t f e r t i g u n g s t r a n s z e n d e n t sind. Dieser zuerst in Anlehnung an Wright (1992) von Willaschek (2003, 251) gebrauchte Ausdruck bezeichnet „Überzeugungen jenseits der Rechtfertigungs-Notwendigkeit bzw. -Möglichkeit“ (Sandkühler 2009, 119). Das heißt, dass „Überzeugungen und auf ihnen aufruhende Sätze, Theorien etc. […] empirisch un-
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terbestimmt [sind]“ (ebd., 117). Überdies bemerkt Sandkühler, dass rechtfertigungstranszendente Überzeugungen in einer Wissenskultur häufiger sind als Beobachtungsüberzeugungen (vgl. ebd., 119), sodass eine empirische Wissenschaft wie die (Diskurs-)Linguistik nicht nur über eine begriffliche Brücke der Erkenntnis-, Diskurs- und Sprachtheorie zur Beschäftigung mit Gewissheiten gelangt, sondern die Notwendigkeit ihrer Erforschung sehr wahrscheinlich auch mit signifikanten Okkurrenzen begründen kann – dies bleibt, ganz im Sinne empirischer Methodologie, aber noch (andernorts) zu zeigen. Bezeichnenderweise berührt der Begriff der rechtfertigungstranszendenten Überzeugung sowohl die diskursive Dialektik von Indizierung und Deklaration wie auch die Verknüpfung dieser Dialektik mit sprachlichen Ausdrucksmitteln. So veweist Willaschek (2003, 250) auf Dummetts Arbeit The Logical Basis of Metaphysics (1991), in der dieser drei sprachliche Mittel zum Ausdruck von rechtfertigungstranszendenten Überzeugungen – dort: undecidable sentences – benennt: Three features of our language may be singled out as especially responsible for the occurrence of undecidable sentences. (i) Our capacity to refer to inaccessible regions of space-time, such as the past and the spatially remote. (ii) The use of unbounded quantification over infinite totalities, for example, over all future time. (iii) Our use of the subjunctive conditional. (ebd., 315)
Willaschek (2003) vermutet darüber hinaus, dass diese – letztlich grammatischen – Strukturen es nicht nur erlauben, „solche Überzeugungen zu formulieren“, sondern „wohl auch, sie überhaupt zu bilden“ (ebd., 250), womit wiederum die Dialektik von Indizierung und Deklaration angesprochen ist. Diese Überlegungen sind nun aufzugreifen und auf bestehende sprachwissenschaftliche Konzepte zu beziehen, die einem so gekennzeichneten Gewissheitsverständnis begrifflich zugeordnet werden können. In einer ersten Annäherung, wie sie hier versucht wird, können zu solchen sprachwissenschaftlichen Konzepten der Begriff des C o m m o n G r o u n d und der der Implizitheit gezählt werden. Mit Bezug auf das Konzept des Common Ground, das zuerst von Stalnaker (1974) in die Diskussion eingebracht wurde, ist ein deutlicher terminologischer Kontrast zwischen dem philosophischen und einem linguistischen Gewissheitsverständnis erkennbar hinsichtlich der Eigenschaft der Zweifelsfreiheit von Gewissheiten. Ehrhardt/Heringer (2011) rekurrieren aus pragmalinguistischer Perspektive auf den Common Ground-Begriff und sprechen davon, dass [j]ede Äußerung […] in einem historischen Zusammenhang vollzogen [wird]. Der Zusammenhang wird sicherlich von beiden Partner [sic] unterschiedlich gesehen, ihr Wissen ist in diesem Sinn disparat. Dennoch geht jeder kontrafaktisch davon aus, dass ihnen beiden per default ein Standardwissen gemeinsam ist, dass sie sozusagen in einer gemeinsamen Welt leben – bis zum Beweis des Gegenteils. […] Es gibt kein kommunikatives Ground Zero. Kommunikation ist
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in gewissem Sinn dazu da, den Common Ground zu erweitern, zu koordinieren und anzupassen. (Ebd., 40)
Ein sprach- und damit kommunikationsorientierter Gewissheitsbegriff muss also mit Zweifel an Gewissheiten im Sinne von kooperativer Anpassung des geteilten Kommunikationshintergrundes rechnen, mit wechselseitigen Korrekturen und Ergänzung von Informationen. Das Common Ground-Konzept hat weiterhin – über die traditionellen Gegenstandsbereiche der Pragmatik hinausgehend und anknüpfend an den textlinguistischen Kohärenzbegriff – Eingang in die diskurslinguistische Theoriebildung gefunden. So sprechen Spitzmüller/Warnke (2011) davon, dass Texte auf mentale Textwelten bezogen [sind], auf Wissensbestände, vor deren Hintergrund sprachliche Aussagen erst Kohärenz besitzen. […] Diskurskohärenz bedeutet […] die Existenz eines impliziten ‚common grounds‘, wobei wir diesen ‚common ground‘ als mentales Text-Welt-Modell verstehen. (Spitzmüller/Warnke 2011, 149, 150)
Im Rahmen dieser pragmatisch-diskurslinguistischen Präzisierung sind in einer vorläufigen Begriffskonturierung mit s p r a c h l i c h e n Gewissheiten – so sollen Gewissheiten heißen, die linguistischer Analyse zugänglich sind – geteilte, anpassungsfähige Kommunikationshintergründe gemeint, die einen impliziten Geltungsanspruch aufweisen, der, um in Frage gestellt werden zu können, explizit gemacht werden muss. (Bei konversationellen Implikaturen nach Grice etwa nennt man dieses Phänomen Annullierbarkeit [cancelability, Grice [1967] 1989, 44; vgl. Rolf 2013, 68–69; Huang 2007, 32].) Zu betonen ist dabei, dass ein linguistisches Gewissheitsverständnis nicht voraussetzt, dass als gewiss geltendes Wissen zwangsläufig und immer implizit bleibt. Im Gegenteil: es können zahlreiche Realisationsformen auf (höchstwahrscheinlich) allen Ebenen des Sprachsystems identifiziert werden, mit denen Wissen als gewiss und zweifelsfrei indiziert und deklariert werden kann. Dies ist die methodologische Möglichkeitsbedingung einer (diskurs-)linguistischen Analyse sprachlicher Gewissheiten: die Indizierung als semiotische Relation und die Deklaration als pragmatische Operation. Der Anspruch zweifelsfreier Geltung jedoch muss implizit bleiben, damit wir von einer sprachlichen Gewissheit sprechen können. Implizitheit ist somit das zweite Konzept, das auf seine begrifflichen Bezüge zu einem linguistischen Gewissheitsbegriff hin befragt wird. Dabei stellt sich in systematischer Hinsicht erstens die Frage nach der Definition von Implizitheit, zweitens die nach ihren Funktionen und drittens die nach ihren Realisierungsformen oder -typen. Eine Definition kann mehr oder weniger tentativ versucht werden. Linke/Nussbaumer (2000, 435) sehen mit Bezug auf text- und gesprächslinguistische Fragestellungen im Impliziten den „größere[n] Teil des Textsinns“, der „unter der Oberfläche verborgen“ bleibe. Dies ist eine Abgrenzung gegenüber dem antonymischen Konzept des Expliziten. In der Forschung, die sich mit dem kernpragmatischen Begriff der Inferenz befasst, wird in jüngerer Zeit eine Unterschei-
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dung von c o d e und i n f e r e n c e angenommen, die direkten definitorischen Bezug auf Explizitheit und Implizitheit nimmt: […] the most important differences between codes and inferences are that the former are explicit, truth-conditionally relevant, and uncancelable, while the latter are implicit, truth-conditionally irrelevant, and cancelable. (Ariel 2008, 18)
Eine genaue begriffliche Festlegung wird, so möchten wir an dieser Stelle verbleiben, gegenstandsadäquat und auf die jeweilige Forschungsfrage bezogen sein müssen. Für den Zweck eines begrifflichen Bezugs auf sprachliche Gewissheiten wollen wir für eine Definition von Implizitheit an eine Bestimmung anschließen, die zwischen dem eher vagen „unter der Oberfläche“ Verborgenen und der strikten Bindung an spezifische inferentielle Kategorien liegt. Mit Bezug auf von Polenz (2008) verstehen wir unter Implizitheit Propositionen, die nicht ‚auf den ersten Blick‘ zu erkennende Inhalte der tatsächlich geäußerten Wörter und Satzkonstruktionen sind, Inhalte, die im sprachlichen Ausdruck unberücksichtigt sind, aber zu ihm hinzugedacht werden müssen. (Ebd., 302)
Diese „[h]intergründigen Satzinhalte“ (ebd., 298) bezeichnet von Polenz als „Mitbedeutetes, Mitgemeintes, Mitzuverstehendes“ (ebd., 302). Zu ihren kommunikativen Funktionen gehört aber nicht allein die Indizierung und Deklaration von Gewissheiten. In der Kontrastierung von „[e]xplizite[r] und komprimierte[r] Sprache“ ist diese Polyfunktionalität exemplifiziert: In unserer heutigen öffentlichen Sprachkultur werden komplexe Inhalte […] meist verkürzt und ungenau ausgedrückt, um Zeit und Raum zu sparen oder um die Hörer/Leser nicht zu langweilen oder sie zu provozieren oder um etwas zu verschleiern. (Ebd., 25)
Linke/Nussbaumer (2000, 446) führen darüber hinaus als „Funktionen des Impliziten“ an: sprachökonomische sowie ästhetische/Selbstdarstellungsfunktionen, dann die „Signalisierung gemeinsamer Gruppenzugehörigkeit“, „Andeutung, Anspielung, Insinuation“, „Formen negativer Höflichkeit“, „Formen der Ironie“, „Fallen-Stellen, Unterbuttern, Überrumpeln“ und die Formulierung von „Vorläufigkeiten“. Neben diesen muss der Ausdruck und die Hervorbringung von Gewissheiten zu den Funktionen von sprachlicher Implizitheit gerechnet werden. Mit Bezug auf die Voraussetzung von Welt- und Handlungswissen in Kommunikation verweisen Linke/Nussbaumer (ebd., 441) auf kognitivistische Theorien (vgl. Figge 2000, Strohner 2000) und setzen vier Typen von Weltwissen an, denen – nicht trennscharf – theorieabhängige Bezeichnungen zugeordnet sind: – Wissen über Episodisch-Einzelnes //? – Wissen über Regulär-Normales //Schemata – Wissen über Statisches //Frames – Wissen über Dynamisch-Handlungsorientiertes //Scripts
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Mit dieser kognitionswissenschaftlichen Klassifikation von Wissenstypen, an denen zweifelsfreie, rechtfertigungstranszendente Wissensbestände auch Anteil haben können, ist jedoch noch keine linguistische Strukturbeschreibung oder Erklärung der diskursiv-kommunikativen Genese sprachlicher Gewissheiten geleistet. Hierzu bedarf es operationalisierbarer Kategorien, die Analyse empirisch ermöglichen. Solche Kategorien, die (neben anderen möglichen Funktionen) die Funktion von Implizitheit erfüllen, sind mit Linke/Nussbaumer (2000, 437–443): – semantische Präsuppositionen – Implikationen – Konnotationen – Nebenbei-Prädikationen – pragmatische Präsuppositionen – konversationelle Implikaturen – Sprechakte Von diesen Phänomenen verknüpft die pragmatische oder auch Sprecher-Präsupposition (vgl. Rolf 2013, 30) am ehesten Implizitheit und Gewissheit im Sinne eines Nicht-in-Frage-Stehens – und zwar im Gegensatz zu einer Konzeption von geteiltem Wissen: Non-controversiality, not common knowledge, is the core notion that best describes the linguistic data of presuppositional assertions. (Atlas 2004, 51)
Mit dem Hinweis auf das Konzept des Impliziten und seiner Realisierungsformate schlagen wir eine definitorische Fixierung der Analyse sprachlicher Gewissheiten vor. Wir gelangen dabei auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen zum Vorschlag einer Definition sprachlicher Gewissheiten, die drei nicht vollständig deckungsgleiche theoretische Aspekte einerseits integrieren, andererseits die Möglichkeit einer begrifflichen Weiterentwicklung in verschiedene Richtungen bereitstellen will. Axiomatische Definition Sprachliche Gewissheiten sind rechtfertigungstranszendente Überzeugungen, die durch kommunikative Zeichenverwendung in Diskursen sowohl indiziert und als auch deklariert werden. Die axiomatische Definition setzt sprachliche Gewissheiten in Bezug zu einem spezifischen, axiomatisch vorausgesetzten Sprachverständnis, das funktional gekennzeichnet und diskurstheoretisch informiert ist. Analytische Definition Sprachliche Gewissheiten sind geteilte, anpassungsfähige Kommunikationshintergründe, die einen impliziten Geltungsanspruch aufweisen, der, um in Frage gestellt werden zu können, explizit gemacht werden muss.
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Die analytische Definition setzt sprachliche Gewissheiten in Bezug zu anschließbaren analytischen Konzepten der funktionalen Linguistik. Methodologische Definition Sprachliche Gewissheiten sind Formen geteilten Wissens, die durch prinzipiengeleitete Rekonstruktion auf allen System- und Realisierungsebenen der Sprache erschlossen werden können. Die methodologische Definition setzt sprachliche Gewissheiten in Bezug zu operationalisierbaren Analysekategorien, die konkrete sprachliche Phänomene repräsentieren, insbesondere Inferenzen, satz- und textgrammatische Strukturen. Durch die drei Definitionsvorschläge ist, so glauben wir, eine terminologische Falsifizierbarkeit des linguistischen Gewissheitskonzeptes gegeben: bei Falsifizierung der axiomatischen Definition ist noch eine Integration des Konzeptes in Theorien möglich, die auf andere Sprachbegriffe aufsetzen; bei Falsifizierung der analytischen Definition ist noch ein Anschluss des Konzeptes an andere funktionale Kategorien möglich; bei Falsifizierung der methodologischen Definition ist noch eine Analyse aufgrund eines eingeschränkten Kategorieninventars möglich. Wir gehen im Moment jedoch davon aus, dass alle drei Definitionen Plausibilität beanspruchen können, und versuchen nun zu zeigen, wie eine konkrete Analyse sprachlicher Gewissheiten aussehen kann. Hierbei stellt sich auch die bisher noch gar nicht berührte Frage, welches Repräsentationsformat sprachliche Gewissheiten haben (könnten).
3 Kodierung, Analyse und Repräsentation von sprachlichen Gewissheiten Wenn wir davon sprechen, dass sprachliche Gewissheiten kodiert werden, eröffnet dies die Möglichkeit von Widerspruch auf theoretischer Ebene. Kodierung hat etwas mit zeichenhafter Fixierung zu tun, also mit dem mehr oder weniger konventionalisierten Ausdruck vorgängiger Inhalte oder Handlungsabsichten: Codes are stipulated conventions associating specifically linguistic expressions with their formal or functional use conditions. (Ariel 2008, 25)
Dies könnte nun als unvereinbar mit der konstruktivistischen Rede von einer diskursiven Dialektik der Indizierung und Deklaration verstanden werden: ist die Konstitution von Wissen durch Sprache möglicherweise doch nur eine theoretische Annahme, die kein der wissenschaftlichen Analyse und kommunikativen Erfahrung zugängliches empirisches Äquivalent hat? Wir möchten ganz deutlich sagen,
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dass wir vom Gegenteil überzeugt sind. Gerade die Diskurslinguistik und ihre quantifizierend-signifikanzorientierten wie hermeneutisch-interpretativen Verfahren haben solide Indizien für die wissenskonstitutiven und handlungsorientierenden Funktionen sprachlicher Kommunikation erbracht (hingewiesen sei auf eine Vielzahl umfangreicher Arbeiten etwa in den Reihen Sprache und Wissen und Diskursmuster/Discourse Patterns). Wenn wir also von Kodierung sprechen, so ist damit kein theoretischer Widerspruch impliziert, sondern die (man könnte sagen: ontologische) Bedingung der (diskurs-)linguistischen Analyse sprachlicher Gewissheiten benannt: nur vom real vorliegenden Zeichenausdruck, in der Kodierung, kann die Analyse ihren empirisch adäquaten Ausgang nehmen. Auf dieser Grundlage finden dann die kognitiv-pragmatischen Prozesse des Enkodierens, Dekodierens und Inferierens statt (vgl. Ariel 2008, 25). Die Analyse sprachlicher Gewissheiten macht sich diese Erkenntnis zunutze, indem sie in ihren rekonstruktiven Analyseprozessen versucht, den kommunikativen Prozess, der die Indizierung und Deklaration von Wissen stets beinhaltet, zu simulieren, und folgt damit ihrer Intention nach dem programmatischen Ziel der linguistischen Diskursanalyse nach Busse/Teubert (1994, 23), „die semantischen Voraussetzungen, Implikationen und Möglichkeitsbedingungen [zu] erfassen […], die für einzelne Aussagen charakteristisch sind“. Sollte mit dem Begriff Kodierung also eine Einseitigkeit in Richtung der nur wiedergebenden Indizierung von Wissen durch Sprache liegen, so muss dies in Kauf genommen werden, da der Code unser empirischer Zugang zu den sprachlichen Gewissheiten ist; aufgewogen wird dies durch die Axiomatik der diskursiven Dialektik, die die konkrete Untersuchung leitet. Das Resultat der prinzipiengeleiteten Analyse wird hier als repräsentierbares Wissen modelliert, d. h. eine Wiedergabe des Analysats in metasprachlicher Form. Damit ist für eine Empirie der sprachlichen Gewissheiten ein klares Forschungsdesign bestimmbar: es geht um die kategoriale Struktur der Datengrundlage (Kodierung), um die Methode (Analyse) und die Ergebnisse der Untersuchung (Repräsentation). Unsere Beispiele für sprachliche Gewissheiten sind dem Phänomenbereich der Generizität entnommen, der sich besonders gut für die Illustration des linguistischen Gewissheitsbegriffs eignet, da die Funktion von generischem Sprachgebrauch der Ausdruck von Wissen mit einem Allgemeingültigkeitsanspruch ist, der in der Regel implizit bleibt. Prototypische, d. h. in der Forschungsliteratur häufig angeführte Musterbeispiele für Generizität sind Sätze wie: (1) Raben sind schwarz. (2) Hans raucht gewöhnlich nach dem Mittagessen. Um die Pfade der Introspektion, die mit solchen Retortenbeispielen gepflastert sind, gleich wieder zu verlassen, beziehen wir uns nachfolgend auf ein konkretes Korpus, das eine reale historische Diskursformation ausschnitthaft repräsentiert.
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Es handelt sich um das Bremische Basiskorpus Deutscher Kolonialismus (BBDK), dessen Konzeption und Struktur in Warnke/Schmidt-Brücken (2013) ausführlich dargelegt ist. In dem Korpus, das enzyklopädische, parlamentarische und redaktionelle deutschsprachige Texte der Jahre 1900 bis 1910 mit kolonialem Bezug beinhaltet, finden sich als Beispiele, die den Kerntypus von Generizität illustrieren, etwa die folgenden Sätze: (3) Unter geregelten Verhältnissen und wenn er nicht bedrückt werde, sei der Bur durchaus kein schwieriger Unterthan. (Deutsche Kolonialzeitung vom 4. 1. 1900, 6) (4) Bei Ameisen bewährt sich auch eine Lösung von Borax und Essigessenz sehr gut. (Kolonie und Heimat vom 7. 11. 1909, 2) (5) Dadurch wird keineswegs die Freiheit des Farbigen, über seine Person nach eigenem Gutdünken zu bestimmen, irgendwie angetastet oder beeinträchtigt. (Deutsch-Ostafrikanische Zeitung vom 19. 1. 1907, 1) Diese Beispiele mögen für den gegenwärtigen Leser insofern markiert sein, als sie auf eine soziale und historische Realität Bezug nehmen, die einen Prozess der Distanzierung durchlaufen hat. Die Distanz besteht dabei mindestens in zeitlicher Hinsicht (vis-à-vis Belegen aus den Jahren 1900, 1907, 1909), in einer möglicherweise problematischen Identifikation von nicht mehr alltäglichen oder domänenspezifischen Bezeichnungen (Borax) und am deutlichsten in der Präsupposition ethnischer und sozialer Kategorien (des Farbigen, kein schwieriger Unterthan), deren Existenz durch den Gebrauch von definiten Nominalphrasen vorausgesetzt wird (zu Präsuppositionen vgl. Huang 2011, 401–407). Mit dem Verweis auf inferentielle Kommunikation ist ein Kernbereich der Kodierung von sprachlichen Gewissheiten in Diskursen angesprochen. Kolonial geprägte Diskurse markieren Gewissheit u. a. durch Präsupposition von (sozialen, artifiziellen, natürlichen usw.) Klassen wie Buren, Ameisen, Farbige, über die verallgemeinernd kommuniziert wird. Was Generizität zu einem guten Beispiel von rechtfertigungstranszendenten sprachlichen Gewissheiten macht, ist der Umstand, dass generische Sätze ihren Wahrheitswert – also die Beurteilung der durch sie ausgedrückten Proposition als wahr oder falsch – auch unter Anführung singulärer Gegenbeispiele oder angesichts gegenläufiger statistischer Evidenz beibehalten, zumindest solange die konträre Evidenz implizit bleibt (vgl. Cohen 2002, 59; Leslie 2007, 379). Damit fällt Generizität unter die vorgeschlagene analytische Definition sprachlicher Gewissheiten. Die Daten in den Beispielen (1) bis (5) exemplifizieren den klassischen Typus von Generizität, der durch Referenz auf ein generisches Denotat, d. h. eine Klasse, und/oder durch Ausdruck eines habituativen Sachverhalts gekennzeichnet ist (vgl.
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Carlson 1977, 2011; Krifka et al. 1995). Aus einer funktionalen Betrachtungsweise des Phänomens, die auf der Grundlage empirischer Indikatoren davon ausgeht, dass es eine kommunikative Funktion der Verallgemeinerung gibt, kann angenommen werden, dass es entsprechend andere, nicht prototypisch satzbezogene Kodierungen von Gewissheit durch Generizität geben muss. In der Tat kann der Ausdruck von sprachlichen Gewissheiten in verallgemeinerndem Sprachgebrauch nicht nur auf der propositionalen Ebene von Referenz und Prädikation, d. h. in syntaktischer Generizität, identifiziert werden, sondern ebenso auf Text- und Wortebene (Schmidt-Brücken 2015). Der Analyse zugänglich werden diese Realisierungsebenen der Verallgemeinerung durch sogenannte generische Marker (Cohen 2002, 73–74; Carlson 2011, 1159; vgl. auch Behrens 2005, 277). Diese können einerseits als sprachliche Indikatoren verstanden werden, die ein Sprecher/Schreiber benutzt, um eine generische Interpretation des von ihm ausgedrückten Sachverhalts nahezulegen, und zwar als Präferenz gegenüber einem partikulären oder situationsgebundenen Verständnis. Andererseits kann ein Hörer/Leser aus dem Gebrauch generischer Marker eine entsprechende Interpretation inferieren (vgl. zur kommunikativen Dialektik der Sprecherhandlung Implikatieren und der Hörerhandlung Inferieren Horn 2004, 6; Rolf 2013, 12). Generische Marker erweisen sich dabei als kategorial heterogen. Inferenzen, die sprachliche Gewissheiten repräsentieren, können ausgelöst werden etwa durch textuelle Wiederaufnahmestrukturen, durch verschiedene Phrasentypen, durch satzwertige Konstruktionen und Phraseologismen, oder auch durch typographische Markierung. Beispiele für die linguistische Analyse sprachlicher Gewissheiten im Bereich der Generizität lassen sich sowohl für qualitative, einzeltextbezogene Verfahren wie auch für quantitative, korpusbezogene Herangehensweisen geben.
3.1 Qualitativ-textanalytischer Zugang Exemplarisch lässt sich die Kodierung, Analyse und Repräsentation sprachlicher Gewissheiten anhand von präsuppositionsauslösenden bei-Adverbialen darstellen. Vgl. den folgenden Beleg: (6) Es würde bei der betriebsamen, friedlichen und arbeitsamen Bevölkerung, die wir dort Gott sei Dank haben, möglich sein, durch die jetzige Art der Verwaltung, durch die Hüttensteuer usw. dafür zu sorgen, daß wir stärker, als es bisher der Fall war, Straßen bauen können. (Nationalliberale Partei, 25. 4. 1904, 2397) Die Äußerung in (6) ist dem Redebeitrag eines Abgeordneten der Nationalliberalen Partei in einer Reichstagssitzung des Jahres 1904 entnommen, in der der Sprecher
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für die Einführung einer zusätzlichen Besteuerung der kolonisierten Bevölkerung in der Kolonie Deutsch-Ostafrika argumentiert. Argumentative Texte enthalten verallgemeinernde Strukturelemente (vgl. Brinker 2010, 75, der sich auf Toulmin [1958] 2003, 97 bezieht), die als Stützung (engl. backing) bezeichnet werden. Die Funktion dieser zumeist implizit bleibenden Elemente ist es, die „Zulässigkeit der Schlussregel“ (Brinker 2010, 75) in einem Argument-Konklusion-Paar zu erweisen. Für den Beleg (6) etwa können als Argument (6‘) und als daraus gefolgerte Konklusion (6‘‘) angenommen werden: (6‘) Straßen könnten gebaut werden (6‘‘) Es ist notwendig, eine Hüttensteuer zu erheben. Die Schlussregel (6‘‘‘) kann dann folgendermaßen formuliert werden: (6‘‘‘) Aus der Prämisse, dass (6‘) [Straßen könnten gebaut werden], folgt (6‘‘) [Es ist notwendig, eine Hüttensteuer zu erheben]. Das bei-Adverbial in (6) kodiert dabei die Stützung dieser Schlussregel, indem eine Gewissheit über die – vom Sprecher zugeschriebenen – Eigenschaften der kolonisierten Bevölkerung präsupponiert und als Bedingung für die Gültigkeit der Schlussregel gekennzeichnet wird. Um dies zu verifizieren, kann ein Präsuppositionstest durchgeführt werden (vgl. Huang 2007, 65), der ergibt, dass auch unter Negation der Gesamtproposition in (6) folgende Inferenz bestehen bleibt (die Notation >> ist die in der linguistischen Pragmatik übliche Kennzeichnung von Präsuppositionen, vgl. Huang 2007, xvii): (6‘‘‘‘) >> Die Bevölkerung ist betriebsam, friedlich und arbeitsam. Die sprachstrukturelle Erklärung hierfür ist in der syntaktischen Fakultativität des betrachteten Adverbials zu sehen. Dadurch dass der Sprecher die kolonisatorische Eigenschaftszuschreibung durch die bei-Konstruktion in einem fakultativen Satzglied ausdrückt, gibt er – pragmatisch gesprochen – dem Adressaten zu erkennen, dass der im Adverbial kodierte semantische Gehalt so selbstverständlich und gewiss ist, dass es üblicherweise nicht notwendig ist, gerade diese Information explizit zu machen. Da diesem Befund eine prinzipiengeleitete Argumentationsanalyse vorangeht und ein Präsuppositionstest folgt, entspricht der dargestellte Typ von Gewissheitskodierung der vorgeschlagenen methodologischen Definition sprachlicher Gewissheiten. Schematisch lässt sich die strukturelle Verknüpfung von Kodierung, Analyse und Repräsentation sprachlicher Gewissheiten an dem demonstrierten Beispiel wie folgt darstellen:
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Tab. 1: Exemplarisches Strukturschema für sprachliche Gewissheiten. Datum
Es würde bei der betriebsamen, friedlichen und arbeitsamen Bevölkerung, die wir dort Gott sei Dank haben, möglich sein, durch die jetzige Art der Verwaltung, durch die Hüttensteuer usw. dafür zu sorgen, daß wir stärker, als es bisher der Fall war, Straßen bauen können.
Kodierung
[bei der betriebsamen, friedlichen und arbeitsamen Bevölkerung, die wir dort Gott sei Dank haben]präp.Adv. 1. Argumentationsanalyse 1.1 Ermittlung von Argument(en) und Konklusion 1.2 Ableitung der Schlussregel 1.3 Rekonstruktion der Stützung 2. Präsuppositionstest durch Negation der Gesamtproposition >> Die Bevölkerung ist betriebsam, friedlich und arbeitsam.
Analyse
Repräsentation
Der diskursanalytische Mehrwert des vorgeschlagenen Strukturschemas zeigt sich in der Möglichkeit, im Zugang über die verschiedenen Elemente des Schemas Äquivalente (oder Brüche der Äquivalenz) auf Diskursebene zu ermitteln. So könnten, ausgehend von der exemplarischen Analyse des bei-Adverbials, weitere präpositionale Adverbiale auf ihre Gewissheiten indizierende Funktion dieses Kodierungstyps untersucht werden. Oder es wird getestet, inwieweit mit derselben Analyse auf transtextueller Ebene ähnliche oder andere Realisierungsformen generischer Gewissheitsindizierung rekonstruiert werden können (vgl. dazu Schmidt-Brücken 2015, Kap. 5). Oder es werden diskursive Muster in den expliziten und impliziten Formaten sowie in den semantischen Inhalten der Repräsentation sprachlicher Gewissheiten untersucht. Der methodologischen Forderung nach Triangulation (Spitzmüller/Warnke 2011, 40) kann dabei durch Verfolgung mehrerer Perspektiven entsprochen werden.
3.2 Quantitativ-korpusbezogener Zugang Der in der Einzeltextanalyse gewonnene Befund, dass einer im Text erwähnten Personengruppe qua Präsupposition bestimmte charakterisierende Eigenschaften zugeschrieben werden, soll nun noch durch einen frequenzbasierten Zugang zu den Daten überprüft werden. Empirische Grundlage dafür ist wiederum das Bremische Basiskorpus Deutscher Kolonialismus (BBDK) mit einer Größe von 212.557 Wortformen in 113 Texten. Der Zugriff ist hier corpus-based, d. h. die zu prüfende Fragestellung, ob sich der Einzeltextbefund im Korpus bestätigt, wird durch eine wortformbezogene Suchabfrage operationalisiert. Mit der Konkordanzsoftware AntConc (Anthony 2011) wird das Korpus auf 3-Wort-Cluster hin abgefragt, die die Präposition bei linksinitial enthalten, um Präpositionalphrasen in adverbialer und anderen syntaktischen Funktionen im Kor-
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Tab. 2: Clusteranalyse für 3-Wort-Cluster mit bei in BBDK, N ≥ 3. Nr.
Cluster
Abs. Häufigkeit
01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16
bei bei bei bei bei bei bei bei bei bei bei bei bei bei bei bei
195 16 12 9 5 4 4 4 3 3 3 3 3 3 3 3
den Sozialdemokraten den Nationalliberalen den Eingeborenen dieser Gelegenheit der ersten denen die der Beratung uns in Boysons Paß den Buren der Berechnung der ganzen der Gelegenheit der Post diesem Titel uns die
Metakommunikative Sprecherreferenz Ereignisreferenz Personengruppenreferenz mit personalem Fokus Sachreferenz Personengruppenreferenz mit lokalem Fokus Institutionenreferenz Lokalreferenz 0
50
100
150
200
250
Abb. 1: Häufigkeitsverteilung semantischer Funktionen von bei-PPs in BBDK (N = 278).
pus zu ermitteln. Die Ergebnisse wurden der Übersichtlichkeit halber auf eine Mindesthäufigkeit von 3 beschränkt und sind in Tabelle 2 dargestellt. Der frequenzbasierte Zugang ermöglicht es, Ausdruckspräferenzen im Korpus aufzuspüren und ihnen gezielt nachzugehen. Es werden die Belegstellen der ausgegebenen Wortcluster mit der Analysesoftware aufgerufen und die bei-PPs auf ihre verschiedenen semantischen Funktionen hin untersucht. Dabei können in den 278 Belegen für bei-PPs sieben distinkte semantische Funktionen identifiziert werden. Ihre Verteilung auf die Belege ist in Abbildung 1 dargestellt.
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Die in 211 (75,9 %) der Belege auftretende und damit häufigste semantische Funktion der untersuchten bei-PPs ist textsortenbedingt und soll hier metakommunikative Sprecherreferenz heißen. Sie beschränkt sich auf Protokolle von parlamentarischen Debatten, die ungefähr die Hälfte des Korpus umfassen. Beispiele sind (7) und (8) (die betreffenden 3-Wort-Cluster sind durch Fettdruck hervorgehoben): (7) (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) (Nationalliberale Partei, 29. 11. 1906, 3986) (8) (Sehr richtig! und Bravo! bei den Nationalliberalen.) (Ebd., 3993) Diese vom Protokollanten in den Text eingebrachten Elemente haben paratextuellen – und damit gewissermaßen metakommunikativen – Status und sind ein Merkmal der Textsorte Parlamentsprotokoll. Typographisch ist die Sonderrolle dieser Elemente durch Parenthesensetzung zwischen den Rednerzitaten gekennzeichnet. Hinweise auf Gewissheiten auf Personengruppen lassen sich aus diesen Belegen nicht ablesen – obgleich es am Rande von Interesse sein kann, dass man sich in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion hochfrequent durch Zwischenrufe bemerkbar gemacht hat (195 Mal in 278 Belegen). Die Funktion der Ereignisreferenz (29 Belege, 10,4 %) haben bei-PPs dann, wenn sie auf einen einmaligen oder wiederholten Vorgang oder eine Handlung Bezug nehmen. In den meisten Fällen sind dies einmalige temporale Verortungen – denn es handelt sich bei den bei-Konstruktionen um die metaphorische Verräumlichung des Zeitlichen (vgl. Bender/Bennardo/Beller 2005). Beispiele sind: (9) Seine Hoheit Sultan Aga Khan […] hielt sich bei dieser Gelegenheit auch 5 Tage, vom 25. bis zum 30 September, in unserer Hauptstadt Daressalam auf […]. (Deutsch-Ostafrikanische Zeitung vom 20. 12. 1902, 2) (10) […] dazu wird sich Gelegenheit bei der Beratung des Etats für Neuguinea und die Marschallinseln finden. (Zentrum, 13. 3. 1906, 1977) Der einzige Beleg im Bereich der Ereignisreferenz, der Bezug auf einen gewohnheitsmäßigen, iterativen Prozess nimmt, ist (11): (11) Das Waschen ist immer noch die teuerste Manipulation bei der ganzen Diamantenproduktion […]. (Kolonie und Heimat vom 16. 1. 1910, 5) Gewissheiten über Personengruppen sind auch hier nicht zu finden – wohl aber über den üblichen Ablauf der Diamantenförderung. Für das Aufspüren personengruppenbezogener Gewissheiten in kolonialen Diskursen ist die semantische Funktion der Personengruppenreferenz in bei-PPs
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am aufschlussreichsten. Bei der Zuordnung von Belegen zu dieser semantischen Funktion hat sich gezeigt, dass eine weitere Unterscheidung getroffen werden kann: im Korpus tritt Personengruppenreferenz einerseits mit personalem Fokus (15 Belege, 5,4 %) und andererseits mit lokalem Fokus auf (8 Belege, 2,9 %). Die semantische Distinktion wird im direkten Vergleich von Belegen sichtbar: (12) Hier darf uns nicht irre machen der Einwand wegen des Eindrucks, den das bei den Eingeborenen machen könnte. (SPD, 20. 3. 1906, 2169) (13) „Meine zweite Expedition in Deutsch-Neu-Guinea […] unterscheidet sich von der ersten nur dadurch, dass […] längere Zeit bei den Eingeborenen verweilte. […]“ (Kolonie und Heimat vom 21. 11. 1909, 3) Abhängig von den semantischen Selektionsbeschränkungen des Verbalausdrucks kommt der NP innerhalb der bei-PP entweder eine personale Experiencer-Rolle (Eindruck machen bei) oder die Rolle einer Lokalspezifizierung zu (verweilen bei). Für den Ausdruck von verallgemeinerbaren, als überzeitlich wahrgenommenen Gewissheiten gegenüber raumzeitlich und anderweitig begrenzten Sachverhaltsdarstellungen spielt die Unterscheidung von personalem und lokalem Fokus in der Personengruppenreferenz allerdings keine Rolle. Die Belege (12) und (13) sind Beispiele für den Typ des einmaligen (hypothetischen oder als faktisch berichteten) Vorgangs. Beispiele für koloniale, auf personengruppenbezogene Gewissheiten liegen in den folgenden Belegen vor (Belege 14 und 15 mit personalem Fokus, Belege 16 und 17 mit lokalem Fokus): (14) […] eines Gesetzentwurfs […], in welchem bezüglich der in den deutschen Schutzgebieten bei den Eingeborenen bestehenden Haussklaverei und Schuldknechtschaft eine ihre Beseitigung vorbereitende Regelung herbeigeführt werde. (SPD, 21. 3. 1902, 8785) (15) […] sämtliche mohamedanischen und anderen Völker, bei denen die Vielweiberei eine althergebrachte ja gewissermaßen heilige Sitte ist […]. (DeutschOstafrikanische Zeitung vom 16. 3. 1901, 1) (16) Überall geben wir uns heute bei uns in Deutschland und im Weltverkehr Mühe, möglichst einheitliche Spurweiten zu bauen. (Nationalliberale Partei, 25. 4. 1904, 2398) (17) […] die Zeit der lustigen Eisenbahn- und Schlittenfahrten zu Hause ist bei uns in Afrika der Uebergang zur größten Hitze. (Deutsch-Ostafrikanische Zeitung vom 20. 12. 1902, 1) Insgesamt zeigt sich in den Belegen von bei-PPs mit Personengruppenreferenz ein knappes Übergewicht an Charakterisierungen der kolonisierten Bevölkerungen: es
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werden Eingeborene (8x) sowie mohamedanische und andere Völker (1x) charakterisiert. Auf Seiten der europäischen Kolonisatoren sind die Referenten wir (4x, in der Dativform bei uns) und Buren (2x). Ob der kommunikative Anspruch, eine implizite Gewissheit zu präsupponieren, tatsächlich vorliegt, so wie es in der Ausgangsfragestellung des quantitativen Korpuszugangs formuliert ist, hängt von der syntaktischen Funktion der jeweiligen bei-PP ab. Im Beispiel der qualitativen Analyse (bei der betriebsamen, friedlichen und arbeitsamen Bevölkerung) wird die betreffende Eigenschaftszuschreibung syntaktisch unabhängig vom Restsatz, nämlich als attributive Relation innerhalb einer NP, realisiert, die wiederum in einem fakultativen Adverbial kodiert ist. Damit ist die Präsupposition, wie gezeigt, von der Negationsprobe nicht betroffen. Ähnlich verhält es sich etwa im Beleg (15), wenn man ihn der Negationsprobe unterzieht: (15‘) Abgesehen davon müßten, wenn jene in der Missionszeitschrift ausgedrückten Ansichten richtig wären, ja sämtliche mohamedanischen und anderen Völker, bei denen die Vielweiberei eine althergebrachte ja gewissermaßen heilige Sitte ist, NICHT dem Untergange geweiht sein und allmählig auszutreiben. Wird der Matrixsatz des in Frage stehenden Nebensatzes, der die bei-PP enthält, negiert, so behält dieser Nebensatz seinen Wahrheitswert; seine Proposition wird als unstrittig gekennzeichnet. Ein Beleg wie (17) verhält sich unter Negation anders: (17‘) […] die Zeit der lustigen Eisenbahn- und Schlittenfahrten zu Hause ist bei uns in Afrika NICHT der Uebergang zur größten Hitze. Hier ist die Gewissheit offenbar an die Affirmation der beinhaltenden Proposition gebunden. Die Korpusanalyse bestätigt an dieser Stelle also die Abhängigkeit des impliziten Unstrittkeitsanspruchs – das, was eingangs als Rechtfertigungstranszendenz bezeichnet wurde – von den syntaktischen Eigenschaften der fraglichen Konstruktion. Bei der semantischen Funktion der Sachreferenz in bei-PPs (8 Belege, 2,9 %) handelt es sich um den Verweis auf unbelebte Entitäten, worunter sowohl Konkreta wie Abstrakta fallen können. Ein Beispiel ist der Beleg (18): (18) Bei einem solchen Anlagekapital ist es natürlich ausgeschlossen, mit wenigen hundert oder selbst einigen tausend Stück Schlachtvieh die Produktion zu beginnen. Personengruppenbezogene Verallgemeinerungen, die als koloniale Gewissheiten verstanden werden können, treten in dieser semantischen Funktion nicht auf;
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Regeln als sachbezogene Charakterisierungen lassen sich so aber durchaus ausdrücken. Die Institutionenreferenz (4 Belege, 1,4 %) zeichnet sich dadurch aus, dass sie durch die Präposition bei einen quasi-lokalen Referenzrahmen eröffnet, diesen aber mit quasi-personalen Selektionsbeschränkungen im Verbalbereich verbindet. Dadurch unterscheidet sie sich von der Sachreferenz einerseits und der reinen Lokalreferenz andererseits. Ein Beispiel für Gewissheiten über die koloniale Post ist Beleg (19): (19) Wir sehen also, daß bei der Post nach denselben Grundsätzen gearbeitet wird und wie bei der Schutztruppe und der Erfolg ist bei der Post ebenso wenig ausgeblieben wie dort; es kommt kaum vor, daß über die Post geklagt wird. (Deutsch-Ostafrikanische Zeitung vom 31. 12. 1909, 2) Schließlich ist noch die Lokalreferenz (3 Belege, 1,1 %) in bei-PPs zu überprüfen. Sie macht im untersuchten Korpus die geringste Häufigkeit an Belegen aus, obwohl die lexikographische Tradition der räumlichen Semantik von bei offenbar Priorität zuspricht (vgl. das Lemma in DWDS, Etymologischem Wörterbuch und 1DWB unter http://www.dwds.de/?qu=bei). Die Belege im Korpus beziehen sich alle auf einen konkreten Ort, mit dem keine koloniale Gewissheit im engeren Sinne verbunden wird: (20) Willcocks empfiehlt besonders die Anlage eines durch eine hohe Staumauer gebildeten Stausees bei Boysons Paß […]. (Deutsche Kolonialzeitung vom 15. 9. 1906, 359) Das Fazit des frequenzbezogenen Zugangs ist, dass die verallgemeinernde Charakterisierung von kolonisierten und kolonisatorischen Personengruppen – wenig überraschend – durch entsprechende Personengruppenreferenz zustande kommt. Ob eine präsupponierte Gewissheit dahintersteht, zeigt sich allerdings erst mit einem genaueren Blick auf die syntaktischen Eigenschaften der betreffenden Konstruktion, was erst im quantitativen Korpuszugang möglich ist.
4 Resümee Über eine Reflexion des Gewissheitsbegriffs in Philosophie und Erkenntnistheorie sind wir zu einem Verständnis von Gewissheiten gelangt, dass diese als ebenso diskursiv indiziert wie kommunikativ deklariert kennzeichnet. An diese in kommunikativer Zeichenverwendung begründete Dialektik anschließend haben wir mit Bezug auf die funktional-linguistischen Konzepte des Common Ground und der Implizitheit einen linguistischen Gewissheitsbegriff vor-
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geschlagen, der sich erstens axiomatisch – mit Bezug auf einen funktionalen und diskurstheoretisch informierten Sprachbegriff –, zweitens analytisch – mit Bezug auf implizite Kommunikationshintergründe – und drittens methodologisch – mit Bezug auf prinzipiengeleitete rekonstruktive Analyseverfahren – definieren lässt. In Umsetzung dieser theoretischen Überlegungen und mit Bezug auf die grundsätzliche methodologische Idee des analytischen Nachvollzugs implikativer/inferentieller kommunikativer Prozesse in der linguistischen Diskursanalyse haben wir am Beispiel von generischen Adverbialen in kolonialen Diskursen ein analytisches Strukturschema von Kodierung, Analyse und Repräsentation vorgeschlagen, das als Grundlage der Untersuchung singulärer wie transtextueller Daten dienen kann. Qualitativ-einzeltextbezogene und quantitativ-korpusbezogene Zugänge sollten sich dabei idealerweise ergänzen.
5 Quellen und Forschungsliteratur 5.1 Quellen Deutsche Kolonialzeitung. Organ der Deutschen Kolonialgesellschaft. München, 1884–1943. Deutsch-Ostafrikanische Zeitung. Publikationsorgan der Wirtschaftlichen Vereinigung von Daressalam und Hinterland. Daressalam, 1899–1916. Kolonie und Heimat in Wort und Bild. Unabhängige koloniale Wochenschrift. Organ des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft. Berlin, 1907–1919. Koloniale Reichstagsreden. 3 Bde. Berlin, 1902–1907.
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Register Abduktion 315 Akteur X, XIV, XXI, XXIX–XXXI, 36, 37, 40, 46– 48, 61, 70, 82–84, 127, 156, 192, 199, 221, 225, 234, 260, 271, 275, 280, 312, 320, 321, 327, 339, 346, 350–356, 368, 371, 401, 406, 409, 412–417, 419, 421, 427, 433, 437, 441, 451, 457, 472, 492, 510, 524, 526, 529, 533, 535 Alltagsgeschichte 278, 279 Annotation 123, 124, 208, 209, 214, 217, 219, 220, 507, 530 Archäologie des Wissens 35, 8, 34, 38, 257, 395, 396, 407, 409, 411, 416, 489, 514 Argument, prototypisches XIX, 243, 258, 259 Argumentationsmuster XIV, XXXI, 64, 184, 198, 245–249, 253, 254, 257, 261, 339, 356, 358, 485 Argumentationsmuster, kontextabstrakte 245, 246, 258 Argumentationsmuster, kontextspezifische 64, 246, 253 Artefaktstil 480 Ausdruck X–XII, XIV, 5, 7, 25, 32, 37, 38, 54, 63, 65, 75, 105, 109, 110, 122, 127, 156, 163, 175–177, 186, 244, 247, 250, 252, 267, 316, 341, 364, 367, 369, 383, 399, 415, 435, 442, 457, 474, 477, 489–491, 497, 498, 500, 502–505, 507, 509, 513, 515, 526, 541–544, 546, 548–551, 556 Aussage XI, XV, XXII, 4, 8, 13, 18, 20, 31, 35, 41, 43, 56, 65, 76, 87, 95, 142, 145, 153, 185, 234, 246, 253, 257, 267, 268, 272– 274, 276, 324, 339–341, 345, 351, 358, 377, 379–383, 389, 408, 409, 415, 416, 451, 452, 454, 456–461, 465, 473, 476, 514, 525, 531, 534, 545, 549 Bedeutungsprägung 123–124 Begründen 180, 181, 204 Bewerten 179, 181, 186, 199, 204, 510, 512, 514 Bewertung 13, 24, 37, 38, 106, 175, 177, 179, 180, 181, 183, 184, 186, 199, 202, 204, 256, 277, 331, 427, 488–491, 498, 500 503, 505, 506, 508–511, 514, 532, 533 Bildanalyse 535 https://doi.org/10.1515/9783110296075-024
Daten, digitale 208, 236 Datenerhebung 266, 269, 270, 273, 276, 308, 433, 434 DDR-Staatssicherheit 328 Deduktion 309 Deklaration 544–546, 548, 549 Denkstil 35, 237, 267, 392, 393, 480, 483–485 Deskription XVIII, 179, 181–183, 202–204 Deutungsmuster 40, 48, 431, 433–436, 440– 443, 460 DIMEAN 26, 85, 183, 318, 327, 352, 370–372, 389, 472, 474, 479, 482, 483, 485 Dispositiv XXVIII, XXX, 18, 38, 48, 140, 166, 195, 225, 354, 428, 430, 458, 507, 528, 530 Dynamik XII, XX, XXI, XXIII, XXIX, 32, 68, 99, 160, 339, 340, 348, 356, 367, 378, 419, 422, 429, 430, 434, 442, 506, 515 Einstellung XVII, 13, 41, 43, 64, 184, 271, 277, 416, 489, 503, 507, 511, 513, 515 Emotionalisierung 399, 432, 490, 492–494, 507, 510, 511, 513 Emotionsfunktionen 507 Emotionspragmatik 507 Emotionssemantik XXV, 497–499, 506 Emotionssemiotik XXV, 488, 492 Emotionstypen 500, 504, 511 entrenchment 108, 110, 129 Episteme XIII, 4, 5, 8, 10, 21, 27, 221, 374, 524 Epistemologie XVII, XXVI, 7, 8, 12, 13, 19, 24, 25, 112, 161, 242, 251, 349, 415, 521, 533 Erkenntnistheorie 8, 9, 12, 542, 558 Ethik des Diskurses XXX, XXXI Ethnographie XVII, XIX, XX, 265–278, 280, 285, 286, 288–295, 301, 302 Experten-Laien-Kommunikation XXII, 387, 388, 395, 398, 401 Explikation XIII, 63, 179, 181, 182, 185 Fachkommunikation 395 Feldstudie 277 Format XI, 18, 25, 62, 217–220, 230, 393 Formationssystem 153, 257, 450–452, 454, 459, 460, 463, 464 Forschung, qualitative 306, 313 Foucault X, XII, XVII, XX–XXII, XXVII, 3–6, 8, 10, 12–15, 17–20, 24–27, 31, 34, 38, 48, 56,
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Register
59, 77, 114, 153, 182, 196, 242, 251, 257, 258, 268, 273, 274, 279, 316, 319–322, 344–346, 351–354, 363, 364, 372, 395, 396, 407, 409–411, 415, 416, 420, 428, 450, 451, 454, 456–459, 479, 489, 514, 521, 523, 525, 533, 543 Frame XIII, XXIII, 6, 7, 9, 10, 13–26, 106, 107, 121–124, 251–253, 326, 348, 388, 393, 397, 433, 435, 436, 438–440, 505, 506, 530, 546 Frame-Analyse 16, 20, 21, 37, 47, 252, 326 FrameNet 15, 104, 106, 119–122, 435, 438, 506 Funktion XII, XV, XXV, XXX, 4, 5, 12–14, 18, 20, 23, 25, 26, 30, 44, 47, 56, 60, 61, 64, 69, 70, 76, 82, 83, 98, 104, 105, 112, 115, 116, 121, 126, 138, 139, 141, 146, 157, 181, 184, 199, 223, 248, 251, 253, 257, 258, 260, 269, 270, 272–274, 278, 279, 352, 356, 359, 384, 401, 431, 432, 441, 456, 458, 471, 475–477, 479, 481, 506–509, 511, 512, 514, 524, 534, 545–547, 549, 551–557 Gedächtnis, kollektives XV, 68–70 Generizität 549, 550–551 Germanistik X, XIV, XVI–XVIII, XXI, XXV, XXVII– XXVIII, XXXI, 134–136, 138–140, 143, 144, 147, 266–268, 270, 363–365, 368, 372, 388, 410, 522, 524 Geschichtlichkeit 54 Gesellschaft XIII, 4, 13, 32, 33, 37–42, 53, 55, 57, 59, 60, 65, 66, 68, 69, 77, 79, 86, 90, 93, 95, 184, 186, 188, 190, 191, 200, 227, 244, 249, 250, 253, 259, 261, 271, 272, 280, 316, 320, 321, 341, 344, 345, 350, 355, 390, 398, 419, 420, 427, 464 Gespräch XXI, XXII, XXIX, 78, 97, 184, 197, 267, 271, 273, 277, 339, 342, 348, 349, 357, 358, 363–365, 367, 368–373, 376–382, 398, 455, 491, 509, 513 Gestalt 18, 23, 35, 42, 46, 48, 121, 127, 355, 459, 473, 480, 481, 483, 484 Gewissheit XXIV, XXVI, 541, 542, 545, 547, 550–552, 557, 558 Grammatik, funktionale 78, 81, 99, 137 Grounded Theory XVII, XX, 48, 166, 306, 307, 434, 438, 439, 442 Grounding XXII, 387, 393, 401 Handlung XXI, 12, 37, 40, 57, 64, 70, 77, 83, 90, 92, 95, 111, 160, 175, 183, 192, 244– 249, 251, 273, 274, 278, 339, 340, 342,
345–352, 354–359, 382, 412, 413, 415, 421, 428, 432, 433, 438, 450, 456, 465, 472, 482, 492, 503, 506–509, 525, 555 Handlungsebenen XXI, XXIII, 59, 339, 357, 497 Handlungsmodell 339, 345–347 Handlungsmuster 40, 346, 352, 353, 355, 461, 475, 524, 531 Handlungstheorie 345 Hypertextualität 429, 430, 442 indexical order XV, 79, 80, 472 Indexikalität XV, XXIX, XXX, 86 induktiv 82, 309, 313, 316, 319, 377, 515 Innovation XII, 406, 409, 413, 417, 419, 421, 422 Interaktion 44, 79, 273, 276, 342, 346, 348, 349, 357, 379, 417, 512 Interaktivität 429, 430 Interdependenz XXII, 68, 138, 165, 166, 392, 465 Interdiskursivität 23, 189, 397, 419, 421, 422 Interferenz 56, 58 Intersektionalität XVI, XVII, 152–166 Intertextualität XXII, XIV, 23, 55, 65, 66, 77, 189, 198, 368, 421, 429 Intratextualität 315, 323, 357, 371, 472–474, 513 Kanonisierung XVII, XXVII, XXX Kategorie 9, 16, 17, 68, 69, 81, 197, 114, 147, 155, 156, 158, 160, 162, 163, 201, 246, 311, 314, 330–332, 345, 347, 348, 351–354, 417, 455, 471, 473, 474, 480, 483–485 Kollektivsymbolik 196, 531 Kollokationen 110, 210, 220, 222, 223, 230 Kommunikationsformen 67, 68, 271, 353, 359, 427, 429–431, 434, 438, 442, 443, 462 Kommunikationsideologie 528, 529 Konnektoren 80, 82, 91–94 Konstruktikon 118–120, 122 Konstruktivismus XXXI, XXXII, 31, 43, 186, 306, 312, 314, 366, 548 Kontext XVII, XX, XXX, 6, 8, 9, 12–15, 18, 20, 21, 24, 25, 35, 38, 47, 49, 53, 54, 56, 59– 62, 65, 66, 69, 70, 76–82, 85, 89, 91–99, 110–113, 118, 135–137, 140, 142, 144, 152, 154, 156, 158, 161, 162, 165, 167, 198, 210, 211, 214, 222, 224, 225, 227, 229, 269, 274, 308, 327, 329–332, 341–344, 346– 350, 354–356, 366, 369, 392, 409, 412,
Register
413, 415, 419, 420, 432, 433, 439–441, 443, 449, 453, 456, 457, 459, 482, 490, 494, 496, 507, 511, 512, 524, 525, 532, 535, 543 Kontextualisierung XX, XXVII, 16, 53, 56–58, 69, 165, 348, 349, 513, 535 Kontingenz 274, 314, 316–319, 482 Konzeptualisierung XXX, 127, 155, 165, 341, 353, 370, 406, 413, 417, 450, 451, 454, 464 Korpus XVII–XIX, 15, 21, 24, 26, 27, 59, 88, 95, 96, 111, 121, 208–212, 214–217, 220–223, 225–227, 229, 230, 272, 273, 280, 309, 318, 319, 321, 323–325, 328, 332, 371– 380, 382–384, 406, 408, 410, 427, 431, 434, 438, 453, 497, 530, 541, 549, 550, 553–556, 558 Korpuserstellung 209, 214, 268, 317, 323, 324, 428, 429, 434 Korpuslinguistik XVIII, 114, 209, 210, 215, 235, 524 Kritik XVII–XIX, 47, 83–85, 155–157, 159, 161, 173–184, 186, 188–190, 193–204, 254, 268, 275, 278, 316, 408 Linguistic Landscape 278, 296 Linguistik (post)koloniale 94, 144, 163, 256, 550, 553, 555–559 Macht XVII, XXX, XXXII, 34, 38, 47, 48, 76, 85– 87, 115, 159, 166, 189–191, 193, 199, 201, 227, 236, 330, 331, 353, 442, 458, 489, 501, 504, 512, 515 Massenmedien 48, 268, 271, 272, 277, 278, 280, 390 Materialisierung XXII, 147, 427, 429 Materialität XXIV, XXVI, 140, 145, 146, 192, 271, 280, 355, 418, 428, 472, 521–527, 529, 533, 534, 536 Mentalität 65, 244, 249, 259, 267, 451, 484, 514 Mehrebenenanalyse 253, 254, 257, 261 Metapher 12–14, 47, 105, 118, 123, 126, 128, 184, 194, 196, 250, 251, 339, 356, 358, 369, 372, 381, 407, 412, 418, 490, 494– 496, 500, 530, 531 Methodik 19, 139, 533, 535 Methodologie IX, XVII–XXI, XXIII, XXVIII, 7, 31, 43, 48, 49, 77, 105, 113, 120, 128, 129, 137, 154, 161, 162, 165, 176, 266, 268,
565
276, 305–307, 314–317, 320, 322, 363, 366, 370, 373, 410, 415, 428, 433, 498, 501, 544, 545, 548, 552, 553, 559 multimodal discourse analysis 142, 295, 297, 299 Multimodalität XXIII, XXVI, 77, 135, 141–143, 145, 146, 179, 187, 191, 192, 286, 287, 296, 310, 359, 374, 428–433, 435–438, 440–443, 456, 490, 491, 494, 501, 513, 514, 521–524, 527–535 Muster XV, 17, 20, 64, 68, 77–82, 85, 88, 90, 91, 94–97, 99, 107, 110–112, 114, 117, 137, 145, 181, 192, 210, 222, 223, 225, 226, 243, 246, 247, 249, 253, 257, 258, 269, 272, 277, 319, 327, 328, 331, 341, 344, 346, 349, 353, 354, 356, 358, 459, 460, 465, 475, 476, 478, 482, 494, 513, 524, 553 Muster, topisches 243, 255–257 Negierbarkeit; Nicht-Negierbarkeit XXIV, 465, 466 Netzwerke XXVIII, 36, 49, 118, 222, 229, 230, 234, 235, 427, 429, 442, 462 Nominalisierung 78, 82–85 Norm 40, 95, 156, 175, 178, 179, 180, 182, 183, 185, 186, 188, 196, 256, 489, 494 Öffentlichkeit XVII, XXIII, 59, 66, 176, 250, 268, 271, 272, 339, 389, 390, 399, 401, 427, 437, 443, 463, 489 Online-Diskurs 146, 253, 314, 426, 428, 429, 434, 436, 437, 439, 442, 443 Ordnungen, epistemische XI, XIII Passivierung 82, 83 Persuasion 189, 387, 389, 398, 513 Philosophie 12, 32, 38, 46, 154, 175, 177, 460, 542, 558 place making 296 Poststrukturalismus XXIV, XXXI, XXXII, 48, 182, 194, 195, 202, 351 Pragmatik XVII, XXI, XXII, XXV, XXIX, 13, 14, 23, 56–58, 77, 108, 109, 119–121, 128, 129, 144, 166, 181, 184, 189, 203, 209, 266, 267, 340, 343, 345, 346, 363–365, 368, 373–375, 377–379, 382–384, 409, 420, 471, 472, 474–478, 480–482, 500, 531, 532, 545, 547, 549, 552 Praktik X, XIX, XXI, XXVI, 48, 50, 55, 65, 66, 142, 145, 159, 183, 188, 190, 198, 199,
566
Register
268, 272, 273, 277, 279, 339, 342–345, 351, 358, 365, 368, 406–408, 411, 415, 417, 427, 428, 430, 431, 434, 436, 442– 444, 450, 454, 457, 523, 543 Programm, exploratives 80, 94 Programm, forensisches 81, 85, 92, 99 Reifizierung 79, 127 Rezeption XIV, 5, 10, 16, 34, 93, 128, 146, 159, 306, 349, 413, 417, 421, 422, 451, 477, 481, 482 Risikokommunikation 398, 399, 401 Rollen, semantische 88, 89, 91, 121–128, 504, 505 Sampling 308–311, 325, 329, 434, 437, 438, 442 Sampling, theoretisches 437 Schema 10, 14, 20, 46, 106–108, 112, 117, 256, 349, 505, 546 Schlüsselwort 60, 61, 123, 124, 125, 248, 273, 339, 356, 358, 367 Sektor 376–379 Semantik XIII, XV, XVII, XXIX, 5–9, 11, 15, 18, 24–26, 37, 39, 56, 57, 61, 63, 86, 144, 175, 211, 247, 261, 267, 343, 366, 381, 388, 393, 405, 409, 410, 413, 433, 435, 498, 501, 506, 543, 558 Semantik, kognitive 6, 37, 126 Semiotic Landscape 532, 535 Semiotik XIV, XXVIII Sinn XVIII, 8, 10, 11, 18, 40, 41, 54, 55, 57–59, 61, 63, 64, 66, 67, 69, 86, 119, 154, 156, 177, 179, 193, 196, 204, 254, 272, 275, 339, 343, 355, 394, 415, 458, 460, 472, 481–484, 521, 533, 544, 545 Situationsrolle 346, 347, 349, 350 Sozialsemiotik 431, 440, 472, 522, 531, 532 Soziologie XIV, 30–32, 35–39, 42–44, 47, 49, 50, 136, 147, 154, 162, 196, 268, 269, 275, 277, 278, 280, 351–353, 368, 372, 460, 477, 480, 483 Sprachgebrauchsmuster XVI, 210, 216, 225, 514 Sprachkritik, implizite 174, 184, 186 Sprachstil 477, 480, 483–485 Sprachstrategie 331, 356 Sprachwandel XXIII, 65, 99, 405, 410–413, 417, 419 Sprachwissen 105, 113
Stilistik XXIV, XXV, 440, 470, 471, 472, 473, 474, 475–478, 522, 529, 530 Textanalyse 11, 18, 148, 189, 235–237, 306, 331, 456, 471, 474 Textlinguistik XVI, XXIII, 23, 82, 134, 136, 138– 142, 145–147, 183, 187, 189, 198, 203, 268, 326, 328, 330, 363, 365, 368, 370, 455, 471–475, 477, 478, 480, 522, 545 Textwissenschaft 135 Thema XXX, 6, 11, 16, 23, 53, 67, 78, 83, 86, 95, 125, 193, 216, 246, 248–251, 257, 259, 273, 321, 371, 375, 379, 382, 395, 396, 398, 406, 414, 431, 452–455, 461, 531, 536 Thematizität 425, 453 Theorie der unsichtbaren Hand 412 Tiere 449, 450, 454, 461, 462, 464, 465, 496 Topic Models 222, 226 Topos 98, 105, 185, 242–259, 320, 398, 399, 401, 481, 484, 485 Transdisziplinarität XXV, 56, 58, 59, 189, 480, 483, 485 Transtextualität XXIV, 129, 138, 243, 244, 249, 452, 253, 256, 315, 320, 323, 326, 330, 357, 371–373, 375–383, 454–456, 472– 476, 478, 481, 514, 530, 541, 553, 559 Trugschluss 255 Typen XXV, 12, 16, 17, 19, 57, 85, 88, 89, 94, 98, 99, 117, 192, 215, 245, 279, 307, 350, 475, 490, 492, 500, 509, 546, 550 Typographie 527–529, 532, 533 Umbruchgeschichte XV, 67, 68 Ungleichheit XVII, 44, 153, 158, 159, 162, 164, 188, 190 Unterscheiden 175, 178, 179, 181, 184, 186, 199, 202, 204 Variation XXI, 39, 79, 95, 99, 125, 308, 310, 325, 328, 387, 395, 400, 408, 476 Visiotype 531 Wahrnehmbarkeit 426, 481, 491, 529 Wikipedia 221, 392 Wissen X, XII–XIV, XVII, XXII–XXIV, XXVI, XXIX, XXXII, 3–16, 19–23, 25–27, 30–41, 43, 44, 48–50, 57, 62, 63, 67, 69, 77, 83, 91, 105, 106, 113–115, 117, 118, 123, 124, 141, 142, 145, 146, 153, 154, 157, 159, 161, 165, 166,
Register
174, 180, 184, 193, 196, 220, 242–245, 247–249, 251–253, 258, 271, 272, 277, 279, 312, 316, 320, 327, 330–332, 340, 344, 346, 348–350, 353, 355, 365, 367, 369, 372, 374, 376, 377, 379, 380, 383, 387–395, 415, 421, 427, 432, 433, 449, 450, 454, 458, 465, 471, 472, 475, 478– 480, 483, 489, 491, 498, 501, 514, 515, 523, 524, 529, 533, 542–549 Wissen, bedeutungsrelevantes XIII, 6 Wissen, verstehensrelevantes 6, 7, 11, 14, 23, 25, 26, 57, 63, 242–244, 251, 252, 261, 349, 393 Wissenschaft 5, 8, 9, 32, 35, 36, 47, 83, 161, 174, 176, 180, 183, 185, 203, 227, 274, 275, 411, 418, 476, 527, 542, 544
567
Wissensrahmen XIII, XXII, 3, 6–9, 13, 15–21, 23–26, 63, 249, 251, 252, 349 Wissenstransfer 392 XML 217–220 Zeichen 5, 14, 30, 44–46, 50, 56, 63, 76, 77, 79–81, 84, 86, 92, 106, 107, 109, 111, 115, 120, 128, 145, 146, 270, 272, 278, 309, 310, 341, 343–345, 348, 349, 354, 366, 415, 431, 433, 435, 438, 450, 466, 477, 478, 482–484, 488, 490, 491, 493, 494, 497, 525 Zeitgeschichte 53–56, 59, 60, 62–68, 70, 71 Zentren, agonale 82, 93, 99, 339, 358, 404, 515