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German Pages [369] Year 2020
Dietrich Böhler
Was gilt? Diskurs und Zukunftsverantwortung Mit Beiträgen von Alberto Damiani ◆ Wolfgang Frühwald ◆ Jon Hellesnes ◆ Sebastian Höpfl ◆ Vittorio Hösle ◆ Wolfgang Huber ◆ Hans Lenk ◆ Thomas Rusche ◆ Gunnar Skirbekk
Herausgegeben von Thomas Rusche, Jens Ole Beckers und Bernadette Herrmann
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495820551
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B
Dietrich Böhler Was gilt? Diskurs und Zukunftsverantwortung
VERLAG KARL ALBER
A
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Dietrich Böhler
Was gilt? Diskurs und Zukunftsverantwortung Mit Beiträgen von: Alberto Damiani, Wolfgang Frühwald †, Jon Hellesnes, Sebastian Höpfl, Vittorio Hösle, Wolfgang Huber, Hans Lenk, Thomas Rusche und Gunnar Skirbekk Hg. von Thomas Rusche, Jens Ole Beckers und Bernadette Herrmann
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Dietrich Böhler What’s valid and binding? Discourse and responsibility for the future The question of the justification of principles or the question »What’s valid and binding?«, which requires proof of commitment, refers to our fundamental co-responsibility for the future of mankind, which is threatened by climate catastrophe in the high-tech age. This book of discourse and responsibility deals with this – at the same time highly political – question of principles: first in Dietrich Böhler’s introductory essay, then in the eight discourses with Jon Hellesnes, Gunnar Skirbekk, Hans Lenk, Alberto Damiani, Sebastian Höpfl, Vittorio Hösle and Thomas Rusche. Three critically acclaimed essays by Wolfgang Frühwald †, Wolfgang Huber and Dietrich Böhler on Hans Jonas’ and Karl-Otto Apel’s thinking on responsibility, as well as a clarification by Hans Jonas to Albert Schweitzer and a discussion on the part of the Hans Jonas Center with the so-called »solution to contradiction« finally highlight the topicality of future ethics.
The Author: Dietrich Böhler, born in Berlin in 1942, received his doctorate in Kiel in 1970 and habilitated in Saarbrücken in 1981. Since 1975 full professor in Berlin, emeritus in 2010, until 2018 he was responsible for the Hans Jonas-Zentrum e. V., which is now based at the University of Siegen and headed by Professor Jürgen Nielsen-Sikora and Michael Bongardt. Initiator of the Critical Complete Edition of the Works of Hans Jonas, Böhler is also co-editor.
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Dietrich Böhler Was gilt? Diskurs und Zukunftsverantwortung Die Prinzipienbegründungsfrage bzw. die einen Verbindlichkeitserweis erfordernde Frage »Was gilt?« verweist auf unsere grundlegende Mitverantwortung für die im High-tech-Zeitalter zumal durch Klimakatastrophe bedrohte Menschheitszukunft. Um jene – zugleich hochpolitische – Prinzipienfrage geht es in diesem Diskursund Verantwortungsbuch: zunächst in Dietrich Böhlers einführendem Essay, sodann in acht Diskursen mit Jon Hellesnes, Gunnar Skirbekk, Hans Lenk, Alberto Damiani, Sebastian Höpfl, Vittorio Hösle und Thomas Rusche. Drei kritisch würdigende Essays von Wolfgang Frühwald †, Wolfgang Huber und Dietrich Böhler zu Hans Jonas’ und Karl-Otto Apels Verantwortungsdenken sowie eine Klarstellung von Hans Jonas gegenüber Albert Schweitzer und eine Auseinandersetzung von seiten des Hans Jonas-Zentrums mit der sog. »Widerspruchslösung« pointieren schließlich die Aktualität der Zukunftsethik.
Der Autor: Dietrich Böhler, 1942 in Berlin geboren, 1970 in Kiel promoviert und 1981 in Saarbrücken habilitiert. Seit 1975 ord. Professor in Berlin, 2010 emeritiert, war er bis 2018 verantwortlich für das Hans JonasZentrum e. V., das nun seinen Sitz an der Universität Siegen hat und geleitet wird von Professores Jürgen Nielsen-Sikora und Michael Bongardt. Initiator der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas, ist Böhler auch als deren Mitherausgeber tätig.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck //SW_JUA_11-PC/sw/alber/2019/boehler/978-3-495-82055-1_k1.pdf Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49105-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82055-1
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Mit Dank an »Fridays for Future«, »Extinction Rebellion«, »Attac«, »Campact« u. a.
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Dietrich Böhler
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Zum Geleit Bernadette Herrmann: Der Begriff ›Begleitdiskurs‹.
»Der Begriff Begleitdiskurs ist die diskurspragmatische Explikation des begleitenden (kritisch reflektierenden), stellungnehmenden Bewußtseins unserer Handlungen (sowie auch unserer handlungsleitenden bzw. verhaltensrelevanten Vorstellungen, gefühlsmäßigen Einstellungen etc.) – mit der darüber hinausweisenden Option, auch reale praktische (Verantwortungs-)Diskurse darüber zu führen. Die Konzeption des Begleitdiskurses sei hier […] angedeutet: Die Einsicht, daß der Mensch sich immer schon in einem quasi-dialogischen Bezug auf Situationen befindet, ermöglicht es, Handlungen als Antworten auf – verstandene bzw. interpretierte – Situationsanforderungen zu deuten. Seine Manifestation findet dieser quasidialogische Charakter des Handelns eben in der Möglichkeit des stellungnehmenden Begleitdiskurses eines Akteurs zu seinem Handeln. Jede Handlung mit Geltungsanspruch ist konstitutiv an einen möglichen Begleitdiskurs gebunden, in dem der Handelnde sich selbst Gründe für seine Handlungsweise gibt. Dieser innere Dialog/Monolog kann in einen realen konkreten praktischen Diskurs münden, wenn andere den Handelnden für sein Verhalten zur Rechenschaft ziehen und er ihnen Rede und Antwort zu stehen, sich also zu verantworten hat. An dieser Stelle ist es geboten, zwei Ebenen auseinanderzuhalten: zunächst die Ebene eines (möglichen) lebensweltlichen Begleitdiskurses, eines begleitenden sprachlichen Stellungnehmens zu einer Handlung, gleich ob laut oder in Gedanken. Diese Stellungnahme läßt sich dann, transformiert in einen Diskursbeitrag, in dem eigentlichen kritischen Begleitdiskurs auf ihre Gültigkeit überprüfen. Hierzu wird sie mit den Voraussetzungen konfrontiert, die wir immer schon unausdrücklich anerkannt haben, wenn wir die Rolle eines Diskurspartners einnehmen.«
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Zum Geleit
Als ich diese Erläuterung von einer mir bislang nicht bekannten Besucherin meiner Ethikvorlesung im Sommersemester 2003 hörte und selbst dabei war, meine, 1985 unternommene, sprachpragmatische Transformation von Kants »Ich denke« weiterzuführen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Seitdem bin ich Bernadette Herrmann für Diskurs und Engagement zu Dank verpflichtet. Ungeachtet drückender gesundheitlicher Belastungen hat sie das Hans JonasZentrum – zusammen mit Frau Ingrid Hoppe, Dr. Horst Gronke, Dr. Jens Peter Brune, Jens Ole Beckers und Florian Preußger – lange Jahre stark unterstützt, dann mitverantwortet, so arbeitsam wie heiter. D. B.
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bausch Einleitung – Frage und Antwort(en) gegen den Strom: Was gilt unbedingt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietrich Böhler I.
II. 1.
Was gilt? Du bist Mitbeteiligter und Diskurspartner. – Seid mitverantwortlich! . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietrich Böhler Antworten auf und Auseinandersetzungen mit Dietrich Böhlers Diskurspragmatik . . . . . . . . . . . . Die Achillesferse des reduktiven Naturalismus Jon Hellesnes
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1.1. Im Dialog mit Jon Hellesnes. Selbsteinholung versus Selbstwidersprüchlichkeit des Naturalismus/Szientismus . Dietrich Böhler
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2.
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Epistemische Vielfalt und die Verwendung von Begriffen . . Gunnar Skirbekk
2.1. Im Diskurs mit Gunnar Skirbekk. Vorgängige Dialogversprechen – Sinngrenzen eines epistemischen Meliorismus? . . . . . . . . . . . . . . . Dietrich Böhler 2.2. Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gunnar Skirbekk
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Inhalt
2.3. Postskript . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietrich Böhler 3.
Zu Dietrich Böhlers Brückenschlag zwischen Diskursethik und Hans Jonas’ Metaphysik der Ethik. Eine objektiv-idealistische Weiterführung . . . . . . . . . Vittorio Hösle
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3.1. Im Gespräch mit Vittorio Hösle: Keine Angst vor Metaphysik und Ontologie – in den Sinngrenzen diskurspragmatischer Selbsteinholung . . . . . . . . . . Dietrich Böhler
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3.2. Briefe zwischen Hösle und Böhler . . . . . . . . . . . .
124
3.3. Materiale vernünftige Kriterien in diskurspragmatischer Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernadette Herrmann
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3.4 Poiesis und Autonomie – ohne zugrundeliegende Möglichkeit validierender Kommunikation? . . . . . . . Dietrich Böhler und Vittorio Hösle
156
4.
Neue variationsoffene Diskursethik. Auf dem Wege zu einem dialog-interpretationistischen Manifest . . . . . . . Hans Lenk
4.1. Im Dialog mit Hans Lenk. Konsens über implizite Dialogversprechen a priori. Dissens über »Interpretationskonstrukte« und über Albert Schweitzer? Hans Lenk und Dietrich Böhler 4.2. Über Dietrich Böhlers »Verbindlichkeit aus dem Diskurs« und Albert Schweitzers »Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Lenk und Dietrich Böhler 5.
Verbindlichkeit, Handlung und Diskurs Alberto Damiani
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5.1. Antwort: Keine verbindlichen Diskursverpflichtungen ohne mögliche Dialogversprechen . . . . . . . . . . . . Dietrich Böhler 5.2. Antwortbrief Damianis
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. . . . . . . . . . . . . . . . . 208
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Inhalt
6.
Begegnungen zwischen Dialog und Diskurs: Gesprächsansätze zu Hans Jonas’ Verantwortungsethik . . Sebastian Höpfl
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6.1. Notiz von Dietrich Böhler . . . . . . . . . . . . . . . .
233
7.
Ein ABC der Diskursethik Thomas Rusche
III.
Mitverantwortung für das Leben und die Menschenwürde. Im Dialog mit Hans Jonas und Karl-Otto Apel . . . . . . .
1.
2.
3.
. . . . . . . . . . . . . . . . 236
Ehrfurcht vor dem Heiligen. Zur Aktualität des Prinzips Verantwortung Wolfgang Huber
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. . . . . . . . . 269
Parallelen und Unterschiede zu Albert Schweitzers Idee der ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Jonas Die Idee der Zukunftsverantwortung und die Grenze des Fortschritts. Über Hans Jonas und die Kritische Gesamtausgabe seiner Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Frühwald
287
289
4.
Denken im Diskurs – Begegnungen mit Karl-Otto Apel . . Dietrich Böhler
5.
Menschenwürde und Freiheitsrechte versus Organbereitstellungspflicht und »Widerspruchslösung«. Offener Brief des Hans Jonas-Zentrums . . . . . . . . . .
334
Hinweise zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339
Publikationen von Dietrich Böhler . . . . . . . . . . . . . . .
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Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Begriffe und Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Thomas Bausch
»Was gilt?« – Eine Frage mit weitem Ausgriff, eine Frage, die in den Horizont des philosophischen Suchens nach unwiderleglichen Gründen intersubjektiver Verbindlichkeit weist … In dem Text knüpft Dietrich Böhler nicht allein an seine beiden Hauptwerke »Rekonstruktive Pragmatik – von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion« (1985) und »Verbindlichkeit aus dem Diskurs« (2013) an, sondern setzt seine intensiven Vorlesungen, Seminare, Colloquien sowie EWD-Symposien 1 und »Hans Jonas-Abende« pointiert fort: Wieder zieht er die Teilnehmer in fruchtbare, in anstrengende Diskurse. Es ist wie früher nach dem Zeugnis seiner Studenten: Er arbeite offenbar mehr für die ausführlichen Stellungnahmen, Berichtigungen und Glossen zu den Referaten, Haus- und Abschlussarbeiten seiner Studenten als für eigene Texte oder Bücher. Viele Kommilitonen wussten ihm das zu danken. Böhlers Zuwendung zur interdisziplinären Diskursgemeinschaft führte auch dazu, daß er in enormem Zeitaufwand, zunächst aus dem eigenen Portefeuille, dann unterstützt von dem »Hans JonasZentrum e. V.«, eine »sprechende Studien- und Zukunftsbibliothek« aufbaute; diese Forschungs- und Studienquelle ist mit einem in seiner Systematik wohl einzigartigen benutzerfreundlichen »Bibliotheksschlüssel« aus Leitbegriffen, Problemzusammenhängen und Streitlinien in 13 Fächern und Teilgebieten der Philosophie ausgestattet. Diese Bibliothek trägt – nach der Verlegung des Hans Jonas-Zentrum e. V. in das Hans Jonas-Institut der Universität in Siegen im Jahr 2018 – den Namen »Dietrich Böhlers interdisziplinäre Zukunftsbibliothek in memoriam Hans Jonas und Karl-Otto Apel«. »Ethik und Wirtschaft im Dialog« (EWD): Ein von Dietrich Böhler gemeinsam mit Thomas Bausch und Thomas Rusche initiierter Forschungskreis im Rahmen des Hans Jonas-Zentrum e. V. an der FU Berlin.
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Thomas Bausch
Der hier vorgelegte Basistext von Böhler hat eine Vorgeschichte, den Bezug nämlich zu einer Reihe von Jahrestagen: Im Jahr 2017 jährte sich zum 75. Mal der Geburtstag Dietrich Böhlers – Anlass genug für ein wissenschaftliches Symposium 2 und damit für eine passende Würdigung eines überaus engagierten Dialogdenkers, der nicht zuletzt die diskursethischen Konzepte Karl Otto Apels »dialogreflexiv« weiterführt und vertieft. 3 Damit fügte sich 2017 ein weiteres Jubiläum an: Vor 50 Jahren legte Apel in einem Vortrag in Göteborg mit dem Titel »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« eine Konzeption vor, aus der die »Diskursethik« hervorging; Apel entwickelte in transzendentalpragmatischer Reflexion die Idee der kontrafaktischen Antizipation einer idealen Kommunikationsgemeinschaft in der realen Kommunikationsgemeinschaft und explizierte die dialektische Verwiesenheit »ideal« vs. »real«; eine Verwiesenheit, in deren apriorischem Perfekt wir immer schon stehen. In diesem dialektischen Rahmen entwarf Apel eine Ethik im Sinne eines Prinzips universalistischer Rechtfertigung und Mitverantwortung – auch für die zukünftigen Folgen und schädlichen Nebenfolgen des Handelns in hochtechnischer Zivilisation. Und hier schließt sich ein Kreis: Das anlässlich des 75. Geburtstages von Böhler veranstaltete Symposium fand »zu Ehren von Hans Jonas« statt. Hans Jonas: der Denker des Lebens – vom Organischen zur Freiheit – und Mahner der »Zukunftsverantwortung«! Zukunftsverantwortung ist der intentionale Ort, an dem sich das Denken Apels und Böhlers mit dem von Hans Jonas trifft. Und so waren wir auf ein weiteres Jubiläum verwiesen: Vor 25 Jahren verlieh die Freie Universität Berlin unter dem Dekanat von Professor Böhler Hans Jonas den Titel des Doktors der Philosophie ehrenhalber; damit ehrte die FU Berlin im Beisein des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, mancher Magnifizenzen, Spektabilitäten, Journalisten und sehr vieler Studenten einen großen Denker. Jonas’ wirkungsstarkes Buch »Das Prinzip Verantwortung« verdankt sich der Erkenntnis, daß unserer immer verletzlicher wer-
Das Symposium fand am 24. November 2017 in der katholischen Akademie zu Berlin statt. 3 Manche, auch Dietrich Böhler selbst sprechen in diesem Zusammenhang von der »Berliner Diskurspragmatik«, welche vor allem durch Besinnung auf uns als mögliche Diskurspartner die Verpflichtung zur Zukunftsverantwortung begründet. 2
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Vorwort
denden Welt größte Gefahren drohen! Beunruhigt über die sich fortsetzende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen mahnte er gleichwohl nicht zu resignieren: »Fatalismus wäre die eine Todsünde des Augenblicks«, rief er in freier Rede dem Auditorium anlässlich seiner Ehrenpromotion in Berlin zu. Die Jubilare Jonas, Apel und Böhler sowie die in diesem Band versammelten Mitstreiter im Diskurs verbindet ein prinzipiengeleitetes philosophisch-praktisches Denken in dürftiger Zeit, die gekennzeichnet ist durch dominante Selbstbehauptungsinteressen, insbesondere in den Subsystemen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik und der in diesen Systemen tätigen Akteure. Alle in diesem Band versammelten Denker vereint – bei im Einzelnen methodischen und natürlich im weiteren Sinn stilistischen 4 Differenzen – der praktische intentionale Ort: die prinzipielle Pflicht Zukunftsverantwortung zu übernehmen. Darauf bezieht Böhler, der Dialogpartner und engagierte Motivierer, seinen Essay. Die philosophische Grundfrage »Was gilt?« beantwortet er reflexiv und appellativ. Er erinnert uns daran, was wir faktisch sind: mitbeteiligt in folgenschwerer technischer Zivilisation und Konsumgesellschaft, und an das, was wir stillschweigend, aber notwendigerweise in Anspruch genommen haben, indem wir zuhören und Stellung nehmen, nämlich Diskurspartner zu sein. »Du bist Mitbeteiligter und Diskurspartner. – Seid mitverantwortlich!« Thomas Bausch, zugleich im Namen der Freunde und Schüler Dietrich Böhlers wie auch des »Hans Jonas-Zentrums e. V.«
Der Lebendigkeit und der Authentizität halber haben wir die stilistischen bzw. formellen Unterschiede der einzelnen Beiträge und auch der Zitierweise erhalten.
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Einleitung – Frage und Antwort(en) gegen den Strom: Was gilt unbedingt? Dietrich Böhler
Die Titelfrage dieses Buches – »Was gilt?« – bezieht sich auf etwas Prinzipielles, dessen Gültigkeit unhintergehbar sei, weil es mit sinnvollen, von Selbstwidersprüchen freien Argumenten nicht in Zweifel gezogen werden könne.
Zu den Titelbegriffen »Diskurs« und »Zukunftsverantwortung« Der erkenntnislogische Weg, das sinnvoll nicht Bezweifelbare, also schlechthin Gültige, zu erweisen, führt über den ersten Begriff des Untertitels, Diskurs. Durch Besinnung auf dasjenige, was wir im argumentativen Dialog notwendig als gültig und verbindlich in Anspruch genommen haben, indem wir z. B. Fragen stellen und Behauptungen aufstellen, seien es affirmative oder skeptische, also Zweifel, soll das gesuchte Prinzipielle erwiesen werden. Diese Besinnung macht den Diskurs nicht allein zum Thema, sondern findet selbst als Diskurs statt, nämlich im argumentativen Streit mit einem Zweifler. Sie ist gewissermaßen selbst ein Diskurs; und zwar ein reflexiver, dessen erkenntnisleitende Einstellung nicht ein Gegenstandsbezug ist, sei es eine Betrachtung bzw. Beobachtung, sei es eine Analyse, sondern eine voraussetzungsbezogene Selbstbesinnung: Wir fragen uns, die wir Partner in einem Diskurs sind, ob wir damit bereits Voraussetzungen und wenn, welche wir damit notwendigerweise gemacht haben. Ein zentrales Thema des anhängigen Diskurses ist das, in der Ethikgeschichte völlig neuartige, jetzt von der engagierten Jugend – Fridays for Future – zur Menschheitssache gemachte Erfordernis einer Verantwortungsübernahme für die selbstverschuldet bedrohte Zukunft der Menschheit. Auslöser waren und sind: die Möglichkeiten und Folgen der Atomspaltung im militärischen und energiewirt19 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Dietrich Böhler
schaftlichen Bereich, die Möglichkeiten und Anwendungen der Genund Biotechnologie, die Gefährdung der Bio- und Ökosphäre einschließlich des Klimas und die bereits gegebenen Zerstörungen der ökologischen Gleichgewichte und Zuträglichkeiten für das globale menschliche Leben. Diese beängstigenden Zerstörungen zeichnen sich einerseits in den Dürre-, Hunger- und Durstkatastrophen z. B. Afrikas, andererseits in den Vergiftungs- und Emissionsfolgen des Konsums und Lebensstandards, des Auto- und Flugverkehrs, der Industrie und der Nutzung fossiler Energieträger zumal Nordamerikas, Europas, Asiens und Rußlands ab. Angesichts dieser Menschheitsgefährdungen gewinnen Plädoyers für zivilen Ungehorsam und begrenzte Regelverletzungen neue Legitimationskraft 1, erhalten postkonventionelle Engagements wie Hans Jonas-Zentrum e. V., Fridays for Future, Campact und Extinction Rebellion hohe Dringlichkeit. Die Probleme, die zum Engagement pro Zukunftsverantwortung herausfordern, sind von komplexer empirischer Art; sie erfordern interdisziplinäre empirische Diskurse in Verbindung mit dem philosophischen Diskurs und einer Reflexion auf Sinnbedingungen des argumentativen Dialogs, mithin auch auf Dialogverpflichtungen a priori. Auch besteht, wie Hans Lenk am Schluß seines Beitrags hervorhebt, eine »(Meta-)Verantwortung der Moraldenker wie der Ethiker, die Verantwortungsethik und deren Konzepte human- und zukunftsadäquat weiter zu entwickeln – etwa angesichts neuer Herausforderungen (z. B. durch umfassende Digitalisierung, Automatisierung, Robotik, Systemtechnokratie usw.)«. Was nun den Begriff bzw. die Idee der Zukunftsverantwortung anbelangt, so ist zu bedenken, daß beide sowohl mit dem Begriff des Diskurses als auch mit der Realisierbarkeit von Diskursen zusammenhängen. Mit dem Diskursbegriff ist »Zukunftsverantwortung« insofern verwoben, als deren mögliche Träger alle diejenigen sind, die von den Menschheitsgefahren wissen bzw. wissen können und damit mögliche Teilnehmer an den Zukunftsdiskursen sind. Daraus ergibt sich eine erste grundlegende Differenzierung: Zukunftsverantwortung bedeutet, wie in Apels Transzendentalpragmatik und in deren Weiterführung zur dialogreflexiven Diskurspragmatik gezeigt Dietrich Böhler, »Rechtstheorie als kritische Reflexion«, in: G. Jahr u. W. Maihofer (Hg.), Rechtstheorie. Beiträge zur Grundlagendiskussion, Frankfurt a. M. 1971, S. 62120, hier: S. 75 f.; ders., »Ziviler Ungehorsam«, in: Lexikon des Sozialismus, hg. von Th. Meyer, K.-H. Klär u. a., Köln 1986, S. 727 f.
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Einleitung – Frage und Antwort(en) gegen den Strom: Was gilt unbedingt?
wird, nicht einfach »Verantwortung«, wie es bei Jonas heißt, sondern Mitverantwortung. Im Obligo stehen alle als mögliche Diskursteilnehmer. Aber nun gipfeln diese Herausforderungen in der nicht mehr bloß drohenden, sondern streckenweise schon erfolgten Zerstörung von Lebensbedingungen der Menschheit, die mehr oder weniger auch Existenz- oder doch Realisierungsbedingungen des Diskurses selbst sind, dank dessen und durch den die angesprochene Zukunftsverantwortung im prägnanten Sinne wahrgenommen werden kann – erkannt und realisiert. Die Möglichkeit der Verantwortung für die Menschheitszukunft, genau genommen der Mitverantwortung dafür, ist der freie argumentative Diskurs. Die reale Möglichkeit, also die (z. B. ökologischen) Existenz- und (gesellschaftlichen) Realisierungsbedingungen der Zukunftsverantwortung, ist selbst der erste Gegenstand einer Verantwortung für die Zukunft der Menschheit. Jonas spitzt den Stellenwert und die Bedeutung von ›Zukunftsverantwortung‹ in der Formel zu: »die Möglichkeit, daß es Verantwortung gebe, ist die allem vorausliegende Verantwortung« und er versteht »die Wahrung dieser Möglichkeit als kosmische Verantwortung«. 2 Damit konvergieren Transzendentalpragmatik und dialogreflexive Diskurspragmatik. So demonstrieren sie (im reflexiven Dialog mit dem Skeptiker), daß Diskurspartner nicht ohne Selbstwiderspruch zu sich als Teilnehmer eines argumentativen Diskurses – und das heißt nicht ohne Zerstörung ihrer Diskursglaubwürdigkeit und Leugnung ihrer Geltungsansprüche und Dialogverpflichtungen a priori – die Vernichtung der realen Möglichkeit, freie, argumentative Diskurse zu führen, hinnehmen können. Dieser sinnkritische Aufweis ist ein dialogreflexiver Verbindlichkeitserweis. Weil wir nämlich mögliche Diskurspartner sind, wissen wir implizit, was der Kern der Zukunftsverantwortung ist und daß wir zu deren Wahrnehmung, nämlich zum Engagement für die Bedingungen und die Durchführung freier argumentativer Diskurse, verpflichtet sind.
Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas (zit.: KGA), Bd. I/2, Erster Teilband: Das Prinzip Verantwortung. Grundlegung, hg. von D. Böhler u. B. Herrmann, Freiburg/Berlin/Wien 2015, S. 196.
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Dietrich Böhler
Zur aktuellen Prinzipienfrage vor dem Hintergrund von Apels kommunikationsbezogener Transformation der Philosophie und Jonas’ ontologischem Verantwortungsdenken Mir scheint, daß Karl-Otto Apels transzendentales Programm einer kommunikations- und diskursbezogenen »Transformation der Philosophie« tiefgreifend und umfassend ist. Zumal wenn es in der Perspektive einer Selbsteinholung des Diskurspartners als Partner im Dialog der Argumente, und zwar strikt dialogreflexiv, entfaltet wird. Die Transzendentalpragmatik und ihre dialogreflexive Weiterführung, die transzendentale Diskurspragmatik, begreifen den Erkenntnis und Orientierung suchenden Menschen nicht mehr als einsames und autarkes ›Erkenntnissubjekt‹, sondern als Intersubjekt und möglichen Partner in der immer schon verstandenen und insofern kommunikationsgetragenen Welt. Auf diese Weise wird das von Descartes bis Husserl und Popper vorherrschende, vom Szientismus/ Naturalismus verabsolutierte Subjekt-Objekt-Schema dialektisch aufgehoben: Die Subjekt-Objekt-Beziehung ist getragen und umgeben von der Subjekt-Kosubjekt-Beziehung der argumentativen Kommunikation. Zwei Grundirrtümer der abendländischen Tradition können so von vornherein vermieden werden, der transzendentale oder methodologische Solipsismus des Ansatzes beim Subjekt und der damit zusammenhängende ontologische Dualismus, den am schärfsten Descartes vertrat, indem er das Sein in res cogitans versus res extensa aufspaltete. Hier stimmen Apel und Jonas traditionskritisch und ontologisch überein. Während Karl-Otto Apel mit der Sinnkritik des Solipsismus einsetzt, konzentriert sich Hans Jonas vor allem mit seiner biologischen Ontologie auf die Aufhebung des Dualismus 3, worin ihm Vittorio Hösle folgt. 4 Was die akademischen Bräuche, zumal das Institut der Festschrift, anbelangt, so dürfte die kommunikativ-diskursive Transformation der Philosophie auch dafür Konsequenzen haben: Ist in der Philosophie die Zeit der klassischen monologischen Festschriften, 3 Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. In: Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas, Bd. I/1, S. 1–359. Ders., »Spinoza and the Theory of Organism«, ebenda, S. 571–591. Vgl. des Näheren das Register »Begriffe und Sachen« unter »Dualismus«. 4 Vittorio Hösle, »Ontologie und Ethik bei Hans Jonas«, in: Dietrich Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 105–125.
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Einleitung – Frage und Antwort(en) gegen den Strom: Was gilt unbedingt?
von denen ich 2002 selbst noch eine erhalten habe 5, vorüber, und zwar aus gutem Grund? Jedenfalls in einer Philosophie, die sich der kommunikativ-diskursförmigen Vernunft und der Reflexion auf den Diskurs im Diskurs verpflichtet weiß, stehen besser solche Ehrengaben an, welche die Wahrheitssuche in Form der (möglichst reflexiven) Auseinandersetzung betreiben. So war z. B. das anläßlich meiner Emeritierung erschienene Buch Dialog – Reflexion – Verantwortung. Zur Diskussion der Diskurspragmatik, hg. von Jens Ole Beckers, Florian Preußger und Thomas Rusche, Würzburg 2013, schon eine erfrischende Mischform aus Diskursbuch und althergebrachter monologischer Festschrift. Und die Festschriften für meinen Lehrer Apel hatten, gleich seit der ersten, einen gewissen Diskurscharakter; an der dritten, zum 80. Geburtstag, die 2003 erschien, war er mit dem Aufsatz »Wahrheit als regulative Idee« selbst als Diskurspartner beteiligt. 6 Jetzt erfreuen mich ehemalige Schüler bzw. Mitstreiter, die Jonas- und Apel-Freunde Thomas Bausch, Jens Ole Beckers, Bernadette Herrmann und Thomas Rusche mit einem weitgespannten Diskurs: Kollegen ganz unterschiedlicher Provenienz nehmen sich meinen programmatischen Essay »Was gilt?« vor oder bedenken – so Wolfgang Frühwald und Wolfgang Huber – die Aktualität von Hans Jonas’ ethischem Hauptwerk, das Bernadette Herrmann und ich kürzlich mit Blick auf dessen Kontext und Wirkung kritisch ediert haben. 7 Etliche Beiträge haben mich zu Erläuterungen bzw. Auseinandersetzungen verlockt. Zudem bin ich gern dem Vorschlag gefolgt, Wolfgang Frühwalds und Wolfgang Hubers Würdigungen von Hans Jonas persönliche Erinnerungen an Karl-Otto Apel, meinen Kieler Doktorvater und Chef in der kurzen, gemeinsamen Saarbrücker Zeit, hinzuzufügen. Für Erinnerungen an Hans Jonas weise ich auf Texte seiPhilosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, hg. von H. Burckhart u. H. Gronke, Redaktion: J. P. Brune, Würzburg 2002. 6 Vgl. Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel, hg. von W. Kuhlmann u. D. Böhler, Frankfurt a. M. 1982. Und: Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, hg. von D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk, Frankfurt a. M. 2003, dort besonders Teil II »Streit um ›Wahrheit‹ und regulative Ideen«. 7 Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas (zit.: KGA), Bd. I/2, Erster Teilband: Das Prinzip Verantwortung. Grundlegung, hg. von D. Böhler u. B. Herrmann, Freiburg/Berlin/Wien 2015; Bd. I/2, Zweiter Teilband: Das Prinzip Verantwortung. Tragweite und Aktualität einer Zukunftsethik, hg. von D. Böhler u. B. Herrmann, Freiburg/Berlin/Wien 2017. 5
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Dietrich Böhler
nes Mönchengladbacher Freundes Ralf Seidel und dessen Sohn Roman hin. 8 Danken möchte ich der Katholischen Akademie in Berlin, zumal Herrn Direktor Joachim Hake und Herrn Dr. Stephan Steiner für die im November 2017 veranstaltete Tagung »Was gilt? Symposium zu Ehren von Hans Jonas«, auf der auch mein gekürzter Essay 9 vorgestellt werden konnte. Daß die an der Akademie geführten Diskussionen nun literarische Gestalt angenommen haben, ist das editorische und redaktionelle Verdienst Frau Bernadette Herrmanns und zumal Herrn Jens Ole Beckers’. Merci vielmals! Da ich zugleich Initiator der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas bin – Professor Dr. Dr. h. c. mult. Christoph Markschies würdigte diese in seinem Grußwort zu der Tagung –, kommt die Edition auch hier zur Sprache: In Teil III wird sie von dem leider inzwischen verstorbenen ehemaligen Präsidenten erst der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dann der Alexander von Humboldt-Stiftung Professor em. Dr. Dr. h. c. mult. Wolfgang Frühwald † thematisiert. Auch Bischof em. Professor Dr. Dr. h. c. Wolfgang Huber geht darauf ein. So liegt es nahe, hier für entscheidende Realisierungshilfe dieses Projektes zu danken. Großer Dank für ihre erfolgreichen Bemühungen um den Fortgang der kritischen Jonas-Ausgabe gebührt den Gutachtern, Kuratoren, Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern der Friede Springer Stiftung, Professor Dr. Dr. h. c. mult. Christoph Markschies, Bundespräsident a. D. Professor Dr. Horst Köhler, Frau Ute Schweitzer und zumal Frau Dr. h. c. Friede Springer selbst. Ein ähnliches Verdienst kommt Dr. Dr. h. c. Winfried Benz †, Professor em. Dr. Dr. h. c. mult. Wolfgang Frühwald † und Dr. Franz Ralf und Roman Seidel, Zeugen städtischer Vergangenheit. Hans Jonas, Mönchengladbach 1997. Ralf Seidel, »Die Antwort des empfindlichen Lebens. Meine Begegnung mit Hans Jonas’ Werk«, in: Dietrich Böhler/Jens Peter Brune (Hg.): Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas, Würzburg 2004. Vgl. auch i. d. B.: D. Böhler, »Denken im Diskurs«, Anm. 1. 9 Der ursprüngliche, 62-seitige Essay (»Was gilt? Dialogreflexive Dialektik zu Zukunftspflicht, Lebensverantwortung und Lebensrecht«) hatte nach dem Teil »A Zur Prinzipienfrage: Warum moralisch und daher zukunftsverantwortlich sein?« einen Teil »B Zur verantwortungsstrategischen Situationsfrage: Recht auf Leben – in der Dialektik von idealem Diskurs und notwendiger Selbstbehauptung«. Dieser erfolgsverantwortungsethische Teil ist unveröffentlicht; es erschien nur eine Kurzfassung: »Das Frister-Dilemma oder Diskurs-Verantwortungsethik als Dialektik von idealem Diskurs und strategischer Durchsetzung – Eine Entgegnung«, in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 103, 2017, Heft 2, S. 259–271. 8
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Einleitung – Frage und Antwort(en) gegen den Strom: Was gilt unbedingt?
Schoser, Vorstand der Otto Wolff Stiftung, mit seinem Geschäftsführer Rudolf Jakobs ebenso zu wie der Volkswagenstiftung und ihrem Generalsekretär Dr. Wilhelm Krull sowie Frau Dr. Annabella Fick und Frau Silke Aumann und ihren Mitarbeiterinnen. Für treue Begleitunterstützung nicht allein der Kritischen Gesamtausgabe, sondern auch fortlaufender Einzelprojekte des Hans Jonas-Zentrums e. V. einschließlich des hier vorgelegten Diskursbuches und der Verpflanzung meiner »interdisziplinären Zukunftsbibliothek in memoriam Hans Jonas und Karl-Otto Apel« an die Universität Siegen danke ich herzlich den Kuratoren Dr. Dr. Thomas Bausch mit der Bausch Stiftung, Neu Kaliß, und Privatdozent Dr. Dr. Thomas Rusche. In diesen Dank einzubeziehen sind, in der zeitlichen Abfolge ihres unverzichtbaren Engagements, Rechtsanwalt Peter Hartmann, Frau Dr. Christiane Böhler-Auras und mein Kollege Professor Dr. Michael Bongardt, der sich als Prorektor der Universität Siegen um das Zentrum und die Integration der Bibliothek verdient gemacht hat, nachdem Frau Ingrid Hoppe und Jens Ole Beckers mit mir den Umzug en détail vorbereitet hatten. Für sein umsichtiges Anpacken und das erneute Aufstellen der komplexen Bibliothek danke ich ebenfalls Herrn Beckers. Besonders dankbar bin ich dafür, in Herrn apl. Professor Dr. Jürgen Nielsen-Sikora, Universität Siegen, einen rührigen Nachfolger im Vorstand des Hans Jonas-Zentrums e. V. gefunden zu haben. Meinen Diskurspartnern bin ich für ihr Weiterdenken, für ihre Kritik und ihre Ergänzungen dankbar verbunden. In dem ihnen vorgelegten Essay »Was gilt?« stelle ich, mit Seitenblick auf das Buch Verbindlichkeit aus dem Diskurs, den Versuch zur Debatte, fundamentale Begründungsfragen diesseits der alltags-, wissenschaftsund leider auch philosophieüblichen theoretischen bzw. analytischen Einstellung zu beantworten – aktuell dialogreflexiv. Es geht um die Selbstaufklärung der Vernunft und die Selbsteinholung der Wissenschaftler, und zwar insbesondere angesichts der Begründungsfragen der Moral: ›Warum sollen wir eigentlich mitverantwortlich, insbesondere zukunftsverantwortlich sein? Gibt es denn etwas, das uns unbedingt und einsehbar verpflichtet?‹ Dem unterliegt die Geltungsfrage ›Was gilt eigentlich und unabweisbar?‹ Die »Antworten und Auseinandersetzungen«, die den zweiten Teil dieses Buches bilden, erörtern Grundfragen, die der Schulphilosophie heutzutage und erst recht den Wissenschaften samt interdisziplinärem Gespräch oft abwegig bzw. »obsolet« erscheinen. 25 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Dietrich Böhler
Gottseidank beurteilen zwei klare, tiefgründige Denker, von denen meine Diskurspartner und ich gelernt haben, das ganz anders. Hans Jonas stellte 1979 zu Anfang seines moralphilosophischen Hauptwerkes die »Vordringlichkeit der Prinzipienfrage« heraus: »Die Frage ›warum denn?‹ kann […] in voller Freiheit und ohne Frivolität gefragt werden, und wenn wir ihr die Antwort (selbst eine unvollkommene) schuldig bleiben, haben wir wenig Recht, von einer verpflichtenden Ethik zu sprechen« 10. Im hochtechnologischen und daher lebensbedrohlichen Zeitalter sieht sich die Ethik erstmals herausgefordert, eine »Verpflichtung« gegenüber dem zu bedenken, »was noch gar nicht ist und ›an sich‹ auch nicht zu sein braucht«. Offenbar ist das eine Sache, die wir »theoretisch gar nicht leicht und vielleicht ohne Religion überhaupt nicht […] begründen« können. 11 Karl-Otto Apel führte die genannten Grundfragen 1973 als Eröffnungszüge einer reflexiven Letztbegründung ein, die zugleich die Geltungsansprüche der Wissenschaft(en) und die Verbindlichkeitsansprüche der Moral legitimieren soll. »Wer über das Verhältnis von Wissenschaft und Ethik in der modernen, erdumspannenden Industriegesellschaft nachdenkt, der sieht sich m. E. vor eine paradoxe Situation gestellt. Einerseits nämlich war das Bedürfnis nach einer universalen, d. h. für die menschliche Gesellschaft insgesamt verbindlichen Ethik noch nie so dringend wie in unserem Zeitalter einer durch die technologischen Konsequenzen der Wissenschaft hergestellten planetaren Einheitszivilisation.« 12 Deren Auswirkungen, etwa die »progressive Umweltverschmutzung«, stelle die Menschen erstmals »vor die Aufgabe […], die solidarische Verantwortung für die Auswirkungen ihrer Handlungen im planetarischen Maßstab zu übernehmen«. 13 Freilich sei eine rationale »Begründung allgemeiner Ethik noch nie so schwierig […] gewesen […] wie im Zeitalter der Wissenschaft, […] weil die Idee intersubjektiver Geltung in diesem Zeitalter ebenfalls durch die Wissenschaft präjudiziert ist: nämlich durch die szientistische Idee der normativ neutralen oder wertfreien ›Objektivität‹«. 14
KGA I/2, Erster Teilband, S. 64. KGA I/2, Erster Teilband, S. 40 f. 12 Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II, Frankfurt a. M. 1973, S. 359. 13 Ebd., S. 361. 14 Ebd., S. 359. 10 11
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Einleitung – Frage und Antwort(en) gegen den Strom: Was gilt unbedingt?
Mit Hans Jonas kommt Apel darin überein, daß eine Ethik der Zukunft von Mensch, Umwelt und Tier besagte Prinzipienfragen beantworten müsse. Die Denkweise beider ist freilich komplementär, zumal deshalb, weil der eine strikt säkular im reflexiven Dialog mit Gegenpositionen argumentiert, wohingegen der andere mit stärker »metaphysischem«, teils auch biblisch-religiösem Bezug denkt. Besagte Komplementarität zeigt sich sowohl in Essays von Teil II als auch in Teil III. Dort haben wir vor allem den Spannungsbogen zwischen Wolfgang Hubers Diskussion der Aktualität des Prinzip Verantwortung, Wolfgang Frühwalds Würdigung von Hans Jonas’ Wissenschafts- und Technikethik samt seinen Erörterungen zur Kritischen Gesamtausgabe einerseits und Böhlers Erinnerungen an den diskursiven Lehrer und transzendentalpragmatischen Prinzipienethiker Apel andererseits. Ihren Ursprung hat jene Komplementarität darin, daß die hervorgehobenen Grundfragen und Zukunftsgefährdungen nicht nur das Selbstverständnis des Menschen erschüttern, sondern metaphysische Spekulationen herausfordern und religiöse Erfahrungen wachrufen; zumal solche der Ehrfurcht vor der ›Schöpfung‹ und der ›Würde des Menschen‹, die beide als ›unantastbar‹ gelten und unantastbar sein sollten. Hans Jonas war dafür besonders empfindlich. Das spiegeln seine (theologisch-)»metaphysischen Vermutungen« 15 ebenso wie seine Aussagen, daß aufgrund der hochtechnischen Wirkmacht des modernen Menschen ein »metaphysischer Tatbestand […], ein Absolutum« auf dem Spiel steht, welches »Dankbarkeit, Pietät, Ehrfurcht als Ingredienzien einer Ethik wachrufen kann, die im technologischen Sturm die Zukunft hüten soll.« 16 Dieses Absolutum erblickt Jonas auch und gerade im Umgang moderner Gesellschaften und ihrer Hightech-Medizin mit Sterbenden. Insbesondere die Harvard-Definition des Todes als »Hirntod« und die Organverwertung Sterbender mittels Transplantationschirurgie provozierte ihn, sich against the stream für die Achtung der Würde sterbender Menschen einzusetzen. Seine Argumente 17 erweisen sich einerseits an den Erfahrungen, die vor allem Anästhesisten und
Hans Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1992, Dritter Teil, S. 171–255. 16 Ders., Das Prinzip Verantwortung, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 79. 17 Ders., Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a. M. 1987, S. 233. In der KGA: Bd. I/1, S. 530. 15
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Dietrich Böhler
Pfleger mit »hirntoten« Patienten machen, als bedrängend aktuell – andererseits aber an der, in verschiedenen Ländern und infolge von Bundesminister Spahns Initiative einer »Widerspruchslösung« vielleicht auch bald in Deutschland gesetzlich verankerten, »Organbereitstellungspflicht« (Wolfgang Huber). Im Blick darauf schließt dieses Buch mit einem offenen Brief, zu dem mich der Arzt Professor Jürgen in der Schmitten im Oktober 2018 angeregt und zu dem er selbst zwei Absätze beigesteuert hat – den letzten von Punkt (2) und den letzten vor der Konklusion »Es gilt: Im Zweifel für das Leben – und für die Urteils- und Entscheidungsfreiheit der Bürger.« Ohne besagten Anstoß und ohne die Beratung Frau Professor Anna Bergmanns hätte ich diesen Brief wohl kaum geschrieben, obwohl Jonas’ Argumente mich in der Verbindlichkeit des Prinzips Menschenwürde und dessen Anwendung auf Sterbende sehr bestärkten. 18 Wie schon angedeutet, haben sich fast alle Beiträger sowohl mit Hans Jonas’ Denken als auch mit der Transzendentalpragmatik oder ihrer Weiterentwicklung zur reflexiven Diskurspragmatik auseinandergesetzt, auch wenn sie von anderen Ufern der Philosophie kommen. Das gilt einerseits für den von Karl-Otto Apel als »Mozart der Philosophie« bezeichneten Begründer des »objektiven Idealismus« Vittorio Hösle. Er ist Apel mehrfach begegnet und nennt ihn ebenso wie Hans Jonas sein philosophisches Vorbild, hat früh ein Buch über ihn geschrieben 19 und teilt mit ihm das (unter deutschen Philosophen unreflektierterweise verpönte) Ziel der »Letztbegründung«. Andererseits trifft das auf Hans Lenk 20 zu, den vergoldeten Olympioniken und weltreisenden penseur engagé, der dem »Kritischen Rationalismus« und der »Analytischen Philosophie« nahesteht, hier aber nicht allein seine Nähe zu Böhlers transzendentaler Diskurspragmatik ent-
Dietrich Böhler und Andreas Frewer, Verantwortung für das Menschliche. Hans Jonas und die Ethik in der Medizin, Erlangen/Jena 1998, S. 41–55. D. Böhler, in: D. Böhler u. Jens Peter Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas, Darmstadt 2005, S. 370–382. Zum Begründungsproblem: D. Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik – Orientierung in der ökologischen Dauerkrise, 2. Aufl. als Studienausgabe, Freiburg/München 2014, S. 408, 467 und 527 ff. 19 Vittorio Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, 3. erw. Aufl., München 1997. 20 Hans Lenk, Ratzeburger Goldwasser – vom Lago Albano bis Lambarene. Ein philosophierender Olympiasieger erinnert sich, Bochum/Freiburg 2013. 18
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Einleitung – Frage und Antwort(en) gegen den Strom: Was gilt unbedingt?
deckt, sondern auch zu deren Ausarbeitung – implizite Dialogversprechen a priori – beiträgt. Solch eine Offenheit und Kooperation ist im Diskurs zwischen Philosophen unterschiedlicher Couleur ein seltener Glücksfall. Daß eine Auseinandersetzung zur Denkfreundschaft führt, ereignet sich hier gleich zweimal – dank Hans Lenk und Vittorio Hösle. Lenk, wohl der Nestor der deutschen Philosophie, war von 2005 bis 2008 Präsident und ist jetzt Ehrenpräsident des Institut International de Philosophie. 1990 hatte er im nordnorwegischen Melbu den Vortrag »Ecology and Ethics« gehalten 21, den Hans Jonas zu rühmen wußte. Schon 1973 hatte Karl-Otto Apel sowohl Lenks Kritik der sprachanalytischen Metaethik 22 als auch dessen Reflexion auf die Nichthintergehbarkeit, also Infallibilität, der Regeln der »Konsequenzenlogik« gewürdigt: Wegweisend reflektiere Lenk darauf, »welche Teile der Logik man nicht verwerfen könne, ohne sie – im Sinne einer ›petitio tollendi‹ – bei der Kritik selbst in Anspruch zu nehmen.« 23
Hans Lenk und Matthias Maring, »Ecology and Ethics«, in: A. Øfsti (Hg.), Ecology and Ethics, Trondheim 1992, S. 177–213. Hans Jonas, »The Consumer’s responsibility. A Commentary to Lenk«, ebd., S. 215–218. 22 Karl-Otto Apel, »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. II, Frankfurt a. M. 1973, hier: S. 382 f. 23 Ebd., S. 410. 21
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Dietrich Böhler
Gedenken an Wolfgang Frühwald (1935–2019) Als ich diese Einleitung nachlesen und ggfs. redigieren wollte, am 26. Januar 2019, brachte mir meine Frau, nach Lektüre der FAZ die böse Nachricht, daß Wolfgang Frühwald überraschend gestorben ist. Welch einschneidender Verlust! Wissenschaft, Wissenschaftsförderung und Wissenschaftspolitik, der politisch ethische Diskurs und das Unternehmen einer Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas verlieren mit ihm einen innovativen Wissenschaftler mit reichem Oeuvre, einen so kundigen wie weitblickenden Wissenschaftspolitiker mit ausstrahlender Orientierungskraft, der zugleich ein bedeutender kritischer Editor war, überdies ein Kenner, der die Jonas-Edition kundig begleitete und sich um deren Finanzierung verdient gemacht hat. Wir verlieren einen diskursiven Zukunftsethiker par excellence. Wir trauern um einen liebenswerten, feinen, hoch engagierten Menschen. Wolfgang Frühwalds Beiträge zu diesem Buch sind Teil seines Vermächtnisses. Ich trauere um den überaus kenntnisreichen, dezent kritischen Ratgeber, der zum verehrten Freund wurde. Dietrich Böhler, traurig und dankbar, 26./27. Januar 2019
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I. Was gilt? Du bist Mitbeteiligter und Diskurspartner. – Seid mitverantwortlich!*
* Dieser Text ist die erweiterte Fassung des ersten Hauptteils »A« eines größeren Essays »Was gilt? Dialogreflexive Dialektik zu Zukunftspflicht, Lebensverantwortung und Lebensrecht«, auf dessen umfangreichen zweiten Hauptteil »B« (»Zur verantwortungsstrategischen Situationsfrage: Recht auf Leben – in der Dialektik von idealem Diskurs und notwendiger Selbstbehauptung«) hier verzichtet wurde. Stellenweise habe ich kleine Präzisierungen (im Sinne des Hintergrundbuches Verbindlichkeit aus dem Diskurs, 2. Aufl. 2014) vorgenommen.
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Dietrich Böhler in Verbindung mit Bernadette Böhler-Herrmann, Hans Jonas-Zentrum In memoriam Hans Jonas (1903–1993), Karl-Otto Apel (1922–2017), Günter Altner (1936–2012) und Wolfgang Frühwald (1935–2019)
Inhalt I
Kontext und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
1.
Grundeinsichten des Hans Jonas-Zentrums: »Vordringlichkeit der Prinzipienfrage« . . . . . . . . . . .
35
Anders denken? Begründen im reflexiven Dialog mit dem Skeptiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
Universalität des Diskursprinzips . . . . . . . . . . . . .
45
3.1. Hans Jonas und Karl-Otto Apel gegenüber Habermas’ Ansatz beim praktischen Diskurs . . . . . . . . . . . .
47
3.2. Ist strategisches Verhalten ein relevantes Gegenbeispiel? .
50
2. 3.
4.
Apel und Jonas: Zur äußeren und inneren Herausforderung einer Prinzipienethik in der wissenschaftlichtechnologischen Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . .
54
Eine moralische Prinzipienfrage heute: Warum zukunftsverantwortlich sein? . . . . . . . . . . .
58
Eine Zeitbombe tickt. Wir sind Mitbeteiligte und Mitwisser, also moralisch verpflichtete Diskurspartner . . . . . . . .
58
Dimensionen des Moralischen heute. Mit-Verantwortung in der technologischen Gefahrenzivilisation . . . . . . . . .
59
2.1. Wozu sind wir bei defizientem Folgenwissen (Jonas: »Nichtwissen«) verpflichtet? Ökologische Vorsicht . . .
62
II 1. 2.
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Was gilt?
3.
Transzendentalpragmatische Grundfrage: Was bringen wir a priori ins Spiel, wenn wir etwas geltend machen und kommunizieren? . . . . . . . . . . . . . . .
64
3.1. Diskursglaubwürdigkeit und die anderen Geltungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
3.2. Wir sind (unausdrücklich) immer schon in einem Begleitdiskurs. Unsere mitgängige Diskurspartner-Rolle führt moralische Verbindlichkeiten mit sich: Implizite Dialogversprechen a priori . . . . . . . . . . . . . . . .
67
4.
. . . . .
77
4.1. Wie weit reichen Verantwortungspflicht und Menschenwürde? Im Zweifel für unsere dialogförmige Verantwortung der für das Lebensrecht der Betroffenen und advokatorisch zu Vertretenden – auch der Embryonen . .
78
4.2. Ist ein Verbindlichkeitserweis (Apel: »Letztbegründung«) nötig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Wie weit trägt Jonas’ Verantwortungsimperativ?
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I
Kontext und Grundlagen
I 1. Grundeinsichten des Hans Jonas-Zentrums: »Vordringlichkeit der Prinzipienfrage« Vor der inzwischen erfolgten Verlagerung des Forschungs- und Bibliotheksortes »Hans Jonas-Zentrum« von der Freien Universität Berlin an die Universität Siegen wurde der Verfasser nach Vorgeschichte und Ideen des Hans Jonas-Zentrums gefragt. Die Antwort sei hier vorweggestellt. Die Ideen und Engagements des nach der Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas (1992) gegründeten Zentrums, zusammengefaßt in der Losung »Verantwortung für die Zukunft – Ethik im Dialog« und entfaltet am Lehrstuhl Böhler, lassen sich vor allem auf zwei Einsichten zurückführen und entspringen zumal aus zwei Quellen: einerseits aus der von Karl-Otto Apel inspirierten diskursphilosophischen Arbeit seit 1967, andererseits aus dem Dialog der »Transzendentalpragmatik« und transzendentalen »Diskurspragmatik« mit der Ontologie und Ethik von Hans Jonas, der seit 1981 dokumentiert ist, nämlich seit dem von Apel und Böhler geleiteten »Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik«. Sowohl die von Apel eingeführte »Transzendentalpragmatik« 1 und ihre Wendung zu der 1 Es ist nicht etwa der alltägliche Sinn von »pragmatisch« i. S. einer flexiblen, situationsbezogenen Orientierung und Entscheidungspraxis, die in dem Begründungskonzept »Transzendentalpragmatik« mitgemeint ist, wie ein Medienwissenschaftler in einer Sendung des »Deutschlandfunks« (DLF) zum Tode Karl-Otto Apels dem Philosophen unterstellte. Vielmehr benutzt Apel ausdrücklich den semiotischen Terminus »Pragmatik«, der sich auf die »pragmatische Dimension« der Zeichenverwendung bezieht, nämlich auf die (von Zeichen bzw. Sprache getragene) Beziehung der Sprecher bzw. Zeichenbenutzer untereinander. Diese Kommunikationsbeziehung rekonstruiert Apel im Anschluß an den selbst transzendental fragenden Pragmatisten Charles Sanders Peirce und in Auseinandersetzung mit dem pragmatistischen, aber dem Logischen Empirismus und methodischen Behaviorismus verhafteten Semiotiker Charles Morris als »unhintergehbare«, »transzendentale« Basis von Verstehen, Handeln und Erkennen – als deren »Bedingung der
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Kontext und Grundlagen
transzendental fragenden und dialogreflexiv beweisenden Berliner »Diskurspragmatik« als auch Hans Jonas’ Denkweg von einer biologischen Seinslehre und Phänomenologie zur »Prinzipienlehre der Moral« stellen die »Grundlagenfrage«, die moralphilosophische »Frage ›Warum denn?‹«, wie Jonas mit Anklang an Apel sagt. Und er fügt hinzu: Wenn wir »die Antwort […] schuldig bleiben, haben wir wenig Recht, von einer verpflichtenden Ethik zu sprechen.« Die Einsicht in »die Vordringlichkeit der Prinzipienfrage« 2 bringt den Seinsdenker Jonas in gewisse Nähe zu Karl-Otto Apels Transzendentalpragmatik und zur Berliner Diskurspragmatik. Beide transzendentalen Ansätze beginnen mit der Frage, ob die Vernunft unbedingt zu etwas verpflichtet, und schließen daran die praktische Begründungsfrage an: ›Warum moralisch sein?‹. Gemeinsam mit Hans Jonas konkretisieren sie diese wiederum zu der neuartigen Frage ›Warum zukunftsverantwortlich sein?‹. Freilich bestreiten sie, so Apel schon 1981, daß »eine Ethik der Zukunftsverantwortung metaphysisch-teleologisch« sein müsse bzw. lediglich metaphysisch sein könne und nicht auch transzendentalphilosophisch einholbar sein müsse. Apel geht von Jonas’ Formel aus ›Du sollst, denn du kannst‹ 3, »(in der ein Seinsfaktum im Sinne kausaler Wirkungsmacht vorausgesetzt ist, das den Menschen – etwa den Eltern und dem Staatsmann – die sittliche Pflicht auferlegt). Dementsprechend soll die letzte Grundlage der Ethik, trotz Hume, Crusius und Kant, in einem Seinsfaktum, nämlich in der Möglichkeit« (Kant). Zur Sache: Karl-Otto Apel, Der Denkweg von Charles S. Peirce, Frankfurt a. M. 1975, S. 229–234 und 288 f., vgl. S. 20 ff. und 237–239; ders., Paradigmen der Ersten Philosophie, Frankfurt a. M. 2011, S. 54–83, 101–108 und 159 ff.; auch K.-O. Apel, »Einleitung« zu: Charles W. Morris, Zeichen, Sprache und Verhalten, Düsseldorf 1973, bes. S. 17–26. Zur teils kenntnislosen, teils abstrusen Polemik: Joachim Hörisch im Gespräch mit Michael Köhler, Sendung des DLF »Zum Tod von Karl-Otto Apel: ›Äußerste Ernsthaftigkeit, das war sein Programm‹«, 16. 5. 2017. Z. B. sagte Hörisch: »Schon der Begriff der Transzendentalpragmatik ist ja ein Widerspruch in sich. Entweder argumentiert man transzendental oder pragmatisch.« Und der DLF-Redakteur Köhler legte seine geblähte Unkenntnis restlos bloß, als er Apels Ansatz geradezu auf den Kopf stellte: »Die Gesellschaft wird gedacht als eine Art ideale Argumentationsgemeinschaft. Was ist falsch daran?« 2 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979) (zit.: Jonas, 1979), in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 63 f. 3 Ebd., S. 249 f.; bekräftigt und verstärkt 1985 in: »Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik«, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 531: Indem der Mensch Verantwortung »haben kann, hat er sie. […] Das Können selbst führt mit sich das Sollen.« Dazu weiterführend Böhlers einleitender Kommentar, ebd., S. XLIV ff.
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Kontext und Grundlagen
›Selbstbejahung des Seins‹ durch die Zwecksetzungen des Menschen, liegen. Aus diesem Seinsfaktum nämlich (das seine letzte Alternative im Nichtsein überhaupt hat) soll die ›Pflicht zur Zukunft‹, das heißt zur ›Bewahrung des Daseins und des Soseins der Menschen‹, entspringen. Zu diesem Argument – das Jonas wie auch andere Moralphilosophen, die unter dem Eindruck der ökologischen Krise stehen, praktisch zu einer Orientierung am Naturbegriff des Aristoteles zurückführt – möchten wir Folgendes zu bedenken geben: Das moderne Prinzip, daß ein moralisches Sollen nicht (allein!) aus einem Sein hergeleitet werden kann, hat niemals besagt, daß die Tatsachen des Seins der Welt und des Menschen für die inhaltliche Bestimmung von moralischen Normen ohne Bedeutung wären. Es besagt vielmehr: Die Tatsachen des Seins können dann, und nur dann, für die Begründung situationsbezogener Einzelnormen bedeutsam werden, wenn wir schon auf eine moralische Grundnorm zurückgehen können, in deren Licht die Tatsachen des Seins (und in diesem Zusammenhang auch die möglichen Zwecke, Folgen und Nebenfolgen unserer Handlungen) beurteilt werden können. […] An dieser Grundsituation hat nun, wie mir scheint, auch die ökologische Krise – oder, allgemeiner gesagt, die Herausforderung der ethischen Verantwortung durch die technisch erweiterte Wirkungsmacht des menschlichen Handelns in der Gegenwart – nichts geändert. […] Es ist gewiß einleuchtend, daß dem Menschen heute angesichts seiner gesteigerten technischen Macht (des Bewirken-Könnens) eine entsprechend erweiterte moralische Verantwortung für seinesgleichen – insbesondere für die nächsten Generationen – und sogar für die Natur (als natürliche Umwelt) zufällt. Aber es ist ebenso klar, daß diese neue Sollenspflicht nicht ohne logischen Zirkel allein aus den Tatsachen des Seins herzuleiten ist. Wollte man sie – mit Aristoteles und der Stoa – auf die teleologische Bestimmung des Seins der Natur zurückführen, dann setzte man sie im metaphysischen Verständnis des Seins der Natur schon voraus. Denn aus der unterstellten Tatsache: daß etwa alles Lebendige nach Selbsterhaltung, alle Tiere nach Lust und alle Menschen nach Glück streben, folgt keineswegs, daß ich für die Erfüllung dieses Strebens irgendwie verantwortlich bin. Man könnte insofern angesichts der ökologischen Krise genausogut die Konsequenz ziehen: ›Nach mir die Sintflut!‹ oder ›Rette sich, wer kann!‹. Erst wenn ich, neben den Tatsachen der Natur, noch ein deontologisches Prinzip, eine Grundnorm im Sinne der verallgemeinerten Gegenseitigkeit der Ansprüche aller Menschen als Vernunftwesen, voraussetzen kann, ergibt sich die Verantwortungspflicht im Sinne von Jonas.« 4 Karl-Otto Apel, »Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?«, in: ders., Dietrich Böhler u. Karlheinz Rebel (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Studientexte, Weinheim/Basel 1984 (zit.: Funkkolleg: Studientexte), Bd. 2, S. 627 f.
4
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Kontext und Grundlagen
Es war zugleich meine Jonas-Lektüre und Apels transzendentalpragmatisch-kritische Würdigung des Prinzips Verantwortung, die mich, wenn diese autobiographische Notiz erlaubt ist, zu einem intensiven Dialog mit Jonas’ Verantwortungsmetaphysik anspornte – und mich über meine Rekonstruktive Pragmatik, an der ich seit Mitte der siebziger Jahre arbeitete, mehr und mehr zur transzendentalen Diskurspragmatik führte: zu einem reflexiv sinnkritischen, also nicht metaphysikgeleiteten, wohl aber die seinsteleologische Werterschließung als fruchtbare Wertheuristik ernstnehmenden Denken aus dem Dialog 5, das, wie gesagt, um die Begründungsfrage ›Warum moralisch sein?‹ kreist. Die Antwort darauf sucht die transzendental-reflexive Diskurspragmatik im Dialog, mithin an dem Ort bzw. in dem Handlungszusammenhang, wo sich auch der Skeptiker, indem er überhaupt etwas als etwas Bestimmtes denkt bzw. zu verstehen gibt, unweigerlich befindet. Denn damit macht er etwas geltend – sich und (zumindest implizit) anderen gegenüber. Das trifft selbst dann zu, wenn er diese Warum-Fragen trivialisiert, ihnen ausweicht oder ihren Sinn bezweifelt. Auch das Etwas-Bezweifeln ist nämlich eine kommunikative Handlung mit Geltungsansprüchen. An diesen hängt die Verpflichtung, im Dialog zu bleiben, also die Möglichkeit des Sich-Verantwortens zu erhalten und so mit sich selbst als Dialogpartner in Einklang zu bleiben. Man kann dieser Pflicht nicht argumentativ ausweichen. Das ist die logische und methodische Unhintergehbarkeit der Argumentationssituation bzw. des Etwas-als-etwas-Geltendmachens und damit des Aprioris der Kommunikationsgemeinschaft – realiter und idealiter zugleich: In der realen, kontingent begrenzten Kommunikationsgemeinschaft setzt der Argumentierende die Geltungsinstanz des unbegrenzten Diskursuniversums bzw. einer idealen Kommunikationsgemeinschaft voraus. 6 Dazu meine Laudatio auf Hans Jonas in: Dietrich Böhler u. Rudi Neuberth (Hg.), Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren, Münster 1992, S. 27–36, hier: S. 31–33. 6 Karl-Otto Apel, »Das Apriori der Argumentationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, in: ders., Transformation der Philosophie, Frankfurt a. M. 1973 (zit.: Apel, 1973), Bd. II, S. 358 ff., bes. S. 395–435. Zudem die Beiträge von Wolfgang Kuhlmann und Dietrich Böhler, in: dies. (Hg.), Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik, Frankfurt a. M. 1982, S. 83–123 und S. 159–190. Ausgeführt in: Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion, Frankfurt a. M. 1985 (zit.: Böhler, 1985), S. 56–64, 296–308 und 335–384; Wolfgang Kuhlmann, Reflexive Letzt5
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Kontext und Grundlagen
Diese geltungslogische Unhintergehbarkeit enthält die Antwort auf die Warum-Frage: Du kannst die Verpflichtung, dich zu verantworten, nicht sinnvoll mit einem Argument zurückweisen, weil du dir damit als Argumentierender selbst widersprächest. Denn auch einem geltend gemachten Zweifel, genauer: der Behauptung (mit den zugehörigen vier Geltungsansprüchen 7), etwas sei vielleicht nicht wahr und verbindlich, wohnt wie jeder Behauptung das Apriori einer zugleich realen und idealen Kommunikationsgemeinschaft inne. 8 Dieser Rekonstruktion der Behauptungshandlung als eines paradigmatischen Sprechakts liegt Apels ursprüngliche Einsicht einer Dialektik von realer Sprach-Handlungsgemeinschaft und idealer Argumentationsgemeinschaft zugrunde 9: Denkend, sprechend, handelnd befinden wir uns immer schon in einer realen Kommunikationsgemeinschaft, so aber, daß wir durch unser Etwas-Denken, Etwas-Sagen, Etwas-Tun das Gedachte, Gesagte, Getane zugleich geltend machen und damit die Grenzen eines partikularen Standpunktes bzw. Interesses in Richtung Universalität überschreiten. Es ist diese transzendentale Dialektik, die sich in unserem faktischen Denken, Sagen, Handeln niederschlägt. So nämlich, daß wir damit, jedenfalls in gewisser Weise, zugleich den Geltungsanspruch voraussetzen, ein glaubwürdiger Diskurspartner (hinsichtlich des Gesagten, Getanen) sein zu können. Das ist auch dann der Fall, wenn wir nur so tun, als ob, und in täuschender Absicht agieren. 10 Anders gelagert ist der Fall offen strategischen Handelns (z. B.: »Hände hoch«). Nach der Warum-Frage stellt sich sogleich die prinzipielle WieFrage des Moralischseins bzw. des Verantwortlichseins. Wie sollten wir eigentlich moralisch handeln? Die Antwort darauf hat einen zeitanalytischen Aspekt (a) und einen normativen Aspekt (b), der genau der Antwort auf die Warum-Frage entspricht. begründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, Freiburg/München 1985 (zit.: Kuhlmann, 1985), S. 145–253. 7 Vgl. zuletzt: Dietrich Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, Freiburg/München 2013, 2., verb. Aufl. 2014 (zit.: Böhler, 2013/2014), S. 294–299, 302–306, 314–316, vgl. S. 43–53 und 87–101. 8 Dazu Böhler, 1985, S. 359 f., 368–376; vgl. S. 62 ff. Und ders., »Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis«, in: Funkkolleg: Studientexte, Bd. 2, S. 343; vgl. S. 338. 9 Siehe Apel, 1973, Bd. II, S. 358–435. 10 Dieser Fall des verdeckt strategischen Handelns läßt sich mit Habermas als »parasitär« gegenüber dem rein kommunikativen Handeln begreifen: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1981, S. 384–397 u. ö.
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Kontext und Grundlagen
(a) Die räumlich wie zeitlich unbegrenzte technologische Wirkmacht trägt und bedroht heute Lebenswelt und Moralität. (b) Die Verbindlichkeiten der Zeitgenossen als Beteiligte und Diskurspartner lassen sich – angesichts der technologischen Abhängigkeit und Bedrohung – in einem Imperativ der globalen Mitverantwortung für die Zukunft bündeln: ›Verhaltet euch so, daß die Auswirkungen eures Handelns verträglich sind mit der Permanenz verantwortungsfähigen Lebens auf Erden, so daß eure Handlungsweisen die Zustimmung aller als Diskurspartner verdienen.‹ Apel beläßt es nicht bei einer idealisierenden Prinzipienbegründung und nicht bei der prinzipiellen ›Wie eigentlich?‹-Frage. Vielmehr »ergänzt« er den idealisierenden Begründungsteil der Ethik »(A)« bald mit Bezug auf Max Weber durch einen erfolgsverantwortlichen, gleichsam realistisch-strategischen Begründungsteil »(B)«. Dabei stellt sich (c) die ›Wie erfolgsfähig?‹-Frage. Jetzt geht es nämlich darum, welche Konter-Strategien in einer handlungs- und diskursrestriktiven Situation, in der sich ein offener, rein dialogischer Diskurs mit dem Gegenüber verbietet, sowohl erfolgsfähig als auch noch moralisch legitim sein können. Denn wenn die Erfolgsfähigkeit geklärt, also das strategischzweckrationale Problem gelöst ist, stellt sich die moralische Legitimationsfrage: Würde eine ideale Kommunikationsgemeinschaft für die gegebene restriktive Situation die strategische Handlungsweise H billigen? 11 Gewissermaßen als Notstrategie 11 Vgl. Karl-Otto Apel, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. 1988 (zit.: Apel, 1988), siehe Register: »Ergänzungsprinzip (der Diskursethik)«; ders., »Diskursethik vor der Problematik von Recht und Politik«, in: K.-O. Apel u. M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 29–61; ders., Transzendentale Reflexion und Geschichte, Berlin 2017, bes. S. 159–164, 180–192 und 243–254. Für kritische Differenzierungen: Dietrich Böhler, »Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung«, in: K.-O. Apel u. M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 201–231; ders., »Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung: Hans Jonas und die Dialogethik – Perspektiven gegen den Zeitgeist«, in: Th. Bausch u. a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft, EWD-Bd. 3, Münster 2000, S. 34–69, hier: S. 60–69; ders., »Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil«, in: Dietrich Böhler u. Jens Peter Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinanderset-
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zur Fürsorge für bedrohte Schwache oder auch zur Durchsetzung des eigenen Lebensanspruchs und des eigenen moralischen Rechts. Wiewohl ohne eine solche Diskurslogik oder »Architektonik«, wie Apel mit Kant zu sagen pflegte, hat auch Hans Jonas moralische Strategie-Erörterungen angestellt. Vor allem mit Blick auf die ökologische Dauerkrise unserer hochtechnischen Zivilisation, in und von der wir leben, gibt Jonas zweierlei zu bedenken: – Erstens: Sollten wir die sehr kompromißbedürftige, auf Vernunft und guten Willen angewiesene, quasi-diskursive politische Form der (parlamentarischen) Demokratie in dramatischer Krise eingrenzen durch eine ökopolitische Notstandsordnung mit »Straffung der Entscheidungsprozesse«? 12 – Zweitens: In der Münchener Abschiedsvorlesung »Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts« erwägt Jonas sogar, ob die Menschheit, z. B. angesichts drohender Übervölkerung der Erde und permanenter Gefährdung von Klima und Ökosphäre, zu ihrer Rettung Maßnahmen »einer Entmenschung« treffen muß: »Dürfen wir Unmenschen werden, damit Menschen auf der Erde bleiben?« 13 Ich muß gestehen, daß mich dieser Gedanke erschreckte 14, als mir Hans Jonas aus dem Münchener Vortrag einige Partien vorlas. Inzwischen erleben wir, daß das hochkultivierte und eigentlich menschenrechtlich orientierte Europa – von einer Übervölkerung durchaus entfernt – auf die Terrorflüchtlinge und Hungerflüchtlinge geradezu »entmenscht« reagieren kann, z. B. mit Todesstreifen an der Grenze und mit der Förderung inhumaner Auffanglager südlich des Mittelmeers und mit weiteren nichtmoralischen Strategien, die Jonas verabscheuen würde.
zungen mit Hans Jonas, Würzburg 2004 (zit.: Böhler/Brune, Hg., 2004), S. 97–159, hier: S. 132–141. 12 So formulierte Eike Gebhardt im Gespräch mit Hans Jonas, der dieser Formel entschieden zustimmte: Vgl. KGA I/2, Zweiter Teilband, S. 421. 13 In: KGA I/2, Erster Teilband, S. 574. 14 Jonas’ »Denkexperiment« über »das Element der Wette im Handeln« führt demgegenüber zu dem Schluß, daß »von der Menschheit der Zukunft […] kein Einverständnis zu ihrem Nichtsein oder Entmenschtsein erhältlich noch supponierbar« ist. Ebd., S. 85.
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I 2. Anders denken? Begründen im reflexiven Dialog mit dem Skeptiker Kehren wir noch einmal zur idealisierenden Prinzipienbegründung zurück. Wenn wir nämlich moralische Not- und Durchsetzungsstrategien suchen, benötigen wir eine verbindliche und als verbindlich erweisbare Prinzipienorientierung zur Prüfung solch prekärer Strategien. Für die Suche nach Prinzipien und deren Begründung entwickelt die Berliner Diskurspragmatik eine transzendental fragende dialogreflexive Denkweise. 15 Man denkt und diskutiert dann nicht, wie im Alltag und in der Wissenschaft üblich (Hegel und Husserl: ›natürliches Bewußtsein‹, ›theoretische Einstellung‹), bloß gegenstandskonzentriert, sondern im Rückblick auf sich selbst als dem, der jetzt etwas denkt und dafür Geltung beansprucht. Das ist die Rückfrage nach mir (oder: die Rück-Sicht auf mich) als etwas behauptenden Sprecher, der als möglicher oder faktischer Partner im Diskurs Wahres und Richtiges sucht – und der weiß, daß er dieses allein dann finden kann, wenn seine Argumentation als sinnvoller Diskursbeitrag zur Sache anerkennungswürdig ist. 16 Dann gilt er, worauf zurückzukommen ist, als glaubwürdiger Diskurspartner. An diesem Sinnkriterium bemißt die zugleich sachbezogen und dialogreflexiv argumentierende (in diesem Sinne dialektische bzw. methodisch »speculative« 17) DiskursEingehend: Böhler, 1985, bes. S. 176, 302–309, 363 ff., 387 f., vgl. S. 356 ff.; Böhler, 2013/2014, bes. S. 92–101, 152–166, 235 ff., 250–299, 316–324 u. ö. 16 Vgl. die reflexiven Dialoge in: Böhler, 2013/2014, S. 237–245, 300–316, 448–453, 516–532. 17 Zum ursprünglich methodischen Sinn von »speculativ« vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1990, S. 469 ff. Die zugrundeliegende transzendentallogische Struktur eines »dialektischen Zugleich« (R. Kroner) von Gegenstands- und Selbstbewußtsein spielt im Deutschen Idealismus eine, wenn nicht die Schlüsselrolle. Dieses dialektische Zugleich erscheint zunächst in Kants »Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption« als dem »Ich denke, [das] alle meine Vorstellungen begleiten können« muß (KrV, B 132) und in seinem obersten Prinzip aller synthetischen Urteile: »[D]ie Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung« (KrV, B 197). Dazu Richard Kroner, Von Kant bis Hegel, Erster Band, Tübingen 1921, S. 55 ff., 117 ff., 142 ff., 227 f., 360 ff., und: Zweiter Band, Tübingen 1924, S. 282 f., 286 ff., 366 ff. Allerdings kranken die deutsch-idealistischen Fassungen des dialektischen Zugleich und Kants geniales transzendentallogisch-ontologisches Prinzip der synthetischen Urteile nicht zuletzt an einem impliziten transzendentalen Solipsismus. Deshalb tun 15
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pragmatik die Argumente – auch solche zu Zukunftspflicht, Lebensverantwortung und Lebensrecht. Richten wir den Diskursblick auf die Zeit seit Mitte des 20. Jahrhunderts: Die herausragenden Prinzipiendenker, denen wir begegnen, sind Hans Jonas und Karl-Otto Apel. Ich lade Sie, meine Leserinnen und Leser, ein, beide Denker in ein dialogbewußtes, transzendental-reflexives Gespräch zu ziehen und über sich hinauszuführen. Denn: Der Phänomenologe Jonas bringt z. T. sinnkritisch-transzendentale Argumente, auch im Sinne des Selbsteinholungsprinzips, ins Spiel 18, ohne sie jedoch für die Prinzipienbegründung auszuschöpfen. Das Schwergewicht legt er auf eine evolutionäre Ontologie von Zweckgerichtetheit des Lebens, das »Ja« zu sich selber sagt. 19 Folgt daraus aber eine Pflicht zum Lebensschutz? Jonas räumt ein, daß es sich bei seinem Deduktionsversuch einer Verantwortungs- und Zukunftspflicht für das menschliche Leben nur um einen »metaphysischen Glauben« handele, der lediglich »eine Option begründe«. Darüber komme er nicht hinaus, »was zwar nötig wäre«. 20 Hier kann die transzendental-reflexive Diskurspragmatik sie weder Jonas’ noch Apels Denken Genüge und müssen im Sinne des Aprioris der kommunikativen Vermittlung reformuliert werden. Einen Versuch habe ich mit der Begründung der »transzendentalpragmatischen Grundsätze I« und »II« gemacht: Böhler, 1985, siehe Register: »Transzendentalpragmatik«. Aber die Grundsatzdiskussion Ontologie – Transzendentalphilosophie nach der sprachpragmatischen Wende (auf dem Niveau Apels) und nach der biologisch-ontologischen Wende (im Sinne von Jonas) steht m. E. noch an. Sie zu führen, wäre umso bedeutsamer, als die Erkenntnis eines, allererst in seinen beiden Aspekten zu verbindenden, nämlich biologischen und sozialen Aprioris der Vermittlung die tiefsitzende Scheidung der theoretischen von der praktischen Vernunft unterläuft, ja diese als Scheinproblem überwinden kann. (Damit verlöre auch die Etablierung der Disziplinengrenze theoretische versus praktische Philosophie ihre systematische Legitimation!) – Für eine sprachpragmatische Reformulierung des »dialektischen Zugleich« bzw. von Kants »Ich denke«: Böhler, 1985, S. 36, 60 ff. und 359 f. In Auseinandersetzung damit: Audun Øfsti, Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie, Würzburg 1994, S. 79–138; vgl. auch S. 147–157. 18 Z. B. Hans Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität. Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung (1981), in: KGA I/2, Erster Teilband, bes. S. 427 ff.; Jonas, 1979, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 82, vgl. a. a. O., S. XL, XLIII f., XLVIII f., LIII f., 673 f. Darauf und auf die Nähe zu Karl-Otto Apels »Selbsteinholungsprinzip« geht Jon Hellesnes in diesem Band ein: Jon Hellesnes, »Die Achillesferse des reduktiven Naturalismus«, S. 92, 90 ff. 19 Jonas, 1979, Viertes Kap., I, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 158–164. 20 KGA I/2, Erster Teilband, S. 531, 539, und Brief an H.-G. Gadamer vom 9. Nov. 1985, in: Böhler/Brune, Hg., 2004, S. 480, erscheint 2020 in KGA V.
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Unterstützung anbieten. Zum Beispiel so, daß sie, übrigens analog zu Vittorio Hösle 21, immanent kritisch an die Jonassche Ontologie der Zweckgerichtetheit anschließt, indem sie die Unbezweifelbarkeit des Zweckehabens erweist: Du, leibhafter Argumentationspartner, der du als Leibwesen durch Aufrechterhaltung des Stoffwechsels immer schon den Generalzweck Lebenserhaltung bestätigt hast, kannst das Prinzip, Zwecke zu haben, auch durch Argumente, nicht sinnvoll bestreiten. Denn auch mit einem Zweifelsargument hast du etwas bezweckt, nämlich die Außerkraftsetzung jenes Prinzips. Einen solchen sinnkritischen, und zwar reflexiv-transzendentalpragmatischen, Gültigkeitserweis nennt Apel mißverständlich »Letztbegründung«. Doch gibt er das Schema dieses Erweises an, nämlich die Formel »Reflexion auf den Diskurs im Diskurs« 22, wenngleich er eine derartige Reflexion nicht ausführt, also nicht konsequent dialogreflexiv denkt. Will sagen: Apels Philosophie hält sich noch vorwiegend in der theoretischen Einstellung. Zwar macht er – wie Wolfgang Kuhlmann – die transzendentalpragmatische Reflexion mit gutem Grund zum Programm, kommt auch im Aufweisen pragmatischer Selbstwidersprüche bei Gegnern (von Hans Albert bis zu Jürgen Habermas) immer wieder auf die Schwelle zu einem strikt reflexiven Dialog mit dem Gegner bzw. Skeptiker. Und an diesen Partien hält der Leser den Atem an. Doch wo führt Apel eine reflexive »Letztbegründung« im Diskurs mit dem Skeptiker durch? Das begründungslogische Defizit an strikter oder aktueller Dialogreflexion hat ein anderes zur Folge, ein begründungspraktisches sozusagen. Die klassische Transzendentalpragmatik bleibt m. E. in einem Begründungsformalismus gefangen. Scharf weist Apel Erwartungen zurück, daß die Diskursethik z. B. »bei solchen Fragen wie der Gentechnologie« mit inhaltlichen Grenz-Normen antworten könne: »Wir haben eine ganz formale Norm: Alle Konflikte sollen in argumentativen Diskursen ausgetragen werden.« 23 Das ist m. E. entschieden zu wenig. Zudem schöpft Apel damit das Letztbegründungspotential der Transzendentalpragmatik keineswegs aus. Man bedenke Vgl. Vittorio Hösle, »Ontologie und Ethik bei Hans Jonas«, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 105–125, hier: S. 114 f. und 120 f. 22 Karl-Otto Apel, Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 1998 (zit.: Apel, 1998), S. 179. 23 Apel 1992 im Kieler Gespräch mit Hans Jonas, Wolfgang Huber und Hans Küng, in: KGA I/2, Zweiter Teilband, S. 391. – Hervorhebung von D. B. 21
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deren Ansatz bei dem dialektischen Apriori der realen Kommunikations- und der idealen Argumentationsgemeinschaft und bei der logischen Unhintergehbarkeit der Geltungsansprüche. An beidem hängt die Universalität der Geltungsansprüche; werden sie doch in einer realen Gemeinschaft mit Bezug auf eine ideale Geltungsinstanz erhoben bzw. vorausgesetzt.
I 3. Universalität des Diskursprinzips Im Sinne der transzendentalpragmatischen Dialektik von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft, mithin im Sinne einer (selbst-)kritischen Anerkennung der regulativen Geltungsinstanz ›ideale Argumentationsgemeinschaft‹ in der jeweiligen realen Kommunikations- und Handlungswelt, läßt sich das Diskursprinzip als ideale Norm einer permanenten Bemühung differenzieren: Es hat den Stellenwert eines regulativen kritischen Prinzips – kritisch i. S. einer permanenten Prüfung und Verbesserung der Diskursergebnisse. Das Diskursprinzip läßt sich also nicht etwa, wie Hans Jonas und Albrecht Wellmer annahmen, im Sinne einer (u. U. irgendwann realisierbaren) Utopie verstehen. 24 Als Norm kann das regulative Diskursprinzip so formuliert werden:
Vgl. Jonas, 1979, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 248. Apel tritt in Funkkolleg: Studientexte »der Vorstellung von Jonas« entgegen, »daß eine regulative Idee im Sinne Kants im selben Sinne utopisch ist wie das Wissen um ein realisierbares Endziel der Geschichte bei Marx. Hier scheint mir eine Verwechslung ethisch-normativ begründeter Teleologie mit geschichtsspekulativer Teleologie vorzuliegen. Der heute wieder aktuelle Vorzug der ersteren gegenüber der letzteren liegt gerade darin, daß ihre Gültigkeit und ihre regulative Funktion unabhängig von jedem endgültigen Vorwissen über die Zukunft und damit von jeder Erfolgsgarantie bestehen. Insofern ist gerade die regulative Idee, die sich aus der Grundnorm der konsensualen Kommunikation ergibt, nicht utopisch im üblichen Sinne des Utopismusvorwurfs.« (Funkkolleg: Studientexte, Bd. 2, S. 630) Zu Albrecht Wellmer: Ders., Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a. M. 1993, S. 9, vgl. S. 157 ff. und 220 ff.; ders., Ethik und Dialog, Frankfurt a. M. 1986, S. 81 ff.; ders., »Der Streit um die Wahrheit. Pragmatismus ohne regulative Ideen«, in: D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. 2003, S. 143 ff, bes. S. 153 f. und 169 f. Zur transzendentalpragmatischen Metakritik an Wellmer: die Beiträge von Apel, a. a. O., S. 171 ff., Øfsti, a. a. O., S. 197 ff. und Gronke, a. a. O., S. 260 ff.
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›Bemühe dich um eine Handlungsweise bzw. eine Planung, welche die Zustimmung aller als glaubwürdiger Diskurspartner verdient (gleich, ob jene von Interessenten selbst oder advokatorisch für Dritte geltend gemacht wird; denn das, was zählt, ist das konsenswürdige Argument, welches auch und gerade im unbegrenzten Diskursuniversum Konsens erzielen würde).‹ 25
Für die Befolgung bzw. Anwendung dieses Prinzips in der realen Praxis gibt es m. E. zwei Kriterien. Zunächst ein geltungslogisches, das sinnkritisch prüfbar ist: ›Du mußt die in Rede stehende Handlungsweise samt ihren möglichen Wirkungen in Übereinstimmung mit der Begleitrolle des glaubwürdigen Dis-
Von pädagogischer, inzwischen auch von theologisch-diakonischer Seite ist mehrfach ein advokatorisches Defizit der Diskursethik vermutet worden. Vgl. Micha Brumlik, »Kindeswohl und advokatorische Ethik«, in: Ethik Journal 1 (2013), Nr. 2, S. 6 f.; Ulf Liedke, »Zugehörigkeit in kommunikativer Freiheit. Notizen zu einer Ethik der Inklusion«, in: Pastoraltheologie. Monatsschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft, 107. Jg., 2018/1, hier S. 33 f., Anm. 54. Diese Annahme geht freilich fehl, wenn sie sich auf das formale, strikt universalistische und regulative Diskursprinzip bezieht, sofern es, wie unterschiedlich es auch formuliert sei, als Kernbestand die Orientierung an dem argumentativen, also sachlich begründeten, Konsens enthält, der sich einstellen würde, wenn alle relevanten Ansprüche und Argumente zur Sache vorgebracht und geprüft worden wären. Eben darin besteht die moralische Aufgabe eines glaubwürdigen Diskurspartners, der sich in der (von Apel eingeführten) Dialektik der realen und idealen Argumentationsgemeinschaft weiß. Er weiß, daß jedes mögliche, aber nicht berücksichtigte, z. B. advokatorisch geltend gemachte, Argument für ein Anspruchssubjekt nicht allein ein Fehler, sondern ein moralisches Versäumnis wäre und schuldhaft sein kann. Daher ist der glaubwürdige Diskurspartner eo ipso auch der advokatorische. Vgl. Böhlers transzendentalpragmatische Reformulierung von Albert Schweitzers Prinzip der »Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben« (vgl. Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, Sonderausgabe, München 1960, Nachdruck 1972, S. 335). Diese lautet: Anerkennung aller Ansprüche auf Leben, die auch in einer idealen Kommunikations- und Argumentationsgemeinschaft so verständlich gemacht und begründet werden könnten, daß sie dort akzeptiert würden (Böhler in: Funkkolleg: Studientexte, Bd. 3, S. 971). In Erläuterung dazu: D. Böhler/U. Liedke: »Diskursbeteiligung und advokatorische Assistenz. Ein Briefwechsel«, in: Pastoraltheologie, 107. Jg., 2018/10, S. 436–446. In der Verantwortung für die reale Kommunikationsgemeinschaft steht der glaubwürdige Diskurspartner freilich auch vor dem (erfolgs-)verantwortungsethischen Problem der Exklusion, das nach rechtlicher Differenzierung ruft: Wolfgang Huber, »Moralischer Impuls und rechtliche Differenzierung. Für einen erweiterten Blick auf die Debatte zu Flucht und Migration«, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 61. Jg., Heft 4, S. 244–249. Für eine luzide Rekonstruktion des Konzepts »glaubwürdiger Diskurspartner«: Jens Peter Brune, Moral und Recht, Freiburg i. Br. 2010, S. 286–298. 25
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kurspartners vertreten können – also ohne pragmatischen Selbstwiderspruch.‹
Hinzu kommt das ökologische Kriterium der Zukunftsverantwortlichkeit: ›Das vorgeschlagene Projekt muß der Permanenz der realen Kommunikationsgemeinschaft, mithin der Menschheit auf Erden (im Sinne von Jonas’ erstem Imperativ), zuträglich sein.‹ 26
Welche Verbindlichkeiten sich moralisch und politisch-ethisch daraus ergeben und wie sich deren Gültigkeit erweisen läßt, demonstriert die Berliner Diskurspragmatik, indem sie die Transzendentalpragmatik dialogreflexiv weiterdenkt und durch den Aufweis impliziter Dialogversprechen a priori erweitert – hier Abschnitt II 3.2. Sofern dieser Aufweis gelingt, erschöpft sich die »Letztbegründung« also nicht, worauf Apel beharrt, im Erweis der formalen Norm des Diskursprinzips. Eine Prinzipienbegründung im reflexiven Dialog mit der Skeptikerin bzw. dem Skeptiker muß beweisen, daß diese/dieser sich in einen Selbstwiderspruch verstrickt, mithin seinen Zweifel nicht geltend machen, also als sinnvolle Behauptung vorbringen kann, wenn er sich nicht konsequent kommunikativ verhält – als ein ›glaubwürdiger Diskurspartner‹ (Böhler). Zwei recht unterschiedliche Einwände gegen diesen Begründungsversuch bieten sich an. Der erste, den z. B. Hans Jonas vorbringt, geht davon aus, daß dieser Begründungsversuch identisch mit Jürgen Habermas’ »Diskurstheorie« sei.
I 3.1. Hans Jonas und Karl-Otto Apel gegenüber Habermas’ Ansatz beim praktischen Diskurs Habermas rekonstruiert unumgängliche Normen und Regeln eines »praktischen Diskurses«, in welchem moralische Normen begründet In Gegenwart von Hans Jonas machte Apel – 1990 auf der nordnorwegischen Konferenz in Melbu/Vesterålen – deutlich, daß besagte Dialektik Jonas’ »ersten Imperativ, daß eine Menschheit sei«, einschließt und damit »die in höchstem Maße paradigmatische Forderung einer neuartigen Ethik der Zukunftsverantwortung«. In deutscher Übersetzung: »Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik«, erstmals in: Dietrich Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 369–404, hier: S. 388.
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würden und die Anerkennung der Teilnehmer als Gleichberechtigter alternativlos sei. Hans Jonas, der diesen Ansatz mit demjenigen von Apel gleichsetzt, sieht darin mit Recht eine petitio principii. Trifft er damit aber auch die, auf Apel zurückgehende, transzendentalpragmatische bzw. transzendentale, und zwar diskurspragmatische »Letztbegründung« des regulativen Diskursprinzips? Der zweite, m. E. ungleich stärkere Einwand geht aus von der Unterscheidung zwischen verständigungsorientiertem bzw. dialogischem Verhalten, welches einer Diskurs-Rationalität entspricht, und durchsetzungsorientiertem Verhalten, das einer rein strategischen Rationalität folgt und nichts als das effizienteste Verfahren zum Erfolg eines beliebigen Interesses gelten läßt. In einem 1990 mit dem Luxemburger Philosophen Jean Greisch, dem die französische Übersetzung von Das Prinzip Verantwortung und eine Reihe anderer Schriften von Jonas zu verdanken ist, und dem Luxemburger Theologen Erny Gillen geführten Gespräch – Bernadette Herrmann hat es gerade für die Abteilung V »Briefe und Erinnerungen« korrigiert und kommentiert – setzt sich Hans Jonas knapp mit der Diskursethik von Habermas und Apel, wie er sagt, auseinander. Wie viele versteht er diese freilich ganz von Habermas her: Weder berücksichtigt er, daß Apel das Diskursprinzip als regulative Idee zur kritischen Orientierung faktischer Diskurse begründet, noch erwähnt er den Rahmen dieser Begründung, Apels solipsismus- und dualismuskritische »Transformation der Philosophie« in eine »Transzendentalpragmatik«. Diese setzt übrigens auch der Metaphysikfreund und Jonas-Nachbar Vittorio Hösle inzwischen als Schlüssel zur Ethikbegründung an. Jonas kritisiert den, notabene Habermasschen, Ansatz der Diskursethik beim »praktischen Diskurs« als petitio principii, weil sich in einem solchen, von vornherein auf Gerechtigkeit abzielenden, Dialogverfahren bereits wohlgesinnte, einander Achtung erweisende Beteiligte als gleichberechtigte Partner auf die Suche nach dem Guten, genauer: nach dessen Konkretion, begeben hätten. 27 Das DiskursprinGanz gemäß Habermas charakterisiert Jonas in dem genannten Gespräch die Diskursethik als Rekonstruktion des praktischen Diskurses, so daß er sagen kann: »[Z]u einer Grundlegung der Ethik kann das Diskursprinzip nicht führen. Es liegt […] ein circulus vitiosus vor: Wenn sich vernünftige Gesprächspartner […] miteinander besprechen, so liegen […] gewisse Voraussetzungen in dieser Tatsache selber, nämlich daß man den anderen anerkennt als jemand, der auch etwas zu sagen hat, der uns gleichgestellt ist, dem es auch um Wahrheit geht oder von dem man annimmt, daß
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zip und dessen Gültigkeit/Verbindlichkeit sei also schon unterstellt … Diese Kritik kommt Apels Transzendentalpragmatik wie auch der reflexiven Diskurspragmatik sehr entgegen. Beide begründen eine Ethik der Kommunikation und die Pflicht zur Bemühung um argumentativen Konsens auf zwei Ebenen: gleichsam »oben«, philosophiebezogen, und »unten«, auf das denkende Subjekt bezogen, das nun von vornherein als Diskursteilnehmer verstanden ist, mithin als Teilhaber zugleich an einer realen Kommunikationsgemeinschaft und einer reinen (insofern idealen) Argumentationsgemeinschaft. »Oben« geht es um die Selbsteinholung der Philosophie als Reflexion des Philosophen bzw. der Philosophin, der oder die eine normativ geladene Theorie der Geltungsansprüche und damit einer verbindlichen Moral der Diskurspartner vertritt. Die Philosophie holt sich nämlich selbst ein, indem die/der Philosophierende sich klarmacht, welche Sinn- und Geltungsbedingungen als Vernunftvoraussetzungen zu gelten haben, da man sie nur um den Preis eines pragmatischen Selbstwiderspruchs bezweifeln könnte. Andererseits setzen Transzendentalpragmatiker und zumal transzendental-reflexiv denkende Diskurspragmatiker »unten« an, nämlich bei ›meinem‹ und ›deinem‹ Etwas-erkennen-Wollen und dem damit verwobenen Kommunizieren. Dessen normative Sinnbedingungen sollen aufgedeckt und strikt reflexiv als unbezweifelbar erwiesen bzw. »letztbegründet« werden. Dieser kommunikationsbezogene Aufweis enthält die Kritik der neuzeitlichen Denktradition: Eine Hauptsache der Transzendentalpragmatik – und auch darin begegnet sie sich mit Hans Jonas – ist die Rettung der Vernunft aus den Fallstricken des methodologischen bzw. transzendentalen Solipsismus und des (post-)cartesischen Dualismus. In eins damit geht es der Transzendentalpragmatik um den Nachweis, daß die Vernunft, weil sie nicht allein sprachlich verfaßt, sondern auch dialogförmige Gültigkeits- und Verbindlichkeitsinstanz ist, in der Tat, wie Kant nur postulieren konnte, an sich selbst praktisch, nämlich moralisch verbindlich ist. In diesem Zusammenhang konnte Karl-Otto Apel schon 1967 (Göteborger Vortrag) bzw. 1973 (Buch bei Suhrkamp) und z. B. 1990 in Gegenwart von Jonas aus der nun als Inbegriff des argumener nicht irgendwie eine Komödie spielt usw. Und hier besteht also schon eine Gesellschaft Wohlgesinnter, und die werden sich dann auch über das Gute einigen. Der Zirkel ist eben der der Wohlgesinntheit.«
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tativen Diskurses rekonstruierten Vernunft die Idee und Pflicht einer Menschheitsverantwortung als Zukunftsverantwortung ableiten. 28 Mit einem (von pauschalem Mißverständnis befreiten) Jonas über Habermas’ Theorie des praktischen Diskurses hinausdenkend, skizziere ich im folgenden die Aufhebung der Transzendentalpragmatik in die Begründungsreflexion der Berliner Kommunikationsund Diskurspragmatik, insoweit das dem Prinzipiengespräch mit Hans Jonas dienlich ist. Wer immer etwas als etwas Bestimmtes versteht und zu verstehen gibt, macht diese seine (virtuelle oder tatsächliche) Ansprache anderen und sich selbst gegenüber in vierfacher Weise geltend, nämlich (1) – als intersubjektiv verstehbar (Verständlichkeitsanspruch), (2) – als wahrhaftig so gemeint, wie ausgedrückt, d. h. als glaubwürdiges Kommunikationsangebot (Wahrhaftigkeits- bzw. Glaubwürdigkeitsanspruch), (3) – als zumutbare bzw. moralisch legitime Kommunikation/Interaktion (Richtigkeits- bzw. Legitimationsanspruch) und (4) – als wahrheitsfähige, intersubjektiv annehmbare bzw. diskursiv prüfbare Sachaussage (Wahrheitsanspruch). 29
I 3.2. Ist strategisches Verhalten ein relevantes Gegenbeispiel? Nun kann jede und jeder Kommunikationsteilnehmerin/-teilnehmer die Geltungsansprüche (2), (3) und (4) mehr oder weniger ernst nehmen oder sie teilweise nur zum Schein einlösen wollen. Letzteres ist der Fall bei dem, der die Kommunikation parasitär zur Durchsetzung nicht friedlich akzeptierter Zwecke benutzt.
Apel, 1973, Bd. II, S. 358–435; ders., »Die Diskursethik vor der Herausforderung der ökologischen Krise«, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 369–404. 29 Das ist derjenige Teilbestand des normativen Fundaments der Kommunikation, den Habermas und die Transzendentalpragmatiker mehr oder weniger gemeinsam zugrunde legen. Freilich schwächt Habermas den Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit ab, indem er diesen nur auf die »Sprecherintention« bezieht, ihn nicht als prüfbar ansieht und ihn nur diskursintern gewichtet – nicht relevant oder gar verpflichtend außerhalb von Diskursen, in Lebenswelt und Gesellschaft also. Referierend und kritisch dazu: Böhler, 2013/2014, S. 287–291 und 294–300. 28
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Da ein Skeptiker die Annahme von Geltungsansprüchen a priori kaum gelten lassen wird, setzt die transzendentale Diskurspragmatik auf eine dialogreflexive Ethikbegründung, nämlich in der Diskussion mit einem Skeptiker: Sie demonstriert an dem Etwas-Bezweifeln nicht allein die logische Unhintergehbarkeit der Argumentationssituation, sondern auch die moralischen Implikationen des Argumentierens bzw. Etwas-Geltendmachens, und sei es des Geltendmachens eines Zweifels. Nehmen wir die beiden Hauptformen des nicht verständigungsorientierten, dialogischen, sondern bloß durchsetzungsorientierten, strategischen Verhaltens in den Blick – ohne ganz zu vergessen, daß wir damit Beispiele erörtern, welche von einem Diskursteilnehmer in den Diskurs (über mögliche Geltungsansprüche a priori) eingebracht werden. Diskutieren wir also die beiden Haupttypen eines reinen Durchsetzungsverhaltens, sei es (a) in Form eines täuschenden bzw. lügnerischen, also verdeckt strategischen Verhaltens – das ist die schwächere Variante –, sei es (b) in Form eines offen strategischen, also gewaltsamen Handelns vom Typ »Hände hoch!« bzw. »Akzeptiere oder stirb!« – das ist die stärkste akommunikative Verhaltensweise. (Leichtes Spiel hat der Kommunikationsethiker mit dem kommunikativ-strategischen Mischtypus der Verhandlungen. Auf seiten aller Parteien eigeninteressiert, sind Verhandlungen von strategischer Rationalität dominiert; zugleich aber haben sie dialogisch-ethische Implikationen, indem die Gegenseite als Kommunikationspartner anerkannt wird wie auch gemeinsame Rahmenbedingungen, z. B. Geschäftsordnung, gesucht und befolgt werden.) Beweisen muß der Kommunikationsethiker dem Skeptiker/Kritiker vor allem zweierlei: (1) Die vier Geltungsansprüche sind zwar faktisch z. T. einklammerbar, aber argumentativ unhintergehbar. (2) Mit den Geltungsansprüchen verwoben sind implizite Dialogversprechen a priori von durchschlagender moralischer und moralisch-politischer Orientierungskraft. Das ist, wie mir scheint, in der gesamten zukunftsethischen Prinzipiendiskussion und damit auch in der Debatte über die Diskursethik unbemerkt geblieben, weshalb auch Apels (Rest-)Formalismus plausibel erscheinen konnte. Erst in dem Buch Verbindlichkeit aus dem Diskurs wurden – in der ersten Auflage (2013) – sechs solcher moralischer Verpflichtungen vor Augen geführt, in der zweiten 51 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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Auflage (2014) dann sieben. Hier bleibt, und zwar in dem Begründungsteil II 3.2, zu zeigen, daß es mindestens acht Pflichten sind, welche mit den Geltungsansprüchen und der Diskurspartnerschaft einhergehen. An dieser Stelle konzentriere ich mich auf die Unhintergehbarkeit der Geltungsansprüche. Die argumentative und logische Unhintergehbarkeit der Geltungsansprüche und eines diesen entsprechenden kommunikativen, verständigungsorientierten Verhaltens erweist sich daran, daß jedes Argument, mit dem einer der Geltungsansprüche zurückgenommen würde, als Sprechakt und Diskursbeitrag verunglücken muß. Inwiefern? Insofern, als das Argument von den möglichen Angesprochenen, den Diskursteilnehmern, dann gar nicht erst als widerspruchsfreies (daher verständliches), ernstzunehmendes (wahrhaftiges), zumutbares (moralisch legitimes) und prüfbares (wahrheitsfähiges) Kommunikationsangebot aufgenommen werden kann. Denn der/die Angesprochene muß sich jedenfalls auf zweierlei verlassen können, nämlich – daß es sich tatsächlich um ein Kommunikationsangebot und Kooperationsangebot als einen Diskursbeitrag handelt und – daß er als Kommunikationspartner, der auf das Angebot eingehen kann, anerkannt wird und somit wirklich in einen Dialog einbezogen ist. Kein Diskurs ohne einlösbare Geltungsansprüche! Das wird evident in reflexiven Dialogen mit Skeptikern, welche die logische bzw. argumentative Unhintergehbarkeit der Kommunikationsgemeinschaft und der Geltungsansprüche in Zweifel ziehen. 30 Die soeben behauptete Unhintergehbarkeit der Geltungsansprüche und des ihnen entsprechenden kommunikativen, verständigungsorientierten Verhaltens erweist sich in jedem Diskurs, in dem ein strategisches Verhalten als Gegenbeispiel angeführt wird, sei es das offen strategische, sei es das verdeckt strategische. Denn eine solche These kann nicht anders vorgebracht und begründet werden, als stünde sie im Einklang mit und sei getragen von den vier Geltungsansprüchen. Damit aber wird der Sprecher, der diese Unhintergehbar-
Diese Diskurs-Evidenz demonstrieren sowohl die Methode der Selbsteinholung als auch die Skeptikerdialoge in Böhler, 2013/2014, z. B. S. 267–287, 300–316, 448–453, vgl. S. 428–439.
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keit bezweifelt oder direkt bestreitet, selbst zum Beleg für diese. Wider Willen demonstriert er durch seine Handlung, was er mit seiner Aussage bezweifelt oder negiert. Dieser pragmatische Widerspruch indiziert die Wahrheit dessen, was er in Zweifel zieht oder in Abrede stellt. Was aber, wenn der Skeptiker entgegnet: ›In der realen Lebenswelt und Gesellschaft begegnen uns sowohl die Täuschung wie auch die Gewalt, die sich über Geltungsansprüche einfach hinwegsetzen.‹ Nun, wenn wir lügnerisches Verhalten als praktisches Verhalten betrachten, zeigt sich, daß es nur deshalb Erfolg haben kann, weil es den Adressaten die Einlösung der Geltungsansprüche geschickt vorspiegelt. Die Geltungsansprüche und ihre mögliche Bekräftigung sind Erfolgsbedingungen von Lüge und Täuschung. 31 Heikler ist es mit gewaltsamem Handeln. Dieses befolgt nur drei Geltungsansprüche: Die Drohung muß verständlich und ernst zu nehmen sein, sie muß also wahrhaftig und glaubwürdig vorgebracht sein; dazu gehört eine hinreichende Unterwerfungsmacht, die sich in wahren Behauptungssätzen darlegen oder mit parasitärem, aber glaubwürdigem Wahrheitsanspruch vorspiegeln läßt. Zudem muß der Gewalttäter den Wahrheitsanspruch insofern einlösen können, als er die empirische Frage ›Wie ist meine Handlungssituation beschaffen?‹ im Eigeninteresse zu beantworten hat. Die zutreffende Situationserkenntnis ist Erfolgsbedingung. Hingegen will der offen strategisch handelnde Akteur einen Geltungsanspruch gänzlich ausklammern. Es ist der Geltungsanspruch der Legitimität bzw. moralischen Richtigkeit. Aber selbst dieser bleibt hintergründig im Spiel: Denn der Gewalttäter kann von vornherein zweierlei wissen: Kein Geltungsanspruch kann aus rationalen Gründen, also eingesehenerweise, ausgeklammert werden; ein freier Dialog basiert auf der Anerkennung aller vier Geltungsansprüche. Der moralische Richtigkeits- und Gerechtigkeitsanspruch steht auf seiten derjenigen, denen die Chance zum freien Dialog genommen ist; und er würde zur Geltung gebracht sowie rechtlich durchgesetzt werden können, wenn es mit rechten Dingen zuginge und nicht Gewalt beherrschend auf den Plan getreten wäre. Das aber bedeutet die logische Unhintergehbarkeit und Priorität des argumentativen Diskurses, in
Zum kommunikations- und zumal diskurs-»parasitären« Charakter: Jürgen Habermas, s. o., Anm. 9; Apel, 1998, S. 703–725; Böhler, 2013/2014, S. 260 f.
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welchem alle Teilnehmer sich als glaubwürdige Argumentationspartner einholen können, wenn sie die Geltungsansprüche beachten. 32
I 4. Apel und Jonas: Zur äußeren und inneren Herausforderung einer Prinzipienethik in der wissenschaftlich-technologischen Zivilisation Die soeben vorgeführte Reflexion auf die argumentative Unhintergehbarkeit der Geltungsansprüche gehört zur philosophischen Antwort auf die besondere Begründungsproblematik einer Pflichtethik im technologisch-wissenschaftlichen Zeitalter. Den Anfang zu einer solchen Antwort hatte Karl-Otto Apel 1967 gemacht. In seinem Göteborger Vortrag »Das Apriori der Argumentationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« 33 nahm er sowohl die innere Herausforderung der hochtechnisierten und verwissenschaftlichten Gesellschaft, ihre Leugnung einer praktisch verbindlichen Vernunft, in den Blick als auch ihre äußere Herausforderung, die Freisetzung technologischer Langzeitgefahren für Leib und Leben. Er begründete hier die logische Geltungsinstanz der idealen Kommunikation und des argumentativen Konsensus als methodisch unhintergehbar; zudem entwarf er erste Grundlinien einer Zukunftsethik. Er verstand diese primär als »Makroethik« für die wissenschaftlich-technische Zivilisation, in ständiger Beschleunigung angetrieben von der »modernen erdumspannenden Industriegesellschaft«. Angesichts der z. T. lebensgefährlichen Technologie- und Massenkonsum-Folgen sei eine »verbindliche Ethik noch nie so dringend wie in unserem Zeitalter« gewesen. Aber – und darin liegt die innere Herausforderung – »im Zeitalter der Wissenschaft« scheine die »philosophische Aufgabe einer rationalen Begründung allgemeiner Ethik noch nie so schwierig, ja aussichtslos gewesen zu sein.« 34 Warum? Weil als »rational« nurmehr formale Analysen, kausale Erklärung von Phänomenen und das Mittel-Zweck-Kalkül angesehen werden, so daß die kommunikative Erfahrung und die Subjekt-Subjekt-Kom-
Dazu Apel, 1998, S. 722 ff. Vgl. auch Jens Peter Brune, »Konsensorientierte Sprechhandlungen«, in: M. Niquet u. a. (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen, Würzburg 2001, S. 95–118. 33 Apel, 1973, Bd. II, S. 358–435. 34 Ebd., S. 359. 32
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munikation auch der Wissenschaftler untereinander gänzlich ignoriert werden. Ein naturalistischer Szientismus verabsolutiert nicht nur die Subjekt-Objekt-Relation, sondern streicht eigentlich das Erkenntnissubjekt durch, weil er kausalanalytisch auf das zu erklärende Objekt fixiert ist und gänzlich von den Erkenntnissubjekten mitsamt ihrer Kommunikation absieht. 35 Auf die Spitze getrieben wird diese Verkürzung der Rationalität durch den extremen Materialismus bzw. Physikalismus der modernen Wissenschaftsmetaphysik. Diese behauptet nämlich, was Jon Hellesnes in diesem Band rekonstruiert 36, alle intentionalen, subjektbezogenen Begriffe wie Wille, Wissen, Einsicht, Vernunft, Überlegung, (guter) Grund usw. könnten, ja müßten aus der Wissenschaftssprache eliminiert werden. Es handele sich um pure Illusionen aus »vorwissenschaftlicher« Zeit. In Wahrheit lägen ihnen ausschließlich objektivierbare Dinge zugrunde, natürliche Kausalzusammenhänge, zumal elektrochemische Ereignisse im Gehirn. 37 Hans Jonas hat diese Theorie als Ohnmachtserklärung des Denkens, als »theorievernichtende Theorie« entlarvt. 38 Apel und dessen Schüler haben diese szientistische Metaphysik als selbstwidersprüchliche Kommunikationsvergessenheit, als selbstzerstörerische Argumentation vor Augen geführt und dagegen das sinnkritische Postulat der »Selbsteinholung« des Denkens geltend gemacht. 39 Philosophiegeschichtlich rekonstruiert in: Böhler, 1985, S. 31–79, 105–164, vgl. S. 80–104. 36 Jon Hellesnes, »Die Achillesferse des reduktiven Naturalismus«, in diesem Band. 37 Als modernes pars pro toto hebt Hellesnes (a. a. O.) hervor: Patricia Churchland, Neurophilosophy: Towards a unified science of the mind-brain, Cambridge 1986. Hans Jonas rekonstruiert den zugrundeliegenden Physikalismus durch Rückgang auf die Berliner Physiologen um Gustav Magnus, Ernst Brücke, Emil du Bois-Reymond und Hermann L. F. von Helmholtz: Macht oder Ohnmacht der Subjektivität, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 425–509, bes. S. 427–434. Eine avant la lettre transzendentalpragmatische Kritik gibt Karl-Otto Apel: »Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik«, in: Apel, 1973, Bd. II, S. 96–127, bes. S. 101–114. 38 Hans Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 463 f., vgl. S. 465 ff. und 436 ff. 39 Apel, 1988, »Selbsteinholung« im Sachregister; ders., Paradigmen der Ersten Philosophie, Frankfurt a. M. 2011, S. 295–302; ders., Transzendentale Reflexion und Geschichte, Frankfurt a. M. 2017, S. 38–50, bes. S. 46 ff.; Jon Hellesnes, »Das Selbsteinholungsprinzip und seine Feinde«, in: M. Borelli u. M. Kettner (Hg.), Filosofia trascendentalpragmatica. Transzendentalpragmatische Philosophie, Cosenza 2007, S. 225–234; Böhler 2013/2014, S. 267–280 und Sachregister; ders. u. Horst Gronke, Art. »Diskurs«, in: P. Kolmer u. A. G. Wildfeuer (Hg.), Neues Handbuch philosophi35
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Mit einer immanenten und ökologischen Wissenschaftskritik ertastete der Phänomenologe und philosophische Biologe Hans Jonas 1968 eine Ethik der Zukunftsverantwortung, und zwar in einem Vortrag auf dem wirtschaftstheoretischen New Yorker Symposion zu Ehren des mit Max Horkheimer befreundeten, aber von Max Webers Wertfreiheitspostulat durchdrungenen Ökonomen Adolph Lowe alias Löwe. Jonas’ Vortrag »Socio-Economic Knowledge and Ignorance of Goals« deckte ebenfalls das Desiderat einer weltgeschichtlich neuartigen Verantwortung auf und postulierte eine »selfless responsibility for the long-term future« 40. Eine solche Verantwortung sei – das hebt Jonas hervor – nicht allein angesichts der räumlich und zeitlich kaum beschränkbaren Auswirkungen der hochtechnologischen Industriegesellschaft geboten, sondern auch angesichts unseres wissenschaftlichen Defizits, ja Unvermögens, diese Auswirkungen hinreichend zu erkennen oder gar zu steuern. Denn dieser technologische und wissenschaftliche »fact of ignorance« müsse von den Sozialwissenschaften anerkannt und dem ›socio-economic knowledge‹ wie auch dem (gesuchten) Imperativ der Verantwortung einverleibt werden. Auf sein Werk Das Prinzip Verantwortung vorgreifend, münzt Jonas also schon 1968 das wissenschaftliche Erkenntnisdefizit um in praktische Vernunft. Er skizziert ein Wissen des Nicht-Verantwortbaren und entwirft ein Prinzip der Vorsicht. So formuliert er wirtschaftsethische Vorformen seiner späteren Verantwortungsimperative wie: »Act so that the effects of your action are not destructive of the possibility of economic life in the future«. 41 Der dritte und letzte Band von Jonas’ philosophischen Hauptwerken in unserer Kritischen Gesamtausgabe 42 (kurz: KGA) setzt
scher Grundbegriffe, Freiburg i. Br. 2011, bes. S. 554 ff.; dies., »Hic Rhodus, hic salta: Sich-Verantworten im Diskurs. Grundriß der Diskursethik«, in: M. Borelli u. M. Kettner, Filosofia trascendentalpragmatica. Transzendentalpragmatische Philosophie, Cosenza 2007, S. 499–589. 40 Hans Jonas, in: KGA I/2, Zweiter Teilband, S. 20. 41 Hans Jonas, in: KGA I/2, Zweiter Teilband, S. 40. 42 Zwölf Jahre nach Hans Jonas’ Tod (1993) wurde mit ersten Vorbereitungen zu einer Kritischen Gesamtausgabe seines Werkes begonnen. Inzwischen sind im RombachVerlag, Freiburg, und in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, sieben umfangreiche Bände erschienen, darunter die moralphilosophischen Grundlegungsarbeiten als KGA I/2.1: Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2014, und die ethischen Anwendungsschriften als
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den wirtschaftsethischen Vortrag an den Anfang. Bernadette BöhlerHerrmann und ich hielten das für den angemessenen Auftakt des umfangreichen Bandes I/2.2 mit dem Titel »Tragweite und Aktualität einer Zukunftsethik«.
KGA I/2.2: Das Prinzip Verantwortung. Zweiter Teilband: Tragweite und Aktualität einer Zukunftsethik, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2017.
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II Eine moralische Prinzipienfrage: Warum zukunftsverantwortlich sein?
II 1. Eine Zeitbombe tickt. Wir sind Mitbeteiligte und Mitwisser, also moralisch verpflichtete Diskurspartner Daß nicht allein Politiker und Wissenschaftler, Wirtschaftler und Finanzleute, sondern wir alle für das Schicksal der Menschheit in der hochtechnologischen Gefahrenzivilisation, wenngleich nicht eigentlich verantwortlich, so doch mit-verantwortlich sind, weil wir »in den Nahinteressen« befangen und weil wir mögliche Diskursteilnehmer sind, das haben die Diskursphilosophen geradezu unermüdlich hervorgehoben. 1 Und Jonas betont, daß wir alle, z. B. als Konsumenten, Flugzeugbenutzer und Autofahrer, aufgrund unserer Lebensgewohnheiten in die Verursachung mitverstrickt sind: »[Eine] Zeitbombe tickt, während wir einfach so leben, wie wir es tun als Mitglieder der westlichen technischen Zivilisation, und woran jeder von uns mitwirkt. Indem wir in unser Auto steigen und durch die Gegend fahren und indem wir an dem großen Güterreichtum des modernen Lebens teilnehmen und indem wir all diese Dinge benutzen, für die Wälder abgeholzt werden, für deren Herstellung ganze Gegenden chemisch vergiftet werden, die Verschmutzung der Atmosphäre, der Gewässer, des Bodens, die Ausraubung der Biosphäre, der ganzen Lebenswelt durch Überbeanspruchung, durch Ausrottung von Arten oder auch nur durch solche Änderungen der Umwelt, daß gewisse Arten nicht mehr lebensfähig sind. Was tun wir da? Kurz und gut, [wir wirken mit an der] Ausplünderung und eventuelle[n] Vernichtung unserer natürlichen Umwelt und der biologischen Gefährdung des Menschen [eingeschlossen auch das, was der Mensch] mit
Dazu die Beiträge von Apel und Böhler in: Karl-Otto Apel u. Holger Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik, Würzburg 2001 (zit.: Apel/Burckhart, 2001), bes. S. 47 ff., 62 ff., 69 ff., 75 ff. und 103–112.
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seinen eigenen Lebensumständen macht, einschließlich ganz willkürlicher genetischer Manipulation.« 2
Eben das können wir als mögliche Teilnehmer am öffentlichen Diskurs wissen. Ebenso können wir wissen, daß wir Nutznießer eines Wohlstandskapitalismus der nördlichen Hemisphäre sind, dessen permanenter Wohlstandsfortschritt auf einer extremen ökonomischen und sozialen Ungleichheit aufgebaut ist – sowohl im Weltmaßstab zwischen Nord und Süd, zwischen Rohstoff-Förderern und Rohstoff-Verwertern, als auch in Europa selbst, z. B. zwischen bessergestellten Haushalten und armen oder gar wohnungslosen Personen, fast 900.000 in dem reichen Deutschland. Das wissen wir, und an diesem, auch ökologisch verflochtenen, Ungleichheitszusammenhang haben wir Anteil. 3 Unleugbar sind wir beides zugleich: sowohl faktische Mitbeteiligte und Mit-Profiteure als auch mögliche Diskurspartner. Also sind wir in doppelter Hinsicht mitverantwortlich.
II 2. Dimensionen des Moralischen heute. Mit-Verantwortung in der technologischen Gefahrenzivilisation Eine vergleichbare, wiewohl noch nicht derart dramatische Situationseinschätzung hatte Karl-Otto Apel schon 1967 bzw. 1973 dazu provoziert, drei Verantwortungsbereiche der modernen Menschen zu unterscheiden. 4 In diesem Sinne eröffnete ich 1980 das »Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik«: Ethische Probleme treten gegenwärtig in drei verschiedenen Auswirkungsbereichen menschlicher Handlungen auf: in einem Nah- oder Mikrobereich der unmittelbaren Interaktion zwischen Menschen im sog. Privatleben, außerdem in einem Mittel- oder Mesobereich der Interaktion politischer Handlungssubjekte, welche Gruppen- oder Nationalinteressen vertreten, und schließlich in einem Groß- oder Makrobereich solidarischer Verantwortung der Menschheit für das Lebensinteresse der menschlichen Gattung, bezogen nicht allein auf die Gegenwart, sondern auf die kommenden Generationen. Hans Jonas, »Erkenntnis und Verantwortung. Stationen eines Denklebens: Gespräch mit Ingo Hermann«, in: Böhler/Brune, Hg., 2004 (zit.: Jonas, 2004), S. 450 f. 3 Vgl. Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2017. Vgl. SPIEGEL ONLINE, 14. Nov. 2017, nach Schätzung der »Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosigkeit (BAGW)«. 4 Apel, 1973, Bd. II, S. 359–361. 2
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Zudem zeigt sich weltgeschichtlich erstmals, daß ethisch bedeutsame Entscheidungs- und Regelungsprobleme des Mikro- und Mesobereichs heutzutage die Tendenz haben, zu solchen des Makrobereichs zu werden: Z. B. wird das scheinbar private Intimsphären-Problem der Geburtenregelung zu einer Streitfrage internationaler Konferenzen über die Gefahren einer Überbevölkerung der Erde. Heute ist hinzuzufügen: Auch die individuelle Fortbewegung mit dem Auto oder per Flugzeug schafft Makroprobleme, da sie sich schädlich auf das Klima auswirkt, so daß Klimaschutz auch in die Mitverantwortung der einzelnen als Verkehrsteilnehmer fällt. Vor allem Protestbewegungen wie »Fridays for Future« und »Extinction Rebellion«, Umweltverbände und akademische Initiativen wie das »Hans Jonas-Zentrum e. V.« ziehen daraus die Engagementkonsequenz. Überdies haben im Atomzeitalter die klassischen Probleme der politischen Staatsräson – so etwa die der Diplomatie und ihrer militärischen Fortsetzung – auf den Abrüstungskonferenzen der Weltmächte eine Makrodimension angenommen, die schon deshalb nicht nur machtstrategisch, sondern auch moralisch relevant ist, weil das Überleben der Menschheit davon abhängen kann.
In den 38 Jahren, die seit jener Analyse vergangen sind, hat sich nicht nur gezeigt, daß Nachhaltigkeit eine schwer zu bewältigende Daueraufgabe der Menschheit bleibt, sondern daß sich brisante Probleme zum Teil erheblich zugespitzt haben – etwa das Klimaproblem und das Atomproblem. Kaum weniger dramatisch als die gebremste, aber keineswegs ausschließlich von der neuen Atommacht Nordkorea betriebene atomare Rüstung sind die Folgenprobleme der Atomenergie zur Stromerzeugung. Zudem steht, wie Günter Altner analysierte, der gesellschaftliche Diskurs selbst vor »›fast‹ ausweglosen Schwierigkeiten«. 5 Diese wurden in den siebziger und achtziger Jahren, wie Jon Hellesnes aufdeckt 6, von postmodernistischen Mystagogen wie Baudrillard und mancherlei »Bullshit-Texten« (Gerald A. Cohen) verschärft. Heute spitzen sich die Schwierigkeiten des öffentlichen Diskurses durch neue, rechts- und trump-populistische Formen eines banalen Bösen zu, welche die Selbstdistanz aushebeln, die uns ein »Begleitdiskurs« Günter Altner, »Nachhaltigkeit – über die ›fast‹ ausweglosen Schwierigkeiten des gesellschaftlichen Diskurses«, in: J. O. Beckers, F. Preußger u. Th. Rusche (Hg.), Dialog – Reflexion – Verantwortung. Zur Diskussion der Diskurspragmatik, Würzburg 2013, S. 297–314. 6 Jon Hellesnes, »Das maßlose Raffinement oder Erfolg durch intellektuelles Harakiri«, in: ebd., S. 265–275. 5
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Eine moralische Prinzipienfrage: Warum zukunftsverantwortlich sein?
ermöglicht. 7 Hinzu kommen die Folgeprobleme der Digitalisierung. Es scheint klar zu sein, daß die digitalen Schübe der vierten industriellen Revolution sich in allen drei Auswirkungs- und Verantwortungsdimensionen abspielen: Mikro-, Meso- und Makrobereich. Jedenfalls zeigt sich, daß die Folgen der Digitalisierung global auf Arbeitswelt, Lebenswelt und – z. B. in der Pflege – auf die Mikrodimension des Ich-Du-Verhältnisses durchschlagen. Grundsätzlich drängt sich im Anschluss an Hans Jonas hier die Frage auf, ob bzw. in welchem Ausmaß die tendenzielle Übergriffigkeit der elektronischen Medien, welche weder Freizeit noch Ruhe und Erholung kennen, und deren uneingeschränkte Überwachungsfähigkeit und Effizienzorganisation vereinbar sind mit der Achtung der Menschenwürde. Das indiziert einen kategorial anderen Bereich, eine vierte Auswirkungs- und Verantwortungsdimension. Ich habe vorgeschlagen, sie als moralische Tiefendimension zu bezeichnen. 8 Denn es geht hier nicht allein um die Anwendungschancen des Moralprinzips, sondern auch um die Anerkennung seiner Verbindlichkeit. Nicht allein in der digitalen Hochtechnologie, auch und gerade in der medizinischen Forschung und Praxis greifen Tendenzen zur Neutralisierung und Nichtachtung des Prinzips Menschenwürde selbst. Es sind Tendenzen, die sich im Selbstverständnis der Techniker und Forscher 9, im Zeitgeist und im Anspruch auf Lebensqualität niederschlagen. Das führt zur Unterordnung sowohl der »Idee des Menschen« und ihres moralischen Wert- und Normbegriffs ›Menschenwürde‹ als auch der naturethischen Intuitionen im Sinne einer ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ unter persönliche Interessen des Mikrobereichs oder partikulare Interessen des Mesobereichs. Im Mikrobereich werden vom medizintechnischen Fortschritt Heilungswünsche im Blick auf Morbus Parkinson, Multiple Sklerose Dazu grundsätzlich: Bernadette Herrmann, »Das Problem des Bösen und der Begleitdiskurs«, in: ebd., S. 99–106. Zum Begriff »Begleitdiskurs« hier: Abschnitt II.3.2 und Widmungsseite. 8 Böhler, 2013/2014, S. 421. 9 Das Prinzip der Menschenwürde führt Hans Jonas in seinem ethischen Hauptwerk vor allem mit Rekurs auf die biblische Lehre von der Gottesebenbildlichkeit ein (Jonas, 1979, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 100, 419 f., 527, 542 f., vgl. S. 93 f., 263 f. und 390 ff.). Die Sorge um die Achtung der Menschenwürde motiviert auch seine politischen, judaistischen, zionistischen, medizinethischen und bioethischen Erörterungen. Vgl. KGA I/1, S. XIX, LV, LVII, LXXIV, 320 f., 388, 598; ferner KGA III/ 2, S. XXXVIII f., 62, 99, 104, 106 f., 110 f., 125 f., 149, 383, 385 ff., 394, vgl. S. 437 und 494. 7
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Eine moralische Prinzipienfrage: Warum zukunftsverantwortlich sein?
und Diabetes mellitus angesprochen oder auch der Wunsch kinderloser Ehepaare nach eigenen Kindern (In-vitro-Fertilisation). Die angebotenen Techniken können mit der moralischen Prinzipienorientierung, vor allem dem Menschenwürdegrundsatz, kollidieren. Das ist zumal der Fall bei der »verbrauchenden« Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen und im Falle der Reproduktionstechnik »PID«. Im Falle der Stammzellforschung ergibt sich eine derartige Kollision auch im Mesobereich, nämlich der Medizinindustrie. Ein deutsches Beispiel ist Oliver Brüstle als Forscher an Humanstammzellen, der zugleich Unternehmer in dieser Sache ist. Das Ineinander dieser vier Auswirkungsdimensionen des Handelns in der technologischen Zivilisation stellt neuartige Wissensanforderungen. Diese provozieren dazu, eine Ethik der Diskurse bzw. des Umgangs mit Wissen zu entwickeln. Dabei begegnen sich wiederum die nicht-metaphysische Diskurs-Verantwortungsethik und die metaphysische Wert-Verantwortungsethik von Jonas.
II 2.1. Wozu sind wir bei defizientem Folgenwissen (Jonas: »Nichtwissen«) verpflichtet? Ökologische Vorsicht Nach einer Kritik daran, daß die traditionelle Ethik auf den Nahhorizont einer Nächstenmoral, Familien- und Nachbarschaftsmoral beschränkt gewesen sei, stellt Jonas die geradezu diskursethische Forderung auf: ›Beschafft Euch Wissen!‹ Allerdings gelangt er sogleich zu einem ernüchternden Resultat. Denn das Wissen über die Folgen des Handelns in nichtgeschlossenen Systemen, ein Folgenwissen für die geschichtliche Welt und für die Biosphäre der Erde, kann nie das einer exakten Prognose sein. Es bleibt stets unzulänglich. 10 Daraus ergibt Die wissenschaftstheoretische Pointe dieser Einsicht kommt mehr oder weniger mit Karl R. Poppers fallibilistischem Denken überein: Karl R. Popper, »Naturgesetz und theoretische Systeme«, in: Hans Albert (Hg.), Theorie und Realität, Tübingen 1964. Vgl. die praxeologische Wissenschaftspragmatik Gunnar Skirbekks, welche – im Unterschied zum absoluten Fallibilismus der Popper-Schule – einen vorsichtigen Fallibilismus vertritt, diesen aber in Form eines »gradualistischen Meliorismus«, welcher die »Kontextbezogenheit« und Beispielabhängigkeit der Vernunft betont, auch auf die sprachpragmatische Selbstreflexion der Vernunft bezieht: G. Skirbekk, Praxeologie der Moderne. Universalität und Kontextualität der diskursiven Vernunft, Weilerswist 2002, bes. S. 208 f.; vgl. S. 203–212, 133–137, 65–88. Dazu meine Kritik: »Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Ein (wirtschafts-)ethischer Richtungsstoß
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sich das scheinbar paradoxe Ausgangsproblem einer Zukunftsethik als Wissens- und Diskursethik: »Daß das vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht gibt, zurückbleibt, nimmt selbst ethische Bedeutung an. Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik.« 11
Wenn das aber gilt, dann folgt für die Diskurspartner der Imperativ: ›Laßt euch nur auf solche Maßnahmen, Techniken etc. ein, deren Folgen sich kompensieren lassen. So nämlich, daß sie mit der Rücksicht gegenüber den möglichen Betroffenen – auch den zukünftigen Betroffenen – vereinbar sind, was insbesondere die ökologische Nachhaltigkeit einschließt, allgemein aber den Verzicht auf solche folgenirreversible Handlungsweisen erfordert, die deshalb nicht irren dürfen, weil sie das Leben der Handlungsbetroffenen auslöschen können.‹ 12
Der Grund der Verbindlichkeit dafür ist: Mit eurer nicht sinnvoll bezweifelbaren Vernunftrolle als glaubwürdiger Diskurspartner habt ihr den (die vier Geltungsansprüche umfassenden) Gültigkeitsanspruch der argumentativen Konsenswürdigkeit vorausgesetzt. Dieser tragende Anspruch zielt auf sorgsame, explorative und kritische Diskurse. Verlangt er doch die Berücksichtigung aller guten Gründe – selbstverständlich auch derjenigen, die für mögliche Betroffene advokatorisch geltend zu machen sind. Dieser uneingeschränkt universalistische Anspruch schließt das fundamentale Diskurs- und Handlungsprinzip mit moralischem Imperativ ein: ›Laßt nur solche Argumente gelten und nehmt nur solche Handlungsfolgen in Kauf, für die ihr (als Argumentationspartner) den argumentativen Konsens aller als möglicher Diskurspartner, einschließlich der advokatorisch zu Vertretenden, erwarten könnt.‹
»Langsam, langsam« – oder: »wie das?« wirft der Skeptiker ein: »Damit unterstellst du, daß eine universal einsichtige Pflicht besteht, zu-
der Berliner Diskurspragmatik und Diskursethik«, in: Th. Bausch, D. Böhler u. Th. Rusche (Hg.), Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral?, EWD-Bd. 12, Münster 2004, S. 125. 11 Jonas, 1979, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 33; dazu KGA I/1, S. LVIII ff. 12 Das hat z. B. grundlegende Bedeutung für Entscheidungen über Atomenergie und über den Umgang mit ungeborenem Leben. Dazu hier Abschnitt II.4.1.
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kunftsverantwortlich zu sein, also strikt moralisch. Dagegen stelle ich die Grundfrage: Warum denn moralisch sein?« 13
II 3. Transzendentalpragmatische Grundfrage: Was bringen wir a priori ins Spiel, wenn wir etwas geltend machen und kommunizieren? Blicken wir auf uns selbst. Fragen wir uns: Was tun wir immer schon und notwendigerweise, wenn wir sprechen oder denken? Wann immer wir reden oder denken, adressieren wir zunächst die faktisch Anwesenden oder uns selbst als unser alter ego. Wir begeben uns mit uns selbst oder mit den anderen in einen Diskurs, indem wir (implizit) dialogbezogene Ansprüche erheben und ebensolche Erwartungen wecken.
II 3.1. Diskursglaubwürdigkeit und die anderen Geltungsansprüche Und weiter: Was bringen wir als Diskursteilnehmer unvermeidlicherweise (stillschweigend) ins Spiel, wenn wir z. B. eine Frage stellen oder wenn wir etwas behaupten? Eine Frage ist ebenso wie eine Behauptung eine Sprachhandlung, die Geltungsansprüche einschließt. Jürgen Habermas hat diese aufgedeckt, aber m. E. zum Teil, nämlich im Falle des sogenannten Wahrhaftigkeitsanspruchs, verkürzend definiert und in eine schiefe Architektonik gebracht. Denn nur zwei, nämlich die Ansprüche auf »Wahrheit« der Aussage und auf »Richtigkeit« der ins Spiel gebrachten Normen, Erwartungen und Handlungsweisen, zeichnet er als diskursiv einlösbar aus und würdigt sie damit als eigentliche Geltungs-Ansprüche. Hingegen sieht er die vom Sprecher beanspruchte »Wahrhaftigkeit« und die von ihm unterstellte »Verständlichkeit« als nicht diskursiv prüfbar an. 14 Zudem verengt Habermas die Wahrhaftigkeit gewissermaßen auf den Innenraum des Zu dieser Begründungsfrage: Jonas, 1979, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 63 f.; Apel, 1988, S. 8 und 346–358; Dietrich Böhler, »Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und Mit-Verantwortung«, in: Apel/Burckhart, 2001, S. 15–68. 14 Jürgen Habermas, »Wahrheitstheorien«, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 127–183, hier: S. 138 f; ders., »Was heißt Universalpragmatik?«, in: ebd., S. 353–440, hier: S. 354 f. 13
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Subjekts, indem er diesen Anspruch nur auf die Intention des Sprechers bezieht, nicht aber auf die Erwartungserwartungen, die der Sprecher durch seine Teilnahme am Diskurs a priori weckt und die sich auf seine Verläßlichkeit als Kooperationspartner beziehen. Elementar ist der Anspruch auf Verständlichkeit/Sinngültigkeit: So gehen wir immer schon davon aus, daß z. B. eine Frage, die wir jemandem stellen, für den anderen verständlich ist; zumindest soweit, daß sich ihr Sinn durch Nachfragen präzisieren läßt und daß sie sich als Beitrag zur Klärung der Sache herausstellt. Zugleich beanspruchen wir nicht allein die Wahrhaftigkeit der Intention, die wir mit unserer Äußerung, z. B. einer Frage, verfolgen, sondern darüber hinaus Glaubwürdigkeit für uns als Partner, auf den sich die anderen verlassen können. Und diese Verläßlichkeit in den Augen der Anderen beanspruchen Diskurspartner nicht bloß momentan in dem jeweiligen Gespräch, sondern auch in der damit zusammenhängenden Praxis: Als Diskurspartner meinen wir unsere Äußerung ernst, erwarten auch eine ernsthafte Antwort und setzen damit voraus, daß wir in den Augen der Angesprochenen als glaubwürdig gelten und als verläßliche Partner genommen werden – sowohl im Diskurs, insofern wir allein wahrheitsfähige Argumente suchen sollen/wollen 15, als auch in der Praxis, wo wir das zu bewähren haben, was wir im Diskurs klären, erkennen und als Handlungsmaßgabe festlegen. Anderenfalls wäre auf uns kein Verlaß: »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen« (Matthäus 7,16 und 20). Ich vertrete also die beiden Thesen, daß – erstens – Diskurs und Praxis, zumal der Glaubwürdigkeitsanspruch und die praktische Bewährung, geradezu verwoben sind. Und zweitens, daß dieses Verwobensein eine moralische Mitverantwortung des Diskursteilnehmers für die »Regulierung des Handelns« außerhalb des Diskurses einschließt. Jürgen Habermas weist das als »überschwenglich« und »fundamentalistisch« zurück. 16 Es fragt sich mithin: Läßt sich die Unhintergehbarkeit des Glaubwürdigkeitsanspruchs erweisen? Sind wir Dazu: Dietrich Böhler, »Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Ein (wirtschafts-) ethischer Richtungsstoß der Berliner Diskurspragmatik und Diskursethik«, in: Th. Bausch, D. Böhler u. Th. Rusche (Hg.), Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral?, EWD-Bd. 12, Münster 2004, S. 105–148. 16 Jürgen Habermas, »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung«, in: D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. 2003, bes. S. 49 ff., 62 ff.; ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, S. 96, auch S. 105–108. 15
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als Diskurspartner auch zu einer entsprechenden Praxisbereitschaft verpflichtet? Prüfen wir, ob ein Verbindlichkeitserweis für diesen Geltungsanspruch wie auch für die anderen möglich ist, wenn man den Zweifler aus seiner theoretischen Einstellung, in der er (hier Habermas) den Zweifel oder die Ablehnung vorbringt, herauszieht und ihn in einen reflexiven Dialog hineinnimmt, indem man ihn direkt befragt: ›Kannst du, Zweifler, mit Recht, nämlich als Denkender und damit als (möglicher) Diskurspartner, von deinen Diskurspartnern erwarten, daß sie mit dir bei der Problemlösung in der Diskussion etc. kooperieren, obwohl du eine Unverbindlichkeit des Diskurses behauptest, wenn es darum geht, dessen Ergebnisse in die Praxis umzusetzen? 17 Kannst du es als sinnvoll und auch nur als zumutbar erachten, einen Diskurs mit jemandem zu führen, der dessen Relevanz grundsätzlich in Frage stellt?‹ Einen so fragenden reflexiven Dialog kann der Zweifler nur verlieren, weil sich der Zweifel in diesem Dialog nicht durchhalten läßt, anderenfalls der Zweifler unglaubwürdig wird und daher seine Anerkennungswürdigkeit als Diskurspartner einbüßt … Der Glaubwürdigkeitsanspruch umgreift den Diskurs. Er ist der übergeordnete Geltungsanspruch. Die anderen Geltungsansprüche hängen von ihm ab. Neben den genannten Geltungsansprüchen auf Verständlichkeit und Glaubwürdigkeit erheben wir a priori und notwendigerweise mit jedem Sprechakt auch Gültigkeitsansprüche im engeren Sinne: den Geltungsanspruch auf Wahrheit und den Geltungsanspruch auf Legitimität bzw. Richtigkeit. Kein vernünftiger Gedanke und keine sinnvolle Rede, ohne daß, zumindest implizit, alle vier Geltungsansprüche im Spiel sind. Sie finden sich zwar meist nicht in der geäußerten Aussage oder Fragestellung selbst, aber sie begleiten und tragen diese: Sie geben ihnen den Geltungssinn, so daß die Angesprochenen wissen, worauf sie sich einzustellen haben. Im Blick darauf konnte Jürgen Habermas anfänglich von der »Doppelstruktur« einer einfachen, logisch verständlichen Äußerung sprechen. 18 Sie bestehe aus dem propositionalen Gehalt (der Aussage Dazu: Dietrich Böhler, »Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und Mit-Verantwortung«, in: Apel/Burckhart, 2001, S. 15–68, bes. S. 50–58; Böhler, 2013/2014, bes. S. 294 ff. 18 Jürgen Habermas, »Was heißt Universalpragmatik?«, in: ders., Vorstudien und Er17
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im »daß«-Teil eines Satzes) und der eigentlichen Sprachhandlung, dem performativen Akt, in dem die Handlungsweise steckt (stelle ich z. B. eine Frage oder will ich direkt etwas behaupten etc.?). Dieser Akt macht es möglich, daß andere verbindlich angesprochen werden; denn in ihm sind die Geltungsansprüche eingeschlossen. Verständlich und diskutierbar ist eine sprachliche Äußerung nur dann, wenn ihre beiden Teile miteinander harmonieren, so daß sie als dialogische Handlung, d. h. pragmatisch, konsistent ist – oder performativ widerspruchsfrei, wie seit Habermas (verengend) gesagt wird. Andernfalls liegt ein pragmatischer Widerspruch vor: die Äußerung ist sinnlos und scheitert im Diskurs der Argumente. Als ausgesprochener Theoretiker und Vertreter einer formalen »Diskurstheorie« hält sich Habermas mit moralischen Argumenten absolut zurück. Schade. Denn hier ergibt sich eine moralisch bedeutsame Schlußfolgerung. Sie lautet:
II 3.2. Wir sind (unausdrücklich) immer schon in einem Begleitdiskurs. Unsere mitgängige Diskurspartner-Rolle führt moralische Verbindlichkeiten mit sich: Implizite Dialogversprechen a priori Audun Øfsti ergänzte Habermas’ Analyse, indem er zeigte, daß man zu jeder formal vollständigen Äußerung noch einmal mit einer solchen Stellung beziehen können muß, um die eigene Äußerung einholen zu können. Daher spricht er von einer »doppelten Doppelstruktur«. 19 Bei der stellungnehmenden Äußerung handelt es sich um die Kurzform eines Begleitdiskurses zu der ersten Äußerung. Tendenziell sind wir immer schon in einem inneren Monolog/Dialog, der als Begleitdiskurs bestimmt werden kann. »Die genauere Bestimmung des Begleitdiskurses nährt sich«, wie Bernadette Herrmann bemerkt 20, »zum Teil aus der Rekonstruktion wesentlicher Elemente früherer Versuche, Teile dieses Phänomens begrifflich zu fassen. Hervorheben gänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 127– 183. 19 Audun Øfsti, Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie, Würzburg 1994. 20 Bernadette Herrmann, Diskussionsbeitrag »Der Begleitdiskurs« zu D. Böhlers Ethikvorlesung Sommersemester 2003.
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möchte ich hier Kants Konzeption der ›Vorstellung Ich denke […], die alle anderen muß begleiten können‹ 21, sowie die Konzeption des Gewissens, wie sie sich z. B. in der christlichen Tradition bei Thomas von Aquin findet. 22 Nach ihrer Transformation erscheint mir aus den beiden genannten Konzeptionen […] je ein Aspekt besonders hervorhebungsund bewahrungswürdig: Bei Kants ›Ich denke‹ ist dies das Ich-Bewußtsein, das mit dem Bewußtsein der Vorstellungen als je ›meiner‹ verwoben ist, also seine Reflexivität. Die Reflexion als Rückgang auf ›meine‹ Rolle als (hier: mit meiner Handlung auf eine Situation antwortender) Diskurspartner und ihre Sinn- und Möglichkeitsbedingungen wurde von Kant, der methodisch solipsistisch vom einzelnen Vernunftsubjekt ausging, freilich nicht angestellt, da er die kommunikativen Voraussetzungen des ›Ich denke‹ wie auch des Denkens überhaupt nur selten berücksichtigte. Für das Gewissen ist neben der Reflexivität entscheidend, daß es sich als begleitende innere Beratungs- und Urteilsinstanz auf Handlungen (bzw. bewußtes Verhalten inklusive Handlungsverzicht) bezieht und damit deren Auswirkungen auf betroffene Andere oder auf mich selbst wesentlich im Blick hat (wenn dies auch oft verdeckt wird durch die Rede vom Verstoß gegen die göttliche Ordnung bzw. das Naturrecht).« In diskurspragmatischer Aufhebung zumal von Kants subjektphilosophisch, also vorkommunikativ formuliertem »höchsten Punkt«, »Das: Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können« 23, läßt sich sagen: Der Ansatz zu einem Begleitdiskurs – etwa »ich versichere (verspreche euch), daß mein Diskursbeitrag ernst gemeint und meine Behauptung ›x ist p‹ wahr (zumindest wahrheitsfähig) ist« – muß mit allen unseren Handlungen einhergehen können. 24 Den rudimentären Begleitdiskurs entfalten wir zumal
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 132. Thomas bestimmt conscientia als Anwendung praktischen Wissens auf eine Handlung, nämlich »quodammodo dictamen rationis«, insbesondere um zu beurteilen, ob »etwas getan oder nicht getan werden soll«, Summa theologica I, 79, 13c; vgl. De Veritate 17, 1c. Dazu H. Reiner, Art. »Gewissen«, in: HWPh, Bd. 3, S. 574–592, hier 582 f. 23 Kant, a. a. O. 24 Vgl. Böhler, 1985, S. 60 ff.; vgl. S. 306 f. und 359 ff. Vgl. Audun Øfsti, a. a. O., S. 112 ff., 123 ff.; vgl. S. 94 ff. 21 22
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dann, wenn wir nach den Gründen unseres Handelns gefragt werden und uns ver-antworten, also Rede und Antwort stehen. Der Begriff »Begleitdiskurs« hat zwei Aspekte, einen strikt transzendental-dialogischen und einen empirisch-dialogischen bzw. kommunikativen. Transzendental bezieht er sich auf das Apriori der möglichen Selbsteinholung eines Kommunikationsteilnehmers als Vernunftwesen, ähnlich Kants »Ich denke«, nun aber sprachpragmatisch reformuliert als »Ich behaupte (und verspreche)«, das alle meine Aktivitäten begleiten können muß. Es ist dieses Apriori, welches für die Begründung der Ethik erforderlich und entscheidend ist, weil es sich differenzieren läßt in unhintergehbare Präsuppositionen des Argumentierens. Diese Sinnund Geltungsvoraussetzungen lassen sich, wie hier durchgeführt, transzendental dingfest machen: als Geltungsansprüche und Dialogverpflichtungen/Dialogversprechen a priori, welche unumstößliche moralische Kriterien für das Gesollte und das Verantwortbare sind. Der andere Aspekt ist insofern empirisch, diskurs-empirisch, als er sich auf das gestufte Phänomen der faktischen Diskursführung und des tatsächlichen Selbstverständnisses eines Akteurs und Diskutanten bzw. Nachdenkenden bezieht. Dessen Selbstverständnis kann sich typisch aufstufen. Diese Stufung reicht von amoralischer Selbstvergewisserung bis zur Selbsteinholung eines achtsamen Partners im argumentativen Diskurs über die Selbstverantwortung oder die eigene Mitverantwortung gegenüber denen, die von der eigenen Handlung betroffen sind oder es doch sein können. Auf dieser höchsten Stufe des Begleitdiskurses werden die vier Geltungsansprüche des glaubwürdigen Diskurspartners uneingeschränkt beachtet und ebenso die damit verwobenen Dialogversprechen a priori, von denen im Fortgang dieses Abschnitts (II 3.2) die Rede sein muß. Was nun die erste Stufe des Begleitdiskurses anbelangt, so handelt es sich um die moralisch neutrale Selbstvergewisserung einer vollzogenen Handlung H, etwa so: ›Es ist wahr, daß ich H getan habe‹. Hier ist der Wahrheitsanspruch dominant. Die Wahrhaftigkeit wird ohne den sozialen und damit moralischen Aspekt der Glaubwürdigkeit und bloß in der Selbstbeziehung unterstellt. Auch die Verständlichkeit wird vorausgesetzt. Hingegen wird hier der sozial-moralische Anspruch auf Legitimität bzw. Richtigkeit der Handlung neutralisiert, z. B. egoistisch verkürzt: ›Was ich getan, das ist schon richtig‹ oder institutionalistisch entlastet: ›Ich habe nach Vorschrift gehandelt bzw. auf Befehl‹. Die Selbstverantwortung, die eigene Verantwortung 69 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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oder auch Mitverantwortung für die Handlung gegenüber möglichen Betroffenen ist damit ausgeblendet. Eine erste moralische Aufladung und Aufstufung des Begleitdiskurses ergibt sich, wenn sich zeigt, daß zu der fraglichen Handlung, deren (schädliche) Wirkung auf Dritte gehört, so daß der Wahrheitsanspruch für das eigene Handlungsverständnis nur in dem Maße eingelöst werden kann, wie der Handelnde die Interessen der Betroffenen berücksichtigt und seinen Egohorizont oder den Befehlshorizont überschritten hat. Fortgesetzt wird die moralische Aufstufung dann in dem Maße, wie der Akteur auch den Anspruch auf Wahrhaftigkeit oder Glaubwürdigkeit ernst nimmt. Dadurch kommt dann auch der sozial-moralische Anspruch auf Richtigkeit bzw. Legitimität ins Spiel. Überdies machen sich dann gewisse Diskursverpflichtungen a priori geltend, dann nämlich, wenn die Subjekte eines Begleitdiskurses in einen tatsächlichen oder virtuellen praktischen Diskurs eintreten … Alle Rollen des täglichen Lebens, der Institutionen und auch der Wissenschaft werden getragen von dem möglichen Begleitdiskurs a priori und damit von der impliziten Begleit-Rolle des Diskurspartners. Es ist diese Begleitrolle a priori, welche ermöglicht, daß in unseren Handlungen das Ich-Zentrum samt Freiheit und Gesinnung zum Tragen kommen kann und wir nicht bloß gedankenlos funktionieren. 25 So weit, so gut, mögen Sie sagen, meine Leserinnen und Leser. Wie aber bringt uns die Reflexion auf Geltungsansprüche und den Begleitdiskurs in der Frage nach dem verbindlichen Grund des Moralischseins weiter? Zu dem Handlungswissen, das jeder Kommunizierende und Denkende als Wissen von seinem kommunikativen Handeln implizit schon mitbringt 26, gehört (neben dem impliziten Wissen um die doppelte Dialogstruktur des impliziten Begleitdiskurses und die Geltungsansprüche) ein Begleitwissen davon, daß er mit dem Erheben bzw. dem Vorausgesetzthaben von Geltungsansprüchen bestimmte Diskursverpflichtungen eingegangen ist, die in gewisser Weise auch Praxisorientierungen sind. 27 Nimmt man die Position Vgl. Böhler, 2013/2014, S. 235–244, 256–261, 278–283. Dazu grundlegend: Alberto Damiani, Handlungswissen, Freiburg/München 2009. 27 Anstöße zu dieser Einsicht verdanke ich zum einen der Auseinandersetzung mit Habermas’ praxis- und moralscheuer Diskurstheorie, zum anderen der Insistenz Ber25 26
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des Anderen als die eines Diskurspartners ein und fragt von dort auf sich als Diskurspartner zurück, so erscheinen diese Verpflichtungen als verbindliche Erwartungserwartungen und wie vorab gegebene Versprechen, sich sowohl im Diskurs als auch in der Praxis zu engagieren. 28 In Entsprechung zu dem regulativen Status des Diskursprinzips der idealen Konsensbildung handelt es sich bei den versprechensartigen Bekräftigungen besagter Diskursverpflichtungen a priori um Bemühungszusagen. Ich habe sie »implizite Dialogversprechen a priori« genannt. In der rekonstruktiven Aufdeckung und dem dialogreflexiven Erweis solcher diskurstragenden Erwartungserwartungen sehe ich, neben dem Konzept des Begleitdiskurses a priori, die ausschlaggebende Tieferlegung des moralischen Fundaments der Diskursethik, welche über einen normativen Formalismus hinausführt. 29 Inwiefern? Das auf die regulative Idee der idealen Konsensbildung verpflichtende Diskursprinzip wird durch das Konzept des impliziten Begleitdiskurses (mit der Dialektik von Ich I/Ich II) und durch die Reflexion auf Verpflichtungen, die einem glaubwürdigen Diskurspartner aus der a priori an Geltungsansprüche gebundenen Diskurspartnerschaft ernadette Herrmanns, die auf die praktischen Implikationen der Geltungsansprüche verwies (s. o., Anm. 46). Zugrunde liegt dieser Einsicht der in meiner Rekonstruktiven Pragmatik eingeführte »transzendentalpragmatische Grundsatz« (s. o., Anm. 16). Denn er gibt den Möglichkeitsgrund eines Verbindlichkeitserweises von transzendentalen Diskursverpflichtungen an, denen »implizite Dialogversprechen a priori« entsprechen: Die Möglichkeit eines solchen Erweises läßt sich mit dem transzendentalpragmatischen Grundsatz erklären: Die Bedingungen der Möglichkeit sinnvollen Redens/Diskutierens (daß ›ich‹ nämlich mit meiner Rede die Geltungsansprüche und Diskursverpflichtungen samt den entsprechenden Dialogversprechen einzulösen versuche) sind zugleich Bedingungen der Gegenstände sinnvoller Rede bzw. sinnvoller Argumentation (nämlich daß die rekonstruierten Sinnbedingungen – Geltungsansprüche und Dialogversprechen – wirklich ontologische Entitäten sind, und daß sie so sind, wie hier rekonstruiert). Dieser transzendentalpragmatische Grundsatz bezeichnet das wechselseitige Voraussetzungsverhältnis von transzendentaler Reflexion und Ontologie, insofern er sich auf das kommunikative Handeln und auf Seinsbedingungen des leibhaften Diskursteilnehmers zugleich bezieht. Damit indiziert er m. E. die gemeinsame Basis einer Ontologie des Lebens, das sich zur freien Kommunikation aufstuft, und der transzendentalen Reflexion auf Sinnbedingungen der Kommunikation. 28 Warum? ›Meine‹ möglichen Diskurspartner können mit Recht erwarten, daß ›ich‹ ihnen das Versprechen gebe, den Diskursverpflichtungen a priori auch praktisch gerecht zu werden. 29 Böhler, 2014, S. 287–299, vgl. S. 300–318. 2013 hatte ich erst deren sechs entdeckt: Böhler, 2013, S. 287–299.
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wachsen, nicht allein aufgefächert, sondern substantiiert. Und zwar genau in der Richtung, die das ideale Diskurs-Konsens-Prinzip angibt: Indem es verlangt, sich um die gleiche Berücksichtigung aller sinnvollen und sachgemäß begründeten Argumente zu bemühen, die von irgend jemandem für irgend etwas (auch advokatorisch für ein anspruchsberechtigtes Lebewesen) vorgebracht werden könnten, schließt es zuallererst die Verpflichtung ein, das Leben und darüber hinaus die kommunikative Freiheit, mithin die Denk- und Dialogchancen all derer zu achten und zu schützen, für die widerspruchsfrei Ansprüche geltend gemacht werden könnten. 30 In der zweiten Auflage von Verbindlichkeit aus dem Diskurs (2014) waren sieben Dialogversprechen a priori als Bemühungszusagen aufgedeckt worden. Hier kommt ein weiteres (hier als neue Nr. 7 eingefügt) hinzu. Doch weiß ich nicht, ob damit die Reihe komplett ist. Zur Auffindung bedarf es jedenfalls einer diskursreflexiven Heuristik, geleitet von der sinnkritischen Selbsteinholungsfrage: ›Welche Verpflichtungen a priori kannst du, leibhafter, zeitlich existierender, aber strikt argumentativer Diskurspartner mit Glaubwürdigkeitsanspruch, nicht ohne Selbstwiderspruch in Zweifel ziehen?‹ Die vielleicht nicht vollständige Liste solcher Verbindlichkeiten a priori sei hier aufgeführt. 1.) In den Augen möglicher Argumentationspartner haben wir, weil mit unserem Handeln Geltungsansprüche verwoben sind, je schon stillschweigend versprochen, daß wir uns den Anderen mit prüfbaren Diskursbeiträgen als autonome Diskurspartner zur Verfügung stellen, indem wir uns um widerspruchsfreie und sachlich wahrheitsfähige Beiträge bemühen. Wir haben damit auch versprochen, die eigenen Handlungsgründe dem Diskurs auszusetzen und sie prüfen zu lassen. 2.) Außerdem haben wir – durch unsere Begleitrolle als Diskurspartner – implizit versprochen, die nicht begrenzbare Gemeinschaft aller möglichen Anspruchssubjekte, mithin das Universum der sinnvollen Argumente bzw. der sinnvoll argumentierbaren Lebensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz (selbst- und ergebniskritisch) zu berücksichtigen, also auch advokatorisch 31 nach möglichen besseren Argumenten für die Anderen zu suchen. Vgl. Böhler, 2014, S. 525. Ebd., S. 531 ff. Zur advokatorischen Verpflichtung in der Sache z. B. meine Auseinandersetzung mit Peter Singer: D. Böhler, »Diskursethik und Menschenwürdegrund-
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Denn wann immer es um ein folgenträchtiges Verhalten oder Projekt in einer bestimmten Situation geht, muß ich jedes sinnvolle Argument zur Sache hören und zu berücksichtigen versuchen. Ich darf also weder den Kreis derjenigen, denen ich zuhöre und mit denen ich argumentiere, noch die Argumente, die ich berücksichtige, eingrenzen, sondern bin auf eine unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft und das offene Diskursuniversum als letzte Gültigkeitsinstanz verwiesen. 3.) Auch haben wir mit unseren Geltungsansprüchen, insbesondere dem sozial-moralischen Anspruch der Legitimität bzw. Richtigkeit, unausdrücklich versprochen, allen Anderen gleiche Rechte als möglicher Dialogpartner zuzuerkennen und damit auch ihre Würde zu achten: Diskursgerechtigkeit mit Fairness und Menschenwürde. Würden wir den anderen die Möglichkeit zum direkten oder anwaltlichen Vorbringen ihrer Ansprüche und Argumente nehmen, könnten wir nicht mehr ernsthaft unsere eigenen Gültigkeitsansprüche vertreten. Denn zu deren Einlösung kommt es darauf an, alle sinnvollen Argumente zur Sache gleichermaßen zu berücksichtigen. 4.) Ebenso haben wir implizit versprochen, mitverantwortlich zu sein für den Diskurs als Möglichkeit der Verantwortung jetzt und in Zukunft, d. h. sowohl für die allgemeinen Seinsbedingungen wie auch für die (in konkreten, falliblen Diskursen zu ermittelnden) menschenrechtlichen, ökologischen, sozialen und institutionellen Realisierungsbedingungen öffentlicher Diskurse. Hans Jonas konzentriert sich ganz auf den biologisch-ontologischen Basisaspekt dieser Verantwortung für »die Möglichkeit, daß es Verantwortung gebe«, nämlich für die Existenz verantwortungsfähiger Menschen. 32 Das vierte »Dialogversprechen« erstreckt sich aber nicht allein auf die spezifisch ontologische Bedeutung von »Möglichkeit der Verantwortung«, sondern auch auf deren institutionelle und politische Aspekte. 33 satz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung«, in: K.-O. Apel u. M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 201–231. 32 Jonas, 1979, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 196. 33 Zur Verortung von Jonas’ Verantwortungsbegriff in seiner Ontologie des Lebens und zum diskursbezogenen Sinn der Möglichkeit von Verantwortung: Bernadette Herrmann, »Hans Jonas’ frühe Grundlegung der Verantwortungsethik. Komplementarität von ontologischer Freiheit und moralischer Verantwortung«, in: D. Böhler, H. Gronke u. B. Herrmann (Hg.), Mensch – Gott – Welt. Philosophie des Lebens, Religionsphilosophie und Metaphysik im Werk von Hans Jonas, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2008, S. 73–88. Vgl. Horst Gronke, »Phänomenologie und Ontologie – Wie
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5.) Nicht zuletzt haben wir stillschweigend versprochen, die Fallibilität, die Fehlbarkeit und unser Irrenkönnen bei Situationsanalysen und situationsbezogenen Diskursen zu berücksichtigen. Wie? Indem wir deren Ergebnisse revisionsfähig halten und keine irreversiblen Handlungsweisen empfehlen, deren Folgen mit unseren anderen Dialogversprechen unverträglich sein können und daher unmoralisch sind. Eben das ist z. B. bei dem Bau eines Atomkraftwerks der Fall und – grundsätzlich – auch bei einer Abtreibung. 6.) Schließlich haben wir – als leibhafte Diskurspartner – a priori versprochen, mitverantwortlich zu sein für die Umsetzung der Diskursergebnisse in die alltagsweltlichen und gesellschaftlichen Praxisfelder. Dieses sechste Versprechen haftet an unserem Glaubwürdigkeitsanspruch. Inwiefern? Würden wir in einem praktischen Diskurs zwar nach den besten Lösungsmöglichkeiten für eine Situation suchen wollen, uns dann aber nicht um die praktische Realisierung dieser Lösungen scheren, so könnten wir nicht als glaubwürdig gelten; wir hätten einen L’artpour-l’art-Plauderpartner abgegeben, aber nicht als ernstzunehmender Argumentationspartner an einem Diskurs teilgenommen. 7.) Unser Anspruch a priori, als leibhafte, daher endliche Diskurspartner glaubwürdig zu sein, schließt das Versprechen einer endlichkeitsgemäßen Mitverantwortung für die wißbaren Handlungsfolgen und Zivilisationsrisiken ein. Als Diskurspartner haben wir implizit versprochen, allein solche gefährlichen Nebenfolgen in Kauf zu nehmen, welche die uns gegebene Zeitspanne nicht (relevant) überschreiten, so daß eine institutionelle Kontrollfähigkeit, also konkrete Verantwortungsfähigkeit, gewährleistet ist. Denn als endliche Diskurspartner auf dem endlichen Planeten Erde sind wir nur dann glaubwürdig und zur Mitverantwortung für Handlungsfolgen fähig, wenn sich die in Kauf genommenen Risiken und Gefahren nicht in unkontrollierbare Zeitspannen erstrecken, sondern für uns bzw. für die Gesellschaft gegenwärtig absehbar und kontrollierbar bleiben. Das setzt einen Zeitrahmen von wenigen Generationen voraus. Diesen Zeitrahmen personeller und institutioneller Verantwortungsfähigkeit sprengt z. B. die nukleare Hochtechnologie. Sie wird weltweit, und zwar gegenwärtig in 449 Kernkraftwerken, zur Stromphilosophiert Hans Jonas?«, in: ebd., S. 269–290. Ders., »Einleitender Kommentar«, in: KGA I/1: Organismus und Freiheit, bes. S. CXL ff., vgl. S. CXXVII ff.
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erzeugung eingesetzt, wiewohl der Zeitraum – z. B. beträgt die Halbwertzeit von Plutonium 24.000 Jahre – und das Gefahrenpotential der Entsorgung wenn nicht die Vorstellungskraft, so doch die menschliche Kontrollfähigkeit, mithin auch Verantwortungsfähigkeit, in prometheischem Ausmaß übersteigt. 34 Ganz abgesehen von internen und externen (z. B. terroristischen, militärischen oder geologischen) Gefährdungen des Kernkraftbetriebs. 8.) Das Versprechen der Mitverantwortlichkeit für die Realisierung der Diskursergebnisse in der realen Welt schließt eine Handlungsbereitschaft ein, die auf moralisch riskante Weise über die Bereitschaft zum Diskurs hinausgeht, verbindet es doch die dialogischmoralische Gesinnung mit praktischer, inklusive strategischer, Folgenverantwortung. Wie bereits das vierte und fünfte implizite Diskursversprechen so ist auch dieses, und noch gesellschaftsrelevanter als jene, ein Verschmelzungspunkt von »Gesinnungsethik« und »Verantwortungsethik«: ein moralphilosophischer Brennpunkt des ganzen ethischen Geistes, in dem moralische Prinzipiengesinnung und erfolgsbezogene Weltklugheit zusammenkommen. 35 Als praktisch Handelnde können wir wissen – Max Weber hat dieses Wissen idealtypisch am Beruf des Politikers entfaltet 36 –, daß die gesellschaftliche und schon die alltägliche zwischenmenschliche Praxis vielfach nicht im Sinne argumentativer Dialoge abläuft, daß sie vielmehr von nondialogischen, ja antidialogischen Verhaltensweisen und ebensolchen Verhältnissen dominiert sein kann: z. B. von List, Lüge, Betrug und Gewalt. Immer dann, wenn sich deutlich zeigt, daß ein argumentativer Dialog, sei es mit Diskursverweigerern, sei es angesichts diskurszerstörerischer Strukturen, wo Macht in Gewalt umgeschlagen ist, erfolglos sein dürfte – immer dann wird der verantwortungsbewußte Diskurspartner nach moralischen Strategien suchen. Genauer: nach Zur Aktualität der Prometheus-Metapher: Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, bes. S. 21–95, 239 ff. und 267 ff.; vgl. S. 279 ff.; Hans Jonas, 1979, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 15 f., 277 und XXIV-XXIX, sowie Register »Prometheus«, in: KGA I/2, Erster und Zweiter Teilband. 35 Dazu problemgeschichtlich und prinzipiell: Dietrich Böhler, »Entweder Gesinnungs- oder Verantwortungsethik? Hintergrund und Auflösung eines vermeintlich unauflösbaren Dilemmas – Max Weber kontra Jesus und Kant«, in: Pastoraltheologie, 107. Jg., 2018/1, S. 36–61. 36 Max Weber, »Politik als Beruf«, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hg. von J. Winckelmann, Tübingen 31958 (zit.: Weber, 1958), S. 505–560, bes. S. 549 ff. 34
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solchen Strategien, die sowohl erfolgsfähig als auch so vernunft- und moralaffin sind, daß sie die begründete Zustimmung aller glaubwürdigen Argumentationspartner fänden, welche die gegebene nondialogische, moralwidrige Handlungssituation analysieren würden. 37 (In dem Extremfall, daß ein einzelner Moral- und Diskursfreund allein gegen eine diskurs- und moralfeindliche Umwelt stünde, wäre er ganz auf sein Gewissen angewiesen, d. h. auf einen Begleitdiskurs, der aber – nach »bestem Wissen und Gewissen« urteilend – auch in größter Einsamkeit einen argumentativen Konsens aller möglichen Diskurspartner als solcher sucht.) Kurzum: Als Diskurspartner in der realen Welt mit Diskursund Moralbarrieren oder auch Diskurs- und Moralzerstörungen können wir wissen, daß wir im Sinne des achten Dialogversprechens dazu verpflichtet sind, Mitverantwortung wahrzunehmen für die Entwicklung, die strikt argumentative Prüfung und schließlich für die, möglichst wenig Schaden anrichtende, Durchsetzung einer Konterstrategie. Ein glaubwürdiger Diskurspartner weiß, daß er, bei aller diskursiven Sorgfalt und selbstkritischen Gewissenhaftigkeit, dazu bereit sein muß, sich nötigenfalls die Hände schmutzig zu machen. 38 Soweit habe ich verpflichtende Sinnbedingungen des Diskurses und damit wesentliche Elemente des Moralischen aus unserem Wissen als Diskurspartner rekonstruiert und ihre Verbindlichkeit dargelegt, so daß gilt: Wer etwas geltend macht, etwa eine Behauptung oder eine Frage vorbringt, aber die transzendentalen Diskursverpflichtungen und die entsprechenden Dialogversprechen a priori nicht einzulösen versucht oder ihre Gültigkeit und Verbindlichkeit in Zweifel zieht, der verstrickt sich in einen pragmatischen Selbstwiderspruch, er negiert eine Sinnbedingung der Argumentation. Er büßt, jedenfalls hinsichtlich seiner jeweiligen Äußerung und Auffassung, die Glaubwürdigkeit als Diskurspartner ein und scheidet hinsichtlich dieses Zweifels bzw. dieser Auffassung aus dem argumentativen Diskurs aus. Am Beispiel des zentralen Glaubwürdigkeitsanspruchs läßt sich 37 Dazu meine Erörterung in: Funkkolleg: Studientexte, Bd. 2, S. 347–355, bes. S. 351 ff. Eindrückliches Beispiel für die Umsetzung eines Gewissensdiskurses in erfolgsstrategisch gebotener Einsamkeit ist Fritz Bauers Engagement zur Aufsuche und Inhaftierung Adolf Eichmanns. Vgl. Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, München/Zürich 2013, bes. S. 18 ff. 38 Vgl. Böhler, 2013/2014, S. 350–363, 401–405, 413–417 und 298 f.
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also zeigen, daß und wie ein Gültigkeitserweis und Verbindlichkeitserweis der hier durch Rekonstruktion aufgedeckten (vielleicht aber bezweifelten) Sinnbedingungen möglich ist. In dem Buch Verbindlichkeit aus dem Diskurs ist dieser Erweis dialogreflexiv durchgeführt, nämlich im Sinne der Frage: ›Kannst du das hier aufgedeckte Dialogversprechen X ohne Widerspruch zu dir als glaubwürdigem Diskurspartner bezweifeln?‹ 39 Mit einer solchen transzendentalen Besinnung auf den Dialog, besser: auf uns als Partner im Dialog der Argumente, läßt sich mithin als verbindlich erweisen, wozu Hans Jonas motiviert: die Pflicht zur Mitverantwortung für die Welt in der Welt und für ein verantwortungsfähiges Leben; theologisch gesprochen: für die bedrohte Schöpfung und den Menschen als Gottes »Ebenbild« in einer »gefallenen Welt«.
II 4. Wie weit trägt Jonas’ Verantwortungsimperativ? Jonas’ Imperativ der Zukunftsverantwortung will »unsere Grundpflicht gegenüber der Zukunft der Menschheit« 40 zum Ausdruck bringen. Er lautet bekanntlich: »Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« 41.
Mit dem sehr ungenauen und, wie Apel 1986 in Gegenwart von Jonas geltend machte, zukunftsethisch und emanzipatorisch ergänzungsbedürftigen Begriff 42 »echtes menschliches Leben« meint Jonas, wie mir scheint, eine Existenzweise, die imstande ist, der Verantwortlichkeit gegenüber »der Idee des Menschen« gerecht zu werden. Diese Idee ist »ontologisch«, auf das Sein bezogen. Sie fordert aber nicht nur – so kann sie mit Recht verstanden werden – das bloße Dasein von Menschen in der Welt. 43 Vielmehr schließt sie eine zwiefache und doppelt adressierte Verpflichtung ein: Sie verpflichtet uns sowohl Böhler, 2013/2014, S. 267–299 und 316–31; vgl. S. 300–316 u. ö. Jonas, 1979, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 94. 41 Ebd., S. 40. 42 K.-O. Apel, »Verantwortung heute – nur noch Prinzip der Bewahrung und Selbstbeschränkung oder immer noch der Befreiung und Verwirklichung von Humanität?«. Wiederveröffentlicht in: Apel, 1988, S. 179–216. 43 Jonas, 1979, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 96. 39 40
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ökoethisch bzw. ökopolitisch als auch anthropo-ethisch bzw. moralisch im engeren Sinne: – Ökologisch enthält diese Idee die Pflicht, eine »Weiterwohnlichkeit der Welt« und darüber hinaus den Erhalt der Schöpfung als Fülle des organischen Lebens zu gewährleisten. – Spezifisch moralisch verpflichtet sie dazu, den künftigen Menschen die Möglichkeit ihrer Menschenwürde mitsamt ihrer realen, also auch ökologischen und bioethischen, Verantwortungsfähigkeit in der Welt sicherzustellen. Die Idee des Menschen ist auch hinsichtlich ihrer Adressaten zugleich auf Zukunftsverantwortung bezogen. Sie verpflichtet nicht nur die Zeitgenossen, sondern ebenso die Späteren, ihrer vornehmsten Aufgabe als Ebenbilder Gottes, sprich als Mitverantwortliche für die Schöpfung, gerecht zu werden. Es geht darum, daß sie ihre »Pflicht gegen das Sosein der Nachkommen« als solcher erfüllen, die ebenso zur Mitverantwortung für die Zukunft berufen sind, wie die gegenwärtig Lebenden. 44 Freilich bleibt bei Jonas offen: Wer oder was gehört zum »echten menschlichen Leben«? Wem, d. h. welchem Kreis von Lebewesen, schulden wir die Achtung menschlicher Würde und advokatorische Vertretung seiner Interessen, zumal seiner Lebensansprüche? Das sei an dem konfliktbeladenen Problem veranschaulicht, ob es mit der Idee des Menschen bzw. dem Menschenwürdegebot vereinbar ist, embryonale menschliche Stammzellen zu Forschungszwecken zu töten, zu »verbrauchen«. Das heißt aber zu einem Zweck, der doch den Legitimitätsanspruch bei sich führt, ein allgemeines Menschengut zu sein, das sich als solches nicht auf Partikularinteressen zurückführen läßt.
II 4.1. Wie weit reichen Verantwortungspflicht und Menschenwürde? Im Zweifel für unsere dialogförmige Verantwortung und für das Lebensrecht der Betroffenen und der advokatorisch zu Vertretenden – auch der Embryonen Wenn wir Jonas’ Verantwortungsimperativ in Sachen Präimplantationsdiagnostik (PID) und »verbrauchende« Forschung an embryonalen menschlichen Stammzellen geltend machen, so drängt sich der 44
Ebd., S. 96, 100, 196 f.
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Einwand auf, ob der ungenaue Begriff »echtes menschliches Leben« hier greift und ob nicht auch Jonas’ vertiefendes, quasi kantianisches Gedankenexperiment der Wette das eigentliche Problem doch überspringe 45: Ob nämlich »das Ganze der [künftigen] Interessen« 46 von Embryonen und auch von Embryonen in vitro moralisch zu berücksichtigen sei, ob also Embryonen ein moralischer Status mit Anspruch auf Menschenwürdeschutz und entsprechender advokatorischer Vertretung zukomme, ist ja strittig. Jedenfalls herrscht bereits über die Frage nach dem Anfang menschlichen Lebens im öffentlichen Diskurs faktisch Dissens. Spätestens an diesem Dissenspunkt ist offenkundig ein Verbindlichkeitserweis erforderlich, der auch den glaubwürdigen, also argumentationsbereiten Skeptiker einbezieht und sowohl das skeptische Argument entkräftet als auch das Begründungsdefizit von Jonas überwindet. Für die Begründungsarbeit würde das bedeuten: Erforderlich ist ein nicht-metaphysischer und nicht-intuitionistischer Weg, weil eine metaphysische und ebenso eine intuitionistische Theorie, die als solche einen stark falliblen Status hat, mit Recht (als bloß spekulativ oder bloß subjektiv) bezweifelt werden kann. Im Ergebnis stellt sie – wir haben auf Jonas’ selbstkritische Einschätzung anfangs hingewiesen – bloß »eine Option […] zur Wahl« 47. Zudem darf der Argumentationsweg nicht etwa deduktiv sein, weil sich solche Ableitungen einer moralischen Sollensvorschrift in der Ausweglosigkeit eines Begründungstrilemmas verlieren. 48 Doch was für eine unwiderlegbare Begründung gibt es dann? Offen steht der anfangs vorgeschlagene Weg des Andersdenkens. Ich meine den sokratischen Weg der aktuellen Reflexion in dem gerade geführten Diskurs auf die Sinnbedingungen eines argumentativen Dialogs. Das ist die Dieses Argument verdanke ich Jens Peter Brune. Jonas, 1979, in: KGA I/2, Erster Teilband, bes. S. 83–86. 47 S. o., Anm. 18. – Für eine Analyse von Jonas’ Begründungsargumenten und seiner Stellung zur Transzendentalphilosophie: Vittorio Hösle, »Hans Jonas’ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie«, in: Chr. Wiese u. E. Jacobson (Hg.), Weiterwohnlichkeit der Welt. Zur Aktualität von Hans Jonas, Berlin/Wien 2003, bes. S. 48 ff.; ders., »Ontologie und Ethik bei Hans Jonas«, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, bes. S. 110–118 und 121 f. Sowie: Dietrich Böhler, »Einleitender Kommentar«, in: KGA I/2, Erster Teilband, bes. S. XLIII-LIX. 48 Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, S. 11–15; Wolfgang Kuhlmann, »Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?«, in: Funkkolleg: Studientexte, Bd. 2, S. 572–605. 45 46
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Besinnung darauf, daß man auch mit seinem Etwas-Bezweifeln bereits in einem argumentativen Dialog mit Anderen ist und daß man im Dialog der Argumente seinen Standpunkt und auch die eigene Zweifelsthese müßte ver-antworten können. Darin besteht das Diskurs-Verantwortungsprinzip. Dessen argumentative Unhintergehbarkeit wird evident, sobald ich, ein reales Interessensubjekt (»Ich I«), die Geltungsansprüche ernst nehme, welche ich, indem ich z. B. etwas behaupte und es damit als Diskurspartner (»Ich II«) geltend mache, unweigerlich vorausgesetzt habe. 49
Erinnern wir: Wer etwas geltend macht, und sei es einen Zweifel, und damit in den argumentativen Diskurs eingetreten ist, hat sich dadurch selbst verpflichtet, die Möglichkeit der Rechtfertigung, also der dialogförmigen Verantwortung, zu erhalten. Das aber heißt, er ist gehalten, »das Ganze der Interessen« von (möglichen) Anspruchssubjekten nicht aufs Spiel zu setzen, sondern deren Lebensansprüche und andere moralische Rechte zu berücksichtigen bzw. advokatorisch zu vertreten. Will sagen, er ist verpflichtet, die »Idee des Menschen«, welche nicht allein die Bewahrung der Gattungsexistenz, sondern auch die Hütung der Menschenwürde und Verantwortungsfähigkeit einschließt, in relevanten Entscheidungen zur Geltung zu bringen. Negativ ausgedrückt: Solange nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß gravierende Einwände gegen eine Handlungsweise möglich sind – etwa aus der Perspektive von Embryonen –, solange besteht für uns als mögliche bzw. faktische Diskursteilnehmer die grundsätzliche Verpflichtung, den Rechtfertigungsdialog und das Irrenkönnen in concreto ernst zu nehmen, statt in eine folgenirreversible Handlungsweise überzugehen, d. h. in eine Handlungsweise, die nicht irren dürfte, weil ein Irrtum jeden Diskurs abschneiden, mithin das Sich-Verantworten unmöglich machen und unsere Glaubwürdigkeit als Diskurspartner, die sich um die Erfüllung ihrer Dialogversprechen a priori bemühen wollen und sollen, zerstören würde. Demnach gilt: Im Zweifel für die Verantwortung als Sich-imDialog-Verantworten-Können und für die mögliche Erfüllung unserer impliziten Dialogversprechen a priori. Die Pflicht zur Hütung der Verantwortungsmöglichkeit und zur Wahrung unserer Glaubwürdigkeit als Diskurspartner erstreckt sich, wie gesagt, sowohl auf die Energiepolitik – Vermeidung bzw. absolute Reduzierung der Atom-
Zur Verwobenheit und zur Dialektik von »Ich I« und »Ich II«: Böhler, 2013/2014, S. 22 f., 278–287, 293 f. und 378 f.
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energie – als auch auf den advokatorischen Umgang mit ungeborenem Leben, und zwar auch dann, wenn es sich um Embryonen in vitro bzw. um menschliche Stammzellen handelt. Selbst wenn faktischer Dissens bzw. Nichtwissen in der Frage besteht, ob Embryonen moralisch anspruchsberechtigte Wesen sind, deren mögliche Lebensansprüche advokatorisch berücksichtigt werden sollen, können glaubwürdige Diskurspartner nicht ausschließen, daß hier das Diskursrecht auf Anspruchsberücksichtigung gegeben ist. Denn dieses Recht der Rechte gebührt – zweifellos – allen menschlichen Wesen. Und als Geborene, die dieses Urrecht entweder selbst oder durch einen Anwalt wahrnehmen können, zehren wir alle von der stillschweigenden Voraussetzung, daß uns eine beschützte, unbeeinträchtigte embryonale Entwicklung vergönnt war. Eine solche Lebensentwicklung ist es, die von dem Urrecht auf Leben geschützt wird, aus dem sich die naturrechtliche Idee der nicht anzutastenden Menschenwürde speist. Unser aller Existenz beruht darauf, daß uns das moralische Recht auf Leben schon anfänglich zuerkannt worden ist und daß Andere unseren Anspruch auf Leben advokatorisch eingelöst haben. Wir widersprächen unserem anfänglichen Schutzanspruch und Schutzrecht, der normativen Basis unserer Existenz, wollten wir dieses moralische Recht und diesen moralischen Schutzanspruch jener in Zweifel ziehen, die sich in einem Frühstadium der menschlichen Entwicklung befinden. Das aber, was wir nicht ohne Selbstwiderspruch in Zweifel ziehen oder gar in Abrede stellen können, das gilt unbezweifelbar und verpflichtet unbedingt. Ergo: Im Zweifel für das Leben und die Nichtverfügbarkeit von Embryonen. Mithin ist das Prinzip der Verantwortung für das menschliche Leben – in dessen vollem Umfang – verbindlich. Hans Jonas’ Begründungs- bzw. Verbindlichkeitslücke ist damit, so hoffe ich, geschlossen.
II 4.2. Ist ein Verbindlichkeitserweis (Apel: »Letztbegründung«) nötig? Es ist also möglich, Jonas’ ökoethischen und anthropologisch-bioethischen Imperativ der Zukunftsverantwortung als gültig und verbindlich zu erweisen, wenn dieser nicht allein auf intuitionistische und metaphysische Annahmen gestützt wird, sondern den dialogreflexi81 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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ven Härtetest – ›ist der Zweifel an seiner Verbindlichkeit ein sinnvoller Diskursbeitrag?‹ – bestehen kann. Ist aber ein solcher Erweis überhaupt nötig? 50 Ja, denn anderenfalls bliebe nur der Rückzug auf eine mehr oder weniger anempfohlene »Option« der Zukunftsverantwortlichkeit. Eine solche bindet aber den Skeptiker nicht, auch nicht den argumentationswilligen Skeptiker in uns. Dann bliebe am Ende doch nur jenes Weiche, das Jonas im Vorwort von Das Prinzip Verantwortung als die bloße »Watte guter Gesinnung und untadeliger Absicht« mit Recht zurückweist: »Etwa härteres ist vonnöten«. Auch hinter einem Appell an die gute Gesinnung und hinter einer entsprechenden Entscheidung müßten intersubjektiv gültige Gründe stehen. Anderenfalls bliebe die Prinzipienfrage ›Warum moralisch und also zukunftsverantwortlich sein?‹ ohne Antwort. Die Prinzipien-Unfähigkeit des Zeitgeistes hätte das letzte Wort. Einsehbare Verbindlichkeit gäbe es nicht. Die normative Ethik fiele dann zurück auf die moderne »Komplementarität« von arationaler Wertentscheidung und wertfreier Rationalität, die Jonas 1968 und 1979 kritisiert 51 und die Apel 1967/ 73, 1981/84 etc. als Dilemma des »westlichen Komplementaritätsschemas« analysiert hat. Dieses Dilemma läßt sich aber, wie Apel seit 1967/73 darlegt, durch reflexive »Letztbegründung«, besser: durch reflexiven Gültigkeits- und Verbindlichkeitserweis aufheben, weil »die ›Objektivität‹ der wertfreien Wissenschaft selbst noch die intersubjektive Geltung moralischer Normen voraussetzt.« 52
Ausführlich zu dieser Fragestellung: Wolfgang Kuhlmann, »Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen nötig?«, in: Funkkolleg: Studientexte, Bd. 2, S. 545–571. 51 Jonas, 1979, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 59 f.; ders., Socio-Economic Knowledge and Ignorance of Goals, in: KGA I/2, Zweiter Teilband, S. 5–33. 52 Apel, 1973, Bd. II, S. 395; vgl. S. 358–435; ders., Studien in: Funkkolleg: Studientexte, Bd. 1, S. 109 f., 127 ff., 131–136; Bd. 2, S. 621 ff., 632 ff., und ebd. Wolfgang Kuhlmann, S. 545–605. 50
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II. Antworten auf und Auseinandersetzungen mit Dietrich Böhlers Diskurspragmatik
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1. Die Achillesferse des reduktiven Naturalismus Jon Hellesnes
Die Philosophie, die »Berliner Diskurspragmatik« genannt wird, kann als eine humanistische charakterisiert werden, denn sie verteidigt ein Prinzip der Menschenwürde, das mit der Idee einer kollektiven Mitverantwortung für menschenwürdige Lebensformen verbunden ist, das heißt eine ökopolitische Verantwortungsethik. Darüber hinaus beinhaltet sie ein transzendentalpragmatisches Programm der rationalen Begründung von Normen und Handlungsweisen. Das Hauptwerk dieser Spielart der humanistischen Philosophie ist Verbindlichkeit aus dem Diskurs (2013/2014) von Dietrich Böhler. Die großen Inspiratoren im Hintergrund sind Karl-Otto Apel und Hans Jonas. Sympathisanten wie ich können die Berliner Diskurspragmatik auf mindestens zwei unterschiedliche Weisen argumentativ unterstützen. Wir können zum Beispiel zentrale Punkte betreffs Geltungsmaßstäben und Verantwortungskriterien fokussieren und zusätzliche Momente bzw. zusätzliche Distinktionen als Vorschläge herausarbeiten. Hier können natürlich auch Dissense entstehen. In seinem Essay »Was gilt?« hat Dietrich Böhler eine solche Annäherungsweise angedeutet. Doch auf der anderen Seite können wir der Berliner Diskurspragmatik auch dadurch helfen, daß wir den ideologischen Hauptgegner aller humanistischen Denkrichtungen ideologiekritisch angreifen. Eben das ist meine Absicht.
Die Familie antihumanistischer Denkweisen Im Laufe des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts, als sich der Postmodernismus und die relativistische Wissenssoziologie als intellektuelle Moden nicht mehr behaupten konnten, ist der radikale Physikalismus international eine hegemonische Ideologie geworden. Diese Spielart der szientistischen Ideologie hat in sehr unterschiedlichen 85 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Jon Hellesnes
Fachbereichen Anhänger bekommen. Der Berliner Philosoph Holm Tetens fragt, ob Naturalismus bzw. Szientismus das metaphysische Vorurteil unserer Zeit geworden ist. Das ist eine vernünftige und kritische Frage, die vielleicht bejaht werden kann. Wie wir wissen, ist Physikalismus bzw. der reduktive Naturalismus eine philosophische Theorie, die unterstellt, daß alles, was wirklich existiert, nur in realwissenschaftlichen Kategorien beschreibbar und naturwissenschaftlich erklärbar ist. In der europäischen Philosophie hat sie eine relativ lange Geschichte gehabt. Doch in unserer Gegenwart hat sie sich mittels der Gehirnforschung mit neuen Argumenten versorgt und tritt als Neurophilosophie auf. Eine zentrale Doktrin der neurophilosophischen Version des Physikalismus besagt, daß alle kognitiven Phänomene, samt allen menschlichen Handlungen, im Grunde genommen Prozesse sind, die von neuronalen bzw. physischen Gehirnmechanismen kausal getrieben werden. Die Implikation ist dann, daß die subjektive Erfahrung der Deliberationsautonomie und der Handlungsfreiheit eine bloße Illusion ist. Alles sei eigentlich kausal determiniert. Die Neurophilosophie im besonderen und der reduktive Naturalismus im allgemeinen sind unter anderem damit beschäftigt, sowohl religiöse als auch säkulare Varianten des Humanismus kritisch zu vernichten. Die neurophilosophische Erneuerung des Kausaldeterminismus besteht sozusagen in zwei Schritten. Der erste Schritt scheint ganz harmlos zu sein; denn man präsentiert nur die allgemein akzeptierte wissenschaftliche Behauptung, daß das menschliche Gehirn eine notwendige Bedingung aller kognitiven und mentalen Aktivitäten ist und daß es wie alle biologisch entwickelten Organe durch natürliche Selektion entstanden ist. Der zweite Schritt aber besteht in der höchst kontroversen Behauptung, daß unser Gehirn mit unserem Geist bzw. »our mind« identisch sei und daß das Phänomen »mind-brain« gleichwie alle in der materiellen Welt vorkommenden Dinge nur durch Naturwissenschaft angemessen beschrieben und erklärt werden kann. Eine ausführliche Darstellung der programmatischen Auffassung finden wir in dem Buch Neurophilosophy: Toward a unified science of the mind-brain (1986) von Patricia Churchland. Hier heißt es, der Mensch sei eine von Naturkausalität gelenkte biologische Maschine. Glücklicherweise gibt es mindestens einen hochkompetenten Neurowissenschaftler, der diese Tendenz energisch kritisiert. Als klinisch orientierter Gehirnforscher ist er imstande, das pseudowissen86 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Die Achillesferse des reduktiven Naturalismus
schaftliche Manövrieren der aktuellen Philosophen, Psychologen und ideologisierten Gehirnforscher effektiv zu entlarven. Er heißt Raymond Tallis, und sein polemisch-wissenschaftliches Buch trägt einen tollen Titel: Aping Mankind: neuromania, darwinitis and the misrepresentation of humanity (2011). Eine neurowissenschaftlich kompetente Kritik der neurophilosophischen Ideologie ist natürlich wichtig, doch nicht hinreichend; denn die dazugehörende Doktrin des universellen Kausaldeterminismus ist kein naturwissenschaftliches »Forschungsresultat«, sondern eine philosophische Position. Das heißt, daß auch philosophische Argumente notwendig sind. Das ist auch eine Pointe bei Tallis, und er ist in der Tat philosophisch gebildet. Einige analytische Philosophen, zum Beispiel Patricia und Paul M. Churchland, sind als szientistische Antihumanisten tätig gewesen. Das bedeutet natürlich nicht, daß man die analytische Philosophie als Ganzheit in die Familie der szientistischen und antihumanistischen Denkweisen einstufen kann; denn ein wichtiger Teil der analytischen Philosophie stellt in der Tat eine Gegenbewegung dar. Ich werde nun an einen Hauptpunkt der Wissenschaftstheorie des finnischen Philosophen Georg Henrik von Wright kurz erinnern, nämlich seine interventionistische Kausalitätskonzeption. Danach werde ich die von Karl-Otto Apel durchgeführte Transformation dieser Konzeption fokussieren.
Die Kausalitätskonzeption von Wrights Bei von Wright wird der humanistische Kern der analytischen Handlungstheorie dadurch verstärkt, daß er die folgende These effektiv vertritt: Die Erfahrung, daß wir Menschen durch unser Intervenieren in Naturprozesse für uns nützliche Veränderungen herbeibringen können, bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, daß der Begriff der Ursache bzw. die Kausalitätskategorie überhaupt entwickelt werden konnte. Seine These besteht also darin, daß der Begriff eines kausalen Verhältnisses und der Begriff des autonomen intentionalen Handelns essentiell verbunden sind. In der Erläuterung benutzt er p als Symbol für einen manipulierbaren Faktor und q für Wirkung. Er sagt, daß p verursacht q, nur wenn (»if and only if«) wir q herbeibringen können, indem wir p einführen, oder wenn wir q dadurch verhindern können, daß wir p entfernen. Im ersten Fall ist p eine hinrei87 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Jon Hellesnes
chende Bedingung von q, im zweiten Fall eine notwendige Bedingung (vgl. von Wright 1971:70). Um feststellen zu können, daß das Verhältnis zwischen p und q nomisch ist, muss aber eine zusätzliche Bedingung erfüllt sein: It contains the counterfactual assumption that on occasions when p, in fact, was not the case q would have accompanied it, had p been the case. The fact that it is a ground for counterfactual conditionals is what marks the connection as nomic (von Wright 1971:71).
Etwas als ein Kausalitätsverhältnis aufzufassen, ist von Wright zufolge, es unter dem Aspekt möglicher Handlung wahrzunehmen. »One could say that we can be as certain of the truth of causal laws as we can be of our abilities to do, and bring about things« (1971:73). Die Feuerwehrkunde stellt eine alltägliche Veranschaulichung des Interventionismus dar. Sie besagt, daß Feuer drei notwendige, doch nicht hinreichende Bedingungen hat, und zwar brennbares Material, Sauerstoffzufuhr und Entzündungstemperatur. Zusammen verursachen sie Feuer. Um Feuer zu verhindern bzw. zu löschen, genügt es, durch Intervenieren eine der Teilbedingungen zu neutralisieren. Wenn von Wright recht hat, können wir dem Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung nur dann Rechnung tragen, wenn wir die Möglichkeit des autonomen Handelns akzeptieren und beachten. Durch deterministische Philosophie diese Möglichkeit auszuschließen, wird folglich auf Absurdität reduziert.
Die Komplementarität zwischen autonomem Handeln und Naturkausalität Unter denjenigen, die die prinzipielle Wichtigkeit der interventionistischen Kausalitätskonzeption von Wrights hervorgehoben haben, befindet sich Karl-Otto Apel. Meines Erachtens hat er sie auch in einem wichtigen Punkt sogar verbessert. Das ergibt sich aus seiner Darlegung des gegenseitigen Voraussetzungsverhältnisses zwischen intentionalem Handeln und Naturkausalität. Apel hebt Folgendes hervor: In einer materiellen Umwelt erfährt der Akteur Widerstand. Wenn es aber keinen Widerstand gäbe, wäre intentionales Handeln nicht möglich. Ohne Konstanz in der Natur, zum Beispiel Gravitation, könnten wir nichts mit Erfolg anfangen. Ein Gedankenexperiment, in dem alles auf der Makroebene ebenso zufällig und nicht88 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Die Achillesferse des reduktiven Naturalismus
determiniert läuft wie in dem von der Quantenmechanik beschriebenen Mikrobereich, wäre die Beschreibung eines Zustands, in dem Menschen nicht existieren könnten. Alles würde sich in ein wildes Chaos auflösen. Also ist Naturkausalität eine notwendige Bedingung des menschlichen Handelns. Einem Menschen geht es darum, sich in einer Welt der Notwendigkeit einen Spielraum des Handelns zu verschaffen. Was ich nun bei Apel skizziert habe, sind Grundzüge seiner Theorie der Komplementarität zwischen Naturkausalität und Handlungs- und Willensfreiheit. In der menschlichen Erfahrungswelt kann das eine ohne das andere nicht existieren: »Wenn es keine Naturgesetze gäbe und alles möglich wäre, dann könnten wir nicht sinnvoll davon reden, daß wir etwas tun können« (Apel 2011: 33). Der Naturwissenschaftler versucht, seine Frage so zu stellen, daß sie durch experimentell ausgelöste Naturprozesse beantwortet werden kann. Um experimentelle Resultate erlangen zu können, muss er also imstande sein, in der materiellen Umwelt experimentell zu handeln, er muss in Naturprozesse intentional eingreifen können. Der Naturforscher ist als Leibsubjekt im Sinne Merleau-Pontys engagiert. Das heißt, daß die Willens- und Handlungsfreiheit eine A priori-Bedingung der experimentellen Naturwissenschaft darstellt. Dagegen unterstellt ein Anhänger der Doktrin der universellen Kausaldeterminismus, daß alle möglichen Prozesse in einer Totalität stattfinden, die in jeder Hinsicht als ein geschlossenes System funktioniert. Doch in der experimentellen Untersuchung geschlossener Systeme ist der Wissenschaftler als ein kontrollierender Akteur tätig. Er ist natürlich nicht ein Bestandteil des Systems. Die Implikation der Doktrin des universellen Kausaldeterminismus ist folglich, daß eine Position außerhalb des Weltsystems im Prinzip möglich ist. Denn nur von einer externen Position könnte das Weltall als ein geschlossenes bzw. begrenztes Ganzes aufgefasst werden. Doch ich glaube, daß der Determinist zögern würde, eine Implikation dieser Art zur Kenntnis zu nehmen; denn das würde ihn auf eine schockierende Weise mit seiner eigenen Metaphysik konfrontieren. Eine Position dem Weltall gegenüber wäre nämlich eine in der Nähe Gottes, und dann wäre der Anspruch vielleicht zu groß. Bei Wittgenstein gibt es ein paar schöne Sätze, die hier sehr gut passen: »Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als begrenztes Ganzes. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das Mystische« (T. 6. 45).
89 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Jon Hellesnes
Apel weist auf die These Merleau-Pontys hin, daß ein Wissenschaftler eine Perspektive auf Phänomene in der Welt nur dadurch haben kann, daß er selbst als ein Leibsubjekt in der Welt existiert. Deswegen gibt es auch eine Grenze dafür, was er auf Distanz objektivieren kann. Kategorien, die in der abstrakt-theoretischen Sphäre zur Anwendung kommen, sind laut Apel in lebensweltlichen praktischen Zusammenhängen erworben worden, in denen wir, wie gesagt, Widerstand erfahren. Begriffe wie Solidität und Gewicht, vorher und nachher, Ursache und Wirkung setzen die lebensweltlichen Erfahrungen voraus (Apel 1979, 1984). Apel versetzt also den Interventionismus in den Kontext einer phänomenologischen Untersuchung der Seinsweise des lebensweltlichen Akteurs und führt den Terminus »Leibapriori« ein. Doch die effektivste Waffe im Arsenal Apels gegen den reduktiven Naturalismus mit seiner deterministischen Anthropologie ist meines Erachtens das sogenannte Selbsteinholungsprinzip. Er hat es in seiner auf Sozial- und Geisteswissenschaften bezogenen Wissenschaftstheorie begründet (vgl. Apel 1988: Sachregister). Es ist aus dem Prinzip des zu vermeidenden pragmatischen Selbstwiderspruchs hergeleitet.
Das Selbsteinholungsprinzip Das Prinzip besagt, daß eine allgemeine Theorie der menschlichen Rationalität ihren eigenen Möglichkeits- und Gültigkeitsbedingungen Rechnung tragen muss, um pragmatisch konsistent zu sein. Eine Verletzung des Prinzips kann dadurch entstehen, daß ein Theoretiker, in seiner eigenen Theorie, eine Geltungsbedingung disqualifiziert, die er selbst unterstellen muss, um in der ersten Person gegenüber Fachkollegen und Laien sinnvoll argumentieren zu können. Ein eindeutiges Beispiel einer Verletzung des Selbsteinholungsprinzips liegt vor, wenn eine theoretische Behauptung einen pragmatischen Selbstwiderspruch klar und deutlich darstellt. Ein solcher Widerspruch unterscheidet sich von einem semantischen Selbstwiderspruch, denn er besteht nicht in einem Gegensatz zwischen zwei Satzteilen, etwa zwischen Subjekt und Prädikat wie im folgenden Beispiel: »Dieses Quadrat hat nicht vier Seiten.« Dagegen finden wir in einem pragmatischen Selbstwiderspruch den Gegensatz zwischen dem, was im Satz inhaltlich ausgedrückt ist, und dem, was pragmatisch vorausgesetzt werden muss, wenn man den Satz sinnvoll als wahr behaupten will 90 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Die Achillesferse des reduktiven Naturalismus
und damit einen Wahrheitsanspruch erheben muss. Der Fehler kann mit der folgenden Aussage exemplifiziert werden: »Es gibt keine wahre Behauptung; denn wie Nietzsche festgestellt hat, sind Wahrheiten Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind.« Der propositionale Gehalt besagt hier eigentlich, daß es unmöglich ist, denjenigen assertorischen Sprechakt sinnvoll auszuführen, den der versuchsweise geistreiche Sprecher auszuführen versucht, nämlich etwas festzustellen. Der Sprechakt »verunglückt« im Sinn der Sprechakttheorie. Paradigmenbeispiele der aktuellen Denkfehler finden wir eben in dem radikalen Physikalismus. Die extremste Theorievariante hier ist der eliminative Materialismus. Diese Spielart des Physikalismus wird von den schon erwähnten Pionieren, Patricia und Paul M. Churchland, vertreten. Ein sogenanntes intentionales Vokabular, das heißt, ein Vokabular, in dem man von Zweck, Wunsch, Intention, Überlegung, Entscheidung und ähnlichem redet, sei ihnen zufolge volkspsychologisch und vorwissenschaftlich. Sie unterstellen, daß sich ein solches Vokabular genau wie ein dämonologisches Vokabular von alters her auf nichts bezieht. Phänomene wie überlegter Grund und Intention werden mit anderen Worten gleichwie Incubi und flüsternde Dämonen als bloße Illusionen bzw. Halluzinationen verstanden. Stattdessen sei ein Vokabular erforderlich, das ausschließlich auf neuronale Prozesse bezogen ist. Zum Beispiel sei eine sogenannte Willensentscheidung nichts als ein elektrochemisches Ereignis. Mit einem physikalistischen Vokabular dieser Art wären wir endlich imstande, das Verhalten menschlicher Lebewesen angemessen zu beschreiben und korrekt zu erklären. Der Standpunkt lässt sich auf die folgende Weise umreißen: All our actions are products of the activity of our brains. It makes no sense (in scientific terms) to try to distinguish sharply between acts that result from conscious attention and those that result from our reflexes or are caused by disease or damage to the brain (Blakemore 1990:270).
Doch die Eliminativisten haben sich keine optimale Position des wissenschaftstheoretischen Legitimierens verschafft; denn es ist ja eigentlich sehr merkwürdig, daß sie sagen, daß es für das Akzeptieren des eliminativen Materialismus hinreichende Evidenz gebe. Der Begriff von hinreichender Evidenz gehört nämlich genau wie der Begriff des Arguments und des guten Grundes zum selben Vokabular wie Ziel, Intention, Wissen, Einsicht, Vernunft usw. Das ist eben das Vo91 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Jon Hellesnes
kabular, das die Eliminativisten als volkspsychologisch und vorwissenschaftlich beschimpfen. Ihr langfristiges Ziel ist, es zu eliminieren. Das liegt schon im Wortsinn von ›eliminativ‹. Diese Version des Physikalismus stellt ein Paradigmenbeispiel dessen dar, was es heißt, mit dem Selbsteinholungsprinzip in Konflikt zu stehen. Die widersprüchliche Position wird von der Reflexionsvergessenheit ermöglicht. Eben hier befindet sich auch die Achillesferse des reduktiven Naturalismus. Eben das hat auch der hervorragende Wissenschaftstheoretiker Anthony O’Hear wahrgenommen. A science which asserts that it is rational to believe that all human activity is ultimately due to the operations of non-rational laws and processes is in imminent danger of undermining its own pretensions to rational acceptability (A. O’Hear, 1991: 209).
Mit Hinblick auf die philosophische Grundorientierung unterscheidet sich Hans Jonas radikal sowohl von O’Hear als auch von Apel; nichtsdestoweniger hat er betreffs der aktuellen Problematik die gleiche Einsicht: Indeed, even the extreme materialist must exempt himself qua thinker, so that extreme materialism as a doctrine can be possible. But while even the Cretan who declares all Cretans to be liars can add »except myself at this moment,« the epiphenomenalist who has defined the nature of thought cannot make this addition, because he too is swallowed up in the abyss of his universal verdict (Jonas, 1984: 216).
Wie wir wissen, ist Charles Sanders Peirce ein wichtiger Inspirator Apels gewesen. Peirce hat gezeigt, daß Naturwissenschaft unter anderem dadurch ermöglicht wird, daß es eine Gemeinschaft kompetenter Fachkollegen (»the community of investigators«) gibt, in der alternative Hypothesen samt der Ausformung des experimentellen Designs diskutiert und sorgfältig überprüft werden können. Die Angehörigen der Forschungsgruppe verstehen einander und diskutieren als ebenbürtige Partner. Sie sind natürlich nicht damit beschäftigt, einander neurobiologisch kausal zu erklären. Die Naturwissenschaftler sind, mit anderen Worten, rationale Leute, die eine Kommunikationsgemeinschaft bilden. Sie sind autonom in dem Sinn, daß sie sich selbst aufgrund von experimentellen Resultaten und kollegialen Argumenten korrigieren können. Diese egalitäre Kommunikation, dieses Subjekt-Subjekt-Verhältnis, ist durch die szientistische Denkweise völlig ausgeblendet, 92 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Die Achillesferse des reduktiven Naturalismus
und diese Ausblendung wird durch Reflexionsvergessenheit reproduziert. Doch wie gesagt: Hier finden wir auch die Achillesferse des Szientismus. Szientismus ist nicht Wissenschaft, sondern Weltanschauung. Meine eigene polemische Charakteristik läuft so: Szientismus ist die Fortsetzung der System-Metaphysik mit anderen Mitteln. Vor etwa dreißig Jahren habe ich in einem Buch einige sehr interessante Kapitel zur philosophiegeschichtlichen Genese der szientistischen Denkweise gelesen. Diese Kapitel sind wieder hochaktuell geworden. Der Titel des Buches ist »Rekonstruktive Pragmatik«, es ist 1985 bei Suhrkamp erschienen, und der Verfasser heißt Dietrich Böhler. Hier am Ende bin ich also wieder bei der Berliner Diskurspragmatik.
Literatur Apel, K.-O. (1979): Die »Erklären-Verstehen«-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Apel, K.-O. (1984): Understanding and Explanation: A Transcendental-Pragmatic Perspective, Cambridge, Mass.: The MIT Press. Apel, K.-O. (1988): Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Apel, K.-O. (2011): Paradigmen der Ersten Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Blakemore, C. (1990): The Mind Machine, London: BBC Books. Böhler, D. (2017): »Was gilt? Dialogreflexive Dialektik zu Zukunftspflicht und Lebensverantwortung«, Berlin: Hans Jonas-Zentrum. Böhler, D. (2013): Verbindlichkeit aus dem Diskurs, Freiburg/München: Karl Alber Verlag; verb. Auflage 2014. Böhler, D. (1985): Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Churchland, P. M. (1986): Matter and Consciousness, Cambridge, Mass.: MITPress. Churchland, P. M. (1995): The Engine of Reason, the Seat of the Soul, Cambridge, Mass.: MIT Press. Churchland P. S. (1986): Neurophilosophy: Toward a Unified Science of the Mind-Brain, Cambridge, Mass.: MIT Press. Hellesnes, J. (2007): »Das Selbsteinholungsprinzip und seine Feinde,« in: M. Borrelli und M. Kettner (Hg.), Filosofia transcendentalpragmatica, Cosenza: Luigi Pellegrini Editore. Jonas, H. (1984): The Imperative Responsibility, Chicago, London: The University of Chicago Press.
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Jon Hellesnes Tallis, R. (2011): Aping Mankind. Neuromania, Darwinitis and the Misrepresentation of Humanity, Durham: Acumen. Wittgenstein, L. (2018): Tractatus logico-philosophicus – Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wright, G. H. von (1971): Explanation and Understanding, London: Routledge and Kegan Paul.
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1.1. Im Dialog mit Jon Hellesnes. Selbsteinholung versus Selbstwidersprüchlichkeit des Naturalismus/Szientismus Dietrich Böhler
Den ersten Beitrag, der mich schon erreichte, als ich den Essay »Was gilt?« in die endgültige Form brachte, verfaßte mein Freund Jon Hellesnes. Ich habe ihn gleich in dem Text noch berücksichtigt, kam er doch als charakteristische Ergänzung wie gerufen. Denn er setzt die ›klassische‹ Naturalismus- und Szientismuskritik einerseits von KarlOtto Apel und mir selbst, andererseits Hans Jonas’ Kritik am »Nichts als« des »materialistischen Reduktionismus« 1 sehr pointiert fort: in humanistischer Motivation und sinnkritischer Argumentation. Scharfsinnig macht er dabei das »Sebsteinholungsprinzip« fruchtbar, welches Apel 1983 als Sinnkriterium der rekonstruktiven, nämlich (kultur-)anthropologischen, psychologischen und soziohistorischen Wissenschaften eingeführt hat. 2 Daraufhin hatte ich es in dem Berliner ›Jonas-Kolloquium‹ und schließlich in Verbindlichkeit aus dem Diskurs vertieft und erweitert. Läßt es sich doch geradezu als elementares Sinn- und Geltungskriterium des Argumentierens und Philosophierens erweisen. Ohne Selbsteinholung kein stimmiges Denken, das seine Voraussetzungen benennen und rechtfertigen kann. Die Anwendung jenes Kriteriums scheint mir die dialektische Methode einer rechtfertigungsfähigen Philosophie zu sein. 3 Und Jon Hellesnes ist ein ebenso analytischer wie dialektischer Meister. Auf Selbsteinholung legt er, in einer Zeit dürftigen, an Selbstwidersprüchen überreichen, Relativismus und Postmodernismus hofierenden Denkens, großen Wert. Mit Recht. Nächst Hösle und Lenk ist Jon Hellesnes ein so analytisch klarer und scharfsinniger Denker wie ein homme de lettres vielfältigen Darauf weist Jon Hellesnes am Schluß seines Beitrags hin. Karl-Otto Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1988, S. 50–55, 470 ff. u. ö. 3 Dietrich Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik – Orientierung in der ökologischen Dauerkrise, 2. Aufl. als Studienausgabe, Freiburg/München 2014, S. 267–280 und S. 290–299. 1 2
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Dietrich Böhler
Talents, das mich immer erneut in Erstaunen versetzt und überraschend beschenkt. Und das seit 1976, als er und Dr. Anne Brautaset, die überaus charmante, weithorizontige Sprachwissenschaftlerin und Dozentin für angewandte Linguistik, mit der er das Glück hat, verheiratet zu sein, mich in Tromsø gastlich aufnahmen – unvergeßlich. Jon Hellesnes’ Produktivität reicht von der meisterhaft beherrschten kleinen Form des präzis pointierten, oft sinnkritischen und ideologiekritischen Essays über ästhetische 4, hermeneutische, kulturphilosophische 5, diskurstheoretische und moralphilosophische Abhandlungen 6 bis zum philosophischen, gerne zeitkritischen und weltanschauungskritischen Roman 7 – witzig, geistesgeschichtlich gebildet, raffiniert ironisch und eine Leselust für alle, die Toleranz üben und Paradoxien schätzen, aber auch norwegisch verstehen. Genauer: neunorwegisch, wie die, vom Diktat des Dänischen emanzipierte, Rekonstruktion des ländlich urtümlichen, kraftvollen Altnorwegischen genannt wird. Dahinein reflexive Philosophie, modernste Kulturtheorie und kritisches Diskursdenken zu gießen, ist eine enorme sprachschöpferische und hermeneutische Leistung.
Jon Hellesnes mit Kjartan Fløgstad und Ola Enstad, Den endelege løysinga på skulpturproblemet, Oslo 1997. 5 Jon Hellesnes, Hermeneutik og kultur. Filosofiske stubbar, Oslo 1988. 6 Charakteristisch ist seine Verbindung von John Stuart Mills »On Liberty« mit der transzendentalpragmatischen Diskursethik. An dieser hebt er – in Abhebung von Kants »unvermittelter Prinzipienethik« – hervor, daß sie »zwischen das Moralprinzip und die Handlungssituation Sinnermittlungen und theoretische Diskurse [schaltet], durch welche die Situationsbeschreibungen evaluiert bzw. diskutiert werden sollen.« J. Hellesnes, »Toleranz und Dissens. Diskurstheoretische Bemerkungen über Mill und Rorty«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 40. Jg., 1992, Heft 2, S. 245–255, hier: S. 255, Anm. 10. 7 Jon Hellesnes, Carolus, klovnen, Oslo 1982. Den postmoderne anstalten, Falun 1988. 4
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2. Epistemische Vielfalt und die Verwendung von Begriffen Gunnar Skirbekk
In den Diskussionen über allgemeingültige Geltungsansprüche hat die Frage über den sinnvollen bzw. angemessenen Gebrauch von Begriffen oft einen unklaren epistemischen Status. Doch der sinnvolle und angemessene Gebrauch von Begriffen ist eine Voraussetzung sowohl wahrer Aussagen als auch sinnvoller Aussagen über normative Fragen, seien es Rechtsnormen, moralische Normen oder kulturelle Werte. Folglich sind normative Fragen nicht nur deshalb als gültig anzusehen, weil unter den Betroffenen ein Konsens besteht. Denn die Frage, ob ein gegebener Begriffsgebrauch in einem gegebenen Kontext mehr oder weniger adäquat wäre, ist eine Frage, die mit mehr oder weniger guten Gründen, kurz als eigenständiger Geltungsanspruch, diskutiert werden kann: Ist die Verwendung eines bestimmten Begriffs gerechter und relevanter als die Verwendung eines alternativen Begriffs in einem gegebenen Fall? Zum Beispiel wenn Staatsbürger in einer politischen Debatte lediglich als »Konsumenten« oder »Klienten« bezeichnet werden. Natürlich sind Fragen der angemessenen Verwendung von Begriffen in vielen Fällen umstritten. Es gibt Streitigkeiten um die »Definitionsmacht«, z. B. zwischen verschiedenen Berufen und Disziplinen. Dennoch kann es oft gute Gründe für die Behauptung geben, daß eine bestimmte Verwendung von Begriffen in einem gegebenen Fall zu einfach ist (etwa wenn Studierende in einem Forschungsprojekt über das Hochschulleben als Konsumenten von Bildungsprodukten definiert werden). Selbst wenn alles, was dann gesagt wird, empirisch wahr wäre, kann in solchen Fällen argumentiert werden, daß die Wahl von Begriffen zu einfach ist und daß es vitale Probleme gibt, die durch die Verwendung solcher Begriffe nicht erfasst werden können. Dieser Punkt öffnet Raum für eine Fachkritik unter den akademischen Disziplinen und ihren Berufen. Jetzt ein philosophisch relevantes Beispiel: »Fehlbarkeit« ist ein 97 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Gunnar Skirbekk
viel benutztes Wort. Es gibt jedoch verschiedene Formen und Grade der Fehlbarkeit, insofern verschiedene Begriffe; und obwohl wir als Menschen im allgemeinen fehlbar sind, gibt es viele Dinge, die wir mit hinreichender Sicherheit wissen, also Einsichten, die in verschiedener Weise »nicht fehlbar« sind. Drei Fälle: (a) Einfache Handlungen im täglichen Leben. (Stichwort: Praxeologie.) Es ist nicht immer so, daß wir wissen, was wir tun. Es gibt Fälle von Selbsttäuschung (vgl. die Psychoanalyse), und es könnte Fälle von ideologischer Engstirnigkeit geben (vgl. Marx und Mannheim), und in vielen Fällen gibt es möglicherweise ungenügende Kenntnisse über die Folgen und Auswirkungen dessen, was wir tun. Dennoch können wir in vielen Fällen ziemlich gut wissen, was wir tun, wie in Fällen von elementaren körperlichen und sozialen Handlungen, wie Gehen oder Greifen oder Grüßen anderer, und auch elementaren Sprachhandlungen in der Muttersprache. Sogenanntes »tacit knowledge« ist ein Teil davon – wenn z. B. die Forscher im CERN annehmen, daß die französische Sprache dieselbe ist wie gestern, daß der Boden sie halten wird, daß die Brecher funktionieren werden, wie sie vorher funktioniert haben usw. All dies sind Voraussetzungen dafür, daß Experimente durchgeführt und Theorien getestet werden können. (b) In den Wissenschaften. (Stichwort: Wissenschaftstheorie.) Als Beispiel: Die deskriptive Makroanatomie des menschlichen Körpers ist keine akademische Forschungsdisziplin mehr. Heute wissen wir alles, was es zu wissen gibt. Heute ist es eine Ausbildungsdisziplin für Studenten der Gesundheitsberufe. Sicherlich kann der menschliche Körper, in verschiedenen Gruppen oder im allgemeinen, dünner oder schwerer, größer oder kleiner werden. Aber solange es keine Mutationen gibt, wissen wir, was es zu wissen gibt: daß das Schlüsselbein so und so lang ist, mit diesen und jenen Gelenken, daß Musculus latissimus dorsi diesen und jenen Knorpel und diese und jene Innervation hat und so weiter. – Ein anderer Fall: Die altnordische Literatur ist begrenzt, in dem Sinne, daß wir höchstwahrscheinlich alle Texte haben, die wir möglicherweise haben könnten. Doch hier können prinzipiell neue Interpretationstraditionen entstehen, etwa wie Freud zu seiner Zeit eine neue Perspektive und einen neuen begrifflichen Rahmen für das Studium literarischer Texte schuf. Anders, wenn es um die deskriptive Makroanatomie für den menschlichen Kör98 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Epistemische Vielfalt und die Verwendung von Begriffen
per geht; hier ist der Begriffsgebrauch gegeben. In diesem Fall macht es wenig Sinn, über Fehlbarkeit zu sprechen, auch nicht im Lichte neuer Begriffe und Interpretationen. (c) Sprechakt-immanente Voraussetzungen des Argumentierens, wie es in der Transzendentalpragmatik selbstreflexiv dargelegt wird. (Stichwort: Transzendentalpragmatik). Insofern haben wir einen guten Punkt, wenn wir transzendentalpragmatisch, also selbstbezüglich, gegen den Fallibilismus als einen universellen, umfassenden und damit selbst-widersprechenden Anspruch argumentieren. Auf der Grundlage dessen, was oben in aller Kürze angedeutet wurde, bin ich der Ansicht, daß wir im Umgang mit Fallibilitätsfragen einen engen und ein-dimensionalen Begriffsgebrauch vermeiden dürfen. Immerhin, aus selbstreflexiven Gründen brauchen wir einen Begriff guter Gründe als »meine« Gründe. Das heißt, daß »meine Gründe« die Gründe sind, die ich hier und jetzt für die besten halte, nachdem ich (unter anderem) Anderen sorgfältig zugehört habe. Wir brauchen einen Begriff von »besseren Gründen«, im Gegensatz zu »weniger guten Gründen«. Ohne dies wäre Lernen unmöglich. Was wir deshalb brauchen, und voraussetzen müssen, ist in diesem Sinne ein »Meliorismus« – ein Drang nach epistemischer Verbesserung, um unter relevanten Umständen nach besseren Gründen zu suchen. Gleichzeitig gibt es auch, wie schon angedeutet, vieles, was wir, in verschiedener Weise, »je schon wissen« oder »was gilt«, wenn man es so ausdrücken möchte. 1
Diese allzu kurzen Statements dürfen als eine erste Antwort an die Fragen meines mitdiskutierenden philosophischen Freunds, Dietrich Böhlers, dienen. Eine angemessenere Darlegung meines Denkansatzes findet sich in einem Sammelband schon veröffentlichter, aber neu durchgearbeiteter Aufsätze: Philosophie der Moderne. Vernunft. Wahrheit. Menschenwürde. Meinungsfreiheit. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2017. Für eine Aktualisierung dieser Denkweise in Bezug auf die Klimakrise und damit verbundene Herausforderungen vgl. Gunnar Skirbekk, Epistemic Challenges in a Modern World. From »fake news« to underlying epistemic challenges in science-based risk-societies. LIT Verlag, Zürich 2019.
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2.1. Im Diskurs mit Gunnar Skirbekk. Vorgängige Dialogversprechen – Sinngrenzen eines epistemischen Meliorismus? Dietrich Böhler
Gunnar Skirbekk ist ein hochrenommierter und in weltumspannendem Diskurs engagierter Denker einer kritischen Moderne, ist Wissenschaftstheoretiker, Ökoethiker und Sozialphilosoph. Seine Werke sind verlegt und diskutiert vor allem in Skandinavien, Frankreich, Deutschland und China. Seit meinen Gastvorlesungen an den vier norwegischen Universitäten 1976, 1978 und 1982 sind wir befreundet, waren beieinander zu Gast und publizierten gemeinsam: FunkKolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Band 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 402–422: »Die technologische Krisenerfahrung als Herausforderung an die praktische Vernunft« (zusammen mit Robert Spaemann); Die pragmatische Wende. Sprachspielpragmatik oder Transzendentalpragmatik? Hg. von D. Böhler, T. Nordenstam und G. Skirbekk, Frankfurt a. M. 1986; Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Hg. von D. Böhler, M. Kettner und G. Skirbekk, Frankfurt a. M. 2003. Hier erklärt Gunnar Skirbekk seinen Ansatz eines, anhand von Beispielen abwägenden und differenzierenden, Meliorismus. Dabei nimmt er m. E. die theoretische Einstellung dessen ein, der nicht dialogisch, sondern, wenngleich salomonisch, stets in der Dritten Person denkt, nicht zugleich in der Ersten und Zweiten. Lieber Gunnar, ich bin Dir dankbar, daß Du seit dem »Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik« (1980–1982) meinen Weg zu einem reflexiv-dialogischen Denken als kritischer Diskursfreund begleitet hast. Nun ist das philosophische Medium der Dankbarkeit der argumentative Diskurs selbst. Es wird Dich nicht überraschen, daß ich gegenüber Deinen salomonischen, aber in theoretischer Einstellung vorgebrachten Argumenten ebenso wie gegenüber denen anderer Diskurstheoretiker, zumal Jürgen Habermas 1, die reflexiv geltungsVgl. Dietrich Böhler, »Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik«, in: Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto
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Im Diskurs mit Gunnar Skirbekk
logische Pointe der Berliner Diskurspragmatik geltend mache. Es ist das die dialektische Maxime der Selbsteinholung des glaubwürdigen Diskurspartners. Sie stellt mich/uns vor die sinnkritische Frage: Kann ich, der ich jetzt mit meiner und für meine skeptische These euch/dir gegenüber Geltung beanspruche, das ohne Selbstwiderspruch, also diskursglaubwürdig, tun? In unserem Gespräch ist das, ganz vorsichtig formuliert, die These: »Die Suche nach ›besseren Gründen‹ kann vielleicht eines der acht Böhlerschen oder auch das neunte, von Hans Lenk (m. E. mit Recht) hinzugefügte, unhintergehbare implizite Dialogversprechen außer Kraft setzen.« Demgegenüber frage ich Dich, Gunnar, den Geltung beanspruchenden Philosophen: Gilt das dialektische Prinzip der Einholung unserer selbst als glaubwürdiger Diskurspartner (die allein sinnvolle, also widerspruchsfreie und wahrheitsfähige bzw. moralisch verbindlichkeitsfähige 2, Argumente suchen und gelten lassen wollen) nicht auch für dich, mich, alle, die Philosophie, Wissenschaftstheorie, Ethik usw. betreiben? Und folgt aus dem Selbsteinholungsprinzip nicht, daß du, ich, wir alle und nicht zuletzt die Philosophen als glaubwürdige Diskurspartner die Unumstößlichkeit der (zumindest) neun impliziten Dialogversprechen einsehen können und anerkennen müssen? Ergo: Müssen wir – um den Preis unserer Glaubwürdigkeit als Diskurspartner – nicht zugeben, daß die Anerkennung der Gültigkeit und Verbindlichkeit jedenfalls der genannten neun Diskursverpflichtungen ein unbezweifelbares Erfordernis ist, denknotwendig? Das ist die entscheidende Frage. Denn wir können uns nicht, als gäbe es in der Prinzipienfrage eine salomonische Weisheitsinsel, aus dem reflexiven Rechtfertigungsdialog herausziehen. Wir sind Diskurspartner mit Geltungsansprüchen. Wir sind gefragt. Von Anbeginn hat die transzendental fragende Diskurspragmatik herausgearbeitet, daß konkrete, situationsbezogene, daher von fehlbaren Interpretationen abhängige, Diskurse im Prinzip fallibel sind, mithin einer »fortgehenden kritischen Prüfung bedürfen«. 3
Apel, hg. von D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk, Frankfurt a. M. 2003, hier: S. 38– 40. Ders., Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 317–319; vgl. S. 438 f. und 516–529. 2 Vgl. das erste implizite Dialogversprechen a priori. 3 Dietrich Böhler u. Horst Gronke, Art. »Diskurs«, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. von Petra Kolmer und Armin G. Wildfeuer, Freiburg/München 2011, S. 559, 2. Spalte.
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Dietrich Böhler
Insofern: Meliorismus im Sinne des zweiten Dialogversprechens a priori! Der Meliorismus und das ihm zugrundeliegende fallibilistische Bewußtsein benötigen Sinnkriterien und haben Sinngrenzen. So kann die Suche nach besseren Begriffen hilfreich sein, aber auch stören und ablenken vom Prinzipiellen. Unbedingt erforderlich ist sie einzig dann, wenn bisher gebrauchte Begriffe die Selbsteinholung dessen, der sie gebraucht, und die Selbsteinstimmigkeit der Vernunft unmöglich machen. Jedenfalls muß sich das fallibilistische Bewußtsein eines Wissenschaftlers und Wissenschaftstheoretikers zu der Form eines konkreten Einwandes bequemen und darf es nicht bei einer bloßen skeptischen Attitüde, die einer Diskursvermeidung gleichkäme, bewenden lassen. Sodann muß sich die konkrete Zweifelsthese gegenüber der Unhintergehbarkeit eines bestimmten, vom Skeptiker in Zweifel gezogenen Dialogversprechens als sinnvoll erweisen, so daß sie für einen Geltungsdiskurs überhaupt zur Verfügung steht. In sokratisch-dialogreflexiver Perspektive bedeutet das: Die These einer möglichen Fallibilität eines jeweiligen (in Zweifel gezogenen) Dialogversprechens muß sich im aktuellen Diskursvollzug aufrechterhalten lassen, ohne die Sinnbedingungen des aktuellen Diskursvollzugs zu negieren. Also muß der Skeptiker, die Allgemeingültigkeit eines (vom Rekonstrukteur behaupteten) vorgängigen Dialogversprechens bezweifelnd und damit dessen moralische Verbindlichkeit einklammernd, einen reflexiven sokratischen Dialog bestehen können. In einem solchen Dialog wird sich zeigen, ob der Skeptiker die von ihm in Anspruch genommene Rolle eines Argumentationspartners, auf den sich andere in der gemeinsamen Bemühung um Wahrheit und Richtigkeit müssen verlassen können, wirklich wahrnehmen kann, wenn er bezweifelt, daß eines der rekonstruierten Dialogversprechen allgemeingültig und allgemeinverbindlich sei. Im sokratischen Dialog konfrontieren die anderen nämlich diese seine Zweifelsthese mit seiner Rolle als Partner im argumentativen Diskurs. So holen sie ihn aus seiner theoretischen bzw. themakonzentrierten Einstellung heraus, wecken ihn aus seiner Dialog- und Selbstvergessenheit: ›Du bist doch jetzt mit dieser These unser Partner im argumentativen Dialog. Kannst du diesen Zweifel gegen andere Argu-
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Im Diskurs mit Gunnar Skirbekk
mentationsteilnehmer wirklich vertreten? Was wird dann aus der gemeinsamen Praxis des Diskurses? 4 So frage ich Dich, Gunnar: Meliorismus, so what? Kann Dein Meliorismus-Postulat die Gültigkeit des Selbsteinholungsprinzips oder die Verbindlichkeit einer der primordialen (ursprünglichen und selbstevidenten) Diskursverpflichtungen in Frage stellen? Oder wird Dein Argument geltungsmäßig irrelevant, weil Du als Diskurspartner genau die besagte Gültigkeit und jene (zumindest neun) Verbindlichkeiten hast voraussetzen müssen, damit Dein Diskursbeitrag sinnvoll bleibt und damit Du als Diskurspartner mit diesem skeptischen Beitrag glaubwürdig bleibst?
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Vgl. ebd., S. 565, 2. Spalte – 566, 1. Spalte.
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2.2. Nachbemerkung Gunnar Skirbekk
Zurück von Vorträgen In Peking und Shanghai sandte Professor Skirbekk in Kenntnis der Böhlerschen Anfragen die hier wiedergegebene Duplik: Begründung meines Vorschlags Zuerst: Was ich in meinem Aufsatz über Meliorismus sage, ist Folgendes: »Auf der Grundlage dessen, was oben in aller Kürze angedeutet wurde, bin ich der Ansicht, daß wir im Umgang mit Fallibilitätsfragen einen engen und ein-dimensionalen Begriffsgebrauch vermeiden sollten. Immerhin, aus selbstreflexiven Gründen brauchen wir einen Begriff guter Gründe als ›meine‹ Gründe. Das heißt, daß ›meine Gründe‹ die Gründe sind, die ich hier und jetzt für die besten halte, nachdem ich (unter anderem) Anderen sorgfältig zugehört habe. Wir brauchen einen Begriff von ›besseren Gründen‹, im Gegensatz zu ›weniger guten Gründen‹. Ohne dies wäre Lernen unmöglich. Was wir deshalb brauchen, und voraussetzen müssen, ist in diesem Sinne ein ›Meliorismus‹ – ein Drang nach epistemischer Verbesserung, um unter relevanten Umständen nach besseren Gründen zu suchen. Gleichzeitig gibt es auch, wie schon angedeutet, vieles, was wir, in verschiedener Weise, ›je schon wissen‹ …« Also: Meliorismus, in dem Sinne, daß »ich« durch die von mir, hier und jetzt, anerkannten »besseren Gründe« pragmatisch, in erster Person, verpflichtet bin – idealiter nach diskursivem Test mit Anderen, und dazu auch mit einer fallibilistischen Selbsterkenntnis, daß es, möglicherweise »noch bessere Gründe« gebe. Aber »gleichzeitig« gibt es vieles, was wir, in verschiedener Weise, schon wissen. Ich weise hier auf die drei erwähnten Fälle hin: einige einfache Handlungen, einige wissenschaftliche Erkenntnisse und sprechakt-immanente Voraussetzungen. Ich zitiere weiter: 104 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Nachbemerkung
»Sprechakt-immanente Voraussetzungen des Argumentierens, wie es in der Transzendentalpragmatik selbstreflexiv dargelegt wird. (Stichwort Transzendentalpragmatik). Insofern haben wir einen guten Punkt, wenn wir transzendentalpragmatisch, also selbstbezüglich, gegen den Fallibilismus als einen universellen, umfassenden und damit selbst-widersprechenden Anspruch argumentieren.« Kurzum: »Meliorismus« – ja, in diesem Sinne und in vielen Fällen, aber nicht nur, nicht immer. Ein Hauptpunkt: epistemische Vielfalt. Vor allem im Begriffsgebrauch – oft unscharf und mehrdeutig. Zum Beispiel: »sinnlos« – in welchem Sinne? »Alle« – in welchem Sinne? Deshalb: Diskussionen über unterschiedliche Fälle, um den Begriffsgebrauch zu verbessern. Konklusion: Dein ursprünglicher Titelvorschlag »Über den sinnvollen Gebrauch von Begriffen. Eine melioristische Notiz« ist deshalb nicht treffend. Deshalb mein Vorschlag: Epistemische Vielfalt und die Verwendung von Begriffen.
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2.3. Postskript Dietrich Böhler
Mit Dank für Deine Erläuterung, Gunnar, antworte auch ich erläuternd. Gern stimme ich Dir zu, daß es »sprechakt-immanente Voraussetzungen des Argumentierens« gibt, so daß es, möchte ich betonen, sinnlos wäre, nämlich diskurszerstörerisch und die eigene Diskurspartnerschaft auflösend, einen universellen Fallibilismus zu vertreten. Diese transzendentale, diskurspragmatische Sinnkritik setzt in der Tat ein »je schon Wissen« voraus. Genauer: ein Sinngeltungswissen mit hartem, ja absolut unbezweifelbarem Kern; d. h. mit einem Wissen, das sich mit einem widerspruchsfreien Diskursbeitrag nicht in Zweifel ziehen läßt. Dieses – schlechthin gültige – epistemische und zugleich moralische Kernwissen bilden die von mir aufgeführten Geltungsansprüche und primordialen Diskursverpflichtungen. Diese transzendental diskurspragmatische Liste von Sinnbedingungen ist aber, wie ich stets betont habe, vor allem, wenn wir vor neuen oder erheblich veränderten Problemsituationen stehen, kohärent zu ergänzen. Das hat Hans Lenk zu Recht mit dem Dialogversprechen Nr. 9 getan – strikt kohärent, da es sich direkt an das Dialogversprechen Nr. 4 anschließt. Ist es doch ein intern konsequenter, heute zudem dringlicher Schritt zur Wahrnehmung unserer Mitverantwortung »für den Diskurs als Möglichkeit der Verantwortung jetzt und in Zukunft.« Also: Ein diskurspragmatischer Meliorismus ist legitim und möglicherweise notwendig in den Sinngrenzen der Geltungsansprüche und Diskursverpflichtungen a priori. Die transzendentale Diskurspragmatik und -ethik eröffnet einen Meliorismus nicht allein der besseren Formulierung, sondern auch der diskursreflexiv abgesicherten Kriterien-Ergänzung bzw. kohärenten, an die Geltungs-
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Postskript
ansprüche anschließenden, Fortschreibung der diskurspragmatischen Sinnbedingungen. 1
Wie unabdingbar, nämlich vorbeugend gegen Relativismus und Diskurs-Sinnlosigkeit, transzendentale Sinnkriterien sind, habe ich selbstkritisch erfahren: bei einem Rückblick auf meine kritizistisch hermeneutischen Begleitstudien zu meiner (damals noch nicht im Druck erschienenen) Dissertation Metakritik der Marxschen Ideologiekritik, 1. Aufl. Frankfurt a. M. 1971. Es sind: »Das Problem des ›emanzipatorischen Interesses‹ und seiner gesellschaftlichen Wahrnehmung«, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 14. Jg., 4, 1970, S. 220–240, und »Technologie und Engagement«, in: E. Kramm (Hg.), Der Mensch in der geplanten Welt, Stuttgart 1970, S. 42–50. Dort wird – im letzten Absatz – eine selbstkritische »neue Begriffsbildung« postuliert, die »vermutlich auch die von mir jetzt noch gebrauchten Begriffe Theorie, Praxis, Dialektik und andere mehr« beträfe. Ein solcher, nicht von transzendentalpragmatischen Sinnkriterien eingegrenzter Meliorismus würde einem haltlosen Begriffs-Relativismus und der pragmatischen Selbstwidersprüchlichkeit Tür und Tor öffnen.
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3. Zu Dietrich Böhlers Brückenschlag zwischen Diskursethik und Hans Jonas’ Metaphysik der Ethik. Eine objektiv-idealistische Weiterführung Vittorio Hösle In einer Zeit, in der viele Philosophen sich einer »Schule« anschließen (die oft nicht so sehr durch gemeinsame theoretische Annahmen als durch ein Netzwerk wechselseitiger Gefälligkeiten von Zitierungen über Vortragseinladungen zu Berufungen gebildet wird) und das, was außerhalb dieser Schule intellektuell passiert, weitgehend ignorieren, denkt man mit Nostalgie an das philosophische Gespräch, das Hans Jonas und Karl-Otto Apel 1990 auf den Konferenzen in Kiel und im norwegischen Melbu miteinander geführt haben. Einerseits war das Gespräch naheliegend, denn Jonas und Apel gehören ohne jeden Zweifel zu den bedeutendsten deutschsprachigen Ethikern der Nachkriegszeit. Andererseits waren biographischer Hintergrund, philosophische Grundintuitionen, Argumentationsstil und sprachlicher Duktus beider Denker so verschieden, daß es wirklicher intellektueller Neugierde und aufrichtiger Achtung vor dem Ansatz des anderen bedurfte, um ein solches Gespräch in Gang zu bringen und am Leben zu erhalten. Nach Jonas’ Tod 1993 ist es besonders Dietrich Böhler gewesen, der den inneren Zusammenhang zwischen beiden philosophischen Ansätzen herausgearbeitet, ja, auf originelle Weise in seiner Diskurspragmatik weitergedacht hat. Es ist ein Zeichen seiner die Enge von Schulen transzendierenden Offenheit, daß er, obgleich Apelschüler, die große und fordernde Aufgabe einer Kritischen Hans-Jonas-Edition auf sich genommen hat (zusammen mit Michael Bongardt, Holger Burckhart und Walter Ch. Zimmerli). In seinem Text »Was gilt? – Du bist Mitbeteiligter und Diskurspartner. – Seid mitverantwortlich!«, auf den ich mich hier beschränke, 1 weist Böhler auf folgende
Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diesen Aufsatz Böhlers. – Eine Rezension seiner Habilitationsschrift Rekonstruktive Pragmatik (Frankfurt 1985) legte ich in: Zeitschrift für philosophische Forschung 40 (1986), 644–648 vor.
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Dietrich Böhlers Brückenschlag
Gemeinsamkeiten beider Denker hin: Beide wollen den metaethischen Subjektivismus überwinden und arbeiten an der Grundlegung einer objektiv verpflichtenden Ethik (wobei Jonas das Fundament in einer Naturteleologie, Apel in der idealen Kommunikationsgemeinschaft sucht); beide erkennen die spezifische Herausforderung, die das technische Zeitalter darstellt, und leiden an der Spannung zwischen den in unserer Ära enorm ausgedehnten Folgen unseres kollektiven Handelns und der Lähmung der Wertrationalität durch die Reduktion von Vernunft auf Mittel-Zweck-Rationalität; beide lehnen den naturalistischen Szientismus ab, der in letzter Instanz Geist zu einem Epiphänomen elektrochemischer Prozesse im Gehirn macht und ihn, wäre er nur konsequent, damit seiner Wahrheitsfähigkeit berauben müßte. Treffend schreibt Böhler in Anschluß an Jon Hellesnes: »Hans Jonas hat diese Theorie als Ohnmachtserklärung des Denkens, als ›theorievernichtende Theorie‹ entlarvt, Apel und dessen Schüler haben diese szientistische Metaphysik als selbstwidersprüchliche Kommunikationsvergessenheit, als selbstzerstörerische Argumentation vor Augen geführt und dagegen das sinnkritische Postulat der ›Selbsteinholung‹ des Denkens geltend gemacht.« (i. d. B. S. 55) Doch Böhler sieht nicht nur Gemeinsamkeiten zwischen beiden Denkern – er scheint sie auch als komplementär zu betrachten, erkennt also die Möglichkeit, beide einander ergänzen zu lassen. Denn auch wenn sein eigener Ansatz Apel nähersteht als Jonas, lehnt er, vielleicht auch aufgrund seiner Sensibilisierung durch ein Theologieneben dem Philosophiestudium, den Prozeduralismus ab, auf den sich Apel an vielen Stellen seines Werkes zu beschränken scheint – also die Ansicht, eine rationale Ethik könne nur die Rahmenbedingungen festlegen, innerhalb deren dann in empirischen Diskursen entschieden werde, was jeweils richtig sei. »Das ist m. E. entschieden zu wenig. Zudem schöpft Apel damit das Letztbegründungspotential der Transzendentalpragmatik keineswegs aus.« (i. d. B. S. 44) Böhlers eindrucksvolle Verteidigung des Lebensrechts von Embryonen am Ende seines Essays ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie er über den bloßen Formalismus seines Lehrers Apel hinausdenkt – und zwar durchaus unter Verwendung der Apelschen Methode der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der eigenen Kommunikation: »Und als Geborene, die dieses Urrecht entweder selbst oder durch einen Anwalt wahrnehmen können, zehren wir alle von der stillschweigenden Voraussetzung, daß uns eine beschützte, unbeeinträchtigte embryonale Entwicklung vergönnt war.« (i. d. B. S. 81) 109 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Vittorio Hösle
Besonders wichtig ist Böhlers Kritik an Jürgen Habermas’ Begrenzung der diskursethischen Normen auf den Diskurs selber; er beharrt dagegen darauf, »daß dieses Verwobensein eine moralische Mitverantwortung des Diskursteilnehmers für die ›Regulierung des Handelns‹ außerhalb des Diskurses einschließt.« (i. d. B. S. 65) Die sechste seiner Verbindlichkeiten a priori besagt: »Würden wir in einem praktischen Diskurs zwar nach den besten Lösungsmöglichkeiten für eine Situation suchen wollen, uns dann aber nicht um die praktische Realisierung dieser Lösungen scheren, so könnten wir nicht als glaubwürdig gelten; wir hätten einen L’art-pour-l’art-Plauderpartner abgegeben, aber nicht als ernstzunehmender Argumentationspartner an einem Diskurs teilgenommen.« (i. d. B. S. 74) Böhler sieht sich selber auf dem Wege »zu einem metaphysikfreien, aber die seinsteleologische Werterschließung als fruchtbare Wertheuristik ernstnehmenden Denken aus dem Dialog, das, wie gesagt, um die Begründungsfrage ›Warum moralisch sein?‹ kreist.« (i. d. B. S. 38) Offenbar ist diese Synthese von Apel und Jonas in seinen Augen noch nicht abgeschlossen; denn wir lesen: »Transzendentalphilosophie nach der sprachpragmatischen Wende (auf dem Niveau Apels) und nach der biologisch-ontologischen Wende (im Sinne von Jonas) steht m. E. noch an.« (i. d. B. S. 43) Mich überzeugt und fasziniert Böhlers Bemühen um eine Synthese von Jonas und Apel. Ich darf erwähnen, daß meine »Philosophie der ökologischen Krise« von 1991 Jonas, meine »Praktische Philosophie in der modernen Welt« von 1992 Apel gewidmet war – denn auch mir waren diese beiden Philosophen die inspirierendsten Ethiker der Gegenwart, und wie Böhler sah und sehe auch ich in der Verbindung beider nur auf den ersten Blick einander diametral entgegengesetzter Ansätze eine der fruchtbarsten philosophischen Herausforderungen der Gegenwart. Allerdings besteht ein zentraler Unterschied zwischen Böhlers und meinem Syntheseversuch darin, daß meine eigene Vermittlung entscheidend durch eine umfassende Rezeption von Platons und Hegels objektivem Idealismus mitbestimmt war. Anstatt mich auf Böhlers konkrete Ethikbegründung einzulassen, will ich hier auf einige unserer Differenzen hinsichtlich grundlegender Prinzipienfragen der Philosophie eingehen (insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses des dritten zum ersten und zweiten Paradigma der Ersten Philosophie) und andeuten, warum die Tradition des objektiven Idealismus der beste Rahmen ist für die von uns beiden angestrebte Vermittlung beider Denker. 110 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Dietrich Böhlers Brückenschlag
Mit Apel und Böhler gehe ich davon aus, daß moralische Normen transzendental-reflexiv durch Rekonstruktion dessen begründet werden müssen, was im Akte philosophischen Nachdenkens (sei dieser subjektiv, sei dieser intersubjektiv konzipiert – ich komme noch darauf zurück) immer schon als werthaft vorausgesetzt ist. Denn bei dem Erschließen von Sollen aus Sein handelt es sich in der Tat um einen illegitimen naturalistischen Fehlschluß. Jonas scheint ihn zu begehen, wenn er teleonomischen Strukturen bei Organismen mit interner Zweckmäßigkeit einfach Wertcharakter zuspricht. Immerhin läßt sein Hinweis auf die Unhintergehbarkeit von Zwecksetzungen im metaethisch entscheidenden ersten Abschnitt des vierten Kapitels, »Sein und Sollen«, seines Hauptwerkes Ansätze zu einer transzendentalen Begründung erkennen. 2 Und zudem versteht sich, daß das Verbot des naturalistischen Fehlschlusses keineswegs ausschließt, daß die Wirklichkeit von werthaften Strukturen durchdrungen ist. Jeder Argumentierende muß voraussetzen, Personen seien wertvoll; und insofern Organismen Züge der Personalität präfigurieren, ist es plausibel, auch ihnen einen intrinsischen Wert zuzusprechen, der freilich demjenigen der Person untergeordnet sein muß. Diese Gegenstände sind nicht werthaft, weil sie sind; aber die partielle Umkehrung dieser Proposition ist durchaus statthaft: Vieles ist (existiert) deswegen, weil es werthaft ist. Diese Aussage, die von Platon bis Leibniz und Nicholas Rescher 3 manche Metaphysiker angezogen hat, muß natürlich vor zwei Mißverständnissen bewahrt werden, um nicht a limine als absurd verworfen zu werden. Erstens ist das »weil« nicht im Sinne der Wirkursache eines einzelnen Dinges zu verstehen. Wirkursachen von Tatsachen sind stets andere Tatsachen. Aber die Welt als ganze ist so nicht zu erklären, da Kausalerklärungen nur innerweltlich möglich sind. Und die einzige plausible »Erklärung« der Gesetze der erfahrbaren Wirklichkeit ist der Verweis auf etwas, das nicht bloß empirisch ist; und das kann nichts anderes sein als eine ideale Sphäre der Normen. Diese Normen sind zumindest einschränkende Bedingungen für die Wirklichkeit – ob sie die Wirklichkeit als ganze festlegen, ist viel schwerer zu entscheiden. Und da die idealen Normen nur die Welt als ganze (bzw. Grundstrukturen von ihr) prinzipiieren, ist der Wertmetaphysiker zweitens keineswegs auf die Annahme festgelegt, ein Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 2003, 153 ff. Vgl. dessen Bücher: Axiogenesis. An Essay in Metaphysical Optimalism, Lanham 2010 und Metaphysical Perspectives, Notre Dame 2017. 2 3
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Vittorio Hösle
jedes Einzelereignis sei gut. Es mag durchaus schlecht sein, aber etwa durch seine Konsequenzen die Summe des Guten erhöhen. Palmströms messerscharfer Schluß »Nicht sein kann, was nicht sein darf« in Christian Morgensterns höchst geistreichem Gedicht »Die unmögliche Tatsache« ist tatsächlich ein Fehlschluß, aber nur weil er sich auf ein Einzelereignis, in seinem konkreten Falle: das eigene Überfahrenwerden, bezieht. Die Aussage dagegen »Die Welt ist – wenigstens zum Teil –, wie sie ist, weil sie ideal geltende Werte verwirklicht« ist eine logisch einwandfreie metaphysische Theorie. Im Rahmen dieser Theorie läßt sich auch der Gegensatz zwischen Realismus und Transzendentalphilosophie überwinden. Wird die Natur durch unsere Geltungsansprüche konstituiert, wie die transzendentale Denkform (subjektiver oder intersubjektiver Art) behauptet, oder erfolgen unsere Ansprüche selbst innerhalb der Natur, und zwar als durch natürliche Prozesse determiniert, wie der Naturalismus lehrt? Nun, beides ist richtig: Argumentieren wird von innerweltlichen endlichen Geistern vollzogen; aber jedes Sprechen über Natur setzt voraus, daß der Geist wahrheitsfähig ist. Die Natur muß also notwendig als etwas konzipiert werden, das auf Geist und Kommunikation hin angelegt ist; und da rückwirkende Kausalität nicht statthat, bedarf es eines Prinzips, das die Natur so konstituiert, daß sie Subjektivität und Intersubjektivität hervorbringen muß. Jonas’ großartige philosophische Biologie, deren Nähe zur »Organik« in Hegels »Naturphilosophie« auffällig ist, ist ein bedeutender Baustein in einer zwischen Realismus und Transzendentalphilosophie vermittelnden Position. Denn einerseits bindet der Heideggerschüler Jonas den Geist an die organische Seinsform, die er als Generalisierung des ›Daseins‹ aus »Sein und Zeit« faßt; andererseits wird der Organismus als eine ontologische Sonderform gefaßt, die dem Geist entgegenstrebt. Treffend schreibt Böhler wohl in diesem Sinne: Der »transzendentalpragmatische Grundsatz bezeichnet das wechselseitige Voraussetzungsverhältnis von transzendentaler Reflexion und Ontologie, insofern er sich auf das kommunikative Handeln und auf Seinsbedingungen des leibhaften Diskursteilnehmers zugleich bezieht. Damit indiziert er m. E. die gemeinsame Basis einer Ontologie des Lebens, das sich zur freien Kommunikation aufstuft, und der transzendentalen Reflexion auf Sinnbedingungen der Kommunikation.« (i. d. B. S. 71) Böhlers Bekenntnis zu einem »metaphysikfreien, aber die seinsteleologische Werterschließung als fruchtbare Wertheuristik ernstnehmenden Denken« scheint mir allerdings einer Angst vor Meta112 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Dietrich Böhlers Brückenschlag
physik zu entspringen, wie man sie auch bei Habermas findet und die auf mangelnder Klärung des Begriffs beruht. Identifiziert man Metaphysik und Ontologie, versteht es sich von selbst, daß Philosophie gar nicht metaphysikfrei sein kann; denn die Philosophie muß auf das Bezug nehmen, was ist. Auch eine von der Subjektivität oder der Intersubjekivität ausgehende Transzendentalphilosophie muß klären, was ein Subjekt und was eine Person sind und was sie von anderem Seienden unterscheidet, das weder Subjekt noch Person ist; und all das ist Ontologie. Man kann höchstens sagen, die Pointe des zweiten bzw. dritten Paradigmas der Ersten Philosophie bestehe darin, die Ontologie telelologisch auf die Subjektivität bzw. Intersubjektivität hin zu konzipieren; aber das ändert nichts an der Notwendigkeit einer Ontologie bzw. Metaphysik. Nur wenn man unter »Metaphysik« eine Theorie dessen versteht, was die Natur transzendiert, kann man konsistenterweise von einer metaphysikfreien Ontologie sprechen, wie sie etwa der Naturalismus verteidigt. Aber Böhler ist gerade kein Naturalist und verwirft die Reduktion von Sollen auf Sein. Daher kann er der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Sollen nicht ausweichen, und wie soll man dieses Verhältnis anders bezeichnen denn als ein metaphysisches Problem, da ja ein Relat dieser Relation nicht naturimmanent ist? Aber nicht nur die Kritik am ersten, metaphysischen Paradigma scheint mir über das Ziel hinauszuschießen – das gilt auch für die scharfe Wendung gegen das zweite Paradigma der Subjektivität. Wenn Böhler »die Rettung der Vernunft aus den Fallstricken des methodischen Solipsismus und des (post-)cartesischen Dualismus« (i. d. B. S. 99) beschwört, frage ich mich, was denn an der cartesischen Theorie der Irreduzibilität des Mentalen auf das Physische falsch sein soll – m. E. einem der größten Durchbrüche in der Geschichte der Philosophie, an Bedeutung vergleichbar der Platonischen Entdeckung der Ideen und der Kantischen Konzeption eines reinen Sollens. Der cartesische Interaktionismus als spezifische Lösung des Leib-Seele-Problems scheint zwar auch mir unhaltbar, aber die Einwände, die von Elisabeth von der Pfalz an gegen diesen Lösungsvorschlag vorgebracht wurden, haben die grundlegende cartesische Theorie, den Dualismus, keineswegs widerlegt, sondern vielmehr zu ingeniösen Alternativen zum Interaktionismus geführt. Ohne eine robuste Theorie der Subjektivität (einschließlich einer Diskussion des Leib-Seele-Problems) kann eine Theorie der Intersubjektivität gar nicht vorgelegt werden; denn diese setzt jene voraus. Allerdings geht sie über jene bedeutend hinaus; ins113 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Vittorio Hösle
besondere bedarf sie einer Theorie des Erfassens von Fremdseelischem, 4 das wechselseitigem Verstehen zugrunde liegt, wie es in jeder Kommunikation vorausgesetzt wird. (In der Diskursethik handelt es sich dabei um den ersten der vier Geltungsansprüche.) Böhlers Kritik am methodischen Solipsismus vermeidet den Rückgriff auf das besonders von Wolfgang Kuhlmann 5 entwickelte Argument, wir seien deswegen auf die Kommunikationsgemeinschaft angewiesen, weil eine Privatsprache und damit die Geltungsreflexion eines isolierten Einzelnen gar nicht möglich sei. Zwar ist es empirisch sicher zutreffend, daß Menschen durch Sozialisierungsprozesse zur Autonomie gelangen; aber das bedeutet noch keine transzendentale Notwendigkeit. Und sosehr auch aus der vernünftigen, gerade dem objektiven Idealismus zugrunde liegenden Annahme, alles Seiende müsse im Prinzip erkennbar sein, folgt, ein allen anderen grundsätzlich verschlossenes mentales Leben könne es nicht geben, sowenig bedeutet dies, daß jeder, der denkt, seinen Geltungsanspruch auf die Bezugnahme auf Kosubjekte gründe. Gewiß, wenn etwas wahr ist, muß es im Prinzip von allen Vernunftwesen als wahr anerkannt werden – aber das heißt keineswegs, es sei deswegen wahr, weil andere es anerkennen; sie sollen es vielmehr anerkennen, weil es wahr ist. Das gilt auch für zahlreiche moralische Normen – allerdings nicht für alle, weil manchmal das bloße Faktum des Konsenses ausreicht, um eine Handlung zwischen Menschen legitim sein zu lassen. Aber das ist keineswegs immer so, und wir brauchen eine Theorie (die ihre eigene Geltung nicht aus dem Konsens bezieht), wann dies der Fall ist. 6 Böhler weist eindrucksvoll auf das hin, was man eine Kierkegaardsche Situation des einzelnen nennen könnte – eine Situation, die in totalitären Staaten und Gesellschaften durchaus nicht selten ist und die kaum einer literarisch subtiler dargestellt hat als Eugène Ionesco in Rhinocéros (Die Nashörner), wo am Ende der einzige Bérenger der allgemeinen Verwandlung der Menschen in Nashörner widersteht. »In dem Extremfall, daß ein einzelner Moral- und Diskursfreund allein gegen eine diskurs- und moralfeindliche Umwelt 4 Zu einer solchen Theorie siehe mein Buch: Kritik der verstehenden Vernunft, München 2018. 5 Reflexive Letztbegründung, Freiburg/München 1985, 145 ff. Auch spätere Versionen des Arguments durch Kuhlmann überwinden m. E. nicht die Zirkularität seines Ansatzes, die ich in Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie (München 1990, 181 ff.) aufgedeckt zu haben glaube. 6 Vgl. V. Hösle, Moral und Politik, München 1997, 530 ff.
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Dietrich Böhlers Brückenschlag
stünde, wäre er ganz auf sein Gewissen angewiesen, d. h. auf einen Gewissensdiskurs, der aber – nach ›bestem Wissen und Gewissen‹ urteilend – auch in größter Einsamkeit einen argumentativen Konsens aller Diskurspartner als solcher sucht.« (i. d. B. S. 76) Ich stimme Böhler zu, daß eine Gewissensentscheidung, um ernst genommen zu werden, sich nicht einfach auf das eigene Gefühl versteifen kann, sondern im Prinzip in einem rationalen öffentlichen Diskurs rekonstruierbar sein muß. Aber erstens mag ein solcher Diskurs faktisch nicht möglich sein, so daß jene Suche zumindest bis auf weiteres aufgegeben werden muß, und zweitens bleibt es dabei, daß die Überprüfung der eigenen Entscheidung durch andere nur dann gültig ist, wenn sie sich auf sachliche Argumente beruft. Um diese, nicht um die Zustimmung der anderen, muß es dem gewissenhaften Subjekt gehen. Dazu muß er die Argumente, die ihm von anderen vorgelegt werden, ernst nehmen und durchdenken, als ob sie von ihm selber kämen. Da die Zahl der Kosubjekte viel zu groß ist, als daß mit allen Kontakte gepflegt werden könnten, da zudem viele Menschen nur Varianten derselben Argumente vorbringen, ist es legitim, ja, unvermeidlich, sich auf die wichtigsten Theorien der Ethik zu beschränken, wenn man sich einen Überblick über die Hauptideen zum sittlich Gebotenen verschaffen will, die ein rationales Gewissen lenken sollen. Die Autoren vieler dieser Theorien mögen schon lange tot sein; sofern ihre Argumente stärker sind, ist man wohlberaten, ihr Studium dem aktuellen Diskurs mit zeitgenössischen Ethikern vorzuziehen. Ganz anderer Art ist dagegen unsere Pflicht, uns mit jenen auseinanderzusetzen, auf die unsere Handlungen einen negativen Einfluß ausüben. Trage ich Verantwortung für Beeinträchtigungen anderer, bin ich rechenschaftspflichtig – aber dieser konkrete Diskurs ist gerade nicht auf die Suche nach ethischen Prinzipien ausgerichtet, sondern setzt diese vielmehr voraus und sucht auf deren Grundlage nach konkreten Lösungen moralischer Konflikte. Genesis und Geltung sind stets streng zu unterscheiden – aber als objektiver Idealist weiß man, daß das, was (aus anderen Gründen) gilt, selbst eine Genese hat. Die beglückende philosophische Übereinstimmung zwischen Dietrich Böhler und mir verdankt sich neben der Kraft der betreffenden Argumente sicher auch der Tatsache, daß wir beide mit Apel und Jonas gemeinsame intellektuelle Vorfahren haben und somit gleichsam intellektuelle Geschwister sind.
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3.1. Im Gespräch mit Vittorio Hösle. Keine Angst vor Metaphysik und Ontologie – in den Sinngrenzen diskurspragmatischer Selbsteinholung Dietrich Böhler Viel zu bekannt sind Sie, lieber Herr Hösle, als daß es irgend angezeigt wäre, ein vorstellendes Wort über Sie zu verlieren. So leite ich diese Antwort auf Ihren Text nur mit persönlichen Reminiszenzen ein. Unsere erste Quasi-Begegnung war Ihre wohlwollende kritische Rezension meiner Rekonstruktiven Pragmatik in der Zeitschrift für philosophische Forschung 40 (1986), die freilich einen Dissenspunkt aufdeckte, der vielleicht bis heute besteht: die transzendentalpragmatische These, daß der methodische Solipsismus (von Descartes über Kant bis zu Husserl) sinnwidrig sei, weil Sinn und Geltung einer Position auf dem Apriori der Kommunikationsgemeinschaft beruhten. Zwar haben Sie meinen sinnkritisch apagogischen (die Sinnlosigkeit des methodischen Solipsismus und die Unhintergehbarkeit des Sprach- und Kommunikationsaprioris darlegenden) Dialog zwischen »Socia« und »Privatus« in Verbindlichkeit aus dem Diskurs vor kurzem einmal anerkannt. Im Blick auf Ihr neues großes Werk Kritik der verstehenden Vernunft scheint mir besagter Dissens jedoch fortzubestehen. Oder? Am Schluß gehe ich nochmals darauf ein. Persönlich sind wir einander zunächst kaum je, wohl nur einmal kurz in Essen begegnet. Aber von Karl-Otto Apel hatte ich sozusagen die Rumpf-Laudatio im Ohr: »Ja, Hösle – unser Mozart«. Und Matthias Kettner erinnert sich an den Ausspruch: »Er ist ein Genie.« 1998 eröffneten Sie in Gegenwart unserer verehrten, Sie hochschätzenden Lore Jonas im Berliner Centrum Judaicum die ersten Hans Jonas-Tage und hoben damit auch das Hans Jonas-Zentrum, das ich an meinem Lehrstuhl vorbereitet und mit einer interdisziplinären Studienbibliothek ausgestattet hatte, aus der Taufe. Nur noch zweimal wohl haben wir uns dann in Berlin getroffen. Zuletzt am 7. April 2016 zu einem belebenden Nachmittagsgespräch in Thomas Rusches Charlottenburger Galerie und bei Ihrem Abendvortrag in der Katholischen Akademie. Wir schlossen Freundschaft und schrie116 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Im Gespräch mit Vittorio Hösle
ben uns häufiger; und zur Begeisterung Frau Ingrid Hoppes, meiner langjährigen Sekretärin und hochengagierten ›Seele‹ des Zentrums, beantworteten Sie die Berliner E-Mails postwendend, meist binnen zehn Minuten! Vor allem aber: Es war großartig, wie Sie der nicht nur permanent unterfinanzierten, sondern z. T. pekuniär perspektivlosen Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas mit fulminanten Gutachten unter die Arme griffen. Sie und Präsident a. D. Professor Wolfgang Frühwald † waren unsere Retter. Vergelt’s Gott! Über Ihre, in bewährter Hösle-Manier promptest erfolgte Antwort auf den Essay »Was gilt?« habe ich mich sehr gefreut. Zu Recht mahnen Sie darin die Klärung meines Verhältnisses zur Metaphysik an, zumal ich in dem Essay unangemessenerweise von »metaphysikfreiem« Denken gesprochen habe. Zu fordern ist vielmehr ein Denken, das frei von dogmatischer Metaphysik ist. Meine von Ihnen vermutete »Angst vor Metaphysik«, besser: meine frühere, in unserem Charlottenburger Gespräch selbstkritisch eingeräumte, frankfurterische Perhorreszierung der Metaphysik und spekulativen Ontologie, hoffe ich, im Diskurs mit Hans Jonas abgelegt zu haben. 1 Das bezeugt wohl schon meine Laudatio auf den Berliner Ehrendoktor Jonas. Wird dort doch ein Kooperationsverhältnis von »ontologischer Wertlehre« und »Prinzipienreflexion«, welche »Normenbegründungsdiskurse« auf die Bahn bringt und anleitet, entworfen und knapp begründet. 2 Das Motiv meiner Skepsis gegenüber Metaphysik – und gegenüber einer, nota bene, spekulativen Ontologie Dietrich Böhler, »Hans Jonas – von der Hermeneutik der Entmythologisierung zur Ethik der Zukunftsverantwortung. Laudatio des Dekans«, in: D. Böhler u. R. Neuberth (Hg.), Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren, Münster/Hamburg 1992, S. 27–36, hier: S. 28. Es müsse, betonte ich, »möglich sein, metaphysische Fragen zu erörtern und sinnvolle Antworten darauf zu versuchen. Erst, wenn wir das tun, verhalten wir […] uns dialogisch verantwortlich, weil wir unseren Dialogpartnern nur dann in Orientierungsfragen Rede und Antwort stehen können, wenn wir uns auch metaphysisch oder theologisch befragen lassen: Woher kommen wir? Wie können wir Menschen uns im Ganzen des Seins und dieses im Blick auf uns verstehen?« Und daran schlösse sich die Frage nach einem möglichen (gar denknotwendigen?) »göttlichen Grund des Seins« an, wie Jonas ihn in seinem ›rationalen Mythos‹ gedacht hat. Diese hochspekulativ scheinende Frage nach einem »anfänglichen, schöpferischen Willen und dessen weiterem Wirken« entpuppt sich als durchaus sinnvoll. Denn: Kann die »erste Ursache von Geist […] weniger als Geist gewesen sein?« Vgl. Hans Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, in: KGA III/1, S. 241–185, hier: S. 253 und 264 (ff.). 2 Dietrich Böhler, in: Herausforderung Zukunftsverantwortung, S. 33 bzw. 32 f. 1
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Dietrich Böhler
halte ich freilich für legitim, ja vernunftgemäß und sinnkritisch abgesichert. Warum? Nun, eine rechtfertigungsfähige, pragmatisch widerspruchsfreie Philosophie muß, damit sie nicht selbstwidersprüchlich werde, auf Selbsteinholung angelegt sein. Wäre alles andere nicht eine im Kantischen Sinne dogmatische, überschwengliche Metaphysik? So möchte ich Sie fragen. Ihrem terminologischen Vorschlag, Metaphysik und Ontologie zu identifizieren, folge ich gerne, wenn wir unter beidem eine Theorie verstehen, die wir mit widerspruchsfreien Argumenten vertreten können, so nämlich, daß unsere Argumente den acht von mir rekonstruierten Diskursverpflichtungen a priori, die sich aus der Perspektive des anderen Diskurspartners (strikt reflexiv) als Dialogversprechen a priori erweisen lassen, ebenso gerecht werden wie dem von Hans Lenk hinzugefügten neunten, das ja (auch) auf Metaphysik gemünzt zu sein scheint. Dank des Prinzips der Selbsteinholung im Rücken habe ich mit dieser Terminologie keine Schwierigkeiten, sondern sehe vielmehr die dialogphilosophische Unumgänglichkeit, die Ontologie des Dialogs angemessen zu berücksichtigen. Wie? Indem wir den »ebensowohl logischen wie ontologischen Ort« von Freiheit und Verantwortung rekonstruieren: »Dieser Ort ist der Dialog.« In diesem Sinne sprach ich in Vorlesungen und im Kolloquium wie auch in Verbindlichkeit aus dem Diskurs gerne von dem »Sein des Dialogs« 3 und tue das nach wie vor. Zudem halte ich es für angemessen, ja für transzendentalpragmatisch richtig, die vorgängigen Dialogversprechen als »den Geltungsboden und den Seinsboden« zu bezeichnen, auf dem der Etwas-Denkende und Kommunizierende steht bzw. auf den er sich stellen muß, sofern er als glaubwürdiger Diskurspartner gelten will. 4 Dem Verhältnis von Sein und Sollen, das ich als meta-ethisches und meta-physisches verstehe, ist die Transzendentalpragmatik und ihre diskurspragmatische Weiterentwicklung in der Tat nie ausgewichen. Wie zu Anfang von »Was gilt?« mit Apel betont, läßt sich eine Pflicht zur Zukunftsverantwortung allein aus (teleologisch interpretierten) Tatsachen des Seins nicht herleiten. Wohl aber gibt es Tatsachen des Seins, die geradewegs Bedingungen der Möglichkeit des argumentativen Diskurses sind, in Sonderheit Existenzbedingungen unserer selbst als leibhafter Diskurspartner. Dazu gehört, wie 3 4
Vgl. Dietrich Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 435 f. Ebd., S. 436, vgl. S. 437 ff. und 313 f.
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Im Gespräch mit Vittorio Hösle
Hans Jonas in und seit Organismus und Freiheit gezeigt hat, – gewissermaßen ›unten‹ – ein funktionsfähiger Stoffwechsel mit zuträglicher Umwelt und dank einer solchen. Dazu gehört, gewissermaßen ›oben‹, wie er (wenngleich mißverständlich bzw. noch nicht transzendental zwingend) in »Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik« hervorhob, die Fähigkeit zur Verantwortung, und damit eine Seinseigenschaft des Menschen. In dieser haben sich Mentales und Physisches immer schon vermittelt. Denn es ist eine zugleich subjektiv diskursive und kommunikativ diskursive wie auch physisch leibhafte Fähigkeit. Verantwortungsfähigkeit und deren Voraussetzung, wahrgenommene Freiheit, sind ontologische Grundelemente des praktischen Diskurses. Im Blick darauf können wir, wie gesagt, von einer Ontologie des Dialogs sprechen, und zwar so, daß diese Ontologie als Vermittlungstheorie verstanden wird: Physisch und mental zugleich, weil sprachlich kommunikativ, ist der Dialog eine Vermittlungsinstanz schlechthin. Und als Diskurspartner, die sich im Begleitdiskurs selbst einzuholen vermögen, befinden wir uns eigentlich diesseits der falschen, sinnlosen Alternativen wie mens oder physis, Ontologie oder Subjektphilosophie oder Kommunikationsphilosophie. Und letztere können wir, glaubwürdige, sich einholende Diskurspartner, nicht anders denken denn als dialektische Aufhebung des Ersten und auch des Zweiten Paradigmas der Fundamentalphilosophie … Und was die Teleologie angeht, so kann sie der Selbsteinholung nicht allein dienlich sein, sondern ist ihr erforderlicher evolutionstheoretischer Zug. Denn zur Einholung unserer selbst als leibhafter Diskurspartner, die mit jedem Gedanken, jeder Sprechhandlung und jeder wortlosen Handlung zugleich Subjektivität und Intersubjektivität realisieren, bedarf es einer teleologischen Interpretation des Lebens/lebendigen Seins – vom primitivsten Stoffwechsel bis zum argumentativen Dialog, von den »stummen Wirbeln der Materie« 5 bis zur »transzendierenden Freiheit des Geistes« 6 und gewissermaßen von der Amöbe bis zu Einstein. Wenn wir die Ideen der Freiheit des Geistes und des moralischen Sollens in unserem Begriff der Evolution einholen wollen, dann verlangt die Selbsteinholung, daß wir diese Ideen als das Logisch-Erste Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, in: KGA III/ 1, S. 411. 6 Ders., Materie, Geist und Schöpfung, in: KGA III/1, S. 256 ff. 5
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Dietrich Böhler
anerkennen. Das schlug ich Hans Jonas in meiner Laudatio vor. 7 Dieser Vorschlag läuft nicht (wie bei Jonas) auf »eine Objektivität der Moral« 8 hinaus, sondern auf eine transzendentalpragmatische, dialogreflexiv abgesicherte Intersubjektivität der Moral, welche eine ontologische bzw. evolutionär-teleologische Begründung einschließen kann, ja muß. Jonas ist diesem Vorschlag freilich nicht gefolgt, sondern machte wiederum seine rein ontologische, m. E. spekulative Begründung geltend 9, die den Skeptiker außen vor läßt. Sie, lieber Herr Hösle, haben wohl recht mit Ihrer Annahme, daß Jonas den Heideggerschen Subjektivismus-Verdacht gegenüber transzendentaler Reflexion geteilt hat. 10 Erst eine solche kann jedoch den Skeptiker mit Hilfe von Selbstaufhebungsargumenten widerlegen. Die insbesondere von Apel vertretene Theorie von den drei Paradigmen der Ersten Philosophie 11 bzw. der Grundlagen/Begründungsweisen der Philosophie ist ein m. E. ebenfalls unnötiger, weil reflexiv überwindbarer Dissenspunkt zwischen Böhler und Hösle. Denn ich verstehe dieses philosophiehistorische Schema als das einer dialektischen Entwicklungslogik von Sein, Subjekt, Kommunikation oder von spekulativer Ontologie, tendenziell reflexiver Bewußtseinsbzw. methodisch solipsistischer Transzendentalphilosophie und kommunikativer Diskursphilosophie bzw. Transzendentalpragmatik: Das jeweils folgende Paradigma hat seine Berechtigung nur in dem Maße, als es eine dialektische Aufhebung des vorangegangenen leistet/leisten kann. So nämlich, daß es imstande ist, dessen Probleme sachlich angemessener, diskursförderlicher und ohne Selbstwidersprüche sowohl zu reformulieren wie auch entsprechend bessere, begrifflich und diskursiv fruchtbarere Lösungsversuche zu entwickeln. Ich verstehe diese Entwicklungslogik weniger als Fortschrittstheorie denn als diaDietrich Böhler, in: Herausforderung Zukunftsverantwortung, S. 32. Hans Jonas, »Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik«, in: KGA I/2, Erster Teilband, S. 530. 9 Ders., »Zum Dissens mit Dietrich Böhler«, in: D. Böhler u. R. Neuberth (Hg.), Herausforderung Zukunftsverantwortung, S. 115–117. 10 Vittorio Hösle, »Hans Jonas’ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie«, in: C. Wiese u. E. Jacobson (Hg.), Weiterwohnlichkeit der Welt. Zur Aktualität von Hans Jonas, Berlin 2003, S. 34–52 und 325–328, hier: S. 49. 11 Vgl. Karl-Otto Apel, Paradigmen der Ersten Philosophie. Zur reflexiven – transzendentalpragmatischen – Rekonstruktion der Philosophiegeschichte, Frankfurt a. M. 2011. Ders., »Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie«, in: ders., Transzendentale Reflexion und Geschichte, Frankfurt a. M. 2017, S. 7–24. 7 8
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Im Gespräch mit Vittorio Hösle
lektische Aufstufung der paradigmatischen Aufgaben, Fragestellungen und Grundbegriffe einer sich selbst einholenden Philosophie. Dementsprechend sehe ich das Dritte Paradigma genau insoweit als unüberholbar und als hinreichend kompetent an, seine Aufgaben im anspruchsvollen Sinne einer dialektischen Aufhebung zu lösen. Denn es kann eine transzendentale Selbsteinholung gewährleisten. Als Kriterium dafür taugen m. E. die von mir eingeführten acht impliziten, aber primordialen Dialogversprechen, die ich gerne mit Hans Lenk um ein neuntes erweitere, welches zur Weiterentwicklung der Zukunftsverantwortungsethik angesichts neuer Herausforderungen im digitalen und roboterisierten Zeitalter verpflichtet. Diese Verpflichtung kommt m. E. auch Skirbekks Meliorismus angemessen entgegen – oder? 12 Was die cartesische Theorie der Irreduzibilität des Mentalen auf das Physische anbelangt, so wird sie vom Dritten, kommunikationsbezogenen Paradigma nicht allein bestätigt, sondern vertieft. Hat dieses doch im Unterschied zum zugleich methodischen und ontologischen Solipsisten und ontologischen Dualisten Descartes das transzendentale Wissen, daß das Mentale und das Physische nicht allein über Sprachlichkeit bzw. sprachliche Kommunikation a priori vermittelt sind, sondern daß dieses Dritte sowohl dem Mentalen als auch dem Physischen zugehört: Ohne das zugleich physische (Laut-) Phänomen der Sprache kein mentales Selbstverhältnis, und ohne die logoshafte Kommunikation durch Sprache 13 kein lebendiger, lebensfähiger Leib. Nicht etwa die Zirbeldrüse, die sprachliche Kommunikation vermittelt mens und physis – schon immer und unverzichtbar. Wie soll eine »robuste« (und das heißt doch auch wohl: widerspruchsfrei geltend zu machende) Theorie der Subjektivität, die Sie mit Recht postulieren, möglich sein, wenn sie nicht weiß, daß die Subjekte, also wir, uns der Welt und unserer selbst durch ein ›Wir‹ bewußt sind und sein müssen, damit wir es durch ein ›Ich‹ sein können? Mit dieser Frage reformuliere ich ein Diktum Charles Taylors, und zwar im Anschluß an meine kommunikationsphilosophische Kantkritik. 14 Bin ich damit nicht auch in der Denknähe zu Jonas? Diese Frage richte ich vor allem an meine Diskurspartner Skirbekk, Lenk und Hösle. Vgl. Karl-Otto Apel, »Die Logos-Auszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Tragweite der Sprechakttheorie«, in: ders., Paradigmen der Ersten Philosophie, S. 92–137. 14 Vgl. Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 47, vgl. S. 33–47, 56–68 und 339–354. 12 13
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Dietrich Böhler
Es scheint mir ein (oder: der) Grundirrtum jedes Idealismus zu sein, wenn dieser davon ausgeht oder doch unterstellt, eine Theorie der Subjektivität und »des Erfassens von Fremdseelischem« könne als epistemische und transzendentale Basis der Intersubjektivität und der verstehenden Vernunft dienen. 15 Beide philosophischen Ansätze, Subjektivitätstheorie und Intersubjektivitätstheorie, bedürfen einander von vornherein, und ihre spezifischen Phänomenbereiche, Subjektivität und Kommunikation, setzen einander wechselseitig voraus. Keines kann ohne das andere konzipiert werden, keines kann ohne das andere sein. Aufgrund dieser transzendentalen Verwobenheit ist eine Privatsprachenthese sinnlos und der methodische Solipsismus unhaltbar. Umso mehr interessiert mich: Deutet sich in Ihrer Antwort (im Text zwischen Fußnote 5 und 6) eine Einigung in Bezug auf das Kommunikationsapriori an? Lassen Sie uns unterscheiden zwischen einer faktischen »Bezugnahme auf Kosubjekte« und der zweifachen transzendentalen Voraussetzung des dialektischen Kommunikationsaprioris, in dem ideale Argumentationsgemeinschaft und reale Kommunikationsgemeinschaft verwoben sind. Denn mit jedem Diskursbeitrag, mit jedem Gedanken setzen wir notwendigerweise – als Bedingung der Möglichkeit von Sinn und Gültigkeit – zweierlei voraus: eine ideale Kommunikationsgemeinschaft aller Vernunftwesen wie auch die Sinnressource realer Kommunikationsgemeinschaften. Denn letztere repräsentieren und tragen nicht nur die Sprachlichkeit und die Verständigungsmöglichkeit, sondern auch das geschichtliche Wissen und die Interessen der Menschheit. Ohne diesen Sinnhorizont bzw. diese Sinnbasis könnten wir uns weder – subjektiv – zu uns selbst verhalten und etwas als etwas Bestimmtes denken noch uns auf Andere und auf Sehr bemerkenswerterweise und, soviel ich sehe, noch kaum diskutiert, hat Hans Jonas in seiner Hermeneutikstudie »Wandel und Bestand. Vom Grunde der Verstehbarkeit des Geschichtlichen« (1970) geradezu intersubjektivitätstheoretisch im Einklang mit dem Apriori der Kommunikationsgemeinschaft im Sinne Apels und auch, pardon, mit der transzendentalhermeneutischen Struktur des quasi-dialogischen Handlungs- und Welt-Verstehens gegen die »nachkartesianische Bewußtseinslehre« argumentiert und das Problem des ›knowledge of other minds‹ als falsch gestellt zurückgewiesen. Es könne nicht darum gehen, »wie wir […] von der Inselhaftigkeit unserer privaten Subjektsphäre zu der ebenso inselhaften anderen – wenn es sie überhaupt gibt – hinüberreichen können. […] Wissen um Innerlichkeit überhaupt, sei es die eigene [!], sei es die anderer, ist gegründet auf der Kommunikation mit einer ganzen menschlichen Umwelt.« KGA III/1, S. 298 und 299.
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Im Gespräch mit Vittorio Hösle
Welt beziehen. Da jede/jeder immer schon von dieser Sinnbasis zehrt, wenn sie/er etwas denkt, also lautlos spricht, und natürlich wenn sie/ er ausdrücklich etwas sagt, dann widerspräche sie/er sich und dächte/ redete Sinnloses – bei jedem Versuch, diese transzendentale Basis in Zweifel zu ziehen. Deshalb, lieber Denkfreund Hösle, frage ich Sie, der für einen Philosophen nicht nur recht jung ist, sondern sowohl über eine sehr robuste Denkkraft verfügt als auch eine hochdifferenzierte transzendentale Reflexionskompetenz beweist, der zudem vertraut ist mit den Errungenschaften dialektischen Denkens: Warum setzen Sie nicht diesseits eines ›Ismus‹ an, bei der Dialektik selbst oder, wie wir auch sagen könnten, bei dem Vermitteltsein? Bei dem Vermitteltsein von Subjektivität und Kommunikation, Seelischem und Leiblichem und in gewisser Weise von Idealität und Faktizität … Gewiß, wer bin ich, daß ich Ihnen zurufe: »Werfen Sie, der Sie es könnten, der Sie bedeutende objektiv idealistische – dialektisch explikationsfähige und tendenziell konsenswürdige – Einsichten erarbeitet haben, und der Sie mit Apel und Jonas große, der Dialektik zugetane Denkvorfahren haben, werfen Sie das Steuerruder ein Stück weit herum: vom Idealismus zur konsequenten Dialektik als Denken, das bei der Vermittlung ansetzt!« Also nicht etwa, weil ich es sage. Vielmehr, weil sich Ihr objektiver Idealismus fruchtbar im Sinne jenes Vermitteltseins weiterführen läßt. Die Ansätze Ihrer Vorfahren lassen sich auf diesem Vermittlungswege zwanglos rekonstruieren; und Sie, lieber Freund, haben das Zeug, diese komplementären Denkansätze auf transzendentalem Niveau zu aktualisieren.
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3.2. Briefe zwischen Hösle und Böhler
Vittorio Hösle 24. 8. 2018 Lieber Freund, haben Sie ganz herzlichen Dank für die so großzügige und mich sehr ehrende Entgegnung auf meine Replik! Auch Ihre Antworten auf die anderen Mitphilosophen sind sehr klar und gleichzeitig empathisch. Zum Verhältnis von erstem und drittem Paradigma sind wir uns, glaube ich, einiger als zu dem Problem des Privatus (faszinierend, die sehr von Heidegger inspirierte Stelle von Jonas zum historischen Verstehen!). Ich hoffe aus ganzem Herzen, daß wir uns einmal mündlich darüber austauschen können. Im Text habe ich noch ein paar Tippfehler korrigiert und eine kleine Ergänzung beigefügt. […] Schonen Sie Ihre Kräfte und überarbeiten Sie sich nicht! –, herzlich Ihr Vittorio Hösle
Dietrich Böhler 28. 8. 2018 Lieber Freund, vielen Dank für Ihren E-Brief vom 24. August. […] Ich würde gern so antworten: Der von Jonas geltend gemachte Primat der Fähigkeit zur Kommunikation als aktiver Intersubjektivität erinnert m. E. an Löwiths Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, worin dieser an Feuerbach und etwa an Ebners und Gogartens Pointierung der »Ich-Du-Beziehung« anknüpft und in stillschweigender Heideggerkritik den »formalen Sinn der ›Verantwortlichkeit‹« (§ 28 des Buches) rekonstruiert. Warum meinen Sie, Jonas’ Text von 1969/1970 sei von Heidegger inspiriert? Meines Erachtens emanzipiert sich Jonas ein Stück Weges von 124 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Briefe zwischen Hösle und Böhler
Sein und Zeit. Scheint er hier in der Sache doch tendenziell mit G. H. Meads Apriori der Interaktion und Interaktionsgemeinschaft übereinzukommen. 1 Schade freilich, daß er Mead (vermutlich) nicht (bewußt) rezipiert hat. Dann hätte er nicht undeutlich, ja transzendental abwegig »die Richtung der Genese« ins Spiel gebracht … Zudem hätte er dann die Wechselseitigkeit von Ontologie, welche er im Fortgang des Kapitels II – an Organismus und Freiheit (»OuF«) anschließend – evolutionär zur Sprache bringt, und Transzendentalphilosophie ins Auge fassen können. Das wäre der Selbsteinholung zugute gekommen, die er z. B. im vorletzten Absatz von OuF hegelisch in Anspruch nimmt, wenn er ein »Zu-sich-selbst-kommen der ursprünglichen Substanz« postuliert. Weder in Sein und Zeit noch gar bei dem, von Jonas entlarvend kritisierten Mystagogen der »Seinsgeschichte« kann ja von Selbsteinholung die Rede sein … Mit Dank, auch für die Übersendung Ihrer Rezension, grüße ich Sie ganz herzlich. Ihr Dietrich Böhler
Vittorio Hösle 7. 9. 2018 Lieber Freund, haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief vom 28. 8. Die Auseinandersetzung mit Skirbekk ist sehr lehrreich; ich darf an meine Ausführungen auf S. 174 f. der »Krise der Gegenwart« erinnern, die in eine analoge Richtung gehen: Nicht alles ist fallibel, aber alles ist präzisierbar. Ich stimme allem zu, was Sie zu Jonas sagen. Mein Brückenschlag zu Heidegger bezog sich ausschließlich auf Jonas’ Aussage, man müsse sich nicht erst einen Weg zum anderen Selbst bahnen, sondern sei immer schon bei ihm – das ist aus der Lehre vom Mitsein in Paragraph 26 von »Sein und Zeit« übernommen. Nun bin auch ich davon überzeugt, daß wir davon ausgehen müssen, daß wir einander verstehen können (Kritik der verstehenden Vernunft, 48 f., 286 f.). Nur will ich begreifen, wie dieses Verstehen möglich ist, das sich eben
Natürlich hat Mead dieses Apriori nicht klar als ein solches dargelegt, sondern es eher methodisch behavioristisch verdunkelt. Also: Mead plus Apel!
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Briefe zwischen Hösle und Böhler
nicht von selbst ergibt, da ich keinen direkten Zugang zum anderen habe. Die anstrengende Arbeit meiner »Kritik« besteht darin aufzuweisen, wie die Welt beschaffen sein muß, damit in ihr Verstehen möglich ist. Man erspart sich diese Arbeit, aber eben auch den Genuß der durch sie vermittelten Einsichten, wenn man sich einfach auf das Mitsein beruft. Gerne können Sie diese und die frühere email publizieren. Mit herzlichen Grüßen und mit den besten Wünschen für Ihre Gesundheit, Ihr Vittorio Hösle
Dietrich Böhler Altjahresabend 2018 bis 2. Januar 2019 Lieber Freund Vittorio, darf ich Sie zum Abschluß dieses Jahres, in dem wir schöne philosophische und persönliche Kommunikationen hatten, so anreden und zugleich um eine – vorläufig letzte – Vertiefung unserer Diskussion bitten? Denn ich höre, daß sich die Fertigstellung des in Aussicht genommenen Büchleins Was gilt?, also unseres jetzigen Diskussionsforums, verzögern wird, so daß uns die Eile genommen ist und wir, so es Ihnen vor dem 8. Februar möglich ist, einen weiteren Schritt der diskursiven Konsensbildung versuchen können. Zwar hoffen Sie, wie auch ich, auf eine mündliche Fortsetzung. Doch wann würde, wird das sein? Und für Präzision und Verbindlichkeitschance wären wir wohl auch dann auf einen nachfolgenden schriftlichen Logos angewiesen, oder? Kurzum: Könnten Sie folgender Würdigung und Deutung der fundamentalphilosophischen Ansätze von Jonas einerseits und Apel andererseits zustimmen? (1) Und wenn ja, wie halten Sie es dann mit dem methodologischen bzw. transzendentalen Solipsismus? (2) (1) Die fundamentalphilosophische, ontologische und transzendentalphilosophische Richtung der Ansätze von Jonas und Apel, die es herauszuarbeiten und fruchtbar zu machen gilt, führt m. E. zu einem dialektischen Denken, das auf zwei einander voraussetzenden Denkebenen bei dem Apriori der »Vermittlung« ansetzt: – biologisch-ontologisch bei der, durch den Stoffwechsel vorgegebenen, riskanten Vermittlung des sich selbst erhaltenden Organismus bzw. eines selbstbehauptenden, aber sterblichen Daseins mit seiner materiellen und sozialen Umwelt, von Jonas als Dia-
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lektik von Notwendigkeit und Freiheit entfaltet 2, die sich evolutionär vom primitiven Organismus bis zum Menschen aufstuft, – sozial-ontologisch, und zwar transzendentalpragmatisch, bei Sprache und Kommunikation als Vermittlung eines möglichen Ichs mit Welt und Gemeinschaft 3, bei dem Situationsverstehen als Vermittlung von Akteur und Handlungsbedingungen und bei der Gegenseitigkeit als Vermittlung eines Ichs mit anderen und mit intersubjektivem Sinn (z. B. mit Traditionen, Institutionen, Gepflogenheiten). 4 Eine methodische Berücksichtigung dieser Vermittlungen a priori erschließt die condition humaine und ermöglicht ebenso das wirklichkeitsnahe Verstehen wie auch das nicht-rigoristische Beurteilen menschlicher Handlungsweisen. Sie ist es auch, die von der Selbstsicherheit eines vermeintlich objektiven Beobachters bzw. unparteiischen Beurteilers zum verstehensbemühten role taking eines dessen führt, der weiß, daß die ›Gegenstände‹ seines Verstehens und Beurteilens – Menschen und ihre Situationen – weder autark agieren und sich (wie ein ›Vernunftsubjekt‹) durchsichtig noch von außen durch reine Beobachtung und Analyse erkennbar sind. 5
Zum »Risikocharakter des Lebens« bei Jonas und zur Sorgestruktur des Lebens vgl. Karl Kardinal Lehmann, »›Also ist die Zukunft noch nicht entschieden‹. Das vielfältige Erbe des Philosophen Hans Jonas als Auftrag«, in: Böhler/Brune, Hg., 2004, bes. S. 171. Und Horst Gronke, »Einleitender Kommentar«, in: KGA I/1: Organismus und Freiheit, bes. S. CXXIX ff. 3 Sowohl aus dem Ansatz bei dem Stoffwechsel des Organismus als auch aus dem Ansatz bei dem Apriori von Sprache und Kommunikation ergibt sich ein Denken der Vermittlung, das diesseits der gegenläufigen Metaphysiken Idealismus und Materialismus bzw. Naturalismus ansetzt. Ein solcher Ansatz legte sich mir in der Auseinandersetzung mit Marx nahe, die ich als Rettung des (emanzipatorischen) Subjekts und der (kommunikativen) Intersubjektivität anlegte. Vgl. meine Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und ›Theorie-Praxis-Vermittlung‹, Frankfurt a. M., 2. Aufl. 1972 (zit.: Metakritik), bes. S. 96 ff., 101 f., 104 f., 262 ff. 4 Daraus ergibt sich die handlungstheoretische Dialektik, welche im Vorgängerbuch von Böhler, 2013/2014, entfaltet ist: Böhler, 1985. 5 Das ist die zugleich epistemische (zumal hermeneutische) und moralphilosophische Pointe von Böhler, 1985. Vgl. auch meine solipsismuskritische Diskussion mit Otfried Höffe und Manfred Riedel in: Funkkolleg: Studientexte, Bd. 1, S. 269–277. Ich halte jeglichen (auch den impliziten, wenngleich vom Autor bestrittenen) methodologischen/transzendentalen Solipsismus für eine sinnwidrige und auch moralphilosophisch unhaltbare Position. 2
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(2) Auch nach unserem jüngsten, hier nachzulesenden Austausch ist mir nicht klar, ob der von Ihnen vertretene objektive Idealismus und ob überhaupt ein Idealismus die intersubjektiven Voraussetzungen berücksichtigen und integrieren kann, die wir notwendigerweise ins Spiel bringen, wenn wir Reflexivität und Subjektivität, damit aber so etwas wie ein Erkenntnissubjekt, Handlungssubjekt und dessen mögliche sowie beanspruchte Autonomie bzw. Emanzipationsfähigkeit, konsistent denken wollen. Zunächst handelt es sich einerseits um eine geschichts- und sozialphilosophische Aufgabe – sie war Thema meiner Meta-Kritik der Marxschen Ideologiekritik 6 und meiner Kritik der Frankfurter Schule. 7 Darüber hinaus aber – und haben wir hier nicht tragfähigen Konsens? – geht es dabei sowohl um eine zentrale fundamentalphilosophische Aufgabe als auch um eine ebensolche bio-ontologische. Der bio-ontologischen Aufgabe hat sich die Transzendentalpragmatik leider nicht gestellt. Kein Wunder: Eine Reihe von Herkulesarbeiten, die Generationen in Atem halten können, standen plötzlich an. So galt es, nach der nationalsozialistischen Kulturkatastrophe ein verantwortungsfähiges Prinzipiendenken zu generieren, die Transzendentalphilosophie von Dualismus und Solipsismus zu befreien, aber auch die Hermeneutik, die Sprachphilosophie, den amerikanischen Pragmatismus und die Neuentdeckungen der Semiotik sowie der Sprachpragmatik auf transzendentales Niveau zu bringen … Alles das hat Apel, staunens- und bewundernswerterweise, auf sich genommen. Doch zurück zu unserem eigentlichen Gespräch, lieber Freund! Zweifellos kann das Leib-Seele-Problem nicht einfach durch Rückgang auf das doppelte Apriori der Kommunikationsgemeinschaft gelöst werden – aber ebensowenig ohne diesen. Denn ohne die Möglichkeit einer solchen transzendentalpragmatischen Vergewisserung entbehrten die sozialen Elemente der Psychologie, der Psychotherapie und überhaupt die Sozialpsychologie der philosophischen Grundlage. Zudem würde der transzendentale Solipsismus auch die Philosophie des Lebens, welche die Seele mit dem Leib und daher zugleich D. Böhler, Metakritik, S. 98–102, 201–217 u. ö. Vgl. »Kritische Theorie – kritisch reflektiert«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP), Vol. LVI/4, 1970. Ferner: »Zur Geltung des emanzipatorischen Interesses«, in: Materialien zu Habermas’ ›Erkenntnis und Interesse‹, hg. von Winfried Dallmayr, Frankfurt a. M. 1974, S. 349–368, und zumal »Über das Defizit an Dialektik bei Habermas und Marx«, ebd., S. 369–385.
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mit Sprachlichkeit und Intersubjektivität zusammendenken müßte, in die Begründungsunfähigkeit werfen. Denn er macht es unmöglich, das Zusammenspiel der uns selbst und unser Denken konstituierenden Kompetenzen wie Reflexivität der Seele und Intersubjektivität des Leiblichen einzuholen. Erlauben Sie, daß ich Ihnen nach Art des reflexiven Diskurses, den ich etwa in dem (ja stillschweigend Ihnen gewidmeten) Dialog zwischen Socia und Privatus versucht habe 8, die zugleich kommunikations- und subjektivitätsphilosophische Gretchenfrage stelle: Können Sie eine Reflexionsleistung erbringen, welche ohne Bezug auf die a priori doppelte Kommunikationsgemeinschaft auskommt, nämlich auf die reale, leibbezogene Sprach- und Handlungsgemeinschaft und die ideale, reine Argumentations- und Vernunftgemeinschaft? M. E. ist das nur unter Verzicht auf Selbsteinholung und nur im Selbstwiderspruch zu Ihren impliziten Geltungsansprüchen samt den damit verwobenen impliziten Dialogversprechen a priori möglich. Denn wie sollten Sie ohne Sprechakte auskommen, durch die Sie sowohl mit Hilfe einer realen Sprache, d. h. mit Bezug auf eine reale Kommunikationsgemeinschaft, etwas als etwas Bestimmtes verstehen, darlegen und es geltend machen als auch ihre Bereitschaft kundtun, das Dargelegte gegenüber allen sinnvollen Fragen sowie Einwänden – das aber heißt, vor dem idealen Forum einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft – zu vertreten? Sicher würden Sie nicht behaupten, dazu imstande zu sein. Daraus folgte freilich, daß Sie die, früher behauptete, Denkmöglichkeit eines Privatus bzw. einer Privatsprache, also des transzendentalen Solipsismus, fallen ließen. Denn auch ein Gedankenexperiment, z. B. in dem von Ihnen in Erinnerung gebrachten Roman Hayy Ibn Yaqdhan Ibn Tufails 9, ist notwendig (semantisch) auf sprachliche Darlegung in Propositionen und (pragmatisch) auf Behauptungen mit Sinngeltungsansprüchen angewiesen, für die Sie als Diskurspartner einstehen bzw. ohne Selbstwiderspruch müßten einstehen können. Das aber dürfte unmöglich sein: Ein prosolipsistisches Gedankenexperiment ist, strikt geltungslogisch gesehen, ein sinnloses Argument. Überdies müssen wir, um Sinn und Geltung unserer Gedanken kontrollieren zu können, zu Begleitdiskursen – ein bei mir zentraler In: Böhler, 2013/2014, S. 300–316. Vgl. Vittorio Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, München 1990, S. 192 ff.
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Begriff 10 – in der Lage sein. Systematisch gewendet: Der dialogreflexiv zugespitzte (und durch aktuelle Reflexion im Dialog auf die Diskursvoraussetzungen auch überprüfbare) transzendentalpragmatische Ansatz bei dem doppelten Kommunikationsapriori müßte m. E. vom objektiven Idealismus anerkannt und in diesen integriert werden. Es wäre wunderbar, besser gesagt: herrlich vernünftig, wenn wir uns darauf verständigen könnten. Für das gerade angebrochene Jahr wünschen wir gewiß beide, und zwar für den ganzen Erdkreis, was die praktische Vernunft trotz allem immer wieder erhofft und was der Psalmist (85,11) poetisch als Gottes Zusage vernimmt: daß Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. Herzlich Ihr Dietrich B. P.S.: Das Jahr 2019 begannen Bernadette, die mir das Erinnerungsbuch Vor aller Zeit Ihres bewunderns- und überaus liebenswerten Vaters geschenkt hat, und ich mit dessen gemeinsamer Lektüre. Wir empfinden von Seite zu Seite mehr die Warmherzigkeit, die Empfindsamkeit und einerseits die bedrückend von Kirchen- und Gottesangst gequälte Gläubigkeit, andererseits die in der Kindheit fabulierend entstehende, kasuistische Vernunft. Eine aufkeimende Vernunft mit menschenfreundlich ironischen Obertönen. Eine kluge Herzensgüte! Ein bezaubernder Mensch! Sie haben ihn im vorigen Jahr liebevoll begleitet und schmerzlich verloren – und doch nicht verloren. So sagen Ihre Bernadette und Dietrich Böhler
Vittorio Hösle 18. Januar 2019 Ihre Fragen, lieber Freund, führen in das Zentrum der Philosophie, und eigentlich bedarf es eines ganzen Systems, um auf sie angemessen zu antworten. An diesem arbeite ich noch, auch wenn manche Teile davon schon vorliegen. Außerhalb eines solchen Systems ist meine Reaktion unweigerlich voraussetzungsbeladen, ad hoc und ohne jene Gründlichkeit, die Ihre Fragen verdienen. Es besteht bei solchen Gesprächen ja stets unweigerlich die Gefahr, daß die grundsätzlichen Differenzpunkte immer wieder vorgebracht werden und man sich beiderseits im Kreise dreht. Aber um des Gespräches willen 10
Vgl. Böhler, 2013/14, S. 236–239, 243–245, 258–261, 282 f. u. ö.
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Briefe zwischen Hösle und Böhler
sei wenigstens die Richtung angedeutet, in der ich Ihre zwei wichtigen Fragen verorte.
I. In meinem ersten Text habe ich schon erklärt, warum mir allein der objektive Idealismus eine überzeugende Vermittlung zwischen Apel und Jonas zu erlauben scheint. Aufgrund des besonderen Interesses beider Denker an der Ethik bin ich dort zunächst von dem Problem des Verhältnisses von Normativem und Deskriptivem ausgegangen, und ich habe die Priorität des Sollens vor dem Sein, der Axiologie vor der Ontologie verteidigt. Analog läßt sich nun auch hinsichtlich des erkenntnistheoretischen Problems argumentieren. Denn ohne Zweifel besteht eine der wichtigsten Grundsatzentscheidungen der Philosophie darin, ob man realistisch oder idealistisch denkt. Betrachtet man den menschlichen Geist als bloßen Teil der Natur oder gar als Epiphänomen der Materie, oder geht man davon aus, daß jede Theorie, auch eine Theorie über die Natur als ganze und den Platz des Menschen in ihr, qua Theorie unweigerlich einen Geltungsanspruch erhebt, dessen Möglichkeit es zu begreifen gilt, bevor man man über das Verhältnis von Mensch und Natur nachdenkt? Gerade wenn man mit Kant eingesehen hat, daß unsere grundlegenden Begriffe nicht aus der Erfahrung stammen, liegt es nahe, subjektiv-idealistisch eine »Überformung der Wirklichkeit« durch unsere Begriffe zu lehren. (Die intersubjektivistische Transformation des subjektiven Idealismus überwindet ihn nicht, sondern ist nur dessen Variante; ja, sie ist m. E. weniger plausibel, weil Sprache nur als interpretierte mehr ist als akustische Wellen, und die Interpretation ist Sache subjektiver Intentionen, die gewiß zwischen verschiedenen Menschen geteilt werden können, aber zunächst für sich analysiert werden müssen.) Doch wie soll eine solche Überformung möglich sein, ohne der realistischen Grundüberzeugung zu widersprechen, alle unsere Tätigkeiten, auch unsere intellektuellen Konstruktionen, spielten sich innerhalb der Natur ab? Mir scheint der objektive Idealismus die einzige Philosophie, die Realismus und subjektiven Idealismus richtig umdeutet und sie damit kompatibel, ja, geradezu komplementär macht. Dieser Typus von Philosophie ist einerseits sehr alt – er geht spätestens auf Platon zurück –, aber er ist damit keineswegs abgetan: Er kehrt immer wieder 131 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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in der Geschichte der Philosophie zurück, in der Regel am Ende eines Zyklus, denn er ist die komplexeste Form der Philosophie, der die anderen als einseitige Momente vorausgegangen sein müssen. 11 Dessen zentraler Gedanke hat drei Facetten, die sich daraus ergeben, daß die Erkennbarkeit der Welt gesichert werden muß: Das hat Konsequenzen sowohl für die Welt als auch für den Geist – als auch für das, was deren Korrespondenz erst ermöglicht. Erstens muß es eine Theorie aller Geltungsansprüche und Grundbegriffe, also eine eigene transzendentale Logik geben, die unweigerlich der Philosophie der Natur und derjenigen des menschlichen Geistes vorausgeht. Ich sage: auch derjenigen des menschlichen Geistes, denn dieser ist in seiner konkreten Erscheinung etwas Innerweltliches. Aber er hat die ganz einzigartige Fähigkeit, auf etwas Bezug zu nehmen, das nicht zur Natur gehört, sondern »absolut«, also von ihr losgelöst ist – das Logische im weitesten Sinne des Wortes. 12 Nun liegt es nahe, diese ideale Sphäre als ontologisch defizient zu deuten; denn sie ist keine Form des uns lebensweltlich vertrauten real Seienden, also weder räumlich noch zeitlich. Aber eben das ist die zweite Pointe des objektiven Idealismus: Es gibt ideal Seiendes, und dieses ist sogar der Grund des real Seienden. Weshalb letzteres? Weil nur so begriffen werden kann, warum der Geist mit seiner Begriffsbildung nicht ins Leere läuft, sondern auf Wahrheit stößt. Die Natur ist begrifflich strukturiert – wir können sie etwa erfolgreich mathematisieren. Und wir können darauf vertrauen, daß wir z. B. mit dem komplexen Begriff eines sich sich selbst durch den Stoffwechsel erhaltenden Gegenstandes etwas naturontologisch Zentrales, den Organismus, in seinem Wesen erfassen können. »Begriff« ist homonym. Das Wort bezeichnet zwar auch etwas Mentales, aber daneben das ihm entsprechende reale Wesen der Wirklichkeit. 13 Drittens lehrt der objektive Idealismus, daß die mentalen Akte, mit denen wir uns teils auf die Sphäre des Logischen, teils auf die Natur, teils auf den Geist – den unseren ebenso wie denjenigen anderer – beziehen, einem logischen Raum der Gründe zu folgen vermögen. Zwar ist das Auftreten des Geistes höchstwahrscheinlich Jemand, der innerhalb der analytischen Philosophie (spät in seinem Leben) zu ihm gefunden hat, ist Thomas Nagel: Mind and Cosmos, Oxford 2012. 12 Siehe Dieter Wandschneider, »Die Absolutheit des Logischen und das Sein der Natur. Systematische Überlegungen zum absolut-idealistischen Ansatz Hegels«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 39 (1985), 331–351. 13 Siehe John McDowell, Mind and World, Cambridge, Mass. 1994. 11
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durch Naturgesetze und Antezedensbedingungen bestimmt – diese Annahme ist für jeden hochgradig plausibel, der wissenschaftlich denkt. Ja, es mag sein, daß Mentales auf Physischem superveniert. Aber es kann kein Zufall sein, daß in der Welt gültiges Denken auftritt – wir müssen unbedingt darauf vertrauen können, denn auch wer das mit Argumenten bestreitet, setzt eben dieses Vertrauen voraus. Dann aber muß der Natur etwas »vorausliegen« – selbstredend nicht in einem zeitlichen Sinne –, das die Anfangsbedingungen und die Naturgesetze wenigstens partiell bestimmt, so daß in ihr Geist auftreten kann. Die Gesetze des Physischen sind auf die Gesetze des Psychophysischen abgestimmt: Die elektrochemischen Prozesse im Gehirn müssen so ablaufen, daß die mit ihnen korrelierten mentalen Zustände aufeinander nicht immer, aber immer wieder so folgen, daß die von ihnen erfaßten Noemata logisch aufeinander bezogen bleiben. Das ist eine massive Voraussetzung, aber sie ist notwendig, wenn wir unser Denken ernst nehmen wollen. Ich habe keine Schwierigkeiten damit, hierin das philosophische Äquivalent des theologischen Schöpfungsglaubens zu erkennen. Diese Annahme ist für mich kein Glaubensakt, sondern transzendentalphilosophisch gerechtfertigt. 14 Denn nur so werden zwei Gedanken kompatibel: (1) Die Entstehung des Geistes hängt von Naturgesetzen ab (einschließlich der psychophysischen Gesetze). (2) Die Wahrheitsfähigkeit des Geistes ist notwendig. Daraus folgt, daß die Naturgesetze notwendig das Erscheinen eines wahrheitsfähigen Geistes »vorsehen«. Aber diese vorsehende Leistung kann nicht von der Natur selber erbracht sein, die in ihren ersten Formen bewußtlos ist. Sie entstammt einem Prinzip »vor« der Natur, das wir uns nur nach Analogie eines planenden, von Werten geleiteten Geistes vorstellen können, auch wenn es sicher viel komplexerer Natur ist als unser Geist, schon weil es nicht zeitlich ist. Aber innerhalb der realen Welt kommt nichts ihm näher als der menschliche Geist. Der Brückenschlag vom Stoffwechsel zum Geist ist nur im objektiven Idealismus wirklich einsichtig – sonst oszilliert man zwischen der bio-ontologischen Abhängigkeit von der Nahrung und der Freiheit der transzendentalen Reflexion hin und her und gelangt nicht zu einem einheitlichen Bild des Menschen oder gar der Natur. Ein solches von Jonas eindrucksvoll suggeriertes Bild besteht darin, Eine bedeutsame Verteidigung der rationalen Theologie in unserer Zeit verdanken wir Holm Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015.
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daß schon der Organismus eine Freiheit von seiner Umgebung erreicht, die dem Anorganischen versagt ist (im Grunde gibt es vorher keine wirkliche Pluralität konkreter anorganischer Substanzen, sondern entweder nur Atome oder ein einheitliches Feld), und daß der Geist sich vom Leben in einer analogen Weise zu emanzipieren vermag, wie das Leben dies von der anorganischen Umgebung tat. Erwähnen will ich noch, daß mich an Jonas’ großartiger Philosophie des Lebendigen stets das Zukurzkommen der reichen Vorformen von Intersubjektivität enttäuschte – von der Konkurrenz bis zur Kooperation und schließlich der sexuellen Reproduktion. In meinen beiden theoretisch wichtigsten Büchern habe ich versucht, auf das einzugehen, was von der Natur auch in die menschliche Intersubjektivität hineinragt. 15
II. Was heißt transzendentaler Solipsismus? M. E. basiert unser Dissens auf einem Verwechseln zweier Begriffe von Solipsismus. Ich bin kein Solipsist, wenn dies bedeutet, daß eine Theorie wahr sein könnte, die prinzipiell von keinem anderen als wahr eingesehen werden könnte. Wahrheit ist für den Geist, und es ist von ihr kein Geist grundsätzlich ausgeschlossen (im konkreten Einzelfall mag das natürlich der Fall sein – ohne eine lange Ausbildung, die man in meinem Alter nicht mehr zu erwerben vermag, muß man etwa die Hoffnung begraben, bestimmte mathematische Theorien zu verstehen). Ja, ich gehe noch weiter. Nicht nur der einzelne Geist hat keine unaufhebbaren Erkenntnisgrenzen, auch das intersubjektive Medium der Verständigung, die Sprache, ist im Prinzip in der Lage, jeden Gedanken auszudrücken, also auch Gedanken über primär in der Introspektion zugängliche mentale Tatsachen. 16 Doch bedeutet das keineswegs, daß der Konsens der anderen ein Wahrheitskriterium ist. Sie, lieber Freund, scheinen auch bei demjenigen, der dies bestreitet, von transzendentalem Solipsismus zu reden. In diesem zweiten Sinne bin ich in der Tat Solipsist. Denn Ich muß den Konsens der anderen stets der Prüfung unterwerfen, ob er sachlich berechtigt ist. Er ist aber berechMoral und Politik, München 1997, 252–294; Kritik der verstehenden Vernunft, München 2018, 108 ff. 16 Siehe Kritik der verstehenden Vernunft, op. cit., 98 ff. 15
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tigt oder unberechtigt aufgrund intrinsischer Qualitäten, die in der Mehrzahl der Fälle nichts mit dem Konsens selbst zu tun haben. Eine gerechtfertigte mathematische Theorie folgt lückenlos aus einsichtigen Axiomen, eine naturwissenschaftliche Theorie wird zudem allen einschlägigen Experimenten gerecht – das sind die Wahrheitskriterien, keineswegs der Konsens. Daher ist ein Privatus logisch möglich, der nie sozialisiert wurde und doch Mathematik und Naturwissenschaft betreibt. Ich beziehe mich dabei nicht auf unsere Welt oder andere mit denselben Naturgesetzen, denn ich vermute wie Sie, daß die psychophysischen Gesetze unserer Welt derart sind, daß komplexeres Erkennen auch der Natur durch soziale Prozesse vermittelt ist. Ja, ich gebe Ihnen auch gerne zu, daß dies kein brutum factum ist, sondern axiologisch begründet ist: Eine Welt, in der soziale Kompetenzen und Naturerkenntnis genetisch miteinander verschränkt sind, ist faszinierender und wertvoller. Immerhin ist es sicher auch in unserer Welt so, daß vorsprachliche Denkprozesse existieren – dafür sprechen empirische Fakten wie grundsätzliche Überlegungen: Der Spracherwerb könnte gar nicht einsetzen ohne ihm vorausgehende weitgehende Differenzierungsleistungen. 17 Dies zu bestreiten, ist unsinnig und wird es in besonderem Maße, wenn dies in dem Irrglauben getan wird, nur so gebe es eine Begründung der Ethik. Aber jeder Mensch, der um seine Endlichkeit weiß, ist wohlberaten, seine Einsichten kritisch zu überprüfen; denn auch wenn unser Geist auf Wahrheit angelegt ist, ist das ein langwieriger Prozeß, und wir irren immer wieder. Einerseits können wir diese Prüfung selbst übernehmen, indem wir nach Ablauf einiger Jahre auf unsere früheren Arbeiten mit größerer Objektivität zurückblicken. Andererseits gibt es schon beim gegenwärtigen Prozeß des Denkens andere Geister, die uns kompetent kritisieren können, und diese sind wir in der Tat aufgefordert aufzusuchen, wenn wir an Wahrheit wirklich interessiert sind. Aber es bleibt stets die Aufgabe des Einzelnen festzustellen, ob die abweichenden Ansichten des anderen auf überlegenen Einsichten basieren oder nicht. Idealerweise kann ich im ersten Fall die Einsicht selbst nachvollziehen. Aber bei der ungeheuren Vermehrung des Wissens muß ich oft genug die Autorität des Experten akzeptieren, wobei die Anerkennung dieser Autorität selbst rational gerechtfertigt sein muß. Es ist für den mathematischen Laien z. B. vernünftig, Theoreme als bewiesen anzu17
Kritik der verstehenden Vernunft, op. cit., 74 ff. und 289 ff.
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sehen, die von allen kompetenten Mathematikern als solche anerkannt werden, selbst wenn sie ihm unzugänglich bleiben. Man kann in beiderlei Hinsicht fehlgehen – sei es, indem man sich gegen legitime Kritik verschließt, sei es, indem man sich dem Strom der Mehrheitsmeinung anschließt im Vertrauen, die anderen wüßten schon Bescheid, obgleich auch sie ausschließlich intellektuelle Mitläufer sind. Mir scheint wissenssoziologisch das erste Laster in den alten Aristokratien, das zweite in den modernen Massendemokratien verbreiteter. Da wir in solchen leben, fürchte ich das zweite derzeit mehr als das erste. Zuletzt: Nicht nur ist Wahrheit ohne Intersubjektivität denkbar; auch Intersubjektivität geht über die gemeinsame Wahrheitssuche hinaus. Eine Freundschaft ist mehr als Kooperation bei der Wahrheitssuche, sie gründet in der Erfahrung personaler Werte des anderen. Insofern die Diskursethik ihren Fokus fast ausschließlich auf zwischenmenschliche Beziehungen im Diskurs gerichtet hat, schien sie mir stets die Theorien der Freundschaft und der Liebe zu unterbieten, die seit Platon und Aristoteles die Ethik des Abendlandes bereichert haben. Um so mehr freue ich mich, daß in unseren zahlreichen Gesprächen neben dem philosophischen Diskurs auch soviel Persönliches mitwirken und eine Freundschaft aufbauen konnte!
Dietrich Böhler 25. Februar bis 3. März 2019 Vielen Dank, lieber Freund, für Ihre, mich teils weiterführende, teils mich zur Behebung von Mißverständnis und sachlich unnötiger Kontroverse auffordernde Erörterung von Konvergenzen und Divergenzen zwischen objektivem Idealismus und Reflexion im/auf den Diskurs. Verzeihen Sie bitte zunächst, daß meine Antwort unziemlich spät kommt. Nicht nur, daß ich Ihre einfühlsamen Ratschläge zu gesundheitlich förderlichem Wandel auch mittels Kurzferien und kleinen Wanderformaten befolgte, die der im Alter unabwendbaren, wiewohl von mir bis dato nicht eben gewünschten »Entdeckung der Langsamkeit« 18 nun doch Rechnung tragen. Zudem war ein Berg Den so betitelten Roman Sten Nadolnys schenkte mir einst ein Mitarbeiter und verband damit offensichtlich einschlägige, von mir freilich nicht erfüllte, Erwartungen.
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von Arbeits- und Briefschulden abzutragen. Zumal aber schlug die Sterblichkeit viermal neben Bernadette und mir ein. Zuerst ging mein juristischer Freund, der namhafte Strafrechtler Rolf-Peter Calliess, dem ich seit unserer Saarbrücker Zeit wegweisende rechtstheoretische und rechtsethische Anregungen verdanke. 19 Nicht minder schmerzt mich der Tod eines Mentors und späten Freundes, der auch in das Buch einschneidet, für das wir hier schreiben, und in die Förderungsperspektive der kritischen Jonas-Edition: Kein Geringerer als der bewundernswert engagierte und interdisziplinär kompetente Wolfgang Frühwald hat uns, völlig unerwartet, schon verlassen … I. Die Verständigungsbarriere ›Konsens‹. Nicht faktischer, sondern idealer Konsens – eine regulative Gültigkeitsidee Eingangs würde ich gern Verständigungshürden aus dem Weg räumen und Sie (mit Blick auf Teil II, erster Absatz Ihrer Entgegnung) fragen: Unterscheiden Sie jetzt auch, wie es die Transzendentalpragmatik Apels und Kuhlmanns und die Berliner Diskurspragmatik tun, zwischen idealem, also rein argumentativem und unanfechtbar begründetem versus (bloß) faktischem, also höchst fehleranfälligem Konsens? Dann wären wir uns kriteriologisch ganz nahe und Ihr Insistieren darauf, daß »ich den Konsens der anderen stets der Prüfung unterwerfen [muß], ob er sachlich berechtigt ist«, wäre unter uns überflüssig, weil selbstverständlich. Sie hätten dann Ihre frühe, auf Mißverständnis beruhende Kritik an Apel aus Ihrem frühen Werk Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie (1990), wo beides vermengt ist 20, ganz hinter sich gelassen. Jedenfalls dann, wenn Sie zudem in Anschlag brächten, daß Apel wie auch Kuhlmann und »die Berliner« unter rein argumentativem bzw. idea-
Vgl. Rolf-Peter Calliess, »Rechtstheorie als Systemtheorie«, in: G. Jahr u. W. Maihofer (Hg.), Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1971, S. 142–172; ders., Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, Frankfurt a. M. 1974; ders., Dialogisches Recht. Beiträge zur Rechtstheorie und zu den Grundlagen des Strafrechts im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, Tübingen 2005. 20 Dazu Horst Gronke, »Die ›ökologische Krise‹ und die Verantwortung gegenüber der Natur«, in: Th. Bausch, D. Böhler, H. Gronke u. a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft, EWD-Bd. 3, München 2000, S. 159–193, hier: S. 182 f., vgl. 188 f. und 185. 19
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lem Konsens eine regulative Gültigkeitsidee verstehen. 21 Das ist ein erkenntnistheoretisch wie moralphilosophisch wesentlicher Grundsatz, der auch den gleichsam materialen Richtungsentscheidungen – Realismus oder Idealismus – vorhergeht. Jedenfalls fügt sich dieses nachkantische und auch nachpeircesche Gültigkeitskriterium gut in ein sich verantwortendes Denken der Selbsteinholung – auch, worum es uns beiden offenbar gemeinsam geht: der Einholung unserer selbst als Telos der Natur-Evolution und ihrer verantwortlichen Fortsetzung. So können wir uns, können sich die Zeitgenossen der wissenschaftlichen Zivilisation und ökologischen Dauerkrise verstehen und orientieren – mit Apel, mit Jonas und m. E. durchaus im Sinne eines evolutionstheoretisch aufgeklärten Schöpfungsglaubens nach Darwin. II. Die transzendentalpragmatische Anerkennungsfrage und das objektiv idealistische Postulat einer transzendentalen Logik. Eine Konvergenz Dann kämen, kommen (?) wir bezüglich Ihres Teils I, erster Absatz, darin überein, daß ein Denken über das Verhältnis von Mensch und Natur einen Geltungsanspruch mit Möglichkeit der Selbsteinholung zur Grundlage haben muß. Damit sind wir von den Verständnisfragen schon zu Grundfragen übergegangen, die Sie allein mit Hilfe des objektiven Idealismus beantworten wollen, während ich auch die Einsichten der Denkwende zur Sprachpragmatik/Diskurspragmatik berücksichtige, ohne die Errungenschaften des objektiven Idealismus Dank dieses Verständnisses konnte und mußte Apel die zuerst wohl von Ihnen (Die Krise der Gegenwart, S. 257), dann auch von einem Frankfurter Mitarbeiter Apels vertretene These zurückweisen, das transzendentalpragmatische Konsensprinzip würde einen einstimmig oder doch »mit überwältigender Mehrheit der Menschheit« (Hösle) gefaßten Beschluß legitimieren, die Fortpflanzung (zugunsten der gepeinigten Natur) einzustellen. Apel sah diese Annahme als »empiristisches Mißverständnis« des »regulativen Prinzips der Konsens-Forderung« an; so 1990 auf dem Symopsium in Melbu, übrigens in Gegenwart von Jonas: »Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik«, in: Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, hg. von Dietrich Böhler, München 1994, S. 368–404, hier: S. 388. Dazu auch mein Beitrag in diesem Buch »Denken im Diskurs. Begegnungen mit Karl-Otto Apel«, S. 324. Zum regulativen Sinn des idealen Konsensprinzips in der Wahrheitstheorie: KarlOtto Apel, »Wahrheit als regulative Idee«, in: D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung, Frankfurt a. M. 2003, S. 171–196. – In praktischer Hinsicht: Horst Gronke, »Die Relevanz von regulativen Ideen zur Orientierung der Mit-Verantwortung«, in: ebd., S. 260–282.
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seit Platon aus den Augen zu verlieren. Denn deren Akzeptanz läßt sich mit der sprach- und diskurspragmatischen Perspektive zwanglos verbinden, wenn man deren transzendentale Grundfrage stellt: »Was haben wir im vorhinein und notwendig, weil Selbstverstehen und Fremdverstehen ermöglichend, anerkannt, wenn wir etwas denken und kommunizieren, also etwas geltend machen?« Diese Frage führt – und damit kommt Ihre »erste Facette« bzw. »Pointe« des objektiven Idealismus in Sicht – von den Geltungsansprüchen, die Sie wohl anerkennen, zu Dialogversprechen a priori, deren Erfüllung unsere möglichen Dialogpartner von uns müssen erwarten können. Daher habe ich diese, zusammen mit dem transzendentalen Begriff Begleitdiskurs, in den Mittelpunkt des Essays »Was gilt?« gestellt. Sie sind nicht darauf eingegangen, obwohl Sie – mit allem Recht – »die Erkennbarkeit der Welt« [und damit doch wohl auch die unserer selbst als Erkenntnissubjekte im intersubjektiven Medium Sprache/Sinngemeinschaft der Natur- und Geistwesen] gesichert haben wollen. Ja, dazu muß es »eine Theorie aller Geltungsansprüche und Grundbegriffe [z. B. der Dialogversprechen a priori und des Begleitdiskurses als deren Erkenntnis- und Vergewisserungsinstanz], also eine eigene transzendentale Logik geben«. Und zwar als Geltungsrahmen, wie ich sagen würde, »der Philosophie der Natur und derjenigen des menschlichen Geistes« (hier S. 132). III. Die ideale Sphäre der Geltung und ihre, in der Sprache vorgegebene, Vermittlung mit der realen Kommunikationsgemeinschaft. Divergenz und mögliche Konvergenz Freilich – denken wir dialektisch! – ist eine solche transzendentale Logik selbst schon elementarer Teil der Philosophie des Geistes; und nicht allein der des Geistes, sondern zugleich der Sprache als dessen Medium und dessen Sinn offerierenden Horizont, ohne den der Denker nicht verstehen/bedeuten könnte, was er bedenkt. Dafür hat Apel den Begriff »Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft« bereitgestellt und macht damit klar, daß wir nicht etwa selbstgenügsame Subjekte (Monaden?), sondern in eins Subjekte und Teil-Nehmer an einer Sinngemeinschaft sind: Indem wir etwas als etwas von bestimmter Bedeutung denken oder in der Wahrnehmung erfassen, sind wir bereits in der Intersubjektivitätsrelation des Verstehens/Interpretierens und – virtuell – des Sich-mit-Anderen-Verständigens. Dank dieser Relation können unsere »mentalen Akte […] einem logischen Raum der Gründe folgen«, wie Sie mit Recht sagen. Und das 139 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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ist selbstverständlich für ›mich‹ wie für ›dich‹ ein und derselbe, eben ein logischer Raum. Gleichviel welche Nationalsprache jemand spricht, er hat Teil an der interpretativen Intersubjektivität, so daß er uns/Andere verstehen kann. Daher sind ›meine‹ Gedanken, Erlebnisse, Wahrnehmungen für N.N. etwas, das uns im Prinzip verbindet – wir teilen denselben Sinn – und uns gemeinsam transzendiert: Unser Wahrnehmen, Denken, Reden adressiert uns an die ideale Sphäre der Gültigkeit, nämlich der Wahrheit und Richtigkeit/moralischen Verbindlichkeit. Im Blick darauf hat Apel das »Apriori der idealen Kommunikationsgemeinschaft« eingeführt; und in diesem Sinne entwickle ich das Voraussetzungsverhältnis von Geltungsanspruch und Dialogversprechen. Indem die Anderen unsere Gedanken als (mögliche) Sprechhandlungen verstehen, erkennen sie darin Logos und Dialogos, Ansprüche auf Geltung aus Gründen und implizite Versprechen, ihnen solche Gründe zu geben. Das aber heißt, sie zu achten 22, und zwar zunächst als solche, die Gründe begreifen, mithin uns Sprecher/Denker (mit logisch-dialogischem Recht) befragen und kritisieren können. 23 In dieser kommunikativen Elementarkenntnis steckt die ethisch geladene Erwartungserwartung von Diskurs; und zwar von Diskurs als reziproker, dialogförmiger Auseinandersetzung/Verständigung, wie auch von Diskurs als Begleitdiskurs, in welchem sich die Denker/Sprecher dieser dialogischen und logischen Geltungssituation vergewissern. Der Verpflichtungssinn dieser Situation weist über ›mich‹ und ›dich‹ weit hinaus auf dasjenige, was unter idealen Wissens-, Informations- und Erkenntnisbedingungen bestbegründet, mithin konsenswürdig sein würde.
Diese Achtung im argumentativen Dialog kann, was besonders beglückend ist, vom platonisch »liebenden Streit« zur persönlichen Freundschaft führen. Spuren davon enthält dieses Buch – etwa in den Beiträgen von Ihnen und Hans Lenk. 23 Ist es nicht wunderbar, daß die Anderen uns wie wir die Anderen so gut verstehen können, daß sie mit uns in eine geltungsfähige, Begründung, Kritik und Selbstkontrolle erlaubende Kommunikation treten können? Ich erblicke darin ein Geschenk der Schöpfung bzw. der Evolution als Menschwerdung, das es stets zu erwerben, einzuholen gilt. Wir müssen auf beides vertrauen können, daß, wie Sie sagen, »in der Welt gültiges Denken auftritt«, und daß es, noch elementarer, in der Welt intersubjektive, geltungsfähige Kommunikation gibt. Das zu wissen und in den Theorien zu berücksichtigen, gehört zur Selbsteinholung dessen, der etwas denkt. 22
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Damit sind wir wieder bei der regulativen Gültigkeits- und Wahrheitsidee, wie sie von der Transzendentalpragmatik bzw. ihrer dialogreflexiven Weiterführung, der transzendentalen Diskurspragmatik, vertreten wird. Sie räumt mit dogmatischer Metaphysik geräuschlos auf, weil durch sie die Fallibilität aller Theorien anerkannt wird, soweit deren Sätze nicht als Sinnbedingungen des Etwas-Geltendmachens dialogreflexiv aufweisbar sind. Daraus folgt: Die transzendentale Diskurspragmatik kommt mit der zweiten Pointe des objektiven Idealismus insofern überein, als auch sie »ideal Seiendes« als »Grund des Seienden« erkennt. So habe ich in der Rekonstruktiven Pragmatik (1985) den transzendentalpragmatischen Grundsatz aufgestellt, der sinnkritische transzendentale Reflexion und Ontologie verbindet. In Ihren Augen, lieber Freund, wohl ontologisch zu bescheiden, in den meinen freilich vorsichtig und rechtfertigungsfähig, nämlich folgendermaßen im Sinne eines sprachpragmatisch transformierten Kant: »Die Bedingungen der Möglichkeit sinnvoller Rede über die Welt des Menschen sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände solcher sinnvollen Rede.« 24 Ich habe mich also gescheut, den Fallibilismusvorbehalt gegenüber Naturphilosophie preiszugeben, womit Sie offenbar keine Schwierigkeiten haben. Verführerisch – aber richtig und im rein argumentativen Diskurs mit dem Skeptiker aufrechtzuerhalten? Dasjenige, was sich absolut verteidigen läßt, ist m. E. einzig das, was man im Dialog, im Argumentieren nicht sinnvoll bezweifeln kann. Zum Beispiel, daß jeder, auch der Skeptiker oder der Idealist, immer schon ein leibhafter Diskursteilnehmer ist und – gestatten Sie mir diese, auf Jonas und Apel rekurrierende Wiederholung – als solcher in doppeltem Vermitteltsein steht: in der zugleich stoffwechselbedingten und kommunikationsbedingten Vermittlung von Notwendigkeit und Freiheit, von Faktizität und Idealität. Demzufolge scheint mir der diskurspragmatische Ansatz beim Vermitteltsein und dessen sinnkritische, dialogreflexive Selbsteinholung das tragfähigste Geltungsfundament zu besitzen. Ist er doch sowohl des Fallibilitätsverdachts überhoben als auch des Verdachts, dogmatische Metaphysik zu sein. Denn – und hierin kommen wir überein – das »ernsthafte« (Apel) bzw. diskursglaubwürdige Erheben von Wahrheits- und weiteren Geltungsansprüchen für etwas Gesag24
Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 23 und 303.
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tes ist stets »an die Möglichkeit intersubjektiver Prüfung« gebunden. 25 Aber auch und gerade, wenn man das weiß und dem in seinem Denken Genüge tut, kann, ja müßte man nach Maßgabe der Selbsteinholung zweierlei anerkennen: »die Unhintergehbarkeit des eigenen Selbstbewußtseins« 26 und zugleich die des sprachgebundenen Argumentierens. Strittig zwischen uns, lieber Freund, sind wohl vor allem der transzendentallogische Status der Intersubjektivitätsrelation, und wohl auch die primordiale Bedeutung der kommunikativen Freiheit – zum Beispiel eines ›einsamen Denkers‹, der in Kenntnis der Theoriediskussion seine eigene Theorie begründet und vielleicht einige ihrer Elemente als Elemente erster Ordnung auszeichnet, wie ich es mit ›Begleitdiskurs‹ und ›Dialogversprechen‹ getan habe. IV. Die strittige Tragweite der Intersubjektivität. Gleichursprünglichkeit des Etwas-Wahrnehmens und des sprachgestützten Verstehens Die Intersubjektivitätsstruktur, die Apel im Anschluß an den amerikanischen Hegelianer Josiah Royce und den postkantischen Naturwissenschaftler/Semiotiker Charles Sanders Peirce vorgeschlagen hat, ist genuin dialektisch und hält zudem, wie mir scheint, jeder Kritik der verstehenden Vernunft stand. Sie hat die Form: »A macht dem B klar, was C meint« 27, z. B. eine Tradition, eine Theorie, ein Artefakt, ein Text, eine Rede. Und der so strukturierte »triadische Vermittlungsprozeß der Interpretation sichert«, wie Apel hinzufügt, auch »die geschichtliche Kontinuität der Erkenntnis, indem A die Gegenwart repräsentiert, welche der Zukunft (B) den Sinn oder die Meinung der Vergangenheit (C) vermittelt.« 28 Sie setzen in Ihrer Grundlegung der Geisteswissenschaften bei Intentionalität und Wahrnehmung an. 29 Auch hier würde ich gerne Vittorio Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, S. 286. Ebd., S. 287. 27 Karl-Otto Apel, »Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht«, in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. II, Frankfurt a. M. 1973, S. 114. 28 Ebd., S. 114 f. mit den Hinweisen: Vgl. J. Royce, The Problem of Christianity, New York 1913, II, S. 146 ff. Dazu K.-Th. Humbach, Das Verhältnis von Einzelperson und Gemeinschaft nach Josiah Royce, Heidelberg 1962, S. 110 ff. 29 Vittorio Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, S. 14 ff., 49 ff., 66 ff., 73 ff., 88 f., 96 f., 286 f. passim. 25 26
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einen Dissens ausschließen, plädiere freilich für Anerkennung der Gleichursprünglichkeit von Subjektleistungen und sprachgestützter Intersubjektivität, auch weil ich Kommunikation nicht als eine Funktion, sondern als sinnstiftendes Apriori ansehe. Denn auch bei dem Etwas-Wahrnehmen sind wir schon in jener interpretativen triadischen Intersubjektivitätsstruktur. Das Wahrnehmen geht nämlich dem Verstehen und Sich-Verständigen nicht eigentlich voraus, sondern ist notwendig schon damit verwoben, so daß es intersubjektive Prüfung und intersubjektiven Nachvollzug ermöglicht. Das Etwasals-etwas-Wahrnehmen hat dieselbe sinnerschließende Struktur wie das sprachliche Etwas-Verstehen und dessen Explikation, das Interpretieren und triadische Vermitteln von Sinn. Es greift immer schon vor auf das Etwas-als-etwas-von-bestimmter-Bedeutung-Verstehenund-sich-darüber-Verständigen. Infolgedessen können wir das Wahrgenommene Anderen/uns selbst klarmachen und dafür Geltung beanspruchen, so daß wir es in Form einer Behauptung ausdrücken und mit Anspruch auf Wahrheit vertreten können. Etwas wahrnehmen heißt, etwas verstanden haben. Zugleich heißt etwas verstehen, dasselbe Etwas auch wahr-genommen bzw. erkannt zu haben. Und etwas verstehen/verstanden haben schließt immer den Geltungsanspruch ein, etwas richtig zu verstehen bzw. verstanden zu haben. 30 Die (sprach-)pragmatische Wende 31, zu der auch Heideggers Analyse des Daseins als verstehendes In-der-Welt-sein und seine Das ist ja eine grundlegende Einsicht der (gadamerkritischen) Frankfurter und Berliner Hermeneutik. Z. B.: Karl-Otto Apel, »Für eine methodologisch relevante Transzendentalphilosophie: zur Kritik Heideggers und Gadamers«, in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. I, Frankfurt a. M. 1973, S. 35–52, hier: S. 36 f. und 44–51. Dietrich Böhler, »Philosophische Hermeneutik und hermeneutische Methode«, in: Fruchtblätter, hg. von Harald Hartung u. a., Pädagogische Hochschule Berlin, 1977, S. 15–43, bes. S. 36 und 39–43; auch in: Text und Applikation. Poetik und Hermeneutik, Bd. IX, hg. von M. Fuhrmann u. a., München 1981, S. 483–511. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1981, S. 152–224, bes. S. 161–172 und 188–199. D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 23, 137, 165 f. 31 Leider nehmen Sie deren transzendentalpragmatische Reflexionsargumente in Ihrer Kritik der verstehenden Vernunft kaum auf, so daß zwar Edmund Husserls Analyse von Bewußtseinsphänomenen und seine Intentionalitätslehre eine grundlegende Rolle spielt, hingegen die Möglichkeit, gar das Erfordernis einer transzendentalpragmatischen Aufhebung seiner Phänomenologie der Intersubjektivität so gut wie keine, obwohl hier m. E. die wechselseitige Verwiesenheit von Subjektivität und Intersubjektivität mit Händen zu greifen ist. Grundlegend: Horst Gronke, Das Denken des Anderen. Führt die Selbstaufhebung von Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik?, Würzburg 1999. 30
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Zeuganalyse einen transzendentalen, gewissermaßen transzendentalhermeneutischen Beitrag geleistet hat 32, eröffnet hier die neue, traditionskritische Sicht- und Denkweise einer kommunikativen »Transformation der Philosophie« und »Rekonstruktiven Pragmatik«. 33 Setzt man wie diese bei der Gleichursprünglichkeit der Subjektivität und Intersubjektivität an, dann befreit man sich aus den Fußangeln der traditionellen, instrumentalistischen Sprachauffassung bzw. Bezeichnungstheorie der Sprache, die den Idealismus (seit Platon!) mit dem Positivismus verbindet. 34 Hat Apel sie nicht zu Recht als »Commonsense-Auffassung der Sprache« verworfen? 35 Mir scheint, Sie blenden aus, daß die sinnliche Phänomen-Wahrnehmung und die alltägliche Situations-Wahrnehmung allein deshalb etwas Erinnerbares, Feststellbares und Mitteilbares erfassen, weil sie dieselbe Struktur wie das Verstehen haben; nämlich: etwas als etwas sprachlich Beschreibbares und damit auch begrifflich Bestimmbares erfassen – semantisches Schema-Verstehen – und das so erfaßte Etwas (das eben kein Ding an sich, sondern immer schon als etwas Sinnhaftes erschlossen ist) als Sinn für mich und andere Teilhaber einer Sprach-, Interpretations- und Handlungsgemeinschaft erläutern und Anderen mitteilen können. Das semantische Schema-Verstehen, das etwa Kuno Lorenz, überhaupt die Schule Paul Lorenzens, und unser Diskurspartner Hans Lenk (»Schema-Konstrukt«, »Schema-Interpretieren«) in den Mittelpunkt rücken, erschließt keineswegs die elementare und entscheidende Sinn- und Zeichendimension. Vielmehr ist es eingebettet in die umfassende Sinn- und Zeichendimension zwischen den Zeichenbenutzern bzw. den Sprechern/Akteuren bzw. den Sinn-Subjekten, die seit Charles Morris’ dreidimensionaler Semiotik »pragmatische Dimension« genannt wird. 36 Diese Martin Heidegger, Sein und Zeit, §§ 12–18 und 31–33. Karl-Otto Apel, »Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion«, in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. II, S. 311–329; ders., »Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache«, ebd., S. 330–357. Auch: D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 60 ff., 123 ff., 155, 285 f., 302–309, 360–363, vgl. S. 41–47 und 203–206. 34 Dazu Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II, S. 330–357; Dietrich Böhler, »Wittgenstein und Augustinus. Transzendentalpragmatische Kritik der Bezeichnungstheorie der Sprache und des methodischen Solipsismus«, in: A. Eschbach u. J. Trabant (Hg.), History of Semiotics, Amsterdam/Philadelphia 1983, S. 343–369. 35 Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II, S. 334–348. 36 Charles William Morris, Grundlagen der Zeichentheorie und Ästhetik, München 1972 (am. Original: Chicago 1938). Ders., Zeichen, Sprache und Verhalten, Düssel32 33
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zeichen- und sprachbezogene Intersubjektivitätsrelation, in der auch die (prüfbaren) Geltungsansprüche (zwischen ›mir‹ und den anderen Geltungssubjekten) liegen, hat den Primat sowohl gegenüber der semantischen Relation (zwischen ›mir‹ und dem zu Verstehenden/Erkennenden) als auch gegenüber der syntaktischen Relation (zwischen Zeichen und Zeichen/Satz und Satz). Kein Sinn ohne mögliche Kommunikation und ohne reale Kommunikationsgemeinschaft im Rükken. Und keine Wahrnehmung ohne Verstehen im apriorischen Perfekt, also ohne implizites Verstandenhaben des Wahrgenommenen als Sinn, für den ›ich‹ allen möglichen Anderen gegenüber Geltung beanspruche. Können wir, lieber Freund, uns darauf verständigen? Den Zweifler würde ich, ihn sokratisch bei seiner Diskursglaubwürdigkeit pakkend, fragen: »Diskurspartner, kannst du, mit Anspruch auf Glaubwürdigkeit, behaupten, deine Wahrnehmung von X sei zutreffend/ wahr, wenn du das wahrgenommene X nicht als das Bestimmte verstanden hast, als welches du es mir/uns gegenüber beschrieben hast?« Transzendentalphilosophie ist für mich nie bloß Darlegung einer Erkenntnis- und Gegenstandsstruktur, sondern immer zugleich dialogreflexive, sprachliche Rechtfertigung dieser beiden Darlegungen. Die sinnkritisch-reflexive Prüfung und in diesem Sinne Rechtfertigung ist der Begleitdiskurs des transzendental fragenden Diskurspragmatikers. V. Das Hineinragen von Natur in die menschliche Intersubjektivität und die kommunikative Freiheit Lieber Freund, Sie haben dieses unser Gespräch mit einer »objektiv idealistischen Weiterführung« meines Versuchs eines »Brückenschlags zwischen Diskursethik und Hans Jonas’ Metaphysik der Ethik« eröffnet und pointieren Ihre Voten (am Schluß von Teil I) mit der etwas monopolistisch anmutenden These: »Der Brückenschlag vom Stoffwechsel zum Geist ist nur im objektiven Idealismus wirklich einsichtig.« Hier frage ich zunächst: Können wir uns als sprechende, freie, Geltung beanspruchende und moralische Diskurspartner anders einholen als mit einem reichen, dialektischen Begriff des Geistes, der das Zugleich von Subjektivität und Intersubjektivität dorf 1973 (am. Original: Englewood Cliffs 1946). Mit Einführung von Karl-Otto Apel: »Charles W. Morris und das Programm einer pragmatisch integrierten Semiotik«.
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ebenso umfaßt wie das Organische, das in der Tat hineinragt »in die menschliche Intersubjektivität« wie auch in die menschliche Subjektivität? Das zu akzeptieren, führt glücklicherweise nicht zu einem uneinheitlichen, zwischen »bio-ontologischer Abhängigkeit […] und Freiheit der transzendentalen Reflexion hin und her« oszillierenden »Bild« von Mensch und Natur, sondern zum reichen Begriff des Menschen als Zugleich von naturabhängigem Selbstbehaupter und freiem Denker/Diskursteilnehmer. Deshalb habe ich den Begriff ›leibhafter Diskurspartner‹ als Grundelement der Diskurspragmatik eingeführt. Und wenn wir nicht etwa in ein empirisches Bild vom Menschen und demgemäß in eine psychologische Reflexion abrutschen 37, sondern klar transzendental denken wollen, wie Sie und ich, haben wir allen Grund, einen dialektischen Begriff von ›Mensch‹ zu vertreten. Denn ein solcher erlaubt es, Jonas’ Weg vom primitiven Organismus zur Freiheit weiterzuführen und – das hoffe ich wenigstens – in wohlbegründetem Konsens nicht allein zwischen Ihnen und mir, sondern z. B. ebenso zwischen Ihnen und Karl-Otto Apel, Wolfgang Kuhlmann und diskurspragmatischen Berlinern wie Horst Gronke, Bernadette Herrmann, Jens Peter Brune u. a. m. Das von Ihnen hier und in zwei großen Werken hervorgehobene Hineinragen »von Natur in die menschliche Intersubjektivität« 38 ist auch eine Einsicht Apels, die er an der gesprochenen Sprache gewonnen hat: Sprechen ist als »Artikulation möglichen Sinns im Sprachlaut« der »leibhafte Ausdruck« menschlichen Selbst- und Fremdverhältnisses, nämlich des Verstehens und Sich-Verständigens. 39 Darin manifestiert sich die implizit dialogische, der Form nach triadische Letzteres ist bei Gehlen und Heidegger zu beobachten. Der eine muß gegen das Hin- und Herreflektieren die Intransigenz und Festigkeit (eher archaisch vorgestellter) »Institutionen« aufbieten, der andere eine vernunft- und kriterienlose, diskursenthobene »Entschlossenheit«. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 60 und 62. Dazu Hans Jonas, »Entschlossenheit ohne Verantwortung« [Titel von Böhler]. Gespräch mit Andreas Isenschmid [Auszug], in: ders., Fatalismus wäre Todsünde, Münster 2005, S. 61–66, hier: S. 64 ff. Zu Gehlen: Dietrich Böhler, »Arnold Gehlen: Handlung und Institution«, in: Josef Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II, Göttingen 31991, S. 231–284, hier: S. 243–247, 265 f., 268 f. und 273–277, vgl. S. 239 f. 38 Vittorio Hösle, Moral und Politik, München 1997, S. 252–294; ders., Kritik der verstehenden Vernunft, München 2018, S. 108–124. 39 Karl-Otto Apel, »Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik«, in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. II, S. 96–187, hier: S. 114. 37
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Intersubjektivitätsrelation. Sie geht dem »Mentalen«, dem Subjekt und insofern der »Sphäre des Logischen« vorher; ja, sie ist ihr eingeschrieben. Aus diesem Grunde hätte Jonas in seiner Philosophie des Lebendigen, wie Sie (zum Schluß von Teil II) mit Recht monieren, die Elementarformen der Intersubjektivität »von der Konkurrenz bis zur Kooperation« und schließlich die Sexualität berücksichtigen müssen – und auch die, damit verwobene, kommunikative Freiheit des Begleitdiskurses und des möglichen Diskurses mit Anderen. 40 Diese liegt der »Wahlfreiheit« zugrunde, welche Jonas auf eine ontologische Eigenschaft des Organismus zurückführt und um ihre tendenzielle Intersubjektivität verkürzt. Denn er denkt sie bloß in der SubjektObjekt-Relation. 41 Aber die eigentliche, erst beim Menschen ausdifferenzierte Freiheit, etwas zu wählen, setzt kommunikative Freiheit voraus: Wir können ein X dem Y vorziehen, weil wir – mit Geltungsansprüchen – ein Selbstgespräch bzw. eine Beratung über eine wahrgenommene und dabei (vor-)verstandene Situation führen. Wenn sogar höheren Tieren die diskursive Fähigkeit zu einem solch reflexiven Sprachgebrauch nicht zugesprochen werden kann, läßt sich ihnen, wie Jens Peter Brune es tut, lediglich eine Disposition zu Wahlfreiheit attestieren. 42 Die Diskurspragmatik ist weder eine Anthropologie noch eine Theorie zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie ist sinnkritische Geltungsreflexion, und als solche begründet sie eine, »Diskursethik« genannte, Rahmenethik. Diese bemißt alle Wertvorstellungen, Werttheorien und Handlungsorientierungen daran, in welchem Maße sie Lebensbedingungen und Handlungsweisen fördern, die legitim und Zum Begriff der kommunikativen Freiheit: Dietrich Böhler, »Hans Jonas – Denken zwischen Verstehen und Verantworten«, in: D. Böhler, H. Gronke u. B. Herrmann (Hg.), Mensch – Gott – Welt. Philosophie des Lebens, Religionsphilosophie und Metaphysik im Werk von Hans Jonas, Freiburg i. Br. u. a. 2008, S. 164–169; ders., Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 258 f., 434–437 und 510 f. 41 Dazu: Bernadette Herrmann, »Hans Jonas’ frühe Grundlegung der Verantwortungsethik«, in: D. Böhler, H. Gronke u. B. Herrmann (Hg.), Mensch – Gott – Welt, op. cit., S. 73–88, hier: S. 82. Ferner: Dietrich Böhler, »Hans Jonas – Denken zwischen Verstehen und Verantworten«, in: ebd., S. 145–170, hier: S. 166–169. Auch: Jens Peter Brune, »Können wir Leben verstehen? Hans Jonas’ Kritik des systemischen Lebensbegriffs«, in: ebd., S. 89–111, hier: S. 95–98. Zudem: Horst Gronke, »Phänomenologie und Ontologie – Wie philosophiert Hans Jonas?«, in: ebd., S. 269–290, hier: S. 279 f. und 288–290. 42 Vgl. Jens Peter Brune, ebd., S. 93–98. 40
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der Zukunftsverantwortung dienlich sind. Inwiefern? Insofern sie sich vereinbaren lassen mit unserer Glaubwürdigkeit als mögliche Diskurspartner, die von den Zukunftsgefährdungen der Menschheit wissen. Was heißt das? Die Wertvorstellungen und Handlungsorientierungen sollen verträglich sein mit unseren Geltungsansprüchen und Dialogversprechen a priori. Diese sind Leitlinien unserer kommunikativen Freiheit und setzen unserer Willkürfreiheit unbedingte Grenzen. So eröffnen auch sie den Spielraum wahrhaft guten, wünschenswerten und verantwortbaren Lebens. Können wir uns vielleicht doch darauf verständigen, lieber Freund? Dankbar für Ihren liebenden Streit und für Ihre reichen, dichten Texte, aus denen zu lernen Freude macht, grüße ich Sie mit guten Wünschen von Haus zu Haus Ihr Dietrich Böhler
Vittorio Hösle 12. März 2019 Lieber Freund, zunächst einmal mein herzliches Beileid zum Tode Ihrer Freunde! Es gehört tatsächlich zum Härtesten am Alter, daß man Freunde und Angehörige verliert. Mich selbst hat der im letzten Monat erfolgte Tod zweier meiner Freiburger Lehrer, Werner Beierwaltes’ und Ernst-Wolfgang Böckenfördes, getroffen, von denen ich sehr viel gelernt hatte, teils was den inneren Zusammenhang von Platonismus und deutschem Idealismus angeht, teils was die Geschichte der Rechtsphilosophie mit Thomas von Aquin und Hegel als Höhepunkten betrifft. Aber in diesem Erdental ist der Tod unser letztes Los. Haben Sie herzlichen Dank für Ihr Angebot, mir Texte zuzuschicken! Die Bücher habe ich allerdings schon, aber auf Ihre Texte zur Hermeneutik bin ich gespannt. Und natürlich haben Sie herzlichen Dank für Ihren klärenden Text! Ich verstehe Ihre Position dadurch viel besser und freue mich über soviel Konvergenz. Sie sollen im Alber-Band unbedingt das letzte Wort haben. Für eine dritte Runde fehlen mir Zeit und Ideen. Einen Punkt möchte ich allerdings privat noch hervorheben. Ich habe Apel nie unterstellt, idealen und realen Konsens zu verwechseln. Meine Kritik ist, daß die ideale Kommunikationsgemeinschaft entweder mit der realen zusammenfällt oder aber kriterial leer ist (Krise der Gegenwart, S. 198 ff.). Sie ist kriterial leer, weil sie ideal im 148 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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Unterschied zu real nur ist, wenn sie materiale vernünftige Kriterien verfolgt – und welche diese sind, sagt uns die Transzendentalpragmatik nicht. Habe ich aber diese Kriterien anderweitig entwickelt, ist der Rekurs auf die ideale Kommunikationsgemeinschaft nur wegen unserer Endlichkeit erforderlich. Der andere mag etwa einen Fehler in meinem mathematischen Beweis entdecken – aber es ist ein Fehler nur, wenn Ableitungsregeln verletzt wurden; und deren Geltung ist nicht von Gnaden der Intersubjektivität, sondern die Intersubjektivität ist dann und nur dann ideal, wenn alle die richtigen Regeln benutzen. Ideale Kommunikationsgemeinschaft ist für mich nichts anderes als die wechselseitige Korrektur unserer Endlichkeit durch die anderen, die uns helfen, uns den idealen Kriterien anzunähern. Wenn wir an Wahrheit interessiert sind, dürfen wir in der Tat nicht versäumen, Institutionen zu unterstützen, die sich die Wahrheit zum Ziele setzen – stets mit dem Wissen, daß die krummholzige menschliche Natur diese für private Interessen zu pervertieren versuchen wird, und zwar oft genug mit Erfolg. Ich grüße Sie und Ihre Frau sehr herzlich, Ihr dankbarer Vittorio
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3.3 Materiale vernünftige Kriterien in diskurspragmatischer Begründung Bernadette Herrmann
24. März 2019 Lieber Vittorio Hösle, nachdem mein Mann und ich über Ihren wichtigen Brief, der auch in diesem Buch nicht fehlen darf und für den wir Ihnen herzlich danken, gesprochen hatten, ermunterte er mich, Ihnen zwei meiner Gedankengänge aufzuschreiben, weil auch er nicht »das letzte Wort behalten« wollte. Dies tue ich nun in der Hoffnung auf eine spätere Wiederbegegnung mit Ihnen. Sie pointieren: »Meine Kritik ist, daß die ideale Kommunikationsgemeinschaft entweder mit der realen zusammenfällt oder aber kriterial leer ist (Krise …, 198 ff.). Sie ist kriterial leer, weil sie ideal im Unterschied zu real nur ist, wenn sie materiale vernünftige Kriterien verfolgt – und welche diese sind, sagt uns die Transzendentalpragmatik nicht.« Lassen Sie mich fragen, ob oder inwieweit das zutrifft; jedenfalls, wenn wir die strikt dialogreflexive Weiterführung der Transzendentalpragmatik und das Verhältnis von Normen bzw. Grundnormen (als Diskursverpflichtungen) und Werten (als lebensweltlichen Orientierungen) bedenken. 1. Vernunft und ideale versus reale Kommunikationsgemeinschaft Die Vernunft ist nur argumentativ-kommunikativ/-diskursiv denkbar, jedenfalls sofern sie sich Rechenschaft von sich selbst geben will, ist also angewiesen auf den Diskurs bzw. einen Begleitdiskurs, auch wenn ein Vernunftsubjekt innere Zwiesprache hält, indem es Argumente gegeneinander abwägt. Vernunft ist sowohl empirisch-faktisch auf eine reale Kommunikationsgemeinschaft (und sei es die zwischen ego und alter ego) angewiesen als auch auf die Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft, nämlich wenn es um die Erkenntnis ihrer Regeln/Sinngrenzen und die Erkenntnis von Maßstäben/Normen nicht nur der Kom150 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Materiale vernünftige Kriterien in diskurspragmatischer Begründung
munikation geht, sondern auch um die Beurteilung von Handlungen als argumentativ begründbarer Antworten auf Situationen. Die ideale Kommunikationsgemeinschaft zeichnet sich vor der realen tatsächlich dadurch aus, daß sie konsequent »materiale vernünftige Kriterien verfolgt« und diese weiß. Woher nun kommen diese Kriterien? Sie ergeben sich aus der Selbsteinholung der Vernunft durch aktuelle Reflexion auf die Präsuppositionen des Diskurses, d. i. aus der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Vernunft. Die Tätigkeit der Vernunft besteht darin, daß Geltungsansprüche (vor allem auf Wahrheit und/oder Richtigkeit, aber implizit auch immer auf Wahrhaftigkeit/Glaubwürdigkeit und Verständlichkeit) für Behauptungen erhoben werden, die dann geprüft und gegeneinander abgewogen werden. In dem Erheben von Geltungsansprüchen stecken bereits die »material vernünftigen Kriterien«, die der idealen Kommunikationsgemeinschaft stets präsent sind und von ihr konsequent befolgt werden bzw. würden (regulative Idee). Die Betonung liegt auf dem Erheben (welche Qualität Wahrheit genau hat, weiß der Erheber von Wahrheitsansprüchen meist nicht und ist für ihn nur von sekundärem Interesse), also auf dem performativen Akt der Behauptung. Dieser enthält eben in sich die gesuchten Kriterien, die nur aufgedeckt, d. h. (theoretisch/analytisch) rekonstruiert, dann aber aktuell dialogreflexiv erwiesen werden müssen. Dabei wird die Leitfrage verfolgt, was vorausgesetzt werden muß, um überhaupt sinnvoll Geltungsansprüche erheben und ihre Einlösbarkeit behaupten zu können. Das ist zunächst das Zulassen bzw. sogar aktive Besorgen aller möglichen Argumente zur Sache im Diskurs. Durch die Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen des Diskurses lassen sich schon Kriterien gewinnen und letztbegründen, die drei entscheidende Bedingungen erfüllen, nämlich material, verbindlich und infallibel zu sein. Es handelt sich um materiale Normen wie Bewahrung und Förderung aller potentiellen Vernunftsubjekte/Träger von Argumenten und ihrer Lebenswelt, Schaffung und Verbesserung von »vernünftigen Institutionen«, Förderung der Diskursfähigkeit und der Rahmenbedingungen etc. von Diskursen. Verschiedene Ausdifferenzierungen und materiale Konkretisierungen dieser Grund-Diskurspräsuppositionen finden sich in den von Böhler entwickelten Diskursverpflichtungen bzw. Dialogversprechen a priori.
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Die Gewinnung weiterer »Kriterien« ging bisher folgendermaßen vonstatten: Jeder vorgeschlagene Kandidat für ein Kriterium, z. B. eine bestimmte Norm, wird von einem Skeptiker im Diskurs bezweifelt. Seine Zweifelsthese wird mit dem performativen Akt des Erhebens von Geltungsansprüchen (und dem darin notwendig Vorausgesetzten) für diese These konfrontiert und auf einen möglichen performativen Widerspruch hin überprüft. Ist die Zweifelsthese nicht ohne performativen Selbstwiderspruch vertretbar, kann der Kriterienkandidat in die Liste der unhintergehbaren »Kriterien« aufgenommen werden. Aus dem Erbe der klassischen Transzendentalpragmatik können – letztlich durch einen reflexiven Skeptikerdialog – bereits vier substantielle Diskurskriterien letztbegründet werden: die oben erwähnten Geltungsansprüche als Bemühungen des Diskursteilnehmers bzw. des Denkenden. 1 Im Anschluß daran erbringt die dialogreflexive Diskurspragmatik weitere materiale Kriterien, nämlich bisher acht bzw. hier durch Hans Lenk noch ein neuntes. Es handelt sich um Diskursverpflichtungen, welche wir als Diskurspartner im Blick auf die diskurskonstitutiven Erwartungen der Anderen so aneignen, daß sie ihnen und uns als »Dialogversprechen« gelten. Ich gestehe, daß ich meinem »philosophischen Glauben« und meiner Wert- und Welthaltung nach eigentlich auch »objektive Idealistin« bin; am liebsten habe ich Platon- und Leibniz-Seminare besucht. Die transzendentalpragmatische/diskurspragmatische Diskursethik hat mich mit ihrer Begründungsfähigkeit überzeugt, die auch nicht-idealistische Skeptiker einbegreift. Ich frage mich, ob der objektive Idealismus (über die oben genannten hinausgehende) materiale Kriterien erweisen kann? Etwa Werte? 2. Überlegung zum Stellenwert materialer Werte/Werthaltungen Es gibt darüber hinaus, worauf Sie hingewiesen haben, substantielle Orientierungen, Tugenden und Werte, ohne die auch eine diskursreflexiv begründete, also normativ verbindliche Moral nicht oder nur sehr eingeschränkt in Lebenswelt und Gesellschaft auskommt. Auch diskursethisch sind sie also höchst wünschenswert. Ja, sie sind sogar unverzichtbar, sofern sie Realisierungshilfen und Motivationsquellen der Diskursmoral sind. Selbst dann sind sie geltungslogisch 1 Ausführlich in: Dietrich Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 295 ff., und hier im Essay »Was gilt?«.
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aber etwas »Vorletztes«. Denn sie entziehen sich einem Verbindlichkeitserweis bzw. einer Letztbegründung. Eine solche greift allein bei normativen Gehalten und hinsichtlich der normativen Implikationen, also der Sollensgehalte, die Werten innewohnen. Im Kern sind Werte ja etwas, das Menschen wollen, weil es ihnen als der Mühe und des Strebens wert erscheint. Hier eröffnet sich ein weiter Spielraum der Subjektivität und der gesellschaftlichen sowie kulturgeschichtlichen Konventionen, der, geltungslogisch betrachtet, letztlich bis zur Beliebigkeit oder einer bloßen Willkürentscheidung reichen kann und insofern dem Dezisionismus anheimfällt. Aus diesem Grund sind (moralisch relevante) Werte und Werthaltungen auf ihren normativen Gehalt hin zu prüfen. Hierfür ist ein Prinzip erforderlich, dessen logische Gültigkeit und moralische Verbindlichkeit niemand bezweifeln kann, ohne dessen Gehalte bei dem Zweifelsakt selbst in Anspruch genommen zu haben, nämlich bei dem hier zugrundeliegenden Behauptungsakt: »Hiermit behaupte ich (gegenüber jeder urteilsfähigen Person), daß die Norm/das Sollen X, vielleicht nicht prinzipiell gültig und verbindlich ist.« Das erforderliche Prinzip kann daher nur das des rein argumentativen, dialogisch achtungsvollen Diskurses sein, welches nicht vernünftig hintergehbar ist. Die Prüfung der in Frage stehenden Werte, genauer gesagt, die ihres normativen Gehaltes, muß sich daher auf die Diskursvereinbarkeit und Diskursförderlichkeit des fraglichen Wertes erstrecken. Stellt sich nun heraus, daß der betreffende Wert bzw. die ihm entsprechende Haltung und Verhaltensweise der kritisch-dialogischen Praxis des argumentativen Dialogs förderlich ist und ihr nicht etwa partikularistisch/gruppenegoistisch (z. B. ›recht und gut ist nur, was dem deutschen Volk nützt‹) zuwiderläuft, dann und nur dann ist der jeweilige Wert zu unterstützen, und es gilt, die entsprechende Werthaltung zu erwecken, sie auszubilden und dafür zu motivieren. Es ist immer erst, und zwar nach Maßgabe des Diskurs-Verantwortungsprinzips situations- und folgenbezogen zu prüfen, ob ein Wert/eine Werthaltung (hier und jetzt) moralisch legitim ist. Das gilt auch für so unzweifelhaft erscheinende Werte wie die von Ihnen angesprochene Freundschaft, die von Albert Schweitzer so hochgeschätzte und in Dietrich Böhlers Abschiedsvorlesung 2010 herausgestellte Dankbarkeit 2 ebenso wie für Empathie, Freigiebigkeit, Hilfs2
Vgl. Einleitung der Herausgeber von Dialog – Reflexion – Verantwortung. Zur Dis-
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bereitschaft u. a. m. Denn auch diese Werte können unmoralische Praktiken oder Verhältnisse überdecken und pseudolegitimieren; z. B. eine Freundschaft unter paternalistischen oder korruptionsförderlichen Verhältnissen oder etwa Dankbarkeit gegenüber einem Drogendealer u. a. m. Der Hinweis darauf, daß dies Fehlentwicklungen seien und es ja um die »wahre Freundschaft«, die »wahre Dankbarkeit« etc. gehe, hilft nicht weiter bzw. nur insofern, als er zurückverweist auf die Frage, welche allgemein einsichtigen Kriterien gelten müssen, um von »wahrer Freundschaft« etc. sprechen zu können. Das können wiederum nur diejenigen des Diskurs-Moralprinzips sein. Oder sehen Sie – und ich meine die Frage ernst – eine andere Möglichkeit? Mein Fazit wäre: Werte sollen diskursverträglich sein. Auch moralisch neutrale Werte tragen zur Vielfalt der Welt und zum glücklichen Leben bei. Insofern sind sie wünschenswert. Sind Werte darüber hinaus diskursförderlich, so ist das ein starker Grund, sie ihrerseits besonders zu fördern (auch wenn vielleicht keine unbedingte Verpflichtung dazu nachgewiesen werden kann). Ganz herzliche Grüße, auch von meinem Mann, Ihre Bernadette Böhler-Herrmann P.S.: Zwar verzögert, doch nicht weniger lustvoll lesen wir jetzt Ihren wunderbaren, großen »Nachruf« auf Ihren sympathischen angeheirateten Onkel, den so genialen wie kolossalen Latinisten und alle Maße überschreitenden Revolutionsmäzen Mario Geymonat. Anbei fanden wir (S. 26) wohl auch eine Erklärung für Ihre so überaus enorme Produktivität … P.P.S.: Mein Mann wird sich auf die Suche nach den zwischen Ihnen beiden erwähnten und von Ihnen nachgefragten philosophisch-hermeneutischen bzw. sprachpragmatischen Aufsätzen machen, die ursprünglich als Kapitel des unveröffentlichten Hermeneutik-Teils seiner Habilschrift vorgesehen waren und schließlich separat veröffentlicht wurden. So erschienen die direkt transzendentalhermeneutischen Partien unter dem Titel »Das dialogische Prinzip als hermeneutische Maxime« kussion der Diskuspragmatik, hg. von Jens Ole Beckers, Florian Preußger u. Thomas Rusche, Würzburg 2013, S. XI. Der überarbeitete Text der Vorlesung wird auf der Homepage des Hans Jonas-Zentrums (www.hans-jonas-zentrum.de) bereitgestellt werden.
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Materiale vernünftige Kriterien in diskurspragmatischer Begründung
in: Man and World, 1978, No. 1/, S. 131–164, und als »Philosophische Hermeneutik und hermeneutische Methode«, in: M. Fuhrmann, H. R. Jauss u. W. Pannenberg (Hg.), Text und Applikation, München 1981, S. 483–511. Das sprachphilosophische Kapitel »Wittgenstein und Augustinus. Transzendentalpragmatische Kritik der Bezeichnungstheorie der Sprache und des methodischen Solipsismus« wurde von Achim Eschbach und Jürgen Trabant (Hg.) in ihrem Sammelband History of Semiotics, Amsterdam/Philadelphia 1983, S. 343–369, publiziert.
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3.4 Poiesis und Autonomie – ohne zugrundeliegende Möglichkeit validierender Kommunikation?
Dietrich Böhler 25. März 2019, 20:50 Uhr Vielen Dank, lieber Freund Vittorio, für Ihren Sachbrief ebensowohl als für Ihre mitfühlenden Worte. Ja, die Angehörigen Wolfgang Frühwalds haben Mascha Kaleko zitiert, daß sie keine Angst vor dem eigenen Tode, wohl aber vor dem Verlust der Freunde und Verwandten habe. Wolfgang Böckenförde habe auch ich, wenngleich nur als Zeitgenosse und Leser, sehr geschätzt. Übrigens schrieb mir der Regensburger Helmut Altner, den Sie ja gut kennen, sehr freundlich und hochachtungsvoll über Sie. Seinem Bruder Günter war ich freundschaftlich und ökologisch-ethisch eng verbunden. […] Wenn es Ihnen recht ist, setzt nun meine Frau einen möglichen Schlußpunkt unseres Briefdiskurses. Ihren Brief an Sie füge ich gleich hier ein. Seien Sie aus Neuruppin, wo man jetzt den 200. Geburtstag Theodor Fontanes permanent feiert, herzlich gegrüßt und embrassiert von Ihrem Dietrich B.
Vittorio Hösle 25. März 2019, 21:21 Uhr Liebe Frau, lieber Herr Böhler, haben Sie herzlichen Dank für diese sehr reichen Briefe! Frau Böhler-Herrmann soll in unserem Austausch das letzte Wort haben! Denn dem meisten kann ich durchaus zustimmen. Ja, eine jede Wertethik muß mit dem Universalismus kompatibel sein, und sicher sind manche – aber eben nicht alle – Werte diskursförderlich. Natürlich 156 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Poiesis und Autonomie
unterscheide ich zwischen subjektiv, intersubjektiv und ideal geltenden Werten – die beiden ersten können in der Tat unmoralisch sein. Aber Dankbarkeit hat einen intrinsischen Wert, der darüber hinausgeht, daß sie Diskurse erleichtert. Selbst wenn sie das nicht täte, bliebe sie wertvoll. Warum? Nun, weil sie sich um eine Herstellung von Symmetrie bemüht, die eben auch vordiskursiv gut ist. Das kann und soll ich im Diskurs einsehen, aber der Diskurs fundiert nicht den Wert der Dankbarkeit. Mit herzlichen Grüßen – bitte auch an Herrn Altner, wenn Sie ihn sprechen – in das Neuruppin Fontanes, den auch ich sehr liebe, und in Erwartung von Dietrich Böhlers Hermeneutik-Aufsatz, Ihr Vittorio Hösle
Vittorio Hösle 24. April 2019 Liebe Frau, lieber Herr Böhler, auch Ihnen verspätet eine erfreuliche Osterzeit und ganz herzlichen Dank für die erneute Verwöhnung mit trefflichen Leckerbissen und köstlicher geistiger Nahrung! Gut die Verteidigung des advokatorischen Prinzips, und besonders anregend für mich der lange Aufsatz in »Man and World«, den ich nicht kannte. Beeindruckend das historische Panorama in Fn. 23, 27 und 41 und besonders überzeugend die Kritik an Gadamer. Unsere Differenzpunkte sind im wesentlichen drei: Kommunikation ist sicher mehr als Poiesis, aber es gibt kommunikationsfreie Poiesis (nur metaphorisch mag man von einer »Antwort« auf eine Situation reden, denn die Situation spricht uns nicht wirklich an). Die Theoria Platons und Augustinus’ ist nichts Schlechtes, sondern ein großer Schritt in die Autonomie. Er kann privat erfolgen; doch da er wertvoll ist, soll er allerdings möglichst in Gemeinschaft vollzogen werden. Sicher entwickelt sich Sprache aus Imperativen in konkreten Situationen (siehe mein neues Buch 110 ff. in Anschluß an Tomasello), und gewiß wird der sprachliche Ausdruck durch die Umstände mitbestimmt (137 ff.). Aber eine Idealsprache sollte man nicht aufgeben, wie das Wittgenstein II tut, wenn man an einer idealen Kommunikationsgemeinschaft interessiert ist. Seien Sie beide herzlich gegrüßt von Ihrem Vittorio Hösle
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Dietrich Böhler
Dietrich Böhler 14. Mai 2019 Lieber Freund, haben Sie Dank für Ihren Brief mit den drei Abgrenzungen bzw. Positionsbestimmungen. Diese erscheinen mir viel zu wichtig, als daß wir sie, sofern Sie sich noch eine Diskurszeit nehmen können, konstatierend stehen lassen sollten. Können wir vielleicht einen darauf bezogenen Versuch der diskursiven Klärung und Konsensbildung machen? Verzeihen Sie, ich bin halt von Karl-Otto Apel (transzendental-)diskursiv infiziert und werde von Vittorio Hösle provoziert … I. Handlungen, z. B. Poiesis, als Antwort auf Situationen! Ja, zweifellos können wir Handlungen, insbesondere hervorbringende, etwa künstlerische oder technische und wissenschaftliche Handlungen vollziehen, ohne dabei mit anderen direkt zu kommunizieren. Aber drängt sich nicht sogleich die sokratische Frage an uns auf: ›Ist es möglich, etwas zu tun, was du dir selbst zurechnest, ohne daß du dir – und sei es nur zu deiner eigenen Erfolgskontrolle – darüber Rechenschaft ablegen kannst und – sei es allein mit dir selbst – ein Gespräch darüber führen kannst? Und nehmen wir im Sinne einer verabsolutierten Robinsonade einmal an, du tätest etwas absolut zum ersten Mal und ganz allein für dich, so daß es in deiner Handlungssituation keine Ansprüche und Erwartungen anderer, auch keine Konventionen, Normen etc. gäbe, so wärest du hier doch – was auch Vittorio H. nicht bezweifelt – mit deinen eigenen Geltungsansprüchen konfrontiert, deine Poiesis oder andere Handlungsweise richtig etc. zu vollbringen. 1 Also: Bist du als möglicher Diskurspartner nicht a priori von den Geltungsansprüchen deiner Vernunftrolle angesprochen?‹ Überdies: Sprechen nicht gewichtige, wenn nicht gar unwiderlegliche Gründe dafür, daß dieses Gedankenexperiment ein sinnloses Argument ist? Denn es unterläuft den Elementaranspruch der Denkenden, glaubwürdige Diskurspartner zu sein. Als solche müßten wir uns naturgemäß bemühen, die nimmer auszuschließenden, immer möglichen diskursfähigen Ansprüche der möglichen Situationsbeteiligten und möglichen Betroffenen zu berücksichtigen, indem wir denkend und handelnd darauf eingehen, also darauf antworten. In den 1
Dazu Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 337 f., vgl. S. 335–342.
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Handlungssituationen sind eben Lebensansprüche und (virtuelle) Geltungsansprüche unserer Zeitgenossen und der möglichen (von unseren Handlungen bzw. ihren Folgen) Betroffenen enthalten. Spricht uns eine Situation daher nicht doch an? Transzendental gesagt: Ein »dialogisch strukturiertes Geflecht von Erwartung(en) liegt vor möglichem Handeln und möglichen Diskursen über Handeln. Handlungen und Diskurse beziehen sich bereits darauf; sie nehmen schon Stellung« und antworten insofern auf eine Situation. 2 In diesem Sinne gilt m. E., daß keine Situation ohne mögliche Ansprüche der in sie einbezogenen bzw. von ihr tangierten Menschen ist. Ebensowenig ist eine Aktion ohne implizite und im Diskurs explizierbare Antwort auf die situationszugehörigen Ansprüche möglich. Diese sind als Herausforderungen zu verstehen und rekonstruierbar als Fragen oder auch als Aufforderungen an die Akteure. Daher ist – so betone ich ziemlich im Einklang mit Sebastian Höpfls Intention in diesem Buch 3 – die in meiner »Rekonstruktiven Pragmatik« (S. 256–268, 285–296 und 309–325) getroffene Unterscheidung von quasi-dialogischem Situationsverstehen und dialogischem Diskurs bzw. dialogischer Verständigung bloß graduell. Denn wir können unser Verstehen von etwas als etwas prinzipiell einholen und darüber sprechen. So ist eine Selbstaufstufung des Quasi-Dialogischen zum Dialogisch-Diskursiven in allem Situationsverstehen, ja wohl im Etwas-Verstehen überhaupt, angelegt. 4 Wenn dem so ist, dann bestünde zwischen der sinnkritisch transzendentalen Diskurspragmatik und dem objektiven (nicht etwa subjektiven!) Idealismus unhintergehbare Einigkeit darüber, daß eine Situation nicht ohne Geltungsansprüche denkbar ist und ebensowenig ohne Selbst-Gespräch, also ohne die Form des Dialogs. Aus diesen transzendentalen, m. E. unwiderleglichen Gründen habe ich den Situationsbezug »quasi-dialogisch« genannt und Handlungen nicht etwa bloß metaphorisch als Antworten auf Situationen charakterisiert. Denn wer sich handelnd auf eine (und sei es eine selbst hervorgebrachte) Situation bezieht, der befindet sich in der Logik von Frage und Antwort. 5 Die aber ist die sprachpragmatisch vorgegebene, das in der Umgangssprache angelegte kognitive Fundament von Verantwor2 3 4 5
Vgl. ebd., S. 339. Sebastian Höpfl, Begegnung zwischen Dialog und Diskurs, hier S. 209–232. Vgl. ebd., S. 318 ff. Vgl. ebd., S. 250–262, 422 und 424.
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Dietrich Böhler
tung als Sich-Verantworten-Können. Wie anders wäre Verantwortung und damit die Ethik selbst denkbar, wenn nicht als praktische Entsprechung zur impliziten Frage-Antwort-Struktur des Situationsbezugs im Verstehen und Handeln? II. Kommunikation und Gemeinschaft: Sinnbedingungen von Selbstbezug und Autonomie Demnach gilt, wie gesagt: Keine Situation ohne Geltungsansprüche und, allein schon deshalb, keine Handlung ohne möglichen Begleitdiskurs. Daher auch kein haltbarer objektiver Idealismus ohne sinnkritischen Transzendentalismus – gewissermaßen als Untergeschoß. Aus diesen Gründen ist auch der Begriff bzw. die Idee der Autonomie, woraufhin Platon und Augustinus in der Tat große, auch von Transzendentalpragmatikern nicht zu bezweifelnde, Schritte getan haben, m. E. nicht ohne das Apriori der Kommunikation und damit der sprachlichen Sinn- und Anerkennungs-Gemeinschaft denkbar. Wenn die Ideen der Kommunikation und Gemeinschaft Sinnbedingungen unseres Situationsbezugs und unseres gelingenden Selbstbezugs, sprich unserer Autonomie sind, handelt es sich dabei nicht nur um etwas Graduelles, wie Sie offenbar meinen, sondern um schlechthin Prinzipielles – unhintergehbar bzw. letztbegründbar, und zwar zugleich epistemisch wie auch moralisch. Sollten wir an diesem Erbe Karl-Otto Apels, das freilich eine kommunikationsbezogene Transformation der Philosophie, den Idealismus eingeschlossen, verlangt und m. E. ermöglicht, nicht festhalten? Wenn wir uns als Diskurspartner einholen, uns nicht etwa in Selbstwidersprüche verstricken, sondern in Einklang mit unseren Geltungsansprüchen denken wollen – bleibt uns da eine sinnvolle andere Wahl? III. Idealsprache oder regulative Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft in realer Sprache und faktischer Welt? Kern von Apels Transformation ist ja die Dialektik von idealer und realer Kommunikationsgemeinschaft, genau genommen von idealer Kommunikationsgemeinschaft in einer realen Sprach-, Sinnund Handlungsgemeinschaft. Ihr gegenüber erheben wir Ansprüche auf (logisch gesehen: ideale) Gültigkeit. Aber dank ihrer haben wir a priori Sinn und Bedeutung, so daß wir etwas als etwas Bestimmtes verstehen, charakterisieren und eben auch geltend machen können, 160 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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es also auch sub specie einer idealen Kommunikations- und Geltungsinstanz vertreten können. Und tun wir das nicht immer schon, wenn wir z. B. eine ernstgemeinte Frage stellen oder eine These behaupten? Und zwar unweigerlich in einer realen bzw. natürlichen Sprache, Muttersprache, oder doch in Bezug auf eine solche oder mehrere solcher – als letzte sinnstiftende und reflexive Metasprache? Denn: Einmal verdanken wir den realen gesprochenen Sprachen unsere Sprechakte wie etwas behaupten, nach etwas fragen, etwas versprechen usw. Zudem und vor allem: Könnten Sie, lieber Freund, könnte irgendjemand eine Idealsprache oder auch nur ein Kalkül, ein Schema oder derlei sowohl konstruieren als auch verstehen, vertreten/geltend machen, wenn man sich dabei nicht stützen könnte auf eine natürliche Sprache und sich orientieren könnte an deren Sinnzusammenhang? Einen solchen, von natürlichen Sprachen ermöglichten und jedenfalls in den Grundzügen gestifteten Sinnrahmen können wir mit den Hermeneutikern und Phänomenologen als »Horizont« oder auch als »Hintergrund« bezeichnen, wenn wir von vornherein Flexibilität, geschichtliche Offenheit und situationsbezogene Wandlungsfähigkeit mitdenken. Hans-Georg Gadamer tut das m. E. zu Recht und verwirft zugleich damit »das angebliche Urphänomen des solus ipse«. »Wie der Einzelne nie ein Einzelner ist, weil er sich immer schon mit anderen versteht, so ist auch der geschlossene Horizont, der eine Kultur einschließen soll, eine Abstraktion. Es macht die geschichtliche Bewegtheit des menschlichen Daseins aus, daß es keine schlechthinnige Standortgebundenheit besitzt und daher auch niemals einen wahrhaft geschlossenen Horizont. Der Horizont ist vielmehr etwas, in das wir hineinwandern und das mit uns mitwandert.« 6 Auch wenn wir so etwas wie eine ›Idealsprache‹ oder eine »Orthosprache« (Kamlah/Lorenzen) konstruieren, nehmen wir dabei notwendigerweise den Sinnhorizont einer realen geschichtlichen Sprache oder mehrerer solcher in Anspruch. Reale Sprachen, Umgangssprachen sind und bleiben überhaupt »das Medium alles philosophischen Denkens« (Apel) 7, so daß auch ihre kognitiven Nachteile, etwa ihre Vieldeutigkeit, nur durch interne Präzisierung ihrer Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 21965, S. 288, vgl. S. 232 f., 286 ff. und 355 ff. 7 Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 8, Bonn 1963, S. 47. 6
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Dietrich Böhler
selbst ausgeglichen werden können. Hingegen sind Entwürfe einer mehr oder weniger idealen Sprache zweckgerichtet und insofern auch situationsbezogen verengend. Daher sind alle philosophisch motivierten Sprachreformen und Sprachkonstrukte ihrerseits auf eine Reintegration in die geschichtliche Offenheit der Umgangs- bzw. natürlichen Sprachen angewiesen. Keine sprachliche Fruchtbarkeit ohne permanente Befruchtung durch Öffnung zur Umgangssprache und deren geschichtlich »mitwanderndem« Sinnhorizont! Wie? Nach Maßgabe einer fortschreitenden Aufhebung von Kommunikationsund Diskursbegrenzungen und einer Stärkung der Selbstreflexivität der Umgangssprache. 8 Die Umgangs- bzw. natürliche Sprache ist – im Gegensatz zu jeder Kalkülsprache und möglichen anderen Idealsprachen 9 – ihre eigene Metasprache. Darin liegt ihre (einzigartige!) Tauglichkeit, das »regulative Prinzip der kritischen Konsensbildung« zu befolgen, mithin das praktische Regulativ der (selbst-)kritischen und melioristischen Orientierung an einer »idealen Kommunikationsgemeinschaft«. 10 Es handelt sich dabei nicht um die Idee einer utopischen (aber irgendwann, irgendwie doch herstellbaren) Entität 11, sondern um die einer idealen Geltungs- und Verhaltensinstanz, welche uns bzw. alle möglichen Diskurspartner vor unabschließbare epistemische und moralische Aufgaben stellt. »Ideal« kann diese Instanz zumindest in doppeltem Sinne genannt werden. Einmal, weil ihre Diskursaufmerksamkeit und Diskursgerechtigkeit insofern unbegrenzt ist, als sie alle sinnvollen Argumente gleichermaßen berücksichtigen würde, die nicht nur von anspruchsberechtigten Wesen vorgebracht werden könnten, sondern auch advokatorisch für solche bzw. für deren Lebensbedingungen und Interessen. Außerdem ist diese unbegrenzte Dazu Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II, S. 333 und 343, vgl. S. 210 f. 9 Ebd., S. 318 f. 10 Ebd., S. 355, vgl. S. 353 f., passim. 11 Apel hat das – nach anfänglichen Dunkelheiten und einem utopisch verdächtigen Gebrauch von ›regulativer Idee‹ – zumal in Wilhelm Voßkamps interdisziplinärem Utopieprojekt und in der Auseinandersetzung mit Albrecht Wellmer klargemacht; vgl. u. a. »Ist die Ethik der idealen Kommunikationsgemeinschaft eine Utopie?«, in: W. Voßkamp (Hg.), Utopieforschung, Bd. I, Stuttgart 1982, S. 325–355. Ferner: S. 139 in: Apel, Auseinandersetzungen, Frankfurt a. M. 1998, und »Wahrheit als regulative Idee«, in: D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung, Frankfurt a. M. 2003, S. 171–196. 8
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Geltungs- und Sinninstanz ideal, weil sie das ultimative Diskursforum darstellt, welches ausschließlich sinnvolle, logisch und diskurspragmatisch (ungenau: »performativ«) widerspruchsfreie Argumente zuläßt und weil sie alle Interessen bzw. Ansprüche der sinnkritischen Prüfung unterwirft, ob sie sich in solche Argumente transformieren lassen … Lieber Vittorio, darf ich, wiewohl Sie unseren gemeinsamen Denkfreund Apel gut kennen, früh ein Buch über ihn geschrieben und soeben in Michele Borrellis Sonderheft der »Topologik« 12 beeindruckende Erinnerungen an ihn veröffentlicht haben, mit einem zentralen Passus 13 seiner Abhandlung »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« schließen? Ich meine seinen frühen, für mich wegweisenden, dialektischen Hauptsatz: »Wer […] argumentiert, der setzt immer schon zwei Dinge gleichzeitig voraus: Erstens eine reale Kommunikationsgemeinschaft, deren Mitglied er selbst durch einen Sozialisationsprozeß geworden ist, und zweitens eine ideale Kommunikationsgemeinschaft, die prinzipiell imstande sein würde, den Sinn seiner Argumente adäquat zu verstehen und ihre Wahrheit definitiv zu beurteilen. Das Merkwürdige und Dialektische der Situation liegt aber darin, daß er gewissermaßen die ideale Gemeinschaft in der realen, nämlich als reale Möglichkeit der realen Gesellschaft, voraussetzt; obgleich er weiß, daß (in den meisten Fällen) die reale Gemeinschaft einschließlich seiner selbst weit davon entfernt ist, der idealen Kommunikationsgemeinschaft zu gleichen. Aber der Argumentation bleibt, aufgrund ihrer transzendentalen Struktur, keine andere Wahl, als dieser verzweifelten und hoffnungsvollen Situation ins Auge zu sehen.« Herzlich grüßt in Freude über unser Gespräch – zugleich von meiner Frau, Ihr Dietrich Böhler
Topologik, Numero speciale: Karl-Otto Apel: Vita e pensiero/Leben und Denken, S. 53–63. 13 Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II, S. 429. Allerdings fehlt in dieser frühen, hochengagierten Schrift noch die klare Abgrenzung von »regulativer Idee« gegenüber »Utopie«. 12
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Vittorio Hösle
Vittorio Hösle 18. Mai 2019, 19:51 Uhr Lieber Freund, Sie sollen in unserem Austausch unbedingt das letzte Wort haben! Unsere Positionen haben sich ja angenähert, und ich kann mich inzwischen nur noch wiederholen. Doch ganz kurz drei Punkte: Gewiss, jede Handlung eines einzelnen untersteht einem Geltungsanspruch, und dieser ist im Prinzip intersubjektiver Prüfung unterworfen, da er allgemein gilt. Aber diese Prüfung muss sich an Sachkriterien orientieren. Ob meine Handlung technisch rational ist, hängt davon ab, ob ich Prinzipien der Natur- und Ingenieurwissenschaften berücksichtige. Diese Prinzipien sind weder von Gnaden der Subjektivität noch derjenigen der Intersubjektivität; vielmehr haben sich Subjektivität wie Intersubjektivität nach ihnen zu richten. Und der einzelne trifft die letzte Entscheidung darüber, ob ein Kritiker diese Prinzipien angemessen berücksichtigt hat. Das gilt zweitens auch für die Autonomie. Ich kann mich gegen die reale Kommunikationsgemeinschaft stellen – im durch sachliche Argumente begründeten Glauben, daß ich recht habe, in der Hoffnung, auch andere würden das später einsehen, und mit der Bereitschaft, andere von meinen Einsichten zu überzeugen. Der Verweis auf die ideale Kommunikationsgemeinschaft ist kriterial leer – anders als der auf die Sachkriterien, die eine Entscheidung stützen. Drittens ist natürlich die Muttersprache genetisch eine zentrale Voraussetzung. Aber Genesis und Geltung sind nicht dasselbe. Ich kann mich von einer Sprache in die andere bewegen; und es gibt eine Fülle intentionaler Akte, die Tiere und Kinder schon haben, bevor sie sich sprachlich ausdrücken. Denken und Sprechen sind also nicht gleichursprünglich – das Denken geht dem Sprechen voraus, findet aber ab einem bestimmten Alter meist in sprachlichem Gewand statt. Daß das aber nicht immer der Fall ist, kann einem jeder Handwerker, aber auch mancher Mathematiker bestätigen. In den nächsten Tagen verreisen wir nach Ostasien (Japan und Korea) und kehren erst Ende Juni zurück. Seien Sie beide sehr herzlich gegrüßt von Ihrem Vittorio
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4. Neue variationsoffene Diskursethik. Auf dem Wege zu einem dialog-interpretationistischen Manifest Hans Lenk
I.
Dialogdeutungen und Diskurshandeln sind schemainterpretatorisch zu sehen
Vor über vierzig Jahren begann ich, eine Methodologie der Interpretationskonstrukte auszuarbeiten, insbesondere anhand von Begriffen und Beispielen aus der Handlungstheorie, der philosophischen Analyse der Vernunft nach Kant, der theoretischen Begriffe in der Wissenschaftstheorie und der symbolischen Konstrukte in Semantik und der Wertphilosophie, des soziologischen Sozialkonstruktivismus und »symbolischen Interaktionismus« sowie der Psychologie der Motive und Motivationen – und zwar sowohl anhand solcher Begriffe, die wir im Alltag benutzen, als auch solcher aus den Wissenschaften, insbesondere den Human- und Sozialwissenschaften. 1 Dort sind kennzeichnenderweise die meisten Phänomene selber Ergebnisse und Mittel oder Vehikel von Interpretationen, Interpretationskonstrukte, Schemata, Muster, Modelle, Strukturen usw. Man kann diese Methodologie zu einer umfassenderen erkenntnistheoretischen Philosophie ausweiten: Wir haben keinen interpretationsunabhängigen »direkten« Zugang zur Welt, weder in der Erkenntnis noch im Handeln oder sonst. Wir können nicht ohne Schemata und Schematisierungen überhaupt erkennen und handeln: Wir können nicht nicht schematisieren, »wir können nicht nicht interpretieren!« (Vf. 1993, 350, Hervorh. hinzugefügt). Wenn Böhler (2011, 564) feststellt: »Interpretation ist auf Diskurs« und Dialog »verwiesen«, dann lässt sich auch schließen: Wir können nicht nicht auf Diskurs und Dialog bauen, nicht darauf verzichten, wenn wir syLenk: Handlung als Interpretationskonstrukt. Entwurf einer konstituenten- und beschreibungstheoretischen Handlungsphilosophie, in: ders. (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär, II, 1, München 1978, 317 ff. – Besonders sei verwiesen auf Lenk 1993, 1993a, 1995, 1995a, 2001, 2001a.
1
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Hans Lenk
stematisch argumentieren. (Das klingt schon sehr »transzendentalpragmatisch«.) Kurz gilt also auch: Wir können nicht nicht dialogisieren. Welt, genauer: eine jede Weltversion 2, wird auch durch unsere menschlichen Bedürfnisse, Möglichkeiten und Fähigkeiten zu Dialog und Diskurs erst konstituiert und strukturiert. Dieses Dialogisieren, Interpretieren, Schematisieren bezieht sich nicht nur auf die begrifflichen Darstellungsmöglichkeiten durch die Sprache, die Kultur, sondern auch auf die entsprechenden organischen oder gar erblich angelegten Lern- und Strukturierungsfähigkeiten. Die »Welt« ist stets unterstellt, aber nur erfassbar, insoweit sie von unseren menschengemachten oder in uns vorgefundenen Interpretationsschemata gebildet, strukturiert, geformt wird. Alles, was wir als erkennende und handelnde Wesen erfassen und darstellen können, ist abhängig von (Schema-)Interpretationen. Der Mensch ist notwendig das deutende Wesen, er ist auf Deutungen, auf schematisierte, strukturierte Interpretationen angewiesen – so z. B. beim Denken, Erkennen, Handeln, Konstituieren, erst recht natürlich beim Bewerten usw. Das ist eine Idee, die in der Kantischen Tradition steht, nur fordert sie nicht wie Kant, daß die Erkenntnisformen nur in einer einzigen Weise angelegt sein können, sondern sie lässt Spielraum für Alternativen, Möglichkeiten unterschiedlicher Perspektiven, ja, für nahezu beliebig viele Perspektiven. Aber alle diese Perspektiven reflektieren menschliche Konstruktbildungen, Deutungen, eben Interpretationen. Man könnte eine solche Philosophie vielleicht einen transzendentalen Interpretationismus nennen; man kann es aber auch dabei bewenden lassen, zunächst nur auf die Methode aufmerksam zu machen und die Methode darzustellen, zu analysieren und ihre Möglichkeiten zu erfassen; in diesem Sinne könnte man von einem methodologischen Schema-Interpretationismus sprechen. Wir können nicht nicht schematisieren, d. h., wir müssen im Wahrnehmen, Erkennen und bei allem Handeln stets Schemata oder »strukturelle Konzepte« bilden (konstituieren), aktivieren und reaktivieren. Schema-Interpretieren bedeutet, fungiert (»lebt«) in solchem Aktivieren. Und Interpretieren als Handeln ist in unserem Sinne nichts anderes als Schema-Aktivierung.
Selbst hochrangige Analytiker wie z. B. Goodman konfundieren oft »Welten« mit beschriebenen Weltversionen!
2
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Dieser Ansatz kann als eine bescheidenere methodologische Version von Kants Entwurf gelten – also ein Quasi-Transzendentalismus. Dieser methodologische Schema-Interpretationismus bietet also eine Möglichkeit, auf moderne Weise den Aktivismus der Erkenntnistheorie Kants aufzunehmen, weiterzuführen und u. U. mit einem empirischen Realismus im Kantischen oder gar ontologischen Sinne zu verbinden. Ein solcher indirekter Realismus bestünde zumal in der These, daß alle Wahrnehmungen von Objekten und Vorgängen den subjektgebundenen Bedingungen der Erkenntnis und ihrer Formgesetzlichkeiten unterliegen, aber durchaus objektiv, intersubjektiv prüfbar beschrieben werden können und daß den Strukturierungen durch uns in der Alltagsinterpretation, der »natürlichen ontologischen Einstellung« (Fine), doch so etwas entspreche wie eine quasi »dahinter liegende« »Welt an sich«. Zunächst einmal handelt es sich um eine pragmatische Erkenntnistheorie und einen grundlegenden methodologischen Ansatz zu einer Philosophie – insofern, als von uns als den interpretierenden, deutenden Wesen abhängig ist, wie Formen und deren Darstellungen (»Repräsentationen«) gebildet werden, durch die jegliche Erfassung im Denken, Vorstellen, Erkennen und Handeln strukturiert wird. Es handelt sich, wenn man so will, um einen pragmatischen Konstitutions-Interpretationismus, der eine methodologische Untervariante hat, den methodologischen (Schema-)Interpretationismus, und eine weitere quasi-transzendentale Variante, den Transzendental-Interpretationismus im fundamentalen quasi-transzendentalen oder im pragmatischen Sinne. Die genannten Konzepte und Konstrukte hatte ich (bes. in 1993) »Interpretationskonstrukte« genannt. Nicht nur alle theoretischen »Entitäten« oder »Strukturen« sowie Systeme, sondern auch alle (z. B. sprachlich) bezeichneten, generisch identifizierbaren Aktivitäten (zumal Handlungen) sind durch solche schema-abhängigen »Interpretationskonstrukte« zu erfassen. Besonders kulturelle Phänomene und soziale »Systeme« bzw. Strukturen (wie Institutionen) sind als handlungsgebundene und gar entscheidungs-generierte genuine Interpretationskonstrukte und sekundär durch solche zu beschreiben und zu verstehen. In etwas differenzierterer Weise und Aufstellung sprach ich (1993, 109) von »interpretatorisch- schematisierenden Aktivitäten« oder »Schema-Interpretationen«.
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Hans Lenk
Interpretatorisch-schematisierende Aktivitäten: (Schema-)Interpretationen konstituierende Konstituieren unbewusstes Auslösen Aktivieren Ausbilden Entwickeln Differenzieren Stabilisieren
konstuierende
bewusstes Auslösen Diskriminieren Kontrastieren Vergleichen (Re-) Identifizieren Darstellen Auswählen Verfeinern
von Schemata
Entwerfen Zuordnen Aufprojizieren Variieren Kombinieren Organisieren Integrieren
rekonstruierende Aktivitäten Anwenden Projizieren Durchführen Konstruieren Repäsentieren Vorstellen Kognizieren Darstellen
(Re-)Identifizieren (Wieder)Erkennen Unterscheiden Zuordnen durch Einsetzen Subsumieren Sortierendes Klassifizieren Verstehen i. w. S. sukzessives Weiteranwenden
durch, mittels, mit, nach, oder in Schemata (von Konstanzen, Formen/ Stukturen/Gestalten, Gegenständen, Ereignissen, Prozessen, Fakten, Relationen, Kontexten) bei Textinterpretation: Re-Identifizieren Anwenden von Schemata (Wieder)Erkennen Verstehen i.e.S.
Diese und alle sonstigen Interpretationen und Konzeptbildungen lassen sich methodisch in Typen und auf sechs Stufen oder Ebenen mit ansteigender Variabilität und Flexibilität anordnen (inkl. Metastufen: metatheoretisch bzw. metasprachlich) (ebd. 56): Ebenen) Stufen der Schema-Interpretation IS1 praktisch unveränderliche Urschematisierung oder die Imprägnation (genetisch angelegte primäre Konstitution bzw. Schematisierung oder die Imprägnation in der direkten Wahrnehmung)
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Neue variationsoffene Diskursethik
IS2 gewohnheits-, gleichförmigkeitsbildende Musterbildung und -reaktivierung (erlernte Muster-Schematisierung), habituelle Form- und Schemakategorialisierung + vorsprachliche Begriffsbildung IS3 sozial etablierte, kulturell tradierte, übernommene konventionalisierte Schematisierung IS3a vorsprachlich normierte »Begriffs«-Bildung und SchemaInterpretation durch soziale und kulturelle Normierungen IS3b repräsentierende sprachlich normierte Begriffsbildung (i. e. S.) IS4 anwendende, aneignende bewusst geformte Einordnungsinterpretation, Unterordnungs- oder Einbettungsschematisierung (Klassifikation, begriffliche Subsumierung, Beschreibung, Artenbildung u. -einordnung; gezielte Begriffsbildung) IS5 erklärende, verstehende (i. e. S.) rechtfertigende, (theoretische) begründende Interpretation Rechtfertigungsinterpretation, Einbettung in Folgerungs-, Argumentations- und Begründungs»Schemata« oder -Metaschemata IS6 erkenntnistheoretische (methodologische) Metainterpretation der Interpretationskonstrukt-Methode Zumal bewusste Aktivitäten als Handlungen sind durch Schemainterpretationen – und nur durch sie – erfassbar oder konstituiert, und zwar sowohl aktiv durch den Akteur wie passiv in der Wahrnehmung oder Unterstellung (Hypostasierung). Aus prinzipiellen, schon sprach- und referenzlogischen Gründen muss Handeln als etwas grundsätzlich und auch lebenspraktisch Deutungs- und Interpretations-Abhängiges und zugleich als wert-, regel- und weltgebunden aufgefasst werden. Wenn (Schema-)Interpretieren sinnvoller Weise als ein konstituierendes bzw. darstellendes oder ausführendes Handeln verstanden wird, wäre Weltablehnung ihrerseits als schema-interpretierender Handlungsakt (auf der nächsthöheren Metastufe) pragmatisch zu widerlegen – als eine Instanz der von mir früher (Vf. 1970, 203; 1973, 105 ff., 2000, 160) in der Logikbegründungsdebatte so genannten petitio tollendi einer quasi »negativen« Abwandlung der petitio principii. 3 Man kann z. B. nicht rein logisch argumentierend das logische 3
Zur Erinnerung sei der erste Text ausführlich zitiert (1970, 203, zit. a. 1973, 107):
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Hans Lenk
Widerspruchs(verbots)prinzip ablehnen, ohne es selber (auf höherer Metastufe) zu benutzen – oder eine entsprechende funktional äquivalente, etwa semantische Umschreibung. Karl-Otto Apel (1973, Transformation der Philosophie, Bd. II, S. 410) hat diese petitio tollendi für den Unhintergehbarkeitsaufweis seines transzendentalpragmatischen sog. »Letztbegründungsvorhabens« 4 übernommen, wobei er mich zunächst zitierte (danach allerdings nicht mehr). Fraglich bleibt, ob es sich hier um eine fundamentale deduktive Letztbegründung im Sinne des klassischen Letztbegründungsrationalismus handelt. Eher scheint es um einen zwar methodologisch wichtigen, reflektiven bzw. reflexiven, aber eher eben »nur« pragmatischen Aufweis einer Unvermeidbarkeit oder »Unverzichtbarkeit« zu gehen, bei deren Missachtung man in einen sog. »performativen Widerspruch« gerät, also in ein handlungspraktisches Paradox einer praktischen »Unmöglich»In welchem Sinne sind … diese konsequenzlogischen Regeln unverzichtbare Bestandteile des rationalen Kritisierens? Zunächst ist leicht zu zeigen, daß man diese Regeln nicht auf Grund rationaler Argumente verwerfen kann. Denn auf Grund von Folgerungen, also rational, könnte man sie nur verwerfen, wenn man diese Regeln (in der Metastufe) zugleich anwendete. Man kann diese Regeln also nicht durch ein rationales Argument ablehnen, denn dieses Argument müsste sie selber benutzen. Es wäre ein Gegenstück zu der berühmten petitio principii, dem Zirkelargument. Während die petitio pricipii Regeln oder Sätze benutzt, die gerade erst bewiesen werden sollen, so verwendet dieses negative Argument Regeln, die mit ihm selbst verworfen werden. Daher könnte man es die petitio tollendi – die Beanspruchung des gerade Aufzuhebenden – nennen. Es führt zu einer ähnlich paradoxen Situation wie die berühmte, die entsteht, wenn man den Satz: »Ich lüge«, ernst nimmt. 4 Apel verwendet dieses Argument zur Hervorhebung der wichtigen Rolle von »pragmatischen Widersprüchen«, die »angeblich durch Aufweis der prinzipiellen Undurchführbarkeit transzendentalpragmatische Letztbegründungen ermöglichen: Man könne nicht bestimmte Regeln verwerfen, ohne sie selbst in Anspruch zu nehmen bzw. durch die Ausführung des Arguments selbst zu widerlegen, weil die Ausführung ein regelgebundenes Handeln erfordert oder ist, das die Regel auf semantisch oder methodologisch oder theoretisch höherer Stufe schon verwendet. Allerdings ist fraglich, ob die Zirkelstruktur dieser Petitio tollendi – bzw. der pragmatische oder performative Widerspruch, der darin besteht, daß man sich einer Regel bedient, die man eo ipso in der Argumentation verwirft –, wirklich zu einer Art von »Letztbegründung« verwendet werden kann. Es handelt sich zwar fraglos um einen methodisch-reflexiven Aufweis einer Unvermeidlichkeit oder, …, um die »Unverzichtbarkeit« bestimmter Regeln – wie z. B. des Satzes vom auszuschließenden Widerspruch oder eines entsprechenden funktionalen Äquivalents in der Logik. Freilich kommen pragmatische Widersprüche vor; sie sind praktisch möglich, nur idealerweise sind sie auszuschalten: Es handelt sich eher um eine normative Reinheitsforderung – etwa derart, das Handeln und Denken/Argumentieren nach idealen Konsistenzforderungen auszurichten, die der Logik abgelesen sind.« (Selbstzitat Vf. 2000, 160)
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Neue variationsoffene Diskursethik
keit«. (Wer etwa das Prinzip vom auszuschließenden Widerspruch systematisch argumentierend bestreitet, kann dies eo ipso nur, indem er dieses – oder ein funktionales Äquivalent – auf der nächsthöheren Metastufe verwendet, also in einen »pragmatischen Selbstwiderspruch« (Böhler) gerät. Dieses indirekte Verfahren ist jedoch wichtig und richtig genug für einen pragmatischen »Aufweis«. Dieser liefert freilich nicht per se einen fundamental-rationalistischen Erzeugungsbeweis (»apriorische Deduktion«), sondern stattdessen eher – wie z. B. bei der operativen Logikbegründung durch Lorenzen (1955) – eine nachträgliche metasprachliche »operative Interpretation« oder ex-post-»Rechtfertigungs-Interpretation« des Gebrauchs, die aber interpretative Varianten zulässt (vgl. Vf., 1968, 600, 628). Dies dürfte für den »Transzendentalpragmatismus« Apels und v. a. für Böhlers offenere Diskursethik reichen (S. u. II). Diskurse und Dialoge sind für Menschen unerlässlich, »natürliche« Sprech-Handlungen und Handlungsformen – methodologisch wichtig auch für präzise Begründungsargumente für logische Wahrheiten und Regeln – z. B. bei der klassischen wie der konstruktiven Logik samt deren Schlussregeln und logischen Konstanten (Vf. 1968, 563 ff.). Doch nicht nur für die formale Logikbegründung gilt dies, sondern auch für kommunikationstheoretische Begründungsdebatten über sprach- und transzendentalpragmatische Fragen. Wie beim Interpretieren und Schematisieren allgemein gibt es auch bei diesen Begründungsdiskussionen des Dialog- und Diskurshandelns (und von deren Strukturen) eine interpretatorische petitio tollendi: Sind Handlungen selbst (Vf. 1978, 2001, 2001a) als Interpretationskonstrukte aufzufassen, so sind sie im handelnden Interpretieren und Schematisieren (welcher Stufe immer) auch auf die Unterstellung von etwas »Realem« und eines Handelnden »in der Welt« angewiesen; man kann dies nicht ablehnen, ohne es selbst qua Handeln schon implizit in Anspruch genommen zu haben. Handeln (wie auch schematisches Interpretieren und Dialogisieren) konkretisiert sich praktisch-pragmatisch immer an etwas (Situation und z. B. sprachliches oder zeichenartiges Produkt) und an jemandem (Akteur und Adressat). Der Interpret ist als real(er) Handelnder in der Welt zu verorten; doch diese Verortung ist nur interpretativ zu erfassen. Handeln kann man nur in, nicht außerhalb der Welt. Indem wir handeln, sprechen, interpretieren, dialogisieren, setzen wir pragmatisch notwendig das Modell einer realen Welt, einer Handlungswelt voraus. Welt ist real, Welterfassung stets interpretatorisch. Wir könnten das 171 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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erste zwar im Sinne des traditionellen radikalen Skeptizismus bestreiten, aber praktisch-performativ diese Ablehnung nicht durchführen – ein geradezu »klassischer« Fall von petitio tollendi. »Realität« ist – nicht nur als Unterstellung – pragmatisch »notwendig«. Sie ist nur interpretatorisch zu erfassen, aber eben nicht bloß interpretatorische Einbildung. In der natürlichen Alltagseinstellung (»natural ontological attitude«) ist eine solche »letzte« Grundrealität pragmatisch immer schon involviert. Das bedeutet nicht, daß diese »Grundwelt« in einer gemeinsamen Handlungs- und Interpretationsversion für alle Deutenden und alle Zeiten fixiert und eineindeutig zu beschreiben wäre. Wo bleibt die »reale Weltverankerung« in den Interpretationen? Trotz unterschiedlicher Weltversionen unterstellen wir i. d. R. pragmatisch eine »reale« »Welt«. Wir können eine solche nicht argumentierend oder dialogisierend abstreiten, ohne eine solche pragmatisch-praktisch selber zu verwenden. Dabei können wir eine evtl. andere, freilich je variierungsoffene Weltversion nicht absolut ausschließen. Dies alles bedeutet die hypothetische sozusagen »transzendental-pragmatische« Annahme eines Rest-, Ur-, Minimal- oder indirekten »Realismus«, den alle Handelnden und zumal auch alle argumentierenden, dialogisierenden und sprechenden Denker zumindest implizit vertreten – dank der genannten petitio-tollendi-Struktur, die einen pragmatischen »Realismus« handlungs- und sozialpraktisch als »notwendig« aufweist (Vf. 1993, 280 f., ähnlich Röd 1991, 1993). Trotz der pragmatisch »notwendigen«, nur interpretativ zu erfassenden »externen Realität« ist es weder nötig noch möglich, einen/den einzigen Archimedischen Haltepunkt in der besagten »realen externen Grundwelt« zweifelsfrei oder gar eineindeutig »dingfest« zu machen. Dies gilt auch bei allen unseren Erfahrungen/Erlebnissen der überwältigenden Widerständigkeit des »Realen« gegenüber unserem Leben, Streben, Handeln, Hoffen, Wünschen. So viel kritischen Rationalismus (besser: rationalen Kritizismus, Vf. 1970) á la Popper – im Gegensatz zum überholten absolut-deduktiven apriorischen Letztbegründungsrationalismus – gestehen neuere Transzendentalpragmatiker wie Böhler und Kuhlmann und Metaphysiker wie Jonas ja nun ausdrücklich zu (s. u. S. 9). (Damit sind wir bei der Einzeldiskussion von Dietrich Böhlers Text »Was gilt?«.)
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II.
»Was gilt?« Zur Normativität aus dem Meta-Dialog
Zunächst muss ich gestehen, daß ich – ähnlich wie der Metaphysiker Hans Jonas – die transzendentalpragmatische Diskurstheorie und Diskursethik aufgrund meiner langjährigen Arbeit (z. B. 1968, 563– 600) an und Auseinandersetzung mit der präziseren Begründungsproblematik der formalen dialogischen Logik(en) – z. B. des späteren Lorenzen – zu pauschal in einen Topf geworfen habe und darin (z. B. bei den ersten Hauptwerken Apels) ein quasi-kantisches Wiederaufleben eines apriorischen Letztbegründungs-Transzendentalismus nahezu klassischer Provenienz gesehen habe. Erst die »dialogreflexive« Böhlersche Fortführung und Öffnung der Diskurstheorie in seiner »Berliner Diskurspragmatik« (S. 10, 12 f. u. v. a. 2011), eher nur angedeutet beim späten Apel, hat mir die Augen für die m. E. durchaus sinnvolle Aufweisbegündung und äußerst wichtige Differenzierung im Hinblick z. B. auf die nur regulative Auffassung der Peirceschen Prinzipien der »idealen Kommunikationsgemeinschaft« geöffnet. Allerdings war (und ist wohl z. T. noch) die durchgängige Terminologie der Transzendentalpragmatiker auf das Erzeugen eines systematischen Missverständnisses geradezu angelegt: Man denkt bei »transzendental« und »a priori/Apriori« an die Kantischen Begriffe i. S. von »erfahrungsunabhängig allgemeingültig« und »aus der Vernunft selber analytisch-logisch ableitbar«. Bei »Letztbegründung« ist unvermeidlich die Assoziation der eindeutigen, ja, eineindeutigen und somit einzig möglichen Deduktion i. S. des klassischen Fundamental-Rationalismus insinuiert. (Nur spielt nun irgendwie die Dialogsituation eine entscheidende Rolle.) Dies ist von den operativen dialogischen Logikbegründungen der sog. logischen Konstanten und formalen Regeln durch Paul Lorenzen (und variationsreicher durch Kuno Lorenz) präziser geleistet worden – allerdings nur für die formale Logik, genauer: für immer gewinnbare konsequenzlogische Entscheidungsstrategien gegenüber Opponenten bei den Dialog (begründung)en 5 in der konstruktiven/intuitionistischen Logik (vgl. zur Übersicht z. B. Vf. 1968, 563 ff., Lenk-Paul 2014, Kap. 6–7). (Kuno Lorenz hatte übrigens schon in seiner Dissertation gezeigt, daß eine trivial-plausible Änderung einer Regel zur Angriffswiederholung be-
Selbst hier, bei der konstruktiven, sog. »effektiven« Logik, sind übrigens Lorenzens erste Kalkülbegründungen stichfester!
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reits die klassische Junktoren- und auch Quantoren-Logik ergibt, also eine andere Variante!) Aus dem rein formalen Deduktionsrationalismus könnte natürlich keine inhaltliche normative Verantwortungs- und Zukunftsethik im Sinne von Jonas und Böhler begründet werden. »Normativity has to be brought back in!« – wie Sinn und Bedeutung in die DialogSemantik. Dies geschieht nach Böhler (2011, 556 ff.) in der praktisch-pragmatischen und notwendigen Vergewisserung von erwartbarer »Glaubwürdigkeit in Wort und Tat« – als »Glaubwürdigkeitsorientierung höherer Ordnung« – sozusagen als methodisch notwendige Meta-Norm. Böhler spricht von dem für einen »wahrhaftigen« Diskurs methodisch wie moralisch (stets sich selbst und den Partnern gegenüber) zu unterstellenden, »schon immer angenommenen« »sokratisch«-»reflexiven« »Begleit-Diskurs«. Dieser generiere »Verbindlichkeit aus dem Diskurs« »aus sich selbst heraus« – im Sinne eines regulativen »unbedingt gültigen Moralprinzips«, das im inneren Begleit-Diskurs als »unhintergehbarer« »Anspruch auf Glaubwürdigkeit im Diskurs« enthalten ist und »aufgewiesen« werden kann – und soll (als schon im Begleitdiskurs implizit eingegangene höherstufige Selbstverpflichtung und Erwartung – sowie Erwartungserwartung – an andere reale und potentielle Diskurspartner). Es gälte ein »Kriterium der Kohärenz zwischen dem Begleitdiskurs und den je konkreten Handlungsabsichten samt Handlungsweisen« wahrhaftiger Dialoge, das auch Skeptiker »gar nicht ernsthaft« bezweifeln können. Ablehnung, »Bezweiflung« oder »Einklammerung ›meiner‹ Diskursverbindlichkeiten als allgemeiner Verbindlichkeiten« brächte mich im aktuellen Dialog in einen pragmatischen Selbstwiderspruch« (ebd. 558) – oder prinzipiell in eine performative Paradoxie. So kommt die Normativität durch einen pragmatisch überzeugenden indirekten Aufweis aus der Metastufen-Verpflichtung/ Verantwortlichkeit in die Diskursethik. Die faktisch wie idealerweise diskursnötige »diskursbezogene Wahrhaftigkeit«/Diskursglaubwürdigkeit bringt Böhler zu seinem »kategorischen Imperativ der Diskursethik«: »Bemühe dich, so zu handeln, daß du für deine Handlungsweise in einem unbegrenzten, rein argumentativen Diskurs Konsens erwarten kannst!« »Es ist letztlich die regulative, aber unbedingt verbindliche Idee der Konsenserstrebung im Diskurs« – sie mache »die praktische Vernunft zu einer durch und durch kritischen, selbstkritischen und weltkritischen Bemühung um das konkret Zustimmungswürdige« (ebd. 559). 174 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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Im bezeichnenden Unterschied zu Kants »monologischer, ja sogar methodisch solipsistischer Vernunftphilosophie«, strenger Pflichtenlehre und total rechtsförmiger Ethik wird hierdurch »Vielstimmigkeit« eröffnet, »die unter der regulativen Idee einer Verständigungsgegenseitigkeit steht«. Diese Vielfalt berücksichtige »die Begrenztheit realer konkreter Diskurse«, die »prinzipiell fallibel« sind (ebd. 559) – und erlaubt andere Perspektiven, sprich: Interpretationen und Varianten. Dies gilt auch für die Vielfalt der Arten und Typen von Verantwortlichkeiten (S. u.), von ethischen Konflikten und deren pluraler Bearbeitung – z. B. durch meine bereits häufig veröffentlichten Prioritätsregeln (s. zuletzt Vf. 2015, 2017, 2018). (Ebenfalls trifft sich Böhlers beeindruckende kommunikationsphilosophische Kritik an Kants pflichtenrigoroser monologischer Ethik mit meiner humanitätsethischen an deren Rechts- und Gesetzesförmigkeit, s. z. B. u. a. Vf. 1996, 1998, 2015.) Böhler nimmt nun noch Jonas’ (1979, 36) und Apels (1990) Verweise auf unser aller Zukunfts(mit)verantwortung für die »Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« (bei Apel der »realen Kommunikationsgemeinschaft«) mit Recht besonders ernst. Böhler jedoch erweitert diesen »neuen« kategorischen Imperativ »apriori« »dialogreflexiv durch den Aufweis impliziter Dialogversprechen« (S. 10, s. a. 2011) auf eine regulative Verbindlichkeit der Verantwortlichkeit nicht nur i. S. der realen, sondern auch der idealen Kommunikationsgemeinschaft nach Peirce und Apel (S. 25 ff.). »Apriori« sollen darin die »Geltungsansprüche und Dialogverpflichtungen/Dialogversprechen«, normative grundgegebene »implizite Dialogversprechen«, sein »welche unumstößliche moralische Kriterien für das Gesollte und das Verantwortbare sind« (S. 26, 28). Dies ist eine i. S. des Apelschen Ansatzes abgewandelte Auffassung von ›Apriori‹ als implizit im Dialogversprechen (S. 28) schon enthaltenen »unhintergehbaren« »Präsuppositionen«. Echte Dialoge sind also für Böhler durch normative, darin immer schon enthaltene und »implizit« in Anspruch gebrachte »Begleitdiskurse« ausgezeichnet, die quasi kantisch alle eigenen Behauptungen und »Aktivitäten begleiten können« müssen. Das ›Apriori‹ wäre daher besser als unverzichtbare »implizite Normativität« oder »unhintergehbare«, weil immer schon im Begleitdiskurs involvierte, »normative Implizi(er)theit« zu verstehen – und fiele nicht mehr so missverständlich aus. Nun, bei Apel sollte es ja auch ein kommunikationstheoretisches Apriori sein und kein erkenntnistheoretisches wie bei Kant. Klare Terminologie für die »mit dem Er175 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Indirekte moralische Handlungsverantwortung für (evtl. nicht intendierte) Folgen von Handlungen und/ oder Unterlassungen
Moralische Mitverantwortung (Gruppenverantwortung) je nach Einwirkungs- u. Mitwirkungsmacht
Moralische Fürsorge-/ Vorsorgeverantwortung
direkt situationsaktivierte moralische Handlungsverantwortung für die von Handlungen Betroffenen (Partner, Personen, Lebewesen)
Höherstufige (individuelle) Verantwortung zur Erfüllung vertraglicher oder formeller Pflichten
Verantwortung für öffentliche Sicherheit, öffentliche Güter, Gesundheit und Wohlfahrt usw.
Individuelle Verantwortung zur Einhaltung von Ethikkodizes der Verbände, Institutionen usw.
Selbstverantwortung (in doppelter Hinsicht)
Universalmoralische Verantwortung
Moral, Verantwortung v. Institutionen/ Korporationen
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heben bzw. dem Vorausgesetzthaben von Geltungsansprüchen auch bestimmte(n) Dialogverpflichtungen« (S. 27) ohne Apriori-»misnomer« wäre geschickter gewesen als bloßes ›Apriori‹. (Eine ähnliche, eher kleinliche kritische Einfügung könnte auch hinsichtlich des ›Letzt‹ in »Letztbegründung« notiert werden: Auch hier wird unnötigerweise durch die Terminologie das Modell des absoluten Rechtfertigungsrationalismus insinuiert.) Die Idee der gestuften »Selbstverständnisse« und faktischen Diskursführungen ähnelt in gewisser Weise meiner Stufung der Interpretationsebenen (s. I) – nun nur in Anwendung auf Verantwortungsstufungen – und könnte damit geradezu »kongenial« zusammengeführt werden. Aus den unterschiedlichen Diagrammen der Verantwortungstypen (Handlungsverantwortung, Aufgaben- und Rollenverantwortung usw.) soll hier nur die Übersicht der i. e. S. ethischen oder universalmoralischen (mit Anspruch auf Allgemeingeltung zu verstehenden) Verantwortung wiedergegeben werden: (vgl. S. 176) Die (universal)moralische Verantwortlichkeit ist dadurch gekennzeichnet, daß sie sich an Handlungen ausrichtet, die das Wohl und Wehe von Personen und Lebewesen (mit Selbstzweckeigenschaft, nach Kant; heute wohl auf höhere Tiere auszudehnen) betreffen. Sie ist nicht nur auf spezifische Rollen und Bereiche eingeschränkt, sondern gilt grundsätzlich universell, gleich für jedermann in vergleichbarer Situation. Sie gestattet keine Auf- und Abschiebung, ist zunächst stets persönlich. Wie etwa im Modell von Jonas, dem die Elternrolle als prototypische Grundverbindlichkeit vorschwebt, sich aber doch in seinem »neuen kategorischen Imperativ« auf die Fortdauer »echten Menschenlebens auf Erden« bezieht. Es gibt aber auch sekundäre, etwa kollektive Verantwortlichkeiten (z. B. Gruppenverantwortlichkeiten, s. Maring 2001) und sogar Meta-Verantwortung (S. u. Ad 9.). Was die recht umfangreiche, aber »nicht vollständige Liste solcher Verbindlichkeiten« normativ grundlegender (»apriori«) Provenienz angeht, so bin ich mit Böhlers sehr differenzierten Vorschlägen nahezu vollständig einverstanden – mit minimalen Abänderungen: Ad 1.): Wir haben damit implizit im Prinzip, wenn auch nicht notwendig faktisch, versprochen … 177 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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Ad 3.): Auch haben wir im Prinzip … Ad 6.): Schließlich sollten wir uns – als leibhafte Dialogpartner – so verstehen, als hätten wir versprochen, … Ad 7.): Kommentar: Albert Schweitzer meinte einmal: Eine Technik, die nicht beherrscht werden kann, kann auch nicht verantwortet werden. Im Sinne von Jonas’ menschheitszentrierter Für- und VorsorgeEthik ist der Mensch (sind wir Menschen) »mitverantwortlich für die künftige Permanenz der Menschheit« auch für von uns nicht absehbare, von Menschen und gesellschaftlichen Entwicklungen verursachte Geschehnisse in von uns »unkontrollierbaren Zeitspannen« – außer etwa bei kosmischen, für die Menschheit katastrophalen Ereignissen – wie z. B. das Verglühen der Erde, wenn dereinst die Sonne zum »roten Riesen« wird. Ohnehin ist die (Mit-)Verantwortlichkeit für gewisse nicht vorhergesehene und nicht vorhersehbare Ereignisse/Entwicklungen ein Problem für Jonas’ Vorsorge-Ethik unter dem Prinzip der Fürsorgeverantwortung für das die potentiell Betroffenen, die z. B. von unvorhergesehenen/unvorhersehbaren Aktivitäten und zumal von heute in Gang gesetzten Entwicklungen, z. B. klimatischer Art, abhängig sein werden (Mit-Verantwortung für künftige Generationen, beginnende Klimakrise bzw. drohende Klima-Katastrophe, Abholzung der Regenwälder, Bodenerosion und Desertifikation, ja »Verwüstung«, im wahrsten Sinne des Wortes, und »Vermüllung« des Planeten und der Meere sowie die begonnene und ernsthaft bedrohliche exponentiell wachsende Überbevölkerungsdynamik; vgl. u. a. Vf. 2018). Ad 9.) neu: Die (Meta-)Verantwortung der Moraldenker wie der Ethiker, die Verantwortungsethik und deren Konzepte human- und zukunftsadäquat weiter zu entwickeln (Vf. 2015) – etwa angesichts neuer Herausforderungen (z. B. durch umfassende Digitalisierung, Automatisierung, Robotik, Systemtechnokratie usw.) –, sollte in der Liste aufgeführt und konzipierend entworfen werden.
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Schlussbemerkung Dietrich Böhlers Artikel »Was gilt?« ist wie besonders auch sein früherer Handbuch-Beitrag »Diskurs« (2011) eine feinsinnig »gestrickte« und beeindruckend durchdifferenzierte Verbesserung der traditionellen Diskursethik von Habermas und Apel in Richtung auf offenere Vielfalt, diskursive Toleranz und pragmatische Offenheit für empirische Fehlbarkeit (»Fallibilität«) und kann doch einen überzeugenden Aufweis von normativer »Verbindlichkeit aus dem Diskurs/Dialog« erstellen – also eine Art von interpretativer Tiefenbegründung moralischer Diskursethik leisten. Sein Entwurf kann als ein ausführlich und sauber durchargumentierter 6 Versuch zur pragmatischen »Begründung« und »Rückkehr der Normativität in und aus dem Diskurs« ein kommunikationsphilosophisches Manifest sein/werden – sozusagen ein kommunikationistisches Manifest.
Literatur Böhler, D. (Hg.) (1994): Ethik für die Zukunft: Im Diskurs mit Hans Jonas. München: Beck. Böhler, D. (mit Gronke, H.) (2011): Diskurs. In: Kolmer, P. – Wildfeuer, A. G. (Hg. 2011): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Freiburg: Alber, Bd. 1, 539–74. Jonas, H. (1979): Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt /M: Insel. Jonas, H. (1984): Warum wir heute eine Ethik der Selbstbeschränkung brauchen. In: Ströker, E. (Hg.): Ethik der Wissenschaften? (Bd. 1: Ethik der Wissenschaften, hg. v. H. Lenk, H. Staudinger, E. Ströker.) München: Fink, 75–86. Kant, I. (1785): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In Kants Werke AA: IV,a.TB. Berlin: de Gruyter 1968. Lenk, H. (1970): Philosophische Logikbegründung und rationaler Kritizismus. Z. f. philos. Forschung 24,183–205. Lenk, H. (1979): Pragmatische Vernunft. Stuttgart: Reclam. Lenk, H. (1984): Zum Verantwortungsproblem in Wissenschaft und Technik. In: Ströker, E. (Hg.): Ethik der Wissenschaften? Philosophische Fragen. (Bd. 1: Ethik der Wissenschaften. München: Fink, 87–116. Lenk, H. (1986): Zu Kants Begriffen des transzendentalen und normativen Handelns. In: Prauss, G. (Hg.): Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie. Frankfurt/M, 185 ff. Man könnte sich sogar eine einfacher formulierte Fassung ad usum Delphini wünschen.
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179 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Hans Lenk Lenk, H. (1987): Über Verantwortungsbegriffe und das Verantwortungsproblem in der Technik. In: Lenk u. Ropohl, G. (Hg.): Technik und Ethik, Stuttgart: Reclam 1987, 19932,112–48. Lenk, H. (Hg.) (1991): Wissenschaft und Ethik. Stuttgart: Reclam. Lenk, H. (1992): Zwischen Wissenschaft und Ethik. Frankfurt/M: Suhrkamp (Zu Jonas, 211 ff. u. a.). Lenk, H. (1993): Interpretationskonstrukte. Frankfurt/M: Suhrkamp. Lenk, H. (1993a): Philosophie und Interpretation. Frankfurt/M: Suhrkamp. Lenk, H. (1995): Schemaspiele. Frankfurt/M: Suhrkamp. Lenk, H. (1995a): Interpretation und Realität. Frankfurt/M: Suhrkamp. Lenk, H. (1998): Konkrete Humanität. Frankfurt/M. (Zu Jonas, 377 ff. u. a.). Lenk, H. (2000): Erfassung der Wirklichkeit. Würzburg: Königshausen & Neumann. Lenk, H. (2001): Das Denken und sein Gehalt. München: Oldenbourg. Lenk, H. (2001a): Denken und Handlungsbindung. Freiburg: Alber. Lenk, H. (2003): Differenzierendes zu Jonas’ Konzept der Verantwortung. Synthesis Philosophica 18:1–2, 153–72. Lenk, H. (2015a): Human-soziale Verantwortung. Bochum-Freiburg: ProjektVerlag. (Zu Jonas, 114 ff. u. a.). Lenk, H. (2015): Responsibility: German Perspectives. In: Holbrook, B. u. Mitcham, C. (Hg.): Ethics, Science, Technology, and Engineering. Farmington Hills: Gale, Bd. 3, 610–6. Lenk, H. (2017): Verantwortlichkeit und Verantwortungstypen: Arten und Polaritäten. In: Heidbrink, L., u. a. (Hg.): Handbuch Verantwortung. Wiesbaden 2017, 57–84. Lenk, H. (2018): Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik. Bochum-Freiburg: Projekt-Verlag. (Zu Jonas, 308 ff.). Lenk, H. – Paul, G. (2014): Transkulturelle Logik. Bochum-Freiburg: ProjektVerlag. Lorenzen, P. (1955): Einführung in die operative Logik und Mathematik. Heidelberg: Springer. Lorenzen, P. – Lorenz, K. (1978): Dialogische Logik. Darmstadt: WBG. Maring, M. (2001): Kollektive und korporative Verantwortung: Münster: LIT. Rusche, Th. (2016): Wachsen im Dialog. In Z.: Aufgang 13, 109–23.
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4.1. Im Dialog mit Hans Lenk. Konsens über implizite Dialogversprechen a priori. Dissens über »Interpretationskonstrukte« und über Albert Schweitzer? Hans Lenk und Dietrich Böhler Als siebenmaliger Champion und als Goldmedaillengewinner im Achter (1960) erwarb und bewies Hans Lenk äußerste Selbstdisziplin und umsichtiges kommunikatives Verhalten, was ihm als ebenso produktivem wie diskursivem Philosophen überaus zustatten kommt. Der Brief, den er an Thomas Rusche und mich richtete, zeugt von seiner kommunikativen Offenheit (zwischen Kritischem Rationalismus, analytischer Philosophie, Erlanger Schule und Transzendentalpragmatik) und von seinem Diskursengagement: »Lieber Herr Rusche, (lieber Dietrich Böhler), […] Ihre Bitte (mit dem 15. August!) fand ich erst einmal fast unmöglich zu erfüllen, da wir – meine Frau und ich – nach einem Urlaub ab Ende nächster Woche dann schon am 11. August nach China zum Weltkongress für Philosophie fliegen, wo ich eine der wenigen internationalen Ehrenvorlesungen über konkrete Humanität von der Antike bis zur Moderne halten darf/soll und noch einen weiteren Vortrag in einem Kolloquium habe. Aber dann »überkam es mich« bei der Lektüre des »Was gilt?«Textes und des zweiten Teils des (m. E. ebenfalls glänzenden und auch für mich neue Perspektiven und Anschlussmöglichkeiten eröffnenden) Handbuch-Artikels »Diskurs« – und so habe ich mal wieder fast wie im Rausch gearbeitet. […] Ich wollte gleich recht begeistert Herrn Böhler erreichen, traf ihn aber nicht an und habe dann leider den Zettel mit der neuen privaten Telefon-Nr. verlegt. […] Kompliment an Dietrich Böhler für die sehr gelungene Gestaltung und v. a. für die neue Offenheit der Diskursethik und die Anwendung auf das so wichtige Thema der menschheitlichen Verantwortlichkeit im Jonas’schen Sinne. 181 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Hans Lenk und Dietrich Böhler
[…] Herzliche Grüße Ihnen beiden, Ihr Hans Lenk« Lieber Professor Lenk, mit großer Freude habe ich Ihren, aller terminlichen Bedrängnis abgetrotzten Diskursbeitrag gelesen. Tausend Dank dafür. Im ersten Abschnitt erinnern Sie daran, daß (auch) »Dialogdeutungen und Diskurshandeln schemainterpretatorisch zu sehen« sind. In frühen Vorlesungen und dann in meiner Rekonstruktiven Pragmatik (1985) habe ich ebenfalls, mit Blick auf Paul Lorenzen und Kuno Lorenz, den Begriff des Handlungs-Schemas genutzt, um das typisierende »Etwas als etwas«-Verstehen von Handlungen und Sinn zu rekonstruieren, schlug aber vor, ihn etwa durch Wittgensteins Begriffe »Regel« und »Gepflogenheit« zu ergänzen, und führte selbst das Konzept »Handlungsorientierung« ein. Während nämlich »Schema« und z. B. selbst »Handlungsweise« von der pragmatischen Dimension des Verstehens und Selbstverstehens abstrahierten, könnten jene Ausdrücke »die Beziehung des Akteurs zu seiner Handlung« einbeziehen. 1 Dies dürfte ein Beispiel für Gunnar Skirbekks Plädoyer zugunsten eines Meliorismus der besseren Begriffe und Gründe sein 2, sofern bei diesem Plädoyer – transzendental reflexiv – die Sinnbedingungen und Sinngrenzen der Rede über das berücksichtigt werden, was wir tun und was wir implizit wissen, so daß wir einen Geltung beanspruchenden Diskurs führen können. Die Suche nach besseren Begriffen und Gründen ist nicht etwa offen, sondern geleitet von einem und eingegrenzt durch ein sicheres, letzte Gültigkeit und Verbindlichkeit ermöglichendes Handlungswissen. 3 Diese (transzendentalpragmatische) Basis unserer Dialog1 Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, Frankfurt a. M. 1985, S. 124–126, 134 ff., 143–148, bes. 146 f.; zu Kant: S. 53 ff. 2 Gunnar Skirbekk, in diesem Band: »Epistemische Vielfalt und die Verwendung von Begriffen«, bes. Abschnitt C). 3 Vgl. Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 365–369. Zum transzendentalpragmatischen Status des Handlungswissens grundlegend: Alberto Damiani, Handlungswissen. Eine transzendentale Erkundung nach der sprachpragmatischen Wende, Freiburg/München 2009.
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Im Dialog mit Hans Lenk
deutungen und Diskurshandlungen ist es, welche Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und Selbsteinholung ermöglicht. 4 Dieser Begriff meint das Erkennen unserer selbst als leibhafter Kommunikationswesen und Akteure in einer sinnhaften Welt (Heideggers »Inder-Welt-sein«) und zudem als möglicher Partner in argumentativen Dialogen. Als Diskurspartner haben wir von vornherein zweierlei vorausgesetzt: die reale Welt mitsamt realen Kommunikationsgemeinschaften, denen wir selbst zugehören, aber auch das ideale Diskursuniversum bzw. eine unbegrenzbare Kommunikationsgemeinschaft, auf die wir uns durch die Ansprüche unserer Argumente auf Gültigkeit immer schon bezogen haben. Angesichts dieses unseres impliziten, aber ganz und gar nicht beliebigen Handlungswissens, welches sich ja »dank der […] petitiotollendi-Struktur« auch als Wissen einer realen Welt erweisen läßt, scheue ich, lieber Hans Lenk, vor der konstruktivistischen und damit nach Beliebigkeit klingenden Redeweise von »Interpretationskonstrukten« empfindlich zurück. Ich spreche lieber von dem handlungsimmanenten Verstehen als integralem Bestandteil unserer vor-wissenschaftlichen kommunikativen Erfahrung und sehe diese als Wissensbasis der hermeneutischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnis an. Diese wäre m. E. nichts ohne jene. Gewiß kann sie trotzdem unzureichend oder fehlerhaft sein – nicht aber im strengen Sinne »fallibel«: nicht fallibel im Sinne einer objektivierenden, von außen Phänomene, die nicht von sich aus und für sich verständlich sind (wie ein Akteur, eine Institution), kausal erklärenden Theorie. Meines Erachtens können nur Theorien und Hypothesen als fallible »Interpretationskonstrukte« gelten. Diese setzen eine SubjektObjekt-Beziehung und die Kluft zwischen theoretisch empirischem Erkenntnissubjekt und ›stummem‹ bzw. verstehensunfähigem Objekt voraus, welche bloß von außen, durch ein (theorieartiges) »Konstrukt« überbrückt werden können. Darin sehen die Transzendentalpragmatiker den theoretizistischen, latent objektivistischen Grundirrtum des Szientismus, den Sie verehrter Freund, hinter sich Unsere Analyse- bzw. Interpretationsbegriffe sollten der Selbsteinholung förderlich sein. Und hier kommt m. E. Gunnar Skirbekks Begriffs-Meliorismus zum Tragen. So fragt es sich ja, ob nicht Konzepte, die der pragmatischen Dimension entsprechen – wie ›Handlungsorientierung‹, ›Gepflogenheit‹, ›Regel‹, z. T. auch ›Institution‹ etc. – angemessener als das Konzept ›Schema‹ sind. Denn dieses abstrahiert, wie gesagt, von den Beziehungen zum Akteur und dem sozialen Kontext.
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Hans Lenk und Dietrich Böhler
gelassen haben. Ein Irrtum ist es, weil in der geschichtlichen und sozialen Welt des Handelns, des (Sinn-)Verstehens und Kommunizierens, keine Subjekt-Objekt-Beziehung oder gar -Spaltung besteht. Denn diese unsere Welt ist von uns, seien wir Beobachter oder Akteure, immer schon verstanden oder doch vorverstanden. Ihre Bestandteile (Handlungen, Institutionen, Normen etc.) sind verstehenskonstituierte Antworten auf Situationen und haben daher eine quasidialogische Struktur. Das ist m. E. die Grundstruktur der »pragmatischen Dimension«, also des Beziehungsgeflechts zwischen Handlung, Akteur und möglichen Teilnehmern. Wir sind immer schon Teilhaber verstandener Sinnzusammenhänge. Daher ist auch die Beziehung des Geistes- und Sozialwissenschaftlers zu seinen »Gegenständen« quasidialogisch. Wer das bezweifeln wollte, zerstörte die Sinnbasis, die er als Forscher schon in Anspruch genommen hat, wenn er seine Gegenstände identifiziert bzw. beschreibt. 5 Kurzum: Ein Sozial-, Rechts-, Geschichts- oder Sprachwissenschaftler ist ebenso wie ein Hermeneutiker, Philologe bzw. Literaturwissenschaftler Teilhaber jener Sinn-Welt, deren sinnhafte Phänomene er dann methodisch und nachprüfbar interpretiert und rekonstruiert – nicht etwa »konstruiert« und durch Theorien sowie Hypothesen von außen »erklärt«. In der menschlichen Welt von Handlung, Sinn und Verstehen gibt es keine Subjekt-Objekt-Relation. Hier besteht vielmehr eine »Intersubjektivitätsrelation« (Apel) zwischen sich selbst verstehenden Phänomenen und Interpreten. Das ist die sprachpragmatische und hermeneutisch dialektische Einsicht, die zahlreichen Studien z. B. von Apel, Kuhlmann, Jürgen Habermas, Øfsti und mir zugrunde liegt oder dort entfaltet ist. Auch scheint mir, daß sie nur um den Preis des pragmatischen Selbstwiderspruchs bezweifelt werden kann. Das ist übrigens die wissenschaftstheoretische Quintessenz meiner Rekonstruktiven Pragmatik, die vielleicht zu wenig rezipiert worden ist. Einen begründungstheoretischen Dissens, der sich leicht auflösen läßt, markieren, lieber Herr Lenk, Ihre Bedenken gegen die Insinuierung des »absoluten Rechtfertigungsrationalismus« durch den Ausdruck »Letztbegründung«. Zumal Wolfgang Kuhlmann hat, in grundsätzlicher Übereinstimmung, aber erkennbar kritischer Präzisierung Apels (siehe Apels Auseinandersetzungen, 1998, S. 64–78 5 Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 118–149, 247–265 und 285–309; vgl. S. 143–172.
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Im Dialog mit Hans Lenk
und 169–183), den strikt reflexiven Charakter eines sinnvollen Letztbegründungsmodells herausgearbeitet. 6 Ich selbst und z. B. Horst Gronke verwenden meist die Ausdrücke »Verbindlichkeitserweis« und »Gültigkeitserweis« oder ähnlich. Sehr dankbar übernehme ich sowohl Ihre Vorschläge zur Reformulierung der Diskursverpflichtungen bzw. impliziten primordialen Dialogversprechen 1, 3 und 6 wie auch, und vor allem, Ihre Hinzufügung einer neunten Diskursverpflichtung für Moraldenker, nämlich »die Verantwortungsethik und deren Konzepte human- und zukunftsadäquat weiter zu entwickeln – etwa angesichts neuer Herausforderungen (z. B. durch umfassende Digitalisierung, Automatisierung, Robotik, Systemtechnokratie usw.)«. P.S.: Bei Albert Schweitzer finde ich jetzt die von Ihnen gesuchte Aussage nicht, wiewohl er in seinem »Zweiten Appell« aus den drei Sendungen Radio Oslos »Friede oder Atomkrieg« vom 29. April 1958 (»Die Gefahr eines Atomkriegs«) der Sache so nahekommt wie später Joseph Weizenbaum: »So weit haben wir es gebracht: Unser Schicksal wird von einem Elektronengehirn und den Versehen, die ihm [oder unserem Umgang mit ihm (D. B.)] passieren können, abhängen.« (In: Albert Schweitzer, Friede oder Atomkrieg, München 1981, S. 74.)
Wolfgang Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, Freiburg/München 1985. Ders., Kant und die Transzendentalpragmatik, Würzburg 1992, S. 38–63 und 64–78. Ders., Unhintergehbarkeit. Studien zur Transzendentalpragmatik, Würzburg 2009, S. 9– 96, 97–116 und 135–148, vgl. S. 117–134.
6
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4.2. Über Dietrich Böhlers »Verbindlichkeit aus dem Diskurs« und Albert Schweitzers »Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben« Hans Lenk und Dietrich Böhler
26. Oktober 2018 Lieber Dietrich Böhler, Herr Rusche hat mir freundlicherweise Ihr Buch »Verbindlichkeit aus dem Diskurs« geschickt. Ich habe es nun größtenteils gelesen – und finde es glänzend. Kompliment für die schöne und feingestrickte Darstellung. Ein großer Wurf! Besonders Ihre Platon-reifen Dialoge zur Menschenwürde und mit dem Skeptiker sind exquisit. Ich wollte heute gleich einiges mit Ihnen telefonisch diskutieren, habe Sie aber nicht erreichen können. Deshalb nur ganz kurz: Ich finde Ihren indirekten diskursethischen Metadiskurs zur argumentativen Gewinnung der Normativität à la Apel nun sehr überzeugend. (Früher hatte ich einmal entsprechend schon gefordert »to bring normativity back in again«.) Ich war als Logiker früher eher bloß terminologisch noch über die Ausdrücke »Letztbegründung«, »Transzendentalpragmatik« und auch »Formalität« gestolpert: Ihre Formulierung »Verfahrensformalität« ist wesentlich besser. Daß Apel die ganz ähnliche negativ-indirekte Meta-Argumentstruktur der petitio tollendi (Lenk 1970, 203; 1973, 107) von mir übernommen hatte (was er aber leider nur ein einziges Mal zitierte in Bd. 2 der »Transformation der Philosophie«), wissen Sie sicherlich. (Das hatte ich auch schon in meinem früheren Beitrag zu Ihrem »Was gilt?« zitiert.) Ich teile z. T. auch weitgehend manche Ihrer Kritiken an Albert Schweitzer, meine aber, daß Sie ihm an einer Stelle (459) nicht ganz gerecht werden: Er hat ein Gleichberechtigungsargument betont: Der »Wille zum Leben«, den man in anderen Lebewesen quasi a priori unterstellen muss, macht es für S. notwendig, eine ebensolche »Ehrfurcht« vor diesem »Willen zum Leben« bei allen anderen Lebewesen zu empfinden bzw. zu entwickeln wie zu diesem innerhalb der eigenen Person. 186 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Über Dietrich Böhlers »Verbindlichkeit aus dem Diskurs«
Noch zu diskutieren ist die von Ihnen (und Kuhlmann 1994, 295) gesehene diskursethisch offene (nicht abgedeckte) Begründung und Normativität des Supererogativen/Supererogatorischen, also des weder moralisch Einforderbaren noch rechtlich Einklagbaren (übrigens auch schon bei Kant), das nur dem Wohlwollensprinzip folgt: Im engeren Sinne ist dieses genuin ethisch gesehen – und eben nicht bloß (sitten-)rechtlich wie bei Kant – zwar »nachlaßlich«, aber ethisch besonders wertvoll/gut/höchst-lobenswert. Leider kannten Sie meine parallele Kritik an Kants ethischen gesetzesförmigen Rigorismus (80er Jahre) noch nicht. Auch sind meine Verantwortungsbücher zu spät erschienen. Insgesamt finde ich Ihre metatheoretisch-diskurspragmatische »sokratisch«-selbstreferentielle Begründung vieler ethischer Grundprinzipien hervorragend. Herzlich grüßend Ihr Hans Lenk 27. Oktober 2018 Lieber verehrter Hans Lenk, wie schön, daß Ihre, von Thomas Rusche angestiftete, Lektüre meiner Verbindlichkeit aus dem Diskurs mir das Glück einer Fortsetzung unseres Diskurses über die Frage »Was gilt?« beschert. Darüber bin ich umso glücklicher, als mein dezenter Hinweis auf das Buch im Hintergrund des zur Diskussion gestellten Essays sonst, mit Ausnahme Vittorio Hösles, wenig Widerhall gefunden hat. Zwei, drei Punkte, die Sie machen, sind zwischen uns wohl strittig bzw. zu klären. Zunächst ist es Ihr Kompliment bezüglich meiner Formulierung »Verfahrensformalität«, die ich so im Buch nicht finde. In der Tat spreche ich (S. 438 oben) von »Habermas’ verfahrensförmigem Diskursansatz« und sage (S. 517 oben), daß »Habermas’ Version der Diskursethik nur [!] eine Verfahrensethik zur rationalen Diskussion konfligierender Interessen« sei. Doch setze ich dem ja einen dialogreflexiven Ansatz zur Begründung moralischer Prinzipien entgegen: eine Reflexion im Dialog mit einem Skeptiker auf moralisch gehaltvolle (also materiale) Verpflichtungen, deren Verbindlichkeit sich sinnvoll, d. h. mit einem widerspruchsfreien Diskursbeitrag, nicht in Zweifel ziehen oder gar bestreiten läßt. Tut Apel nicht einen Schritt in eben diese Richtung, wenn er sich 1973 auf Ihre, als »ausgezeichnet« apostrophierte Studie »Logikbegründung und Rationaler Kritizismus« (Zeitschrift für philosophi187 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Hans Lenk und Dietrich Böhler
sche Forschung, Bd. 24/1970, S. 182–205, hier: S. 203) beruft und damit die »negativ-indirekte Meta-Argumentationsstruktur der petitio tollendi« von Ihnen übernimmt? Allerdings betonte Apel – übrigens insofern analog zu Hans Jonas –, daß sich mit Hilfe eines solchen negativen Arguments keine materialen Prinzipien erweisen ließen. Einzig und allein die Pflicht, strittige Fragen und Interessenkonflikte – soweit immer möglich – durch argumentative Diskurse zu lösen, also das konsensorientierte Diskursprinzip, sei letztbegründbar. Um über diesen Diskursformalismus hinauszukommen, habe ich die sinnkritische Reflexion im Dialog mit dem Skeptiker weitergetrieben und dessen Angewiesenheit auf einen widerspruchsfreien Begleitdiskurs mit einzulösendem Glaubwürdigkeitsanspruch etc. durch petitio tollendi (Lenk) erwiesen. Das Resultat ist, genau genommen, ein doppeltes: transzendentale Rekonstruktion von Diskursverpflichtungen a priori und dann deren reflexiv-sinnkritischer Verbindlichkeitserweis als unhintergehbares Dialogversprechen a priori … Was meine Kritik an Albert Schweitzers Begründung des Prinzips der »Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben« anbelangt, so meine ich, dieselbe trotz Ihrer plausiblen Verteidigung, es handele sich doch um ein Gleichberechtigungsargument, aufrechterhalten zu müssen. Warum? Im Sinne des vierten Dialogversprechens a priori, das uns auf die »Möglichkeit der Verantwortung jetzt und in Zukunft« verpflichtet, sind wir gehalten, der Ehrfurcht vor dem Leben der Menschen und vor der Zukunft der Menschengattung Priorität einzuräumen. Denn allein Menschen besitzen die Fähigkeit zur Verantwortung. Natürlich, genauer gesagt, ohne Selbstwiderspruch nämlich, können wir unsere Verantwortung für die Menschengattung nur in dem Maße wahrnehmen, als wir die Lebenssorge für Tierwelt und Pflanzenwelt übernehmen, wie ich andernorts, auch in dem Verbindlichkeitsbuch, dargelegt habe. 1 31. Oktober 2018 Lieber Herr Böhler, wieder einmal hatte ich kein Glück, Sie mit dem Telefon zu erreichen. Ich habe erst auf Anfrage bei Herrn Rusche jetzt Ihre Replik bekommen 2 – und kann eigentlich nur weitestgehende Übereinstim1 Vgl. das Kapitel IV.5 »Naturverantwortung als Diskursverantwortung«, in: Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 453–470, ferner: S. 87 ff., 408 ff. und 418 ff. 2 Gemeint ist offenbar Böhlers Brief vom 24. August 2018, hier als 5.1.
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Über Dietrich Böhlers »Verbindlichkeit aus dem Diskurs«
mung feststellen. Dissense scheinen nur die terminologischen zu sein – die aber m. E. nicht schwer wiegen, aber eben leicht missverstanden werden können. Ich selber war mit meiner Begriffswahl eigentlich nie ganz zufrieden … Ich wollte i. e. L. auf die Sozial- und Handlungsgebundenheit der Begrifflichkeit verweisen – wie auch Sie. So meine ich mit »Interpretationen« Schema-Aktivierungen – zumeist in Form von Handlungen. (Hatte ich Ihnen früher nicht schon einmal die Alber-Studienausgabe »Denken und Handlungsbindung« geschickt?) Interpretation ist zu beschreiben eben als (meist verallgemeinerndes) Schema-Interpretieren … (›Schema‹ ist ein funktional-methodologischer Begriff, der nur im Aktivieren »lebt«.) Schematismus benutze ich neben der Zitierweise i. S. Kants eigentlich nicht oder nur neurologisch-physiologisch. Ähnliches sehe ich es in Bezug auf »Letztbegründungsdiskurs«, das »Apriori« u. ä.: Ihre (und Gronkes) Formulierung mit den Ausdrücken »Verbindlichkeitserweis« und »Gültigkeitserweis« finde ich hervorragend. Bei »Selbstwiderspruch« und »Selbsteinholung« würde ich vorschlagen, der Klarheit halber »performative(n)« hinzuzufügen. Den Ausdruck »Interpretationskonstrukte« fand ich auch selbst von Anfang an als Hilfskonstrukt (sic!) – bin aber wohl seit meinem gleichnamigen Buche darauf festgelegt worden. Sowohl »Interpretation« war/ist traditionell vorbelastet wie auch »Konstrukt(ionismus)«/»Konstruktivimus«. Deswegen benutzte ich meistens lieber »Schema-interpretieren«, eigentlich besser »Schematisierungs-Interpretieren«, um den Handlungscharakter und auch die nötige Interpretationsgemeinschaft (einschl. der von Peirce, Putnam, Apel) zu assoziieren. Übrigens: eine szientistische Phase hatte ich selber eigentlich nie, sondern war stets szientismuskritisch – anfangs mit Kant, später mit Popper, Wittgenstein 2 u. a. Zur Verbindung mit Wittgensteins Spätansatz hänge ich Ihnen jüngere Aufsätze an. Herzliche Grüße Ihr Hans Lenk
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Hans Lenk und Dietrich Böhler
19. Dezember 2018 […] P.S.: Übrigens zu Ihrer vormaligen terminologischen Bemerkung über »Interpretationskonstrukte«. Natürlich lässt sich über Terminologie mehr oder minder trefflich streiten; und mir gefiel das mit der »-konstruktion« schon zu Anfang nicht besonders: »Interpretationsstrukturiertheiten« oder »-geprägtheiten« wären besser gewesen, aber doch zu schwerfällig. Und das Stichwort »Interpretationskonstrukte« hat doch wohl – soweit ich sehe – ein bisschen Schule gemacht und hängt mir mittlerweile geradezu als Anhängsel an – trotz der terminologischen Problematik. Diese hatte ich aber in dem dicken Wälzer Interpretationskonstrukte von 1993 schon besprochen.
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5. Verbindlichkeit, Handlung und Diskurs Alberto Mario Damiani
Normalerweise geben die Menschen fraglos zu, daß sie ihre Pflichten tun sollen. Die Frage nach dem Grund dieses Sollens ist aber ein philosophisches Problem, das innerhalb der Geschichte der Ethik seit dem Altertum von vielen Standpunkten aus betrachtet wurde. Im Laufe der Geschichte haben die Philosophen versucht, es zu ergründen, aber das Resultat dieses Versuchs war eine Menge unvereinbarer Antworten. Die philosophische Ethik ist nicht das einzige Fach, das den normativen Rahmen des menschlichen Verhaltens erforscht. Sowohl verschiedene Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaften als auch unterschiedliche Disziplinen der praktischen Philosophie haben diesen Rahmen als Forschungsobjekt unter vielseitigen Gesichtpunkten untersucht. Auf jedem Gebiet werden verschiedene Probleme zum Thema der Normen aufgeworfen. Die Frage nach der philosophischen Begründung der menschlichen Pflichten ist aber das eigentliche Hauptproblem der normativen Ethik. 1 Verschiedene Fragestellungen können bestimmte Aspekte des Normenbegründungsproblems erschließen, aber sein allen gemeinsamer und tiefer Kern kann durch eine einfache Frage formuliert werden, nämlich: Warum moralisch sein? 2 Die Suche nach einer Lösung für dieses Problem lässt sich durch keine empirische Untersuchung orientieren, weil die empirische Forschung der Sozial- und Geisteswissenschaften nur versuchen kann, die Sitten von partikulären Gesellschaften zu beschreiben, zu erklären und auch zu verstehen. Aber die erwähnte Frage ist weder durch eine formalsemantische Normerklärung oder durch eine analytische Handlungstheorie noch durch eine hypothetische Rekonstruktion der
1 2
Vgl. Maliandi 2004, S. 45–77. Vgl. Böhler 2001, 2020.
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Alberto Mario Damiani
Entwicklung der moralischen Urteilskraft zu beantworten. 3 Bei der philosophisch-ethischen Normenbegründung handelt es sich nicht darum, was die Menschen bloß faktisch über ihre Pflichten denken, sondern um eine rationale Rechtfertigung ihres unbedingten Sollens. Im Laufe der Geschichte haben die Philosophen versucht, das Problem der rationalen Begründung von moralischen Normen durch verschiedene Ansätze zu lösen. Die Möglichkeit dieser Begründung wurde von den einen behauptet und von anderen bestritten. Die normative Ethik hat drei Gründe für diese Normen vorgebracht: das wesentliche Ziel des Menschen, die Handlungsfolge und die praktischen Prinzipien a priori. Gegen die rationale Rechtfertigung der Moral wurde entweder ihre Gültigkeit mit einer bloß faktischen Sozialgeltung gleichgesetzt oder das Sittengesetz mit hypothetischen Imperativen identifiziert. Um das ethische Problem der Normenbegründung besser zu verstehen, muss man m. E. die erwähnten Lösungsvorschläge nicht noch einmal berücksichtigen, sondern das Problem selbst näher betrachten, d. h. die ethische Frage nach der Normenbegründung als Sprechakt reflexiv erkunden. 4 Zur richtigen Durchführung dieser Reflexion, werde ich in dem vorliegenden Beitrag versuchen zu bestimmen, ob die diskurspragmatische Reflexion dazu beitragen kann, das Problem der verbindlichen Beziehung zwischen Rationalität und Moral zu erläutern. Zur Verwirklichung dieser Absicht werde ich erstens nachweisen, daß der diskurspragmatische Begriff eines »Begleitdiskurses« ein Beitrag ist, um verschiedene Einwände gegen die Diskursethik zu kontern (1). Danach werde ich die diskurspragmatische These von vorgängigen und impliziten Dialogversprechen a priori betrachten (2).
1. Die Diskursethik erhebt den Anspruch, das philosophische Problem der Normenbegründung durch eine ganz besondere Argumentationsstrategie zu lösen. Diese Strategie besteht einerseits darin, vorzuschlagen, daß die Gültigkeit moralischer Normen nur durch ein praktisch-diskursives Verfahren gerechtfertigt werden kann, und an3 4
Vgl. Apel 1984, 1988, S. 306–369, 2002, Damiani 2017. Vgl. Damiani 2009, S. 248–292.
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Verbindlichkeit, Handlung und Diskurs
dererseits zu entdecken, daß dieses Verfahren konstitutive Sinn- und Gültigkeitsbedingungen mit ethischem Gehalt voraussetzt. Gegen den erwähnten Anspruch der Diskursethik wurden einige philosophische Einwände vorgebracht. Die angebliche Schwierigkeit, auf die diese Einwände hinweisen, beruht auf dem begrifflichen Unterschied zwischen den konstitutiven Bedingungen des Diskurses und den verbindlichen Normen der Moral. Ein Diskursteilnehmer erfüllt diese Bedingungen immer schon, wenn er einen Gültigkeitsanspruch gegenüber seinem Diskurspartner erhebt, verteidigt oder bestreitet. Jeder Akteur kann hingegen ganz willkürlich entscheiden, ob er ein moralisches Gebot beachtet oder nicht. Kurz gesagt: die konstitutiven Bedingungen werden notwendigerweise erfüllt. Die verbindlichen Normen hingegen sollen befolgt werden. Die Relevanz dieser angeblichen Schwierigkeit der Diskursethik leuchtet unmittelbar ein, weil das Moralprinzip nach dieser ethischen Theorie eben eine konstitutive Sinn- und Gültigkeitsbedingung a priori des Diskurses ist. Wenn aber konstitutive Bedingungen, wie die Kritiken anführen, nur Rationalitätsprinzipien, aber keine Ethikprinzipien sein könnten, dann gäbe es eine unüberbrückbare Trennung zwischen Rationalität und Moral, durch die die Diskursethik widerlegt würde. Um das erwähnte Problem der angeblichen Trennung zwischen Rationalität und Moral klar stellen zu können, müssen drei wichtige Einwände gegen die Diskursethik berücksichtigt werden. Der erste Einwand wirft der Diskursethik vor, auf einem »intellektualistischen Fehlschluss« zu beruhen. 5 Dieser Fehlschluss besteht in dem diskursethischen Anspruch, moralisch verbindliche Normen bzw. den Geltungsgrund ihrer Verbindlichkeit auf den pragmatischen Bedingungen unseres Verstandesgebrauchs zu begründen. Dieser Anspruch sei intellektualistisch, weil der, der ihn erhebt, versucht, die Gültigkeit moralischer Verpflichtungen, die in der wirklichen Praxis verbindlich sein sollen, mit rein rationalen Prinzipien bzw. mit notwendigen Bedingungen der Argumentation zu begründen. Der erwähnte Vorwurf lautet: Wer diesen Versuch macht, verkennt einen wichtigen Unterschied zwischen zwei Arten von zumutbaren Normen, nämlich: moralische Normen einerseits und normative Bedingungen eines argumentativen Diskurses andererseits. 6 5 6
Vgl. Ilting 1994. Vgl. Habermas 2003.
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Alberto Mario Damiani
Der zweite Einwand gibt zu, daß die konstitutiven Voraussetzungen des Diskurses ohne performativen Selbstwiderspruch nicht bestritten werden können, bestreitet aber, daß sie moralischen Gehalt haben oder daß sie ein ethisches Prinzip enthalten. 7 Der Grund dieses Einwands besteht darin, daß diese Voraussetzungen niemanden zwingen können, an einem Diskurs teilzunehmen. Sie können nur die Bedingungen des Diskurses definieren. Sie können jedoch nicht bestimmen, wann, wie und mit wem jemand einen Diskurs anfängt, fortfährt oder unterbricht. Der dritte Einwand behauptet, daß die Diskurspartner die normativen Voraussetzungen des Diskurses annehmen müssen, bemerkt aber gleichzeitig, daß diese keine Verbindung mit den nicht-argumentativen Handlungen enthalten. 8 Nach diesem Einwand sind diese diskursiven Voraussetzungen keine kategorischen Imperative, sondern nur hypothetische, die nur für die Diskursteilnehmer verbindlich sein können. Eine gemeinsame Voraussetzung dieser drei wichtigen Einwände gegen die transzendentalpragmatisch begründete Diskursethik ist, daß Diskurs und Handlung in gewisser Weise getrennt sind. Wer diese Einwände vorbringt, kann sicherlich verstehen, daß der Diskurs ein Mittel sein kann, um Handlungen zu koordinieren. Die verschiedenen Arten von Handlungen – sprich instrumentelle, strategische und kommunikative – und ihre bloß externe Beziehung zu dem Diskurs erklären diese Auffassung. 9 Wenn jemand etwas produzieren will, es aber keine Erkenntnis über das jeweilige Produktionsverfahren gibt, muss er einen theoretischen Diskurs durchführen, um diese Erkenntnis zu erreichen. Das Resultat eines theoretischen Diskurses kann also benutzt werden, um eine instrumentelle Handlung durchzuführen. Wenn jemand auf dem Markt etwas gegen das Interesse eines Konkurrenten und so zum eigenen Vorteil tun will, aber keine Erkenntnis über die jeweiligen Erfolgsbedingungen seines Plans hat, muss er einen theoretischen Diskurs mit den Beteiligten durchführen, um diese Bedingungen zu entdecken. Nach dieser diskursiven Entdeckung, kann er seine strategische Handlung erfolgreich durchführen. Wenn jemand schließlich eine moralisch richtige Lösung für ein praktisches Pro7 8 9
Vgl. Wellmer 1986, S. 102–107. Vgl. Habermas 1983. Vgl. Habermas 1981, 1984.
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Verbindlichkeit, Handlung und Diskurs
blem seiner Gemeinschaft verwirklichen will, er aber diese Lösung noch nicht finden konnte, muss er einen praktischen Diskurs mit den von dieser Lösung Betroffenen oder ihren Vertretern durchführen, um diese Lösung kooperativ zu finden. Erst wenn diese Lösung als Resultat eines praktischen Diskurses verfügbar ist, kann er eine kommunikative Handlung durchführen. Nach dieser Auffassung der Beziehung zwischen Handlung und Diskurs, die von den erwähnten Einwänden unterstellt wird, finden Diskurs und Handlung nicht gleichzeitig statt. Wenn die soziale Interaktion läuft, brauchen die Teilnehmer keinen Diskurs durchzuführen. Wenn sie aber ihre Handlungen nicht ganz spontan koordinieren können, müssen sie diese Interaktion unterbrechen und einen Diskurs beginnen. Durch diesen Diskurs können sie Erkenntnis über die Handlungssituation und orientierende Handlungskriterien als Diskursresultat erlangen. Erst wenn der Diskurs beendet ist, können sie ihre Interaktion wieder aufnehmen. Kurz gesagt: Nach dieser Auffassung handeln die Leute oder sie nehmen an einem Diskurs teil. Diese Trennung zwischen Handlung und Diskurs wird von den erwähnten Einwänden gegen die Diskursethik grundlos unterstellt. Dieser Unterstellung nach gelten die unhintergehbaren Diskursbedingungen nur als Rationalitätsbedingungen, aber nicht notwendigerweise auf der praktischen Ebene der Handlungen, die als moralisch richtig oder unrichtig beurteilt werden können. Dieser Auffassung nach muss jemand diese Bedingungen nur erfüllen, wenn er sich schon willentlich entscheidet, an einem Diskurs teilzunehmen. Nur wer diese Trennung grundlos unterstellt, kann entweder der Diskursethik einen »intellektualistischen Fehlschluss« vorwerfen, den moralischen Gehalt der Diskursvoraussetzungen verneinen oder die diskursiven Verbindungen der nicht-argumentativen Handlungen ignorieren. Meiner Meinung nach ermöglicht der diskurspragmatische Begriff eines »Begleitdiskurses«, die erwähnten Einwände gegen die Diskursethik richtig zurückzuweisen. 10 Durch diesen Begriff lässt sich ausführlich erläutern, daß die Verbindung zwischen Handlung und Diskurs tiefer als diejenige ist, die die erwähnten Einwände ins Auge fassen. Dieser Begriff macht ganz klar, daß diese Verbindung darin besteht, daß die Möglichkeit eines Diskurses über eine Hand-
10
Vgl. Böhler 2013.
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Alberto Mario Damiani
lung eine notwendige, immer schon begleitende Sinnbedingung dieser Handlung ist. Deshalb gelten die unhintergehbaren Bedingungen dieses Diskurses notwendigerweise auch für diese Handlung und deshalb findet diese bedeutsame Verbindung zwischen Handlung und Diskurs auch unter bloß faktischen und moralzerstörerischen Umständen statt. Die Bedeutung des philosophischen Begriffes eines Begleitdiskurses verweist eigentlich auf eine einfache Erfahrung des alltäglichen Lebens jedes Akteurs, nämlich darauf, daß jede Handlung auf unterschiedliche Weise beurteilt werden kann. Der Beurteiler erhebt aber Gültigkeitsansprüche, die sich nur durch einen wirklichen Diskurs einlösen lassen. Man muss einerseits einräumen, daß die Durchführung eines solchen Diskurses nur geschehen kann, wenn eine ausdrückliche Beurteilung der betreffenden Handlung vorliegt. Der Diskurs ist das Mittel, Gültigkeitsansprüche einzulösen und diese Ansprüche werden nur durch sprachliche Äußerungen explizit erhoben, z. B. durch die Beurteilung einer Handlung. Andererseits muss man auch einräumen, daß die menschliche Handlung meistenteils kein Gegenstand einer expliziten Beurteilung und eines genuinen Diskurses ist. Trotzdem muss man auch anerkennen, daß etwas philosophisch Relevantes in der Tatsache liegt, daß jede Handlung im Gegensatz zu den stummen Naturphänomenen beurteilt werden kann und genau deshalb immer schon Gegenstand eines möglichen Diskurses ist. Daher kann man sagen, daß jede Handlung immer schon und notwendigerweise von der Möglichkeit eines Diskurses über sie begleitet wird. Wenn ich richtig verstanden habe, ist diese Möglichkeit das, was Böhlers Diskurspragmatik »Begleitdiskurs« nennt. Diese Möglichkeit wird eigentlich nicht immer und vielleicht fast niemals verwirklicht, aber sie enthält trotzdem eine konstitutive Sinnbedingung jeder Handlung überhaupt. Deshalb muss man mit Böhler behaupten: »Keine Handlung ohne impliziten Begleitdiskurs!« 11 Wenn man bloß faktische Tatsachen nur oberflächlich beachtet, kann man vermuten, daß die Menschen entweder handeln oder am Diskurs teilnehmen und daß sie von einer Handlung zum Diskurs und umgekehrt übergehen. Aber wenn man die Verbindung zwischen Handlung und Diskurs sorgfältiger betrachtet, kann man verstehen,
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Böhler 2013, S. 5.
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Verbindlichkeit, Handlung und Diskurs
daß es eigentlich keinen Übergang von der Handlung zum Diskurs gibt. Der Grund dafür ist: »[W]ir sind (unausdrücklich) immer schon in einem Begleitdiskurs«. 12 Die oben erwähnten Einwände gegen die Diskursethik unterstellen die Trennung zwischen Handlung und Diskurs, weil sie den Diskurs, die Handlung und den angeblichen Übergang zwischen ihnen nur als bloße Tatsachen beachten. Diese Einwände unterstellen einseitig, daß der Akteur sich für oder gegen den Diskurs ganz willkürlich entscheiden kann und darf, ohne zu sehen, daß der Diskurs für die Menschen unhintergehbar ist und daß sie alle, sofern sie diskursfähig sind, die Mitverantwortung eines Diskurspartners immer schon übernommen haben. Ein Nachweis dieser Verantwortung besteht darin, daß jede/jeder unter angemessenen Umständen verpflichtet ist, auf die Fragen nach seiner bzw. ihrer Handlungsweise zu antworten. Wer diese Fragen unter diesen Umständen nicht beantworten will und seine Diskurspartnerrolle nicht spielen will, entscheidet sich zwar gegen den Diskurs, aber nur faktisch. Seine/ihre Handlungsweise ist immer schon ein Gegenstand des Diskurses, durch den die impliziten Gültigkeitsansprüche der eigenen Handlung eingelöst werden können, obwohl er an diesem Diskurs nicht teilnehmen will. Wir können als Menschen also an faktischen Diskursen teilnehmen oder nicht; die Möglichkeit des Diskurses begleitet jedoch notwendigerweise unsere Handlungen wie der Schatten unseren Leib. Deshalb gelten die moralisch-normativen Bedingungen des Diskurses auch für diejenigen, welche keinen Beitrag zu einem realen Diskurs leisten und stillschweigend handeln. Jede Handlung enthält immer schon unausdrückliche Gültigkeitsansprüche, die nur im Diskurs bestritten oder eingelöst werden können. Dieser virtuelle Diskurs begleitet jede Handlung und genau deshalb darf kein Mensch die entsprechenden Verpflichtungen seiner Diskurspartnerrolle vergessen. Diesen Verpflichtungen müssen nicht nur diejenigen nachkommen, welche diese Rolle faktisch spielen oder zufällig spielen wollen, sondern alle, die einfach handeln oder bloß handeln wollen. So umfassend ist die Reichweite unserer Diskursverpflichtungen.
12
Böhler 2018, Abschnitt 3.2.
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Alberto Mario Damiani
2. Das war ein Überblick über den Begriff des Begleitdiskurses als diskurspragmatischer Beitrag zur Antwort auf die erwähnten Einwände gegen die Diskursethik. Ich komme nun auf die »impliziten und vorgängigen Dialogversprechen a priori« zu sprechen. Vor einigen Jahren hat Böhler diese Versprechen in seinen diskurspragmatischen Ansatz eingeführt, die auf die oben genannten Verpflichtungen des Diskurspartners verweisen. In seinem letzten Aufsatz schreibt er dem Diskurspartner acht dieser Versprechen zu. 13 Seiner Meinung nach hat jeder Diskurspartner immer schon implizit versprochen, die konstitutiven Sinnbedingungen des Diskurses zu erfüllen. Man könnte vielleicht vermuten, daß zwei wichtige Aspekte des diskurspragmatischen Ansatzes durch die These von Dialogversprechen statt des Begriffs der Diskursverpflichtungen besser ausgedrückt werden könnten. Erstens ein wichtiger, methodischer Aspekt, nämlich daß die erwähnten Sinnbedingungen sich weder durch eine hypothetische Rekonstruktion noch durch eine theoretisch distanzierte Reflexion zutage fördern lassen, sondern nur durch eine »aktuelle sinnkritische Dialogreflexion«, d. h. durch eine Reflexion über den Dialog, den wir (der Leser und ich) hier und jetzt führen. Die Diskurspragmatik ist keine sprachwissenschaftliche Theorie über Sprechakte überhaupt, sondern eine philosophische Reflexion über das, was wir durch unsere Sprechakte in einem Dialog hier und jetzt eigentlich tun. Man könnte vermuten, daß die Erwähnung von Dialogversprechen diese undistanzierte Beziehung zwischen Diskurspartnern betonen kann, weil ein Versprechen ein Sprechakt ist, durch den ein partikularer Sprecher tatsächlich eine bestimmte Verpflichtung mit einem konkreten Adressaten eingeht. Wer etwas verspricht, gibt dem Adressaten nicht eine bloße Information über sein künftiges Verhalten. Er geht vielmehr ihm gegenüber die Verpflichtung ein, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Die undistanzierte IchDu-Beziehung steht im Vordergrund sowohl bei unserem aktuellen Dialog als auch bei den Versprechen. Deshalb könnte man vermuten, daß die These von Dialogversprechen ermöglicht, unsere gegenseitigen Verpflichtungen als Diskurspartner ganz deutlich auszudrücken.
Vgl. Böhler 2018, Abschnitt II 3.2. Siehe auch Böhler 2014, S. 17, 248, 292–298, 302.
13
198 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Verbindlichkeit, Handlung und Diskurs
Die sog. Diskursversprechen erscheinen zweitens als Hilfe, um ein entscheidendes Problem der Diskursethik zu lösen. Dieses Problem kann durch die folgende Frage formuliert werden: Wie kann eine konstituierende Diskursbedingung, die als solche immer schon erfüllt ist, als ethisches Prinzip, das als solches erfüllt werden soll, fungieren? 14 Die vermutete Hilfe dieser Versprechen zur Lösung dieses Problems kann man in Verbindung mit dem oben erwähnten Begriff des Begleitdiskurses folgendermaßen präsentieren: Die Handlungen, die in der Lebenspraxis stillschweigend durchgeführt werden, werden von einem virtuellen Diskurs begleitet. Dieser Diskurs hat konstituierende Sinnbedingungen, die jeder Teilnehmer in gewisser Weise – und sei es unbewusst – immer schon vorausgesetzt, die er aber bewusst und praktisch durch seine Handlungen in der Lebenspraxis erfüllen soll. Deshalb könnte man behaupten, daß jeder Akteur versprochen hat, diese Bedingungen zu erfüllen, weil er durch dieses Versprechen, eine Verpflichtung eingegangen ist. Der Akteur als Teilnehmer des Begleitdiskurses verspricht implizit den anderen Akteuren, die Diskursbedingungen zu erfüllen. Trotz dieser möglichen Beziehung der These von Dialogversprechen auf die sehr wertvollen Aspekte der Diskurspragmatik, finde ich diese These irreführend. Meiner Meinung nach kann die Diskurspragmatik durch die Begriffe der »aktuellen Dialogreflexion« und des »Begleitdiskurses« viel zur Diskursethik beitragen, ohne die sog. Dialogversprechen zu benutzen. Diese These Böhlers wird schon seit einigen Jahren und mit überzeugenden Argumenten bestritten. 15 Obwohl man viele begriffliche Unterscheidungen einführen kann, um diese impliziten und vorgängigen Dialogversprechen nicht mit dem normalen Sprechakt des Versprechens zu verwechseln, führt diese These m. E. zu Schwierigkeiten der Diskursethik, die ohne sie einfach vermieden werden könnten. Mir sind die Vorteile nicht klar, die Verpflichtungen als Versprechen philosophisch zu behandeln. Einerseits kann man die wertvollen Begriffe der aktuellen Dialogreflexion und des Begleitdiskurses benutzen, ohne auf die problematischen Diskursversprechen zurückzugreifen. Andererseits, wenn jede Verpflichtung aus einem Versprechen entsteht, wird die konstitutive Verpflichtung, die gegebenen Versprechen zu halten (pacta sunt servanda), unverständlich. Außerdem, warum muss man jemandem 14 15
Vgl. Damiani 2009, S. 248–292. Vgl. Beckers 2013.
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Alberto Mario Damiani
ein Versprechen, etwas zu tun, zuschreiben, wenn er die Verpflichtung, dies zu tun, schon hat? Nach dieser kurzen Bilanz komme ich zu dem Schluss, daß die Diskurspragmatik entscheidende Beiträge zur philosophischen Begründung der Diskursethik leistet, z. B. mit den Begriffen der »aktuellen Dialogreflexion« oder des »Begleitdiskurses«. Aber diese Beiträge verschwimmen leider mit der problematischen Einführung der These von Dialogversprechen. Ich plädiere deshalb für eine diskuspragmatisch begründete Diskursethik mit Diskursverpflichtungen, aber ohne Dialogversprechen.
Literatur Apel, Karl-Otto (1984): »Warum benötigt der Mensch Ethik«. In: K.-O. Apel et. al. (Hrsg.): Funkkolleg: Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge. Bd. I, Frankfurt a. M., S. 49–162. – (1988): Diskurs und Verantwortung. Frankfurt a. M. – (2002): »Eine philosophische Letztbegründung des moral point of view«. In: Kurt Bayertz (Hrsg.): Warum moralisch sein? Paderborn [u. a.], S. 131–143. Beckers, Jens Ole (2013): »Dialogversprechen oder Dialogverpflichtungen? Bemerkungen zur Diskurspragmatik«. In: J. O. Beckers, F. Preußger, Th. Rusche (Hrsg.), Dialog – Reflexion – Verantwortung. Zur Diskussion der Diskurspragmatik. Würzburg, S. 73–85. Böhler, Dietrich (1983): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M. – (1984): »Handlungen, Operationen, körperliche Bewegungen«. In: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M., S. 273–306. – (2001): »Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und Mitverantwortung«. In: K.-O. Apel, H. Burckhart (Hrsg.): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg, S. 15–68. – (2003): »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung. Kleine Replik auf eine große Auseinandersetzung«. In: D. Böhler, M. Kettner und G. Skirbekk (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M., S. 44–64. – (2013): »Handlung und Begleitdiskurs oder: Selbsteinholung und Mitverantwortung des leibhaften Diskurspartners«. In: J. O. Beckers, F. Preußger, Th. Rusche (Hrsg.), Dialog – Reflexion – Verantwortung. Zur Diskussion der Diskurspragmatik. Würzburg, S. 3–46. – (2014): Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik – Orientierung in der ökologischen Dauerkrise. Freiburg/München.
200 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Verbindlichkeit, Handlung und Diskurs – (2017): »Handlungstheorie vs. Handlungsreflexion in diskurspragmatischer Sicht«, Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie, 72, S. 3–14. – (2020): »Was gilt? Du bist Mitbeteiligter und Diskurspartner. Seid mitverantwortlich!«; i. d. Bd. Damiani, Alberto Mario (2009): Handlungswissen. Eine transzendentale Erkundung nach der sprachpragmatischen Wende. Freiburg/München. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M., Bd. 1. Ilting, Karl-Heinz (1994): Grundfragen der praktischen Philosophie. Frankfurt a. M. Maliandi, Ricardo (2004): Ética: conceptos y problemas. Buenos Aires, 3. Auflage. Wellmer, Albrecht (1986): Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik. Frankfurt a. M.
201 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
5.1. Antwort: Keine verbindlichen Diskursverpflichtungen ohne mögliche Dialogversprechen Dietrich Böhler
Lieber Alberto, mit Deinem seitens der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderten Werk Handlungswissen. Eine transzendentale Erkundung nach der sprachpragmatischen Wende (Freiburg/München 2008) hast Du mit der Dir eigenen Selbständigkeit, philosophiehistorischen Gelehrtheit und scharfsinnigen Analytizität kräftige Schritte in der sinnkritischen Weiterführung der Transzendentalpragmatik getan. Bewundernd und – hoffentlich – auch belehrt, habe nicht allein ich diese Erkundung einer diskursreflexiven Transzendentalphilosophie studiert. Nein, Dir ist dafür von einem hochkarätigen Kreis ein renommierter Forschungspreis zuerkannt worden: der Friedrich Wilhelm Bessel-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung. Gratulor! Dankbar bin ich für Deine klare Rekonstruktion der diskurspragmatischen Begründung menschlicher Pflichten. Du konzentrierst Dich dabei auf meinen Begriff des Begleitdiskurses, der »eine konstitutive Sinnbedingung jeder Handlung überhaupt« bezeichnet, insofern er angibt, daß »jede Handlung […] von der Möglichkeit eines Diskurses über sie begleitet wird«. Ja! Nun habe ich in Verbindlichkeit aus dem Diskurs (Freiburg/ München 2013, 2. Aufl. 2014) zwei Ebenen der Diskurspragmatik unterschieden, ›Diskurs‹ als logische Ebene des Argumentationsverfahrens und ›Dialog‹ als das kommunikative Sinn- und Anerkennungs 1-Verhältnis der Diskursteilnehmer. Auf dieser Dialogebene ist Vgl. Dietrich Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 248, Abb. 8. Was den Anerkennungsaspekt anbelangt, so stehen hier Austausch und Auseinandersetzung mit Axel Honneth an. Vgl. ders., »Anerkennungsbeziehungen und Moral. Eine Diskussionsbemerkung zur anthropologischen Erweiterung der Diskursethik«, in: R. Brunner u. P. Kelbel (Hg.), Anthropologie, Ethik und Gesellschaft. Für Helmut Fahrenbach, Frankfurt a. M./New York 2001. Dazu – konzentriert auf die Inklusion nichtdiskursfähiger Menschen – Ulf Liedke, »Notizen zu einer Ethik der Inklusion«, in:
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Antwort: Keine verbindlichen Diskursverpflichtungen ohne …
das reziproke Verhältnis angesiedelt, das regelmäßig entsteht zwischen einem Behauptenden, der als solcher ein implizit etwas (zumal Begründung der Rede und Anerkennung des Angeredeten etc.) Versprechender ist, und dem Angesprochenen, bei dem entsprechend einer Behauptung bestimmte Erwartungen geweckt worden sind. Welche Verbindlichkeiten stiftet dieses dialogische Verhältnis? Diese Frage läßt sich mit zwei, in ihrem Geltungsstatus unterschiedlichen, Denkschritten beantworten: Durch eine theoretische, und zwar transzendentale Rekonstruktion ergeben sich bestimmte Diskursverpflichtungen, die freilich nur den Status bezweifelbarer Rekonstruktionsresultate haben. Wenn dieser Status nicht hinreicht bzw. von Diskursteilnehmern als nicht zureichend befunden wird, weil sie strikte Gültigkeit und unbezweifelbare Verbindlichkeit suchen, dann muß die fehlbare theoretische Einstellung überschritten und die aktuell-dialogreflexive Denkhaltung eingenommen werden: In einem zweiten Schritt, den Apel tastend »Reflexion auf den Diskurs im Diskurs« genannt hat 2, nimmt man die Rolle des angeredeten Diskursteilnehmers ein, der als Partner anerkannt sein und Gewißheit haben will. Im Blick auf diese Rolle stellt man – jetzt in dem gerade anhängigen Diskurs – dem Proponenten, der eine Diskursverpflichtung behauptet, die kruziale Verbindlichkeitsfrage. Sie lautet: Handelt es sich wirklich um eine unumstößliche Verbindlichkeit, die dich mir als mein Diskurspartner so verbindet, daß du mir die Erfüllung der von dir benannten Pflicht versprechen kannst, willst und es – um den Preis deiner Diskursglaubwürdigkeit – auch mußt? Lieber Alberto und nun auch lieber Jens Ole Beckers, der Sie meine Idee der »impliziten Dialogversprechen a priori« schon in der von Ihnen mitherausgegebenen Festschrift Dialog – Reflexion – Verantwortung (Würzburg 2013, S. 73–85) inspirierend kritisiert haben, lassen Sie mich auf mein Buch Verbindlichkeit aus dem Diskurs zurückgreifen, weil dort bereits erste Konsequenzen aus Eurer Kritik gezogen sind. Auch wenn ich den Briefstil nun aufgebe, bin ich dem Gespräch mit Euch verpflichtet.
Pastoraltheologie. Monatsschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft, 107. Jg., 2018/1, S. 21–35. Vgl. die Fortsetzung in Dietrich Böhler und Ulf Liedke, »Diskursbeteiligung und advokatorische Assistenz. Ein Briefwechsel«, in: Pastoraltheologie, 107. Jg., 2018/10, S. 436–446. 2 Karl-Otto Apel, Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 1998, S. 179.
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Dietrich Böhler
Ich verwende den Begriff der vorgängigen bzw. primordialen impliziten Dialogversprechen zusammen mit dem Begriff der Diskursverpflichtungen a priori 3, und zwar – erstens – so, daß jener diesen im Sinne des Selbsteinholungsprinzips geltungslogisch vertieft: Keine hinreichende, nämlich diskursiv unhintergehbare und von den Diskurspartnern unbedingt anzuerkennende Verbindlichkeit ohne die – durch ein bekräftigendes Versprechen auszudrückende – Selbstübernahme der Diskursverpflichtungen durch den Proponenten. Denn über dessen Verläßlichkeit darf seitens des Opponenten kein Zweifel bestehen. Zweitens kann der Opponent so lange einen Gültigkeitszweifel an den Diskursverpflichtungen haben, wie er deren Behauptung als bloßes Resultat einer nur in theoretischer Einstellung vorgenommenen (und eben deshalb bezweifelbaren) transzendentalen Rekonstruktion ansehen kann. Denn so lange kann er einen Fallibilitätsvorbehalt geltend machen. Dann ist freilich die Verbindlichkeit dahingestellt. Diese muß jedoch zweifelsfrei, d. h. diskursdefinit, bestehen, so daß ein Opponent, der die Verbindlichkeit einer rekonstruierten Diskursverpflichtung in Frage stellt, seine Diskursglaubwürdigkeit einbüßt. Der entscheidende Begründungszug der transzendentalen Diskurspragmatik ist demgemäß die im Dialog vorgenommene Prüfung, ob eine Behauptung überhaupt als widerspruchsfreier Diskursbeitrag gelten kann, wenn man ihre Gültigkeit dahingestellt sein läßt. Wer sich im argumentativen Diskurs derart zurücknimmt, daß er einen der Geltungsansprüche oder eine der damit verwobenen Diskursverpflichtungen einschließlich ihres praktischen Verpflichtungssinns, der auf die Förderung der realen (ökologischen und politischen) Realisierungsbedingungen freier Diskurse zielt, dahingestellt sein läßt oder eben in Zweifel zieht, der verspielt seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner und scheidet insoweit aus dem Diskurs aus: Sein Gegenüber sieht sich betrogen. Denn es baute auf die Diskurswilligkeit und Diskursbereitschaft des Proponenten – so als habe der sie ausdrücklich versprochen. Jetzt aber sieht er sich getäuscht; das Dialogversprechen ist gebrochen. Drittens habe ich nirgendwo (und schon gar nicht i. S. eines empiristischen Fehlschlusses) angenommen, daß »jede Verpflichtung
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Dietrich Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 297; vgl. S. 292–294.
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Antwort: Keine verbindlichen Diskursverpflichtungen ohne …
aus einem Versprechen entsteht«. 4 Vielmehr bezieht der Begriff des impliziten und primordialen Dialogversprechens seinen Sinn und m. E. auch seine transzendentale Notwendigkeit aus der Verwobenheit mit den vorgängigen Diskursverpflichtungen. Diese Verwobenheit zeigt sich, wenn man nicht, was Beckers und Damiani offenbar tun, in der theoretischen Begründungsperspektive eines Transzendentalphilosophen verharrt, sondern die diskurskonstitutive, jedenfalls den Diskurs mitkonstituierende Perspektive der vom Proponenten beanspruchten und vom Opponenten erwarteten Diskursglaubwürdigkeit berücksichtigt. Dann denkt man nicht bloß theoretisch und in der Dritten Person über den Diskurs, sondern zugleich praktisch und in der Zweiten Person aus dem Dialog. Man analysiert dann nicht nur den Diskurs als logische Argumentations- und Begründungsstruktur, sondern vollzieht den Diskurs als Dialog nach, d. h. als einen sozialen Erwartungs- und Anerkennungszusammenhang: Der Diskurs ist ein Ich-Du-Geflecht, in dem ›ich‹ mich dadurch muß anerkannt sehen können, daß ›du‹ mir a priori Diskursglaubwürdigkeit und Diskursbereitschaft jedenfalls implizit, nämlich durch Einnahme der Diskurspartnerrolle, gleichsam versprichst, ja immer schon implizit versprochen hast. Darauf, daß ›du‹ dieses vorgängige Versprechen in deiner Dialogpraxis und der davon nicht abtrennbaren Weltpraxis auch hältst, muß ›ich‹ mich verlassen können, anderenfalls würdest ›du‹ mir die Anerkennung als Diskurspartner verweigern und so deine Diskursglaubwürdigkeit verlieren. Viertens: Der Übergang von der klassischen theoretischen Rekonstruktion eines Transzendentalphilosophen zur aktuell-dialogischen Reflexion der kommunikativen Diskurspragmatik ist, wie ich zu betonen nicht müde werde, begründungsentscheidend. Warum? Einzig dann, wenn das Gegenüber im Diskurs sich nicht mehr – mit Alberto Damiani, i. d. Bd., S. 199. Faktische Versprechen müssen vielmehr erst darauf überprüft werden, ob ihnen überhaupt ein legitimer, insbesondere moralischer Verpflichtungscharakter zukommt. Zur Illustration: Helmut Kohls Versprechen, die Namen der Spender der CDU-Spendenaffäre nicht zu nennen, oder andere, prima facie, unmoralische Versprechen, z. B. gegenüber einem Mafiaboß, jemanden zu übervorteilen oder gar umzubringen. Im Verhältnis Diskursverpflichtung-Dialogversprechen ist es umgekehrt so, daß eine eingesehene legitime Verpflichtung vom glaubwürdigen Diskurspartner anerkannt und daher als persönliches Versprechen subjektiv angeeignet wird, wobei intersubjektiv dasselbe vom Gegenüber erwartet wird. Dies geschieht meist implizit, ist aber auf Nachfrage, z. B. bei Zweifel an der Glaubwürdigkeit eines der Diskurspartner, explizierbar. (Für diese Klärung danke ich Bernadette Böhler-Herrmann.)
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Dietrich Böhler
theoretischen Bemerkungen oder mit Zweifeln (»Es könnte doch sein, daß …« oder: »Ich muß/man sollte dahingestellt sein lassen, ob …«) – herauswinden kann, sondern sich im Diskurs packen läßt und als Dialogpartner standhält, ist der transzendentalpragmatische bzw. diskurspragmatische Gültigkeits- und Verbindlichkeitserweis, den Apel traditionell »Letztbegründung« nennt, ausgeführt und am Ziel: Erst dann ist nämlich erwiesen, daß ein Diskursteilnehmer seine These mit seiner Glaubwürdigkeit als Diskurspartner vereinbaren kann und daß ein Zweifel an seiner transzendentalen Begründungsthese unvereinbar mit dieser Glaubwürdigkeit ist. 5 Denn im Dialog muß ›ich‹ mir dessen sicher sein können, daß ›du‹ deinen Glaubwürdigkeitsanspruch einlöst. Wenn ›du‹ diesen Anspruch ernst meinst, kann ›ich‹ ihn als dein mir gegebenes Versprechen verstehen, bei dem ›ich‹ daher ›dich‹ packen kann. Und die Einlösung ›deines‹ Glaubwürdigkeitsanspruchs kommt der Erfüllung eines ›mir‹ gegebenen Versprechens gleich. Wenn ich die Kollegen Beckers und Damiani dementsprechend in einen reflexiven sokratischen Dialog zöge, so wäre die kruziale Frage an sie: »Könnt ihr euch als meine glaubwürdigen Diskurspartner ausgeben und euch als solche verstehen, wenn ›ihr‹ euch ›mir‹ gegenüber nicht so verbindet, als hättet ›ihr‹ mir ein direktes Versprechen abgegeben? Wie soll ›ich‹ auf ›euch‹ zählen, wie eurer Kooperationsbereitschaft sicher sein können, wenn ihr – aus welchen theoretischen Gründen auch immer – es ablehnt, ›mich‹ dessen förmlich zu versichern, ›mir‹ also ein diesbezügliches Versprechen abzugeben? Wie soll ›ich‹, bitteschön, ›euch‹ als meine Partner ernst nehmen, wenn ›ihr‹ dazu nicht bereit seid? Kurzum, wie kann ›ich‹ es überhaupt verstehen, wenn ›ihr‹ einerseits Geltungsansprüche erhebt und von Diskurspflichten sprecht, andererseits aber keine Dialogversprechen meint abgeben zu sollen?« Gerne gestehe ich, daß die, in meinen Augen für das Dritte Paradigma unverzichtbare, Idee der Dialogversprechen a priori und ihre Beziehung zur Idee der Diskursverpflichtungen a priori entwicklungs- und präzisierungsfähig sein mag. Jedenfalls war es überpointiert und entbehrte der strikten Begründungssorgfalt, daß ich in dem hier zugrundegelegten Essay sogleich die impliziten Dialogversprechen a priori eingeführt habe, ohne zuvor die zugehörigen Diskurs5 Ausgeführt in: Dietrich Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 251 f., 267–275, 290 f., 380 f. und 519–521.
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Antwort: Keine verbindlichen Diskursverpflichtungen ohne …
verpflichtungen a priori hinlänglich rekonstruiert zu haben. Insofern danke ich meinen Diskurspartnern Jens Ole Beckers und Alberto Damiani für ihre Kritik. In den Dank einzuschließen ist beider vorzügliche Darlegung einiger Elemente der Diskurspragmatik. Freilich irritiert mich, lieber Jens Ole Beckers und lieber Alberto, daß ihr den geradezu tragenden Begriff der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners bei Eurer Kritik der »Dialogversprechen a priori« nicht berücksichtigt. War doch dieses Konzept (in transzendentalreflexivem Sinne!) schon der Titelbegriff meiner EWD-Abhandlung von 2004. 6 Zudem wird es in dem Buch Verbindlichkeit aus dem Diskurs geradezu als »Angelpunkt der Diskurspragmatik« herausgestellt. 7 Warum? Diesem Konzept liegt der zentrale Geltungsanspruch zugrunde, nämlich der »Anspruch der Wahrhaftigkeit ›meiner‹ Sprecherintention und der Glaubwürdigkeit ›meiner‹ Diskursbereitschaft«. 8 Dieser gedoppelte Geltungsanspruch des Diskurspartners ist es, von dem her sich schließlich die kruziale Sinn- und Geltungsfrage an den Skeptiker stellt – hier an Euch. 9 Denn ist es nicht so, daß dieser Geltungsanspruch zugleich implizite Diskursverpflichtung und implizites Dialogversprechen ist? Beide, Diskursverpflichtung a priori und Dialogversprechen a priori, sind m. E. verwoben.
Vgl. Dietrich Böhler, »Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Ein (wirtschafts-)ethischer Richtungsstoß der Berliner Diskurspragmatik und Diskursethik, in: Th. Bausch, D. Böhler u. Th. Rusche (Hg.), Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral?, EWD-Bd. 12, Münster 2004, S. 105–148, bes. S. 127–138. Vgl. die luzide Rekonstruktion dieses transzendentalen Begriffs bei Jens Peter Brune, Moral und Recht, Freiburg i. Br. 2010, bes. S. 286–298. Vgl. auch Alberto Damiani, Handlungswissen, S. 342– 345. 7 Vgl. Dietrich Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 380. 8 Ebd., S. 295. 9 Ebd., S. 273, 529, 532 u. ö. 6
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5.2. Antwortbrief Damianis
13. 11. 2018 Lieber Dietrich, als Reaktion auf deine Replik kann ich nur vielen Dank sagen. Es ist eine Ehre für mich, daß Du eine so vollständige Antwort auf meinen Beitrag geschrieben hast. Mit herzlichen Grüßen für Dich und Bernadette, Dein Alberto
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6. Begegnung zwischen Dialog und Diskurs: Gesprächsansätze zu Hans Jonas’ Verantwortungsethik Sebastian A. Höpfl
Zum vorangegangenen Dialog Dieser Beitrag ging aus einem Briefwechsel mit Dietrich Böhler hervor, der bei der Internationalen Hans Jonas Tagung 2018 in Siegen angestoßen wurde. 1 Mein dort gehaltener Vortrag behandelte die Rede »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, die Jonas 1986 in Heidelberg hielt. Jonas betont in dieser Rede das Motiv des »nie endende[n] Gespräch[s]« 2, welches die Geisteswissenschaften auszeichnet. Anders als in seinem Prinzip Verantwortung entwickelt er in dieser Rede die Konzeption des Guten weniger von einer Gefühlsintuition oder einer phänomenologischen Evidenz her, sondern ausgehend von einer Metaphorik des dialogischen Gesprächs und dem darin ergehenden »Ruf der Sache« 3 selbst. Wie dies m. E. genauer zu verstehen ist, versuche ich unten darzustellen. Der hiesige Beitrag beruht auf meiner brieflichen Antwort an Herrn Böhler, der mir – ebenfalls brieflich – Entgegnungen zu meinem Vortragsmanuskript hatte zukommen lassen. Ich will versuchen, diese Entgegnungen und damit unseren vorangegangenen Dialog kurz zu skizzieren. Dabei muss ich zugleich immer wieder auf Hans Jonas’ Rede als Gesprächsgrundlage verweisen. Jonas beginnt die Darstellung des geisteswissenschaftlichen GeIch danke Dietrich Böhler für die Einladung, meine Überlegungen in diesem Band unter der Frage »Was gilt?« teilen zu dürfen. Diese Frage motiviert auch mein derzeitiges Dissertationsprojekt zu Hans Jonas’ Verantwortungsethik. Da dieses Projekt unter dem Titel »Anspruch des Sollens im Sein« noch seiner Vollendung harrt und einige der hier diskutierten Fragen erst ausschöpfen soll, muss ich mich für den vielfach hypothetischen Charakter meiner Ausführungen entschuldigen. Mein eigentlich argumentativer Beitrag zum Diskurs sei hiermit versprochen, bis dahin kann ich nur in die eingeschlagene Richtung deuten. 2 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 279. 3 Jonas, 295. 1
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Sebastian A. Höpfl
sprächs mit dem Exempel der Geschichtswissenschaften. Er betont, daß das Studium der Geschichte nur als Nacherleben der Erlebnisse geschichtlicher Akteure möglich sei. 4 Darin liegt m. E. auch, daß die Subjekte der Geschichte nur solche sind, die selbst »persönliches Erlebnis« kennen, also vornehmlich menschliche Individuen. Herr Böhler wies mich ergänzend darauf hin, daß auch unter dieser Grundannahme Geschichte verstehbar bleibt »als Zusammenhang von (sinnhaften) Strukturen wie Institutionen und […] Komplexen« 5. Auch diese, »die ja vielerorts als ›Strukturen‹ oder (Sub-)Systeme thematisiert werden, sind a priori von Subjekten verstanden und entweder entworfen oder mitgetragen, modifiziert etc.« Meine weitere Erwiderung darauf, die sich auf das Problem hierarchischer Strukturen zwischen den menschlichen Geschichtssubjekten bezieht, ist für die hier verhandelte Frage »Was gilt?« zunächst nebensächlich. Anders die weiteren Punkte: Bezogen auf die Forschenden in allen Geisteswissenschaften 6 betont Jonas weiter, daß die je eigene Geschichtlichkeit und das damit einhergehende je eigene Erleben auch die jeweiligen Deutungen bestimmt, die jedeR 7 in das wissenschaftliche Gespräch einbringt. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven erstehen unterschiedlichste Deutungen, von denen keine »das letzte Wort haben kann« 8. Ich würde dabei gerade die mögliche Pluralität der verschiedenen Positionen betonen und damit eben vorläufig jede Hypothese zulassen, auch wenn sie sich im Diskurs als falsch herausstellen mag. Herr Böhler warnte dabei vor zu viel »Beliebigkeit« und der »Gefahr des Relativismus ohne Geltungsansprüche, [aber] mit pragmatischen Selbstwidersprüchen« 9. Meine rückfragende Antwort auf diesen Einwand findet sich unten, ebenso wie Betrachtungen zu Herrn Böhlers kritischer Thematisierung der Differenz von Anders- und Besser-Verstehen. Damit verbunden ist die Frage, in welcher Weise mit Jonas die Natur als Verantwortungsobjekt uns als Menschen angeht. Dem leitenden Motiv des Gesprächs in »Wissenschaft als persönliches ErlebVgl. Jonas, 278. Brief vom 27. 07. 2018. Nachfolgendes Zitat ebd. 6 Letztlich betrifft dies natürlich jedes verstehende Wesen. 7 Ich versuche das generische Maskulinum umwillen der Geschlechtergerechtigkeit zu vermeiden. Gelegentlich nutze ich zur Förderung der Lesbarkeit ein generisches Femininum. Gemeint sind immer Personen jedweden Geschlechts. 8 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 279. 9 Brief vom 27. 07. 2018. 4 5
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Begegnung zwischen Dialog und Diskurs
nis« folgend, verstehe ich die Rede vom »Ruf der Sache« 10 nicht bloß als ästhetische Metaphorik, sondern in einem dialogischen Sinne: Die lebendige Natur selbst erhebt Anspruch auf Verantwortung in der dialogischen Begegnung mit ihr. Herr Böhler warnte mich hier vor einem »Kategorienfehler« 11 und empfahl, nur von einem advokatorischen Quasi-Dialog und Quasi-Geltungsansprüchen zu sprechen. Auch meine erläuternde Antwort darauf findet sich unten. Abschließend ging es darum, wie der von Jonas angesprochene »Glauben, daß es sich […] um das Leben und den Menschen lohnt« 12, genauer zu verstehen wäre. In meiner Lesart ist damit ein Glaube und Vertrauen gegenüber den individuellen Ansprüchen von Lebewesen gemeint, der sich prospektiv als Glaube an die Zukunft der ganzen lebenden Natur wie der ganzen Menschheit ausspricht. Herr Böhler mahnte hierzu eine Differenzierung an und schlug vor, das von Jonas Gemeinte vorläufig als »Vertrauen auf die Sinnhaftigkeit, ja Unverzichtbarkeit (bei Strafe des pragm[atischen] Widerspruchs als Diskurspartner) unseres Engagements für das Leben und für die Fortsetzung des menschlichen Versuchs« 13 zu deuten. Ohne diese weitreichende Frage hier aufarbeiten zu können, scheinen mir unsere Differenzen hier weniger im Effekt, als in der – diskurs-zentrierten oder dialogischen – Begründung zu liegen. Meine Perspektive darauf versuche ich unten weiter aufzuklären. Dazu lasse ich auch zusätzliche Hinweise Herrn Böhlers aus einem weiteren Brief an mich einfließen. Soviel zum vorgängigen Dialog dieses Beitrags.
Einleitender Überblick Ich werde zunächst auf die leitende Frage »Was gilt?« in Bezug auf Hans Jonas und die Diskurspragmatik eingehen und damit die moralische Begründungsproblematik aus meiner Position skizzieren. Daran schließen sich Punkte, die eng an Hans Jonas’ Rede »Wissenschaft als persönliches Erlebnis« und deren Leitmotiv des dialogischen Gesprächs orientiert sind. Diese Punkte betreffen wissenschaftstheoretische Überlegungen, die von den Geisteswissenschaften ausgehen und 10 11 12 13
Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 295. Brief vom 27. 07. 2018. Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 298. Brief vom 27. 07. 2018.
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Sebastian A. Höpfl
über die Frage eines Wertmaßstabs des Verstehens zur philosophischen Ethik leiten. Abschließend komme ich auf die Geltungsfrage moralischer Verantwortung im Verhältnis zur Diskursethik zurück. Meine in Auseinandersetzung mit Jonas entwickelte Antworthypothese auf die Frage »Was gilt?« lässt sich etwa so zusammenfassen: In jedem Fall gilt es moralisch, dem dialogischen Anspruch der Anderen zu begegnen, die mich zur Verantwortung fordern.
Die zentrale Frage: »Was gilt?« oder ›Gilt etwas?‹ Anknüpfend an Hans Jonas und Karl-Otto Apel betont Dietrich Böhler die moralische »Vordringlichkeit der Prinzipienfrage« 14: »Was gilt?« Jonas stellt diese Frage angesichts der neuartigen Herausforderungen der technologischen Zivilisation, in der die Ethik auch eine Zukunftsverantwortung der Menschheit begründen müsse. Im Verlauf seiner prinzipiellen Überlegungen radikalisiert sich Jonas’ Fragestellung: Angelehnt an Leibniz formuliert er die moralische Grundfrage, warum überhaupt etwas sein solle und nicht vielmehr nichts. 15 Und diese Frage versucht er aus der Perspektive eines ›naturwissenschaftlichen Nihilismus‹ zu beantworten, und zwar unter »Prävalenz der ›Sache‹« 16. Ich möchte diese Frage zuspitzen: Abseits notwendigen Verhaltens aufgrund der Präpotenz, der Vormacht natürlichontischer Sachzwänge, ›gilt etwas?‹ Zeigt uns irgendeine ›Sache‹, etwas uns Begegnendes, daß vor unserer subjektiven Wertung ein vorausliegender Wert, eine »Prävalenz«, ein »Gut-an-sich« 17 liegt, das uns jenseits von Zwang zum Handeln anhält? Jonas selbst macht zur prinzipiellen Begründung einer Verantwortung dafür, daß überhaupt etwas sein solle, mehrere Anläufe. 18 Keinen davon lässt er selbst als uneingeschränkt geltend stehen. 19 Nur die letzte, phänomenologische Analyse des »Urbild aller VerantJonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 63. Vgl. Jonas, 101–8. 16 Jonas, 166, vgl. auch 253. 17 Jonas, 158. 18 Vgl. v. a. das zweite Kapitel im Prinzip Verantwortung, das mit der genannten Grundfrage schließt: Jonas, 63–108. 19 Vgl. die Überleitung von der Erläuterung des ›Gut-an-sich‹ zu den Urbildern der Verantwortung, wo es nach allen bisherigen Begründungsansätzen plötzlich wieder heißt, man könne nun doch mit der subjektiven Gefühlsseite »beginnen«: Jonas, 170. 14 15
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Begegnung zwischen Dialog und Diskurs
wortung« 20 im Eltern-Kind-Verhältnis – und analog im Verhältnis von ›Staatsmann‹ und Bevölkerung 21 – lässt er unter dem Leitspruch »Sieh hin und du weißt« 22 vorerst selbstsicher gelten. Dieser Verweis auf die unmittelbare Anschauung hat von verschiedenen Seiten Kritik auf sich gezogen, 23 und die intuitionistische Begründung in einer ontologischen »Selbstevidenz« 24 kann in moralischer Hinsicht zunächst kaum überzeugen. 25 Die Diskurspragmatik fokussiert sich stattdessen auf Jonas’ Überlegungen zur »Wette im Handeln« 26 und ergänzt diese um ein explizit transzendental-dialogreflexives Moment. In dieser Idee scheint eine Antwort auf Jonas’ Prinzipienfrage nach Geltung von moralischer Verantwortung zu liegen. Ich bin allerdings skeptisch, ob eine transzendental-logisch formale Antwort ohne weiteres mit Jonas’ Fragestellung zu vermitteln ist. 27 Jonas fragt m. E. nicht primär nach einer ethischen Logik, in der Widerspruchsfreiheit als negatives Kriterium möglicher Geltung gesucht ist. 28 Eine solche Reflexion erweitert Immanuel Kants Idee einer transzendentalen Subjektivität in Jonas, 252. Vgl. Jonas, 187 ff. 22 Jonas, 254. 23 Vgl. u. a. Hirsch Hadorn, »Verantwortungsbegriff und kategorischer Imperativ der Zukunftsethik von Hans Jonas«; Krebs, »Naturethik im Überblick«; Nida-Rümelin, »Moral, Wissenschaft und Wahrheit«, 14. 24 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 159. 25 Vgl. Apel, »Primordiale Mitverantwortung«, 99–102; Böhler: »Was gilt?«, Abschn. I 2. Auch Jonas selbst zweifelte seine eigene Begründung des Prinzip Verantwortung im Nachhinein immer wieder an (vgl. etwa Jonas, »Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik«, 539.), differenzierte sie aber hinsichtlich ihres Schwerpunkts: darunter die »Anschauung des Seins«, die allerdings den Appell vermittele (Jonas, »Vortrag auf dem Katholikentag 1984«, 524 f.), oder eine »unmittelbare Intuition« (Jonas, »Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik«, 538.), oder Notwendigkeit einer Metaphysik (Jonas, »Ansprache zur Ehrenpromotion 1991«, 547.), oder gar eine »Urentscheidung« (Jonas, »Der ethischen Perspektive muß eine neue Dimension hinzugefügt werden«, 555.). Vgl. zur Vielfältigkeit von Jonas’ moralbegründenden Argumentationslinien: Böhler, »Einleitender Kommentar«, XLII ff. 26 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 80; vgl. Böhler, »Nachwort«, 253 f. 27 Böhler bemerkt selbst, daß Jonas sich gegenüber entsprechenden Vermittlungsvorschlägen zwar nicht versperrt hat, diese aber nie produktiv aufnahm. Vgl. Böhler, »Nachwort«, 244–46. 28 Dieser Fokus scheint mir mitunter nicht unproblematisch, wenn er nämlich mit der widersprüchlichen Rede auch die RednerIn moralisch zu disqualifizieren droht. Vgl. Böhler, »Warum moralisch sein?«, 53; zum bloß negativen Charakter des Selbstwiderspruchs: Kant, Kritik der reinen Vernunft, B189 ff. 20 21
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einem sprachbezogenen, intersubjektiven Sinn. 29 In aller Verbundenheit mit Kants moralphilosophischem Anspruch aber schließt Jonas im Zusammenhang mit der Frage des ethisch zentralen Lebensphänomens einen solchen subjektiv-idealistischen Ansatz explizit aus, der in der Reflexion auf Subjektivität und deren eigene Logik »mit dem Primat des Denkens im vorhinein seine eigene Partei genommen hat.« 30 Vielmehr sucht er in einer ontologischen Untersuchung der Natur, den »Status von Wert überhaupt festzustellen und die Frage seiner Objektivität zu erkunden« 31. Dem entsprechend möchte ich der Spur folgen, die Jonas mit seiner Prämisse einer moralischen »Prävalenz der ›Sache‹« 32 und seiner phänomenologischen Herangehensweise vorgibt, ohne die scheinbare »Selbst-Evidenz« bestätigen zu können. Ich sehe hin und weiß nicht recht, wenn ich so sagen darf. Stattdessen scheint mir in dialogischen Motiven, die Jonas u. a. in »Wissenschaft als persönliches Erlebnis« aufnimmt, eine vielversprechende, alternative Interpretation zu liegen. Jonas hebt dort mit dem leitenden Motiv des »nie endende[n] Gespräch[s]« 33 wiederholt ein dialogisches Moment hervor, einerseits zwischen Forschenden, andererseits zwischen forschendem Subjekt und untersuchten Objekten. Die »Prävalenz der ›Sache‹« 34 wird – unter diesem Motiv und im Hinblick auf die Untersuchung von lebenden ›Sachen‹ – zu einem Anspruch des Gegenüber, des Anderen. Auf eine Formel gebracht: Im hörbaren Anspruch offenbart sich ein Du und ruft mich zur Verantwortung. 35 In dieser Lesart scheinen mir bisher vernachlässigte, möglicherweise vermittelnde ›Grenzübergänge‹ zum dialogreflexiven Ansatz der Diskurspragmatik zu liegen, die sich anhand der Rede »Wissenschaft als persönliches Erlebnis« – in immanent kritischer Weise gegen Jonas’ anschauende Evidenzintuition – nachvollziehen lassen. Vgl. etwa Apel, »Primordiale Mitverantwortung«, 102 f. Böhler: »Was gilt?«, Abschn. I. 30 Jonas, »Organismus und Freiheit«, 49. 31 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 107. 32 Jonas, 166. 33 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 279. 34 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 166. Unter dieser Deutung ist zu betonen, daß Jonas in Bezug auf das Moralische nur metaphorisch von einer »›Sache‹« spricht, und eben nicht von ontologischen Sachzwängen, wohl aber von etwas Daseiendem. 35 Vgl. auch Buber, »Zwiesprache«, 161–65. Unter ›dialogisch‹ verstehe ich hier einen Ansatz, der durch Bubers Schriften wohl am meisten Bekanntheit erlangt hat, sich aber nicht auf diese beschränkt. Vgl. Heinze, Einführung in das dialogische Denken. 29
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Deutungsbeliebigkeit Wir beginnen mit der dortigen Darstellung des geisteswissenschaftlichen Gesprächs. In Bezug auf den Diskurs zwischen Forschenden formuliert Jonas: Die »eigene Geschichtlichkeit des deutenden Subjekts [… bedingt], daß seine Sicht niemals das letzte Wort haben kann, wie sie ja auch in der Regel nicht das erste war. Im besten Falle vermacht sie den Kommenden einen nunmehr einzubeziehenden Aspekt, vielleicht auch nur Stoff zu Widerspruch und Revision – ganz gemäß dem eigenen, vielfach polemischen Ursprung. [… I]mmer wieder kann, ja muß [ein Phänomen] neu zum Reden gebracht werden in nie endendem Gespräch.« 36 Damit ist nun einer jeden möglichen Deutung ein gewisser Eigenwert zugesprochen, selbst der scheinbar falschen. Denn auch diese gibt in ihrer Widerlegung einen negativen Hinweis darauf, was das Gedeutete eben nicht ist. In der Vielstimmigkeit der Deutungen kann weiter keiner einzelnen das Primat zugesprochen werden, die einzige und abschließende Wahrheit oder Unwahrheit darzustellen. Der Diskurs ist vielstimmig und möglichst frei, er folgt der kantischen Idee einer aufklärenden ›Publizität‹ als öffentlichem Vernunftgebrauch. 37 In dieser Vielstimmigkeit scheint mir – mit Jonas – zu liegen, daß ein Diskursbeitrag zwar durch »die Geschichtlichkeit des deutenden Subjekts« 38 bedingt ist, nicht aber durch die biographisch-historischen Umstände determiniert. Ansonsten wäre eine reine Ohnmacht des Subjekts gegenüber den Umständen gegeben. 39 Dazu sind die Eintrittsvoraussetzungen denkbar gering: Im Voraus ist klar, daß eine einzelne Position »niemals das letzte Wort« 40 haben wird, und vielleicht gibt sie auch »nur Stoff zu Widerspruch und Revision«. Über sachlichen Wert einzelner Beiträge wird erst im Diskurs entschieden, als Vorschläge mögen sie denkbar beliebig sein. Dietrich Böhler hat mich in Bezug auf diese Deutung vor einem »Relativismus ohne Geltungsansprüche« 41 gewarnt, der sich in pragmatischen Selbstwidersprüchen verfängt. Diese Gefahr besteht. Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 279. Vgl. Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, A484. 38 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 279. 39 Vgl. gegen eine solche Ohnmachts-Perspektive: Jonas, »Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?« 40 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 279. Nachfolgendes Zitat ebd. 41 Vgl. Brief vom 27. 07. 2018. 36 37
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Allerdings ist m. E. wesentlich, daß sich ein solcher Selbstwiderspruch im Diskurs eben erst herausstellen, d. h. daß er expliziert werden muss, bevor die zugrundeliegende Deutung begründet verworfen werden kann. Zudem muss eine solche Deutung erst in den Diskurs eintreten können, inkl. der einhergehenden Gefahr, den Diskurs ad absurdum zu führen. Soll ›Diskurs‹ nicht nur eine Metapher für eine mehrdimensionale, aber dennoch sterile Gegenstandslogik sein, sondern eine praktisch-dialogische Idee, in der wirkliche Menschen in Austausch und Tätigkeit kommen, so braucht es solche Offenheit gegenüber der Gefahr irrationaler Erscheinung. Diese Offenheit ist moralisch ein notwendiges Mindestmaß, um überhaupt auf eine friedliche Aufhebung von irrationalen Positionen in einem rationalen Konsens hoffen zu dürfen. Für die Wissenschaft 42 scheint es mit Jonas unerlässlich, im Durchdenken und Besprechen vielleicht falscher Hypothesen deren Wert erst zu ermitteln. Solches Besprechen ermöglicht einerseits die Übereinkunft über positive Wertschätzung, andererseits und zugleich die explizite Kritik (pragmatisch-)selbstwidersprüchlicher Positionen. Gerade eine solche negative Komponente zeichnet den moralischen Diskursanteil aus, der sich m. E. nicht anmaßen sollte, einen ›Masterplan‹ moralischen Fortschritts hervorbringen zu wollen, 43 sondern unzumutbare Bedingungen aufzudecken, um möglichst Gerechtigkeit zu gewährleisten. 44 Auch die Diskurspragmatik betont mit ihrem dialogreflexiven Verfahren gegenüber skeptischen Positionen eine negative Seite: Die SkeptikerIn wird in Bezug auf pragmatische Selbstwidersprüche in ihrer Position befragt.
Jonas spricht über die Geisteswissenschaften, aber auch die Naturwissenschaften entwickeln sich diskursiv, obwohl Beiträge hier mit objektiven Daten und Sachverhalten begründet oder widerlegt werden sollen. Vgl. etwa die übersichtliche Zusammenstellung der bekannten Wissenschaftstheoretiker Popper, Kuhn und Lakatos: »III. Wissenschaft und Pseudowissenschaft« in Pfister, Texte zur Wissenschaftstheorie, 188–225. 43 Vgl. zum negativen Charakter des Moralischen nach der Schoah etwa: Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, 358 ff. Im Hinblick auf die Aussicht nuklearer Auslöschung: Anders, Die Antiquiertheit des Menschen I, 294 ff.; analog, aber abwägender in Bezug auf Langzeitfolgen technischen Handelns: Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 74. 44 Vgl. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, 108; Böhler: »Was gilt?«, v. a. Abschn. II 3.2., Diskursversprechen 3. 42
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Anders- und Besser-Verstehen Mit der Gefahr eines Relativismus ohne Geltungsansprüche hängt auch die Frage zusammen, was es heißt, etwas zu verstehen. Ist mit einer zunächst beliebigen These zu einer Frage schon etwas verstanden, sofern sie einfach ein neues, anderes Verständnis ausdrückt? Was heißt es, etwas besser zu verstehen? Für die Naturwissenschaften scheint dies einfach zu beantworten: Besser-Verstehen impliziert hier ein Besser-Erklären-können, bedeutet also (in etwa), materielle Phänomene in objektiver Weise – d. h. unter mathematischer Beschreibung in einem experimentell eindeutigen Rahmen – exakter oder bisher unbeschriebene Phänomene überhaupt erstmals beschreiben zu können. 45 Für die Geisteswissenschaften gibt Jonas in »Wissenschaft als persönliches Erlebnis« eine weniger eindeutige Antwort. Die Phänomene müssen immer wieder »neu zum Reden gebracht werden in nie endendem Gespräch.« 46 Das heißt einerseits, daß sie immer wieder neu und anders besprochen, und daß sie andererseits auch selbst immer wieder ›zur Rede gestellt‹ werden müssen. Dabei ist nicht gesagt, daß ein selbst befragtes Phänomen ›vertrauenswürdiger‹ sein muss als andere Forschende. In den Geisteswissenschaften gibt es keine empirische Falsifikation, die zu einer Änderung der Theorie durch die Forschenden zwingt. 47 Hier »geht es nun einmal subjektivierend zu« 48, und eine einzelne Position kann »niemals das letzte Wort haben«. Es gibt mit Jonas also kein positives Wahrheitsprimat auf eine Sache: Die eine letzte Wahrheit, an der sich alle anderen messen müssten, kann es faktisch nicht geben, weil jede subjektive Position geschichtlich bedingt ist. Es herrscht »eine Unendlichkeit der Deutbarkeit« und jede deutende Position ist die eines individuellen Erkenntnissubjekts. Diese Position erinnert m. E. deutlich an Hans-Georg Gadamers philosophische Hermeneutik und ihren Grundsatz, daß ein relatives Vgl. die Beschreibung wissenschaftlichen Fortschritts: Lakatos, »Wissenschaft und Pseudowissenschaft (1977)«, 221–23; vgl. Jonas, der dabei das Umgehen mit »bloßen Objekten« betont: Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 280. 46 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 279. 47 Vgl. dazu prägend Popper, »Wissenschaft: Vermutungen und Widerlegungen (1963)«, 201. Dazu allerdings auch die kritischen Erwiderungen von Kuhn und Lakatos, im zitierten Sammelband nachfolgend. 48 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 279. Nachfolgende Zitate ebd. 45
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Anders-Verstehen das geisteswissenschaftliche Gespräch ausmacht. 49 Man mag sich zwar auf bevorzugte Positionen, Richtungen oder Schulen einigen können, objektiv verbindlich sind solche Wahrheitsideale aber nicht. Umgekehrt allerdings eher: Falsche Positionen, die »nur Stoff zu Widerspruch und Revision« 50 werden, lassen sich laut Jonas wohl allgemein benennen. Die Kriterien dafür nennt er nicht, aber das einfachste gleicht dem angeführten Wortlaut: Ein logischer Widerspruch verhindert rationales Verstehen und verpflichtet mindestens zur Revision. In Jonas’ Darstellung geht es um theoretische Beiträge in den Geisteswissenschaften, insofern ist damit zunächst ein theoretischer Widerspruch innerhalb des propositionalen Gehalts der jeweiligen Aussage gemeint. Dazu sind es aber die Geisteswissenschaften, die die Sinnfrage sowohl in Bezug auf den Status des Widerspruchs wie auch in Bezug auf den wissenschaftlichen Diskurs selbst stellen. In solchen Fragen reicht ein schlichter Hinweis auf eine Umformulierung der Aussage hin zu einem bloßen ›A 6¼ A ! � ‹ nicht aus; damit würde schlicht die Frage nicht ernstgenommen. Stattdessen lassen sich solche wissenschaftlichen Beiträge mit dem Verweis auf pragmatische bzw. performative Widersprüche kritisieren. Allerdings ist ein solcher Widerspruch nur immanent oder diskursiv zu erreichen, d. h. durch Reflexion aus der kritisierten Position selbst i. S. einer Autodestruktion, oder aber durch den kritischen Dialog mit ihren VertreterInnen. Eine oberflächliche, externe Kritik, die sich einer hermeneutischen Perspektive im Voraus enthält, trägt zu keinem BesserVerstehen bei. Außerdem betreffen solche Widerlegungen konkrete Gesprächsbeiträge, nicht ein Denken als Ganzes, das aus Jonas’ Position mit dem individuellen Subjekt des jeweils Denkenden eng verbunden ist. 51 Ein Besser-Verstehen ist hier also nur möglich, indem selbstwidersprüchliche Beiträge kritisiert und – immanent oder diskursiv – korrigiert werden können. Eine andere, externe Möglichkeit der Widerlegung scheint mir vor dem Hintergrund von Jonas’ Überlegungen kaum zulässig. Wo man mit den Geisteswissenschaften auf den menschlichen Geist und seine Zeugnisse selbst verweist, wird das Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 302. Dagegen in ethisch-kritischer Absicht: Böhler, »Nachwort«, 241 f. 50 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 279. 51 Vgl. Jonas, 280. 49
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geschichtliche Denken und »persönliches Erlebnis« konstitutiv für Erkenntnis, nicht auf objektive Berechnung oder Empirie gegründete Wissensproduktion. Das Gespräch, wie Jonas es schildert, trägt sich gleichermaßen zwischen forschenden Subjekten, wie übertragenerweise auch zwischen forschendem Subjekt und erforschtem Objekt zu. Ein Verweis auf ›Tatsachen‹ ist nach diesem Muster deshalb nicht im Sinne einer objektiven Beobachtung gedacht, sondern als Rückfrage an den untersuchten Gegenstand. Dabei macht es einen Unterschied, ob der befragte Gegenstand, z. B. ein historisches Ereignis, existierte oder nicht. Dessen Deutung aber hängt von subjektiven Faktoren ab. In diesem Sinn scheint mir ein Aspekt des Besser-Verstehens in diesen Bereichen wesentlich in der wachsenden Vielstimmigkeit und Pluralität des Gesprächs zu liegen, in der wachsenden »Unendlichkeit der Deutbarkeit […] kraft der immer neuen Begegnung« 52 deutender Subjekte. 53
Ethisches Verstehen In Bezug aber auf die Ethik, in der laut Jonas gilt: »Theorie wird praktisch in ihrer Erarbeitung selbst« 54, bedeutet das Gesprächs-Motiv mehr als eine solche nachträgliche Klärungs- und Reflexionsinstanz. Das Gespräch zwischen Forschenden wurzelt hier im Gespräch zwischen ForscherIn und Gegenstand, sofern der Gegenstand als lebendiges Gut mit seinem Anspruch gewissermaßen das Gespräch eröffnet. Die ethische Theorie mit ihren Gesprächsbeiträgen »ist der Beginn der Handlung selbst und daher nicht mehr […] Dienst nur an der Theorie, sondern schon an der in ihr dargelegten Sache. Diese erhebt Anspruch darauf und nimmt den Erkennenden in ihre Pflicht – und natürlich nicht erst als einmal erkannte Sache, sondern zuvor als von ihm zu erkennende.« 55 Der Gegenstand selbst »erhebt Anspruch«, nicht nur aufgrund seiner subjektiven Bewertung durch die ForscherIn, sondern als von dieser in solchem Wert »zu erkennender«. »Über jeden Ruf wissenschaftlicher Neugier hinaus weist dieser
Jonas, 279. Vgl. Arendt, Vita activa, 213 ff. Analog in Bezug auf den Wert der lebendigen Natur: Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 160. 54 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 295. 55 Jonas, 294 f. Nachfolgende Zitate ebd. 52 53
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Ruf der Sache dem Forscher sein Amt zu: nämlich durch die Kontemplation zum Mitwirkenden an der darin erscheinenden Aufgabe zu werden.« Damit ist eindeutig eine Instanz gegeben, auf die hin ein ›Besser-Verstehen‹ geordnet ist, und welche zur Verbesserung der eigenen Arbeit immer wieder zu Rate gezogen werden muss. Die ethische Theorie ver-antwortet sich gegenüber dem Anspruch dieser erkannten Instanz, die zugleich das Objekt der Verantwortung ist. 56 In einem solchen dialogischen Verhältnis gegenüber der »Prävalenz der ›Sache‹« 57 scheint mir eine Möglichkeit zu liegen, Jonas’ intuitionistische »Selbstevidenz« 58 des »Gut-an-sich« 59 mit einem sprachbezogenen Denken zu vermitteln. Was ist aber der erkenntnistheoretische Status einer solchen ansprucherhebenden ›Sache‹ ? In der dialogischen Herangehensweise kann damit nicht einfach ein theoretisch-exakt identifiziertes Exemplar eines bestimmten Oberbegriffs gemeint sein. 60 Es ist damit ein Verhältnis angesprochen, in dem die Subjekt-Objekt-Konstellation seitens des Objekts nach dem Muster eines Dialogs zwischen Subjekten gebrochen wird. 61 Entsprechend lese ich in »Wissenschaft als persönliches Erlebnis« das »nie endende […] Gespräch« 62 als Leitmotiv, das beim Dialog mit historischen Akteuren ansetzt, und im ethischen Dialog mit dem ›Subjekt-Objekt‹ von Verantwortung gipfelt. Eine hermeneutisch-anthropozentrische Perspektive kann dem entgegenhalten, daß dies nur sinnvoll von Begegnungen mit menschlichen Subjekten oder mit ihren ›Produktionen‹ gesagt werden kann: Die Statue, die sich als lebender Mensch herausstellt, offenbart sich als Subjekt. Die Statue, die sich als Produkt des 16. Jahrhunderts herausstellt, ›spricht zu mir‹ nur in dem Sinne, daß sie, als Produkt richtig ›gelesen‹, einige Hinweise auf ihre Hersteller und damalige Verhältnisse verstehen lässt. Aus dieser Perspektive ›sprechen‹ auch Naturgegenstände zu Forschenden nur in theoretischen Kontexten Vgl. Werner, »Die Unmittelbarkeit der Begegnung und die Gefahren der Dichotomie«, 137. 57 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 166. 58 Jonas, 159. 59 Jonas, 158. 60 Vgl. Martin Bubers Unterscheidung der »Grundworte« Ich-Es und Ich-Du: Buber, »Ich und Du«, 7–10. 61 Vgl. auch Adorno, »Zu Subjekt und Objekt«. 62 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 279. 56
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der Forschungs- und Geistesgeschichte, z. B. verweist der Adler auf antike Mythen, 63 diverse Momente der Staatsgeschichte 64 oder Erkenntnisse über das Brutverhalten von großen Greifvögeln. 65 In diesem Sinne eröffnet sich ein Quasi-Dialog mit Vorverstandenem, Objekte verweisen implizit auf verschiedene Diskurs-Kontexte. 66 Aber mit einer solchen Erklärung scheint mir Jonas’ Position nicht wirklich getroffen. Jonas spricht an dieser Stelle nicht von einem Vorverstandenen, sondern von einem »Ruf der Sache« 67 selbst, und dieser als »zu erkennende«, d. h. noch vor einer subjektiven Bewertung in ihrem ethischen Wert stehende. Damit verweist Jonas auf seine Suche nach dem »Gut-an-sich« 68 im Prinzip Verantwortung und explizit auch auf seine philosophische Biologie als Vorarbeit zu dieser Suche. 69 Dort interpretiert er den lebenden Organismus am Leitbegriff der »Freiheit, die ich keimhaft schon im Stoffwechsel als solchem zu entdecken glaubte, in der tierischen Entwicklung zu physisch und psychisch höheren Stufen aufsteigen und im Menschen auf die Spitze getrieben sah. Auf ihr wird das Wagnis der Freiheit, das die Natur mit dem Leben und seiner Hinfälligkeit einging, zur verantwortlichen Sache der Subjekte selbst. Damit öffnet sich die Dimension des Sittlichen, die als Lehre vom Sollen über die Lehre vom Sein hinausreicht, aber immer noch auf ihr fußt.« 70 Lebende Objekte sind es entsprechend, die in ihrem Subjektcharakter Ansprüche an uns erheben können. In diesem Sinne spricht Jonas auch in Organismus und Freiheit von einem notwendigen Anthropomorphismus, 71 unter dem die Natur – allem voran die lebendige – betrachtet werden müsse. Damit ist kein hermeneutischer Anthropozentrismus gemeint, nach dem die natürlichen Dinge schon in der Geistesgeschichte von Menschen vorverstanden sind und insofern auch für Menschen wertvoll sein können. Vielmehr fordert Jonas in einer erkenntniskritischen Überlegung Oder, »Adler«. Vgl. Oswald, Lexikon der Heraldik, 25–30, 144; »Adler (Wappentier)«. 65 Vgl. etwa Mebs, Greifvögel Europas, 69 ff. 66 Eine solche Herangehensweise beschrieb mir Herr Böhler als »Quasi-Dialog«: Brief vom 31. 01. 2019. 67 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 295. 68 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 158. 69 Vgl. Jonas, »Organismus und Freiheit«, v. a. 357–359. 70 Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 292 f. 71 Vgl. »Anthropomorphismus und Teleologie« in Jonas, »Organismus und Freiheit«, 64–72. 63 64
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dazu auf, die lebende Natur nach allen Kriterien zu erkennen, die der menschlichen Vernunft zur Verfügung stehen. Das heißt letztlich, sie eben nicht nur als Objekte, sondern in ihrem eigenen freien Subjektcharakter, mit je eigenen Zwecken befasst, anzusehen. 72 Damit treten sie auch als Akteure in der »Dimension des Sittlichen« 73 auf.
Verantwortungsbegründung Die Geltungsfrage moralischer Verantwortung ist aber auch damit noch nicht universell beantwortet. Die Dimension des Sittlichen selbst steht ja in Frage, angesichts der existentialistisch-nihilistischen Grundgestimmtheit der Moderne. 74 Die Frage, die Jonas in seinen Überlegungen zu beantworten sucht, ist nicht die, ob der Natur ein moralischer Wert wie den Menschen zukommt. Stattdessen fragt er nach einer neuen Ethik, die angesichts der möglichen Unmöglichkeit von Ethik und Moralität, angesichts der möglichen Auslöschung der Menschheit wie der Ökosphäre in der Zukunft, die Notwendigkeit dieser Dimension selbst aufzeigt. Warum soll überhaupt etwas sein und nicht vielmehr nichts? Warum soll sich die Menschheit – und mit ihr die ganze Biosphäre – nicht dem kollektiven Freitod hingeben? Es könnte ja ein »sanfter Tod« 75 sein oder auch ein finales Freudenfeuerwerk? Jonas geht immer wieder aus von der nihilistischen Grundannahme der modernen Naturwissenschaft und sucht im Bestand des Seins nach einer Quelle des moralischen Sollens. Im Prinzip Verantwortung präsentiert er die Antwort in Form eines »Urbild aller Verantwortung« 76. »Sieh hin und du weißt« 77, heißt es dazu. Wie gesagt kann ich die unbedingte Verbindlichkeit einer solchen Evidenz nicht recht einsehen. Dazu scheint mir auch die Metapher des »Urbild« klärungsbedürftig. Innerhalb von Jonas’ Schriften verweist sie zurück auf seinen Begriff des Menschen als
Vgl. analog und aktuell: Latour, Das terrestrische Manifest, 88–91. Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 293. 74 Vgl. Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 101–8; Jonas, »Gnosis, Existentialismus und Nihilismus«, 23–25. 75 Vgl. Beauvoir, Ein sanfter Tod. 76 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 252. Damit zusammen hängt das häufig bemühte Motiv der imago dei (vgl. Jonas, 419 f.). Vgl. auch FN 25. 77 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 254. 72 73
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»homo pictor«, als bildermachendes Wesen. 78 Begreift man Bildermachen als eine Weise der Herstellung, und im weiteren Sinne als eine geregelte Materialbeherrschung zu klaren Form-Grenzen, so scheint mir die Metaphorik eben auf eine herrschaftsorientierte Logik der verantwortlichen Machtausübung hinauszulaufen: Die Aufgabe der Archetypen von Verantwortung – Vater und Staatsmann 79 – wäre dann, ihr jeweiliges Verantwortungsobjekt selbstbestimmt nach dem passenden Bilde zu formen, zur Not mit – vielleicht ›sanfter‹ – Gewalt. 80 Dem entgegen scheint mir der dialogische Ansatz, der Verantwortung als Antwort auf einen gehörten Anspruch begreift, dem Moralischen als unbedingte Verbindlichkeit weit angemessener. In diesem Sinne sind bei Jonas Abschnitte wie die Rede vom emphatischen »Ja des Lebens« 81 und vom »Appell des möglichen An-sich-Guten in der Welt« 82 hervorzuheben. 83 Die Argumentation und die zentrale Rolle des Gesprächs in »Wissenschaft als persönliches Erlebnis« zeigen, daß Jonas einem solchen dialogischen Begründungsweg gedanklich nahesteht, ihn gewissermaßen ›angedacht‹ hat. In dieser Herangehensweise ist es der Anspruch von Anderen, der jeweils an mich ergehende Imperativ zur Verantwortung, weshalb eben nicht nichts sein soll. Die Entscheidung über diese Frage liegt gar nicht mehr bei mir. An mir liegt es nur, auf diese imperative Entscheidung selbst zu antworten, mich ihr gegenüber zu verantworten. 84 Ich kann den Anspruch zwar von mir weisen, ihn überhören,
Vgl. Jonas, »Organismus und Freiheit«, 277–303. Vgl. Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 202. Jonas nennt hier alternativ auch ein »regierendes Kollegium«, worauf mich Herr Böhler hingewiesen hat (Brief vom 31. 01. 2019). Diese mehrköpfige ›Alternative‹ leugnet m. E. aber nicht dessen möglicherweise ›väterliche Rolle‹ im Staat, sondern bestätigt diese Rolle gerade als institutionalisierbar. 80 Vgl. Arendt, Vita activa, 278–93. 81 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 160. 82 Jonas, 167. 83 Ein festigender Rückbezug in Jonas’ Werk muss dabei auf die Phänomenologie des Hörens und den Appendix »Vom Ursprung der Wahrheitserfahrung« in der Wahrhaftigkeit in Organismus und Freiheit zurückgreifen (vgl. ebd., 246–250, 304–316). 84 Ich lege das sprachpragmatische Primat damit nicht auf konstative Diskursbeiträge, sondern auf die imperative Aufforderung selbst. Dabei meine ich nicht offen gewaltsames Handeln i. S. einer Drohung, sondern die machtlose Bitte. Ich reflektiere damit den Umstand, daß uns eine solche Aufforderung in ihrem pragmatisch bindenden Gehalt verständlich ist als unbedingt nötigend, aber zwanglos. 78 79
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aber daß er an mich ergeht, daß ich zur Verantwortung gerufen werde, daran soll kein Zweifel bestehen. Beispielhaft begegnet uns allen dieser Imperativ tagtäglich im »Ja des Lebens« eines jeden Lebewesens und in jeder an uns gerichteten Bitte. Mir scheint, daß Moralität in solcher Weise vom Anderen her, 85 von der Erfahrung eines anspruchsvollen ›Jemand‹ her 86 gedacht werden muss.
Begründung als Widerspruchsfreiheit Die von der Diskurspragmatik betonten Geltungsansprüche und Diskursversprechen 87 in jeder Stellungnahme verweisen auf die Notwendigkeit, daß auch Skepsis an der Geltung und Verpflichtung des moralischen Diskursprinzips eben dieses schon voraussetzt. Nur scheint mir mit Jonas doch, daß auch dieser Ansatz, Moralität begründen zu wollen, noch den guten Willen, mindestens aber hinreichende ›faktische‹ Möglichkeiten der SkeptikerIn voraussetzt, 88 daß hier also ein relativ idealer Diskurs unter gleichgesinnten TheoretikerInnen oder WissenschaftlerInnen vorliegen muss. Nur aus dieser theoretischen Haltung heraus scheint mir der Verweis auf eine unmittelbar begründende, transzendentale »Einsicht« 89 plausibel. Einsichten erfordern eine geteilte Perspektive, und zu dieser muss man zunächst befähigt worden sein (u. a. durch Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse und freiheitsermöglichender Bildung). Dazu muss dem Gegenüber die Freiheit bleiben, sich auf diese Perspektive im Bereich der Theorie zunächst ›guten Willens‹ einzulassen. Ansonsten bleibt die kritische Widerlegung der skeptischen Position bloß äußerlich. Erst auf Grundlage dieser Bedingungen ersteht der Fokus auf den argumentativ-pragmatischen Widerspruch, von dem vorausgesetzt wird, daß eine SkeptikerIn ihn unbedingt vermeiden wolle. Ein solcher Wille zur Widerspruchsfreiheit ist nur in (wissenschaftlichen) Diskursen selbstverständlich. KünstlerInnen erinnern uns
Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 25, 311–13. Vgl. Arendt, Vita activa, 216. 87 Vgl. Böhler: »Was gilt?«, Abschn. II 3.2.; zur Verbindung mit Arendt: Böhler, »Warum moralisch sein?«, 20–32. 88 Vgl. Böhler: »Was gilt?«, Abschn. I 3.1. 89 Etwa Apel, »Primordiale Mitverantwortung«, 112–14. 85 86
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Begegnung zwischen Dialog und Diskurs
explizit, daß Widersprüche sich mindestens darstellen lassen. 90 Überhaupt scheinen mir Dilemmata und Aporien in Fragen des Moralischen zentral, und zwar spätestens wenn über den Dialog von Ich und Du hinaus auch Dritte betroffen sind. 91 Entsprechend tauchen im ›reinen‹ Selbstverhältnis solche Dilemmata gar nicht wirklich auf, solange nicht moralische Fragen der Legitimität und Geltung laut werden; ohne solche ist nur nach einem ›wahren‹ Selbstinteresse zu fragen. 92 Und sogar mit dieser amoralischen Frage drängt sich die existentielle wie banale Einsicht auf, daß unser bewusstes Leben selbst eine Art absurder Widerspruch scheint, der erst mit dem Tod sich auflösen lässt, 93 welcher uns selbst wieder als paradoxe »Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit« 94 entgegentritt. Ich will mit diesen Hinweisen nicht anzweifeln, daß Selbstwidersprüche in theoretischer Hinsicht immer zu vermeiden sind: Sie verhindern ein rationales Verstehen. In dieser Hinsicht scheint mir auch die theoretische Geltung des Diskursprinzips im Sinne eines moralisch Gesollten nicht diskursiv sinnvoll bezweifelbar. Aber m. E. muss betont werden, daß sich Moralität letztlich auch nicht diskursiv institutionalisieren und feststellen lassen kann. Diese Selbst-, oder vielmehr Anders-Verständlichkeit, daß ich handeln soll, ohne es eigentlich zu wollen oder gezwungen zu sein, erschöpft sich nicht in einem widerspruchsfreien Selbstverhältnis. Vielmehr ist es der Widerspruch eines Anderen, eine »Prävalenz der ›Sache‹« 95, die mich anspricht und meine Selbstbezogenheit stört. In diesem imperativen Anspruch eines Gegenüber, das mich in den Dialog holt, bin zuerst ich verpflichtet wider meinen ursprünglichen Willen. Weil ich in diesem Anspruch aber auch Diskursversprechen erfahre, finde ich neben der bloßen Forderung einen Sinn darin, dem jeweiligen Imperativ entsprechend zu handeln. In einem dialogreflexiven Gespräch (nicht in
Vgl. René Magritte: La trahison des images. Dazu Foucault, Dies ist keine Pfeife; außerdem paradoxe Objekte: Ernst, Abenteuer mit unmöglichen Figuren. 91 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 343; Gimmel, Konstellationen negativ-utopischen Denkens, 51–55; aus analytischer Perspektive: Raters, Das moralische Dilemma. 92 Vgl. auch Jonas’ Erläuterung zur »Paradoxie der Moral«: Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 166 f. 93 Vgl. etwa Camus, Der Mythos des Sisyphos, 23; Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 155. 94 Heidegger, Sein und Zeit, 262. 95 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 166. 90
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bloßer Reflexion auf das Selbst und seine »Eigentlichkeit« 96) lässt sich dies theoretisch bestätigen und auf seine diskursiven Bedingungen prüfen, was Dietrich Böhler nachvollziehbar aufzeigt. 97 Aber die Einladung und die Bestätigung dazu hängen moralisch vom Anderen ab, welcheR einerseits zum Diskurs befähigt sein muss, und an welcheN ich in meinem Interesse moralisch nur appellieren und zum Diskurs einladen soll. Die diskursive Einbindung darf nicht zur Vereinnahmung werden.
Dialog mit dem Anderen Jonas erkennt dieses Andere, das mich zur Verantwortung fordert, ideell im anderen Subjekt, und materiell damit schon im anderen Lebewesen. Schon im Stoffwechsel als solchem findet er keimhaft Freiheit und Subjektivität. 98 Verantwortung ist mit Jonas außerdem radikal asymmetrisch und nicht-reziprok, 99 dementsprechend kann das Verantwortungsobjekt, das anspruchsvolle Andere auch nicht selbst eigentlich Verantwortungssubjekt sein. Es ist mit Jonas zwar die Subjektivität, die sich in ihrem Anspruch im Sinne einer »Nötigung« 100 aus Freiheit offenbart, aber in diesem Anspruch fordert sie gerade keine Kooperation unter gleichen, sondern verantwortliche Sorge. Das »Ja des Lebens« 101 ist ein »Nein zum Nichtsein« 102, dem ich entsprechen soll. Damit wird auch kein Mitleid bemüht, sondern ein klarer Anspruch zur Unterstützung der je eigenen Lebensbedingungen geäußert, unter Wahrung der je eigenen Freiheit. Für diese ›Erfahrung‹ eines absoluten Anspruchs, eines Sollens aus dem lebendigen Sein, scheint mir am besten der Begriff des ›Dialogischen‹ geeignet. Jonas benutzt ihn selbst nicht, 103 aber seine verfolgte Begründungsintention scheint mir nur mit diesem Begriff einholbar. Auf dieser basalen Stufe eines Dialogs mit der lebendigen Heidegger, Sein und Zeit, 301. Vgl. etwa Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, 238–44, 300–316. 98 Vgl. Jonas, »Wissenschaft als persönliches Erlebnis«, 292 f. 99 Vgl. Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 186 f. 100 Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, BA37. 101 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 160. 102 Jonas, 161. 103 Zu Martin Buber äußert Jonas sich kaum, schriftlich liegen nur ein paar Skizzen vor: vgl. Jonas, »Ich und Du«. 96 97
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Natur findet selbstverständlich kein kritischer Diskurs statt. Aber sie genügt einer Erfahrung des Dialogs im Sinne einer Begegnung von Ich und Du, 104 in der ich als Verantwortungsfähiger einem Anspruch gerecht werden soll. Dietrich Böhler beharrte mir gegenüber auf einer Kennzeichnung als »Quasi-Dialog« 105, was zwar im Bezug auf einen Dialog als Vorstufe zum Diskurs sinnvoll ist. Aber auch dieser »Quasi-Dialog« ist eben eine dialogische Begegnung, in der ein verlautbares Sollen, etwa ein stöhnender Anspruch vom Du zum Ich ergehen kann. 106 Ob aus diesem dann ein längerer Dialog, oder gar ein kritischer Diskurs noch ersteht oder ob der Dialog schon nach der ersten Rückfrage abbrechen muss, das ist zunächst nicht ersichtlich. Und es hängt auch nicht davon ab, ob mein Gegenüber der Spezies homo sapiens angehört, wie umgekehrt der wissenschaftlich-technische Blick ja auch nicht vor dem menschlichen Körper halt macht. Wie andere Lebewesen ihre Ansprüche an uns mehr oder weniger deutlich äußern, so können auch Menschen sich dem diskursiven Dialog verweigern oder zu ihm (noch) nicht fähig sein. 107 Umgekehrt ist aber eine solche Erfahrung wohl ideell vom Dialog im Sinne des kritischen Diskurses abhängig. Ohne eine Idee von kritischem Dialog und Diskurs wären die dialogische Erfahrung und das Dialogversprechen im Anspruch gar nicht verständlich. Im theoretisch-explikativen Sinne gibt die transzendentale Diskurspragmatik rational durchsichtigen Einblick in diese Idee, im praktisch-impliziten Sinne erfährt sie jeder von uns im Laufe seines Lebens in einem gewissen Maße in Diskursen mit Anderen. Der Spracherwerb selbst
104 Vgl. Buber, »Ich und Du«, 10–12. Buber betont in der Begegnung mit einem Baum eine untere Schranke des Austauschs zwischen Lebewesen. Mir scheint dem entgegen die Ebene des Auditiven und damit der möglichen Sprache wesentlich. Mit Jonas’ Phänomenologie des Hörens (vgl. Jonas, »Organismus und Freiheit«, 246–50.) lässt sich aber wohl zeigen, daß dieses gerade auf die Dynamik des Lebens – bis zum vegetativen – verweist. 105 Vgl. Briefe vom 27. 07. 2018 und 31. 1. 2019. 106 Entsprechend gehe ich zunächst vom Ich als Hörer, und dem Du als Sprecher aus, umgekehrt zu Böhlers Kennzeichnung, vgl. Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, 248. 107 Dieser Verweis leugnet nicht die Gebotenheit »advokatorischer Vertretung im Diskurs« (Böhler: »Was gilt?«), sondern soll das moralisch-wesentliche Argument für die Notwendigkeit einer solchen Vertretung sein. Zugleich verweist es aber auch darauf, daß eine Vertretung nur der Ersatz für den eigentlichen Dialog ist, und diesen nicht verdrängen soll.
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findet in einem anwachsend-kritischen Dialog statt, 108 und Jonas betont entsprechend, daß »die Kenntnis unseres eigenen Geistes […] die Funktion der Bekanntschaft mit anderem Geist« 109 ist. Ein Mindestmaß dialogischer Begegnung ist zum Heranwachsen als Mensch über die bloße Nährstoffzufuhr hinaus mindestens überlebensförderlich. 110 In Bezug auf diese Überlegungen ist Jonas’ Beispiel des Kleinkinds im Eltern-Kind-Verhältnis als »Urbild aller Verantwortung« 111 mit weitreichenden Implikationen behaftet, worauf er selbst hinweist. 112 Physiologisch, der naturwissenschaftlichen Feststellung nach steht das Kleinkind auf dem kognitiven Level von anderen Säugetieren, und doch ist es natürlich ein Mensch und schon auf dem Weg, als ein solcher ansprechbar zu werden. In seinem hörbaren Schreien, dem ersten Anspruch zur elterlichen Sorge und Verantwortung, liegt implizit ein Versprechen, zukünftig solche Verantwortung selbst übernehmen zu können. Der Anspruch ist selbst ein dialogisches Zukunftsversprechen von Verantwortung, für dessen Ermöglichung die Empfänger zur Verantwortung gezogen werden. Und in diesem Zusammenhang scheint es egal, ob die biologischen Eltern damit angesprochen sind oder andere Menschen. 113 Der moralische Anspruch auf Zukunftsverantwortung ergeht im (proto-) sprachlichen Dialog, nicht auf einer Ebene (natur-)determinierter Notwendigkeit.
Vgl. etwa Reimann, Im Dialog von Anfang an. Jonas, »Wandel und Bestand«, 299. 110 Vgl. Bickes und Pauli, Erst- und Zweitspracherwerb, 54 f. 111 Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 252. 112 Vgl. Jonas, 259–62. 113 Vgl. Jonas’ mitunter biologistisch anmutende Verquickung von Anthropologie und Verantwortung: Jonas, 90. Dagegen würde ich weitere exemplarische ›Charaktere‹ betonen, deren Anspruch auf Verantwortung in jeweiliger Not ein Zukunftsversprechen ohne unmittelbar biologische Verwandtschaft enthält: AndereR als »Fremder, Entblößter, Proletarier«, sowie der Anspruch »des Fremden, der Witwe und des Waisen«: Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 102, 105. 108 109
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Begegnung zwischen Dialog und Diskurs
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6.1 Notiz von Dietrich Böhler
23. Mai 2019 Mit Dank für das gute Telefongespräch, das wir eben anhand Ihres erhellenden Textes geführt haben, bitte ich nochmals um Verständnis für den Notizencharakter meiner Antwort. Sie fällt so kurz aus, weil ich den von den großzügigen Unterstützern dieses Bandes, den Herren Doctores duplices Thomas Bausch und Thomas Rusche, ermöglichten Finanzrahmen schon überschritten und mir zudem eine, das Schreiben fast unmöglich machende Sehnenscheidenentzündung zugezogen habe. Vor allem aber: Ich habe wenig hinzuzufügen, weil wir beide grosso modo uns in schönem Konsens befinden. (1) Zu S. 210, Abs. 2: In den Geisteswissenschaften ergeben sich gewiß berechtigte (!) unterschiedliche, aber wohl nicht »unterschiedlichste Deutungen«, die an Beliebigkeit heranreichen. Denn auch das Sinn- bzw. Text-Verstehen unterliegt den Sinngrenzen/Sinnbedingungen des argumentativen Diskurses über das Deuten, da es an die Berücksichtigung der Geltungsansprüche und die Diskursverpflichtungen/Dialogversprechen a priori der Interpreten als Diskurspartner gebunden ist. Sofern einer Interpretation ein pragmatischer Selbstwiderspruch nachgewiesen worden ist, war das ja ein Diskurs. Und daraufhin wird der Interpret, der ein glaubwürdiger Diskurspartner sein will, seine Interpretation/Hypothese korrigieren … (2) Zu S. 210 f. und 220: Vielleicht können wir [in Bezug auf die Natur, der Sie »Anspruch auf Verantwortung in der dialogischen Rechtfertigung mit ihr« zuschreiben!] vorsichtig einen »QuasiDialog« mit der belebten Natur postulieren und ihr selbst »Quasi- bzw. implizite Geltungsansprüche« konzedieren, die wir als [vorsichtige, weil glaubwürdige] Diskursteilnehmer im Diskurs [mit Anderen, also Menschen/Geistern] explizieren können und bei Strafe des pragmatischen Selbstwiderspruchs auch explizieren sollten. 233 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Notiz von Dietrich Böhler
Die advokatorische Pflicht zum Eintreten für Tier- und Naturschutz habe ich etwa in meiner Auseinandersetzung mit Günter Altner und in dem Aufsatz »In dubio contra projectum« behandelt. Vgl. D. Böhler, in: Ders. (Hg.), Ethik für die Zukunft, München 1994, S. 244–276, bes. 255 ff. Ferner ders., »›Frieden mit der Natur‹ – Verantwortung für die Menschheitszukunft. Der Diskurs mit Günter Altner (1936–2011) geht weiter«, in Scheidewege, Jg. 45, 2015/2016, S. 223–240. Vgl. auch meine Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 462–470 und 525, vgl. 527 und 530 ff. (3) Zu S. 213: Das Ziel meines Essays »Was gilt?« ist nicht direkt eine Vermittlung des transzendental-diskurspragmatischen Ansatzes mit der Fragestellung von Jonas, sondern nur eine reflexiv-letztbegründende Tieferlegung des Prinzips der (Zukunfts-) Verantwortung. Ich suche halt eine unbedingte, nicht mit einem sinnvollen Diskursbeitrag bezweifelbare Antwort auf die von Jonas als ernstzunehmen herausgestellte »Frage ›Warum denn?‹«. 1 (4) Zu S. 213, Fn. 28; und S. 226, Abs. 1: »Die diskursive Einbindung darf nicht zur Vereinnahmung werden.« Wenn wir strikt im Diskurs argumentieren, also als glaubwürdige Diskurspartner, die allein sachlich wohlbegründete und pragmatisch widerspruchsfreie, mithin sinnvolle Argumente suchen und gelten lassen, ergibt sich weder eine Vereinnahmung des Anderen, die dessen Autonomie als eines (zumindest prätendierten) Diskurspartners mißachten würde, noch eine »moralische Disqualifizierung«. Es wird nur gezeigt, daß die/der Andere eine jetzt diskutierte These nicht als sinnvollen Diskursbeitrag durchhalten kann und daß sie/er mit dieser These den Diskurs der sinnvollen Argumente selbst verlassen hat. Und das heißt, daß diese These kein Kandidat für das ›universe of discourse‹ sein kann und daß die/der Andere mit eben dieser These kein Kandidat für die ideale Kommunikationsgemeinschaft und Argumentationsgemeinschaft sein kann. Nach unserem heutigen Telefongespräch glaube ich, daß wir uns in Folgendem einig sind: Jedes Sachkriterium und jeder (vermeintliche) »Ruf der Sache« (Jonas) muß sich beglaubigen und validieren lassen können durch sinnvolle Diskusbeiträge, die 1
KGA I/2.1, Das Prinzip Verantwortung, S. 64.
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Notiz von Dietrich Böhler
auch vor dem Forum einer idealen Diskursgemeinschaft standhalten würden. Im Kontext der dialogreflexiv eruierten Geltungsansprüche und Dialogverpflichtungen ist der Bezug auf diese transzendental-regulative Sinn- und Geltungsinstanz, vor der einzig pragmatisch widerspruchsfreie und (selbstredend!) sachlich begründete Diskursbeiträge bestehen können, nicht etwa kriterial leer, wie Vittorio Hösle argwöhnt 2, sondern ein messerscharfes Sinn- und Gültigkeitskriterium. Wie Bernadette Herrmann in ihrer Antwort auf Hösle zeigt, entwickelt die transzendentale Diskurspragmatik ja durch Reflexion auf das Erheben von Geltungsansprüchen und deren Verwobensein mit impliziten Dialogversprechen durchaus kruziale Kriterien. 3 Erfreut über das Gespräch mit Ihnen, lieber Herr Höpfl, grüße ich Sie in guten Gedanken Ihr Dietrich Böhler
2 3
Vgl. Hösles Brief vom 12. 3. 2019 und 18. 5. 2019 in diesem Buch. Vgl. die Definition des »idealen Diskurs-Konsens-Prinzips« in diesem Buch S. 72 f.
235 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
7. ABC der Diskursethik Thomas Rusche
A:
APEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
237
A a: Paradigma der Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . .
238
A b: Transzendentalpragmatische Letztbegründung . . . . . .
241
A c: Diskursethische Architektur . . . . . . . . . . . . . . .
243
B:
BÖHLER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
245
B a: Diskurspragmatische Reflexionsebenen . . . . . . . . .
246
B b: Implizite Diskursversprechen a priori . . . . . . . . . .
247
B c: Menschenwürde und Zukunftsverantwortung . . . . . .
249
C:
CONCLUSIO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
252
C a: Regulative Idee der Idealen Kommunikationsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253
C b: Schemainterpretieren im Diskurs . . . . . . . . . . . .
256
C c: Sinnkritische Paradigmenprüfung . . . . . . . . . . . .
259
236 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
ABC der Diskursethik
Dieses ABC umfasst nur drei Buchstaben. Sie mögen genügen, um die normative Begründungsanstrengung und Praxistauglichkeit der Diskursethik zu untersuchen. 1 A, wie Apel, steht für den Wegbereiter der Diskursethik 2 und seine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Pragmatismus, für die transzendentalpragmatische Letztbegründungsfigur und die architektonische Doppelstruktur des diskursethischen Ansatzes. B, wie Böhler, würdigt den Begründer der Berliner Diskurspragmatik und skizziert die Reflexionsebenen und impliziten Diskursversprechen seines Ansatzes sowie den substantiellen Kern der Diskursmoral. Das ABC endet bereits mit dem Buchstaben C als Conclusio und hinterfragt die regulative Idee der Idealen Kommunikationsgemeinschaft, das Schemainterpretieren im Diskurs sowie die sinnkritische Paradigmenprüfung. 3
A: Apel Karl-Otto Apel (1922–2017) rekonstruiert die Entwicklungsgeschichte der philosophischen Grundlagenforschung – seit Aristoteles Erste Philosophie genannt – mit einem Dreiphasenmodell. Jede Phase der Fundamentalphilosophie ist durch ein Paradigma gekennzeichnet. Darunter versteht Thomas Kuhn (1922–1996) eine wissenschaftliche Basiskonzeption, deren Grundüberzeugungen von der scientific community als Denkkollektiv geteilt werden. 4 In der von Kuhn sogenannten normalen Forschung versuchen Wissenschaftler, Proble»Es dürfte nicht kontrovers sein, daß pragmatische und normative Voraussetzungen der Wissenschaft nötig und unvermeidlich sind« (Lenk, Philosophie, S. 189). 2 Hösle bedauert, daß Karl-Otto Apel keine umfassende Monographie seiner Diskursphilosophie vorgelegt habe. Vielmehr sei das Werk in »Aufsätze und Diskussionsbeiträge zersplittert« (Hösle, Verantwortung, S. 115). Die Vielzahl internationaler Kongresse, zu denen Apel beigetragen habe, hätten ihn abgehalten, ein in sich geschlossenes Chef d’oeuvre zu verfassen. Zu bemerken ist jedoch, daß Apels Schüler diesen Mangel durch grundlegende Werke kompensiert haben: Böhler, Pragmatik; Böhler, Verbindlichkeit; Kuhlmann, Letztbegründung. 3 Das ABC verdankt sich zunächst den buchstäblichen Protagonisten Karl-Otto Apel und Dietrich Böhler, aber auch den Diskursfreunden Vittorio Hösle und Hans Lenk; ohne ihre argumentativen Wegweisungen wären mir viele Einsichten verschlossen geblieben. 4 Ludwik Fleck nimmt in seiner 1935 erschienenen »Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv« (Untertitel) Grundzüge der Kuhnschen Strukturtheorie vorweg (vgl. Fleck, Entwicklung, S. 111–145; vgl. Schäfer/Schnelle, Einleitung, S. IX. 1
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me im Rahmen des vorherrschenden Paradigmas zu lösen, ohne dieses selber zu prüfen. 5 Karl-Otto Apel hingegen ist ein philosophischer Paradigmenprüfer, ein wissenschaftlicher Revolutionär 6, der nichts Geringeres anstrebt, als die Philosophie grundlegend zu transformieren. 7 Apel hebt die Seins- und Subjektphilosophie sprachpragmatisch im Hegelschen Sinne auf und legt ein intersubjektiv geltendes Fundament für die Philosophie des 21. Jahrhunderts. 8
A a: Paradigma der Intersubjektivität Apel erkennt in der von Aristoteles (384–322 v. Chr.) inspirierten vorkantischen Ontologie und der metaphysischen Suche nach dem Sein des Seienden ein erstes Paradigma, das die Schau (Theoria) der Essenz (ordo essendi) zum erkenntnistheoretischen Leitmotiv (ordo cognoscendi) erhebt und daraus Schlüsse für das menschliche Handeln zieht (ordo agendi). In der Neuzeit wird die Seinsschau durch das zweite Paradigma eines transzendentalen Bewusstseins der Subjektphilosophie abgelöst. Von René Descartes (1596–1650) über Immanuel Kant (1724–1804) bis Edmund Husserl (1859–1938) setzt das Subjektparadigma freilich einen methodischen bzw. transzendentalen Solipsismus mit der Überzeugung voraus, ein Subjekt alleine könne das Wesen eines Objektes erkennen, »gewissermaßen als konstitutive Leistung des Einzelbewußtseins«. 9 Aus dieser Perspektive eines methodisch einsamen Subjektes lasse sich jedoch, so Apels These, keine intersubjektive Sinngeltung, geschweige denn eine allgemeinverbindliche Ethik begründen. Deshalb verbindet Apel in seiner Basiskonzeption das subjektive Bewusstseinsapriori der reflexiven Transzendentalphilosophie mit dem Leitbegriff der leiblich vermittelten, sprachlichen Intersubjektivität zum neuen Grundprinzip der PhiloVgl. Kuhn, Struktur, S. 155. Vgl. Kuhn, Struktur, S. 104. 7 Vgl. Apel, Transformation, Bd. 1, S. 9. Im Gegensatz zu Kuhns Wissenschaftshistorismus versucht Apel aufzuzeigen, daß Paradigmenwechsel nicht historisch zufällig, sondern rational nachvollziehbar verlaufen (vgl. Apel, Paradigmen, S. 7; vgl. Apel, Reflexion, S. 7 f.). 8 Apels eindrucksvolle Leistung als Paradigmenprüfer geht »auf seinen außerordentlichen Sinn für performative Inkonsistenzen zurück (…), d. h. für Widersprüche zwischen dem, was man sagt, und dem was man dabei präsupponiert« (Hösle, Geschichte, S. 292). 9 Apel, Transformation, Bd. 2, S. 375. 5 6
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sophie 10 und ermöglicht damit eine kommunikative Transformation des höchsten Punkts der Kantischen Transzendentaltheorie, das ›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. 11 Nicht die Essenz des Seins (Erstes Paradigma) oder das Bewusstsein des Subjekts (Zweites Paradigma), sondern die Reflexion »auf die dialogische Reziprozität der intersubjektiven Verständigung von Argumentierenden« 12 wird zum Herzstück des Apelschen Paradigmas. 13 Bereits Charles Sanders Peirce (1839–1914) und Josiah Royce (1855–1916) gründen ihre Philosophie nicht auf einer Analyse des Bewusstseins, sondern der Sprache. 14 Ein Subjekt könne Objekte nur auf der Basis (vor-)vollzogener und möglicher begleitender Kommunikation mit Co-Subjekten erkennen. »Die Subjekt-Objekt-Relation des Erklärens sei (, so Apel, Einschub vom Verf.) immer schon in Richtung auf die Subjekt-Subjekt-Relation des gegenseitigen Verstehens transzendiert.« 15 Interpretation basiere auf Kommunikation: »Interpretation is a conversation and not a lonely enterprise.« 16 Der Interpretationsprozess des Verstehens ist zeichenbasiert. Die pragmatische Dimension der Semiotik verweist auf eine triadische Beziehung der Zeichenbenutzer 17 und verbindet den Interpreten mit cointerpretierenden Subjekten und dem zu interpretierenden Objekt. 18 Der Prozess der Interpretation konstituiert die (scientific) community. 19 Das Verhältnis von Subjekt und Co-Subjekt, die nach Erkenntnis streben, deutet Apel mit Peirce als Gemeinschaft, »die ohne definitive Grenzen ist und das Vermögen zu einem definitiven
Vgl. Hösle, Verantwortung, S. 110. Vgl. Böhler, Pragmatik, S. 36 f., 44 f., 60 ff., 359 f. 12 Apel, Reflexion, S. 19. 13 Apels sprachphilosophische Untersuchungen verdeutlichen ihm die Bedeutung der Kommunikation für die Intersubjektivität: »Vico ist der erste, der eine neue Wissenschaft vom intersubjektiven Geist entwirft« (Hösle, Verantwortung, S. 88). 14 Fleck verweist 1935 auf die Sprachgebundenheit wissenschaftlicher Erkenntnis (vgl. Fleck, Entwicklung, S. 143 f.; vgl. Schäfer/Schnelle, Einleitung S. XXXIX). 15 Hösle, Verantwortung, S. 121. 16 Royce, Christianity, S. 289. 17 »Interpretation always involves a relation of three terms. In the technical phrase, interpretation is a triadic relation.« (Royce, Christianity, S. 286). 18 »Auf diese Weise sind die Komponenten der Erkenntnistätigkeit untrennbar miteinander verbunden. Zwischen dem Subjekt und dem Objekt gibt es ein Drittes, die Gemeinschaft« (Fleck, Denkstile, S. 470). 19 »In defining what constitutes a community I have repeatedly mentioned processes of interpretation« (Royce, Christianity, S. 273). 10 11
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Wachstum der Erkenntnis besitzt«. 20 Aufgrund faktischer Restriktionen wie fehlender Informationen, mangelnder Zeit, abwesender Fachleute usw. ist jede faktische Gemeinschaft von Kommunizierenden allerdings in ihrer Erkenntnisfähigkeit begrenzt; die Ergebnisse realer Kommunikation sind deshalb grundsätzlich fallibel. 21 Die Wirklichkeit hingegen, so Peirce, sei das, »als was man es schließlich in dem idealen Zustand vollständiger Informationen erkennen wird«. 22 Der Konsens einer vollständig informierten unbegrenzten Gemeinschaft konstituiere Wahrheit 23, genauer i. S. Apels: dieser sei die regulative Idee und das regulative Kriterium der Wahrheit. 24 In der realen Kommunikationsgemeinschaft setzen die nach Wirklichkeitserkenntnis strebenden Subjekte als Bürger zweier Welten eine ideale Kommunikationsgemeinschaft voraus: »Als Zeicheninterpret muß das Erkenntnissubjekt sich a priori als Mitglied einer realen und einer kontrafaktisch-antizipativ unterstellten idealen Kommunikations- und ›Interpretationsgemeinschaft‹ (C. S. Peirce und J. Royce) verstehen, und dies nicht nur im Hinblick auf die sprachlich vermittelte Weltinterpretation, sondern auch im Hinblick auf sein Selbstverständnis, also auf die – auch von Descartes, Kant und Hussel – immer schon sprachlich interpretierte Evidenz des ›je pense‹ bzw. ›ich denke‹ bzw. ›ego cogito‹.« 25 Auch die Selbsterkenntnis des Subjektes vollzieht sich nicht in einer methodisch einsamen Introspektion, sondern durch Kommunikation mit Co-Subjekten. Jede reale Kommunikationsgemeinschaft ist ein konkreter Teil des unbegrenzten Diskursuniversums, dessen Ideale in einer mehr oder weniger defizitären realen Kommunika-
Peirce, Pragmatismus, S. 76. »Die Idee des immer schon vorfindlichen Horizonts der Sprachgemeinschaft, der Kommunikations- und Interaktionsgemeinschaft der jeweiligen Gesellschaft (Apel) ist insoweit zweifelslos berechtigt. Freilich ist daraus nicht zu folgern, daß etwa jeder einzelne Zug dieses Vorgefundenen, welches das Vorverständnis trägt, nicht kritisiert werden könnte« (Lenk, Philosophie, S. 45). Dieser Einschränkung von Hans Lenk würde Apel ebenso zustimmen wie dem folgenden Hinweis von Vittorio Hösle: Der faktisch erzielte Konsens ist kein Wahrheitskriterium (vgl. Hösle, Verantwortung, S. 200). Zu Recht weist Hösle damit ganz im Sinne Apels darauf hin, daß der ideale argumentative Konsens nicht mit dem faktischen Konsens verwechselt werden darf. 22 Peirce, Pragmatismus, S. 80. 23 Vgl. Hösle, Verantwortung, S. 103. 24 Vgl. Apel, Wahrheit, S. 171–196. 25 Apel, Sprachphilosophie, S. 52 f. 20 21
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tionssituation ethisch fundierte und praxisrelevante Orientierung stiften können.
A b: Transzendentalpragmatische Letztbegründung Karl-Otto Apel erforscht – strikt reflexiv – die Ideale der Kommunikation. 26 Er untersucht die Voraussetzungen, damit der kommunikative zeichenvermittelte Interpretationsvorgang in einer Kommunikationsgemeinschaft gelingen kann. Dabei stößt er auf das fundamentum inconcussum der Philosophie: »Durch transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit des Verstehens (erreicht Apel, Einschub vom Verf.) so etwas wie einen kartesianischen Punkt der Letztbegründung von Philosophie.« 27 Eine derartige, in der Erkenntnisweise strikt reflexive Letztbegründung hat keine weiteren Voraussetzungen 28 und gilt wie der Satz des zu vermeidenden Widerspruchs (a ungleich non-a) unbedingt. 29 Apel ersetzt in seiner transzendentalreflexiven Begründungsanstrengung das ›Ich denke‹ der Subjektphilosophie durch das ›Ich argumentiere‹ in der Kommunikationsgemeinschaft; dies mit Geltungsanspruch gegenüber allen möglichen Anderen und dank der Sinnbasis realer Sprachgemeinschaften.
Vgl. Kuhlmann, Letztbegründung, S. 51–144. Apel, Transformation, Bd. 1, S. 62. 28 »Der Letztbegründungsbeweis erfaßt etwas Unbedingtes und Letztes, das Voraussetzung jeder Erkenntnis, damit jeden uns zugänglichen Seins, damit jeden Seins ist. Eine zusätzliche Reflexion, wie das möglich sei, ist in der Tat überflüssig; der Letztbegründungsbeweis ist per definitonem ursprünglicher als alles andere, also z. B. als die erfahrbare Natur« (Hösle, Verantwortung, S. 271). 29 Apel hat »die Struktur letztbegründeter Sätze in einer bis zu ihm unerreichten Weise präzisiert und insbesondere den fraglichen Widerspruch in der Negation des zu beweisenden Satzes als einen nicht semantischen, sondern pragmatischen erkannt (Hösle, Verantwortung, S. 163). 26 27
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Eine solche transzendentale Reflexion ist keine deduktive Begründung, die zu einem infiniten Regress führen würde, sondern eine Einsicht, die der Argumentierende in seiner Argumentationshandlung nicht bestreiten kann, ohne den mit dieser notwendig vorausgesetzten Geltungsansprüchen zu widersprechen. 30 Im nächsten Gedankenschritt »müssen diejenigen pragmatischen (Regel- und Existential-)Präsuppositionen des Argumentierens ermittelt werden, deren Bestreitung zu einem pragmatischen (performativen) Selbstwiderspruch des Argumentierenden führt.« 31 So wie jeder sinnvolle Zweifel eine Basis von Sinn und einen Bezugsrahmen der Gültigkeit voraussetzt, nehmen Argumentierende a priori ein Regelset der Argumentation in Anspruch. 32 Um diese Regeln zu bestreiten, muss ein Zweifler eben dieses Regelsystem benutzen. 33 Anknüpfend an Jürgen Habermas’ (* 1929) Universalpragmatik, die dieser parallel zu Apels konzeptioneller Entwicklung einer Transzendentalpragmatik in einer paradigmatischen Gegenbewegung zunehmend detranszendentalisiert und auf eine empirische Formalpragmatik reduziert, formuliert Apel vier Geltungsansprüche als Präsuppositionen der Argumentation: 34
»In diesem Sinne läßt sich paradoxerweise sagen, daß der Letztbegründer eine radikale skeptische Ader haben muß: Er darf sich mit keinem unbegründeten Resultat zufrieden geben, sondern muß immer nachfragen« – bis er zu einem letzten unhintergehbaren Ausgangspunkt gelangt (Hösle, Verantwortung, S. 151). 31 Apel, Sprachphilosophie, S. 53. Peirce hat vor John L. Austin bereits die Struktur performativer Ausdrücke erkannt: »Einen Eid zu schwören ist (…) kein bloßes Sagen, sondern ein Handeln« (Peirce, CP 5.546, in: Apel, Peirce, S. 334); vgl. Lenk, Verantwortung, S. 462. Hans Lenk weist in Korrespondenz vom 12. 02. 19 darauf hin, »dass Apel seiner Zeit (1973), mein transzendentalpragmatisches Begründungsargument der petitio tollendi zitiert und für sich übernommen hat (Lenk: Philosophische Logikbegründung und rationaler Kritizismus. Z. f. philosoph. Forschung 24, (1970), 183– 205, z. B. 203; wieder abgdr. in Metalogik und Sprachanalyse. Freiburg: Rombach, 88– 109, z. B. 107)«. 32 Apel kann sich in seiner Letztbegründung z. B. auf Ludwig Wittgenstein beziehen (Gewißheit, Nr. 105, 115, 122, 341, 346) und Aristoteles’ Aufweis, daß der Satz des Widerspruchs nicht sinnvoll zu bezweifeln sei (Aristoteles, Metaphysik, Bd. 4, 1005b 35 ff.). 33 »Wer Wahrheit leugnet, erhebt unweigerlich einen Wahrheitsanspruch« (Hösle, Geschichte, S. 293). 34 Vgl. Apel, Reflexion, S. 15 f.; vgl. Habermas, Theorie, Bd. 1, S. 442 f. 30
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1.
2. 3. 4.
Verständlichkeit der Äußerung im Sinne einer nicht-trivialen Sinngültigkeit, d. h. der propositionalen und performativen Widerspruchsfreiheit. Wahrheit als Anspruch auf intersubjektiv prüfbare Wahrheitsfähigkeit. Wahrhaftigkeit der subjektiv-expressiven Sprecherintention. Moralische Richtigkeit bzw. Legitimität der Normen und Handlungsweisen in der Diskussion.
Diese Diskursvoraussetzungen sind nicht hypothetisch, sondern gelten apriorisch. Sie sind unhintergehbar, weil von einem ernsthaft Argumentierenden nicht widerspruchsfrei zu bezweifeln. Apel erkennt darin mehr als eine rein formale Diskursgrammatik und betont im Unterschied zu Habermas deren ethisch-normative Relevanz im Sinne von unbedingten Diskursverpflichtungen. Die Präsuppositionen sind keineswegs moralisch neutral, sondern qualifizieren jeden Menschen als universal gleichberechtigte »Teilnehmer einer im Prinzip nicht begrenzten Argumentationsgemeinschaft«. 35 Dieser Universalisierungsanspruch hebt die Bedeutung des Apelschen Projekts hervor, das über die Legitimation ethischer Prinzipien hinausgeht. Apel ist nicht nur ein deontologischer Begründungstheoretiker, sondern zugleich ein Verantwortungsethiker. 36 So verpflichten die in den pragmatischen Präsuppositionen involvierten Geltungsansprüche zur Mitverantwortung der faktischen und möglichen Diskursteilnehmer einer realen Kommunikationsgemeinschaft nach Konsens zu streben und die realen Bedingungen der Kommunikationsgemeinschaft im Blick auf die unverfügbaren Diskursideale zu verbessern, damit Konsenserzielung in einer kontramoralischen Realität möglich werde.
A c: Diskursethische Architektur Apel hat das Universalisierungsprinzip der Diskursethik zuletzt wie folgt definiert: »Diejenigen moralischen Normen sind universal gültig, die von allen Mitgliedern einer unbegrenzten KommunikationsApel, Reflexion, S. 19. Einen »Satz aussagen, heißt für ihn, die Verantwortung zu übernehmen« (Peirce, CP 5.543, in: Apel, Peirce, S. 330); vgl. Lenk, Verantwortung, S. 462.
35 36
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gemeinschaft aufgrund einer idealen argumentativen Verständigung akzeptiert werden können.« 37 Dieses deontologische Prinzip transformiert den kategorischen Imperativ Kants in kommunikativ-dialogischer Weise und formuliert den »universal(en) Konsens einer idealen Kommunikationsgemeinschaft« als regulative Idee. 38 Aufgrund des Spannungsverhältnisses von Idealität und Realität ergänzt Apel den Universalisierungsgrundsatz um ein teleologisches Prinzip: Schaffe die Voraussetzungen um eine reale Kommunikationsgemeinschaft an die Bedingungen der idealen Kommunikationsgemeinschaft anzunähern. In der zweistufigen Theoriearchitektur Apels bilden diese beiden Prinzipien den Legitimationsteil A der Diskursethik, wobei der Verantwortungsteil B im konsequenzialistischen Ergänzungsprinzip bereits angelegt ist. Die Doppelstruktur der Architektur entspricht dem Doppelproblem der Ethik, zum einen moralische Prinzipien und Normen unter idealisierenden Voraussetzungen zu begründen (Teil A) und zum anderen diese Normen unter Berücksichtigung der faktischen Situationsrestriktionen verantwortungsvoll anzuwenden (Teil B). Gerade in einer moralwiderständigen Realität bedarf es der erfolgsverantwortlichen Moralstrategien, damit ideale ethische Prinzipien in der Praxis zumindest tendenziell verwirklicht werden. Um den Erfolg des Bösen zu verhindern, kann es demnach geboten sein, sich nicht kommunikativ, sondern strategisch zu verhalten. Strategisches Handeln ist jedoch nur zu rechtfertigen, wenn es die Wiederherstellung des kommunikativen Handelns bezweckt. Keineswegs ist machtbasiertes machiavellistisches Handeln per se gerechtfertigt, sondern immer nur im Blick auf zu realisierende Anwendungsbedingungen der IKG in einer RKG. Apel erkennt unabhängig von Hans Jonas (1903–1993) und zeitlich vorausgehend, daß die technologischen Innovationen des 20. Jahrhunderts zu einer planetarischen Ausweitung des Verantwortungsraumes menschlicher Handlungen führen. Die Krise der Menschheit bedarf einer verantwortungsethischen Anstrengung, die sich nicht nur individuelle Face-to-Face-Beziehungen von Menschen (Mikroebene) und deren Organisationshandeln (Mesoebene), sondern auch die Makrodimension einer zukunftsfähigen Weltordnung vornimmt. Apel konstruiert für diese planetarische Herausforderung eine formale pro37 38
Apel, Reflexion, S. 20. Apel, Reflexion, S. 21.
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zedurale Ethik der Diskurse, die für konkrete Problemlösungen den verbindlichen Rahmen vorgibt, ohne materiale Wertinhalte vorauszusetzen oder konkrete Ergebnisse von Diskursen vorwegzunehmen. Diese flüchtige Strukturskizze der philosophischen Architektur Karl-Otto Apels und seiner vom amerikanischen Pragmatismus beeinflussten »intersubjektivitätstheoretischen Transformation der Transzendentalphilosophie Kants« 39 zeigt bereits, »daß es sich bei ihm um einen der wenigen originellen und kreativen Philosophen der Gegenwart, ja – mit Hans Jonas – um einen der bedeutenden Ethiker der Philosophiegeschichte handelt«. 40 Diese Einschätzung Vittorio Hösles (* 1960) in Bezug auf Apel und Jonas wird von Dietrich Böhler (* 1942) geteilt, dessen Oeuvre beiden Denkern viel verdankt.
B: Böhler Im Sinne der wissenschaftstheoretischen Nomenklatur von Ludwik Fleck (1896–1961) ist Böhler ein prominenter Vertreter des diskursethischen Denkkollektivs. Er hat den diskursethischen Denkstil wesentlich ergänzt, erweitert und zur Berliner Diskurspragmatik umgewandelt. 41 Dietrich Böhler ist neben dem diskursethischen Begründungstheoretiker Wolfgang Kuhlmann (* 1942) in der Schülergeneration von Karl-Otto Apel wohl der bedeutendste Meisterdenker. In seiner Saarbrückener Habilitationsschrift hat er die Handlungs- und Kommunikationsbedingungen des Menschen sprachpragmatisch rekonstruiert. 42 Handeln sei stets Antwort auf ein Verständnis von Situationen und insofern sprachbezogen. Situationsverstehen vollzieht sich im Dialog. Nur im Subjekt-Subjekt-Dialog kann eine Situation – irrtumsanfällig – erkannt werden. Diesen Dialog, der das Verstehen von Situationen und die daraus folgende Antwort als Handlung ermöglicht, nennt Böhler Begleitdiskurs. 43 Das »Zugleich von Handlung und implizitem Begleitdiskurs« 44 wird von der Diskurspragmatik transzendental reflektiert und inhaltlich expliziert. 39 40 41 42 43 44
Hösle, Geschichte, S. 293. Hösle, Verantwortung, S. 115. Vgl. Schäfer/Schnelle, Einleitung, S. XXIX. Vgl. Böhler, Pragmatik. Vgl. Böhler, Verbindlichkeit, S. 236 f. Böhler, Begleitdiskurs, S. 7.
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B a: Diskurspragmatische Reflexionsebenen Handeln ist triadisch strukturiert. Als Handelnder stehe Ich in einem (impliziten) Diskurs mit einem Du (oder Ihr) über ein Es (Situation). Ich beanspruche gegenüber dem Du für meine Proposition bzgl. Es Geltung und vollziehe damit einen performativen Akt. Diese von Habermas sogenannte performativ-propositionale Doppelstruktur schließt bereits die oben mit Apel explizierten vier Geltungsansprüchen von Verständlichkeit und Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit ein, die sich sowohl auf die Proposition als auch auf die Rolle von Ich und Du als Sprecher bzw. Akteur beziehen. Das Diskursverhältnis von Ich und Du wird von den Geltungsansprüchen nicht nur formalpragmatisch im Sinne einer technischen Grammatik strukturiert, sondern zugleich normativ-ethisch fundiert. Böhler unterscheidet drei Reflexionsebenen der Diskurspragmatik und setzt bei der konkreten Lebenswelt und dem Verständnis des Menschen für Lebensumstände und Handlungssituationen an. Auf dieser ersten Ebene agiert Ich1 als leibhaftiges, um seine Existenz kämpfendes Wesen und wird, jedes auf seine Weise, durch Triebe und Traditionen, (Konsum-)Wünsche und (System-)Zwänge beeinflusst. Ein jeder Mensch, so Böhler, habe diese leibhaftige Urrolle inne. Die Diskurspragmatik nimmt sie ernst und postuliert auf dieser ersten Reflexionsebene »›Artikuliere und expliziere sorgsam das lebensweltliche Vorwissen und Handlungswissen deiner selbst und deiner Gegenstände‹« 45. Um dieses Vorwissen reflektieren zu können, bedarf es einer zweiten Ebene der »Universalgrammatik des Verstehens, Tun und Redens«. 46 Böhler strebt nach einer sprachpragmatischen Rekonstruktion der Verständigung über »die Sinnbedingungen des In-der-Welt-Seins, zumal des Etwas-als-etwas-Erlebens, des Etwas-als-etwas-Tuns und Geltendmachens«. 47 Dieser Methodenschritt ermöglicht es, im Wissen um die zeichenvermittelte triadische Struktur der Erkenntnis, die duale Subjekt-Objekt-Spaltung zu überwinden und daraus lebenspraktische Konsequenzen zu ziehen. Diese Überwindung der Selbstentfremdung bezeichnet Böhler als Selbsteinholung.
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Böhler, Begleitdiskurs, S. 13. Böhler, Begleitdiskurs, S. 13. Böhler, Begleitdiskurs, S. 13.
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Die Selbsteinholung ermöglicht nicht nur dualistische Spaltungen, wie das Differenzverhältnis von Ich und Du sowie von Ich und Es in den Blick zu nehmen, sondern diese triadisch aufzuheben. Aus dem Bauchredner des Seins (Ich scheine alleine über Es nachdenken und sprechen zu können) wird der Diskurspartner, der sich gegenüber dem Anderen über Es im argumentativen Dialog rechtfertigt. Wer nun danach fragt, was es bedeutet, sich im Dialog zu rechtfertigen, erklimmt die höchste, dritte diskurspragmatische Reflexionsstufe. Auf dieser Ebene nimmt der Mensch als lebensweltliches Ich1 seine zweite Ursprungsrolle ein, die des Ich2. Der Rollenwechsel hat sich bereits auf der zweiten Reflexionsebene abgezeichnet, nun wird er vollzogen. Mit Apel und Kant formuliert: Der Mensch wird sich bewusst, Bürger zweier Welten zu sein. Er ist nicht nur Mitglied der RKG (Ich1), sondern zugleich der IKG (Ich2). Böhler untersucht nun die zweite Ursprungsrolle des Menschen. Was bedeutet es, immer auch Ich2 zu sein? Ich2 transzendiert als argumentativer Diskurspartner die Rolle des lebensweltlichen Akteurs (Ich1), ohne diese aufzugeben. Der Mensch ist immer schon beides. Ich2 tritt mit dem sophistischen Moralskeptiker, der die universale ethische Relevanz der Geltungsansprüche bestreitet, in einen sokratischen Diskurs.
B b: Implizite Diskursversprechen a priori Was sind die Voraussetzungen, damit ein Dialog gelingen kann? Um dies zu klären, überwindet Böhler die theoretische Einstellung Apels und unterwirft die Diskurspräsuppositionen einem praktischen Skeptikertest. Ausgehend von den vier Diskursverpflichtungen der Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit wird die Unhintergehbarkeit von Diskursversprechen geprüft, die auch der zweifelnder Skeptiker in einem sokratischen Dialog des logon didonai nicht bestreiten kann, weil er sie in seinem performativen Akt des Zweifelns selbst in Anspruch nimmt. 48 Auf diese diskurspragmatische Weise kann Böhler nachweisen, daß sich der Skeptiker mit seiner Behauptungshandlung in Widersprüche verstricken würde, wenn er folgende Diskursversprechen (DV) in Frage stellte und ihnen widerspräche:
48
»Almost all speech acts have an element of promising« (Searle, Rationality, S. 181).
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DV1: Verfügbarkeit Um Geltungsansprüche prüfen zu können, muss ich mich als autonomer Diskurspartner zur Verfügung stellen. DV2: Unbegrenztheit Die Anstrengung, als Diskurspartner nach besseren Argumenten zu suchen, umfasst meine Bereitschaft, die Ansprüche aller möglichen Diskursteilnehmer einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft zu berücksichtigen. DV3: Menschenwürde Die Lebens- und Freiheitsrechte aller anderen möglichen Diskurspartner werden von mir im Sinne der Menschenwürde als Voraussetzung der Diskursgerechtigkeit anerkannt. DV4: Realisierungsbedingungen In der konkreten sozial-kulturellen, politisch-rechtlichen Situation bin ich für die Realisierungsbedingungen freier öffentlicher Diskurse mitverantwortlich. 49 DV5: Revisionsfähigkeit Aufgrund der Fallibilität von Situationsanalysen gestalte ich daraus folgende Handlungsweisen bzw. deren Folgen revisionsfähig aus. DV6: Ergebnisverantwortung Für die tendenzielle Umsetzung der Diskursergebnisse in den lebensweltlichen Praxisfeldern trage ich Mitverantwortung. DV7: Kontrollfähigkeit Als Diskurspartner gehe ich nur (Zivilisations-)Risiken ein, deren (Neben-)Folgen im Rahmen einer absehbaren Zeitspanne kontrollfähig sind. 50
Diese Mitverantwortung beinhaltet, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen (vgl. Böhler, Verbindlichkeit, S. 297 ff.). 50 Die Kontrollfähigkeit ist ebenso ein Aspekt der Zukunftsverantwortung wie die Revisionsfähigkeit (DV5). 49
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DV8: Moralstrategik In der antagonistischen Lebenswelt soll ich bereit sein, konsenswürdige Konterstrategien zu ergreifen, um die Diskursmoral in einer Konfliktsituation durchzusetzen. In seinem achten DV betont Böhler, daß es angesichts der antagonistischen Herausforderungen der Gegenwart oftmals moralisch geboten sei, solche erfolgsfähigen Konterstrategien einzusetzen, deren Folgen im universalistisch-ethischen Sinne des Diskursprinzips rechtfertigungsfähig sind. Konterstrategien sind rechtfertigungsfähig und konsenswürdig, wenn sie auf Sicht die Annäherung der realen Handlungsbedingungen an die Gerechtigkeits-, Anerkennungs- und Mitverantwortungsverhältnisse eines argumentativen Dialogs ermöglichen. Die Realisierung der Diskursimperative in der teilweise moralwiderständigen Lebenswelt verdankt sich denjenigen, »die universalistisch und strategisch zugleich zu denken wissen«. 51 Böhler vermag mit Apel »die logische Kompatibilität beider Denkweisen konkret nachzuweisen; noch schwieriger ist es aber, daß sich beide Denkweisen psychologisch in einer Person vereinen«. 52 Damit stellt sich das Motivationsproblem, entsprechend der (implizit) gegebenen Diskursversprechen zu handeln. Hier kommt das Streben nach Diskurswürdigkeit ins Spiel: Ein Diskurspartner ist nur dann glaubwürdig, wenn er bereit ist, die vier Diskursverpflichtungen und die acht impliziten Diskursversprechen in der Dialog- und Lebenspraxis zu erfüllen.
B c: Menschenwürde und Zukunftsverantwortung Dietrich Böhler entwickelt die Diskurspragmatik als normative Rahmenethik. Diese ist reichhaltiger konzipiert als eine reine Verfahrensethik, die materiale Normen bestenfalls andeutet. Vielmehr dringt Böhler über Apel hinaus zur Moralsubstanz der Diskursverpflichtungen und Diskursversprechen vor. Das Diskursversprechen der Menschenwürde bildet mit der Zukunftsverantwortung den substantiel-
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len Kern der Diskursmoral. 53 Die teleologische Verpflichtung, in realer Kommunikation nach Verhältnissen idealer Kommunikation zu streben, setzt die fortschreitende Verwirklichung des allgemeinen Rechts auf kommunikative Freiheit voraus, welches mit dem Recht auf Leben den Kern des Menschenwürdegrundsatzes bildet. In diesem Sinne gehört die Anerkennung der Menschenwürde aller konkreten und potentiellen Dialogpartner, d. h. aller Mitglieder des Diskursuniversums und damit die Anerkennung der Menschenwürde aller Anderen, unabhängig von Alter und Geschlecht, Hautfarbe und Nationalität, a priori zur Diskurspartnerrolle. Ich würde meiner Rolle als Diskurspartner widersprechen, d. h. einen selbstwidersprüchlichen Diskursbeitrag leisten, wenn ich die Menschenwürde eines Diskurspartners bezweifelte oder ihm seine Menschenwürde abspräche. Vielmehr ist die Unverletzlichkeit der Person des Diskurspartners, die Anerkennung seines Rechts auf ein freies Urteil einschließlich der Gewissensfreiheit eine unbedingte Voraussetzung, um miteinander nach Wahrheit und Richtigkeit zu suchen. 54 Damit beinhaltet das diskursethische Moralprinzip die Menschenwürde als unbestreitbare Moralsubstanz; sie wird von Böhler als drittes Diskursversprechen formuliert und im Skeptikertest als unbestreitbar erwiesen. Das ›Seinsollen‹ des Menschen mit universalen Geltungsansprüchen impliziert ein ›Seinsollen‹ der Menschheit. Böhlers Brückenschlag von der Diskurspragmatik zur Wertontologie von Hans Jonas wird an dieser zentralen Stelle besonders deutlich. Hans Jonas’ kategorischer Imperativ beruht auf einer metaphysischen Prämisse und »gebietet einfach, daß es Menschen gebe, mit der Betonung gleicherweise auf dem Daß und auf dem Was des Existierensollens. 55 Sein Gebot, »daß auch zukünftig eine Menschheit sei« 56, ist kühn, aber argumentativ unbestreitbar. Warum? Aus der wertethischen Per-
Daß die unbedingte Menschenwürde (DV3) neben der bedingen Moralstrategik (DV8) ohne weitere Differenzierung auf einer gedankenlogischen Etage der diskurspragmatischen Architektur verortet wird, sollte beim Weiterdenken des Ansatzes ebenso überprüft werden wie die fehlende explizite Erwähnung der Zukunftsverantwortung als unbedingtes, weil unbestreitbares Diskursversprechen, die allerdings in DV4, DV5 und DV7 impliziert ist (vgl. Böhler, Verbindlichkeit, S. 297 ff.). 54 Vgl. Böhler, Menschenwürdegrundsatz, S. 209. 55 Jonas, Verantwortung, S. 190 f. 56 Jonas, Verantwortung, S. 89. 53
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spektive von Hans Jonas formuliert, ist die Zukunft der Menschheit etwas so Wertvolles, daß wir es nicht nicht wollen können. Über diese wertethische Perspektive geht Jonas, genau betrachtet, selbst hinaus, indem er die Verantwortung für die Möglichkeit der Verantwortung, also dafür, daß es auch in Zukunft Verantwortung gebe, mit einer reflexiven Sinnkritik andeutet: Bedingung für eine sinnvolle Verwendung von Verantwortung ist die zukünftige Möglichkeit derselben; Sinnbedingung für einen widerspruchsfreien Anspruch auf Verantwortlichkeit ist die Bereitschaft, sich jetzt und künftig für diese Möglichkeit einzusetzen – dies verlangt zunächst den Einsatz dafür, daß menschliches Leben noch möglich bleibt. Ausdrücklich sinnkritisch, und zwar in Form einer transzendentalpragmatischen Reflexion auf Sinnbedingungen der Rede und eines Diskursbeitrags, denkt die Berliner Diskurspragmatik Böhlers: Durch Rückgang auf ›dich‹ und ›mich‹ als mögliche Argumentationspartner entwickelt sie eine Reflexion im Dialog auf den Diskurs. Böhler zeigt im Dialog mit einem Skeptiker, daß ich mich als Diskurspartner in einen Selbstwiderspruch verstricke, wenn ich die Bewahrung der Dialoggemeinschaft der Menschheit nicht als unbedingte Verpflichtung anerkennen würde. 57 Ich zöge damit in Zweifel, was ich als Voraussetzung für die Einlösung universaler Geltungsansprüche und insofern für die Wahrnehmung meiner Diskurspartnerrolle in Anspruch nehme, nämlich die Existenz der Menschheit, ohne die es keine unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft geben könnte. 58 Diese diskurspragmatische Dialogreflexion ist ein Beispiel für Böhlers reflexive Methode der Selbsteinholung. Im Sinne einer solchen Selbsteinholung bezeichnet Hans Jonas seinen Imperativ als »ein Prinzip der Verantwortung für die Erhaltung der eigenen Voraussetzung«. 59 Die daraus zu folgernde allgemeine Pflicht zur Zukunftsverantwortung kann mit dem Jonaschen Imperativ wie folgt formuliert werden: »Handle so, daß die Wirkungen Deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« 60 Dieser Imperativ, beständig nach der Permanenz echten menschlichen Lebens zu streben, beinhaltet selbst den Menschenwürdegrundsatz, kann doch echtes menschliches Leben expliziert werden 57 58 59 60
Vgl. Böhler, Verbindlichkeit, S. 450 f. Vgl. Böhler, Zukunftsverantwortung, S. 47. Jonas, Verantwortung, S. 215. Jonas, Verantwortung, S. 37.
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als ein Leben mit Anspruch auf Achtung der Menschenwürde. Dementsprechend ist Hans Jonas’ Imperativ ein auf der Zeitachse in die Zukunft führender Grundsatz, der auffordert, das Gebot der Menschenwürde immer und überall zu beachten. »Die Offenheit der Zukunft ist subjektiv eine Bedingung der Möglichkeit sittlichen Handelns.« 61 Es ist den Menschen aufgegeben dafür zu sorgen, daß auch zukünftig menschenwürdiges Leben ubiquitär möglich ist.
C: Conclusio Die Ergänzung, Erweiterung und Umwandlung der Transzendentalpragmatik zur reflexiven Diskurspragmatik durch Dietrich Böhler hat den transzendentalpragmatischen Ansatz und die konzeptionelle Architektur der Philosophie Apels keineswegs geschwächt, sondern bereichert. Böhler ist kein intellektueller Widersacher Apels, sondern sein Weiterdenker. Er ist Mitglied des diskursethischen Denkkollektives, ohne zu Karl-Otto Apel in einem intellektuellen Abhängigkeitsverhältnis zu stehen, das den »intrakollektiven Denkverkehr« oftmals charakterisiert. 62 Während Wolfgang Kuhlmann sich den Vorwurf Hösles einhandelt, mit seinem begründungstheoretischen Ansatz »den Begriff von Philosophie viel zu restriktiv« 63 zu fassen, versucht Böhler, den intrakollektiven Denkverkehr, insbesondere für wertethische Fragen, zu öffnen. Hösle betont: »Aus der reflexiven Letztbegründung folgt erstaunlich viel (…). Die Konsequenzen dieses Prinzips auszuloten, scheint mir fruchtbar und interessanter, als es stets zu umkreisen – auch wenn die Entfernung vom Prinzip wegen der zunehmenden Komplexität der Argumentation das Risiko von Fehlern erhöht. Aber mehr Angst vor Fehlern als vor dem Übersehen wichtiger WahrheiHösle, Verantwortung, S. 231. »Die allgemeine Struktur des Denkkollektivs bringt es mit sich, daß der intrakollektive Denkverkehr ipso sociologico facto – ohne Rücksicht auf den Inhalt und die logische Berechtigung – zur Bestärkung der Denkgebilde führt: Vertrauen zu den Eingeweihten, deren Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung, gedankliche Solidarität Gleichgestellter, die im Dienste derselben Idee stehen, sind gleichgerichtete soziale Kräfte, die eine gemeinsame besondere Stimmung schaffen und den Denkgebilden Solidität und Stilgemäßheit in immer stärkerem Maße verleihen« (Fleck, Entwicklung, S. 140). 63 Hösle, Verantwortung, S. 273. 61 62
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ten zu haben, scheint mir das Grundlaster der Philosophie unserer Zeit.« 64 Böhlers diskurspragmatische Suche nach Wahrheit ist ein offenes Projekt, keine Kuhlmannsche Baustelle, sondern ein ertragreicher Steinbruch, wie nicht zuletzt die neu zu Tage geförderten a priori unbestreitbaren Diskursversprechen zeigen. 65
C a: Regulative Idee der Idealen Kommunikationsgemeinschaft Im Steinbruch der Diskurspragmatik sind noch viele Steine zu klopfen und in Form zu bringen. Zahlreiche Theoriebausteine, wie z. B. die IKG, sind zwar behauen, aber non-finito. Karl-Otto Apel hat den Begriff der idealen Kommunikationsgemeinschaft lange missverständlich und doppelsinnig gebraucht. Zum einen als Geltungsbegriff im Sinne eines idealen, aber im Diskurs vorausgesetzten Kriteriums und zum anderen als normativ teleologischen Praxisbegriff, d. h. als Zielorientierung für die reale Kommunikation in der Welt – hin zu möglichst idealen Zuständen der Welt. Apel hat im Gegensatz zu Böhler nicht unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, daß eine Gültigkeitsidee nur als Maßstab angelegt werden, aber nicht verwirklicht werden kann. Apels mehrdeutige Rede von der idealen Kommunikationsgemeinschaft erscheint nicht nur manchen Pragmatikern, wie dem jüngst verstorbenen Albrecht Wellmer (1933–2018), als ein Ausdruck sinnloser Metaphysik und führt auch bei Vittorio Hösle zu einem Utopismusverdacht. 66 Apel sah sich deshalb kritischen Rückfragen ausgesetzt, welchen Status die IKG als regulative Idee habe. Ist sie eine kommunikative Sozialutopie, die nur in unserer Vorstellung existiert, aber nie sein wird? Oder wäre sie in einem hegelianisch inspirierten dialektischen Prozess am Ende aller Tage doch historisch realisierbar? »Wie kann aber etwas, das noch gar nicht verwirklicht ist, ja von dem wir nicht einmal wissen können, ob es je verwirklicht werden wird« das »Prinzip der Wahrheit über etwas sein, das ihr vorausgeht?« 67 Wenn die IKG zwar universallogisch denkbar oder gar denknotwendig ist, worin unterscheidet sie sich dann vom Nous, dem 64 65 66 67
Hösle, Verantwortung, S. 272. Vgl. Böhler, Positionen, S. 113. Vgl. Wellmer, Wahrheit, S. 152 f. Hösle, Verantwortung, S. 221.
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universalen Vernunftreich der Alten? 68 Ist die IKG etwa eine kommunikationsphilosophische Umdeutung dieser metaphysisch-ontologischen Sphäre? Ist Apels »ideale Kommunikationsgemeinschaft (…) gewissermaßen ein Surrogat für Gott« 69 – »entweder Gott oder das »transzendentale Sprachspiel« muß dabei stillschweigend vorausgesetzt werden«. 70 Kann man mit Wellmer »Apels Position als den Versuch bezeichnen, etwas einem solchen Gottesstandpunkt Analoges als regulative Idee in unsere Rechtfertigungspraktiken einzuschreiben«? 71 Apel hat diese interpretatorische Vermengung der regulativen Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft mit Blochs säkularer Utopie-Rede oder gar einer christlich-eschatologischen Heilsperspektive konsequent zurückgewiesen. So stellt Apel einen »argumentationsstrategischen Divergenzpunkt« zu Wellmer heraus: »M. E. kann bzw. darf eine Philosophie, die – im Sinne Kants – mit »regulativen Ideen« arbeitet, niemals in die Lage kommen, »das Absolute, das bei Adorno ›schwarz verhüllt‹ ist, theologisch gesprochen: das Reich Gottes ins Kontinuum der Geschichte zurückzuholen««. 72 Wie stellt sich die Diskurspragmatik zur Gottesfrage? Ist der Versuch, nach dem Gottesstandpunkt zu fragen, Ausdruck schlechter Metaphysik? Können diese Fragen mittels eines etsi deus non daretur und dem Verweis auf einen methodischen Atheismus ohne weiteres eingeklammert bzw. ausblendet werden? Welche Relevanz hat die »religiös-metaphysische Interpretation des Weltalls«, die Lawrence Kohlberg auf seiner von der Diskursethik en détail rezipierten Stufenleiter als siebte Stufe der Moralentwicklung verortet? 73 Offensichtlich begeht Kohlberg an dieser Stelle einen Kategorienfehler: Im Unterschied zu den vorhergehenden Stufen der Moralentwicklung liefert Kohlberg keine kriteriologische Orientierung für die moralische Urteilsfindung in Dilemmasituationen, sondern rekurriert auf subjektive Empfindungs- bzw. Erfahrungsqualitäten, die nicht intersubjektiv einholbar sind. »Der alte Nousbegriff leistet dasselbe wie die ideale Kommunikationsgemeinschaft« (Hösle, Verantwortung, S. 269). 69 Hösle, Verantwortung, S. 220. 70 Apel, Transformation, Bd. 2, S. 394. 71 Wellmer, Wahrheit, S. 152. 72 Apel, Auseinandersetzungen, S. 139, mit Zitaten: Wellmer, Diskursethik, S 93 f. 73 Hösle, Verantwortung, S. 212; vgl. Kohlberg, Moralentwicklung, S. 117–120, S. 220 f., S. 274 f. 68
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(Wie) kann der Mensch intersubjektiv die Frage nach dem Absoluten stellen? Ist gar »das Absolute seiner höchsten Bestimmung nach Intersubjektivität«? 74 Wenn die »intersubjektive Relation« nicht nur Mittel, sondern Selbstzweck ist, wenn »sie der höchste Punkt sein soll«, dann erfüllt sie sich in der Liebe: »In dieser durch intersubjektive Verhältnisse vermittelten Einheit mit sich selbst, die sich selbst zugleich als Resultat des Absoluten versteht, liegt die höchste Aufgabe des Menschen«. 75 Das Absolute kann mit Vittorio Hösle verstanden werden als »die Totalität der apriorischen Wahrheiten (…). Die höchste Bestimmung des Absoluten (ist) die Idee einer vernünftigen Intersubjektivität, deren Realisierung das Sittengesetz den endlichen Vernunftwesen unbedingt gebietet«. 76 Nur in der intersubjektiven Relation kann der Mensch aufgrund seiner »apriorischen Verbundenheit mit allen anderen Menschen« 77 seine Potentialität entfalten und zumal seine Moralität gewinnen. Bernadette Herrmann hat diesen Gedanken negativ gewendet und als Spitzensatz formuliert: »Wer den Dialog vermeidet, wer nicht nach dem besten Argument sucht, ist vor dem Bösen nicht gefeit«. 78 Kommunikation ist der menschliche Existenzmodus, Dialogizität ermöglicht Menschsein in höchster Potenz: »Individualität durch umfassende universale Kommunikation konstituiert geradezu die Person«. 79 In diesem ZusamHösle, Verantwortung, S. 218. Hösle, Verantwortung, S. 219; »Sie, nicht die bloße Erkenntnis des Absoluten stellt jenes Gott-ähnlich-Werden dar, in der die traditionelle, metaphysisch begründete Ethik zu Recht die höchste Aufgabe des Menschen, ja den letzten Sinn des Universums erblickt hat« (Hösle, Verantwortung, S. 219). 76 Hösle, Verantwortung, S. 230; »Die Verselbständigung der Subjektivität gegen die ideale Intersubjektivität ist aber das Böse« (Hösle, Verantwortung, S. 238). 77 Kleinfeld, Persona, S. 159. 78 Herrmann, Begleitdiskurs, S. 101. 79 Greshake, Kommunikationsidee, S. 203. Das Absolute als vollendete Intersubjektivität zu deuten, hat unüberhörbar »Anklänge an die christliche Trinitätslehre« (Hösle, Verantwortung, S. 269). Die Lehre von der göttlichen Triade ist ein wesentlicher Aspekt des christlichen Glaubens, wenn nicht gar der Glaubenskern. Gott hat sich nicht als Monade (gr. Monas, Einheit) offenbart. Gott ist keine Einheit, in der die Vielfalt getilgt wird, sondern die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Geist (vgl. Greshake, Theologie, S. 60). Gott offenbart sich in der Liebe (vgl. 1. Joh. 4.8). In dieser unendlichen Liebe sind die drei göttlichen Personen eins. »Wenn du die Liebe sieht, siehst du die Heiligste Dreifaltigkeit« (Augustinus, De Trinitate, VIII, 8, 12). Die Trinität Gottes ist ein fortwährendes Liebesgeschehen der gegenseitigen Durchdringung (Perichorese) von Vater, Sohn und Geist. Diese Durchdringung der Liebe vollzieht sich dialogisch, in communicatio. Gott ist Gemeinschaft, Beziehung, Kommunion. 74 75
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menhang benennt Franz Furger (1935–1997) »Kommunikationsgemeinschaft und mitmenschliche Transsubjektivität (… als) transzendentale Vorgaben für das Menschsein überhaupt«. 80 Metaphysisch gedeutet steht der Mensch als Diskurspartner in kommunialer Beziehung zu (allen) Anderen und tritt durch das Streben nach vollendeter Diskursgegenseitigkeit in den Bund ein, den Gott mit den Menschen geschlossen hat.
C b: Schemainterpretieren im Dialog Handeln ist Antwort auf Situationen. Die Einschätzung von Situationen vollzieht sich im Dialog, der faktisch durchgeführt oder gedanklich auf bereits Gelesenes, Gehörtes bzw. Erfahrenes rekurriert. Auch im Reflexionsakt einer scheinbar monologischen Lehnstuhlsituation des einsamen Nachdenkens über eine Thematik nehme ich Bezug auf abwesende Diskurspartner, lese von ihnen, höre sie innerlich zu mir sprechen oder vertrete sie advokatorisch, indem ich mich frage, welches Argument der Abwesende wohl zu dieser Problemstellung vorbringen würde. 81 Dieses Referieren auf andere kennzeichnet jeden Dialog. Das Herstellen von problemlösenden Referenzen ist ein Vorgang, der sowohl im Dialog der Diskurspartner als auch im Bewusstsein von Subjekt und Co-Subjekt stattfinden. Hans Lenk (* 1935) erkennt in diesem Referenzprozess ein interpretatorisches Verfahren. Bereits 1975 stimmt Lenk mit Apel überein, »daß eine Interpretationsgemeinschaft unverzichtbar sei für die Institution Wissenschaft, die auf einer gemeinsamen Sprache der Wissenschaftler und einer gemeinsamen Kultur beruht. Eine Interpretationsgemeinschaft setzt eine Interaktionsgemeinschaft als »transzendental-hermeneutische
Jeder Mensch ist als Ebenbild Gottes in diese kommuniale Liebesgemeinschaft berufen. 80 Furger, Kapital, S. 128. Josiah Royce hebt die Bedeutung der kommunikativen Interpretationsgemeinschaft für das soziale Miteinander der Menschen und die christliche Spiritualität hervor: »Interpretation, however, is what we seek in all our social and spiritual relations; and without some process of interpretation, we obtain no fulness of life« (Royce, Christianity, S. 284). 81 »Reflection, as Peirce (…) pointed out, involves what is, in its essence, an interior conversation, in which one discovers one’s own mind through a process of inference analogous to the very modes of inference which guide us in a social effort to interpret our neighbors’ minds« (Royce, Christianity, S. 285).
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Bedingungen der Möglichkeit und Gerechtigkeit aller objektiv gerichteten … Erkenntnis« voraus«. 82 Interpretation, so Lenk, sei »stets und unablöslich an Sozialität gebunden (…): Man kann nicht rein privat in kontrollierbarer Weise, in operational eindeutiger Weise interpretieren, sondern Interpretieren ist immer an die grundsätzliche Existenz und auch an die Einflussfähigkeit und -möglichkeit einer entsprechenden Interpretationsgemeinschaft gebunden«. 83 Aufgrund der »Durchdringung von Sprache und Interpretation« 84, wie Lenk mit Ludwig Wittgenstein (1889–1951) betont, ist die Interpretationsgemeinschaft immer auch eine Dialoggemeinschaft mit all ihren oben pragmatisch rekonstruierten Dialogverpflichtungen und Dialogversprechen. Welche Relevanz hat aber nun das interpretationistische Konzept Hans Lenks für die Weiterentwicklung der Diskurspragmatik? Wie könnten die Ergebnisse des Lenkschen SchematisierungsInterpretierens diskurspragmatisch eingeholt werden? Lenk betont: »Das menschliche Wesen erkennt, denkt und handelt nur, indem es schematisiert und strukturiert. Es nimmt nur mittels bzw. in Strukturen wahr, denkt in und durch Schemata, handelt in relativ geordneter Form, sei es unter Zielen, Normen, Routinen, sei es unter Triebregungen«. 85 Auf seiner Stufenleiter der Interpretationsschemata (IS) unterscheidet Lenk die Ebenen der habituellen (IS1), genetischen (IS2), kulturellen (IS3), sozialen (IS3a), sprachlich normierten (IS3b), anwendenden (IS4), rechtfertigenden (IS5) und methodologischen (IS6) Schematisierung. 86 Während auf der Ebene IS1 die biologisch angelegten primären Interpretationsschemas »vor-technisch – lebenspraktisch« unveränderlich seien, steigt die Variabilität der Interpretationsalternativen auf der Stufenleiter ebenso an, wie die Sprachverwobenheit des Schemainterpretierens. Lenk unterscheidet vorsprachliche (IS1–IS3a) und sprachliche (IS3b–IS6) Ebenen, wobei zu klären wäre, wie eine kulturelle (IS3) und soziale Musterinterpretation (IS3a) ohne Sprache gelingen könnte, zumal Lenk Sprache durchaus in einem weiten Sinne versteht: »Es kann sich auch um Kunstsprachen handeln, um Zei-
82 83 84 85 86
Lenk, Philosophie, S. 57, mit Zitat Apel, Hermeneutik, S. 126. Lenk, Schemas, S. 421. Lenk, Schemas, S. 420. Lenk, Schemas, S. 408. Vgl. Lenk, Schemas, S. 86–94.
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chenbildungen, Gesten, Symbole, die irgendeine Darstellung haben oder gestalten, spezielle Notationen wie Notensysteme, mathematische Formeln usw.« 87 Die mehr oder weniger sprachlich erworbenen Interpretationsschemata imprägnieren das Verhalten des Menschen, prägen seine Argumente und (Diskurs-)Handlungen. Zweifelsohne ist die Ebene IS5 des rechtfertigenden, begründenden Schemainterpretierens für den diskurspragmatischen Ansatz von besonderer Relevanz. Auf dieser Interpretationsebene werden »Rechtfertigungen und Begründungen für Reaktionsweisen, Verhaltensweisen, Handlungsweisen gesucht und gegeben: Es wird explizit argumentativ operiert, ein erklärend-theoretischer oder urteilender Zusammenhang erstellt«. 88 Lenk betont die Bedeutung der argumentativen Rechtfertigung sowohl für wissenschaftliche als auch für alltägliche Fragestellungen. »Unser Leben kann ja nicht im bloßen chaotischen, zusammenhanglosen oder erratisch-singulären Reagieren vonstattengehen. Wir brauchen übergreifende Zusammenhänge, und wir müssen diese bilden; und dazu ist es nötig, in der Lage zu sein zu rechtfertigen (und) zu begründen«. 89 In derartigen Rechtfertigungsdiskursen begründen wir, so Lenk, normative Regeln, Zielsetzungen und Handlungen. Als besonderes Charakteristikum von Rechtfertigungsinterpretationen nennt Lenk das Stellen und Beantworten von Warum-Fragen: »Hier ist das Argumentieren verortet, das im menschlichen Leben eine so große Rolle spielt«. 90 Unter welchen Voraussetzungen diese argumentativen Rechtfertigungsdiskurse gelingen können und welche Diskursverpflichtungen und Diskursversprechen sie beinhalten, ist das spezifische erkenntnisleitende Interesse der Diskurspragmatik. Auf der methodenkritischen sechsten Stufe (IS 6) wäre die Anschlussfähigkeit von Lenks Schematisierungs-Interpretieren und Böhlers Diskurspragmatik zu untersuchen. In welchem methodischen Verhältnis steht die Stufenleiter der Interpretationsschemata zur transzendentalhermeneutischen Pragmatik und zu den diskurspragmatischen Reflexionsebenen, Diskursverpflichtungen und Versprechen?
87 88 89 90
Lenk, Schemas, S. 89. Lenk, Schemas, S. 90. Lenk, Schemas, S. 90. Lenk, Schemas, S. 91.
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C c: Sinnkritische Paradigmenprüfung Die methodologische Ebene IS 6 ist auch der Ort sinnkritischer Paradigmenprüfung. Die paradigmatische Bedeutung der Intersubjektivität wurde von Apel transzendentalpragmatisch erwiesen und von Böhler diskurspragmatisch fruchtbar gemacht. (Wie) können auch die beiden vorausgehenden Paradigmen der Ontologie und Bewusstseinsphilosophie sinnkritisch eingeholt und rehabilitiert werden? Die unterschiedlichen philosophischen Basiskonzeptionen haben diverse Denkkollektive und Denkstile herausgebildet: »Je größer die Differenz zweier Denkstile, umso geringer der Gedankenverkehr (…). Die Prinzipien eines fremden Kollektivs empfindet man – wenn man sie überhaupt bemerkt – als willkürlich, ihre eventuelle Legitimierung als petitio principii«. 91 Philosophiehistorisch folgt das Paradigma der Intersubjektivität auf die beiden vorhergehenden. Dieser Paradigmenwechsel mag im Sinne Apels nicht historisch kontingent, sondern als Aufhebung des zweiten in das dritte Paradigma methodisch notwendig und damit rational einsehbar sein. Wie aber lässt sich die Frage nach dem Sein und dem Subjekt aus diskurspragmatischer Sicht stellen und beantworten? Wie kann der linguistic turn, der das dritte Paradigma ermöglicht hat, gelingen, »ohne zu verspielen, was die traditionelle Philosophie des Subjekts (und des Seins, Einschub v. Verf.) geleistet hat und das in einer Philosophie der Intersubjektivität bewahrt, keineswegs geleugnet gehört«? 92 Insbesondere dank der diskurspragmatischen Rekonstruktion des Oeuvres von Hans Jonas erfahren die beiden ersten Paradigmen der Grundlagenphilosophie in Böhlers Denken neue Aufmerksamkeit. Jonas entwickelt für seine Ethik der Zukunftsverantwortung einen biologisch-ontologischen Rahmen. Seine philosophische Biologie ist für das Prinzip Verantwortung grundlegend. Ausgangspunkt seines dreistufigen, von den beiden ersten Paradigmen der Philosophie stark beeinflussten Denkweges ist die Gnosis. Diese spätantike philosophische Strömung führt denkgeschichtlich zum »Gipfelpunkt Fleck, Entwicklung, S. 143. Hösle, Kritik, S. 289. Hösle betont in diesem Zusammenhang: »Sprache ist Sprache nur, wenn sie von einer bedeutungsintendierenden Subjektivität beseelt wird« (Hösle, Kritik, S. 74) und zitiert den Sprachakttheoretiker John R. Searle (* 1932): »The words on a paper really do mean and refer, and thus have intentionality but their intentionality is derived from mine when I intentionally wrote them down« (Searle, Mind, S. 20).
91 92
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(…) einer Entzweiung von Mensch und Welt, Natur und Geist, Welt und Gott« 93, deren Leib- und Weltfeindlichkeit in der abendländischen Ideengeschichte bis heute nachwirkt. Jonas verdeutlicht wie der Dualismus die irdische Wirklichkeit entwertet, damit zur Weltflucht verführt und dem modernen Nihilismus und zeitgenössischem Fatalismus Tür und Tor öffnet. 94 Hans Jonas wurde durch das Basiskonzept der deutschen Bewußtseinsphilosophie geprägt, »die im Festhalten an der kartesianischen Trennung von Geist und Natur an einer eigentümlichen Weltlosigkeit litt«. 95 Das reflexiv-denkende Subjekt ist von der Dingwelt durch eine Kluft getrennt. Jonas ringt angesichts dieser SubjektObjekt-Spaltung um eine »Neubestimmung des Verhältnisses von Materie und Geist« 96, um den Dualismus überwinden zu können, ohne einem undifferenzierten Monismus zu verfallen. In einem zweiten Denkschritt bedient er sich dafür naturwissenschaftlicher Methoden und erkennt »im Organismus, dessen Seinsweise wir mit allem Lebendigen teilen« 97, den ontologischen Verständnisschlüssel für seine Rahmenkonzeption. Die spezifische Seinsweise des Organischen ist der Stoffwechsel. Ohne Stoffwechsel kein Organismus, kein Leben. Durch den Stoffwechsel ist alles Sein miteinander verbunden. »Leben ist nur und solange, wie es im Austausch mit seiner Umwelt steht«. 98 Der Stoffwechsel verbindet das Innere eines jeden Lebendigen mit seiner Außenwelt. In welchem Verhältnis stehen nun die Lebewesen zueinander? Mit Hilfe des Stufungskriteriums der Freiheit, die Jonas bereits im Stoffwechsel an sich zu erkennen vermag, verdeutlicht er eine ontologische Aufstufung vom Einzeller bis zum Menschen. Im Menschen »wird das Wagnis der Freiheit, das die Natur mit dem Leben und seiner Hinfälligkeit einging, zur verantwortlichen Sache der Subjekte selbst«. 99 Die ontologisch aufgestufte Freiheit eröffnet dem Menschen einen Raum ethisch reflektierter Sittlichkeit. Ein Höchstmaß an Freiheit bedeutet zugleich größte Verantwortung. Worin besteht Verantwortung in der biologisch-ontologischen 93 94 95 96 97 98 99
Jonas, Wissenschaft, S. 286. Bongardt/Lenzig/Müller, Kommentar Bd. III/1, S. XXII. Jonas, Wissenschaft, S. 287. Bongardt/Lenzig/Müller, Kommentar, S. XXIII. Jonas, Wissenschaft, S. 288. Bongardt/Lenzig/Müller, Kommentar, S. XXV. Jonas, Wissenschaft, S. 293.
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Konzeption von Hans Jonas? Zunächst und vor allem darin, das Leben zu bejahen. Dieser Lebenswille ist bereits im Stoffwechsel angelegt. Nur der Mensch ist dank seiner Freiheit und Geisteskraft befähigt, die Voraussetzungen für das Leben zu schaffen oder aber zu vernichten. Weil er dazu fähig ist, trägt er auch die Verantwortung für die Zukunft des Lebens auf unserem Planeten. 100 Diese ontologischen (1. Paradigma) und subjektphilosophischen (2. Paradigma) Überlegungen führen Jonas in einem dritten Denkschritt zu seinem oben diskurspragmatisch rekonstruierten Imperativ der Zukunftsverantwortung. Jonas verharrt jedoch, wie Dietrich Böhler verdeutlicht, auf der Motivationsebene der Verantwortung, ohne den unbedingten Verpflichtungsgehalt des Imperativs erweisen zu können. 101 Die Frage ›Was gilt?‹ bleibt damit von Jonas letztlich unbeantwortet. Wie können Hans Jonas’ Intuitionen ›Das Leben zu bejahen‹ und ›für die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden einzutreten‹ als Verantwortungspflichten zweifelsfrei begründet werden? Dazu bedarf es einer aktuellen Reflexion auf die Seins- und Geltungsbedingungen im Dialog, und zwar mit dem Skeptiker im Rahmen des dritten Paradigmas der Intersubjektivität. Der logische und ontologische Ort, um die Geltung von Verpflichtungen zu prüfen, ist der argumentative Dialog, »weil hier Seinsboden und Geltungsboden eines sind. Er ist zugleich der anthropologisch reichste Ort, der sich denken lässt, weil hier der Plural leibhaftiger, endlicher und vergesellschafteter Kommunikationsteilnehmer vorausgesetzt ist«. 102 Nur im konkreten Diskurs der schemainterpretierenden Erkenntnissubjekte kann die Seinsdeutung gelingen und können materiale ethische Konsequenzen aus dem ontologischen Befund gezogen werden. Die Rezeption des Oeuvres von Hans Jonas durch Dietrich Böhler zeigt die Fruchtbarkeit einer diskurspragmatischen Rekonstruktion der Paradigmen des Seins und des Subjekts. Diese methodenkri»Wenn der Mensch diese Verantwortung nicht ergreift, kommt es zu einer unvermuteten Tragik, weil die Verleihung des Geistes zu einer großen Zerstörung führen könnte« (Lehmann, Zukunft, S. 173). Der Geist adelt mit seinen Wahrnehmungs-, Erkenntnis-, Entscheidungs-, und Handlungsmöglichkeiten den Menschen und droht ihm zugleich zum Verhängnis zu werden, falls er seiner Verantwortung nicht gerecht wird (vgl. Hans Jonas, zitiert in: Lehmann, Zukunft, S. 173). 101 Vgl. Böhler, Einführung, Bd. I/1, S. LX. 102 Böhler, Lebensverantwortung, S. 114. 100
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tische Reflexion ermöglicht eine dialektische Integration und Zuordnung der Paradigmen, die in den drei von Böhler sogenannten Reflexionsebenen bereits angelegt ist: Auf der ersten Ebene vergewissert sich das leibhaftige Ich des Seinsbodens von Existenz und Lebenswelt. Aus philosophisch-theoretischer Perspektive stellt sich hier die Frage nach der Natur als eine dem Bewusstsein und der Intrasubjektivität vorausgehende Realität. 103 Auf der zweiten Ebene reflektiert das Ich auf die genetisch codierten erfahrungsgesättigten (vor-)sprachlichen Bewusstseinsakte. Beispielhaft wären die Fragen zu untersuchen, ob das intrasubjektive innere Vorstellen und Schemainterpretieren bildhaft oder satzartig verläuft. 104 Wie entstehen mentale Repräsentationen und propositionale Einstellungen wie Hoffnungen, Wünsche und Überzeugungen? Sind diese durch das Sein instanziiert? Gibt es einen vorkommunikativen intrasubjektiven Resonanzraum des Bewusstseins? 105 Auf der dritten Ebene der Intersubjektivität tritt Ich1 in ein Dialogverhältnis zu Ich2 und erkennt darin die Voraussetzung, um über Lebenswelt (Ebene 1) und Bewusstsein (Ebene 2) überhaupt nachdenken und reden zu können. Ohne Intersubjektivität gäbe es kein Verständnis von Bewusstsein und kein Handeln in der Lebenswelt. Intersubjektivität ermöglicht Interpretation und Interaktion: »Der Mensch als das interpretierende, das schemaanwendende Wesen ist notwendigerweise auch das intervenierende, das in die Welt hineingreifende, experimentell handelnd vorgehende wie auch das interagierende, das sozialinteragierende Wesen«. 106 Soziale Interaktion ist per se intersubjektiv. Nur als kommunikatives subjektiv-intersubjektives Wesen, das als Subjekt die Möglichkeit der Reflexion und als Sprecher/Diskursteilnehmer die sprachlich/argumentative Kompetenz des Reflexionsvollzugs besitzt, kann der Mensch interpretieren, intervenieren und in der Interaktion Verantwortung übernehmen. 107 Vgl. Hösle, Verantwortung, S. 207. Vgl. Lenk, Handlungsbindung, S. 106–128. 105 Vgl. Lenk, Handlungsbindung, S. 129–256. 106 Lenk, Handlungsbindung, S. 299. 107 »Der Mensch als das ›handelnde Wesen‹ ist das verantwortliche Wesen – jenes, das in vielfacher Weise Verantwortung übernehmen kann und muß bzw. zur Verantwortung gezogen wird. Handeln ist als voll entwickeltes, insbesondere als sozial eingebettetes, als intentionales Handeln stets verantwortliches Handeln. Dies gilt übrigens auch für Kommunikationshandlungen, Sprechhandlungen – somit auch für das Behaupten. Jede Behauptung, für die man einsteht, ist per se mit einer gewissen Verantwortungsübernahme verbunden: Man verpflichtet sich, sich auch einer Kontrolle 103 104
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ABC der Diskursethik
Den lexikalischen Vorrang des Paradigmas der Intersubjektivität aufzuzeigen und die Voraussetzungen von Gültigkeit und Verbindlichkeit sokratisch aufzudecken und für die Dialogpraxis des sich im Diskurs Verantworten fruchtbar zu machen, ist das Proprium der Berliner Diskurspragmatik.
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oder Überprüfung der entsprechenden Aussage zu stellen, einen Beweis oder hinreichenden Grund bzw. eine Überprüfung oder auch nur eine Verteidigung zu liefern. Authentisches soziales Handeln ist wie jedes kontrollierte Handeln verantwortliches Handeln. Man ist verantwortlich gegenüber den direkt oder indirekt von den eigenen Handlungen Betroffenen, gegenüber der Würde der eigenen Person oder der Idee der Menschheit in einem selbst (etwa beim moralischen Handeln), gegenüber der ›Gesellschaft‹ oder einer ihrer Institutionen (wie dem Staat oder einer Berufsvereinigung) oder gar vor einer fiktiv-konstruierten oder realen, nichtsdestoweniger allgemeinverbindlichen moralischen Instanz wie etwa dem Kantischen moralischen Gesetz, der Idee der Moralität oder einem moralischen göttlichen Wesen. Der Mensch ist das einzige (moralisch) verantwortliche Wesen« (Lenk, Verantwortung, S. 460).
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Thomas Rusche Böhler, D. (Einführung): Einführung in die Kritische Gesamtausgabe. In: Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas, Bd. I/1, Organismus und Freiheit, hg. v. Gronke, H., Freiburg, Berlin u. a. 2010, S. XVII–LXXIX. Böhler, D. (Lebensverantwortung): Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. In: Böhler, D./Brune, J. (Hg.): Orientierung und Verantwortung, Würzburg 2004, S. 97–159. Böhler, D. (Menschenwürdegrundsatz): Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung. In: Apel, K.O./Kettner, M. (Hg.): Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt/M. 1982, S. 201–231. Böhler, D. (Positionen): Positionen der Diskurspragmatik. In: Becker, J. O./ Preußger, F./Rusche, T. (Hg.): Dialog, Reflexion, Verantwortung. Zur Diskussion der Diskurspragmatik, Würzburg 2013, S. 107–134. Böhler, D. (Pragmatik): Rekonstruktive Pragmatik, Frankfurt/M. 1985. Böhler, D. (Verbindlichkeit): Verbindlichkeit aus dem Diskurs, Freiburg, München 2013. Böhler, D. (Zukunftsverantwortung): Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung. In: Böhler, D./Stitzel, M. u. a. (Hg.): Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft, EWD Bd. 3, Münster 2000, S. 34–69. Bongardt, M./ Lenzig, U./Müller, W. E. (Kommentar): Einleitender Kommentar. In: Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas, Bd. III/1, Metaphysische und religionsphilosophische Studien, hg. v. Bongardt, M./Lenzig, U./ Müller, E., Freiburg, Berlin u. a. 2014, S. XV-LXXI. Fleck, L. (Denkstile): Denkstile und Tatsachen, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2014. Fleck, L. (Entwicklung): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 11. Aufl., Frankfurt/M. 2017. Furger, F. (Kapital): Moral oder Kapital, Zürich 1992. Greshake, G. (Kommunikationsidee): Der Ursprung der Kommunikationsidee. In: Hamberger, E./Luger, K. (Hg.): Transdisziplinäre Kommunikation, Wien 2008, S. 195–215. Greshake, G. (Theologie): Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, 4. Aufl., Freiburg i. Breisgau 2001. Habermas, J. (Theorie): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt/M. 1981. Herrmann, B. (Begleitdiskurs): Das Problem des Bösen und der Begleitdiskurs. In: Beckers, J. O./Preußger, F./Rusche, T. (Hg.): Dialog, Reflexion, Verantwortung, Würzburg 2013, S. 99– 106. Hösle, V. (Geschichte): Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, München 2013. Hösle, V. (Kritik): Kritik der verstehenden Vernunft, München 2018. Hösle, V. (Verantwortung): Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, 3. Aufl., München 1997. Jonas, H. (Verantwortung): Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1979. Jonas, H. (Wissenschaft): Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen 1987. Kleinfeld, A. (Persona): Persona Oeconomica, Heidelberg 1998.
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III. Mitverantwortung für das Leben und die Menschenwürde. Im Dialog mit Hans Jonas und Karl-Otto Apel
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1. Ehrfurcht vor dem Heiligen. Zur Aktualität des Prinzips Verantwortung Wolfgang Huber
Dietrich Böhler in dankbarer Verbundenheit zur Vollendung des 75. Lebensjahrs gewidmet 1
1.
Vierzig Jahre »Das Prinzip Verantwortung«
Als ich im Jahr 1980 den damaligen Präsidenten der Universität Marburg, den Physiker Walter Kröll, aufsuchte, wickelte er das dienstliche Gespräch, das uns zusammenführte, bemerkenswert zügig ab, um mich anschließend in ein Gespräch über das »Prinzip Verantwortung« von Hans Jonas zu verwickeln. 2 Darin zeigte sich bereits eine bemerkenswerte Qualität des Buchs, um das es ging. Unmittelbar nach seinem Erscheinen in seiner ursprünglichen, nämlich deutschen Fassung vor inzwischen bald vier Jahrzehnten übersprang es die Grenzen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen ebenso wie die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik. Zwei Jahre nach diesem Gespräch hielt ich in Marburg einen öffentlichen Vortrag über das Thema »Sozialethik als Verantwortungsethik« und entwarf meine eigene Konzeption im Dialog mit dem Soziologen Max Weber, dem Theologen Dietrich Bonhoeffer und dem Philosophen Hans Jonas. 3 Zehn Jahre später fand in Chicago eine zweiteilige Konferenz über »Realism and Responsibility in Contemporary Ethics« statt, zu der aus Deutschland Karl-Otto Apel und ich eingeladen waren. Sie bot mir Gelegenheit, meine Aufnahme der
Vortrag in der Katholischen Akademie zu Berlin am 24. November 2017. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979. 3 Wolfgang Huber, Sozialethik als Verantwortungsethik (1982), in: ders., Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung, München 1990, 135–157. 1 2
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Wolfgang Huber
Gedanken von Hans Jonas weiter zu präzisieren. 4 Zwei Jahre zuvor war ich bei einem Podium in der Universität Kiel über »Verantwortungsprinzip im demokratischen Rechtsstaat – Gentechnologie am Menschen« Hans und Lore Jonas persönlich begegnet. 5 Diese Hinweise sollen verdeutlichen, warum ich die Initiative zur Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas mit großer Begeisterung begrüßt und begleitet habe. Mit besonderer Spannung habe ich die Neuausgabe des Prinzip Verantwortung in dieser Edition erwartet. Nun wirkt mein langjähriges Arbeitsexemplar dieses Werks mit seinen 425 Seiten nahezu unscheinbar neben den großformatigen zwei Bänden von insgesamt 1591 Seiten, die diesem Titel in der Werkausgabe gewidmet sind. 6 Mein Respekt für die Kritische Gesamtausgabe als solche verbindet sich nun mit der Bewunderung für die Materialfülle, die Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann durch diese Edition zugänglich gemacht und bewahrt haben. Dem treten die Forschungsbeiträge zur Seite, mit denen Dietrich Böhler in langjähriger Arbeit die Verantwortungsethik von Hans Jonas erschlossen und insbesondere zu Karl-Otto Apels Diskurspragmatik ins Verhältnis gesetzt hat. 7 Die neue Edition erschließt die lange Vorgeschichte des Verantwortungs-Buchs von Jonas in einer ebenso erhellenden Weise wie die Tatsache, daß Hans Jonas sich bis zu seinem Tod im Jahr 1993 mit dem Projekt der Verantwortungsethik beschäftigte. Man kann also im wahrsten Sinn des Wortes von einem Jahrzehnte umspannenden work in progress sprechen. Es ist hier nicht möglich, die werkgeschichtlichen Einsichten auszuschöpfen, die sich mit dieser Edition eröffnen. Vielmehr muss ich mich in den folgenden Überlegungen Wolfgang Huber, Eine Ethik der Verantwortung (1992), in: ders., Von der Freiheit. Perspektiven für eine solidarische Welt, München 2012, 73–96. 5 ›Verantwortungsprinzip im demokratischen Rechtsstaat – Gentechnologie am Menschen?‹ Kieler Podium mit Karl-Otto Apel, Björn Engholm, Wolfgang Huber, Hans Küng, Reinhard Löw, Reinhard Merkel und Wilfried Röhrich, 1990, in: Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Zweiter Teilband: Tragweite und Aktualität einer Zukunftsethik, hg. von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann, Freiburg i. Br. 2017, 389–403. 6 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung, hg. von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann, Freiburg i. Br. 2015; Zweiter Teilband (Anm. 5). 7 Vgl. insbesondere Dietrich Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994; ders., Zukunftsverantwortung in globaler Perspektive. Zur Aktualität von Hans Jonas und der Diskursethik, Bad Homburg 2009. 4
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Ehrfurcht vor dem Heiligen
zur Aktualität der Verantwortungsethik von Hans Jonas zu erheblichen Teilen auf den Schlüsseltext Das Prinzip Verantwortung selbst konzentrieren; doch auch so wird erkennbar werden, in welcher Weise die zusätzlichen Materialien und die Verbindung zu anderen Bänden der Werkausgabe dem Verstehen des Hauptwerks von Hans Jonas zu Gute kommen.
2.
Verantwortung der Menschheit für ihre eigene Zukunft
Ich will zunächst die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß Hans Jonas dieses Buch nach mehr als vier Jahrzehnten, die er außerhalb des deutschen Sprachbereichs lebte, in der Mitte seines achten Lebensjahrzehnts auf Deutsch schrieb. Die Art und Weise, in der er im Vorwort diesen Umstand ausdrücklich anspricht, ist auf eine Weise unpathetisch, über die man nur staunen kann. Welch ein Geschenk, daß ein Mensch, der um seiner Herkunft und politischen Überzeugung willen Hitler-Deutschland verlassen musste, sein wichtigstes Buch in der Sprache seiner Herkunft schrieb, nach langen Jahren des philosophischen Lehrens und Publizierens auf Englisch. Er sagt nicht, er schreibe es auf Deutsch, weil es sein wichtigstes Buch sei, oder er habe sich überwunden, diese Sprache zu wählen, trotz allem, was ihm, seiner Familie und dem jüdischen Volk durch das verbrecherische HitlerRegime angetan wurde, mündend in den »großen Kummer seines Lebens«, die sich nie schließende Wunde, die der zunächst auf den Tag der Kapitulation, den 8. Mai 1945 datierte Tod seiner Mutter für ihn bedeutete. 8 Nein, er schreibt, die Wahl der Sprache sei nur seinem vorgerückten Alter geschuldet, denn er brauche immer noch zwei- bis dreimal so lang, wenn er auf Englisch, in der später erlernten Sprache, schreibe. Aber der Leser solle sich klar machen, daß sein Umgang mit der deutschen Sprache auf dem Stand von 1933 stehen geblieben sei; ein aufmerksamer Leser des Manuskripts habe das Manuskript deshalb als »altfränkisch« bezeichnet und ihm geraten, er solle es doch überarbeiten und modernisieren lassen. 9
8 Hans Jonas, Erinnerungen, Frankfurt a. M. 2003, 139. Jürgen Nielsen-Sikora, Hans Jonas. Für Freiheit und Verantwortung, Darmstadt 2017, 24, gibt 1942 als Todesjahr von Rosa Jonas, geb. Horowitz an und beruft sich dafür auf eine im Internet zugängliche Stammtafel. Nähere Aufklärungen über die Zeitdifferenz gibt er nicht. 9 Jonas (Anm. 6), 17 f.
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Wolfgang Huber
Wie in einem Prisma lässt sich in diesen Sätzen die Haltung von Hans Jonas erkennen. Scheinbar belanglos klingen sie; und doch verbindet sich in ihnen auf schier unglaubliche Weise äußerste Bescheidenheit und Selbstzurücknahme mit der Zuwendung zu der wichtigsten Frage, die der Autor in dieser Geschichtszeit überhaupt erkennen kann: der Frage nach der der Menschheit zufallenden Verantwortung für ihre eigene Zukunft. Da das Buch auf Deutsch geschrieben und in dieser Sprache zuerst veröffentlicht wurde, entfaltete es zunächst im deutschen Sprachraum eine weit größere Wirkung als in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo Hans Jonas lebte und wirkte. 10 Es ist jedoch nicht nur ein verengter, durch das Phänomen der »German Angst« bestimmter Blick, der zu der Annahme führt, daß Amerikaner diese verantwortungsethische Sicht auf die technologische Entwicklung schon am Ende der siebziger Jahre, also vor inzwischen vier Jahrzehnten, mindestens so dringend gebraucht hätten wie Deutsche beziehungsweise Europäer. Auch wenn Hans Jonas stets gegen den Strom schwamm und philosophisch immer ein Außenseiter blieb, lässt sich nicht leicht ein philosophisches Buch aus den Nachkriegsjahrzehnten nennen, das eine so weite Wirkung entfaltet hätte wie Das Prinzip Verantwortung. Es erreichte diese Wirkung, weil es die Schallmauer eines philosophischen Schweigens über die drängendsten Fragen der Zeit durchbrach. Seine wichtigste politische Wirkung bestand ohne Zweifel darin, daß die von Jonas vorgeschlagene »Heuristik der Furcht« in Gestalt des »precautionary principle« zu einem festen Bestandteil der internationalen Umweltethik, aber auch der Umweltpolitik und des Umweltrechts wurde. 11 Im Zusammenhang mit der Nuklearkatastrophe von Fukushima vom 11. März 2011 wurde zu Recht darauf hingewiesen, daß Hans Jonas als einziger Philosoph frühzeitig auf die Bedeutung von Risiken hingewiesen hatte, denen man zwar eine geringe Wahrscheinlichkeit zuschreibt, die aber, wenn sie eintreten, mit einem ungeheuren Gefahrenpotential verbunden sind. 12 Die Antwort von Hans Jonas bestand in der Forderung, daß Die amerikanische, von ihm selbst übersetzte Ausgabe erschien erst fünf Jahre nach der deutschen Erstausgabe: Hans Jonas, The Imperative of Responsibility. In Search of an Ethics for the Technological Age, Chicago 1984. 11 Grundlegend ist die Aufnahme des »precautionary approach« in die »Erklärung über Umwelt und Entwicklung« (Agenda 21) der UN-Konferenz von Rio de Janeiro 1992, Prinzip 15. 12 Vgl. Wolfgang Huber, After Fukushima. The Precautionary Principle Revisited, in: 10
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Ehrfurcht vor dem Heiligen
im Blick auf solche Konstellationen der schlechten Prognose ein eindeutiger Vorrang vor der guten zuerkannt werden müsse. Die Gründe, die Hans Jonas für eine Heuristik der Furcht und für die Orientierung am Vorsichtsprinzip geltend gemacht hat, haben seit der Veröffentlichung seines Buchs an Bedeutung nicht ab-, sondern zugenommen. Als Ausgangspunkt für diese Orientierung formulierte Jonas den kategorischen Imperativ, so zu handeln, daß die Wirkungen dieses Handelns mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde vereinbar sind. 13 Wenn dieser kategorische Imperativ – im Unterschied zu demjenigen Immanuel Kants – sich nicht nur auf die Maximen, sondern auf die Wirkungen menschlichen Handelns bezieht, rückt die Einsicht ins Zentrum, daß die Verantwortung des Menschen koextensiv ist mit der Reichweite seines Handelns.
3.
Philosophie und Theologie
War der erste Blick auf Hans Jonas’ Hauptwerk von der beeindrukkenden Verbindung zwischen Selbstzurücknahme und Mut zur Erkenntnis bestimmt, so gilt der zweite Blick – bei einem Theologen naheliegender Weise – dem Verhältnis von Philosophie und Theologie. Die Frage nach diesem Verhältnis stellt sich angesichts des Nachdrucks, mit dem Jonas an eine unserer Zeit entsprechende Ethik die Erwartung richtet, daß sie nicht nur eine Ethik der Klugheit, sondern der Ehrfurcht zu sein hat. Überschreitet er, so wird gefragt, damit nicht die Grenze zur Theologie in einer für den Philosophen unangemessenen Weise? Jonas war davon überzeugt, daß er als Philosoph ohne Bezugnahme auf den Glauben an Gott argumentieren müsse. Lange Zeit nahm er an, daß ihm das – im Unterschied zu anderen Philosophen wie seinem Freund Leo Strauss – nicht besonders schwer falle. Denn schon seine Eltern hatten sich vom »ursprünglichen Glauben« gelöst, allerdings ohne den Übergang zu einem assimilierten Judentum zu vollziehen und ihre Kinder taufen zu lassen. 14 Ohne Zweifel war Jonas sehr daran interessiert, »unsere Pflicht gegen die Nachwelt Verbum et Ecclesia 33/2 (2012), Art. 736, 6 S, unter Verweis auf die amerikanische Wissenschaftstheoretikerin Evelyn Fox Keller. 13 Jonas (Anm. 6), 40. 14 Jonas (Anm. 8), 93 f.
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Wolfgang Huber
und die Erde unabhängig vom Glauben« zu begründen, wie er ausgerechnet in einem Vortrag vor dem Katholikentag 1984 formulierte. Und doch war er bei dem Versuch der Explikation dieser Pflicht immer darauf angewiesen, sich an einer »transzendenten Möglichkeit« zu orientieren, die er in dem Katholikentags-Vortrag folgendermaßen erläutert: Die »Wertbilanz der Aufführung der Menschheit auf Erden« kann niemals zureichend begründen, warum die Verantwortung des Menschen in erster Linie der Menschheit selber zu gelten hat. Obwohl diese Wertbilanz gewöhnlich – und erst recht angesichts der Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – negativ ausfällt, »kommt die Existenz der Menschheit immer zuerst, gleichviel ob diese sie nach dem bisher Vollführten und seiner wahrscheinlichen Fortsetzung verdient: Es ist die selbstverbindliche, immer transzendente Möglichkeit, die durch die Existenz offengehalten werden muss. Eben die Wahrung dieser Möglichkeit als kosmische Verantwortung bedeutet Pflicht zur Existenz. Zugespitzt lässt sich sagen: die Möglichkeit, daß es Verantwortung gebe, ist die allem vorausliegende Verantwortung.« 15 Anders gesagt: Die Hoffnung, daß das Gute möglich ist, worin man mit Holm Tetens den Kern einer rationalen Theologie erblicken kann, bildet die entscheidende Voraussetzung einer Ethik der Verantwortung. 16 Dem korrespondiert, daß Jonas in der für den Menschen offenkundigen Unmöglichkeit, Schuld und Leid ungeschehen zu machen, den zwingendsten Erweis einer Ewigkeit sieht, die die Endlichkeit der menschlichen Existenz transzendiert. In einem Brief an seinen theologischen Lehrer Rudolf Bultmann berief er sich zur Begründung ausdrücklich auf die »Unsterblichkeit, die die Gemordeten (wie meine Mutter) dadurch haben, daß das von ihnen erlittene Unrecht, als Verstörung der Transzendenz, einen Schatten über alles Dasein wirft und von uns, den Lebenden, eine besondere Bemühung der Wiederherstellung verlangt«, so daß »wir um Jener willen der Gottheit und der Nachwelt mehr schulden als nicht so belastete Geschlechter.« 17 Die Spannung zwischen der Absicht, das »Prinzip Verantwortung« ohne Rekurs auf den Glauben zu begründen, und der Verankerung dieses Prinzips in einer Hoffnung auf die transzendente MögJonas (Anm. 6), 526 f. Holm Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Kitzingen 2015. 17 Hans Jonas, Metaphysische und religionsphilosophische Studien, hg. von Michael Bongardt, Udo Lenzig und Wolfgang Erich Müller, Freiburg i. Br. 2014, 376. 15 16
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Ehrfurcht vor dem Heiligen
lichkeit des Guten sowie einer erinnernden Verantwortung für die Gemordeten gibt dem Prinzip Verantwortung eine Zweideutigkeit, die sich in dem Hauptwerk selbst folgendermaßen niederschlägt: Auf der einen Seite gibt es Passagen, in denen Jonas davon spricht, die Aufklärung verurteile uns dazu, die Vernunft auf den Bereich innerweltlicher Verständigungen zu beschränken. Der Autor räumt ein, dies könne sich als ein verhängnisvoller Fehler erweisen; doch es handle sich um eine Konvention, der man als Philosoph gar nicht entkommen könne. Auf der anderen Seite stellt er die Frage, ob sich ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, die am gründlichsten durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstört wurde, eine Ethik entwickeln lasse, die die extremen Kräfte zu zügeln vermag, über welche die Menschheit heute verfügt und die dauernd zu erweitern und zu nutzen wie ein unausweichlicher Zwang erscheint. Die Scheu vor der Verletzung des Heiligen muss dabei als eine Haltung verstanden werden, die gleich weit entfernt ist von den Kalkülen der Furcht wie von der scheinbaren Beruhigung, dabei handle es sich um zeitlich fernliegende Folgen, deren Eintreten ungewiss bleibe. Jonas bewegt sich also in der Spannung zwischen der Konzession, daß eine bestimmte Fassung von Aufklärung die unumgängliche Voraussetzung für einen Verbleib im Horizont schulmäßiger Philosophie bildet, und einer neuen Offenheit für das Heilige, dessen Anerkennung eine Ethik unhintergehbarer Verantwortung überhaupt erst zu begründen vermag. Wir haben Grund zur Dankbarkeit dafür, daß Jonas sich dieser Spannung ausgesetzt hat. Denn auch in der geistigen Atmosphäre Amerikas, in der er sich nach den Jahren der Emigration, des Lebens in Israel und des Zweiten Weltkriegs bewegte, war das keineswegs selbstverständlich. Auch wenn die USA nicht durch eine Entkirchlichung hindurchgegangen sind, die sich mit derjenigen in Mittel- und Nordeuropa vergleichen ließe, war doch das intellektuelle Leben auch schon vor vierzig Jahren durch eine säkulare Option geprägt, die einen Rekurs auf das Heilige für schlechterdings obsolet erklärte. Die siebziger Jahre, in denen Jonas am Prinzip Verantwortung arbeitete, waren die Zeit des Humanistischen Manifests II (1973), das in der rigorosen Absage an die Einführung religiöser Motive in den öffentlichen Diskurs zu ethischen Fragen über seinen Vorgänger, das Humanistische Manifest I (1933), noch weit hinausging. Inzwischen wurden diese beiden Texte durch das Humanistische Manifest III (2003) für historisch überholt erklärt; doch unverändert plädiert auch 275 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Wolfgang Huber
dieses Manifest für eine Ethik, die sich ausschließlich auf menschliche Bedürfnisse und Interessen stützt, für die sich ein empirischer Nachweis erbringen lässt. Mit seiner Offenheit für den Begriff des Heiligen schuf Jonas dagegen den nötigen Raum für ein umfassendes Verständnis von Verantwortung. Sie lässt sich nicht auf die Bedürfnisse und Interessen beschränken, die sich erweisen, also durch Vergangenes belegen lassen. Verantwortung richtet sich vielmehr auf künftige Herausforderungen und prüft gegenwärtiges Handeln an seinen Folgen für die Zukunft menschlichen Lebens auf der Erde. Allerdings hat Jonas diese Perspektive mit dem Hinweis auf die transzendente Möglichkeit des Guten präziser benannt als mit der bei ihm nicht näher entfalteten Kategorie des »Heiligen«, die der Sozialphilosoph Hans Joas inzwischen, ältere Anregungen aufgreifend, zum Leitfaden weit ausgreifender gesellschaftsgeschichtlicher Überlegungen gemacht hat. 18 Wenn man eine Ethik der Verantwortung im Horizont der transzendenten Möglichkeit des Guten entfalten will, lässt sich eine solche Ethik nicht auf die Frage beschränken, für wen oder was man verantwortlich ist; vielmehr schließt sie auch die Frage ein, vor wem oder was man sich zu verantworten hat. Jonas’ berühmt gewordener Tübinger Vortrag über den Gottesbegriff von Auschwitz von 1984 19 beziehungsweise dessen Vorgängertext über Unsterblichkeit und heutige Existenz von 1962 20 beantworten diese Frage nicht zureichend, weil in diesen beiden Texten die Hoffnung auf Gott als Hoffnung auf die Möglichkeit des Guten nicht so entfaltet ist, wie das im Licht der bisherigen Überlegungen zu wünschen wäre. Aber Jonas gibt mit diesem Text, den er programmatisch in der Tübinger Fassung mit dem Untertitel Eine jüdische Stimme versieht, zu erkennen, aus welcher Tradition er schöpft, um die Welt, in der und für die Menschen Verantwortung tragen, zu einer Transzendenz in Beziehung zu setzen, der gegenüber sie ihr Leben zu verantworten haben. Jonas stellt sich, wie wir in einer von ihm selbst nicht gewählten Sprache sagen können, in den Überlieferungszusammenhang achsenzeitlicher Religionen. Das achsenzeitliche Paradigma, das sich in einer Reihe von Kulturen unabhängig voneinander im Zeitalter Buddhas, Hans Joas, Die Macht des Heiligen. eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017. 19 Jonas (Anm. 17), 407–426. 20 Jonas (Anm. 17), 341–366. 18
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Ehrfurcht vor dem Heiligen
der Propheten Israels und der griechischen Philosophen entwickelt, unterscheidet Immanentes und Transzendentes so voneinander, daß der Mensch die Möglichkeit gewinnt, sich zum Transzendenten als von ihm und seiner Welt Unterschiedenem zu verhalten. Gott und das Heilige werden zu Schlüsselkonzepten für diese Unterscheidung. Prozesse der Sakralisierung und der Desakralisierung, wie Hans Joas in seiner Erörterung des achsenzeitlichen Paradigmas darlegt, entfalten sich auf der Basis dieser Differenz. 21 Hans Jonas macht von dieser Differenz in einer charakteristisch jüdischen Form Gebrauch, indem er an die Lehre vom Zimzum anschließt. Zu Gottes schöpferischem Wirken gehört in dieser Deutung Gottes freie Selbstzurücknahme, durch die für den Menschen der Raum dazu entsteht, aus Freiheit zu handeln. Dieser »jüdischen Stimme« zufolge ist kein Abschied von Gott erforderlich, um für die menschliche Freiheit Platz zu schaffen. Das ist der Grund dafür, daß Jonas sich der philosophischen Übereinkunft, um der Freiheit des Menschen willen von Gott zu schweigen, schließlich doch nicht unterwirft, sondern eine Öffnung zum Heiligen vollzieht, in der ihm seitdem eine Reihe von Philosophen gefolgt ist.
4.
Permanenz menschlichen Lebens
Eine der Formen, auf diese Dringlichkeit hinzuweisen, besteht bei Jonas darin, daß er seinen kategorischen Imperativ auf die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden bezieht. 22 Diese Formulierung enthält besondere Probleme zum einen im Begriff der Permanenz, zum anderen in der Qualifikation des zu bewahrenden menschlichen Lebens als echt. Ich wende mich zunächst der ersten dieser beiden Schwierigkeiten zu. Für eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise erscheint der Begriff einer Permanenz menschlichen Lebens auf der Erde als überzogen. Denn die Naturwissenschaften gehen davon aus, daß die Be-
Joas (Anm. 18), 279–354; vgl. ders., Was ist die Achsenzeit? Eine wissenschaftliche Debatte als Diskurs über Transzendenz, Basel 2014. Zur ethischen Bedeutung des achsenzeitlichen Paradigmas vgl. Dietrich Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der sprachpragmatischen Wende, Freiburg / München 2013, 325–327. 22 Jonas (Anm. 6), 40; siehe oben bei Anm. 13. 21
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dingungen der Möglichkeit von Leben auf dem Planeten Erde zwar noch für eine lange, aber doch nur für eine begrenzte Zeit gegeben sind (500 Millionen Jahre werden beispielsweise dafür als Zeitraum genannt). Fügt man sich dieser Annahme, ist auch das, was Hans Jonas »Permanenz« nennt, auf der Erde jedenfalls zeitlich befristet, also gerade nicht »ewig«; der kategorische Imperativ hat also die Unterscheidung zwischen Immanentem und Transzendentem gerade in zeitlicher Hinsicht ernst zu nehmen und Permanenz als eine zeitliche Kategorie von der Ewigkeit zu unterscheiden, die allein dem Göttlichen zukommen kann. Diese Unterscheidung nötigt allerdings dazu, die Unterscheidung zwischen Zeitlichem und Ewigem über Hans Jonas hinausgehend zu vertiefen. Theologisch ist dieser Unterschied immer wieder an der Unterscheidung zwischen Geschichte und Reich Gottes verdeutlicht worden. Um dieser Unterscheidung die nötige Schärfe zu geben, mag es hilfreich sein, zwischen drei Formen der Verhältnisbestimmung zwischen beiden Größen zu unterscheiden. Eine erste Form zeigt sich darin, daß die geschichtliche Existenz in ihrer Vorläufigkeit im Verhältnis zur göttlichen Wirklichkeit als etwas zu Überwindendes betrachtet wird. Das Ziel menschlicher Existenz wird deshalb in der Entweltlichung gesehen. Dieser Begriff gewann eine überraschende Aktualität, als Papst Benedikt XVI. im Rahmen seines Deutschland-Besuchs im September 2011 in Freiburg im Breisgau die »Entweltlichung der Kirche« forderte. 23 Karl Lehmann wies in einem Kommentar zu dieser Rede ausdrücklich darauf hin, daß der dabei verwendete Begriff der Entweltlichung auf die GnosisInterpretation von Hans Jonas und Rudolf Bultmann zurückgeht. 24 Wohlbemerkt handelt es sich in dieser gnostischen Tradition aber um die Entweltlichung des einzelnen Subjekts, das dank der ihm zugänglichen Erkenntnis (gnosis) von den weltlichen Bindungen befreit wird und deshalb schon während seiner irdischen Existenz an dem Jenseits teilnehmen kann, das der Welt im Ganzen erst am Ende der Zeit verheißen ist. Es ist des Nachdenkens wert, daß Benedikt XVI. die Kategorie der Entweltlichung, die aus dem gnostischen Denken stammt, auf die Kirche überträgt. Doch in unserem Zusammenhang ist wichtiger, daß Hans Jonas die Abgründe dieses gnostischen Mo-
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Ansprache am 25. September 2011 im Konzerthaus von Freiburg im Breisgau. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Oktober 2011.
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dells aus seinen eigenen Forschungen zur Gnosis genau genug kannte, um gegen es gefeit zu sein. 25 Eine zweite Form des Umgangs mit der Differenz von Zeit und Ewigkeit besteht in dem millenaristischen Modell, in dem das verheißene tausendjährige Reich als bevorstehende Zukunft verstanden wird, in die hinein sich die geschichtliche Welt auflöst. Dabei wird der Beitrag der Menschen zur Erreichung dieses Milleniums unterschiedlich gewichtet. Aber ohne Zweifel ist der Millenarismus von einer verheißungsvollen Perspektive geprägt, die im modernen Fortschrittsglauben eine säkulare Gestalt angenommen hat. Hans Jonas sieht diese säkulare Gestalt des Millenarismus im Prinzip Hoffnung verkörpert, zu dessen Abgründigkeit es gerade gehört, die Ambiguität menschlichen Handelns zu überspielen. Eben deshalb setzt er dem »Prinzip Hoffnung« das »Prinzip Verantwortung« und mit ihm die »Heuristik der Furcht« entgegen. Dezidiert postuliert er eine »nichtutopische Ethik der Verantwortung«. 26 Eine dritte Form ist durch die Überzeugung geprägt, daß die Vorläufigkeit und Ambivalenz menschlichen Geschichtshandelns niemals vom Menschen her zu überwinden ist. Angesichts dieser Ambivalenz und im Rahmen dieser Vorläufigkeit bildet die Geschichte den Raum menschlicher Verantwortung. Mit diesem Modell einer Weltverantwortung auf der Grundlage des Wissens von der Vorläufigkeit dieser Welt wie der Vorläufigkeit menschlichen Handelns bewegt man sich offenbar in größerer Nähe zu dem Projekt von Hans Jonas als mit den zuvor genannten beiden Modellen. Man stößt damit zugleich auf das Problem, daß er, wie der Begriff der Permanenz zeigt, zwischen Zeit und Ewigkeit nicht sorgfältig genug unterscheidet. Denn mit der Vorstellung einer unbedingten Permanenz der Menschengattung verbindet sich bei Jonas eine Vorstellung von einer unbedingten totalen Verantwortung. Grundlegend ist für Jonas in diesem Zusammenhang eine einseitige, nicht-reziproke Auffassung von Verantwortung. Besonders deutlich zeigt sich das an den von ihm vorzugsweise herangezogenen Verantwortungsrollen des Staatsmanns und der Eltern, die als fürsorgliche Verantwortungsträger de-
Vgl. Dietrich Böhler, Einführung in die Kritische Gesamtausgabe, in: Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Philosophie des Lebens und Ethik der Lebenswissenschaften, hg. von Horst Gronke, Freiburg i. Br. 2010, XV–LXXIX (XXXVIII–XLI). 26 Jonas (Anm. 6), 335–420. 25
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nen gegenüberstehen, die solche Fürsorge empfangen. 27 Der nichtreziproke Charakter der Verantwortung verbindet sich naheliegender Weise mit demokratiekritischen Überlegungen. Die besonderen Tugenden der rechtsstaatlichen Demokratie – nämlich die Begrenzung der Macht durch zeitliche Begrenzung, Gewaltenteilung und Machtkontrolle sowie die Revisionsfähigkeit getroffener Entscheidungen und die damit verbundene Fehlerfreundlichkeit – nimmt Jonas in ihrer Bedeutung nicht zureichend wahr. Um diesem Einwand Rechnung zu tragen, muss sein Konzept durch ein reziprokes und kommunikatives Verständnis von Verantwortung modifiziert werden. Zwar gibt es in konkreten Verantwortungssituationen Phänomene der aufgeschobenen Reziprozität. Für das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist dies genauso charakteristisch wie für das Verhältnis zwischen Gewählten und Wählern. In beiden Fällen wird von den einen stellvertretend Verantwortung für andere wahrgenommen. Doch zeitversetzt kehrt sich das stellvertretende Verhältnis um. In Wahlen wie in Prozessen öffentlicher Urteilsbildung machen die Wählenden von ihrer Verantwortung Gebrauch; in der Entwicklung von Familien treten Kinder in die Verantwortung für ihre hilfsbedürftigen Eltern ein. Verantwortung ist deshalb in ein relationales Bild des Menschen einzuzeichnen; diese Relationalität ist auf der Basis gleicher Würde stets als wechselseitig zu denken. Der Totalisierung von Verantwortung ist das Bild einer reziproken – und das heißt auch immer: sich wechselseitig begrenzenden – Verantwortung entgegenzustellen. 28
5.
Echtes menschliches Leben
Neben dem Postulat einer Permanenz menschlichen Lebens liegt eine weitere Schwierigkeit des von Jonas formulierten kategorischen Imperativs in der Ausrichtung auf echtes menschliches Leben. Diese Formulierung irritiert. Man fragt sich, wie der Autor in einen so klaren kategorischen Imperativ ein so unklares Wort wie »echt« auf-
Jonas (Anm. 6), 194–212. Reziprozität ist ein Schlüsselbegriff in Heinrich Bedford-Strohms Theorie kommunikativer Freiheit; siehe Heinrich Bedford-Strohm, Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag (1999), 2. Aufl. Leipzig 2018, 237–284, 435–454.
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nehmen kann. Die Begriffswahl wirkt deshalb so beunruhigend, weil sie nahe zu legen scheint, der Autor unterscheide »echtes« menschliches Leben von anderen Formen menschlichen Lebens, die nicht »echt« sind. Doch zugleich liegt bei diesem Autor eine solche Unterscheidung denkbar fern. Was also verbirgt sich hinter dem Adjektiv »echt«? Ich schlage vor, das Wort »echt« auf dem Hintergrund eines Begriffs zu interpretieren, den Jonas in die bioethische Debatte eingeführt hat. In seiner intensiven Beschäftigung mit der Organtransplantation und der mit ihr verbundenen Bestimmung des Todeszeitpunkts durch das Hirntodkriterium spricht Hans Jonas von der »Hütung des Ebenbildes«. 29 Man versteht meines Erachtens die pointierte Auseinandersetzung des Philosophen mit dem 1968 von einer Kommission der Harvard Medical School entwickelten Hirntodkriterium besser, wenn man berücksichtigt, daß er auch hier in erstaunlicher Direktheit eine theologische Kategorie aufnimmt, nämlich den aus der ersten der beiden biblischen Schöpfungserzählungen entwikkelten Begriff des Ebenbilds: »Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau« (1. Mose 1, 27). So oft er auch seine Distanz zu religiöser Sprache betont, so unverkennbar ist seine Hoffnung, zu ihr wieder Zugang zu bekommen, zu einer, wie er sich auch ausdrücken kann, »zu erhoffenden« Metaphysik. 30 Unverkennbar bezieht sich Jonas auf die Gottebenbildlichkeit, die im Judentum wie im Christentum als entscheidender Bezugspunkt des Menschenbilds gilt. Jonas nimmt auf diese Bestimmung des Menschen Bezug, weil er die Würde, die menschlichem Leben von seinem Anfang bis zu seinem Ende zukommt, nicht aus den verschiedenen Stufen dieses Lebens selbst, sondern nur aus der Relation plausibel machen kann, in der dieses Leben zu sehen ist. Aufgabe jedes Menschen ist es aus dieser Sicht, im anderen das Ebenbild Gottes zu hüten. So wichtig wie für den Umgang mit reproduktionsmedizinisch hergestellten Embryonen ist diese Sichtweise auch für den Umgang mit Sterbenden. Im einen wie im
»Um die Hütung des ›Ebenbildes‹« heißt die Überschrift des letzten Abschnitts in Das Prinzip Verantwortung« (Jonas [Anm. 6], 419 f.). Zur Auseinandersetzung mit den ethischen Problemen von Gentechnologie und Organtransplantation vgl. insbesondere die Texte zur Ethik der Lebenswissenschaften in: Jonas (Anm. 25), 361– 568. 30 Hans Jonas, Menschenbild und Zukunftsdenken (1986), in: Jonas (Anm. 5), 554. 29
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anderen Fall ist dieselbe Achtung zu wahren, die auch in anderen Phasen des menschlichen Lebens angezeigt ist. Von hier aus gewinnt auch das auf beunruhigende Weise unklare Wort »echt« einen nachvollziehbaren Sinn. Nun zeigt sich, daß mit »echtem« menschlichem Leben das Leben in seiner Unantastbarkeit gemeint ist, die deshalb zu achten ist, weil der Mensch als »Ebenbild«, also in seiner Gottesrelation zu hüten ist.
6.
Zukunft als Raum des Möglichen
Nur der Zusammenhang zwischen der Ehrfurcht vor dem Heiligen und der Furcht davor, daß dieses durch menschliches Handeln angetastet, ja zerstört werden kann, verleiht der »Heuristik der Furcht« die nötige Klarheit und innere Legitimität. Dadurch wird zugleich der Unterschied zwischen Angst und Furcht auf eine grundsätzliche Ebene gehoben. Phänomenologisch lässt sich zwischen beiden so unterscheiden, daß Angst eine Aversion gegenüber Drohendem darstellt, die nicht notwendigerweise durch bestimmte, nachweisbare Gefahren ausgelöst und in ihrem Gewicht gegenüber anderen Zukunftsentwicklungen abgewogen wird. Furcht dagegen ist ihrem Wesen nach eine bestimmte, auf konkrete Gefahren bezogene Haltung, deren Gründe angegeben werden können. Freilich eignet auch der Furcht ein unbestimmtes Moment. Denn auch sie richtet sich auf die Zukunft und damit auf den Bereich des Möglichen. Auch die Furcht kommt um die Kontingenz der Zukunft nicht herum. In Zukunftsszenarien wird das oft verdunkelt, indem das drohende Geschick als unabwendbares Verhängnis dargestellt wird. Einer solchen bisweilen in apokalyptischen Farben geschilderten Zukunft wird dann häufig ein anderes, am Modell des Fortschritts orientiertes Szenario gegenübergestellt, das sich eher euphorischer Farbgebungen bedient; aus dieser Gegenüberstellung wird die Forderung abgeleitet, Zukunftschancen zu nutzen und sich davon nicht durch Risikoszenarien abhalten zu lassen. Auch wer meint, die Wahrscheinlichkeit der einen oder der anderen Entwicklung angeben zu können, muss doch einräumen, daß er über Mögliches redet, also über etwas, was (noch) nicht wirklich ist. Wie man im Rahmen einer Heuristik der Furcht über die Dringlichkeit des Befürchteten reden, aber gleichwohl einräumen kann, daß man sich auf Mögliches bezieht, das so, aber auch anders kommen kann, empfinde ich auch im Prinzip Verantwortung 282 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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als offene Frage. Offen ist diese Frage aber auch in gegenwärtigen Diskursen über zukünftige Auswirkungen gegenwärtigen Handelns, die evidenzbasierte Eindeutigkeit nur über bereits eingetretene, nicht aber über künftige Folgen menschlichen Handelns geltend machen können. Viele Zukunftsdiskurse zielen sogar darauf, daß es zu einer solchen Eindeutigkeit gerade nicht kommt. Was befürchtet wird, soll dank rechtzeitigen Handelns gerade nicht eintreten; schädliche Folgen menschlichen Handelns sollen wo immer möglich noch rechtzeitig abgemildert oder sogar vermieden werden. Das methodische Problem einer Ethik der Verantwortung besteht gerade darin, die Dringlichkeit des Themas mit der Einsicht zu vermitteln, daß eine Heuristik der Furcht sich auf mögliche, noch nicht eingetretene Entwicklungen richtet. Das Prinzip Verantwortung wurde 1979 veröffentlicht. Hans Jonas schrieb den Text auf Deutsch, weil er die Arbeit auf diese Weise schneller abschließen konnte, als wenn er sich des Englischen bedient hätte. So dringend erschien ihm diese Arbeit. Ihm war bewusst, daß die Verfügungsgewalt über nukleare Massenvernichtungswaffen in der Epoche des Kalten Krieges das Risiko kollektiver Selbstvernichtung in sich trug; deren Name hieß damals second strike capability: die Fähigkeit, auch nach einem vernichtenden Schlag des Gegners diesen mit einem Gegenschlag vernichten zu können. Eine parallele Beunruhigung ging damals von der rasanten Entwicklung der Gentechnologie aus, der man zutraute, das Wesen des Menschen selbst manipulieren, also über die Identität des Menschen verfügen zu können. Dazu trat schließlich der gewaltige Umweltverschleiß, den sich insbesondere die Industriestaaten meinten leisten zu können; die Gefahr zeichnete sich ab, am eigenen Wohlstandsmüll zu ersticken. In der damals erwarteten Form sind die Unglücksprophetien nicht eingetreten. Die größte Überraschung bestand in der Art und Weise, in der sich die mit der Nachrüstung verbundenen Befürchtungen auflösten. Umstritten ist nach wie vor, ob die Nachrüstung selbst zum Ende der Sowjetunion und zur Auflösung der Konfrontation zwischen Ost und West beitrug. Jedenfalls hatten die wenigsten damit gerechnet, daß die Befürchtungen, die sich mit einer weiteren Eskalation des atomaren Wettrüstens verbanden, sich innerhalb eines Jahrzehnts durch das Ende des kommunistischen Staatenverbunds erledigen würden. Wer die Friedensbewegung der achtziger Jahre miterlebt und an ihr mitgewirkt hat, muss zugeben: Selbst unsere größten und nach bestem Wissen und Gewissen begründeten Be283 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
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fürchtungen enthalten genauso ein Element der Ungewissheit wie unsere größten Hoffnungen. Ein heuristischer Vorrang der Furcht kann jedenfalls nicht damit begründet werden, daß für die Furcht eine bessere Erkenntnisgrundlage bestehe als für die Hoffnung. Daß sich frühere Befürchtungen aufgelöst haben, bedeutet freilich nicht, daß heute weniger Grund zu Befürchtungen bestünde. Denn wir kennen auch geschichtliche Erfahrungen, in denen die Befürchtungen durch die Ereignisse bei weitem überboten wurden. Selbst die Voraussagen derer, die von den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts Schlimmes erwarteten, wurden durch die Grauen des Zweiten Weltkriegs und die Gewaltexzesse dieser Regime bei weitem in den Schatten gestellt. Auch Befürchtungen haben zudem die Eigentümlichkeit, daß schon neue bereitstehen, wenn die alten sich auf die eine oder andere Weise überholt haben, sei es, daß sie sich bewahrheitet haben oder nicht. Das Buch von Jonas wurde in einer Zeit geschrieben, die durch die Diskussion über die »Grenzen des Wachstums«, den ersten Bericht an den Club of Rome, geprägt war. 31 Inzwischen hat die Diskussionslage sich verändert. Der globale, anthropogene Klimawandel, das Ausmaß der Verstädterung, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen sowie die Lagerung von Abfällen erscheinen aus heutiger Sicht als eine die Erde in geologisch relevanter Weise verändernde Kraft. Deshalb wurde, zuerst von dem Chemiker Paul J. Crutzen, vorgeschlagen, das gegenwärtige geologische Zeitalter im Unterschied zum Holozän als Anthropozän zu bezeichnen. 32 Der Ausdruck weckt allerdings das Missverständnis, daß nun das geologische Geschick der Erde vollständig in der Hand der Menschen liege. 33 Eine solche Auffassung ist deshalb fragwürdig, weil auch weiterhin Naturkräfte wie Vulkanismus, Plattentektonik oder Sonnenaktivität in ihrer Auswirkung auf die Erde außerhalb der menschlichen Kontrolle liegen. Korrekter ist es deshalb zu konstatieren, daß das Erdsystem durch die Geosphäre, die Biosphäre und die Anthroposphäre beeinflusst und dabei durch den anthropogenen Klimawandel sowie den menschlichen Land- und
31 Donella Meadows u. a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972. 32 Paul J. Crutzen, Die Geologie der Menschheit (2002), in: ders. u. a., Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, Berlin 2011, 7–10. 33 Vgl. David Grinspoon, Earth in Human Hands. Shaping Our Planet’s Future, New York 2016.
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Ressourcenverbrauch massiv gefährdet wird. 34 Zugleich bilden das Wachstum der Weltbevölkerung, die Verselbständigung des global agierenden Finanzkapitalismus, die Verschärfung sozialer Gegensätze in einer globalisierten Welt, repräsentiert durch weltweite Fluchtund Wanderungsbewegungen, die Auflösung kultureller Verständigungsmuster, ja die Fragwürdigkeit menschlicher Freiheit angesichts der vermeintlichen Autonomie von künstlicher Intelligenz Beispiele für die Herausforderungen, die sich heute stellen und auf die wir die Antwort nicht wissen. In dem Augenblick, in dem behauptet wird, menschliches Handeln sei in einem solchen Maß zu einer geologisch wirksamen Kraft geworden, daß von einer neuen geologischen Epoche des Anthropozän zu sprechen sei, fragen wir uns, ob der Mensch überhaupt noch als Subjekt seiner Handlungen ernst genommen werden kann; denn wenn leichthin von »autonomen« Automobilen geredet wird, kann es um die Autonomie des Menschen nicht mehr gut bestellt sein. Doch was auch immer wir mit solchen Befürchtungen antizipieren, die Welt wird nach weiteren vierzig Jahren nicht das abbilden, was wir uns heute ausmalen. Die größte Beunruhigung liegt nicht in Einzelentwicklungen unserer Zeit, sondern im Phänomen der globalen Beschleunigung als solcher. Denn dieser Vorgang führt zu einer Zunahme von Komplexität bei gleichzeitiger Abnahme der Möglichkeit, über sie nachzudenken. Viele halten eine Entschleunigung für notwendig; doch niemand kann das Tempo der Veränderung beeinflussen. Diese Diskrepanz legt sich wie ein Mehltau über alle anderen Fragen. Mehr als die Anpassung an die Veränderungen scheint nicht mehr möglich zu sein. Der Klimawandel ist dafür nach wie vor ein Beispiel, dem geduldigen Papier des Pariser Klimaabkommens von 2015 zum Trotz. Angesichts einer von niemandem zu steuernden Beschleunigung kann man sich nicht einmal mehr die Zeit für Ratlosigkeit nehmen. Nicht jede Beschleunigung ist in gleichem Maße beunruhigend. Die Geschwindigkeit der Innovationen auf dem Markt von Smartphones beispielsweise erscheint im Vergleich mit der Geschwindigkeit bei der Digitalisierung der Arbeit oder der Erzeugung neuer Finanzprodukte als unerheblich. Bestimmte Stufen der Unterhaltungselektronik zu überspringen ist leichter, als sich der Veränderung Vgl. Hans Joachim Schellnhuber u. a., Global Sustainability. A Nobel Cause, New York 2010, 19–32.
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des eigenen Arbeitsplatzes zu entziehen. Wer das eine versucht, wird nur in seiner peergroup schräg angeschaut; wer das andere versucht, steht ohne Arbeitsplatz da. Doch von dieser Art des Umgangs mit Beschleunigung sind diejenigen Vorgänge zu unterscheiden, die zu einer völligen Entkoppelung von Freiheit und Verantwortung, genauer zwischen Risiko und Haftung geführt haben. Eine Ethik der Verantwortung hat heute vor allem deshalb einen so schweren Stand, weil das Grundprinzip der Freiheit – für die Folgen seines Handelns selbst einstehen zu müssen – in wichtigen Bereichen außer Kraft gesetzt ist. Das zeigen Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise genauso wie die Manipulation von Abgastests und das globale Umsichgreifen sanktionsfreier Korruption. Vielleicht zeigen sich auch für solche Fragen überraschende Lösungen – Lösungen von der Art der unerwarteten Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989. Doch verlassen kann man sich auf solche Lösungen nicht. Man muss schon für sie arbeiten – nach der weisen Interpretation der Formel »ora et labora«: Arbeite so, als ob alles Beten nichts nützt; und bete so, als ob alles Arbeiten nichts nützt. Eine Ethik der Verantwortung kann dazu am ehesten dann beitragen, wenn sie sich auf eine durch das Recht ebenso gesicherte wie geforderte Freiheit stützen kann. Die Bewahrung und Weiterentwicklung rechtsstaatlicher Demokratien erweist sich insofern als eine nicht zu unterschätzende Aufgabe für alle, denen an einer verantwortlichen Gestaltung der Zukunft gelegen ist. Blickt man auf die plutokratischen, oligarchischen, populistischen und präsidialen Aushöhlungen der Demokratie in unserer Zeit, tut sich auch in dieser Hinsicht ein reiches Betätigungsfeld auf.
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2. Parallelen und Unterschiede zu Albert Schweitzers Idee der ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ Hans Jonas
(1) Aus einem fragmentarischen handschriftlichen Briefentwurf von Hans Jonas an eine über Albert Schweitzer und Hans Jonas arbeitende Schweizer Studentin, welcher in Abteilung V der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas dokumentiert werden wird. Das Fragment stammt aus dem Philosophischen Archiv der Universität Konstanz (Signatur HJ 17-26-3), wo es Bernadette Herrmann, von der auch dieser Titel stammt, aufgefunden hat. 31. 12. 89 […] Parallelen zwischen Schweitzers und meiner Moralbegründung Position sind unleugbar, aber die Unterschiede sind wichtig. […] Das Ehrfurchtgebietende fordert nicht notwendig etwas von mir, und vieles fordert etwas von mir, was nicht Ehrfurcht gebietet oder einflößt. Das Ehrfurchtgebietende ist seltener & Ehrfurcht ist ein seltenes Gefühl; Anspruch auf mein Handeln dagegen kann das Allergewöhnlichste erheben und ein sich Angesprochenfühlen (ob man ihm nun folgt oder nicht) ist ein ganz alltägliches Gefühl. Nicht alles, was Ehrfurcht gebietet, fordert etwas von mir außer eben Ehrfurcht (z. B. ein Sonnenaufgang, die Majestät des gestirnten Himmels), und gar vieles fordert etwas von mir, was keinerlei Ehrfurcht einflößt (z. B. Hunger oder Angst oder Wahn eines Mitmenschen). […] Indem Sie von einer Ehrfurcht sprechen, die [hier bricht der Briefentwurf ab] (2) In einer Podiumsdiskussion mit Publikumsbeteiligung, die Teil des 1986 in Zürich veranstalteten Symposiums »Denken über die Zukunft« war und von Franz Kreuzer geleitet wurde, kam das Verhältnis von Albert Schweitzers und Hans Jonas’ Ethik folgendermaßen zur Sprache:
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Hans Jonas
Publikum: Ich habe eine Frage an Herrn Professor Jonas, und zwar habe ich zwei Sachen empfunden. Erstens: Sie haben nur von der Menschheit gesprochen, und ich denke, zum Beispiel Albert Schweitzer hat vom Leben gesprochen. Meiner Meinung nach sollte man die Menschheit vielleicht nicht aus dem allgemeinen und auch tierischen Leben herausnehmen und isolieren. Das zeigt die moderne Wissenschaft auch, daß alles in einem Kreislauf zusammenhängt. Albert Schweitzer hat es als eine ethische Verantwortung des Menschen gesehen – nicht nur des ökonomischen Denkens, daß die Umwelt für den Menschen nützlich ist –, daß die Umwelt eben auch einen Wert als Kreatur für sich hat. Das wäre das erste. Albert Schweitzer hatte von Ehrfurcht gesprochen. […] Jonas: Dem ersten Punkt kann ich nur zustimmen, daß die ökologische Verantwortung nicht nur um des Menschen und der menschlichen Ausbeutungsinteressen an der Natur wegen wahrzunehmen ist, sondern um des Lebens auf diesem Planeten willen, dessen Sachwalter wir irgendwie durch unsere Macht geworden sind. Und das Wort: Ehrfurcht vor dem Leben, das ist eine sehr gute Prägung. Es sind auch – jedenfalls was die größeren Tiere anlangt, die wir sehen können und bewundern können – viele Menschen sehr bereit dazu, das mitzutragen. Natürlich soll das ja mit mobilisiert werden. Und wenn das der Ökologie im ganzen zugute kommen würde, kommt es auch dem Menschen zugute – man darf ja an die Menschheit dabei durchaus auch denken. […] KGA I/2, Zweiter Teilband, S. 552 und 553.
Nachbemerkung Dietrich Böhlers Eine darüber hinausgehende Auseinandersetzung von Jonas mit Schweitzer ist nicht bekannt. Frau Lore Jonas verneinte meine diesbezügliche Frage, und in Hans Jonas’ Privatbibliothek fand ich, als ich 1996 Hausgast in New Rochelle war, kein Buch Albert Schweitzers. Die Spuren eines nicht ausgeführten Diskurses Jonas-Schweitzer scheinen mir in diesem Diskursbuch nicht zuletzt im Blick auf die Beiträge Hans Lenks und Wolfgang Hubers gut am Platze zu sein.
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3. Die Idee der Zukunftsverantwortung und die Grenze des Fortschritts. Über Hans Jonas und die Kritische Gesamtausgabe seiner Werke 1 Wolfgang Frühwald
Ich bin mir bewußt, daß der in Deutschland nicht zur Ruhe gekommene Embryonenstreit, die Bedenken gegen Keimbahnintervention, gegen das Klonieren von Menschen (therapeutisches Klonieren mit eingeschlossen) und gegen Präimplantationsdiagnostik international häufig als Reste jenes »alteuropäischen« Humanitätsdenkens belächelt werden, das als gesellschaftlich überholt, als wissenschaftlich und wirtschaftlich hinderlich gilt. Nun ist aber die Philosophie der Verantwortung zwar von dem in Europa (in Mönchengladbach) geborenen Philosophen Hans Jonas entworfen worden, der aber seit 1955 in den USA lebte und dort tief innerlich erschrocken ist: nicht nur wegen der Wendung im Philosophieren seines Freundes Günther Anders und dessen Warnungen vor den Möglichkeiten der atomaren Vernichtungspotentiale, sondern vor allem wegen der Menschenversuche, die im Schutz demokratischer Gesellschaftsverhältnisse vorgenommen wurden; gesunden Menschen wurden ohne ihr Wissen Krebszellen injiziert, einer Kontrollgruppe von Syphilispatienten wurden die lebensrettenden Medikamente ohne ihr Wissen vorenthalten. 1 Anmerkung der Redaktion: Hier folgen charakteristische Auszüge aus Texten Wolfgang Frühwalds. Zunächst geben wir den thematisch an Dietrich Böhlers Embryonenargument anschließenden Hauptteil von Frühwalds 2005 vor der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen gehaltenen Vortrag »Die Verantwortung für das Leben. Grenzüberschreitung und Fortschritt in der Wissenschaft« wieder. Er ist zur Gänze erschienen in: Mensch – Gott – Welt. Philosophie des Lebens, Religionsphilosophie und Metaphysik im Werk von Hans Jonas, hg. von Dietrich Böhler, Horst Gronke und Bernadette Herrmann, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2008, S. 25–38. Wir danken dem Rombach-Verlag für die freundliche Genehmigung. Es folgen Auszüge aus zwei Gutachten, die Prof. em. Dr. Dr. h. c. mult. Präsident a. D. Frühwald 2014 und 2015 zur Unterstützung der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas an den Vorstand der Otto Wolff Stiftung, Herrn Dr. Franz Schoser, gerichtet hat.
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Wolfgang Frühwald
1.
Fortschritt
Vermutlich gibt es jene optimistische Haltung, die einen linearen Fortschritt und den unmittelbaren Weg zur Tugend durch Mehrung des Wissens behauptet, in jeder Gesellschaft nur ein einziges Mal. Die Verluste, mit denen ein solchermaßen linearer Fortschrittsglaube erkauft wird, kennen wir zumindest aus den an Mensch und Natur entstandenen Schäden der Früh- und Hochindustrialisierung. In China, Indien und den Tigerstaaten hat dieser Fortschrittsoptimismus, mit gleichlaufenden Schäden wie im frühindustriellen Europa, etwa in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts eingesetzt und wird nun durch die unterschiedlichen green movements (in Taiwan, Korea etc.) gebrochen. Das alte Europa hat, mit entsprechenden arabischen Vorläufern, der Welt die moderne Forschung und ihren Begriff geschenkt. Es ist der Begriff der systematischen, methodengeleiteten und überprüfbaren Schaffung neuen Wissens, mit dessen Hilfe der Mensch die Gesetze der Natur (auch seiner eigenen) zu entdecken und zu beschreiben sowie die Entstehung, die Entwicklung und Wirkweise der von ihm selbst geschaffenen Kulturen zu erklären und zu verstehen sucht. Dieses Europa hat deshalb jetzt die Aufgabe, die Welt vor den Gefahren eines gedankenlosen Fortschritts zu bewahren und seinem tatsächlich fortgeschrittenen, weil skeptischen Denken im diffusen Weltgespräch Gehör zu verschaffen. Die Welt wird vermutlich nach einiger Zeit des Zögerns auf die Stimme Europas hören, weil gerade in den Ländern mit linearer Fortschrittsideologie die Schäden so rasch zunehmen, daß sie nach Vorbildern suchen, wie diese Schäden zu überwinden sind. Diese Vorbilder gibt es bisher nur in Europa. Dem Begriff und der Praxis der Wissenschaft also ist das »Prinzip Verantwortung« einzuschreiben, wodurch nicht die Forschungsfreiheit, aber ihre Gewohnheiten, ihre Freizügigkeit überprüft wird. Wie immer dies in der Praxis aussehen mag, es geschieht unter dem von Jonas formulierten ethischen Imperativ: »Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden«; oder negativ ausgedrückt: »Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für künftige Möglichkeiten solchen Lebens«; oder einfach: »Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden«; oder, wieder positiv gewendet: »Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit290 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Die Idee der Zukunftsverantwortung und die Grenze des Fortschritts
gegenstand deines Wollens ein«. Damit stehen wir vor einem neuen Forschungsbegriff, welcher den naiven Fortschrittsbegriff des 19. Jahrhunderts nicht mehr verwenden kann, da er sich nicht nur des Gefährdungs-, sondern auch des Verrohungspotentials der von der Übermacht des Stoffes bedrängten Moderne bewußt ist. […] Naturwissenschaft und Technik sind geradezu durch ihren Fortschritt definiert, »die Kernphysik [sagt George Steiner] überwindet die Alchimie; durch die Molekularbiologie wird die Physiologie der Körpersäfte überholt. Dasselbe gilt für die Anwendungen: E-Mail stellt eine Verbesserung gegenüber dem Semaphor dar, ein Überschallflugzeug überflügelt eine Galeone, das Chloroform veranschaulicht das Heraustreten des Menschen aus unvorstellbaren Schmerzen. Keine Winde der Mode werden Naturwissenschaft oder Technologie in die Vergangenheit zurückwehen.« Durch die Beschleunigung des Erfahrungswandels, welche das grundlegende Kennzeichen der Moderne und der Nachmoderne ist, sind wir alle in der Lage, solche technisch-wissenschaftlichen Fortschritte am eigenen Leibe zu prüfen: Wer in seiner Kindheit die Gefahren der Poliomyelitis gesehen hat, weiß, welch kluge Entscheidung es war, die wenigen zur Verfügung stehenden Mittel in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht in die Perfektionierung der Eisernen Lungen, sondern in die virologische Grundlagenforschung und damit in die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Kinderlähmung zu investieren. Wer als Kind lebensgefährlich an Diphtherie erkrankt war und wer seinen Keuchhusten noch mit Gaserde aus den Stadtwerken behandeln mußte (beides ist mir noch geschehen), wird den Fortschritt kombinierter Impfungen zu schätzen wissen. Dieser Fortschritt in den Naturwissenschaften aber hat es an sich, daß er von Einzelnen kaum zu beeinflussen ist, daß er sich prozeßhaft, gleichsam aus sich selbst heraus fortschreibt, daß damit auch alle Grenzen, welche die Forschung sich selbst setzt und sich selbst setzen will, nicht haltbar sind. »Die Summe der naturwissenschaftlichen Fortschritte«, sagt George Steiner, übersteige »exponentiell ihre einzelnen Teile, und seien sie auch noch so sehr von persönlichem Genie inspiriert.« In einem gewissen und starken Sinne sei der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt demnach »träge und ozeanisch«, ließen sich »naturwissenschaftliche Theorien und Entdeckungen [nur] als anonym denken. Die große Flut kommt herein«. Der ganze Unterschied aber zu der »anderen« Kultur, der ganze Unterschied zwischen »science« und »literature«, ist dann in Steiners 291 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Wolfgang Frühwald
Frage enthalten, die lautet: »Was stellt im Gegensatz hierzu einen Fortschritt gegenüber Homer oder Sophokles, gegenüber Platon oder Dante dar?« So fügt er an diese – absurde – Frage die lapidare Antwort an: »Ernsthafte Werke werden weder überholt noch verdrängt; große Kunst wird nicht antiquarischem Status überantwortet; [die Kathedrale von] Chartres altert nicht.« Dies bedeutet, daß »in den bildenden Künsten, in der Literatur und der Musik […] Dauer nicht Zeit« ist, daß auch die ethischen Fragen der Menschheit nicht altern, weil es tatsächlich so etwas gibt wie »den« Menschen und seine Verfaßtheit in der Welt. Das ist keine neue Erkenntnis, aber eine immer wieder vergessene Einsicht, die schon Goethe unter dem Eindruck der auf naturwissenschaftlicher Grundlage entstehenden Technik seiner Zeit so formuliert hat: »Neue Erfindungen können und werden geschehen, allein es kann nichts Neues ausgedacht werden, was auf den sittlichen Menschen Bezug hat.« Der Humanitätsdiskurs ist von anderer Art als der moderne Wissenschaftsdiskurs. Dort, wo sich beide Diskurse nicht durchdringen und widerständig aufeinander beziehen, gerät die Welt aus dem Gleichgewicht. So steht die Geschichte der Einsamkeit, und die ethische Entscheidung gehört zu ihr, gegen die Geschichte des Fortschritts, die Geschichte zeitloser Dauer gegen die der Geschwindigkeit wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklungen, die Geschichte der prozeßhaft und »ozeanisch« sich ausbreitenden naturwissenschaftlichen Einsicht in die Welt gegen die dem Zufall, der Gewalt und dem Irrtum ausgesetzte Geschichte des Individuums, die Geschichte der sprachlichen Erklärung gegen die der Formel und die erst kurze Geschichte der Visualisierung hochkomplexer Zustände. Auf diesem völlig unübersichtlichen Gelände ist Wissenschaft in allen ihren Facetten und Spezialisierungen heute positioniert. Dieses Feld erträgt weder vorschnelle Verbote, noch schrankenlose Experimentierlust, es fordert eine Bebauungs-Geschwindigkeit, die der möglichen Korrektur von unvermeidlichen Irrtümern angemessen ist. Auf diesem Feld begegnen sich unterschiedliche Denkkulturen mit jeweils starken Eigentraditionen und fordern herrisch ihr Recht. Nichts anderes meint Hans Jonas, wenn er sagt, »daß wir uns offen halten sollten für den Gedanken, daß die Naturwissenschaft nicht die ganze Wahrheit über die Natur aussagt«. Dem »Imperativ des Fortschritts« in Naturwissenschaft und Technik begegnet demnach der Imperativ der moralischen Vernunft. 292 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Die Idee der Zukunftsverantwortung und die Grenze des Fortschritts
Dieser aber fordert, politische und strukturelle Grenzen und Dämme dort zu ziehen, wo der Erkenntnisstrom längst über die Ufer getreten ist, damit ein Stück bewohnbares Land für die Menschen verbleibt. Pragmatismus, in den viele vor der komplexen Problemlage heute zu flüchten versuchen, hilft in einer solchen Situation nur dem, der sich bereits mit Haut und Haaren dem von Durs Grünbein so genannten »magischen Turnus der Investitionen und Auslöschungen« verschrieben hat. Ein solcher Turnus zerstört unser Gedächtnis ebenso wie die Grundlagen unseres Zusammenlebens.
2.
Grenzen
Kein historischer Vergleich hatte in jüngster Zeit so Konjunktur gehabt wie der des »Rubikon«. Seit der Streit um die Forschung an embryonalen Stammzellen des Menschen in Europa und den USA begonnen hat, ist der kleine Fluß, der südlich von Ravenna in die Adria mündet, zu einer Leitmetapher in der Frage nach der ethischen Grenzziehung in Biologie und Medizin geworden. Der damalige Bundespräsident Johannes Rau hat das Grenzbild zuerst am 18. Mai 2001 in der berühmt gewordenen Berliner Rede über einen Fortschritt nach menschlichem Maß verwendet und damit heftigen Widerspruch geerntet. Das Grenzbild nämlich bezog sich auf die Forschung an embryonalen Stammzellen des Menschen, für deren Gewinnung menschliche Embryonen in vitro hergestellt und innerhalb der ersten 14 Entwicklungstage getötet werden müssen. Es bezieht sich auf die auch heute noch weitgehend unbeantwortete Frage, weshalb die ethisch unproblematische und therapeutisch aussichtsreiche Forschung an adulten Stammzellen nicht priorisiert wird, weshalb nicht wenigstens die Tierversuchsreihen abgeschlossen wurden, ehe auf »menschliches Material« zugegriffen wurde? […] Johannes Rau und Hubert Markl, der damalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, Jürgen Habermas, Konrad Beyreuther und viele andere bemühten den Rubikon, um eine endlich erreichte Grenze des Wissens, eine Grenze seiner Anwendung und die Gefahr oder die Chance der Grenzüberschreitung anschaulich zu machen. […] Der Rubikon war bekanntlich zu Zeiten des Römischen Reiches jener Grenzfluß zwischen der Provinz Gallia Cisalpina und dem römischen Stammland, den Cäsar im Jahre 49 vor Christi Geburt mit 293 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Wolfgang Frühwald
seinen Legionen in Richtung auf Rom überschritten hat. Er brach damit die Lex Cornelia Maiestatis, die es einem Feldherrn untersagte, seine Armee aus der von ihm befehligten Provinz herauszuführen. Es sei noch viel Platz diesseits des Rubikon, meinte Johannes Rau; aber jenseits des Rubikon, antwortete Hubert Markl, liege immerhin Rom; doch Cäsar habe, wurde ihm wiederum geantwortet, mit seiner Entscheidung einen drei Jahre dauernden, blutigen Bürgerkrieg eröffnet. Der Rubikon ist im Streit um Embryonenverbrauch und Stammzellenimport, um Präimplantationsdiagnostik und Keimbahnintervention, um therapeutisches und reproduktives Klonieren, um das Designer-Baby, den künstlichen Uterus und letztlich jenes body net, in welchem der Mensch »in einer Molekülkette, die theoretisch ununterbrochen sein könnte, zu einer Episode seiner oder ihrer früheren Inkarnationen werden könnte«, zum Bild der Grenze geworden, welche die Gesellschaft der Wissenschaft zu setzen versucht. Schließlich vergeht kein Tag, an dem nicht neue Sensationsmeldungen aus Pränatal- und Perinatalmedizin durch die Weltmedien geistern, an dem der »Imperativ des Fortschritts« nicht nachdrücklich und auch durchaus staunenswert bewußt gemacht wird. Mir scheint in all diesen Meldungen aus Wissenschaft und Technik die Gedankenlosigkeit der Bedenkenlosigkeit die Hand zu reichen. Von Verantwortung ist keine Rede. Was wir aber brauchen, ist weder das gedankenlose Unterlassen, noch das bedenkenlose Handeln, sondern das nachdenkliche und geduldig überlegende Tun. Vermutlich ist das Bild des Rubikon, das heißt das Bild einer relativ festliegenden Grenze, in dem hier aufgeflammten Streit nicht universal brauchbar. In der Wissenschaft verschieben sich die Grenzen fortwährend, ihr Fortschritt überschwemmt die bisher gewohnten Ufer ständig. Wir brauchen also einen gesellschaftlich-ethischen Diskurs, einen Verantwortungs-Diskurs, der Schritt hält mit dieser Überschreitung der Grenzen, ihr vielleicht sogar vorausdenkt. […]
3.
Gattungsethik
In die gesellschaftliche und wissenschaftliche Debatte um die Konkurrenz verblassender, sich spaltender und vielleicht sogar auflösender Menschenbilder hat Jürgen Habermas mit der Frage nach der Gattungsethik des Menschen ein Argument eingeführt, das in der deutschen Diskussion um Gesetzeslücken und Stammzellenimport unter294 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Die Idee der Zukunftsverantwortung und die Grenze des Fortschritts
zugehen drohte. Habermas meint, daß der heutige Umgang mit vorpersonalem menschlichen Leben Fragen eines Kalibers aufwerfe, die normale Differenzen der Denkkulturen oder auch der Kulturkreise weit überschreiten. »Sie berühren nicht diese oder jene Differenz in der Vielfalt kultureller Lebensformen, sondern intuitive Selbstbeschreibungen, unter denen wir uns als Menschen identifizieren und von anderen Lebewesen unterscheiden – also das Selbstverständnis von uns als Gattungswesen.« […] Wenn dieser Befund richtig ist, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, dann müssen wir vermutlich lernen einzusehen, daß es zu dem von uns (von uns Menschen) erzeugten und entwickelten, umstrittenen und geglaubten Bild des Menschen, das seit den ersten Manifestationen menschlichen Bewußtseins in der leibhaften Identität des Gattungswesens Mensch wurzelt, eine Alternative geben könnte: die Auflösung dieser leibhaften Identität durch die genetische Vor- und Umprogrammierung gezüchteter Menschen. Ein von seinen Eltern oder seinen Erzeugern irreversibel und programmgemäß geschaffener Mensch wird ein anderes Verhältnis zu seinem und seiner Mitlebenden Dasein und Sosein haben als ein aus der Zufallsentscheidung der Natur entstandener Mensch. Das sind tatsächlich weitreichende Fragen und sie stellen sich jetzt. Auch wenn die Apologeten der umstandslosen Forschung an embryonalen Stammzellen des Menschen nur ganz kleine Brötchen zu backen meinen, hat ihre »Ethik des Heilens« gegenüber diesen Grundfragen des Menschseins etwas rührend Naives an sich. Zeugung und Erzeugung von menschlichem Leben sind unterschiedliche Ursprungsweisen. Der genetische Zufall des bunten Menschengewimmels ist etwas grundsätzlich anderes als die technisierte Planung eines gezüchteten Menschen. Menschenzucht liegt sicher nicht in der aktuellen Absicht der seriösen Forschung an menschlichen Embryonalzellen und gehört derzeit noch zum Propaganda-Arsenal der »Spinner«, – aber, und das wird allzu oft übersehen, sie liegt in der Entwicklungstendenz dieser Forschung. […] Die Perspektive, unter der wir diskutieren, ist die aktuelle Bedrohung nicht mehr nur des Individuums oder der Gesellschaft, sondern die Bedrohung der Gattung »Mensch«. So steht es übrigens auch im Kommentar der durchaus forschungsfreundlichen Menschenrechtskonvention des Europarates zur Biomedizin. Wir streiten nicht um neue oder veraltete wissenschaftliche Methoden, nicht um Gesetzeslücken und Gesetzesnovellierung, nicht einmal um Forschungs295 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Wolfgang Frühwald
freiheit und Menschenwürde, wir streiten um die bisher naturwüchsige, scheinbar alternativenlose leibhafte Basis unserer Urteile und Entscheidungen, um den Begriff des Menschen und seines Leibes, um den Begriff menschlicher Freiheit und die verbleibenden physischen Möglichkeiten humanen, ethischen Wollens. Einen solchen Streit hat es vermutlich in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben. Ganz so weit hergeholt ist die Frage nach einer Gattungsethik nicht, wie die Kritiker von Jürgen Habermas meinen. Schon Hans Jonas hat für den ersten seiner Imperative, »daß eine Menschheit sei«, auf die »Idee des Menschen« zurückgegriffen, »die eine solche ist, daß sie die Anwesenheit ihrer Verkörperung in der Welt fordert«. Er hat den Imperativ, »daß es Menschen gebe«, als den einzigen Imperativ bezeichnet, auf den Kants Bestimmung des Kategorischen, »das heißt [des] Unbedingten, wirklich zutrifft«. Habermas hat versucht, deontologisch auszudrücken, was Jonas ontologisch und metaphysisch zu formulieren sich nicht scheute. […]
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Stellungnahme zur Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas
Augsburg, 24. März 2014
Stellungnahme zur Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas Sehr geehrter Herr Dr. Schoser, mein Kollege Dietrich Böhler, Mitherausgeber der Kritischen Ausgabe der Werke des Philosophen Hans Jonas, bittet mich, Ihnen […] eine Stellungnahme zu dieser Ausgabe zuzusenden, da eventuell die Möglichkeit bestehe, die wegen einer Finanzierungslücke stokkende Edition weiterer Bände der Ausgabe über die Otto Wolff Stiftung zu fördern und damit der Ausgabe einen entscheidenden Anschub zu geben. Ich bin selbst kein Fachphilosoph, habe aber über Hans Jonas und sein »Prinzip Verantwortung« gearbeitet und bin seit mehr als 40 Jahren auch editionsphilologisch tätig (was u. a. durch eine langjährige Tätigkeit als Mitherausgeber der kritischen Ausgaben sämtlicher Werke Adalbert Stifters und Clemens Brentanos zu belegen ist). Hans Jonas (1903–1993) ist »ein Jahrhundertdenker«. So hat ihn Volker Gerhardt in seiner am 9. Oktober 2010 in der Zeitung Die Welt erschienenen Rezension des ersten Bandes der Ausgabe (»Organismus und Freiheit«, Bd. I/1, 2010) genannt, Dietrich Böhler hat auf diese (auch in die Frankfurter Hefte, 2011 übernommene) Besprechung, welche die überragende Denkleistung von Hans Jonas herausstellt, aber an der Gliederung der Ausgabe Kritik übt, mit einer »Replik« geantwortet, in der er den »Freiheitsdenker« Hans Jonas beschreibt und (angesichts zahlreicher Mehrfachdrucke) die Notwendigkeit der Auswahl einsichtig begründet. Insgesamt ist diese Diskussion (Rezension wie Replik) eine auf hohem Niveau geführte Diskussion um einen Denker, dessen Singularität bei der Überwindung des alten Grabens zwischen Theorie und Praxis von keinem der beiden Gesprächspartner bestritten wird. 1 Anmerkung Dietrich Böhlers: Der editionskritische Hauptpunkt Volker Gerhardts – 2011 lag ihm nur der erste Band (I/1: Organismus und Freiheit. Philosophie und Ethik der Lebenswissenschaften) der Kritischen Jonas-Edition vor – war die Verbindung von Jonas’ Organismus und Freiheit mit seinen bioethischen Studien, von denen sechs schon vor und thematisch unabhängig von Das Prinzip Verantwortung erarbeitet und veröffentlicht worden waren. Obwohl seit Februar 2017 sieben Bände der Edition vorliegen, hat jetzt (2018) Professor Kristian Köchy nochmals dasselbe Problem in den Mittelpunkt einer eigenen
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Stellungnahme zur Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas
Jonas ist der Philosoph der Verantwortung, dessen 90 Jahre währendes Leben das blutigste Jahrhundert der europäischen Geschichte vom Anfang bis zum Ende umspannt und dessen Werk die Deutung einer Menschheitsepoche enthält, in der es notwendig geworden ist, als ersten Imperativ einzuschärfen »daß eine Menschheit sei«, weil die Mittel, die der Mensch zur Vernichtung von seinesgleichen und
Rezension gestellt: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 41 (2018), S. 454–460. Leider berücksichtigt er nicht die in dem ersten Band (I/1, S. LXXXIX–XCIII) von Horst Gronke umrissenen thematischen Gründe für die, auch den Herausgebern – seinerzeit (2004–2006) waren es nur zwei Gesamtherausgeber: Dietrich Böhler und Walther Ch. Zimmerli, und der Bandherausgeber Horst Gronke – schwer gefallene Entscheidung. Übrigens bestand neben der von Gronke dargelegten thematischen und entstehungsgeschichtlichen Abhängigkeit der sechs kasuistischen Studien aus Technik, Medizin und Ethik (dort Nr. 6 bis 11) auch der Sachzwang, für die Abteilung »I Philosophische Hauptwerke« mit drei Bänden auszukommen. Denn die Gesamtzahl der Bände, einschließlich der Teilbände, war zwischen dem Rombach-Verlag und der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft auf 13 festgelegt worden bzw. hatte darauf beschränkt werden müssen. Die daher unumgängliche ›Editionsökonomie‹ betraf zuerst die häufigen Mehrfachveröffentlichungen. Hier schlossen sich die Herausgeber selbstverständlich Jonas’ jeweils letzter Veröffentlichung an, so daß sich z. B. »Gnosis, Existentialismus und Nihilismus« nicht mehr in Organismus und Freiheit findet, was Köchy moniert, sondern als Schluß von Gnosis und spätantiker Geist. Zweiter Teil: Von der Methodologie zur mystischen Philosophie. Als vermeintliche »Extraktion« der Herausgeber bliebe allein der Text »Unsterblichkeit und heutige Existenz« übrig. Diesen hat Jonas aber fast wörtlich 1968 in »The Concept of God after Auschwitz: A Jewish Voice« (deutsch 1984, erneut 1987 und nochmals 1992) übernommen. Die KGA dokumentiert diese Veröffentlichungsgeschichte, zu der außerdem der Vortrag »Theology of the Suffering God. Talk to Rabbis in New York«, 1965, gehört, in Band III/1, Metaphysische und religionsphilosophische Studien, 2014, wo auch der fragliche Text einen angemessenen Platz hat (S. 341–366). Ein zweiter Hauptpunkt von Köchys Kritik ist der (angebliche) Ausschluß der »Lehrbriefe« (1944/45) an Frau Lore Jonas, die Christian Wiese in Hans Jonas: Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2005, S. 348–383, veröffentlicht hat. Auch hinsichtlich der »Lehrbriefe« trägt die KGA dem Willen des Autors strikt Rechnung. Ihm ging es nämlich entschieden darum, die Gedanken der »Lehrbriefe« nicht in »der Vorläufigkeit dieses Formulierungsstadiums« – mitten im Kriegseinsatz und in Briefform – zu belassen (Brief an Dolf Sternberger, 16. 4. 1949), weshalb er sie zu dem Aufsatz »Der Organismus als Freiheit« umarbeitete und allein in dieser Form zur Veröffentlichkeit bestimmte. Dieser Maßgabe haben die Herausgeber von Band II/3 Leben und Organismus. Life and Organism erstmals entsprochen (S. 557–582, mit akribischen Erläuterungen auf S. XX– XXII, 625–627 und 669 f.). Vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit, die weiteren Kritikpunkte Professor Köchys, auch seine Meinung, Jonas’ Das Prinzip Verantwortung stelle (bloß) »eine Bereichsethik« dar, ebenfalls zu erörtern.
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Stellungnahme zur Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas
der Grundlagen des Lebens auf der Erde erfunden hat, ausreichen, um die Menschheit und ihre Lebensbasis zu zerstören. »Der Mensch«, heißt es bei Jonas (und Dietrich Böhler zitiert dieses Dictum in seiner »Replik« auf Gerhardt), »ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann. Indem er sie haben kann, hat er sie. Die Fähigkeit zur Verantwortung bedeutet schon das Unterstelltsein unter ihr Gebot: Das Können selbst führt mit sich das Sollen.« Daß schon wenige Jahre nach dem Tod von Hans Jonas eine kritische Ausgabe seiner Werke geplant wurde und seit 2010 erscheint, entspricht der Qualität seines Denkens und der Notwendigkeit, den von ihm aufgestellten Imperativ der Verantwortung für die Menschheit, für die Systeme, die der Mensch zu seiner und seiner Spezies Erhaltung ausgedacht hat, so einzuschärfen, daß sie sich nicht selbst zerstören, sondern »die Wirkungen [menschlicher] Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden«. Jonas war kein ökologischer Fundamentalist, auch und gerade die wirtschaftsethischen Notizen und Bemerkungen, die in den Bänden der kritischen Ausgabe enthalten sind, verweisen darauf, daß er bereits 1968 die Darstellung eines Prinzips der Verantwortung »für die Selbsterhaltung der Wirtschaft und damit der Gattung – auf dem Ökosystem Erde und in der technischen Zivilisation« vorweggenommen hat (D. Böhler). […] Die einzelnen Bände sind sorgfältig und übersichtlich komponiert, sie werden mit einem interpretierenden Kommentar eingeleitet, die Textkritik ist in Fußnoten lesbar, in die auch eigenhändige Marginalien von Jonas einbezogen werden, der Apparat im Anhang ist gegliedert in »Editorische Hinweise« zu Entstehung und Publikationsgeschichte des jeweiligen Textes, erschließende und belegende Anmerkungen zu den Texten sowie ein Namen- und Sachregister. Mehr und Gründlicheres kann man von einer textkritisch rezensierten und kommentierten Gesamtausgabe nicht erwarten, vor allem, weil hier nicht etwa der Anschluss an den jeweiligen Forschungsstand gesucht und gefunden wird, sondern weil der jeweilige Band den neuesten und durch die Forschung erst noch einzuholenden Forschungsstand repräsentiert. Die Kommentarteile sind sämtlich so formuliert, daß die Lesbarkeit und die Verständlichkeit des auch für Nicht-Philosophen zugänglichen Hans Jonas, der sehr persönlich und eindringlich zu formulieren vermochte, in englischer Sprache ebenso wie in deutscher, erhalten bleibt. Alle Vorzüge dieses glänzen299 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Stellungnahme zur Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas
den Stilisten werden durch den Kommentar nicht verstellt, sondern erschlossen. Ich schließe mit einer persönlichen Reminiszenz: Margarethe von Trottas Spielfilm »Hannah Arendt« (2012) habe ich etwas bekümmert verlassen, weil dieser Film mit dem Zerwürfnis zwischen den alten Freunden Hannah Arendt (gespielt von Barbara Sukowa) und Hans Jonas (gespielt von Ulrich Noethen) endet. Sie zerstreiten sich über Hannah Arendts Behauptung, in Adolf Eichmann die Verkörperung der »Banalität des Bösen« gefunden zu haben. Ich las später den Brief von Hans Jonas an Hannah Arendt (aus Haifa, vom 7. November 1974), in dem Jonas der Freundin aus 50 Jahren seines Lebens gesteht, daß dieses Leben ohne ihre Freundschaft undenkbar gewesen wäre, und fortfährt: »So konnten wir uns (mit der einzigen Ausnahme der Eichmann-Sache) um das Strittige nach Herzenslust streiten mit dem Wissen, daß wir uns ›im Grunde‹ oder ›im Eigentlichen‹, oder wie man das Ding sonst nennen mag, doch einig sind. Und dazu die schlichte Tatsache, die man Gott sei Dank nicht mit Gründen zu erklären braucht, daß ich Dich ungeheuer gern habe.« Wie ganz anders hätte der Film geendet, wenn auch nur ein Satz aus diesem Brief eingeblendet worden wäre? In Band III/2 der Jonas-Ausgabe ist nun die Grabrede von Jonas auf seine Freundin Hannah Arendt (aus dem Jahr 1975) enthalten, und darin heißt es entsprechend: »Last year, Hannah, we celebrated our fifty years, reminiscing on how it began, in Bultmann’s New Testament seminar where we two were the only Jews, and how it grew through the years, weathering long separations in space and stormy clashes of opinion – always sure in the one shared feeling of what mattered and what not, what truly counted, what to honor and what to despise.« Auch dieser Satz hätte als Einblendung in den Abspann des Films genügt. Hans Jonas, und das will ich nochmals betonen, war nicht nur ein Jahrhundertdenker, sondern im Wissenschaftlichen und im Persönlichen ein großer und unglaublich sympathischer »Schreiber«, ein systematischer und verständlicher Lehrer, ein Genie der Freundschaft. Die Förderung der Kritischen Gesamtausgabe seiner Werke empfehle ich gerne. Die dort edierten und kommentierten Texte werden weit über Fachkreise hinaus das verantwortungsbewusste Denken der Zukunft in (hoffentlich vielen Teilen der Welt) bestimmen. Mit verbindlichen Grüßen Wolfgang Frühwald
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Stellungnahme zum Antrag auf Förderung von Band V
Augsburg, 7. April 2015
Stellungnahme zum Antrag von Professor Dr. Dietrich Böhler (29. März 2015) auf Förderung von Band V der kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas Sehr geehrter Herr Dr. Schoser, […] Die Otto Wolff-Stiftung hat dankenswerterweise dem damaligen Antrag [vom 29. März 2015] entsprochen, so daß Herr Kollege Böhler nach Rücksprache mit Ihnen sich noch einmal an die Stiftung wendet. Ich beziehe mich in der neuerlichen Stellungnahme auf mein Gutachten vom 24. März 2014, in dem ich grundsätzlich zur Bedeutung von Hans Jonas, dem Philosophen der Verantwortung, und zu der ihm gewidmeten ersten Gesamtausgabe seiner Werke und Schriften Stellung genommen habe. […] Ich wünsche dem unermüdlich in Sachen Jonas tätigen Dietrich Böhler eine solche Erleichterung seiner Arbeiten sehr und wünsche insbesondere Hans Jonas, daß sein Werk nicht in den Fluten des digitalen Zeitalters untergeht, sondern durch die 2010 begonnene kritische Gesamtausgabe im kulturellen Gedächtnis der unter der Globalisierung schrumpfenden Welt den ihm gebührenden prominenten Platz behalten kann. Band V, für den der jetzt vorliegende Antrag auf eine halbe Editorenstelle gestellt wird, wird den erhaltenen Briefwechsel von Hans Jonas enthalten, das heißt insbesondere die Korrespondenz (Briefe und Gegenbriefe) eines großen und das Geistleben Europas seit den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts mitbestimmenden Kreises von Freunden und Kollegen, sowie in einem zweiten Teil (»Erinnerungen und Reflexion. Ein Denkleben in Gesprächen«) aufschlussreiche Interviews und Pressegespräche zum Werk, zum Hintergrund des Werkes und zur Zeitgeschichte. Mir liegt der Teil »Briefe« – im Umfang von mehr als 400 Seiten – in einem vorläufigen Textausdruck vor, der nicht nur das Gespräch eines Freundeskreises spiegelt, das die europäische Denkgeschichte maßgeblich mitbestimmt hat, sondern auch (und zumal in den Lücken) das Leben eines aus seiner Heimat vertriebenen jüdischen Denkers, der im Exil in unterschiedlichen Armeen gegen ein Regime gekämpft hat, das seine Mutter in Auschwitz ermordet hat, nachdem sie die Einreiseerlaubnis nach Palästina einem ihrer Söhne überlassen hatte. Diese enge Verbindung von tätigem Engagement und eingreifenden 301 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Stellungnahme zum Antrag auf Förderung von Band V
Denken kennzeichnet das Leben und Wirken von Hans Jonas insbesondere auch nach Kriegsende, als er in Kanada, den USA und – als Gastprofessor – auch in München lehrte und sein Werk in Deutschland Fuß fassen konnte. Nicht zufällig gehört Jonas zu den prominenten Friedenspreisträgern des Deutschen Buchhandels (1987). Der Briefwechsel spiegelt das Denken und das Leben eines für Freundschaft genial begabten Menschen, eines scharfen, entschieden und in den Existenzfragen der modernen Welt konsequenten Denkers, der das »Prinzip Verantwortung« zu einer Zeit einschärfte, als der Kalte Krieg täglich und stündlich in die heiße Phase eines die Welt vernichtenden Atomkrieges hätte übergehen können. Was wir Hans Jonas und seinem Wirken verdanken, wird vielleicht erst kommenden Generationen ganz deutlich werden, die erkennen können, wie rechtzeitig da ein großer Philosoph vor den Schäden gewarnt hat, die der Mensch seinem Lebensraum gierig und bedenkenlos zufügt. Der lebendige und nachhaltige Eindruck (auch der gewinnenden Person) von Hans Jonas, wie er sich aus dieser Korrespondenz ergibt, ist durch keine noch so gut geschriebene Biographie zu ersetzen. Allein der Briefwechsel mit Günther Anders, Hannah Arendt, Karl Jaspers ergibt ein Porträt eines im Denkgespräch verbundenen Kreises der Existenzphilosophie, der tatsächlich existentielle (das heißt für die Menschheit und ihre Existenz entscheidende) Fragen, wie zum Beispiel die nach der (auch untereinander umstrittenen) »Banalität des Bösen«, diskutiert und einer Lösung näherzubringen versucht hat. Daß der Schwerpunkt dieser Korrespondenzen in den Jahren nach dem Ende des Krieges liegt, hat seinen Grund im Schicksal der Emigration, der von der nationalsozialistischen Tyrannei erzwungenen Wanderschaft von Hans Jonas und vieler seiner Freunde durch die Länder der Welt. Was die überlebenden Emigranten zum Aufbau einer demokratischen Kultur in Deutschland und Europa geleistet haben, kann am Beispiel von Hans Jonas tiefgründiger und ausgreifender studiert und erkannt werden als an vielen noch so umfassend angelegten Monographien über die jetzt 70 Jahre währende längste Friedenszeit, die die neuere Geschichte in Europa kennt. Ehe ich mich in Begeisterung rede: Die Förderung gerade dieses Bandes der KGA der Werke von Hans Jonas durch die Otto WolffStiftung empfehle ich gerne und mit Nachdruck. Viele Fächer der Geisteswissenschaften und darüber hinaus ein großer Kreis von an 302 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Stellungnahme zum Antrag auf Förderung von Band V
den grundlegenden Weltfragen interessierten und engagierten Menschen wären ihr dafür dankbar. Mit verbindlichen Grüßen Wolfgang Frühwald
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4. Denken im Diskurs. Begegnungen mit Karl-Otto Apel Dietrich Böhler
Thomas Rusche hat mich ermuntert, nach den mancherlei Erinnerungen und Würdigungen von Hans Jonas, die aus meiner Feder oder der von anderen Mitgliedern des Hans Jonas-Zentrums e. V., zumal von Ralf Seidel und Vittorio Hösle 1, stammen und die Jürgen Nielsen-Sikora inzwischen durch eine Biographie wesentlich bereichert hat 2, diesen Band mit Memorabilia 3 an den komplementären Prinzipiendenker und Verantwortungsethiker der Gegenwart, meinen Doktorvater, kurzfristigen Chef, späteren Kollegen und Freund Karl-Otto Apel zu komplettieren. Das sei hier, ohne Anspruch auf hinlängliche Würdigung oder auf Annäherung an Vollständigkeit, versucht. Zunächst lehne ich mich an meinen Nachruf an und werfe einen Blick auf sein letztes, unmittelbar vor seinem Tode erschienenes Buch, dann erinnere ich mich an Begegnungen und Denkstationen.
1.
Würdigung
Der am 15. Mai 2017 im Alter von 95 Jahren verstorbene Philosoph war – paradoxerweise? – ein entschieden systematischer Denker, zugleich aber ein situationsbezogener, zeitsensibler Diskurspartner, der
Vittorio Hösle, »Erinnerungen an Gespräche mit Karl-Otto Apel«, in: topologik, numero speciale, Karl-Otto Apel, Vita e Pensiero/Leben und Denken, Vol. 1, 2019, S. 67–79. Für weitere einschlägige Beiträge: Hier, D. Böhler, Einleitung«, Anm. 8. 2 Jürgen Nielsen-Sikora, Hans Jonas. Für Freiheit und Verantwortung, Darmstadt 2017. 3 Der hier vorgelegte Text stimmt ab S. 310 im Wesentlichen überein mit meinem Beitrag »Am Wege meines Meisters. Subjektives zu dem Denker der Intersubjektivität«, in Michele Borrellis Gedenkband: Karl-Otto Apel: Leben und Werk/Karl-Otto Apel: Vita e Pensiero/Leben und Denken, Vol. 1 (topologik, Sondernummer, Numero speciale, 2019). Ich danke Professor Borrelli für die freundliche Abdruckgenehmigung. 1
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Denken im Diskurs
kein System vorlegte, sondern stets »Auseinandersetzungen« führte, wie der Titel seines voluminösen Diskursbuches von 1998 besagt. Hier räumt Apel allein den scharfsinnigen »Versuchen, mit Habermas gegen Habermas zu denken« 190 Seiten ein, hält aber auch genug Platz für spannende Diskurse mit Wittgenstein, Peter Winch und Searle, mit Heidegger, Gadamer und – kontinuierlich – mit Kant bereit. Karl-Otto Apel lehrte in Kiel, Saarbrücken und seit 1973 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, außerdem als Gastprofessor in Nord- und Südamerika, in Nord-, Ost- und Südeuropa. Stand er in Deutschland nicht selten im Schatten des äußerst produktiven und umtriebigen Urfrankfurters Habermas, so empfing er international zahlreiche Ehrungen. Und in Kalabrien gründete der Pädagoge und Philosoph Michele Borrelli ein sehr aktives, auch einen Apel-Preis verleihendes, »Centro Filosofico Internazionale Karl-Otto Apel«, das unter anderem die opulente Festschrift zum 85. Geburtstag »Filosofia trascendentalpragmatica – Transzendentalpragmatische Philosophie«, Cosenza 2007, herausbrachte. Das Hans Jonas-Zentrum e. V. in Berlin, dessen langjähriges Mitglied Professor Apel war, verdankt ihm unvergeßliche Vorträge und Diskussionen. So hielt er im Februar 1999 – vgl. den Artikel in der Berliner Zeitung vom 9. 2. 1999 – die erste Hans Jonas-Lecture im Magnus-Haus am Kupfergraben, führte ein heiß diskutierendes Seminar mit Dietrich Böhler am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin durch und gab zusammen mit Holger Burckhart 2001 das Buch Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik (Würzburg, Königshausen & Neumann) heraus. Darin finden sich seine Studie »Diskursethik als Ethik der Mitverantwortung vor den Sachzwängen der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft« und das mit ihm von Horst Gronke, Jens Peter Brune und Micha H. Werner am 5. Februar 1999, dem siebten Todestag von Hans Jonas, geführte Gespräch »Primordiale Mitverantwortung. Zur transzendentalpragmatischen Begründung der Diskursethik als Verantwortungsethik«. Im Anschluß an die Verleihung des philosophischen Ehrendoktors – sieben Jahre nach der Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas – hielt Professor Apel den viel beachteten Vortrag »Das Spannungsverhältnis zwischen Ethik, Völkerrecht und politisch-militärischer Strategie in unserer Zeit. Philosophische Retrospektive auf den Kosovo-Konflikt«. Auszüge daraus und eine Zusammenfassung Eva-Maria Schwickerts finden sich in Das Prinzip Mit-Verantwortung. Ethik 305 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Dietrich Böhler
im Dialog, REPORT 2000, Hans Jonas-Zentrum Berlin (Verlag Oberhofer), S. 49 f. und 54 ff. Wohl alle, die Apel hörten und mit ihm diskutierten, waren nicht nur tief beeindruckt von diesem hochreflektierten und politischethisch geistesgegenwärtigen Feuerkopf, sondern gingen als nachhaltig bereicherte Diskurspartner an ihre Arbeit. Apels ursprüngliche Einsicht ist die (erstmals 1973 in »Transformation der Philosophie«, Band II entwickelte) Dialektik einer mit den Geltungsansprüchen vorausgesetzten idealen Kommunikationsgemeinschaft und der Sinn vorgebenden realen Kommunikationsgemeinschaften: Etwas als dieses oder jenes verstehend, über etwas redend und etwas Bestimmtes tuend, sind wir keine einsamen Subjekte (wie die neuzeitliche Philosophie von Descartes bis Husserl unterstellte), sondern von vornherein Mitglieder realer Sprachgemeinschaften und Selbstbehaupter in realen Gesellschaften. In diesen zwar relativ durchlässigen, freilich partikularen Sinn- und Handlungszusammenhängen beanspruchen wir aber immer schon Geltung, nämlich Verständlichkeit und Wahrheit, Glaubwürdigkeit und Richtigkeit bzw. Verantwortbarkeit. Damit haben wir uns stillschweigend auf die Geltungsinstanz einer idealen Kommunikationsgemeinschaft bezogen, in der ausschließlich sinnvolle, widerspruchsfreie Argumente gelten würden und wo alle, die sinnvoll argumentieren, gleichberechtigt, aber auch gleichermaßen mitverantwortlich wären. Wie? Indem sie das Diskurs- und Moralprinzip »D« befolgen, das ich etwa so formulieren würde: ›Suche und praktiziere allein das, was die Zustimmung aller als Dialog- und Argumentationspartner verdient.‹ Praktisch folgert Apel daraus vor allem dreierlei: Kommunikation, durch die wir etwas geltend machen, verlangt Mitverantwortung für deren Realisierungsbedingungen, wie Freiheit, Auskommen, lebensdienliche Umwelt. Das ist das nicht sinnvoll bezweifelbare Prinzip Mit-Verantwortung (so der Titel des vom Hans Jonas-Zentrum der FU zu seiner Ehrenpromotion veranstalteten internationalen Ethik-Kongresses 2000). Da jedoch die realen Kommunikationsgemeinschaften mitbestimmt sind von der Selbstbehauptung der Menschen und den weniger kommunikativ als strategisch agierenden Selbstbehauptungssystemen der Gesellschaften und Nationen, der Wirtschaft, der Politik und des Rechtssystems, könne (und dürfe) man nicht damit rechnen, daß die beim Argumentieren vorausgesetzten Geltungs306 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Denken im Diskurs
ansprüche hinreichend oder nur zumeist eingelöst werden. Daraus folgert Apel: Mitverantwortung läßt sich nur realisieren, wenn wir gegen vernunft- und moralwidrige (d. h. mit widerspruchsfreien Argumenten nicht zu rechtfertigende) Selbstbehauptungs-Folgen unsererseits Konterstrategien einsetzen. Nicht irgendwelche, sondern allein solche, die sowohl erfolgsfähig als auch zustimmungswürdig sind. Apel nannte das den verantwortungsethischen »Teil B der Diskursethik«. Drittens folgert Apel, in Auseinandersetzung mit seinem Freund Habermas, daß eine Ethik, die sich durch Besinnung auf uns als virtuelle Diskurs-Teilnehmer und auf die Instanz des argumentativen Diskurses begründet, nicht ausschließlich eine Philosophie der Gerechtigkeit sein kann. Vielmehr schließe die Diskursethik ebenso Mitverantwortung als Prinzip ein. Gerechtigkeit und Mitverantwortung seien von vornherein verwoben. Auf diese Weise holt »the ugly rationalist« Apel auch Grundzüge des »Prinzip Verantwortung« von Hans Jonas ein, seinem deutsch-jüdisch-amerikanischen Denkfreund auf dem anderen, ausdrücklich metaphysischen Ufer. Ihm hatte ich 1992 im Beisein von Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker den Ehrendoktortitel verliehen. Wie die vom Hans Jonas-Zentrum verantwortete »Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas« im jüngsten Band (I/2.2) dokumentiert, hat Jonas die ökologische Krise und eine globale Mitverantwortung seit 1968 bedacht. Eben das tat Apel 1967 in seinem Göteborger und Bergener Vortrag »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«. – Zwei geistesgegenwärtige Prinzipiendenker in prinzipienunwilliger Zeit und »against the stream« einer heute zumeist prinzipienunfähigen Philosophie. Der Bundespräsident, Dr. Frank-Walter Steinmeier, veröffentlichte eine Würdigung Karl-Otto Apels in seinem Kondolenzschreiben an Frau Judith Apel. Es schließt mit den Worten: »Das Werk von Karl-Otto Apel ist […] von herausragender Aktualität. Die von ihm formulierten Regeln und Grundlagen für eine Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft unter Gleichberechtigten haben mitgeholfen, nach dem Zweiten Weltkrieg eine humane und zivile Gesellschaft aufzubauen. Weit über Deutschland hinaus genoss KarlOtto Apel zu Recht hohe Anerkennung und verdientermaßen philosophischen Ruhm.«
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Dietrich Böhler
Apels letztes Buch trägt den charakteristischen Titel »Transzendentale Reflexion und Geschichte« 4. Herausgegeben und mit einem instruktiven Nachwort versehen von dem Wuppertaler Philosophen Smail Rapic, enthält es sieben Essays und eine Vorlesungsreihe. Es bildet fast den ganzen Spannungsbogen seines Denkens ab. Dieser reicht von der Selbstaufklärung der Vernunft, nämlich durch transzendentale Reflexion nach der sprachpragmatischen Wende, die er im Anschluß an Peirce und Wittgenstein sowie in lebhaftem Austausch mit seinem Studienfreund Habermas herbeigeführt hat, zur Anwendung der Diskursethik auf die Geschichte. Eine Geschichte, die nun unter den Bedingungen von Hochtechnologie, Digitalisierung und globalisiertem Kapitalismus mit ökologischen und sozialen Verwerfungen ungeahnten Ausmaßes verläuft. Auf Kriegsfuß steht Apel zum teils relativistischen, teils szientistischen Zeitgeist und zu der entsprechend prinzipienunwilligen bzw. –unfähigen Philosophie. Dieser gilt die Suche nach Verbindlichkeiten und gar eine »Letztbegründung« von Menschenwürde, Menschenrecht und über-institutioneller Mitverantwortung zumeist als metaphysisch, »überschwänglich« und »fundamentalistisch«. Solches hielt ihm in der Festschrift »Reflexion und Verantwortung« (2003) Jürgen Habermas entgegen, der die Diskursethik in Auseinandersetzung mit dem Pionier Apel als eine Verfahrenstheorie entwickelt hat. Berühmt über Frankfurt hinaus waren die so anregenden wie aufregenden Seminardiskussionen zwischen beiden. Wiewohl der nicht mehr Unseldsche Suhrkamp Verlag das neue, wohl letzte Buch aus Apels Schatzkammer – zum Bedauern des Autors – gekürzt hat, kann der Leser darin den Denkweg des großen Nonkonformisten erahnen und sein Denkpanorama nachvollziehen, jedenfalls, wenn er das 2011 erschienene, zumal philosophiegeschichtliche Buch »Paradigmen der Ersten Philosophie« hinzunimmt, zu dem der erste Essay die Brücke schlägt. Dieser Essay »Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie« 5 führt Apels Vermittlung der Metaphysikkritik von Peirces normativem, »transzendentalem Pragmatismus« und Wittgensteins Sprachspielpragmatik mit Hegels »›absoluter Reflexion‹ auf die eigeErschienen als suhrkamp taschenbuch wissenschaft, stw 2214, 369 Seiten. Karl-Otto Apel, Paradigmen der Ersten Philosophie: Zur reflexiven – transzendentalpragmatischen – Rekonstruktion der Philosophiegeschichte, F. a. M. 2011 (Suhrkamp, stw 1985). 4 5
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Denken im Diskurs
ne Erkenntnis« vor Augen. Eben diese (gegenüber Hegels Idealismus) nur sprachpragmatisch durchführbare, mithin diesseits der Metaphysiken des Idealismus und Materialismus angesiedelte, Selbsteinholung der Philosophie macht Apel als »Letztbegründung der Diskursethik« fruchtbar. Seitens der prinzipienunwilligen und -unfähigen Mehrheitsphilosophie hat ihm das den spöttischen Titel »Letztbegründer« eingetragen. Als der Soldat Apel 1945, von Kriegsdienst und Nazigesellschaft befreit, endlich studieren konnte – Philosophie und Geschichte –, fand er die Philosophie in dürftigem Zustand: eingezwängt zwischen Existentialismus, Heideggers Entdeckung unseres Vorverständnisses von Welt einerseits, seiner Vernunftleugnung andererseits, einem nachhumboldtschem Relativismus der Sprache (mit ihren unterschiedlichen »Weltansichten«) und einem selbstgenügsamen Historismus der Geistes- und Begriffsgeschichte. Zudem erblühte eine Wissenschaftstheorie, die sich eng an die einheitswissenschaftliche Logic of Science anlehnte und die Vernunft auf eine Verfahrenstechnik verkürzte: formale Logik plus Zweckrationalität als Effizienzkalkül. Der junge Apel, Dialektiker gleichsam von Natur aus, erkannte darin die wertfrei-verfahrensrationale Seite des liberalistischen und verwissenschaftlichten Westens, zu der die, vom Existentialismus propagierte, arationale Wertentscheidung das Komplementärphänomen bildete: »Das Komplementaritätssystem der westlichen Ideologie«. So faßt er seine gesellschafts- und zeitgeistkritische Analyse zusammen, die er von seinem Klassiker »Transformation der Philosophie« (1973) bis zu den Löwener Vorlesungen (1999/2001), einem Schwerpunkt des neuen Buches, weiterentwickelte. Als Dialektiker suchte er eine vernünftige Aufhebung dieser heiklen, weil vernunftdezimierenden Komplementarität. Er fand sie in der, 1967 im epochemachenden Göteborger Vortrag »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« vorscheinenden, »Diskursethik«. Diese entwickelte er nicht nur verfahrensrational, sondern – und das war eine Hauptpointe gegenüber Habermas – moralisch verpflichtend. Die Diskursethik wird in Apels letztem Buch – auch mit Bezug auf Hans Jonas – zukunfts- und verantwortungsethisch vertieft: Das Diskursprinzip ›Suche eine Handlungsweise, deren Folgen alle, auch die Betroffenen, als Argumentationspartner zustimmen könnten‹ verpflichte, wie gesagt, nicht allein zur Gerechtigkeit im Diskurs, sondern ebenso zu einer menschheitssolidarischen »metainstitutio309 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Dietrich Böhler
nellen Mit-Verantwortung« in den Gesellschaften. Es gehe um eine Verantwortung seitens aller Menschen (die als mögliche Diskursteilnehmer z. B. von der ökologischen Krise und dem Nord-Süd-Antagonismus wissen können) für die Gewährleistung der sozialen, politischen und ökologischen Realisierungsbedingungen freier Diskurse. Neben den belgischen Vorlesungen »Die Antwort der Diskursethik auf die moralischen Herausforderungen der Gegenwart« ist es vor allem der Essay »First Things First: der Begriff primordialer Mitverantwortung – zur Begründung einer planetaren Makroethik«, der dem Leser zwei Apelsche Hauptstücke angesichts der globalen Zukunftsgefahren vor Augen führt: daß Gerechtigkeit und Mitverantwortlichkeit von vornherein verwoben sind und daß die von Kant gesuchte (aber solipsistisch und metaphysisch verfehlte) praktische Vernunft, die heutzutage nicht selten als unverbindlich gilt oder gar als unmöglich verworfen wird, uns dialogisch schon immer zur Verfügung steht. Inwiefern? Wir brauchen uns nur im argumentativen Dialog auf das zu besinnen, was wir mit unserer Rede schon als gültig und verbindlich vorausgesetzt haben und daher nicht glaubwürdig bezweifeln können. Warum? Wir haben, wann immer wir etwas geltend machen, unweigerlich moralische Verbindlichkeiten vorausgesetzt, die auf Gerechtigkeit und Mitverantwortung hinauskommen.
2.
Erinnerungen
1966 Wie bin ich Karl-Otto Apel begegnet? In Hamburg, Tübingen und nochmals in Hamburg Philosophie, Theologie, Sozialwissenschaften und Neuere deutsche Literatur studierend, hatte mich im Winter 1966 der von mir herzlich verehrte Ernst Bloch wieder zu einem Besuch eingeladen. Bloch war ja, in Leipzig mit Berufsverbot belegt, nach dem Bau der Mauer von einem Besuch in der Bundesrepublik nicht in die repressive DDR zurückgekehrt. Herzlich aufgenommen von der literarischen Muse Tübingens, der Buchhändlerin Julia Gastl, bei der das akademische Tübingen ein- und ausging, und von Siegfried Unseld, dem SuhrkampVerleger, materiell abgesichert, hatte er im schwäbischen Athen eine 310 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Denken im Diskurs
neue Wirkungsstätte gefunden. Seit November 1961 bezauberte der warmherzige Meisterdenker der Utopie, nun einundachtzigjährig, aber von jugendlich lebendigem Geiste, den nicht auf den Kopf gefallenen Teil der westdeutschen Jugend, die Schriftsteller der Gruppe 47 und die linksliberalen Kulturjournalisten. »Heidegger ist nun ausgeblocht«, hieß es unter den Blochianern. An das Abendessen mit Frau Karola schloß sich bei Cognac, den ich immer wieder nachgießen sollte, ein Nachtgespräch zu zweit an – metaphysisch, politisch, existentiell. Da ich auch seinen Rat bei der Suche nach einem Doktorvater erbat, meinte er, diesen Rat solle ich bei Walter Schulz einholen, dem die Szene überblickenden Philosophiehistoriker, Idealismus- und Existentialismusexperten. Und Professor Schulz, der mich kannte, verwies mich gleich nach Kiel: »Für das, was Sie, zwischen Marx, Kant und Hegel vorhaben, hat Apel Verständnis.« – »Ich kenne ihn aber gar nicht.« – »Kennen Sie denn Habermas?« Natürlich, den kannte jeder 68er. »Nun, Apel ist ihm nahe, denkt auch von der Kommunikation her – aber scharfsinnig transzendental.« Das klang mir verlockend. In Bad Oldesloe, bei meinem Großvater Dr. phil. lic. theol. Alfred Ursinus und meiner Mutter wohnend, bat ich kurz darauf Professor Apel um einen Termin, fuhr zu ihm nach Kiel und überströmte ihn mit so unruhigen wie unreifen Gedanken zwischen Marx und Heidegger, Ernst Bloch und Walter Benjamin, Frankfurter Schule und Habermas, Kant und Hegel. »Ich bin kein Heideggerianer«, sagte Apel, »trotzdem möchte ich jetzt aber Heidegger zitieren, der einmal, als ich einen Vortrag über Peirce hielt, dazu kam, wohl weil man den amerikanischen Feind kennen mußte, und beredt schwieg. Er soll gesagt haben: ›Der Denker denkt nur einen Gedanken.‹« Da stand ich nun … Auf der Rückfahrt überlegte ich mir: ›Was will er bloß? Wir haben doch den Dialog!‹, wußte aber noch (lange) nicht, was ich damit sagte, geschweige, daß es mit mir auf ein Denken aus dem Dialog im Dialog hinauswollte.
1967/68 Seit meinem »Exodus« aus dem damals politisch reaktionären Emsland, wo mein Vater bis 1958/59 das Elektrizitätswerk Rühle bei Meppen leitete und wo ich als protestantischer Atompazifist und 311 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Dietrich Böhler
linksaußen galt, engagierte ich mich z. B. in der Ostermarschbewegung, in der Evangelischen Studentengemeinde und der »Kritischen Universität« Hamburg. Undogmatischer Neomarxismus, reflektierte Theorie-Praxis-Vermittlung und kritische Hermeneutik waren meine Stichworte. Daher verschlang ich drei wegweisende Aufsätze KarlOtto Apels 6 und eignete sie mir für meine Dogmatismus- bzw. Objektivismuskritik an Marx und der alten Frankfurter Schule, die mir als »verschwiegene Orthodoxie« (Habermas) erschien 7, begierig an. Angesichts meines anfänglich uferlosen und hypertrophen Dissertationsprojekts jedoch verzweifelnd, rettete mich – ganz auf seine Art – der neue Lehrer. Für dessen Seminar über Theorie-Praxis-Ideologiekritik fuhr ich jede Woche nach Kiel. Feuerkopf, der er war, unterbrach Apel mein Seminarreferat über Marxens Ideologiekritik so oft mit sehr langen glanzvollen Exkursen, die mich staunen machten und flugs die Seminarzeit auffraßen, so daß ich in der nächsten Woche weiter referieren mußte. Aber selbstredend hatte ich das Referat inzwischen ›apelogisch‹ umgeschrieben und kräftig erweitert. In der folgenden Sitzung ergab sich ein vertiefter Diskurs mit dem genialen Meister, was dann zu erneutem Umschreiben und Erweitern des Schülerreferates führte. Und so viermal. In der fünften Sitzung kam ich noch nicht zum Schluß … Das Semester war fast halb vorüber, als ich mein Permanenzreferat gehalten hatte – und endlich wußte, welchen Duktus meine Auseinandersetzung mit Marx und der »Kritischen Theorie« haben müßte. 8
Karl-Otto Apel, »Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht«, in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. 2. Das Apriori der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1973 (zit.: Transformation II), S. 96–127. Ders., »Reflexion und materielle Praxis: Zur erkenntnisanthropologischen Begründung der Dialektik zwischen Hegel und Marx«, ebd., S. 9–27. Und ders., »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, ebd., S. 358–435. 7 Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied u. Berlin 1963, S. 228–279, hier: S. 235. Vgl. Dieterich Böhler, »›Kritische Theorie‹ – kritisch reflektiert«, in: ARSP – Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. LVI/4, 1970, S. 511–525. 8 Dietrich Böhler, »Theorie und Praxis«, in: auditorium (Hamburger Studentenzeitschrift), hg. AStA, Nr. 57/1968, S. 10 f, und Nr. 58/1969, S. 14. Ders., Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und Theorie-Praxis-Vermittlung, Frankfurt a. M. 1971 (439 S.). 6
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Denken im Diskurs
1970–1973 mit naheliegendem Vorgriff auf 1985 und 2000 Nachdem Karl-Otto Apel in Saarbrücken hochinteressante, szientismuskritische und z. T. an Peirce orientierte Vorlesungen über Wissenschaftstheorie und zusammen mit seinem Studienfreund und Kollegen Karl-Heinz Ilting – über zwei Semester – ein inspirierendes Seminar über Peirce gehalten hatte, deren hochinterpretierender Duktus aber der philologischen Mikroperspektive Iltings unerträglich war, kam sein großer Wurf. Trotz nun sehr angespannter, unkollegialer Atmosphäre am Institut, unter der er sichtlich litt, gelang es ihm, seine wichtigsten Arbeiten zur kommunikationsbezogenen Transformation der Philosophie (2 Bände) zusammenzustellen und das Ganze mit einer großen, systematischen Einleitung zu versehen, die auf »den dialektischen Ansatz der Transzendentalphilosophie« und das »Apriori der Geltungsreflexion« zielte. Oft schon hatten Jürgen Habermas und Schüler wie Wolfgang Kuhlmann und ich ihn dazu gedrängt. 9 Die so freundschaftliche wie fruchtbare Beziehung zu Habermas brachte mich – Apel hatte mir, zu meinem Glück, nach Lektüre meiner, auf seinen Rat ganz auf Marx konzentrierten, daher stark gekürzten, aber immer noch voluminösen Doktorarbeit eine volle Assistentenstelle an der Universität des Saarlandes angeboten, und ich fühlte mich ihm engagiert verbunden – auf einen kühnen Gedanken. Es war ein Gedanke, der sich für meinen nun atmosphärisch bedrängten Chef und für den mit langem Atem über »Reflexion und kommunikative Erfahrung« promovierenden, in Saarbrücken mit nur einer halben Mitarbeiterstelle unzureichend versorgten, Wolfgang Karl-Otto Apel war sehr angetan davon, daß ich im »Systematischen Aufriß« meiner Diss. seinen erkenntnisanthropologischen Ansatz, den Vorläufer der Transzendentalpragmatik, vor allem die der Subjekt-Objekt-Relation zugrundeliegende, aber in der wissenschaftlichen Methode ihr komplementäre, »Intersubjektivitätsrelation« und die Komplementaritäten von Sinnverstehen und kausalem Erklären einerseits, von »Erkenntnis durch Reflexion und Erkenntnis durch Engagement« andererseits erstmals dargestellt und in der Marxkritik angewandt hatte (Metakritik, S. 94–102): »Sie machen meinen Ansatz bekannt! Wann werde ich ihn je in Buchform präsentieren?« – »Bald«, meinte ich und fragte: »Dürfen wir Ihnen helfen? Womit können wir beginnen?« Knapp zwei Jahre später, 1973, erschien die Transformation, deren zweiter Band den Weg von der »Erkenntnisanthropologie« zur »transzendentalen Hermeneutik« und, in Auseinandersetzung mit Charles Sanders Peirce sowie Wittgenstein, noch tastend, zur sinnkritischen Transzendentalpragmatik avant la lettre zurücklegt.
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Dietrich Böhler
Kuhlmann als hilfreich erweisen sollte. Ich fuhr nämlich mit meinem Frankfurter politisch-protestantischen Engagementfreund Joachim Perels zu Jürgen Habermas, der nicht weit von den Perels im Taunus wohnte und von dessen bevorstehendem Übergang zum Max-PlanckInstitut in Starnberg ich gehört hatte. Als ich die Möglichkeit eines Wechsels von Apel nach Frankfurt ertastete, meinte Habermas überrascht: »Aber Karl-Otto will doch in der Provinz bleiben.« – »Nicht mehr«, entgegnete ich und schilderte die untragbar gewordenen Kommunikationsbedingungen in Saarbrückens Philosophischem Institut. Daraufhin deutete er, sehr freundlich und mit diplomatischer Entschlossenheit, uns gegenüber an, daß man in dieser Sache etwas tun solle – und wohl auch könne … Schon zum Wintersemester 1972 auf 73 ging Professor Apel, frisch berufen und gewissermaßen mit den Druckfahnen der Transformation unter dem Arm, begleitet von Wolfgang Kuhlmann (auf einer vollen Stelle) an die Johann Wolfgang von Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Zwar mußte ich zurückbleiben 10, konnte mich aber erfolgreich auf eine fünf- oder sechsjährige Assistenzprofessur in Saarbrücken bewerben, nachdem mehrere Studien 11 fertiggestellt waren. So auch meine von Apel angeregte und dem Herausgeber einer renommierten Buchreihe empfohlene Gehlenstudie. Sie knüpfte an Apels kritische und dialektisch aufhebende Rezension »Arnold Gehlens ›Philosophie der Institutionen‹ und die Metainstitution der Sprache« 12 an, die 1962 in der Philosophischen Rundschau erschienen war und dann in Band I der Transformation aufgenommen wurde. Auch Habermas, der sich polemischer und politischer mit Gehlen auseinandersetzte 13, inspirierte mich. Die Pointe war, daß ich meine Auseinandersetzung mit Gehlen 14 Offenbar zerstörte der vereiste hessische Landeshaushalt die Blütenträume neuberufener Universitätsprofessoren. 11 Dietrich Böhler, »Rechtstheorie als kritische Reflexion«, in: W. Maihofer u. G. Jahr (Hg.), Rechtstheorie. Beiträge zur Grundlagendiskussion, Frankfurt a. M. 1971, S. 62–120. Ders., »Das Problem des ›emanzipatorischen Interesse‹ und seiner gesellschaftlichen Wahrnehmung«, in: Man and World, III, No. 2, May 1970, S. 26–53. 12 Dietrich Böhler, »Arnold Gehlen: Die Handlung«, in: Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II, hg. von Josef Speck, Göttingen 1973, S. 230–280 (zit.: Böhler, 1973), hier: S. 263, vgl. bes. S. 260–278. 13 Vgl. Jürgen Habermas, »Arnold Gehlen. Nachgeahmte Substantialität«, in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a. M. 1971, S. 200–221. Ders., Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a. M. 1968. 14 In deren Hintergrund deutet sich – so scheint es mir heute – wohl schon Apels 10
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Denken im Diskurs
weder als Beitrag zur Anthropologie noch zur Institutionenlehre verstand, sondern als eine avant la lettre transzendentalpragmatisch begründete Kritik, nämlich als Beitrag zu einer »dialektischen Handlungstheorie auf der Ebene transzendentaler Pragmatik«. 15 Ebenfalls 1973 näherte sich Apel dem neuen Terminus ›Transzendentalpragmatik‹, als er »die transzendentalphilosophische Problematik der ›Letztbegründung‹ nicht anhand abstrakt vorgestellter Satzsysteme« beurteilt sehen wollte. Vielmehr müsse man »eine ›transzendentale Sprach-Pragmatik‹ für möglich halten […], in der das Subjekt der Argumentation auf die in der Sprechsituation (und in der Denksituation als internalisierter Sprechsituation) immer schon vorausgesetzten Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit der Argumentation zu reflektieren vermag.« 16 Das war ein Paukenschlag! Damit konnte Apel, notabene unterstützt von dem Logiker Hans Lenk 17, entscheidend sowohl gegen die von der Popper-Schule, zumal von Hans Albert wie eine Monstranz der kritischen Rationalität vor sich hergetragene These der Unmöglichkeit einer philosophischen Letztbegründung argumentieren. Er hebelte deren Prämisse aus, alle Begründungen seien ›fallibel‹ und müßten durch, ebenfalls fallible, kritische Prüfungen ersetzt werden. Mit seiner reflexiv-transzendentalen, schärfer noch: kruzial sinnkritischen Argumentation trat die Transzendentalpragmatik als eigenständige Begründungsform auf den Plan. Wolfgang Kuhlmann hat sie 1985 als »reflexive Letztbegründung« rekonstruiert und weitergeführt. 18 In der Berliner Laudatio auf den Ehrendoktor Karl-Otto Apel würdigte ich dieses Begründungsdenken: »Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik. Karl-Otto Apels Athene im Rücken«. 19 spätere Dialektik des doppelten Aprioris der Kommunikationsgemeinschaft an: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, in: Transformation II, bes. S. 426 ff. 15 Böhler, 1973, S. 263, vgl. S. 260–278. Das damit gegebene Versprechen löste ich erst 1981 in meiner Habilschrift ein, deren um den Teil ›transzendentale Hermeneutik‹ gekürzte Fassung 1985 als Rekonstruktive Pragmatik bei Suhrkamp erschien. 16 Apel, Transformation II, S. 409. 17 Apel zitiert (ebd., S. 410) »die ausgezeichnete Studie von H. Lenk, ›Philosophische Logikbegründung und Rationaler Kritizismus‹«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd. 24 (1970), S. 183–205. 18 Wolfgang Kuhlmann, 1985. 19 In: Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, hg. von D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk, Frankfurt a. M. 2003, S. 15–43.
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Dietrich Böhler
1976–1981 Leider habe ich, sehr von meinen neuen Aufgaben als Berliner Professor in Anspruch genommen, für den Zeitraum zwischen Karl-Otto Apels Weggang aus Saarbrücken und den ersten Vorboten einer neuen Gemeinsamkeit zwischen Berlin, Frankfurt und meinem Wohnort Saarbrücken so gut wie nichts über meinen Lehrer zu berichten, was dann ebenso für die achtziger Jahre bis zum Kongreß »Ecology and Ethics« im nordnorwegischen Melbu, 1990, zutrifft. Dort begegnete ich auch – erstmals – Hans und Lore Jonas. Apel hatte gewissermaßen Hausrecht in Melbu, seit sein Schwager, der Karlsruher Professor für Violine Jörg-Wolfgang Jahn, dort jährlich musikalische Sommerkurse durchführte, welche er schließlich mit Apels und Øfstis Hilfe zu einem Kulturfestival transformiert hatte. 20 Nach 1973 stellte Apel im weltläufigen, nicht etwa nur das Erbe der »Kritischen Theorie« aktualisierenden, sondern die Crème der internationalen Philosophie und Sprachpragmatik, zum Beispiel John R. Searle, anlockenden Frankfurt die Transzendentalpragmatik auf die Füße: Einerseits im Diskurs mit seinem, des öfteren aus Starnberg hinzukommenden, alten Freund Jürgen Habermas und mit Wolfgang Kuhlmann, der 1975 seine bedeutende Dissertation Reflexion und kommunikative Erfahrung bei Suhrkamp veröffentlichte, andererseits im Diskurs mit Linguisten bzw. empirischen Sprachpragmatikern 21, aber auch – 1977/97 – in Auseinandersetzung mit (praktischen) Philosophen wie Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner, Hermann Lübbe und Willi Oelmüller. 22 Das von Oelmüller 1976 in Paderborn veranstaltete Kolloquium war den (quasi-) transzendentalphilosophischen Ansätzen der Normenbegründung von Krings, Habermas und Apel gewidmet. Apel und Kuhlmann präsentierten erstmals die »logische Struktur transzendentalpragmatischer Normenbegründung« (Kuhlmann) 23 und deren komplementären Begründungsteile A und B – eine noch heute äußerst anregende, mich damals geradezu faszinierende Lektüre. Ein exemplarisches Zeugnis: Audun Øfsti (ed.), Ecology and Ethics. A Report from the Melbu Conference, 18–23 July 1990 (zit.: Melbu). 21 Karl-Otto Apel (Hg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a. M. (Suhrkamp, Theorie-Diskussion) 1976. 22 Willi Oelmüller (Hg.), Transzendentalphilosophische Normenbegründungen, Paderborn 1978. 23 Wolfgang Kuhlmann, ebd., S. 15–26. 20
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Denken im Diskurs
Als »Teil A« führte Apel die »diskurs-reflexive Transzendentalpragmatik« ein: In der »Situation des geltungsreflexiven Diskurses« könne man nicht nur, wie es Habermas in der Gefahr einer »›naturalistic fallacy‹« tue, »auf das Faktum der kommunikativen Kompetenz als ethisch relevanter Redekompetenz hinweisen, sondern man kann jetzt jeden Kommunikationsteilnehmer dessen überführen, daß er, sofern sein Tun sinnvoll sein soll, immer schon notwendigerweise in voller Freiheit Normen einer idealen Sprechsituation bzw. idealen Kommunikationsgemeinschaft als Bedingungen der Möglichkeit der Einlösung der vier von Habermas vorausgesetzten Geltungsansprüche anerkannt hat.« Damit sei aber auch schon »die ethische Grundnorm als normative Bedingung der Möglichkeit des Diskurses« anerkannt. Und diese könne »weder ohne aktuellen Selbstwiderspruch bestritten noch ohne petitio principii deduktiv bewiesen werden. Dies ist die Letztbegründungsformel.« 24 Jetzt war die transzendentalpragmatische Begründung einer Diskursethik auf dem Tisch, und ich dachte bei mir: Nun fehlt der Transzendentalpragmatik nur noch eine große Öffentlichkeit, nicht ahnend, daß sich dafür bald eine Chance böte, die ich ergreifen könnte … Noch nicht habilitiert, sondern als junger Berliner Professor, der aber mit seiner in Saarbrücken verankerten Familie noch dort lebte und an beiden Universitäten engagiert war, hatte ich doch – es gab inzwischen eine ganze Reihe von Aufsätzen, Radiovorträgen und Artikeln – einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. So waren auch der »Vater des Funkkollegs« und Hauptabteilungsleiter des Hessischen Rundfunks, Dr. Gerd Kadelbach, und sein philosophischer sowie kulturpolitischer Berater, Karl-Heinz Peters, Ministerialer im saarländischen Kultusministerium und Mitinitiator der Bildungsinstitution »Funkkolleg« auf mich aufmerksam geworden. Sie luden mich zu zwei Gesprächen in Frankfurt und Saarbrücken ein: »Könnten Sie uns bald den Entwurf eines Curriculums für ein zweisemestriges ›Funkkolleg Philosophie‹ ausarbeiten, den wir dem interministeriellen Planungsausschuß ›Funkkolleg‹ der Bundesländer Hessen, BadenWürttemberg, Saarland, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz vorlegen und dort diskutieren bzw. verabschieden können? Was halten Sie davon, wenn wir außer Ihnen, der federführend sein könnte, auch die Professoren Walter Schulz, Robert Spaemann, Dieter Hen-
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Dietrich Böhler
rich, Otfried Höffe und Manfred Riedel, vielleicht auch Hans Albert, als Mitarbeiter und Autoren dazu bitten?« Ein verlockendes Angebot. »Ja, sehr gerne. Ich schlage vor, diese Sendereihe und die vertiefenden Texte zu konzentrieren auf Praktische Philosophie und Ethik, welche bislang völlig im Schatten von Wissenschaftstheorie, Philosophiegeschichte und Hermeneutik stand. Aber angesichts der neuartigen Herausforderungen des Atomzeitalters, der ökologischen und hochtechnologischen Gefahren einerseits und der neuen kommunikationsphilosophischen Chancen einer ›Transformation der Philosophie‹, wie sie an den Universitäten Saarbrücken und Frankfurt maßgeblich von Professor Apel herausgearbeitet werden, wäre es angemessen, das multimediale Projekt als ›Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik‹ zu entwickeln. Und dazu bräuchten wir an der Spitze Karl-Otto Apel. Die erforderliche Transformation ist geradezu sein Programm; und er hat es nicht allein in Frankfurt, sondern auf internationaler Bühne schon exemplarisch vorangetrieben. Zudem würde der nachbarschaftliche Kontakt zwischen der Johann Wolfgang Goethe-Universität und dem Hessischen Rundfunk der Arbeit sicher förderlich sein. Außerdem könnte sich Herr Apel auf einen großartigen und verläßlichen Mitarbeiter, Wolfgang Kuhlmann, stützen.« Das überzeugte. Schließlich wurden Apel und Böhler zu den verantwortlichen »Team-Chefs« ernannt. Freilich kam es auf dem ›langen Marsch durch die beteiligten Institutionen‹ und erst recht im mühsamen Abstimmungsprozeß bzw. der Kompromißfindung zwischen den sehr unterschiedlichen Kollegen durchaus zu Konflikten. So akzeptierten manche weder meinen Curriculumsentwurf noch gar einige meiner traditionskritischen Thesen – etwa gegen Erzväter wie Platon, Aristoteles und Descartes. Ich war verstört, zu sehen, daß es selbst unter Philosophen möglich war, das Argumentieren durch Türenschlagen und Herausgehen zu ersetzen … Wunderbar war es jedoch, meinen Meister Apel als ebenso argumentationsstarken wie moralisch strategischen Kämpfer an meiner Seite zu erleben: Philosophie-politisch erprobte er nun, was er als verantwortungsethischen, strategische Mittel – gegen bzw. in »Selbstbehauptungssystemen« – legitimierenden »Teil B der Ethik« in der Transformation II (S. 426 ff.) angedeutet und inzwischen (1976) entwickelt hatte: »Man verhält sich hier strategisch – ich drücke mich im folgenden bewußt naiv aus, um die moralischen Ausdrücke zu verwenden –, um im Effekt das Gute und nicht etwa den 318 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Denken im Diskurs
Erfolg der Bösen zu befördern, die sich ohnehin nicht nach dem kategorischen Imperativ richten, wie man als nicht Naiver zu wissen hat.« 25 Drei (und sechs) Jahre später, in den »Studienbegleitbriefen« (1981) bzw. »Studientexten« (1984) pointierte Apel den moralstrategischen Teil B der Ethik. Er betont, daß es in der realen Welt natürlich keine idealen Kommunikationsverhältnisse geben könne. Eben deshalb »schließt der Standpunkt der Verantwortungsethik allerdings die Notwendigkeit ein, in jeder konkreten Situation auch den Kommunikationspartnern gegenüber gegebenenfalls nicht vorbehaltlos verständigungsorientiert, sondern strategisch zu handeln. Denn auch im Bereich der Kommunikation sind nun die zu erwartenden Folgen des Redens und Schweigens möglichst realistisch in Rechnung zu stellen.« 26 Für mich war dieses gemeinsame, auch moralisch-strategische Engagement mit meinem Lehrer so erfreulich wie bestärkend, vor allem aber eine lehrreiche Einführung in den »Teil B«. Im Funkkolleg haben wir ihn dann beide auszubuchstabieren gesucht, 27 wohingegen ich ihn später nicht mehr als »Ergänzung« des Diskursmoralprinzips »D« entwickelte, sondern als dessen von vornherein implizierte Konkretion in allen realgeschichtlichen Situationen, die als solche nicht den kontrafaktischen Bedingungen einer idealen Kommunikationsund Argumentationsgemeinschaft entsprechen. 28 Das Problem einer
»Der Ansatz von Apel«, ebd., S. 160–203, bes. S. 161, 169–175, 183–186 und 190; hier: S. 170. 26 Funkkolleg Studientexte, Bd. 1, S. 126. 27 Ebd., S. 125–127, 418, 430 f., 625, 631 ff. 28 Dietrich Böhler, »Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung«, in: Karl-Otto Apel (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Ffm. 1992, S. 201–231, bes. 203–206, 216–224; ders., »Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung«, in: Thomas Bausch, Dietrich Böhler, Horst Gronke u. a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft, EWD-Band 3, Münster u. a. 2000, S. 34–69, bes. 63–67, vgl. 48 u. 55 ff.; ders., »Normativität – als gestufter Begriff«, in: Thomas Bausch (Hg.), Normativität und Anwendungsbedingungen einer Wirtschafts- und Unternehmensethik in marktwirtschaftlichen Wettbewerbsstrukturen, EWD-Band 14, Münster u. a. 2008, S. 5–40, hier 32–38. Vgl. auch – im Sinne eines partiellen Rückgangs auf Kant – Micha Werner, »Die Verantwortungsethik Karl-Otto Apels«, in: Karl-Otto Apel und Holger Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung, Würzburg 2001, S. 123–144; ders., Diskursethik als Maximenethik, Würzburg 2003, bes. S. 20–26, 145–150 u. 257 ff. 25
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moralisch legitimen und sogar gebotenen Erfolgsverantwortung hat mich bis heute nicht losgelassen. 29 Zu dem von mir pluralistisch und diskursiv entworfenen Funkkolleg steuerte Apel, zum Teil gemeinsam oder arbeitsteilig mit Wolfgang Kuhlmann, entscheidende Radiosendungen bei, sei es als LiveDiskussion, sei es als Feature. Zur Einführung beantwortete er die anthropologische Frage »Weshalb benötigt der Mensch Ethik?« und die sich anschließende Frage, in welchen Auswirkungsbereichen menschlichen Handelns sich heute, im technologischen Zeitalter, moralische Probleme stellen. Eine erste Antwort auf diese Fragen meines Curriculums war die Unterscheidung der Mikrodimension des Privatlebens, der Mesodimension der Politik und der neuartigen Makrodimension der »planetaren Ökosphäre« und der Atomtechnologie. Daran schloß sich die Analyse an, daß Probleme der ersten beiden, gleichsam traditionellen ethischen Bereiche, heute z. T. zu Problemen des Makrobereichs werden, nämlich zu Aufgaben einer Verantwortung für die Welt bzw. die Erde. »So wird zum Beispiel das scheinbar private Intimsphären-Problem der Geburtenregelung zu einer Streitfrage internationaler Konferenzen über die Gefahren einer Überbevölkerung der Erde; und die klassischen Probleme der politischen Staatsräson – so etwa die der Diplomatie und ihrer militärischen Fortsetzung, die früher vielfach als außermoralisch angesehen wurden, nehmen auf den Abrüstungskonferenzen der Weltmächte eine neue Dimension an – eine Dimension, die schon deshalb nicht nur machtstrategisch, sondern auch ethisch relevant ist, weil das Überleben der Menschheit davon abhängen kann.« 30 In dem die Radiosendungen vertiefenden und erheblich erweiternden »Studientext« wie auch später in Diskurs und Verantwortung 31 führte Apel diese Perspektive ethologisch und evolutionstheoretisch weiter. Dann ergänzte er sie durch eine dialektische 29 Dietrich Böhler, »Entweder Gesinnungs- oder Verantwortungsethik?«, in: Pastoraltheologie. Monatsschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft, 107. Jg., 2018/1, S. 36–61. 30 Karl-Otto Apel, »Die Situation des Menschen als Herausforderung an die praktische Vernunft«, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 1, S. 18, und ders., in: Funkkolleg Dialoge, Bd. 1, S. 49 f. 31 Ders., »Die Situation des Menschen als ethisches Problem«, in: ders., Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. 1988, S. 42–68.
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Aufhebung der Institutionentheorie Gehlens und vor allem durch eine, auch von Habermas belehrte, Rezeption von Lawrence Kohlbergs »Stufenschema der Moralentwicklung«. 32 Dieses Schema wandte er in zwei weiteren Radiosendungen und zumal in den Studientexten 3 und 4 auf die Ontogenese an: Ingeniös rekonstruierte und kritisierte er so die Entwicklung der antiken Moralphilosophie 33 und dann der neuzeitlichen praktischen Philosophie von Hobbes über Kant bis in die Gegenwart. 34 Vor dem Hintergrund meiner Studientexte 11 bis 13, die unter anderem das Konzept des idealen kritischen Diskurses, eine Typologie der Diskurse, das doppelte Kommunikationsapriori sowie das Verhältnis von Gewissen und Argumentationsgemeinschaft erörterten und unhintergehbare Diskursnormen begründeten 35, um auf dieser Basis Platon und Aristoteles 36, Thomas, Machiavelli, Descartes und Kant 37 einer transzendentalpragmatischen und diskursreflexiven Geltungsprüfung zu unterziehen, – vor diesem Hintergrund konnten Apel und Kuhlmann die transzendentalpragmatische Letztbegründung vorführen. Apel tat das in aufregenden Live-Diskussionen: zunächst mit Hermann Lübbe anhand der Frage »Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen nötig?« 38. Sodann mit Hans Albert: »Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?« 39 Kuhlmann schloß daran zwei so klare wie scharfsinnige Erörterungen an. 40 Auf diesem Fundament, gewissermaßen dem disDers., »Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußtseins«, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 1, S. 59 ff. 33 Ders., »Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie (I)«, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 1, S. 66–99. 34 Ders., »Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie (II)«, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 1, S. 100–137. 35 Dietrich Böhler, »Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis«, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 313–355. 36 Ders., »Kosmos-Vernunft und Lebens-Klugheit«, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 356–395. 37 Ders., »Instrumentelle und praktische Vernunft – das ethische Dilemma der Neuzeit«, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 396–433. 38 Karl-Otto Apel, in: Funkkolleg Dialoge, Bd. 2, S. 54–81. 39 Ebd., S. 82–122. 40 Wolfgang Kuhlmann, »Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen nötig?«, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 523–571. Ders., »Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?«, ebd., S. 572–605. 32
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kursreflexiven »Begründungsteil A« der normativen Ethik, konnte Karl-Otto Apel dann die Anwendungsfrage des Curriculums stellen, und zwar in Auseinandersetzung mit Hegel und dem Utilitarismus, mit Hans Jonas und mit Max Weber: »Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?« 41 Nach einer Live-Diskussion mit Apel, Hermann Lübbe und Iring Fetscher konkretisierte ich die Anwendungsfrage politisch-ethisch, menschenrechtlich und verantwortungsethisch: »Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit, ›weltbürgerliche‹ Gesellschaft oder ›unsere‹ Gesellschaft?« 42 Die anderen, kaum weniger spannenden und erhellenden »Dialoge« (zwei Bände) und »Studientexte« (drei Bände) des Funkkollegs kann ich hier nicht thematisieren. Die öffentliche bildungs- und z. T. auch hochschulpolitische Wirkung des ganzen Projektes war jedenfalls enorm. Und die drei Transzendentalpragmatiker waren froh, eine konsistente, vielbeachtete Geburtsurkunde der reflexiv begründeten Diskursethik vorgelegt zu haben. Mich spornte diese kommunikative Leistung zweifach an: Zunächst schloß ich endlich meine Habilschrift »Rekonstruktive Pragmatik und Hermeneutik. Handlung, Verstehen und Dialog. Zur pragmatisch-hermeneutischen Wende in Wissenschaften und Philosophie« (488 S.) ab und reichte sie an der Universität des Saarlandes ein, wo mir im Dezember 1981 die venia legendi für Philosophie verliehen wurde. Auswärtiger Gutachter war Professor Apel. 43 Freilich sollte es noch Jahre dauern, bis daraus ein käufliches Buch wurde: nicht nur, weil der Verlag starke Kürzungen erwartete (leider de facto um den »Teil C: Text, Verstehen und Dialog. Zu einer pragmatisch belehrten Transzendentalhermeneutik«), sondern weil ich zahlreiche andere Zusagen machte: zu viele Vortragseinladungen und eine norwegische Gastprofessur. Hinzu kam sowohl die Aufforderung des S. Fischer Taschenbuchverlags an mich, die Radiosendungen zu überarbeiten und mit Glossar, Registern etc. versehen in zwei Bänden Dialoge (427 und So Apel, ebd., S. 606–634. Dietrich Böhler, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 3, S. 845–886 43 In Apels Gutachten heißt es: »Im ganzen scheint mir die vorliegende Arbeit ein großer Wurf zu sein, der als Gesamtkonzeption und durch seine Einzelthesen die zeitgenössische Diskussion nachhaltig anzuregen vermag. Aus der Perspektive, aus der ich selbst diese Probleme seit Jahrzehnten behandelt habe, kann ich nur sagen: ein großer Schritt vorwärts.« 41 42
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415 Seiten) herauszugeben, als auch das entsprechende Angebot des Beltz-Verlages, ich möge auch die Studientexte für eine Buchausgabe in drei Bänden (1093 Seiten) bearbeiten und edieren. Als das 1984 geschafft war und fünf Bände vorlagen, von deren Umfang Herr Apel, Wolfgang Kuhlmann und ich immerhin ca. 470 Seiten »Studientexte« und 713 Seiten »Dialoge« verfaßt hatten, waren wir froh über dieses Arbeitsergebnis unserer kleinen Kommunikationsgemeinschaft und deren Diskurse mit Dritten, darunter manche starken Gegner. Das Funkkolleg hat die Transzendentalpragmatik und ihre Diskursethik vorangebracht und publik gemacht. Was mich selbst anging, so konnte ich, nun entlastet von allen Funkkollegverpflichtungen, 1985 endlich meine transzendentalpragmatische Monographie abschließen 44, so daß sie zeitgleich mit der von Wolfgang Kuhlmann erschien. 45
1990 und 1992 In den späten achtziger und vor allem in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts traf ich meinen Lehrer selten, ein, zwei Mal in Frankfurt, einmal in Dubrovnik und, wie erwähnt, 1990 auf dem unvergeßlichen Kongreß in Melbu, wohin Apels zusammen mit Hans und Lore Jonas von dem Kieler Symposion »Ethik und Politik heute« angereist waren. 46 Adela Cortina 47, Hans Lenk 48 und Apel 49 hielten dort große ökoethische Vorträge. 50 Der Vortrag Karl-Otto Apels beDietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, Frankfurt a. M. 1985 (484 Seiten). 45 Wolfgang Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, Freiburg/München 1985 (346 Seiten, zit.: Kuhlmann, 1985). 46 Dokumente und Erläuterungen zu diesen Kongressen: Björn Engholm u. Wilfried Röhrich (Hg.), Ethik und Politik heute. Verantwortliches Handeln in der technischindustriellen Welt, Opladen 1990. Audun Øfsti (ed.), Melbu. Dietrich Böhler u. Bernadette Herrmann (Hg.), Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas, Bd. I/ 2: Das Prinzip Verantwortung, Zweiter Teilband, Freiburg/Berlin/Wien 2017, S. 63 ff. 47 Adela Cortina, »Ecology and Peoples«, in: Audun Øfsti (ed.), Melbu, S. 55–71. 48 Hans Lenk u. Matthias Maring, »Ecology and Ethics«, ebd., S. 177–214. 49 Karl-Otto Apel, »The Ecological Crisis as a Problem for Discourse Ethics«, ebd., S. 219–260. Auf deutsch in: Dietrich Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 369–404. 50 Ferner gab es u. a. die Vorträge: Dietrich Böhler, »Responsibilty of Technological Sciences and Public Discourse«, in: Audun Øfsti (ed.), Melbu, S. 73–90 und Audun 44
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wegte mich. Entdeckte der Transzendentalpragmatiker hier doch seine Nähe zur Metaphysik, sofern diese nicht dogmatisch war, sondern unentbehrlich, um der nötigen Radikalität des Denkens, Sich-Verhaltens und politischen Handelns angesichts der selbstverschuldeten Lebensgefahr für Menschen- und Tierwelt Ausdruck zu verleihen. So dachte und sprach er: »Jonas interpretiert die Teleologie als Selbstbejahung des Seins, die in der Struktur lebender Organismen durchsichtig, darüber hinaus aber in der Existenz des Menschen (insbesondere im existentiellen Verstehen des Todes!) zu einem Anliegen des Selbstbewußtseins werde. Aus dem so gedeuteten ontologischen Prinzip der Teleologie leitet Jonas den ›ersten Imperativ‹ seiner Ethik der Verantwortung ab: den Imperativ, ›daß eine Menschheit sei‹. Ich glaube, daß dieser Imperativ, der keine individuelle, sondern eine kollektive Pflicht zur Fortpflanzung impliziert, als die kühnste und die in höchstem Maße paradigmatische Forderung einer neuartigen Ethik der Zukunftsverantwortung zu gelten hat, die bislang als Antwort auf die ökologische Krise formuliert worden ist. Indem ich das besonders betone, wende ich mich zugleich gegen die Annahme, die Diskursethik müsse Jonas’ Imperativ zurückweisen, einfach weil die jetzt lebende menschliche Kommunikationsgemeinschaft in ihrer Gesamtheit konsensuell den Beschluß fassen könnte, die Vermehrung menschlichen Lebens einzustellen.« Denn ein solcher Beschluß würde »nur die Bedingung erfüllen, von allen jetzt Betroffenen faktisch akzeptiert worden zu sein. Faktische Konsense aber genügen in der Diskurs-Ethik dem regulativen Prinzip der Konsens-Forderung genausowenig wie in der Diskurstheorie der Wahrheit. Denn sie unterliegen dem Fallibilismus-Prinzip und insofern dem Vorbehalt der Revidierbarkeit. Nur der letzte, unrevidierbare – daher faktisch nie erreichbare – Konsens einer idealen Kommunikationsgemeinschaft könnte im Sinne des regulativen Prinzips der Konsensbildung als definitive Einlösung von Geltungsansprüchen angesehen werden. Der Weg hin zu diesem idealen Konsens – praktisch der Weg der möglichen Revision jedes bloß faktischen Konsenses – würde durch den unterstellten Beschluß gerade abgeschnitten.« 51 Mir war klar, daß ich aus der Nähe von Jonas und Apel Konsequenzen ziehen mußte. 1998 eröffnete ich – im Beisein von Frau Øfsti, »›Man‹ is not a Subject. Some reflections on the relevance of the ecological crisis for philosophical ethics«, ebd., S. 109–150. 51 Apel, in: Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft, S. 388.
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Lore Jonas und zusammen mit dem Gastredner Vittorio Hösle 52 – an meinem Lehrstuhl das »Hans Jonas-Zentrum – Verantwortung für die Zukunft/Ethik im Dialog« mit der »interdisziplinären Zukunftsbibliothek«, die 2017 den Zusatz erhielt »in memoriam Hans Jonas und Karl-Otto Apel«. Im Juni 1992 hatte ich die Ehre und Freude, Hans Jonas unter größter öffentlicher Anteilnahme und im Beisein des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker den Doctor honoris causa philosophiae zu verleihen. Und ich versprach mir: ›Das nächste Ehrendoktorat wirst du dem Transzendentalpragmatiker Karl-Otto Apel verleihen.‹ So kam es.
1999 und 2000 Zunächst aber konnte ich Professor Apel, der im Wintersemester 1998/99 Gastvorlesungen an der Humboldt-Universität in BerlinMitte hielt, für die Eröffnungsvorlesung meiner geplanten Reihe »Hans Jonas-Lectures« am Abend des 2. Februar 1999 gewinnen. Schon die Gründung des »Hans Jonas-Zentrums: Verantwortung für die Zukunft – Ethik im Dialog«, anfänglich noch als »Freundeskreis des Hans Jonas-Zentrums«, hatte er aufmerksam verfolgt und unterstützte die Vereinigung nicht allein als Kurator, sondern auch als zahlendes Mitglied. Das Motto der Lectures, das ihm sehr gefiel, lautete: »Argumentativer Diskurs und institutionenbezogene Mitverantwortung im Zeitalter der Globalisierung«. Dem paßte er Titel und Inhalt seines Vortrags geschmeidig an: ›Diskursethik als Ethik der Mit-Verantwortung vor den Sachzwängen der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft‹. 53 Ich hatte das Glück, den Saal des wissenschaftshistorisch berühmten Magnus-Hauses (gegenüber dem PergamonDieser stellte seinem Beitrag in: Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft, das Bekenntnis voran: »Hans Jonas ist für mich neben Karl-Otto Apel die eindrucksvollste Philosophenpersönlichkeit gewesen, von der ich gelernt habe; in einer Zeit, in der die Philosophie immer mehr von der ›Philosophologie‹ verdrängt wird, zeigten mir beide Denker, was wirkliches Philosophieren ist.« (A. a. O., S. 105.) 53 Nach Apels nicht immer druckreifem Manuskript und der Tonbandaufnahme erstellte Frau Dr. Eva Schwickert den Text, der im Jahre 2001 erschien; in: Karl-Otto Apel u. Holger Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik, Würzburg 2001, S. 69–95. Nochmals vom Autor leicht bearbeitet, auch in: Marcel Niquet u. a. (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen, Würzburg 2001, S. 181–204. 52
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Museum) mieten zu können. Apels Vortrag fand starkes öffentliches Interesse. Der große Saal war übervoll, die Presse berichtete ausführlich. 54 Schon bei der Planung der ersten Jonas-Lecture stand ich unter dem Eindruck der bevorstehenden Jahrhundert- und Jahrtausendwende. Und was lag näher, als den Denker der kommunikativen Transformation der Philosophie, welche er zunehmend in dem Spannungsfeld von Diskurs und Verantwortung verortete, in doppelter Weise zu würdigen, nämlich mit einer Ehrenpromotion, umrahmt von einer großen Diskursveranstaltung? So schlug ich meinen Mitarbeitern, an der Spitze Horst Gronke, und den drei anderen Säulen des »Hans Jonas-Zentrums: Verantwortung für die Zukunft – Ethik im Dialog«, Thomas Bausch, Thomas Rusche und Holger Burckhart, einen internationalen, interdisziplinären Ethik-Kongreß vor. Als Kristallisationspunkt erschien mir ein Begriff angemessen, dessen diskursphilosophische Entdeckung und Ausarbeitung nicht nur Apel und mich wieder nahe zusammenbrachte, sondern auch die moralphilosophische Begegnung mit Hans Jonas nochmals vertiefen konnte: Mitverantwortung – als diskursmoralisches Prinzip und als Leitlinie für die Zukunftsaufgaben. 55 Ein so zentrierter Kongreß und eine, auch auf diesen Begriff bezogene, Ehrenpromotion am Anfang des Kongresses – das war es, was mir als philosophische Ouvertüre zum 21. Jahrhundert vorschwebte. Nicht mehr und nicht weniger. Denn Apel ist der weit ausgreifende und transzendental auslotende Denker, welcher wie kein zweiter die Hauptströmungen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts kritisch rekonstruiert, weiterführt und nicht allein Grundlagen des »Dritten Paradigmas« der Fundamentalphilosophie gelegt 56, sondern auch prinzi-
54 Vgl. z. B. Berliner Zeitung, 9. 2. 1999, »Der Philosoph Karl-Otto Apel hielt die ersten Jonas-Lectures an der FU: Jedem seine Verantwortung«. 55 Davon legt das in Anm. 48 genannte Buch Zeugnis ab. Vgl. zudem: Das Prinzip Mit-Verantwortung. Ethik im Dialog. Report 2000, hg. Hans Jonas-Zentrum Berlin, Berlin (Verlag Oberhofer) 2000, sowie Karl-Otto Apel, »First Things First. Der Begriff primordialer Mit-Verantwortung. Zur Begründung einer planetaren Makroethik«, in Matthias Kettner (Hg.), Angewandte Ethik als Politikum, Frankfurt a. M. 2000, S. 21–50. 56 Apel, Paradigmen der Ersten Philosophie: Zur reflexiven – transzendentalpragmatischen – Rekonstruktion der Philosophiegeschichte, Frankfurt a. M. 2011. Vgl. Tilman Lücke, »Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte«, in: Holger Burckhart u. Horst Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Dis-
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pienethische Orientierungen für die bedrohte Menschheitszukunft erarbeitet hat. Um dem interdisziplinären Horizont und der reflexiven Tiefe seines Geistes möglichst gerecht zu werden, stellte ich eine, das übliche Maß – vier Professoren und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter – erheblich überschreitende, Kommission zusammen. Aufgrund unserer Beschäftigung mit Apels weitgespanntem Werk formulierte ich für die Urkunde die Begründung des Ehrendoktorats, welche ihm, wie er sagte, außerordentlich gut gefallen habe. Denn sie sei so ehrenvoll wie substantiell, weil hier Schriften und Inhalte seines Werkes in den Kontext der deutschen und Berliner Geschichte gerückt würden. Mit Komplimenten war Apel bekanntlich recht sparsam, so daß ich Grund zur Freude hatte. Professor Borrelli hat den Text der Ehrenpromotionsurkunde in seinem »Centro Filosofico Internazionale Karl-Otto Apel« hinterlegt. Über meine Laudatio, die Hauptstationen seines Denkwegs erinnerte und Hauptargumente seiner Transzendentalpragmatik rekonstruierte, freute sich der maestro sehr. Unter dem Titel »Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik. Karl-Otto Apels Athene im Rücken« erschien sie dann, nochmals überarbeitet, in der von Matthias Kettner, Gunnar Skirbekk und mir herausgegebenen Festschrift Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. 2003, S. 15–43. Ich war (und bin) davon überzeugt, daß Karl-Otto Apel sich auch politisch hochverdient gemacht hat: – mit einzelnen politisch-ethischen Studien wie z. B. »Zurück zur Normalität? – Oder könnten wir aus der nationalen Katastrophe etwas Besonderes gelernt haben? Das Problem des (welt-)geschichtlichen Übergangs zur postkonventionellen Moral aus spezifisch deutscher Sicht« 57, – mit der Erarbeitung und öffentlichen Propagierung der prinzipiengestützten Diskursethik, – mit dem republikanischen, weltbürgerlichen Engagement seiner Persönlichkeit und deren kommunikativer Ausstrahlung. Er hat kurspragmatik, Würzburg 2002, S. 45–68. Vgl. Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 165 ff., und Register: »Paradigma«. 57 Erstmals in kürzerer Form in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins: Chance oder Gefährdung? Praktische Philosophie in Deutschland nach dem Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1988, S. 91– 142. Vollständig in: Diskurs und Verantwortung, S. 370–474.
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Bedeutendes und Nachhaltiges für die Entwicklung und Stärkung des demokratischen Rechts- bzw. Verfassungsstaats der Bundesrepublik Deutschland geleistet. Daher wandte ich mich 2001 an das neue Staatsoberhaupt Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau, der mich als Autor und Herausgeber wie auch als Gründer des Hans Jonas-Zentrums kannte, und schlug ihm vor, Professor Apel aufgrund seiner Verdienste um Geist und Werte unseres Staates und auch um dessen internationale Anerkennung das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. Das geschah noch im selben Jahr.
2011–2017 Im Hause Apel hatten wir 2011, 2013 und bis 2017 jedes folgende Jahr unvergeßliche Begegnungen – zunächst mit ebenso lebhaften wie fruchtbaren Diskussionen, so gastfreundlich wie geistesgegenwärtig begleitet und animiert von der ebenso gebildeten wie charmanten Frau Judith. So hatten wir, Mitglieder des Berliner Hans Jonas-Zentrums, im Juni 2011 mit dem Ökologen und Theologen Günter Altner ein Colloquium über »Probleme des Erklärens und Verstehens in Ökologie und Evolution«. 58 Am 1. September 2013 diskutierten Dorothea Apel, meine Frau Bernadette Herrmann, Matthias Kettner, Professor Apel und ich jenen (neuen) diskurspragmatischen Begriff meines gerade erschienenen Buches Verbindlichkeit aus dem Diskurs, der Karl-Otto Apel besonders interessierte und der ihm offenkundig gefiel: »Apriori des Begleitdiskurses« bzw. »möglicher Begleitdiskurs a priori«. 59 Bernadette erläuterte dessen transzendentalpragmatischen Status und unterschied eine mehr oder weniger unausdrückliche, lebensweltliche Ebene von der kritischen Ebene eines durchgeführten Begleit-Diskurses 60 – gewissermaßen zwischen Ich I und Ich II. Zudem wies Herr Apel an diesem Nachmittag und bei den meisten der noch folgenden Begegnungen darauf hin, daß er weiterhin
Dazu das gleichnamige »Arbeitspapier« und den »Bericht über das Colloquium« auf der Website des Hans Jonas-Zentrums: www.hans-jonas-zentrum.de. 59 Vgl. Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, S. 163–165, 235–244, 258 ff. und 279–283. 60 Vgl. in diesem Buch: Widmungsseite. 58
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am »höchsten Punkt« der transzendentalpragmatischen Letztbegründung, insofern auch am »Teil A der Ethik« arbeite. Deshalb sollten wir bei Gelegenheit über meine in dem Buch eingeführten »impliziten Dialogversprechen a priori« 61 diskutieren. Doch dazu kam es in der Leidenszeit der letzten Jahre nicht mehr. Am 25. März 2017 waren Bernadette und ich wieder bei Apels eingeladen – und sprachen ihn zum letzten Mal. Worüber? Über Gott und die Welt sozusagen. Auch erzählte ich ihm von der für den 23. bis 25. November geplanten Tagung der Katholischen Akademie Berlin und daß ich zu diesem Anlaß einen längeren Essay »Was gilt?« über Diskurs und Zukunftsverantwortung mit Erläuterung des Begleitdiskurses und der impliziten Dialogversprechen a priori geschrieben habe. Diesen Text wolle er sich gerne ansehen, zumal er die Sache mit dem »Begleitdiskurs«, wie ich ja wisse, für grundlegend halte. Ob ich den Text dabei hätte? Nein, doch würde ich ihn, wieder zurück in Neuruppin, gleich absenden, was ich auch tat. Beherrschendes Thema an diesem Nachmittag war jedoch Frau Apels Literaturkreis. Da unser voraufgegangener Besuch, wohl am 5. November 2016, zu lange, über das Abendessen hinaus, gedauert hatte, so daß er für Karl-Otto Apel zu anstrengend geworden war, wollten wir, in Absprache mit Frau Judith, diesmal Belastungen strikt vermeiden und nur zum Kaffee bleiben. Als wir uns dann zeitig verabschiedeten, sagte er jedoch enttäuscht: »Was, Ihr wollt schon aufbrechen? Wir haben ja heute so gut wie nicht über Ideologie gesprochen …« Wobei »Ideologie« im Frankfurter Schulidiom natürlich so viel wie Philosophie bzw. Transzendentalpragmatik bedeutet. Wir hatten einen weiteren Besuch ins Auge gefaßt. Aber am 15. Mai 2017 starb Karl-Otto Apel. Nun konnten wir uns nur noch von dem Aufgebahrten verabschieden. Ein großes, strahlendes Licht war erloschen. Aber aus seinem Werk leuchtet es uns und der Welt. Es ist ein so klares wie warmes Licht. Frau Judith, dieser wunderbaren Gefährtin, die alles mit ihm teilte, ihn liebend umhegte und ihm in der letzten Zeit viel vorlas, vor allem über Christentum und Islam in der Geschichte, sagen wir von Herzen Dank. N.B. Am 9. Februar 2019 brachte der Postbote einen großen Briefumschlag, in dem mir Frau Apel das Manuskript besagten Essays 61
Ebd., S. 287 f., 291–294, 296–299, 302–304, 316 f. u. ö.
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Dietrich Böhler
schickte, das sie im Zimmer ihres Mannes gefunden hatte. Judith Apel, die uns schon gesagt hatte, dieses Manuskript sei der einzige philosophische Text, den ihr Mann in der tiefgehenden Schwäche und Müdigkeit seiner letzten Wochen noch zu lesen versucht habe, schickte mir das angelesene Exemplar mit folgendem Briefchen zu:
Besagtes Exemplar meines Essays trägt die charakteristischen Spuren von Karl-Otto Apels erster, vorstrukturierender Lesung. Die zweite, vertiefende und kommentierende fehlt. Auch die erste Lesung ging offenbar nur bis S. 27, also bis Abschnitt III.3.1 einschließlich. Bis dahin finden sich zahlreiche Unterstreichungen, Ein-Wort-Marginalien und an einigen Stellen auch Fragezeichen. 62
Es finden sich Fragezeichen vor allem zu den drei apelkritischen Absätzen von »I.2 Anders denken?«, die Worte »neu« zweimal (bei »Anders denken? Begründen im reflexiven Dialog« und bei »ein scheinbar paradoxes Ausgangsproblem einer Zukunftsethik als Wissens- und Diskursethik« (in I.2.1), »Wahrheit« und »Reflexion« je einmal, die Namen »Kant« einmal, »Apel«, »Habermas« und »Jonas« je dreimal und »Böhler« neunmal. Durchgestrichen ist »Ökologische« in der Zwischenüberschrift »II.2.1 Wozu sind wir bei defizientem Folgenwissen (Jonas: ›Nichtwissen‹) verpflichtet? Ökologische Vorsicht«.
62
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Denken im Diskurs
3.
Apels Aufhebungsweg von der Semantik zur Transzendentalpragmatik und Rusches »ABC«
Angeregt von Thomas Rusches Beitrag seien mir noch zwei, drei freie Nachbemerkungen gestattet, die über den Verdacht erhaben sind, hier würde der frühere Lehrer die Interpretation seines einstigen Schülers hier und da quasi rezensieren. Diese Nachbemerkungen gehen einfach davon aus, daß Thomas Rusches so erhellender wie komprimierter Beitrag »Ein ABC der Diskursethik« in der Wirkungsgeschichte Karl-Otto Apels steht und auch in die Geschichte der Böhlerschen Rezeption von Apel hineingehört. Lieber Thomas, unter dem originellen ABC-Titel hast Du einen hochinteressanten, rekonstruktiv hermeneutischen Text verfaßt, der mich, wofür ich Dir sehr danke, teils belehrt, teils aber fast beschämt, zumal das »B« in der Reihenfolge einer dialektischen Aufhebung gelesen werden kann. Das wäre der Ehre wohl zuviel, wenngleich mein Ansatz, die transzendental-reflexive Diskurspragmatik, in der einen und anderen Hinsicht selbst den Anspruch einer solchen Aufhebung mit sich bringt. So etwa, wie Du hervorhebst, hinsichtlich des Weges und des Zieles bzw. der Tragweite der Letztbegründung. Diesen Weg versuche ich konsequent dialogreflexiv im sokratisch-apagogischen Diskurs mit dem Skeptiker zu durchschreiten; das m. E. erreichbare Ziel sind materiale Vernunftkriterien als Diskursnormen, die »Dialogversprechen a priori« einschließen. Insofern arbeite ich an einer dialektischen Aufhebung innerhalb des transzendentalpragmatischen Programms. Generell kann man m. E. sagen und zeigen, daß es die Logik des argumentativen Diskurses ist, welche den Diskurspartnern auferlegt, im Falle einer berechtigten Kritik, vom wohlwollenden Verstehen über die immanente Kritik zu einer dialektischen Aufhebung der kritisierten Position zu gelangen. Denn aufgrund seiner Gültigkeitsansprüche und durchaus in Verfolgung seines Glaubwürdigkeitsanspruchs als Partner im argumentativen Diskurs, also bei der gemeinsamen Suche nach dem besten Argument, kommt ein Diskursteilnehmer gar nicht umhin, den anderen Teilnehmern jeweils Aufhebungsangebote zu machen… Das elementarste und folgenreichste Aufhebungsangebot Apels ist m. E. seine transzendental-kommunikationsbezogene Rekonstruktion der dreidimensionalen Semiotik, insbesondere der reflexive Nachweis, daß die semantische Dimension selbst ihre Aufhebung in 331 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Dietrich Böhler
die pragmatische Dimension des Miteinander-Kommunizierens indiziert bzw. notwendig darauf angelegt ist. Apel hat gezeigt, daß von der Semantik unwiderruflich der Weg zur Pragmatik führt 63, so daß, wer immer ernsthaft auf sich zurückdenkt und sich im Etwas-Denken-und-Geltung-dafür-Beanspruchen einholt, unweigerlich Transzendentalpragmatiker wird bzw. implizit schon geworden ist. Eben hier zeigt sich wohl auch der tiefste Konsens zwischen Apel und Jürgen Habermas. Dieser teilte mir mit, er schreibe an einem Aufsatz, um »dem Fach« vor Augen zu führen, worin Apels »eigentliche Leistung« bestehe; daß er nämlich »den Weg von der Semantik zur Transzendentalpragmatik« gebahnt und, wie ich hinzufüge, als den notwendigen Fortschritt der modernen Fundamentalphilosophie sowie Wissenschaftstheorie aufgewiesen hat. Es ist diese dialektische Aufhebung der auf die Syntaktik und zumal auf die Semantik fixierten Analytischen Philosophie, mit der Apel auch den vernunftintrinsischen Ort der Ethik topographiert hat. Im Anschluß daran konnte er deren notwendige Form entwickeln und erweisen, daß die normative Ethik aus der Selbsterkenntnis der tätigen, nämlich argumentierenden und sich selbst einholenden, Vernunft entspringt und daraus auch Verbindlichkeit bezieht. Hier, lieber Thomas Rusche, eröffnet sich, worin Du mir wohl zustimmst, der Einstieg in die Vernunft als in sich praktische – mit anderen Worten der Einstieg in die Diskursethik. Nach Deinem Schema: Jener Weg, jene dialektische Aufhebung, ist auch das – vorlaufende – »A« der Diskursethik.
Literatur Apel, Karl-Otto (1965): »Die Entfaltung der sprachanalytischen Philosophie und das Problem der ›Geisteswissenschaften‹«, in: Philosophisches Jahrbuch, 72. Jg., S. 239-289. Apel, Karl-Otto (1973): Transformation der Philosophie, 2 Bde., Frankfurt a. M. Apel, Karl-Otto (Hg.) (1976): Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a. M. Apel, Karl-Otto; Böhler, Dietrich; Rebel, Karlheinz (Hg.) (1984): Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik. Studientexte, 3 Bde., Weinheim/Basel.
Apels erster und entscheidend fortwirkender Schlüsseltext hierzu erschien bereits 1965 (Philosophisches Jahrbuch, 72. Jg., S. 239-289): »Die Entfaltung der sprachanalytischen Philosophie und das Problem der ›Geisteswissenschaften‹«, in: Transformation der Philosophie, Bd. II, Frankfurt a. M. 1973, S. 28-95.
63
332 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Denken im Diskurs Apel, Karl-Otto; Böhler, Dietrich; Kadelbach, Gerd (Hg.) (1984): Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik. Dialoge, 2 Bde., Frankfurt a. M. Apel, Karl-Otto (1988): Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. Apel, Karl-Otto (2001): The Response of Discourse Ethics to the Moral Challenge of the Human Situation as Such and Especially Today, Leuven. Apel, Karl-Otto (2011): Paradigmen der Ersten Philosophie: Zur reflexiven – transzendentalpragmatischen – Rekonstruktion der Philosophiegeschichte, Frankfurt a. M. Apel, Karl-Otto (2017): Transzendentale Reflexion und Geschichte, Frankfurt a. M. Böhler, Dietrich (1985): Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, Frankfurt a. M. Böhler, Dietrich (2013): Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der sprachpragmatischen Wende, Freiburg/München. Neuauflage als Alber Studienausgabe: Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik – Orientierung in der ökologischen Dauerkrise. Freiburg/München 2014. Kuhlmann, Wolfgang (1985): Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, Freiburg/München. Kuhlmann, Wolfgang (2009): Unhintergehbarkeit. Studien zur Transzendentalpragmatik, Würzburg.
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5. Menschenwürde und Freiheitsrechte versus Organbereitstellungspflicht und »Widerspruchslösung« Offener Brief des Hans Jonas-Zentrums
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn, sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sehr geehrter Herr Präsident des Deutschen Bundestages, sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages (insbesondere des Ausschusses für Gesundheit), sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Ethikrates, sehr geehrte Redakteurinnen und Redakteure deutscher Medien, sehr geehrte Mitglieder des Hans Jonas-Zentrums e. V., sehr geehrte Mitglieder der Hans Jonas Gesellschaft Mönchengladbach, wir bitten Sie, die folgenden Argumente zur Debatte um die sog. Widerspruchslösung zu bedenken und in Ihrem Tun zu berücksichtigen. In Deutschland haben das geschichtliche und argumentative Gedächtnis, haben die Begründungsfähigkeit und der Mut zum Prinzip in weiten Kreisen der Politik, aber auch der Philosophie und Theologie, der Ethik und Medizin sowie der öffentlichen Medien besorgniserregend nachgelassen. »Gegen den Strom« sowohl der Transplantationschirurgie als auch der landläufigen Schmalspurethik, die Verantwortung mit Mitleid verwechselt, erhob der deutsch-jüdisch-amerikanische Verantwortungsethiker Hans Jonas 1968 und 1974, 1980 und 1985 wohlbegründeten Einspruch. Einerseits: »Mitleid allein begründet keine Ethik«: »Eine auf Mitleid allein gegründete Ethik ist etwas sehr Fragwürdiges. Denn was da an Konsequenzen drinsteckt für die menschliche Einstellung zum […] Mittel des Tötens als eines routinemäßig zu Gebote stehenden Weges […], das ist unabsehbar.« 1 Andererseits: 1 Hans Jonas, Dem bösen Ende näher, Frankfurt a. M. 1993, S. 71 f. In der KGA: Bd. I/2, Zweiter Teilband, S. 361. Zur Transplantationsmedizin und Hirntoddefinition: Ders., Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a. M. 1985, S. 219–241, bes. 224–
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Menschenwürde und Freiheitsrechte versus Organbereitstellungspflicht …
Die Hirntoddefinition setzt das Zerrbild des Menschenleibes als einer (cartesianischen) Maschine voraus und birgt – das ist Jonas’ schärfstes moralisches Argument – die Gefahr der »Vivisektion«: »Es besteht Grund zum Zweifel daran, daß selbst ohne Gehirnfunktion der atmende Mensch vollständig tot ist. In dieser Lage unaufhebbaren Nichtwissens und vernünftigen Zweifels besteht die einzig richtige Maxime für das Handeln darin, nach der Seite vermutlichen Lebens hinüberzulehnen. Daraus folgt, daß Eingriffe, wie ich sie beschrieb, der Vivisektion gleichzuachten sind und unter keinen Umständen an einem menschlichen Körper stattfinden dürfen, der sich in diesem äquivoken oder Schwellen-Zustand befindet.« 2 Denn: »Wer kann wissen, wenn jetzt das Seziermesser zu schneiden beginnt, ob nicht ein Schock […] einem nichtzerebralen, diffus ausgebreiteten Empfinden zugefügt wird, das noch leidensfähig ist […]?« 3 Das Menschenwürdeprinzip leitet Hans Jonas ab von dem biblischen Willen des Schöpfergottes 4, demzufolge es Menschen nach seinem Ebenbild geben solle (Gen 1,26 f). Die Mütter und Väter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland haben vor diesem Hintergrund und im Blick auf den Kantischen Grundsatz der Autonomie des vernunftfähigen Menschenwillens die Menschenwürde – mit Bezug auf die Freiheitsrechte und »das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« (Art. 1 und 2) – als »bindend« und als »un236. In der KGA: Bd. I/1, S. 511–536, bes. 516–533. Johannes Hoff und Jürgen in der Schmitten (Hg.), Wann ist der Mensch tot?, Reinbek bei Hamburg 1994, 2., erweiterte Auflage 1995. Andreas Frewer und Dietrich Böhler, Verantwortung für das Menschliche. Hans Jonas und die Ethik in der Medizin, Erlangen/Jena 1998. Dietrich Böhler und Jens Peter Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas, Darmstadt 2005, bes. S. 370 ff. 2 Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a. M. 1987, S. 233. In der KGA: Bd. I/1, S. 530. Vgl. Anna Bergmann, Der entseelte Patient, Stuttgart 22015, S. 256 ff. 3 Ebd., S. 222. In der KGA: Bd. I/1, S. 515 f. Es ist alles andere als bewiesen, daß ein noch lebender Organismus ohne meßbare Hirnfunktionen wirklich jedes Bewußtsein und Schmerzempfinden verloren hat, weshalb häufig »Schmerzmittel, ein Opioid, auf jeden Fall aber muskelentspannende Mittel zur Unterdrückung von Bewegungen verabreicht« werden. Denn »bis zu 75 % der Hirntoten sind noch in der Lage, auf [die Entnahmeprozedur] etwa mit Hochziehen der Schulter oder Beine, Spreizen der Finger oder Schwitzen, Hautrötungen, erhöhtem Blutdruck und Puls zu reagieren.« Anna Bergmann, »Wie tot ist hirntot?«, in: FOCUS 39/2018, S. 86. Dies., »Das tödliche Dilemma der Transplantationsmedizin: Organspende«, in: raum & zeit, 216/2018, S. 74–78. 4 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M. 1979, S. 94, 392 f., vgl. 362 ff. In der KGA: Bd. I/2, Erster Teilband, S. 100, 419 f., vgl. 390 ff.
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Menschenwürde und Freiheitsrechte versus Organbereitstellungspflicht …
mittelbar geltendes Recht« zum Fundament des Grundgesetzes gemacht. Damit erkennt die deutsche Verfassung die Achtung des Lebensrechtes und des Freiheitsrechts im Sinne Kants als »unbedingte Pflicht« an – im Unterschied zu einer nur bedingten Pflicht wie Menschenliebe und Handeln aus Mitleid. Eben diese aber werden von Befürwortern einer Widerspruchslösung, die auf eine »Organbereitstellungspflicht« (Bischof em. Wolfgang Huber) hinausläuft, zum moralischen Ein und Alles erhoben. Für die Bewertung der aktuell vorgeschlagenen und auch von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, im Vorfeld schon unterstützten sog. doppelten Widerspruchslösung (und des ihr zugrundeliegenden umstrittenen »Hirntod«-Kriteriums für den Tod des Menschen) bedeutet das: (1) Der Anspruch auf Achtung und Schutz ihrer Würde kommt allen Menschen zu. (2) Da der Sterbeprozeß natürlicherweise zum Leben des Menschen gehört, haben auch die sterbenden Menschen moralisches Recht auf Achtung und Schutz ihrer Würde. Sterbende Menschen haben also unbedingtes moralisches Recht darauf, als »Selbstzweck« und damit als »Zweck, der zugleich Pflicht ist«, gewürdigt zu werden – statt daß sie »bloß als Mittel« zum Gebrauch für einen anderen Willen (Kant) verwendet werden. (Unbedingt sind jene Unterlassungspflichten – keine nicht ausdrücklich gewollte Organentnahme! –, die gegenüber (Noch-)Lebenden aus dem Menschenwürdegrundsatz folgen.) Daß »hirntote« Menschen nicht schon tot sind, sondern noch im Sterben liegen, hat Hans Jonas als erster öffentlich ausgesprochen sowie in bis heute gültiger Präzision begründet. Und das ist auch heute die Überzeugung vieler renommierter Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen, wie es der aktuelle Bericht des Deutschen Ethikrats (2016) verdeutlicht. Die Für-tot-Erklärung bis dato als Lebende anerkannter »hirntoter« Patienten durch ein Harvard Ad Hoc Committee im Jahr 1968 wurde vor wenigen Monaten (zu ihrem 50jährigen Jubiläum) von dem US-amerikanischen Bioethiker Robert Truog im renommierten Journal of the American Medical Association (JAMA) erneut als konzeptionell inkohärent kritisiert. Diese Kontroverse spiegelte sich auch schon in der letzten Bundestagsdebatte um das Transplantationsgesetz im Jahr 1997, als etwa ein Drittel der Abgeordneten – darunter der vorige Justizminister 336 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Menschenwürde und Freiheitsrechte versus Organbereitstellungspflicht …
Kinkel, der amtierende Justizminister Schmidt-Jortzig und die spätere Justizministerin Däubler-Gmelin sowie die spätere Gesundheitsministerin Fischer – einen Gesetzentwurf befürworteten, der »hirntote« Menschen als Sterbende anerkannte. Warum wird heute daran nicht erinnert, wenn Sie, Herr Bundesgesundheitsminister Spahn, eine »Sternstunde« der parlamentarischen Debatte fordern, als sei die damalige Debatte nicht bereits wegen ihrer Transparenz und Ehrlichkeit mit Recht als eine solche bezeichnet worden? (3) Eine Legitimierung der Transplantationsmedizin setzt voraus, daß dem moralischen Freiheitsrecht der Menschen vollständig Genüge getan ist. Das kann ausschließlich dann der Fall sein, wenn die Betroffenen ohne jegliche Nötigung, ohne allen staatlichen Zwang und ohne öffentlichen Druck sich zur Zustimmung haben entschließen können. Im Gegensatz dazu steht der Erklärungszwang, unter den die sog. doppelte Widerspruchslösung alle Bürger setzen würde. Sie kassiert das elementare Freiheits-, Persönlichkeits- und Diskursrecht, in persönlichster Angelegenheit zu schweigen. ›Mir‹ steht absolut das Recht der persönlichen Urteilsenthaltung zu. Niemand darf es ›mir‹ verwehren, mich des Urteils und einer rechtsverbindlichen Erklärung darüber zu enthalten, ob ›ich‹ mein Leben noch zu Ende leben und das eigentlich »unveräußerliche« Menschenrecht auf mein Sterben behalten will oder aber nicht. Die der Widerspruchslösung zugrundeliegende naturalistisch-reduktionistische Gleichsetzung menschlichen Lebens mit meßbaren Hirnfunktionen entzieht sich dem Menschenwürdegebot; sie macht den obersten Grundsatz der deutschen Verfassung unanwendbar auf uns am Ende unseres Weges. Ebenso unterläuft sie die von Kant und von Hans Jonas (dessen Verantwortungsdenken jetzt mit der Kritischen Gesamtausgabe seiner Werke – seit 2010: Rombach Verlag, Freiburg/Berlin/Wien und Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, zit.: KGA – geehrt wird) begründete unbedingte Pflicht, die Würde jeden Menschenlebens zu achten, statt es als Organbank zu instrumentalisieren – und sei es, weil ich »viel Mitleid mit denjenigen habe, die schwer leiden«, wie Peter Dabrock, Vorsitzender des Ethikrates, am 6. September im Deutschlandfunk sagte. Angesichts der starken und von unangefochtenen Wissenschaftlern wie Hans Jonas vertretenen Argumente gegen die Gleichsetzung 337 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Menschenwürde und Freiheitsrechte versus Organbereitstellungspflicht …
des »Hirntods« mit dem Tod des Menschen und der bestehenden wissenschaftlichen Kontroverse ist es unerträglich und unwürdig, daß in der aktuellen Debatte von politischer Seite wie auch in den Medien gebetsmühlenartig von »postmortaler« Organspende die Rede ist, als ob es diese Kontroverse nicht gäbe. Es ist in einer Demokratie legitim, die Gleichsetzung des »Hirntods« mit dem Tod des Menschen zu befürworten und auf dieser Grundlage eine Widerspruchslösung zu fordern, doch sollte den Bürgerinnen und Bürgern durch eine transparente politische Sprache und Berichterstattung die Möglichkeit gegeben werden, sich ihr eigenes Urteil zu bilden. Wer die wissenschaftliche »Hirntod«-Kontroverse jetzt im Vorfeld einer parlamentarischen Debatte zu vertuschen sucht, der könnte erleben, daß sie als Bumerang zurückkehrt und die Widerspruchslösung einen von niemandem intendierten umgekehrten Effekt auf die Organspendebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zur Folge hat. Es gilt: Im Zweifel für das Leben – und für die Urteils- und Entscheidungsfreiheit der Bürger. Mit freundlichen Grüßen für die Unterzeichner Dietrich Böhler; Professor em. für Praktische Philosophie/Ethik an der Freien Universität Berlin, Ehrenvorsitzender des Hans Jonas-Zentrums e. V. und Initiator der KGA Hans Jonas Jürgen Nielsen-Sikora, Vorsitzender des Hans JonasZentrums e. V. und apl.Professor für Philosophie an der Universität Siegen ([email protected]) Anna Bergmann, Professorin an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Frankfurt (Oder) Wolfgang Frühwald †, Dr. h. c. mult., Professor em. für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität München, Präsident a. D. der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Alexander von Humboldt Stiftung Vittorio Hösle, Paul Kimball Professor of Arts and Letters der University of Notre Dame (USA) P.S.: Bitte wenden Sie sich gegebenenfalls an Prof. Dr. Nielsen-Sikora ([email protected])
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Hinweise zu den Autoren
Thomas Bausch, geb. 1940; Studium der Wirtschaftswissenschaften, Promotion zum Dr. oec. publ. an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit der Dissertation: »Gewinnbeteiligungssysteme als Instrument betrieblicher Partnerschaft« (1968). Selbständiger Unternehmer; Vorsitzender des Aufsichtsrates der SURTECO AG (bis 2003). Ab 1984 berufsbegleitendes Studium der Philosophie, Promotion zum Dr. phil. an der Freien Universität Berlin mit der Dissertation: »Ungleichheit und Gerechtigkeit – eine kritische Reflexion des Rawlsschen Unterschiedsprinzips in diskursethischer Perspektive« (Duncker & Humblot – Berlin1993). Gemeinsam mit Dietrich Böhler und Thomas Rusche Gründungsmitglied der Forschungsgruppe »Ethik und Wirtschaft im Dialog« an der FU Berlin, Mitherausgeber der gleichnamigen Schriftenreihe. Seit 2000 Mitglied des Kuratoriums des »Hans Jonas-Zentrum e. V. Berlin«. Gründungsmitglied und bis 1998 Vorstandsmitglied des »Deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik e. V.«. Aufsätze in Zeitschriften, Sammelbänden, Lexika zu Themen der Wirtschafts- und Unternehmensethik. Dietrich Böhler, geb. 1942; Studium in Hamburg, Tübingen, wieder Hamburg, schließlich in Kiel. Fächer: zunächst Evangelische Theologie samt Philosophie, Germanistik, Politikwissenschaft, dann Konzentration auf Philosophie. Lehrer u. a.: Johann-Michael Schmidt, Hans-Joachim Kraus (AT), Peter Stuhlmacher, Ernst Käsemann (NT); Systematische Theologie/Religionsphilosophie bei Hans Paul Schmidt und Paul Tillich; Germanistik bei Wilhelm Voßkamp, Karl Otto Conrady und Erich Trunz; Allg. Rhetorik bei Walter Jens; Politikwissenschaft bei Iring Fetscher und Michael Freund; Philosophie bei Carl-Friedrich von Weizsäcker, Ernst Bloch, Walter Schulz, Ernst Tugendhat und KarlOtto Apel (Doktorvater). 339 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Hinweise zu den Autoren
Positionen/Stationen: 1969 bis 1972 Wiss. Assistent und 1972/ 73 bis 1975 Ass.-Professor an der Universität des Saarlandes, 1975/ 1976 bis 1980 ord. Professor an der Pädagogischen Hochschule Berlin, 1980 bis 2010 an der Freien Universität Berlin (FUB). 1979 bis 1981 Vorbereitung und zusammen mit Karl-Otto Apel Leitung des »Funkkollegs Praktische Philosophie/Ethik«. 1982 Gastprofessor an den Universitäten Oslo, Bergen, Trondheim, Tromsø und 1990 bis 1992 an der Humboldt-Universität zu Berlin; zus. m. Th. Bausch u. Th. Rusche Mitbegründer/Mitherausgeber von »EWD – Ethik und Wirtschaft im Dialog«. 1989 bis 1991 Sprecher der Fächergruppe II (Rechts-, Wirtschafts-, Sozial-, Kommunikations- und Politische Wissenschaften, Geschichte, Philosophie, Lateinamerika-, Nordamerika- und Osteuropa-Studien) im Akademischen Senat der FUB. 1989 bis 1992 Dekan des Fachbereichs »Philosophie und Sozialwissenschaften I«. 1992 Verleihung der Ehrendoktorwürde an Hans Jonas. 1998 Gründer/Vorsitzender des »Hans Jonas-Zentrums« und seit 2018 Ehrenvorsitzender. 2000 Laudatio auf Karl-Otto Apel als Ehrendoktor der FU Berlin. 2005 Initiator/Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas. Charakteristisch sind etwa Hermeneutik-Studien, z. B.: »Philosophische Hermeneutik und hermeneutische Methode« (1981); auch Seminare, Vorlesungen und Studien zu Rassismus und Nationalsozialismus wie: »Die deutsche Zerstörung des politisch-ethischen Universalismus« (1988); Zukunftsverantwortung in globaler Perspektive. Zur Aktualität von Hans Jonas und der Diskursethik (2009); Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik – Orientierung in der ökologischen Dauerkrise (2013/2014); ferner Studien zur Prinzipienethik wie jüngst: »Entweder Gesinnungs- oder Verantwortungsethik? Hintergrund und Auflösung eines vermeintlich unauflösbaren Dilemmas«, in: Pastoraltheologie, 107, 2018/1, S. 36–61. Festschriften: Philosophieren aus dem Diskurs. Hg. H. Burckhart u. H. Gronke (2002); Dialog – Reflexion – Verantwortung. Zur Diskussion der Diskurspragmatik. Hg. J. O. Beckers, F. Preußger u. Th. Rusche (2013). Anschrift: Virchowstr. 33, 16816 Neuruppin; [email protected]. 340 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Hinweise zu den Autoren
Alberto Mario Damiani, geb.1965; Studium der Philosophie in Buenos Aires; Promotion 1998; philosophische Habilitation in Berlin 2008. Universitätsprofessor, Lehrstuhl Philosophie der Neuzeit an der Universität Rosario (seit 2003) und an der Universität Buenos Aires (seit 2016), Professor am Lehrstuhl Politische Philosophie an der Universität Buenos Aires seit 2011, Mitglied des Staatlichen Wissenschaftlichen Forschungsrats seit 2015, Leiter des Forschungszentrums für Philosophie der Neuzeit an der Universität Rosario des Fachbereichs Philosophie, der »Maestría« für politische Philosophie und der Abteilung für politische Philosophie, Institut für Philosophie, Universität Buenos Aires. Wichtige Publikationen: Handlungswissen. Eine transzendentale Erkundung nach der sprachpragmatischen Wende, Freiburg/München 2009; »Handlungstheorie vs. Handlungsreflexion in diskurspragmatischer Sicht«, in: Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft 72, 2017, S. 3–14; »Der Primat der praktischen Vernunft nach der sprachpragmatischen Wende«, in: J. O. Beckers, F. Preußger, Th. Rusche (Hg.), Dialog – Reflexion – Verantwortung. Zur Diskussion der Diskurspragmatik, Würzburg 2013, S. 87–97; »Die Verbindlichkeit des argumentativen Dialogs«, in: M. Kettner, D. Böhler, G. Skirbekk (Hg.), Diskurs und Reflexion. Auseinandersetzungen mit Karl Otto Apel, Frankfurt a. M. 2003, S. 113–121. Wolfgang Frühwald, geb. 1935, gest. 2019; Promotion an der LMU München 1961, Habilitation 1969 in München; 1970 ord. Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaften an der Universität Trier-Kaiserslautern, seit 1974 an der Universität München; emeritiert 2003; 1991–1997 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1999–2008 Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung; Mitglied zahlreicher in- und ausländischer Akademien der Wissenschaften; Dr. phil. h. c. der Universitäten Dublin, Bristol, Sofia, der Hebrew University in Jerusalem; Dr. theol. h. c. der Universität Münster; Hauptarbeitsgebiete: Geistliche Prosa des Mittelalters, deutsche Literatur der Romantik und der Goethezeit, moderne Literatur, Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftsgeschichte. Veröffentlichungen (Auswahl): Zeit der Wissenschaft. Forschungskultur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Köln 1997; Das Design des Menschen. Vom Wandel des Menschenbilds unter dem Einfluss der modernen Naturwissenschaft (zus. m. K. Beyreuther u. a.), Köln 2004; Das Talent, Deutsch zu schreiben. Goethe – Schiller – Thomas Mann, 341 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Hinweise zu den Autoren
Köln 2005; Das Gedächtnis der Frömmigkeit. Religion, Kirche und Literatur in Deutschland. Vom Barock bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2008; Blaupause des Menschen. Streitgespräche über die beschleunigte Evolution, Berlin 2009; Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland, hrsg. und komment. v. W. Frühwald, Stuttgart 2011; Goethes Ehe. Die Lebenspartnerschaft mit Christiane Vulpius, Berlin 2016. Jon Hellesnes, geb. 1939; Professor emeritus, Universität Tromsö. Forschungsgebiete: Praktische Philosophie, Sozialphilosophie und Geschichte der Philosophie (z. B. Descartes). Während der Studienzeit an der Universität in Bergen waren Knut Erik Tranöy (für die analytische Philosophie) und Hans Skjervheim (für Phänomenologie und Kritische Theorie) seine wichtigsten Lehrer; Abschluß des Studiums mit einer Dissertation über »The Problem of Other Minds«. Die längste Zeit seines beruflichen Lebens war er Professor für Philosophie an der Universität Tromsö; Emeritierung 2007. Seine Publikationen können in drei Hauptkategorien eingeteilt werden: 1) fachphilosophische Monographien und Artikel; 2) Essays/Essaybände; 3) Romane. Als Schriftsteller erhielt er zwei Literaturpreise. 2012 wurde ihm die Ehrendoktorwürde durch die Universität Bergen verliehen. Er hat zehn philosophische Monographien und viele Artikel veröffentlicht, zuletzt die Monographie: Meining? Religionskritikk og filosofi hos Nietzsche og Garborg, Oslo 2014. Auf Deutsch ist u. a. erschienen: »Ethischer Konkretismus und Kommunikationsethik. Versuch einer Vermittlung«, in: D. Böhler, T. Nordenstam, G. Skirbekk (Hg.), Die pragmatische Wende, Frankfurt a. M. 1986. Sebastian A. Höpfl, geb. 1989; Studium der Philosophie, Physik, Soziologie und Anglistik in Freiburg im Breisgau, seit 2018 Doktorand in der Philosophie zu Hans Jonas’ Verantwortungsethik, Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. Seit 2014 wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg, Tätigkeit u. a. im Lektorat, seit 2017 in der Lehre am Institut, 2018 Mitarbeit im BMBF-Verbundprojekt »iSenDi: Intelligentes Monitoringsystem zur Erfassung von Distress« am Universitätsklinikum Freiburg. Vittorio Hösle, geb. 1960 in Mailand; Promotion 1982, Habilitation 1986 in Philosophie in Tübingen, 1988 Associate Professor of Phi342 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Hinweise zu den Autoren
losophy an der New School for Social Research, 1993 ord. Professor an der Universität-GH-Essen, seit 1999 Paul Kimball Professor of Arts and Letters an den Departments von German Literature, Philosophy, und Political Science der University of Notre Dame. Seine zahlreichen Bücher sind in zwanzig Sprachen übersetzt worden. Wolfgang Huber, geb. 1942; arbeitete 1968–80 in der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg und lehrte danach Systematische Theologie (Ethik) an den Universitäten Marburg, Heidelberg und Atlanta. 1994–2009 war er Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg (schlesische Oberlausitz), 2003–09 Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er ist Honorarprofessor in Berlin, Heidelberg und Stellenbosch. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören: Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod, München, 3. Aufl. 2016; Glaubensfragen. Eine evangelische Orientierung, München 2017; Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit – ein Porträt, München, 2. Aufl. 2019. Hans Lenk, geb. 1935; emeritierter ord. Professor für Philosophie an der Universität Karlsruhe (KIT). Ehemals Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und Vizepräsident der Weltgesellschaft FISP des Faches (1998–2003), derzeit noch Präsidentschaft fünf internationaler philosophischer Gesellschaften. 2005 Präsident, ab 2008 Ehrenpräsident des Institut international de philosophie (der Weltakademie der Philosophen). Er veröffentlichte ca. 150 Bücher. 1960 war er Olympiasieger im Rudern (Achter) und führte als Amateurtrainer Ruderer zur Weltmeisterschaft. Veröffentlichungen (Auswahl): Kritik der logischen Konstanten, Berlin-New York 1968; Konkrete Humanität, Frankfurt a. M. 1998; Grasping Reality, Singapore 2003 (dt.: Erfassung der Wirklichkeit, Würzburg 2000); Das flexible Vielfachwesen. Einführung in moderne philosophische Anthropologie zwischen Bio-, Techno- und Kulturwissenschaften, Weilerswist 2010, 2. Aufl. 2011; Human-soziale Verantwortung, Bochum 2015; Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik, Bochum 2018; Not a Long Way to Concrete Humanity? Bochum 2019. Gunnar Skirbekk, geb. 1937; Professor am Institut für Philosophie und am Zentrum für Wissenschaftstheorie an der Universität Bergen; Universitätsstudium in Oslo 1957–1959, Paris 1960–1961 und Tü343 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Hinweise zu den Autoren
bingen 1961–1962; Forschungsassistent bei Herbert Marcuse und Avrum Stroll an der Universität Kaliforniens in San Diego 1966–1967; Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Bergen 1979; Gründer des Zentrums für Wissenschaftstheorie an der Universität Bergen 1987; Professeur invité an der Universität Nice – Sophia Antipolis, Frühling 1997; Gastprofessor am Institut für Philosophie an der Freien Universität in Berlin im Wintersemester 2000–2001; Advisory Professor an der East China Normal University, Shanghai, 1998; Mitglied der Norwegischen Wissenschaftsakademie und der Königlichen Norwegischen Gesellschaft der Wissenschaften. Aktuelle Publikationen: Philosophie der Moderne, Weilerswist 2017; Epistemic Challenges in a Modern World. Zürich/Wien 2019. Thomas Rusche, geb. 1962; Studium der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Philosophie und Theologie an der Universität Freiburg (Schweiz) und der Freien Universität Berlin 1982 bis 1990; 1984 Assistent der Geschäftsführung der SØR Rusche GmbH; 1986 Lizentiat zum Dipl.-Volkswirt/CH der Universität Freiburg und stellvertretender Geschäftsführer der SØR Rusche GmbH; 1987 Wahl zum Präsidenten der International Menswear Group (Weltverband der Herrenausstatter), 1988 Geschäftsführung der SØR Rusche GmbH & Co.KG, Berlin; 1991 Promotion zum Dr. rer. pol. über »Strategisches Sortierungsmanagement im Handel« an der Universität Freiburg, Schweiz; 1992 M.A. der Freien Universität Berlin; Geschäftsführung der KOCK GmbH & Co.KG; 1993 Geschäftsführender Gesellschafter der SØR Rusche GmbH, Oelde; 2001 Promotion zum Dr. phil. an der Freien Universität Berlin mit der Schrift »Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik«; 2018 Habilitation und Privatdozent für Philosophie an der Universität Siegen; Lehraufträge an der WHU Vallendar, Hochschule für Philosophie, München; Kurator des HansJonas Instituts, Siegen; Leiter der Forschungsgruppe »Ethik und Wirtschaft im Dialog«; Vizepräsident und deutscher Koordinator der päpstlichen Stiftung Centesimus Annus; Erster Vorsitzender des Hilfswerks Sr. Petra; Kurator des Westfälischen Friedenspreises. Veröffentlichungen über Wirtschafts- und Unternehmensethik, Berliner Diskurspragmatik, Philosophie im Digitalzeitalter, Christliche Sozialethik, Integrative Ökologie, Ästhetik, Strategisches Management und Handelsmarketing.
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Publikationen von Dietrich Böhler
A. Bücher Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und Theorie-Praxis-Vermittlung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1. Aufl. 1971, 2. korr. Aufl. 1972. Praktische Philosophie/Ethik: Aktuelle Materialien. Reader zum Funkkolleg. Bd. 1. (Hg. zusammen mit: K.-O. Apel, A. Berlich und G. Plumpe). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, 1980. Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik: Antworten auf Karl-Otto Apel. (Hg. zusammen mit: Wolfgang Kuhlmann). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982. Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge. 2 Bde. (Hg. zusammen mit K.-O. Apel und G. Kadelbach). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, 1984. Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Studientexte. 3 Bde. (Hg. zusammen mit: K.-O. Apel und K. Rebel). Weinheim/Basel: Beltz. Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985. Die pragmatische Wende. Sprachspielpragmatik oder Transzendentalpragmatik? (Hg. zusammen mit: Tore Nordenstam und Gunnar Skirbekk). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986. Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren (Hg. zusammen mit: R. Neuberth). Münster/Hamburg: LIT-Verlag, 1992; 2. erweiterte u. verbesserte Aufl. 1993. Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas. (Hg.). München: C. H. Beck, 1994. Moral und Sachzwang in der Marktwirtschaft: Setzen ökonomische »Sachzwänge« der Anwendung moralischer Normen legitime Grenzen? Eine Abhandlung und kritische Beiträge mit dem Ziel, den wirtschaftsethischen Diskurs zu lernen. (zusammen mit: Jens Peter Brune und Werner Steden). Reihe: Ethik und Wirtschaft im Dialog. Bd. 8 (Hg. zusammen mit: Th. Bausch u. a.). Münster/Hamburg: LIT-Verlag, 1995. Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft. In memoriam Hans Jonas. (Hg. zusammen mit: M. Stitzel, Th. Bausch, H. Gronke, Th. Rusche, M. Werner). Reihe: Ethik und Wirtschaft im Dialog. Bd. 3, Münster/Hamburg: LIT-Verlag, 2000.
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Publikationen von Dietrich Böhler Das Prinzip Mit-Verantwortung: Ethik im Dialog. Report des Hans Jonas-Zentrums. (Hg. zusammen mit: Ch. Böhler-Auras, M. H. Mendoza, B. Rähme, E.-M. Schwickert). Berlin: Oberhofer, 2000. Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas. (Hg. zusammen mit: Jens Peter Brune). Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004. Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral? (Hg. zusammen mit: Th. Bausch u. Th. Rusche). Reihe: Ethik und Wirtschaft im Dialog. Bd. 12, Münster: LIT, 2004 Hans Jonas: Leben, Wissenschaft, Verantwortung. Ausgewählte Texte. D. Böhler (Hg.), Stuttgart: reclam, 2004. Hans Jonas. Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend. D. Böhler (Hg.), Münster: Lit, 2005. Mensch – Gott – Welt. Philosophie des Lebens, Religionsphilosophie und Metaphysik im Werk von Hans Jonas. (Hg. zusammen mit: Horst Gronke und Bernadette Herrmann) Freiburg: Rombach, 2008. Zukunftsverantwortung in globaler Perspektive, Bad Homburg: VAS Verlag, 2009. Übersetzung ins Ukrainische von Anatoliy Yermolenko, Kiev/Kyjiw, Stylos Verlag, 2014. Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas. (Hg. zusammen mit: M. Bongardt, H. Burckhart, Ch. Wiese, W. Ch. Zimmerli). Freiburg: Rombach, 2010 ff. Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der sprachpragmatischen Wende, Freiburg: Karl Alber, 2013. Verb. Neuauflage als Alber-Studienbuch: Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik – Orientierung in der ökologischen Dauerkrise, Freiburg/München: Karl Alber, 2014. Was gilt? Diskurs und Zukunftsverantwortung. (Hg. Thomas Rusche, Jens Ole Beckers und Bernadette Herrmann). Freiburg/München: Karl Alber, 2019.
B. Abhandlungen, Lexikonartikel und Rezensionen Antizipation und Kritik. Zur Philosophie und Theologie der Hoffnung. In: Kirche in der Zeit, 12, 1967, S. 550 ff. Walter Benjamin in seinen Briefen. In: Neue Rundschau, 78. Jg., 4, 1967, S. 664– 673. Theorie und Praxis. In: Auditorium (Hamburger Studentenzeitschrift), Hg. v. AStA, Nr. 57, 1968, S. 10 f. und Nr. 58, 1969, S. 14. Das Problem des »emanzipatorischen Interesses« und seiner gesellschaftlichen Wahrnehmung. In: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 14. Jg., 4, 1970, S. 220– 240. Ebenso in: Man and World, III. No. 2, May 1970, S. 26–53. Kritische Theorie – kritisch reflektiert. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 1970, LVI/4, S. 511–525. Technologie und Engagement. In: Kramm, Eva (Hg.): Der Mensch in der geplanten Welt. Stuttgart: Radius-Verlag, 1970, S. 42–50.
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Publikationen von Dietrich Böhler Überschreiten was ist. Ernst Bloch zum 85. Geburtstag. In: Feuilleton der Saarbrücker Zeitung, 8. Juli 1970. Rechtstheorie als kritische Reflexion. In: Werner Maihofer, Günther Jahr (Hg.): Rechtstheorie. Beiträge zur Grundlagenforschung. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1971, S. 62–120. Metascience als Reflexion und Wissenschaft. Zu G. Radnitzky, Contemporary Schools of Metascience, 2 Bde., 2. Aufl., Göteborg 1970/New York 1970, und zu den jüngsten Abhandlungen der »Göteborger Schule« (Törnebohm, Radnitzky, Elzinga u. a.). In: Philosophische Rundschau, 19. Jg., 1972, Heft 3/4, S. 165–191. Andere Fassung in spanischer Übersetzung: La teoria de la cienca como investigación y reflexión. In: Dianoia. Anuario de filosofia, Bd. XVIII, 1972, S. 275–289. Paradigmenwechsel in analytischer Wissenschaftstheorie? In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Bd. III, 1972, Heft 2, S. 219–242. Rechtstheorie als kritische Gesellschaftstheorie. Aktualität und Dogmatismus der marxistischen Rechtstheorie am Beispiel von Eugen Paschukanis. [Zusammen mit Wolf Paul] In: Rechtstheorie, 3. Bd., 1972, Heft 1, S. 75–82. Arnold Gehlen: Die Handlung. In: Josef Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II. Göttingen: UTB – Vandenhoeck und Ruprecht, 1973, S. 230–280; 3. Aufl. 1991. Der Versuch, unsere Epoche in Gedanken zu fassen. Walter Schulz: »Philosophie in der veränderten Welt«. In: Ein Büchertagebuch (Frankfurter Allgemeine), 1974, S. 242 ff.; auch in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 18. Jg. 1974, Heft 6, S. 370–373. Zur Geltung des emanzipatorischen Interesses. In: W. Dallmayr (Hg.): Materialien zu Habermas’ »Erkenntnis und Interesse«, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974, S. 349–368. Über das Defizit an Dialektik bei Marx und Habermas. Ebd., S. 369–385. Rezension von: H. Schelsky (Hg.): Zur Theorie der Institution. Interdisziplinäre Studien, Bd. 1, Düsseldorf 1970. In: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 18. Jg., 1974, Heft 6, S. 373–377. Zu einer historisch-dialektischen Rekonstruktion des bürgerlichen Rechts. Probleme einer Rechts- und Sozialphilosophie nach Marx. In: H. Rottleuthner (Hg.): Probleme der marxistischen Rechtstheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 92–158. Sprachkritische Rehabilitierung der Philosophischen Anthropologie. Eine kritische Explikation von Wilhelm Kamlahs Anthropologie. In: Philosophische Rundschau, 23. Jg. 1976, Heft 1/2, S. 17–35. Å kunne handle, å kunne forstå, å kunne tale (Handeln-Können, VerstehenKönnen, Reden-Können. Zur Rekonstruktion praktischer Fähigkeiten und humanwissenschaftlicher Kompetenzen). Ins Norwegische übersetzt von Anund Haga. In: Refleksjon og Handling. Festskrift til Hans Skjervheim. Oslo 1976, S. 57–75. Zu einer philosophischen Rekonstruktion der ›Handlung‹. In: G. Patzig, E. Scheibe und W. Wieland (Hg.): Logik – Ethik – Theorie der Geisteswissenschaften. XI. Deutscher Kongreß für Philosophie, Göttingen 1975. Hamburg: Meiner 1977, S. 306–317.
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Publikationen von Dietrich Böhler Philosophische Hermeneutik und hermeneutische Methode. In: H. Hartung, W. Heistermann und P. Stephan (Hg.): Fruchtblätter. Freundesgabe für Alfred Kelletat. Berlin: Pädagogische Hochschule 1977, S. 15–44. Zōon lógon échon – zōon koinón. Sprachkritische Rehabilitierung der philosophischen Anthropologie: Wilhelm Kamlahs Ansatz im Licht rekonstruktiven Philosophierens. In: J. Mittelstraß, M. Riedel (Hg.): Vernünftiges Denken. Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie, Berlin: de Gruyter 1978, S. 342–373. Das dialogische Prinzip als hermeneutische Maxime. In: Man and World, Vol. XI, No. 1/2, 1978 (Erscheinungsjahr 1979), S. 131–164. – Verbesserte Fassung von: Philosophische Hermeneutik und hermeneutische Methode, 1977. Konstituierung des Handlungsbegriffs. Teleologisches und quasi-dialogisches Rekonstruktionsmodell. In Hans Lenk (Hg.): Handlungstheorien – interdisziplinär. Bd. 2, I. Halbbd.: Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretation. München: W. Fink Verlag, 1979, S. 161–197. Ethische Motive der humanistischen Neuzeit. In: Studienbegleitbrief Nr. 0 des Funkkollegs Praktische Philosophie/Ethik. Weinheim: Beltz-Verlag, 1980, S. 108–118, 105–107, S. 5 f. Fußnoten zu Platon und Augustinus. Transzendentale Kritik der solipsistischen Vernunft. In: Walter Heistermann (Hg.): Spätlese aus Forschung und Lehre einer aufgelösten Hochschule. Abhandlungen aus der Pädagogischen Hochschule Berlin. Bd. VII. Red. Alfred Kelletat. Berlin: Colloquium-Verlag, 1980, S. 1–24. Entwicklungsprobleme und Entwicklungsschwellen der praktischen Vernunft. In: Praktische Philosophie/Ethik: Aktuelle Materialien. Reader zum Funkkolleg. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag, 1980, S. 123–154. Undialektische Anthropologie – unkritische Ethik. In: Praktische Philosophie/ Ethik. Bd. 1. Weinheim: Beltz-Verlag, 1980, S. 46–79. Hermeneutische Philosophie und kritisch-hermeneutische Methode, und weitere Beiträge zur Studieneinheit 10 »Probleme menschlichen Handelns und Verstehens«. In: Studienbegleitbrief 4 des Funkkollegs Praktische Philosophie/Ethik. Weinheim: Beltz-Verlag, 1980, S. 34 f., 38–47, 54, 61–63 und 65–71. Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis. In: Studienbegleitbrief 5 des Funkkollegs Praktische Philosophie/Ethik. Weinheim: BeltzVerlag, 1980, S. 11–51. Kosmos-Vernunft und Lebensklugheit. In: Studienbegleitbrief 5 des Funkkollegs Praktische Philosophie/Ethik. Weinheim: Beltz-Verlag, 1980, S. 52–89. Instrumentelle und praktische Vernunft – das ethische Dilemma der Neuzeit. In: Studienbegleitbrief 5 des Funkkollegs Praktische Philosophie/Ethik. Weinheim: Beltz-Verlag, 1980, S. 90–126. Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit, »weltbürgerliche« Gesellschaft oder »unsere« Gesellschaft? In: Studienbegleitbrief 11 des Funkkollegs Praktische Philosophie/Ethik. Weinheim: Beltz-Verlag, 1980, S. 42–47 und 52–83. Philosophische Hermeneutik und hermeneutische Methode [Wiederveröffentlichung v. 1977]. In: von M. Fuhrmann, H. R. Jauß und W. Pannenberg (Hg.): Text und Applikation. Poetik und Hermeneutik IX. München: W. Fink Verlag, 1981, S. 483–511.
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Publikationen von Dietrich Böhler Naturverstehen und Sinnverstehen. Traditionskritische Thesen zur Entwicklung und zur konstruktivistisch-szientistischen Umdeutung des Topos vom Buch der Natur. In: Friedrich Rapp (Hg.): Naturverständnis und Naturbeherrschung. München: W. Fink Verlag, 1981, S. 70–95. Ku filozoficznej rekonstrukcji »dzialania«. In: Studia Filozoficzne, 190, Nr. 9, 1981, S. 85–95. [Von Wojciech Ciechorski besorgte Übersetzung des Aufsatzes »Zu einer philosophischen Rekonstruktion der ›Handlung‹«, 1977] Transzendentalpragmatik und kritische Moral. Über die Möglichkeit und die moralische Bedeutung einer Selbstaufklärung der Vernunft. In: W. Kuhlmann, D. Böhler (Hg.): Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik: Antworten auf Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982, S. 89–123. Philosophische Meta-Normenbegründung durch Argumentationsreflexion. Über die Möglichkeit einer praktisch relevanten Vernunft in der technischwissenschaftlichen Zivilisation. In: G. Frey, J. Zelger (Hg.): Der Mensch und die Wissenschaft vom Menschen. Die Beiträge des XII. Deutschen Kongresses für Philosophie in Innsbruck 1981. Bd. II, 1983, S. 631–649. Übersetzung der Abhandlung »Arnold Gehlen: Die Handlung« ins Japanische. Wittgenstein und Augustinus. Transzendentalpragmatische Kritik der Bezeichnungstheorie der Sprache und des methodischen Solipsismus. In: A. Eschbach, J. Trabant (ed.): Foundations of Semiotics, Vol. 7; History of Semiotics. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publisher, 1983, S. 343–369. New Ethics – Desideratum of Reason und Task of Higher Education. In: Dialectics and Humanism. The Polish Philosophical Quaterly. Vol. X, 1983, Nr. 4, S. 145–155. Das solipsistisch-intuitionistische Konzept der Vernunft und des Verstehens. Traditionskritische Bemerkungen. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Bd. 38, 1984, Heft 2, S. 263–278 [Überarb. u. gekürzte Fassung des Aufsatzes »Wittgenstein und Augustinus«, 1983]. Reformation und praktische Vernunft. Zu Luthers geistiger und politisch-ethischer Wirkung. In: Universität des Saarlandes (Hg.): Martin Luther, 1483– 1983. Ringvorlesung der Philosophischen Fakultät Sommersemester 1983. Saarbrücken 1983 [Erscheinungsjahr 1984], S. 173–202. Ist die wissenschaftliche Begründung von Werten möglich? Bedarf es der Ergänzung instrumenteller durch praktische Vernunft? In: Studien zur politischen Bildung. Hg. von der Konrad Adenauer-Stiftung; Bd. 8: Werte, Leitbilder, Tugenden. Zur Erneuerung politischer Kultur. Hg. von K. Weigelt, Mainz: Hase u. Koehler, 1985, S. 79–98. Ethik. In: Lexikon des Sozialismus, hg. von Thomas Meyer, K.-H. Klär, S. Müller u. a., Köln: Bund, 1986, S. 156–160. Moral und Politik. In: Lexikon des Sozialismus, hg. von Thomas Meyer, K.-H. Klär, S. Müller u. a., Köln: Bund, 1986, S. 442–447. Ziviler Ungehorsam. In: Lexikon des Sozialismus, hg. von Thomas Meyer, K.-H. Klär, S. Müller u. a., Köln: Bund, 1986, S. 727 ff. Bewußtsein [zusammen mit Alfred Berlich]. In: Lexikon des Sozialismus, hg. von Thomas Meyer, K.-H. Klär, S. Müller u. a., Köln: Bund, 1986, S. 86–88.
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Publikationen von Dietrich Böhler Erkenntnistheorie [zusammen mit Alfred Berlich]. In: Lexikon des Sozialismus, hg. von Thomas Meyer, K.-H. Klär, S. Müller u. a., Köln: Bund, 1986, S. 152– 155. Evolution [zusammen mit Alfred Berlich]. In: Lexikon des Sozialismus, hg. von Thomas Meyer, K.-H. Klär, S. Müller u. a., Köln: Bund, 1986, S. 164–166. Idealismus [zusammen mit Alfred Berlich]. In: Lexikon des Sozialismus, hg. von Thomas Meyer, K.-H. Klär, S. Müller u. a., Köln: Bund, 1986, S. 260–262. Klassische Philosophie [zusammen mit Alfred Berlich]. In: Lexikon des Sozialismus, hg. von Thomas Meyer, K.-H. Klär, S. Müller u. a., Köln: Bund, 1986, S. 309–312. Vernunft [zusammen mit Alfred Berlich]. In: Lexikon des Sozialismus, hg. von Thomas Meyer, K.-H. Klär, S. Müller u. a., Köln: Bund, 1986, S. 696–698. Du Paradigme de la conscience à celui de la communication. In: Les pouvoirs de la science. Un siècle de prise de conscience. Textes présentés et recueillis par Dominique Janicaud, Paris: J. Vrin, 1987, S. 201–217. Wohin führt die pragmatische Wende? In: Die pragmatische Wende. Sprachspielpragmatik oder Transzendentalpragmatik? Hg. mit Tore Nordenstam und Gunnar Skirbekk, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987, S. 261–316. Die deutsche Zerstörung des politisch-ethischen Universalismus. Über die Gefahr des – heute (post-)modernen – Relativismus und Dezisionismus. In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.): Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins: Chance oder Gefährdung? Praktische Philosophie in Deutschland nach dem Nationalsozialismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 166–216. Goldmann heute gelesen: Wiederentdeckung des kritisch-moralischen Orientierungssinns der Vernunft, geschichtsphilosophische Ausblendung des verantwortungsethischen Problems. In: Lucien Goldmann: Mensch, Gemeinschaft und Welt in der Philosophie Immanuel Kants. Mit einem Nachwort von Dietrich Böhler. Frankfurt a. M./ New York: Campus, 1989, S. 248–271. Konsens als Metakriterium der Wahrheit: Die regulative Idee des argumentativen Konsenses und die Kriterien Konsistenz, Kohärenz, Phänomen-Evidenz [zusammen mit Horst Gronke]. In: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur. Jg. 1, 1990, Heft 3, S. 379–388. Transcendental Pragmatics and Critical Morality: On the Possibility and Moral Significance of a Self-Enlightenment of Reason. In: The Communicative Ethics Controversy, ed. by Seyla Benhabib and Fred Dallmayr, Cambridge: MIT Press and London, 1990, pp. 111–150. [Von David Frisby besorgte Übersetzung des Aufsatzes »Transzendentalpragmatik und kritische Moral«, 1982]. Sprache und Sprachenlernen. Humboldtsche Perspektiven für Sprachpragmatik und Sprachendidaktik. In: W. Brusch und P. W. Kahl (Hg.): EUROPA. Die sprachliche Herausforderung. Berlin: Cornelsen, 1991, S. 136–150. Politik und Moral. Die Krisen-Schwelle zur weltbürgerlich republikanischen Moral: deutsche Katastrophe(n) und permanente politische Bildungsaufgabe. In: Kurt Franke (Hg.): Demokratie lernen in Berlin. Opladen: Leske u. Budrich, 1991, S. 16–35. Legitimationsdiskurs und Verantwortungsdiskurs. Menschenwürdegrundsatz und Euthanasieproblem in diskursethischer Sicht. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 39. Jg., 1991, Heft 7, S. 726–748.
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Publikationen von Dietrich Böhler Menschenwürde und Menschentötung. Diskursethik und utilitaristische Ethik [überarb. Fassung des Aufsatzes »Legitimationsdiskurs und Verantwortungsdiskurs«, 1991]. In: Zeitschrift für Evangelische Ethik. 35. Jg., 1991, Heft 3, S. 166–185. Töten als Therapie? – »Praktische Ethik« des Nutzenkalküls versus Diskursethik als kommunikative Verantwortungsethik [zusammen mit Alfons Matheis]. In: Ethik und Sozialwissenschaften. Jg. 2, 1991, Heft 3, S. 361–375. Replik. Viel Wind um Nichts oder Streit um die Notwendigkeit unbedingter Prinzipien in Ethik und Recht? Teil II: Begründung unbedingter Prinzipien (A) und Abwägung der Folgenverantwortung (B). In: Ethik und Sozialwissenschaften. Jg. 2, 1991, Heft 3, S. 425–429. Mensch und Natur. Verstehen, Konstruieren, Verantworten. In dubio contra projectum. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 39. Jg. 1991, Heft 9, S. 999–1019. Arnold Gehlen: Handlung und Institution. In: J. Speck (Hg.): Philosophie der Gegenwart II. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (UTB), 1991 [3. durchgesehene Aufl. des Aufsatzes »Arnold Gehlen: Die Handlung«, 1973]. Philosophische Meta-Normenbegründung durch Argumentationsreflexion [durchgesehener Nachdruck von 1983, mit neuem Nachwort]. In: H.-L. Ollig (Hg.): Philosophie als Zeitdiagnose. Beiträge der deutschen Philosophie der 80er Jahre, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991, S. 147–168. Human dignity and republic principles versus collective particularism, against the back-ground of German experiences. In: Universalism Today. Contributions at the IInd International Symposium for Universalism. Berlin, August 22nd to 26th, 1990. Soziologische Forschungen 19; Dieter Claessens und Rainer Mackensen (Hg.), Berlin 1992, S. 7–20. Responsibility of Technological Sciences and Public Discourse. The ecological dangers of Genetechnology. In: Audun Øfsti (Hg.): Ecology and Ethics. A Report from the Melbu Conference, 18–23 July 1990. Trondheim: 1992, S. 73–90. Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung [erweiterte und verbesserte Fassung des Aufsatzes »Menschenwürde und Menschentötung«, 1991]. In: K.-O. Apel, M. Kettner (Hg.): Zur Anwendung der Diskursethik in Recht, Politik und Wissenschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992, S. 201–231. Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 40. Jg., 1992, Heft 3, S. 305–311. Das Stolpe-Dilemma. Ein verantwortungsethisches Plädoyer. In: Evangelische Kommentare. 25. Jg., 1992, Heft 5, S. 277–278. Geleitwort zum Thema [bearbeitete Fassung des Aufsatzes »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten«]. In: B. Rauschenbach (Hg.): Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Berlin: Aufbau Taschenbuchverlag, 1992, S. 17–24. Vorwort. In: D. Böhler, R. Neuberth (Hg.): Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren. Reihe: Ethik und Wirtschaft im Dialog (EWD), Bd. 1, Münster/Hamburg: LIT-Verlag, 1992, S. 7–10. Begrüßung durch den Dekan. In: D. Böhler, R. Neuberth (Hg.): Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren. Reihe: Ethik und Wirt-
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356 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Namen 1
Albert, Hans 44, 62, 79, 315, 318, 321 Altner, Günter 33, 60, 234, 328, 357 Altner, Helmut 156 f. Anders, Günther 75, 216, 229, 289, 302 Apel, Dorothea 328 Apel, Judith 307, 328–330 Arendt, Hannah 219, 223 f., 229, 300, 302, 354 Aristoteles 37, 136, 237 f., 242, 263, 318, 321 Athene 315, 327, 355 Aumann, Silke 25
Bonhoeffer, Dietrich 269, 343, Brautaset, Anna 96 Brentano, Clemens 297 Brumlik, Micha 46 Brune, Jens Peter 10, 23 f., 28, 40 f., 43, 46, 54, 59, 79, 127, 146 f., 207, 264 f., 305, 335, 346 f., 354 f. Brüstle, Oliver 62 Buddha 276 Bultmann, Rudolf 274, 278, 300 Burckhart, Holger 23, 58, 64, 66, 108, 200, 229, 305, 319, 325 f., 341, 347, 354 f.,
Baudrillard, Jean 60 Bauer, Fritz 76 Baumgartner, Hans Michael 316 Bausch, Thomas 15–17, 23, 25, 40, 63, 65, 137, 207, 233, 319, 326, 339 f., 346 f. Beckers, Jens Ole 10, 23–25, 60, 154, 199 f., 203, 205–207, 263 f., 341, 347 Beierwaltes, Werner 148 Benedikt XVI. 278 Benjamin, Walter 311, 347 Benz, Winfried 24 Bergmann, Anna 28, 335, 338 Beyreuther, Konrad 293, 342 Bloch, Ernst 254, 310 f., 340, 348 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 148, 156 Bongardt, Michael 4 f., 25, 108, 231, 260, 264, 274, 347
Calliess, Rolf-Peter 137 Churchland, Patricia und Paul M. 55, 86 f., 91, 93 Cohen, Gerald A. 60 Cortina, Adela 323 Crutzen, Paul J. 284 Dabrock, Peter 337 Damiani, Alberto 4 f., 70, 182, 191– 208, 341 Dante Alighieri 161, 292 Darwin, Charles 94, 138 Däubler-Gmelin, Herta 337 Descartes, René 22, 49, 113, 116, 121, 238, 240 f., 306, 318, 321, 335, 342 Du Bois-Reymond, Emil 55 Ebner, Ferdinand 124 Eichmann, Adolf 76, 300, 354
Mit Ausnahme der auf Schritt und Tritt begegnenden Namen Karl-Otto Apel, Dietrich Böhler und Hans Jonas.
1
357 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Namen Fetscher, Iring 322, 340 Feuerbach, Ludwig 124 Fick, Annabella 25 Fine, Kit 167 Fischer, Andrea 337 Fleck, Ludwik 237, 239, 245, 252, 259, 264 f. Fontane, Theodor 156 f. Freud, Sigmund 98 Frühwald, Wolfgang 4 f., 23 f., 27, 30, 33, 117, 137, 156, 289–303, 338, 342 Furger, Franz 256, 264 Gadamer, Hans-Georg 42 f., 143, 157, 161, 217 f., 230, 305, 355 Gastl, Julia 310 Gehlen, Arnold 314, 321, 348, 350, 352 Gerhardt, Volker 297, 299 Geymonat, Mario 154 Gillen, Erny 48 Goethe, Johann Wolfgang 292, 342 Gogarten, Friedrich 124 Greisch, Jean 48 Gronke, Horst 10, 23, 45, 55, 73, 101, 127, 137 f., 143, 146 f., 179, 185, 189, 230, 232, 264, 279, 289, 298, 305, 319, 326, 341, 346 f., 351, 353, 355 f. Grünbein, Durs 293 Habermas, Jürgen 39, 44, 47 f., 50, 53, 64–67, 70, 100, 110, 113, 128, 143, 179, 184, 187, 193 f., 201, 216, 230, 242 f., 246, 264, 293–296, 305, 307– 309, 311–314, 316 f., 321, 330, 332, 348 Hake, Joachim 24 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 42, 110, 112, 132, 142, 148, 238, 308 f., 311 f., 322 Heidegger, Martin 112, 120, 124 f., 143 f., 146, 183, 225 f., 230, 305, 309, 311 Hellesnes, Jon 4 f., 43, 55, 60, 85–96, 109, 342
Herrmann, Bernadette 9 f., 21, 23 f., 33, 48, 57, 61, 67, 70 f., 73, 146 f., 150–157, 205, 229–232, 235, 255, 264, 270, 287, 289, 323, 328, 347, 356 Hitler, Adolf 271 Höffe, Otfried 127, 318 Höpfl, Sebastian A. 4 f., 159, 209– 235, 343 Homer 292 Hoppe, Ingrid 10, 25, 117 Hösle, Vittorio 4 f., 22, 28 f., 44, 48, 79, 95, 108–117, 120–150, 156–158, 164, 187, 235, 237-242, 245, 249, 252–255, 259, 262, 264, 304, 325, 338, 343 Huber, Wolfgang 4 f., 23 f., 27 f., 44, 46, 269–286, 288, 336, 343 Husserl, Edmund 22, 42, 116, 143, 238, 240, 306 Ibn Tufail 129 Ilting, Karl-Heinz 193, 201, 313 in der Schmitten, Jürgen 28, 335 Ionesco, Eugène 114 Jahn, Jörg-Wolfgang 316 Jakobs, Rudolf 25 Jaspers, Karl 302 Jesus 75, 357 Joas, Hans 276 f. Jonas, Lore 116, 270, 288, 298, 316, 323–325 Jonas, Rosa 271, 274, 301 Kadelbach, Gerd 317, 333, 346 Kaléko, Mascha 156 Kant, Immanuel 10, 36, 41–43, 45, 49, 68 f., 75, 96, 113, 116, 118, 121, 131, 141, 165–167, 173, 175, 177, 179, 182, 187, 189, 201, 213–215, 226, 231, 238–240, 244 f., 247, 254, 263, 265, 273, 296, 305, 310 f., 319, 321, 330, 335–337, 351, 357 Kettner, Matthias 23, 40, 45, 55 f., 65, 73, 93, 100 f., 116, 138, 162, 200,
358 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Namen 263–265, 315, 326–328, 341, 352, 355 f. Kierkegaard, Søren 114 Kinkel, Klaus 336 f. Kohlberg, Lawrence 254, 265, 321 Köhler, Horst 24 Krings, Hermann 316 Kröll, Walter 269 Krull, Wilhelm 25 Kuhlmann, Wolfgang 23, 38 f., 44, 79, 82, 114, 137, 146, 172, 184 f., 187, 237, 241, 245, 252 f., 265, 313–316, 318, 320 f., 323, 333, 346, 350 Kuhn, Thomas 216 f., 237 f., 265 Lehmann, Karl 127, 261, 265, 278 Leibniz, Gottfried Wilhelm 111, 152, 212 Lenk, Hans 4 f., 20, 28 f., 96, 101, 106, 118, 121, 140, 144, 152, 165–190, 237, 240, 242 f., 256–258, 262 f., 265, 288, 315, 323, 343, 349 Liedke, Ulf 46, 202 f., 357 Lorenz, Kuno 144, 173, 180, 182 Lorenzen, Paul 144, 161, 171, 173, 180, 182 Löwe (Lowe), Adolph 56 Löwith, Karl 124 Lübbe, Hermann 316, 321 f. Machiavelli, Niccolò 321 Magnus, Gustav 55, 305, 325 Mannheim, Karl 98 Maring, Matthias 29, 177, 180, 323 Markl, Hubert 293 f. Markschies, Christoph 24 Marx, Karl 45, 98, 107, 127 f., 311– 313, 346, 348 Matthäus 65 Mead, George Herbert 125 Merleau-Ponty, Maurice 89 f. Morgenstern, Christian 112 Morris, Charles 35 f., 144 f. Mose 281 Mozart, Wolfgang Amadeus 28, 116
Nadolny, Sten 136 Nagel, Thomas 132 Nielsen-Sikora, Jürgen 4 f., 25, 271, 304, 338 Nietzsche, Friedrich 91, 343 Noethen, Ulrich 300 Nordenstam, Tore 100, 343, 347, 351 Oelmüller, Willi 316 Øfsti, Audun 29, 43, 45, 67 f., 184, 316, 323 f., 352 O’Hear, Anthony 92 Peirce, Charles Sanders 35 f., 92, 138, 142, 173, 175, 189, 239 f., 242 f., 256, 263, 265, 308, 311, 313 Perels, Joachim 314 Peters, Karl-Heinz 317 Pfalz, Elisabeth von der 113 Platon 110 f., 113, 131, 136, 139 f., 144, 152, 157, 160, 186, 292, 318, 321, 349 Popper, Karl Raimund 22, 62, 172, 189, 216 f., 232, 315 Preußger, Florian 10, 23, 60, 154, 200, 230 f., 263 f., 341 Putnam, Hilary 189 Rapic, Smail 308 Rau, Johannes 293 f., 328 Rescher, Nicholas 111 Riedel, Manfred 127, 318, 349 Röd, Wolfgang 172 Royce, Josiah 142, 239 f., 256, 265 Rusche, Thomas 4 f., 15, 23, 25, 60, 63, 65, 116, 154, 180 f., 186–188, 200, 207, 233, 236–265, 304, 326, 331 f., 339–341, 344–347, 355 Scherer, Andreas Georg 339, 354 Schoser, Franz 24 f., 289, 297, 301 Schulz, Walter 311, 317, 340, 348 Schweitzer, Albert 4 f., 46, 153, 178, 181, 185 f., 188, 287 f. Schweitzer, Ute 24 Schwickert, Eva-Maria 305, 325, 347
359 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Namen Searle, John R. 247, 259, 265, 305, 316 Seidel, Ralf 24, 304 Skirbekk, Gunnar 4 f., 23, 45, 62, 65, 97–105, 121, 125, 138, 162, 182 f., 200, 263, 265, 315, 327, 341, 343 f., 346, 351, 355 f. Sophokles 292 Spaemann, Robert 100, 317 Spahn, Jens 28, 334, 337 Springer, Friede 24 Steiner, George 291 Steiner, Stephan 24 Steinmann, Horst 339, 354 Steinmeier, Frank-Walter 307 Stifter, Adalbert 297 Strauss, Leo 273 Sukowa, Barbara 300 Tallis, Raymond 87, 94 Taylor, Charles 121 Tetens, Holm 86, 133, 274
Thomas von Aquin 68, 148, 321 Tomasello, Michael 157 Trotta, Margarethe von 300 Truog, Robert 336 Unseld, Siegfried 308, 310 Ursinus, Alfred 311 Weber, Max 40, 56, 75, 269, 322, 357 Weizenbaum, Joseph 185 Weizsäcker, Richard von 16, 307, 325 Wellmer, Albrecht 45, 162, 194, 201, 253 f., 265 Werner, Micha H. 220, 232, 305, 319, 346, 356 Winch, Peter 305 Wittgenstein, Ludwig 89, 94, 144, 155, 157, 182, 189, 242, 257, 265, 305, 308, 313, 350 Wright, Georg Henrik von 87 f., 94 Zimmerli, Walther Chr. 108, 298, 347
360 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Begriffe und Sachen
Abendland s. a. Europa 22, 136, 260 Achsenzeit/achsenzeitlich (Jaspers) 276 f. advokatorisch 34, 46, 63, 72, 78–81, 157, 162, 203, 211, 227, 234, 256, 357 Anthropologie/anthropologisch 81, 90, 95, 142, 147, 202, 228, 231, 261, 312 f., 315, 320, 344, 348 f., 354 Anthropozän 284 f. Apriori/a priori 12, 16, 20 f., 29, 34, 38 f., 43, 45, 47, 51, 54, 64–67, 69– 72, 74, 76, 80, 89 f., 101 f., 106, 110, 116, 118, 121 f., 125–130, 139 f., 143, 145, 148, 151, 158, 160, 163, 171 ff., 177, 181, 186, 188 f., 192 f., 198, 203–207, 210, 233, 236, 238, 240, 242 f., 247, 250, 253, 255, 307, 309, 312 f., 315, 321, 328 f., 331 – apriorisches Perfekt 16, 145 – Apriori der idealen und der realen Kommunikationsgemeinschaft 45, 128, 140, 315 Argumentieren – ideale Argumentationsgemeinschaft s. Kommunikationsgemeinschaft 36, 39, 45 f., 49, 73, 122, 129, 234, 243, 251, 319 – (rein) argumentativer Dialog/Diskurs 19 ff., 44, 53, 69, 75 f., 79 f., 100, 102, 118 f., 140 f., 153, 174, 183, 188, 193, 204, 233, 247, 249, 258, 261, 307, 310, 325, 331, 341, 353 f., Atom/atomar 19, 60, 74, 134, 283, 289, 311, 318, 320
– Atomenergie 60, 63, 80 f. – Atomkrieg 185, 302 Auschwitz 76, 119, 276, 298, 301, 357 Autonomie/autonom 12, 72, 86 f., 92, 114, 128, 156 f., 160, 164, 234, 248, 285, 335, 355 Autoverkehr 20 Begleitdiskurs s. a. Diskursglaubwürdigkeit 9, 34, 60 f., 67–71, 76, 119, 129, 139 f., 142, 145, 147, 150, 160, 174 f., 188, 192, 195–200, 202, 245 f., 255, 263 f., 328 f. Bewahrung 37, 65, 68, 77, 80, 151, 251, 286 Bewußtseinsphilosophie s. a. Subjektphilosophie, Paradigma: Zweites 15, 38, 93, 182, 260, 323, 333, 346 Biologie/biologisch 22, 36, 43, 58, 73, 86, 92, 110, 126, 221, 228, 230, 232, 257, 259 f., 291, 293 – biologische Ontologie 22, 36, 43, 73, 110, 126, 259 f. – philosophische Biologie 22, 112, 221, 230, 259 Biomedizin/biomedizinisch 295 Biosphäre s. a. Ökosphäre 58, 62, 222, 284 Cartesianismus/cartesisch 49, 113, 121, 335 Christentum/christlich 68, 142, 239, 254 ff., 265, 281, 329, 345 Deduktion/deduktiv 43, 79, 170–174, 242, 317
361 https://doi.org/10.5771/9783495820551 .
Begriffe und Sachen Demokratie/demokratisch 41, 136, 137, 270, 280, 286, 289, 302, 328, 338, 351, 357 Determinismus/deterministisch 86– 90 Deutschland 28, 59, 100, 269, 271, 278, 289, 302, 305, 307, 327 f., 334 f., 342 f., 351 Dialektik/dialektisch 16, 22, 24, 31, 39, 42 f., 45–47, 71, 80, 93, 95, 101, 107, 119–123, 126 ff., 139, 142, 145 f., 160, 163, 184, 216, 229, 253, 262 f., 306, 309, 312–315, 320, 331 f., 348 f., 357 – D. von realer Kommunikationsgemeinschaft und idealer Argumentationsgemeinschaft 39, 45 f., 160, 306, 315 Dialogreflexion/dialogreflexiv s. Diskursreflexion 16, 20 ff., 24 f., 31, 36, 42, 44, 47, 51, 71, 77, 81 f., 93, 100, 102, 120, 130, 141, 145, 150 ff., 173, 175, 187, 198 ff., 203, 213 f., 216, 225, 235, 251, 315, 327, 331, 354 f. Dialogverpflichtungen/Dialogversprechen 11 f., 20 f., 29, 34, 47, 51, 67, 69, 71–74, 76 f., 80, 100 ff., 106, 110, 118, 121, 129, 139, 140, 142, 148, 151, f., 175, 177, 181, 185, 188, 192, 198 ff., 202–207, 233, 235, 257, 329, 331 Digitalisierung 20, 61, 178, 185, 285, 308 Diskurs – praktischer D. 9, 33, 47 f., 50, 70, 74, 110, 119, 195 – theoretischer D. 96, 194 Diskursethik 12 f., 16, 40, 44, 46 ff., 50 f., 54, 56, 63, 65, 71 ff., 96, 108, 114, 136, 138, 145, 147, 152, 165, 171, 173 f., 179, 181, 187, 192–195, 197–202, 207, 212, 216, 229 f., 236 f., 243 f., 254, 264 f., 270, 305, 307–310, 317, 319, 322–325, 327, 330 ff., 341, 352, 354 ff., 358 – Teil A der D. 244, 317, 322, 329
– Teil B der D. 244, 307, 318 f. Diskursglaubwürdigkeit/Glaubwürdigkeit als Diskurspartner 21, 34, 62, 64 f., 72, 76, 80, 101, 145, 148, 174, 203–207, 331, 355 Diskursmoralprinzip 152, 319 Diskurspartner, Diskurspartnerschaft 9, 11, 16 f., 21 ff., 25 f., 31, 33 f., 39 f., 42, 46 f., 49, 52, 58 f., 62 f., 65–72, 74–77, 80 f., 101, 103, 106, 108, 115, 118 f., 121, 129, 144 ff., 148, 152, 158, 160, 162, 174, 183, 193 f., 197 f., 200 f., 203–207, 211, 233 f., 247–251, 256, 304, 306, 331, 355, 357 – Diskurspartnerrolle s. a. Sinnbedingungen 9, 34, 46, 67 f., 70, 72, 102, 197, 203, 205, 250 f. Diskurspragmatik/diskurspragmatisch 9, 11 f., 16, 20–23, 28, 35 f., 38, 42 f., 47–51, 60, 63, 65, 68, 83, 85, 93, 101, 106 ff., 116, 118, 137 ff., 141, 145 ff., 150, 152, 159, 163, 173, 187, 192, 195 f., 198–202, 204–207, 211, 213 f., 216, 224, 227, 234–237, 245 ff., 249–254, 257 ff., 261, 263 f., 270, 328, 331, 341, 345, 353, 355 Diskursreflexion 72, 106, 152, 202, 321 Diskurstheorie/diskurstheoretisch 47, 67, 70, 96, 100, 173, 324, 356 Doppelstruktur der Rede (Habermas) 66, 246 – doppelte D. d. R. (Øfsti) 67 Dualismus/dualistisch 22, 48 f., 113, 121, 128, 247, 260 Durst (Katastrophe) 20 Ecology 29, 316, 323, 352, Ehrfurcht 12 f., 27, 46, 61, 188, 269, 273, 282, 287 f. – E. vor dem Leben (Schweitzer) 12 f., 46, 61, 187 f., 287 f. Embryo/embryonal 34, 62, 78–81, 109, 281, 289, 293 ff., 355 f. Emissionen (klimaschädliche) 20 Erlanger Schule 181
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Begriffe und Sachen Ethik – Bioethik 61, 78, 81, 281, 297, 336, 355 – Dialogethik/dialogische E. 40, 354 f. – Gattungsethik 294, 296 – Metaethik 29, 109, 111 – Prinzipienethik 27, 33, 54, 96, 339, 341 – Umweltethik 272 – Verantwortungsethik 13, 20, 24, 46, 62, 73, 75, 85, 147, 178, 185, 209, 229, 243 f., 269–272, 304 f., 307, 309, 318 ff., 322, 334, 341, 343, 351 f., 357 – Zukunftsethik s. a. Zukunftsverantwortung 23, 30, 36, 51, 54, 57, 63, 77, 119 f., 174, 213, 230 f., 270, 330, 355 Europa 20, 41, 59, 86, 221, 232, 272, 275, 289, 290, 293, 299, 301 f., 305, 338, 340, 351, 356 Evidenz 52, 91, 103, 209, 213 f., 220, 222, 240, 283, 351 Evolution/evolutionär 43, 119 f., 125, 127, 138, 140, 328, 342, 351 Evolutionstheorie/evolutionstheoretisch 119, 138, 320 Ewigkeit 230, 274, 278 f. Existentialismus/existentialistisch 222, 230, 298, 309, 311 Fallibilismus/fallibilistisch 62, 99, 102, 104 ff., 141, 324 Fallibilität 29, 74, 99, 102, 104, 141, 179, 204, 248 Fehlschluß 112, 204 – intellektualistischer F. 193, 195 – naturalistischer F. 111 Flugverkehr 20, 58, 60 Fortschritt 13, 59, 61, 120, 216 f., 279, 282, 289–294, 332 Frankfurter Schule 117, 128, 305, 311 f., 329 Freiheit 16, 22, 26, 28, 46, 70, 72 f., 99, 118 f., 125, 127, 133 f., 141 f., 145– 148, 214, 221, 223 f., 226 f., 230,
248, 250, 260 f., 270 f., 277, 279 f., 285 f., 290, 296 ff., 304, 306, 317, 334–338, 343, 357 – Handlungsfreiheit 86, 89, 277 – Willensfreiheit 28, 89, 148, 338 Fridays for Future 19 f., 60 Frieden 130, 234, 283, 302, 345, 357 Fukushima 272 Fürsorge s. a. Verantwortung 41, 176, 178, 280 Geltung – Geltungsansprüche 9, 21, 26, 34, 38 f., 45, 49–54, 63 f., 66 f., 69–73, 80, 97, 101, 106, 112, 114, 129, 131 f., 138–141, 143, 145, 147 f., 151 f., 158 ff., 164, 175, 177, 204, 206 f., 210 f., 215, 217, 224, 233, 235, 241 ff., 246 f., 248, 250 f., 306, 317, 324 – Geltungsinstanz 38, 45, 54, 161, 235, 306 – Geltungslogik, geltungslogisch 39, 46, 129, 152 f., 204 Generationen 128, 245 – nachfolgende/künftige G. 37, 59, 74, 178, 302 Gentechnologie 44, 270, 281, 283, Gesinnung (gute) 70, 75, 82 Gewissen 68, 76, 115, 250, 283, 321, Glaubwürdigkeit – G. als Diskurspartner s. Diskursglaubwürdigkeit 62, 65, 76, 80, 101, 148, 204, 206 f. – Glaubwürdigkeitsanspruch 50, 65 f., 72, 74, 76, 188, 206, 331 Gnosis, gnostisch 222, 230, 259, 278 f., 298 Gott, Göttliches, göttlich 68, 73, 89, 117, 119, 130, 133, 147, 232, 254 ff., 260, 263 f., 273 f., 276 ff., 282, 289, 329, 335, 347, 356 Gottesebenbildlichkeit (Ebenbildlichkeit, Ebenbild) 61, 77 f., 256, 281 f., 335 Gottesstandpunkt 89, 254
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Begriffe und Sachen Grundgesetz 335 f. Gültigkeit – Gültigkeitsanspruch s. Geltungsansprüche 63, 66, 73, 193, 196 f., 331 – Gültigkeitserweis 44, 77, 185, 189 – Gültigkeitsinstanz s. Geltungsinstanz 72 f. Handlungstheorie/handlungstheoretisch 87, 127, 165, 179, 191, 201, 315, 341, 349 Hans Jonas-Institut 15, 345 Hans Jonas-Zentrum e.V. 10, 13, 15, 17, 20, 25, 33, 35, 60, 93, 116, 154, 304–307, 325 f., 328, 334, 338 ff., 347, 355 Hermeneutik, hermeneutisch 55, 96, 107, 117, 122, 127 f., 142 f., 146, 148, 154 f., 157, 161, 183 f., 217 f., 220 f., 230, 257, 263, 312 f., 315, 318, 322, 331, 340, 349 f. – Transzendentalhermeneutik/transzendentalhermeneutisch 122, 144, 154, 258, 263, 313, 315, 322 Heuristik/heuristisch 38, 72, 110, 112 – H. der Furcht (Jonas) 272 f., 279, 282 ff. Hirntod 27, 338 – Hirntodkriterium/Hirntoddefinition 281, 334 f. Humanismus/humanistisch 85 ff., 95, 161, 275, 349 f., 353 Hunger 20, 41, 287 Idealismus/idealistisch 42, 122 f., 127 f., 131 f., 138, 141, 144, 148, 152, 160, 214, 309, 311, 351 – objektiver I. 12, 28, 108, 110, 114 f., 123, 128, 130–133, 136, 138 f., 141, 145, 152, 159 f. Idee – regulative I. 23, 45, 48, 71, 138, 151, 160, 175, 236 f., 240, 244, 253 f., 263, 265, 351 Ideologie/ideologisch 85, 87, 98, 290, 309, 314, 329, 357
– Ideologiekritik/ideologiekritisch 55, 85, 96, 107, 127 f., 142, 146, 312, 346, 357 Imperativ 63, 192, 223, 225, 249, 261, 292, 294 – erster I./Verantwortungsimperativ (Jonas) 34, 47, 56, 77 f., 81, 177, 213, 223 f., 230, 250 ff., 273, 277, 280, 290, 296, 298 f., 324 – kategorischer I. 174 f., 194, 244, 278, 280, 296, 319 Intentionalität/intentional 55, 87 ff., 91, 142 f., 164, 259, 262 Interpretationismus 12, 165 ff., 257 Interpretationskonstrukte 12, 165, 167, 169, 171, 180 f., 183, 189 f. Intersubjektivität 112 f., 119 f., 122, 124, 127, 129, 134, 136, 139 f., 142– 147, 149, 164, 184, 236, 238 f., 245, 255, 259, 261 ff., 304, 313, 357 Interventionismus 87 f., 90 Intuition 108, 209, 261 – Naturintuition 61 Intuitionismus 79, 81, 173, 213 f., 220, 350 Israel 275, 277 Judentum/jüdisch 119, 230 f., 271, 273, 276 f., 281, 301, 307, 334 Kausalität/kausal 36, 54 f., 86 ff., 92, 111 f., 183, 313 – Kausaldeterminismus 86 f., 89 – Naturkausalität s. Determinismus 86, 88 f. Klima 20, 178, 284 f. – Klimagefährdung/-schädigung 41, 60, 99, 178 – Klimaproblem 60 – Klimaschutz 60 Kommunikationsgemeinschaft – Apriori der K. 16, 29, 38, 54, 116, 122, 128, 163, 307, 309, 312, 315 – Dialektik der idealen/realen K. 39, 45 f., 160, 306, 315 – ideale K./Argumentationsgemeinschaft 16, 36, 38 ff., 45 f., 49, 73,
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Begriffe und Sachen 109, 122, 129, 140, 148–151, 157, 160, 162 f., 173, 175, 234, 236 f., 240, 243 f., 251, 253 f., 306, 317, 319, 324, – reale K. 16, 39, 46 f., 49, 122, 129, 139, 145, 150, 163 f., 175, 183, 240, 243 f., 306 Kommunikationsphilosophie s. a. Paradigma: Drittes 119, 121, 175, 179, 254, 318 Komplementarität 27, 73, 82, 88 f., 309, 313 Konsens 12, 45 f., 54, 71 f., 97, 114, 128, 134 f., 137 f., 148, 158, 162, 172, 181, 188, 216, 235, 240, 243 f., 269, 324, 332, 351, 354 – argumentativer K. 49, 54, 63, 76, 115, 126, 146, 172, 240, 351 – faktischer K. 114, 240, 324 – Konsenswürdigkeit 46, 63, 123, 140, 249 Konsum 17, 20, 54, 58, 97, 246 Krieg 294, 298, 302, 309 – Atom-K. 185, 302 – Kalter K. 283, 302 – Weltkrieg 275, 284, 302, 307 Krise 28, 41, 99 f., 114, 125, 129, 137 f., 148, 150, 244, 264, 286, 351 – ökologische K. 28, 37, 41, 47, 50, 95, 110, 137 f., 178, 200, 307, 310, 324, 333, 341, 347 Kritische Theorie 128, 312, 316, 342, 347 Lebensbedingungen 21, 147, 162, 226 Leib 43, 54, 90, 113, 121, 123, 128, 197, 230, 260, 296, 335 – Leiblichkeit/Leibhaftigkeit 44, 71 f., 74, 112, 118 f., 129, 141, 146, 178, 183, 200, 238, 246, 261 f., 295 f. – Leibsubjekt 89 f. Letztbegründung s. a. Verbindlichkeitserweis 26, 28, 34, 37, 44, 47 f., 79, 81 f., 109, 114, 153, 170, 172 f., 177, 184 ff., 189, 200, 206, 236 f.,
241 f., 252, 265, 308 f., 315, 317, 321 ff., 329, 331, 333, 358 Marxismus/Neomarxismus 312, 348 Materialismus/materialistisch 55, 91 f., 95, 127, 309 Meliorismus/melioristisch 11, 62, 99 f., 102–107, 121, 162, 182 f. Menschenwürde 13, 28, 34, 40, 61 f., 72 f., 78–81, 85, 99, 186, 236, 248– 252, 264, 296, 308, 319, 334–337, 352, 354, 356 Metaphysik/metaphysisch 12, 27, 36 ff., 43, 48, 55, 62, 73, 79, 81, 86, 89, 93, 108–113, 116 ff., 127, 141, 145, 147, 172 f., 179, 213, 226, 231 f., 238, 242, 250, 253–256, 263 f., 274, 281, 289, 296, 298, 307– 311, 324, 347, 355 f. Mikro-, Meso-, Makrobereich der Verantwortung 59–62, 244, 310, 320 Millenarismus/millenaristisch 279 Mitverantwortung s. Verantwortung 10 f., 13, 16 f., 21, 31, 40, 58 ff., 65, 69 f., 73–78, 85, 106, 108, 110, 176, 178, 197, 200 f., 213 f., 224, 229, 243, 248 f., 305–308, 319, 325 f., 347, 355 ff. Moralphilosophie s. a. Ethik 26, 36 f., 56, 75, 96, 127, 138, 214, 321, 326 Moralprinzip 61, 96, 154, 174, 193, 250, 306, 319, 355 Nachhaltigkeit 60, 63 Naturalismus/naturalistisch 11, 22, 55, 86, 95, 109, 111 ff., 127, 317 – reduktiver N. 11, 43, 55, 85 f., 90, 92, 337 Naturgesetz 62, 89, 133, 135 Ökologie/ökologisch 20 f. 28, 33, 37, 41, 47, 50, 56, 59, 62 f., 73, 78, 95, 110, 137 f., 156, 200, 204, 288, 299, 307 f., 310, 318, 324, 328, 330, 333, 339, 341, 345, 347
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Begriffe und Sachen Ökosphäre s. Biosphäre 20, 41, 222, 320 Ontologie/ontologisch s. a. Paradigma: Erstes 12, 22, 35 ff., 42 ff., 71, 73, 77, 79, 110, 112 f., 116–121, 125–128, 131 ff., 141, 146 f., 167, 172, 213 f., 231, 238, 250, 254, 259 ff., 296, 324 Organtransplantation 27, 281, 334– 337 Paradigma 39, 47, 236 ff., 242, 276 f., 324, 327 – Erstes P. (Ontologie) 110, 113, 119 f., 124, 238 f., 259, 261 – Zweites P. (Subjektphilosophie) 110, 113, 119 f., 238 f., 259, 261 – Drittes P. (Kommunikations- bzw. Diskursphilosophie) 110, 113, 119 ff., 124, 206, 238 f., 259, 261, 263, 308, 326 Permanenz (menschlichen Lebens) s. a. erster Imperativ (Jonas) 40, 47, 77, 175, 178, 251, 261, 273, 277– 280, 290, 299 petitio principii 48, 169 f., 259, 317 Phänomenologie/phänomenologisch 36, 43, 56, 73, 90, 143, 147, 161, 209, 212, 214, 223, 227, 282, 342 Philosophie – analytische Philosophie 28, 87, 132, 332, 342 – Diskursphilosophie 35, 120, 237, 326 – Erste P./Fundamentalphilosophie 36, 55, 93, 110, 113, 119 ff., 126, 128, 237, 263, 308, 326, 332 f., – Existenzphilosophie 222, 230, 298, 302, 309, 311 – Neurophilosophie 55, 86 f., 93 – Philosophiegeschichte 55, 93, 120, 245, 308, 318, 326, 333 – praktische P. 35, 37, 43, 59, 100, 110, 191, 200 f., 232, 318, 321, 327, 332 f., 338, 340, 342, 346, 349 Physikalismus 55, 85 f., 91 f.
Politik/politisch 17, 30, 40 f., 47, 51, 58–61, 73, 75, 78, 80, 85, 97, 114, 134, 146, 204, 231, 248, 264, 269, 271 f., 293, 305 f., 310 f., 314, 317– 320, 322–327, 334, 338–341, 343, 350–353, 355, 357 Präimplantationsdiagnostik (PID) 62, 78, 289, 294, 355 Pragmatik – Formalpragmatik 242, 246 – Pragmatische Wende 43, 100, 110, 143, 182, 201 f., 229, 277, 308, 333, 341, 343, 346 f., 351, 354 – Rekonstruktive P. 15, 38, 71, 93, 108, 121, 141, 143 f., 158 f., 182, 184, 264, 315, 322 f., 333, 346 – Universalpragmatik 64, 66, 242 Praxeologie 62, 98 Prinzip Verantwortung (Jonas) 13, 16, 21, 23, 27, 36, 38, 43, 48, 56 f., 82, 111, 179, 209, 212 ff., 216, 219– 223, 225 f., 228–231, 234, 259, 264, 269–272, 274 f., 279, 281 ff., 290, 297 f., 302, 307, 323, 335 Privatsprache/Privatsprachenargument (Wittgenstein) 114, 122, 129 Rationalismus 170, 171 ff., 174, 177, 184, 307 – Kritischer R. 28, 172, 181 Rationalität 55, 82, 90, 109, 192 f., 195, 315, 355 – Diskurs-R. 48 – Strategische R. 48, 51 – Verfahrensrationalität 309 – Zweckrationalität 40, 109, 309, 355 Rechtfertigung 16, 80, 95, 101, 118, 141, 145, 169, 171, 177, 184, 192, 233, 249, 254, 258 Regenwald 178 Rekonstruktion/rekonstruktiv 39, 46, 48, 67, 71, 77, 95 f., 102, 111, 188, 191, 198, 202–205, 207, 246, 259, 261, 308, 326, 331, 333, 348 ff. Relativismus/relativistisch 85, 95, 107, 210, 215, 217, 308 f., 339, 351, 354, 357
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Begriffe und Sachen Robotik 20, 121, 178, 185 Sache – Ruf der Sache (Jonas) 209, 211, 220 f., 234 – Sachkriterium 164, 234 Säkularität 27, 86, 254, 275, 279 Schema 22, 44, 82, 120, 144, 161, 165–169, 171, 180, 182 f., 189, 257 f., 262, 321, 332 – Schema-Interpretation 144, 165– 169, 182, 189, 236 f., 256 ff., 261 f. Schöpfung 27, 77 f., 117, 119, 133, 138, 140, 281 Selbsteinholung 11 f., 22, 25, 43, 49, 52, 55, 69, 72, 90, 92 f., 95, 101 ff., 109, 116, 118 f., 121, 125, 129, 138, 140 ff., 151, 183, 189, 200, 204, 246 f., 251, 309 Semiotik/semiotisch 35, 128, 142, 144 f., 155, 239, 263, 331, 350 Sinnbedingungen/Sinnvoraussetzungen des Diskurses 20, 49, 71, 76 f., 79, 102, 106 f., 112, 141, 160, 182, 198 f., 233, 246, 251 Sinnkritik/sinnkritisch 21 f., 38, 43 f., 46, 55, 72, 95 f., 100 f., 106, 109, 116, 118, 141, 145, 147, 159 f., 163, 188, 198, 202, 236 f., 251, 259, 313, 315, 327, 355 Skeptizismus, Skeptiker 82, 120, 172, 224, 247 – Skeptikerdialog/Skeptikertest 21, 33, 38, 42, 44, 47, 51 ff., 63, 79, 102, 141, 152, 174, 186 ff., 207, 216, 247, 250 f., 261, 331 Solipsismus 48, 127 ff., 134, 310, 349 f. – methodischer S. 22, 49, 68, 113 f., 116, 120 ff., 126 f., 144, 155, 175, 350 – transzendentaler S. 22, 42, 49, 126– 129, 134, 238 Sowjetunion 283 Spracherwerb 135, 227 ff. Sprachpragmatik/sprachpragmatisch 10, 43, 62, 69, 110, 128, 138, 141,
143, 154, 159, 182, 184, 201 f., 223, 229, 238, 245 f., 277, 308 f., 316, 332 f., 341, 347, 351, 354, Stoffwechsel (Metabolismus) 44, 119, 126 f., 132 f., 141, 145, 221, 226, 260 f. Subjektivismus 109, 120 Subjektivität 43, 55, 112 f., 119, 121 ff., 128, 143–146, 153, 164, 213 ff., 226, 230, 255, 259 Subjektphilosophie s. a. Bewußtseinsphilosophie, Paradigma: Zweites 68, 119, 238, 241, 261 Szientismus/szientistisch 11, 22, 26, 55, 85 f., 92 f., 95, 109, 142, 146, 183, 189, 263, 308, 312 f., 350 Technologie/technologisch 20, 26 f., 33, 36, 40, 44, 54, 56, 58 f., 61 f., 74, 100, 107, 212, 230, 244, 269 f., 272, 281, 283, 291, 308, 318, 320, 323, 347, 352 f. Teleologie/teleologisch 36 ff., 45, 109 f., 112, 118 ff., 221, 244, 250, 253, 324, 349 Theologie/theologisch 27, 46, 68, 75, 77, 109, 117, 133, 203, 254 f., 264, 273 f., 278, 280 f., 310, 320, 334, 340 f., 343 f., 347, 357 Transformation der Philosophie 22, 26, 29, 38, 48, 142 ff., 146, 160, 162 f., 170, 186, 263, 306, 309, 312 f., 318, 326, 332 Transplantation 281, 336 – Transplantationschirurgie/-medizin 27, 334 f., 337 Transzendentalphilosophie/transzendentalphilosophisch 36, 43, 79, 110, 112 f., 120, 125 f., 128, 133, 143, 145, 179, 202, 205, 238, 245, 313, 315 f., 341 Transzendentalpragmatik/transzendentalpragmatisch s. a Diskurspragmatik 16, 20–23, 27 f., 34 ff., 38 f., 43–50, 55 f., 64, 71, 85, 93, 96, 99 f., 105, 107, 109, 112, 116, 118, 120, 127 f., 130, 137 f., 141, 143 f.,
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Begriffe und Sachen 149 f., 152, 155, 160, 166, 170–173, 181 ff., 185 f., 194, 202 f., 206, 229, 236 f., 241 f., 251 f., 259, 263, 305, 308, 313, 315–317, 321–329, 331 ff., 346, 350 f., 355 f., Transzendenz 274, 276 f., 288, 306, 354 Umwelt 27, 37, 58, 60, 88 f., 114, 119, 122, 126, 260, 272 – Umweltverschmutzung 26, 58, 283 Unhintergehbarkeit 19, 35, 38 f., 45, 51–54, 65, 69, 80, 101 f., 111, 116, 142, 152, 159 f., 170, 174 f., 185, 188, 195 ff., 204, 242 f., 247, 275, 321, 333 Universalismus/universalistisch 16, 46, 63, 156, 249, 339, 341, 351 f., 354, 357 Universalität 33, 39, 45, 62 USA 272, 275, 289, 293, 302 338 Utilitarismus 322, 352 Utopie/utopisch 45, 162 f., 225, 230, 253 f., 279, 311 Verantwortung – kosmische V. 21, 274 – nicht-reziproke V. 279 f. – totale V. 279 – Erfolgsverantwortung 24, 40, 73, 264, 319 f., 352 f. – Mitverantwortung 13, 16, 21, 40, 58, 60, 65, 69 f., 74, 76 ff., 85, 106, 110, 176, 197, 200, 213 f., 224, 229, 243, 248 f., 305–308, 310, 319, 325 f., 347, 355 f. – Selbstverantwortung 69, 176, 183 – Verantwortungsethik s. Ethik 13, 20, 24, 62, 73, 75, 85, 121, 147, 178, 185, 209, 229, 243, 269 ff., 304 f., 319 f., 334, 341, 343, 352, 357 – Verantwortungsfähigkeit 74 f., 78, 80, 119 – Zukunftsverantwortung 13, 16 f., 19 ff., 36, 38, 40, 47, 50, 56, 77 f., 81,
117 f., 120, 137, 148, 212, 228, 236, 248–251, 259, 261, 264, 270, 289, 319, 324, 329, 339, 341, 346 f., 353 ff., 357, Verbindlichkeit 12, 15, 25 f., 28, 31, 34, 39 f., 47, 49, 51, 61, 63 f., 66 f., 72, 76 f., 81 f., 85, 93, 95, 101 ff., 110, 116, 118, 126, 140, 147, 152 f., 174 f., 177, 179, 182, 186 ff., 191, 193, 200, 202 ff., 206 f., 222 f., 226 f., 229, 234,237, 245, 248, 250 f., 263 f., 277, 308, 310, 319, 327 f., 332 f., 341, 347, 354 f., 357 – Verbindlichkeitserweis s. a. Letztbegründung 21, 34, 71, 77, 79, 81 f., 185, 188 f., 206 Wald s. Regenwald 58 Wert – Wertethik/wertethisch 156, 250 ff. – Wertmetaphysik 111 Widerspruch – pragmatischer/performativer W. 67, 152, 170, 224, 243 Wissenschaft – Geisteswissenschaft 90, 142, 191, 209 ff., 215–218, 233, 302, 332, 348 – Naturwissenschaft 86 f., 89, 92, 135, 142, 212, 216 f., 222, 228, 260, 277, 291 f., 342 Wissenschaftstheorie/wissenschaftstheoretisch 43, 62, 67, 87, 90 ff., 98, 100 ff., 165, 184, 211, 216, 231 f., 245, 273, 309, 313, 318, 332, 344, 348 f., Zerstörung s. Lebensbedingungen, Umwelt 17, 20 f., 261, 327, 341 Zukunft 19, 21 f., 27, 35, 37, 40 f., 44 f., 47, 50, 73, 77 ff., 106, 127, 138, 142, 179, 188, 211, 222, 234, 248, 251 f., 261, 265, 270 ff., 276, 279, 282, 286 f., 300, 323–326, 346, 353 f., 356 Zukunftsverantwortung s. Verantwortung
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